Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttPaolo Valesio: Aus Storie del Testimone e dell’Idiota
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Tobias Roth
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72 Biblioteca poetica Paolo Valesio: Aus Storie del Testimone e dell’Idiota Biographische und übersetzerische Notiz Paolo Valesio, 1939 in Bologna geboren, ist ein umtriebiger und produktiver Autor - und nicht zuletzt ein kosmopolitischer Seine Beschäftigung läuft in, mit, durch und über Literatur, vor allem der Dichtung; prägende Koordinaten sind die nordamerikanische Ostküste und seine Heimatstadt Bologna Zwischen diesen weitgestreckten Punkten hat er Literatur nicht nur produziert und erforscht, sondern auch vermittelt, herausgegeben, angeregt Valesio unterrichtete an den Universitäten von Bologna, Harvard, New York, vor allem aber und für ein Vierteljahrhundert in Yale; derzeit ist er Giuseppe Ungaretti Professor Emeritus in Italian Literature an der Columbia University und zudem, seit 2013, Präsident des Centro Studi Sara Valesio, das seinen Sitz im Palazzo Fava in Bologna hat In Yale gründete und leitete Valesio die Yale Poetry Group (1993-2003) und die Zeitschrift Yale Italian Poetry, die seit 2006 unter dem Titel Italian Poetry Review an der Columbia University ansässig ist Seine Tätigkeit als Forscher und Lehrer, als Vermittler, Herausgeber und Juror hat sich naturgemäß in einer Fülle von Publikationen niedergeschlagen, aber an dieser Stelle sei besonders auf seine Gedichtbände hingewiesen - sodass auch seine zwei Romane, seine Erzählsammlungen und Theaterarbeiten übergangen seien Seit seinem ersten Gedichtband Prose in poesia von 1979 hat er in ständig sich beschleunigender Regelmäßigkeit 18 Sammlungen von Gedichten vorgelegt, zuletzt La mezzanotte di Spoleto (2013), Il volto quasi umano (2009) und Il cuore del girasole (2006) Im Frühling 2016 erschien zudem die italienisch-englische Auswahl Il servo rosso / The red servant, die Gedichte der Zeit von 1979 bis 2002 versammelt; der Band wurde von Graziella Sidoli herausgegeben und von ihr und Michael Palma übersetzt 2015 schließlich erschien als plaquette der Serie «Passaggio» der Associazione Culturale «La Luna» in Casette d’Ete di Sant’Elpidio a Mare in den Marken der Zyklus Storie del Testimone e dell’Idiota, eine konzentrierte Sammlung von zwölf Gedichten, deren fünf letzte hier erstmals in deutscher Übersetzung präsentiert werden * Was nun mich als Übersetzer betrifft, so ist vielleicht der Umstand, dass ich in erster Linie Lyrik der Renaissance und der Gegenwart übersetze, vergleichbar damit, dass sich viele Musiker zugleich auf die Bereiche der soge- 2_IH_Italienisch_77.indd 72 12.06.17 11: 15 Tobias Roth Storie del Testimone e dell'Idiota 73 nannten Alten und Neuen Musik spezialisieren Starke Affinitäten herrschen, auf die schwer der Finger zu legen ist Was mich aber in beiden Fällen und so auch bei Paolo Valesio, den ich im Sommer 2016 bei einer gemeinsamen Lesung in Berlin kennenlernte, sowohl herausfordert als auch reizt, ist die große Schlichtheit, die italienische Vokabeln und Satzstrukturen immer wieder ausstrahlen, obwohl ihre Aufladung, Tradition und so auch Komplexität alles übersteigt, was sich im Deutschen nachbauen lässt Die Frage, wie man dem hinterherkommt, ob eine Flucht nach vorn geraten ist oder ein Umweg, muss sich am einzelnen Text stellen; zumindest bleibt in dieser Dimension das Ungenügen erträglicher; «e se io tento fugirmi di galoppo, / manco nel primo passo qual bue zoppo .» (Giovanni Pico) Dieser Umstand erscheint in den Texten aus den Storie del Testimone e dell’Idiota noch verstärkt und konzentriert durch die kokette Unmittelbarkeit der tagesgenau datierten Gedichte, - deren inszenierte Notatgeschwindigkeit nicht über den gesättigten, vielstimmigen fondo ihres historischen Hallraums