Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2017
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttUlrich van Loyen (Hrsg.): Der besessene Süden. Ernesto de Martino und das andere Europa, Tumult Band 41, Wien: Sonderzahl 2016, 279 Seiten, € 19,90
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Rosemary Snelling
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Buchbesprechungen 106 Ulrich van Loyen (hrsg.): Der besessene Süden. Ernesto de Martino und das andere Europa , Tumult Band 41, Wien: Sonderzahl 2016, 279 Seiten, € 19,90 Religiöse Riten und Geisterbeschwörungen, Besessenheit und Trance sind nicht erst seit Carlo Levis unfreiwilligem Aufenthalt in der Basilikata und seinem berühmtem Roman Cristo si è fermato a Eboli von 1945 Gegenstand magischer Anziehungskraft; viel früher schon wurde der Süden als «ein von Teufeln bewohntes Paradies» wahrgenommen (vgl Faeta, S 195 f .) Erst der Neapolitaner Ernesto de Martino ist es aber, der im Zuge der binnenethnologischen Europaentdeckung in den 30er Jahren des 20 Jhdts kulturanthropologische Fragestellungen auf die religiösen Phänomene der Regionen Süditaliens anwendet Formen von Besessenheit wie die Tarantella oder apokalyptische Trancezustände, die in den Forschungen De Martinos diskutiert werden, werden als spezifisch kulturelle Äußerungen Süditaliens einerseits untersucht, bieten aber andererseits Raum und Anlass für Überlegungen zu den kulturellen und/ oder psychopathologischen Zuständen des modernen Europa Dazu bietet der vorliegende Band zehn sehr breit epistemisch, religionswissenschaftlich und anthropologisch profilierte Beiträge, aufgelockert durch einen Bildessay zur Prozession zur Madonna dell’Arco von Anja Dreschke und ein Interview des Herausgebers mit Erhard Schüttpelz zum anthropologischen Konzept der Liminalität sowie zwei ins Deutsche übertragene Originaltexte de Martinos, Land der Gewissenspein und Kulturapokalypse und psychopathologische Apokalypse In der Forschungslandschaft sorgt der Band für eine Aufarbeitung der Geschichte der italienischen Ethnologie (Silla) und ein vertieftes De Martino- Bild im Feld der Geschichtsphilosophie, der Phänomenologie und der Psychopathologie (van Loyen/ Rosselli/ Charuty), des Dokumentarfilms (Schäuble/ Faeta) und in Abgrenzung zu seinen ‘amici nemici’ Cesare Pavese (Bauschulte) und dem Schamanismusforscher Schirokogorow (Grünwedel) Aktualitätsbezogener und an bestimmten rituellen Formen der Besessenheit arbeiten Zillinger und de Matteis Der Herausgeber und Süditalienspezialist van Loyen eröffnet den Band mit einer Positionierung De Martinos im Wechselspiel zwischen Ethnologie und Geschichtsphilosophie («Die Abenteuer der Geister Ernesto de Martino und die Anthropologien des besessenen Südens») De Martino fordere dazu auf, Besessenheit als Blick in das eigene Fremde in der (modernen) Welt zu verstehen und die Ethnologie vor diesen Prämissen (neu) zu formieren als «historisch informierte Sozialanthropologie» (S 16) Vor allem geht es dabei darum, die westliche Kulturhoheit selbst zu historisieren und als 2_IH_Italienisch_77.indd 106 12.06.17 11: 15 Buchbesprechungen 107 Entwicklung von einer Welt der «magischen Kompromisse» (S 17) hin zu einer konsolidierten Präsenz zu begreifen Was De Martinos Projekt also aufzeigt, sind Techniken der menschlichen «Sorge ums Da-Sein» (ebd .) und ein Bewusstsein; woran es schwächelt, ist die Erklärung des Wandels der Magie, die «Modernisierung der Magie» (S 18) Hieran schließt Antonio Roselli («Zwischen Verlust und Wiederaneignung Überlegungen zur ‘Krise der Präsenz’ bei Ernesto de