hinwegtäuschen kann Und es kommt hinzu, was Borges in seinen Vorträgen über Das Handwerk des Dichters treffend benannt hat, dass nämlich der Freie Vers nicht einfacher zu schreiben (und auch zu übersetzen) ist als eine strenge Form, eine grazile Reimstruktur Ob nun aber in Bezug auf strenge Reime oder Freie Verse, es geht letzten Endes immer um eine Kaskade von Entscheidungen und Konsequenzen, deren Laufmaschen man als Übersetzer nicht aus den Augen verlieren darf und ebenso nicht bis ins Letzte kontrollieren kann Die Vertikalität des Gedichtes übt Druck und Schub aus Darin ist das Übersetzen kaum unterschieden vom eigenen Schreiben und daraus erwächst auch der Anspruch, wie immer vielleicht utopisch, dass sich eine Übersetzung nicht wie eine Übersetzung lesen soll, sondern wie ein Gedicht Die allerbesten Erfahrungen habe ich mit Lektoraten asymmetrischer Sprachkompetenz gemacht Was ein Gedicht ausmacht, war wohl in jedem Falle nicht im schieren Wortmaterial des Originals zu finden und wird sich auch nicht im Wortmaterial der Übersetzung finden lassen; wo es aber liegt, ob darunter, darüber, dazwischen, dahinter, was liegt schon an der Klärung dieser Frage? Worin bestehen die Obertöne der Wörter? Das mag auf der Grenze zu nebulöser Esoterik gebaut sein, wie man es auch aus Benjamins Aufgabe des Übersetzers kennt - aber diese Grenze wird doch nicht überschritten, eben weil es ein aus Praxis gewonnener Eindruck ist Im Rahmen solchen uneigentlichen Sprechens, das in Fragen nach dem Wert, dem Erlebnis, der Funktion der Schönen Literatur immer abzudriften im Begriff ist, erscheint der Wert, das Erlebnis, die Funktion von Übersetzungen doch von denen der Originale unterschieden Insofern Übersetzungen ihre dienende Funktion auch in vermeintlich frei drehender Artistik nie verleugnen können und eine Barriere des 2_IH_Italienisch_77.indd 73 12.06.17 11: 15 Storie del Testimone e dell'Idiota Tobias Roth 74 Austausches und der Weltwahrnehmung auflösen, sind sie nie umsonst (Es fällt schwer, sich zu Verdikten durchzuringen, zumal es mit den vorliegenden Texten nichts zu tun hat, aber mit einem Blick rundum wird man es doch sagen müssen: Es gibt große Mengen nutzloser Bücher Aber Übersetzungen, selbst nutzloser Bücher, sind es niemals .) Vorbemerkung Paolo Valesios zur gedichtsammlung Storie del Testimone e dell’Idiota Ich ergreife die großzügige und gastfreundliche Gelegenheit, eine Reihe von Gedichten aus einer meiner bislang unveröffentlichten Sammlungen, die bereits fast zum Abschluss gekommen ist und momentan den Titel Esploratrici solitarie trägt, zu präsentieren Es ist gewiss kein ungewöhnliches Phänomen, dass einem Autor plötzlich, ohne dass er es bestimmen oder berechnen könnte, eine oder mehrere Figuren erscheinen, die im Kern bereits Gestalt gewonnen haben (In der Tat ist das hauptsächlich in der Entstehung von erzählenden oder theatralischen Werken der Fall - und vielleicht ist das so, weil die Idee einer Figur vor allem für diese Gattungen einschlägig ist; andererseits aber nimmt eine Sammlung von Gedichten, für mich wie für andere Dichter, erst dann wirkliche Gestalt an, wenn sie beginnt sich als ein tatsächliches Buch zu strukturieren, und das bedeutet auch, wenn sich eine gewisse Nähe zum Drama oder zur Erzählung einstellt: Figuren also und eine Handlung; oder aber nur eines von diesen beiden Elementen .) Die beiden Figuren dieses Buches begegnen sich niemals (Ob das zugleich bedeutet, dass der eine der Doppelgänger des anderen ist, da bin ich mir nicht sicher; aber ich weiß, dass mir diese Vorstellung eine hauchfeine Furcht einflößt .) Die beiden haben sich langsam eingestellt (sie tauchten aus einer Art Nebel auf, in den auch das erste Gedicht dieser Sammlung versunken ist; der englische Untertitel dieses ersten Gedichtes ist nicht unbegründet: das Syntagma «dream poem» lässt die Beziehung der beiden Begriffe im Unklaren - Traum/ Gedicht, ein Gedicht, das aus einem Traum stammt, ein Traum von einem Gedicht? ) Die Figuren sind so langsam und zögerlich aus jenem Nebel herausgekommen, dass sie zu Beginn zurückgewiesen worden sind; aber sie beharrten, mit Worten, die immer deutlicher zu hören waren, mit Eigenschaften, die immer deutlicher zu erkennen und zu unterscheiden waren, bis sie sich schließlich eingebürgert haben und ihre Gegenwart geradezu unumgänglich geworden ist Soweit ich es beurteilen kann, ist der Zeuge der ernstere und gewichtigere von den beiden, während der Idiot schutzloser, durchlässiger ist - und auch stärker geneigt dazu, sich in einer gleichsam unbedarften Art und Weise zu begeistern Einige Leser, die das Manuskript während der Arbeit gesehen 2_IH_Italienisch_77.indd 74 12.06.17 11: 15 Tobias Roth Storie del Testimone e dell'Idiota 75 haben, haben mich ermuntert, nicht den Begriff Idiot zu verwenden, da er zu einfach gegen mich als Autor gewendet werden könnte Ich habe geantwortet, dass ich zwar anfangs ein gewisses Unbehagen bei diesem Wort verspürt hatte, aber dass das eben der Name war, unter dem sich die Figur vorgestellt hat, und ich sie nicht mit Gewalt umtaufen wollte Vielleicht ist es die stille Hoffnung des Idioten gewesen, dass ich seinen literarischen Stammbaum erkenne - die Titelfigur des großen Romans von Dostojewski (diesen Roman habe ich in meiner Jugend gelesen und er hat meinen Blick auf das Leben beeinflusst, aber ich habe ihn seither nicht noch einmal gelesen); wenn ich sein Temperament bedenke, bezweifle ich aber doch, dass es seine Absicht war, mich in solch ein literarisches Spiel zu verwickeln Ein anderer Leser der frühen Fassungen ist der Meinung gewesen, dass dieser Idiot vielmehr auf seine griechische Etymologie zurückzuführen sei: die Privatperson, der Einzelne, schlichtweg im Gegensatz zu demjenigen, der bedeutsam in der Öffentlichkeit steht und davon abgehärtet wurde Auch das mag sein; aber solche Überlegungen sind nur bis zu einem bestimmten Punkt sinnvoll Es bleibt der Umstand, dass die beiden Figuren so genannt werden, wie sie sich vorgestellt haben, dass sie sind, was sie sind, und dass sie sich für den Moment nach ihrem unvorhersehbaren Gutdünken zwischen New Haven, New York und Bologna bewegen - den Städten meines Schicksals Fünf gedichte aus Storie del Testimone e dell’Idiota Difficoltà della gloriosità Ogni luogo ogni marchio sul paesaggio è una condanna per il Testimone (corridoi di occasioni perdute lacune di visite e viste che avrebbero potuto divenire visioni) ma ogni luogo ogni marca di paesaggio ogni scorcio (sghembo, angusto, tagliente) di quella che lui osa sotto voce ancora chiamare ‘bellezza’ è una concessione gloriosa al suo tempo di vita Il ritmo inevitabile di questo su-e-giù del cuore lo lascia stordito più ancora che stupito Riverside Drive, Manhattan, 8 febbraio 2015 Schwierigkeiten des Ruhms Jeder Ort jeder Einschnitt in die Landschaft ist eine Strafe für den Zeugen (Durchgänge versäumter Gelegenheiten verlorene Besuche und Blicke die gut und gerne Gesichte hätten werden können) aber jeder Ort jeder Schnitt in Landschaft jede Verkürzung (schief, beengt, scharf) desjenigen was er halblaut noch immer ‘Schönheit’ zu nennen wagt ist ein ruhmreiches Entgegenkommen seiner Lebenszeit Der unausweichliche Wechsel dieses Auf-und-Ab des Herzens hinterlässt ihn eher bestürzt als erstaunt Riverside Drive, Manhattan, 8 . Februar 2015 2_IH_Italienisch_77.indd 75 12.06.17 11: 15 Storie del Testimone e dell'Idiota Tobias Roth 76 La piccola Orestiade Il Testimone quando si sente di svenire lotta-contro, sospinto dalla sottocorrente paura che questo sia il preludio del suo svanire Così i suoi occhi grandi-aperti per via delle sue notti troppo bianche, e i suoi capelli rizzati, trasmettono agli estranei e agli scarsi amici - quando gli amici sentono scarsezza tendono a divenire trasparenti e questo può stranirli - l’apparenza ingannevole di un forte, di un vitale Ma il pavor nocturnus et diurnus che si annida nel fondo del suo occhio (e che si trova anche in alcune foto di suo padre) lo marca fuggitivo, inseguito da un muto furore e da una muta di furie solo per lui visibili Riverside Drive, Manhattan, 25 febbraio 2015 Ricordi 1 L’Idiota sorride ai ricordi: un largo, con denti malcurati, sorriso accoglitore e semi-felice per il semplice fatto crudo e nudo che sono esistiti e che lui è ancora lì a camminarli Gli appaiono, a tratti e balenìi, come i surrogati della Resurrezione Treno New York-New Haven, 2 marzo 2015 Die kleine Orestie Wenn der Zeuge fühlt dass er ohnmächtig wird kämpft er dagegen, getrieben von unterströmender Angst das sei nur das Vorspiel seines Verschwindens Seine weit aufgerissenen Augen im Gang seiner allzu weißen Nächte und seine störrischen Haare vermitteln in diesem Sinne den Fremden und den wenigen Freunden - wenn Freunde Mangel verspüren neigen sie dazu, durchsichtig zu werden und das führt zu Entfremdung - den trügerischen Anschein eines starken, lebhaften Wesens Aber der pavor nocturnus et diurnus der sich am Grund seiner Augen einnistet (er findet sich auch auf einigen Photographien seines Vaters) zeichnet ihn als Flüchtigen, Hatz eines stummen Wahns eines Sturms von Furien nur ihm sichtbar Riverside Drive, Manhattan, 25 . Februar 2015 Erinnerungen 1 Der Idiot lächelt den Erinnerungen zu: ein breites Lächeln voll schlechter Zähne halb-fröhlich und empfänglich für den schlichten blanken nackten Umstand dass sie gewesen sind und dass er noch da ist um sie abzuschreiten Sie erscheinen ihm, Abschnitte und Schlaglichter, wie ein Ersatz für die Auferstehung Zug New York-New Haven, 2 . März 2015 2_IH_Italienisch_77.indd 76 12.06.17 11: 15 Tobias Roth Storie del Testimone e dell'Idiota 77 Ricordi 2 Il Testimone, quando un ricordo lo colpisce diretto, geme (breve lamento, e subito si volta in giro per verificare che non l’abbiano udito): è il fisico dolore, quello dello stomaco; per l’occasione perduta, l’instante non pienamente vissuto dunque offeso, sacrificato nel suo potere di essere (ma il gemito è forse riscattato come seme di pentimento) Treno New York-New Haven, 2 marzo 2015 Madrigale Eterna giovinezza fin che dura dell’Idiota: alle volte c’è il tormento, alle volte non c’è più Quandunque il tormento per un poco scompare di sollievo e la svolta buona fiorisce l’Idiota ci ricasca e si illude che la sua vita sia ridivenuta nuova Misericordiosamente non saprà forse mai se questa è l’illusione che sfocia nel triste visto (o addirittura ghigno) dell’ultimo congedo oppure sia l’unica forma di immortalità per lui possibile Cineteca di Bologna, 12 marzo 2015 Erinnerungen 2 Der Zeuge, wenn eine Erinnerung ihn schroff anspringt, stöhnt (kurze Klage, und sofort dreht er sich um sicherzustellen dass sie ihn nicht gehört haben): es ist ein körperlicher Schmerz, und zwar im Magen; um die versäumte Gelegenheit, den nur flüchtig durchlebten und so gekränkten Moment, dessen Möglichkeit zu sein zum Opfer fiel (aber das Stöhnen kann sich vielleicht als Saat einer Buße freikaufen) Zug New York-New Haven, 2 . März 2015 Madrigal Die Jugend des Idioten ist ewig solange sie anhält: manchmal ist es Folter, manchmal ist nichts mehr Jedes Mal, wenn die Folter eine kleine Erleichterung erfährt und eine glückliche Wendung aufblüht stürzt der Idiot nieder und redet sich ein dass sein Leben sich wieder erneuert hat Barmherzigerweise wird er vielleicht nie unterscheiden ob das die Täuschung ist die in ein trauriges Antlitz beim letzten Abschied mündet (oder geradezu in eine Fratze) oder die einzige ihm mögliche Form von Unsterblichkeit Cineteca di Bologna, 12 . März 2015 Übersetzung und Kommentar: Tobias Roth 2_IH_Italienisch_77.indd 77 12.06.17 11: 15