Martino») kenntnisreich an und verweist nach einer philosophisch fundierten Begriffsgeschichte der crisi della presenza (S 56 ff .), deren Verstehen die «Autonomie der Person als geschichtliche Errungenschaft» (S 65) und immerwährende Aufgabe ausweist, auf das handlungsorientierte Potenzial des «folklore progressivo» (S 78) Dieser, so Roselli, erlaube es dem Menschen, sich neue Handlungsmöglichkeiten einer nicht mehr religiösen, sondern «humanen Selbstbehauptung» (S 86) zu erschaffen Ebenso wie van Loyen und Roselli steht in Tatiana Sillas Bemerkungen («Überschreitung als Selbstvergewisserung, Selbstvergewisserung als Überschreitung Der ‘kritische Ethnozentrismus’ im Kontext der italienischen Kulturwissenschaften») zu De Martino der Begriff des ‘ethnographischen Humanismus’ (S 46, «umanesimo etnografico») zentral, der analog dem Renaissancehumanismus durch einen Zugewinn an Wissen, einen Zugewinn an Humanität leisten will, dies aber auf der Basis der «kulturhistorischen Entwicklung der gesamten Menschheit» (S 46) In der - dichte Inhalte konzis zusammenfassenden - «disziplinären Genealogie» (S 28) Sillas zum Fach der Ethnologie in Italien ist es vor allem der Name Raffaele Pettazzonis, der mit seiner «terza via» (S 38) zwischen historistisch-idealistischer und phänomenologischer Prägung, zwischen philologisch-historisierender und phänomenologisch-komparatistischer Methode einer neuen Anthropologie kulturkritischen Zuschnitts den Weg bereitet, welche unter De Martinos Diktum des ‘kritischen Ethnozentrismus’ die westliche Kulturgeschichte auf ihre Begriffe und Leitgültigkeiten hin befragt, sich aber deren Wert als disziplinärer Ursprungskategorien der Ethnologie durchaus bewusst bleibt So wie Silla von der Disziplingeschichte und Roselli von der gesellschaftspolitischen Intention De Martinos ausgehen, so rundet der letzte Beitrag des Bandes «‘Occorre ridiscendere agli inferi’ - ‘Man muss in die Unterwelt hinabsteigen’ Wahn und Geschichte zwischen De Martino und Michel Foucault» von Giordana Charuty die theoretische Verortung und terminologische Arbeit an De Martino in Abgrenzung zur Psychopathologie ab Durch ihre biographische Expertise gelingt es der De Martino-Biographin, dessen Wechselbeziehungen zu den unterschiedlichen psychopathologischen Schulen detailreich und über einen langen Zeitraum in De Martinos Leben zu verfolgen Dabei entdeckt Charuty im intellektuellen Feld Foucault 2_IH_Italienisch_77.indd 107 12.06.17 11: 15 Buchbesprechungen 108 als anders gearteten Denkgenossen De Martinos, der sich ebenfalls über den positivistisch-deterministischen «naturalistischen Imperativ» (S 213) hinaus erhebt und auf dieser Basis, wie De Martino die Ethnologie, die klinische Psychologie erneuert Auch Foucaults «spekulatives Anliegen» (S 215) blickt auf die Verbindung von Wahn und Moderne im Sinne einer Universalisierung Mag die «Dekadenz des Abendlandes» (S 217) den Ethnologen und sein Bestreben nach einer «reformierten Ethnologie» auf den Plan gerufen haben, das Ergebnis oder die Richtung dieser neuen Ethnologie deckt einen «Universalismus» des Wahns auf, der vom Süden Italiens in «alle Süden der Welt» (ebd .) zeigt Weitere Beiträge wenden sich auf unterschiedliche Art der ästhetischen und performativen Dimension des Dramas um die Existenz sowie zwei besonderen Aspekten ritueller Praktiken zu Manfred Bauschulte («‘Das Wilde als Gegenstand und Form’ Zum Verhältnis von Ethnologie und Dichtung in Italien nach 1945 - dargestellt an den Gesprächen mit Leuko in Verbindung mit der Collana viola») untersucht die Geschichte der verlorenen Freundschaft zwischen De Martino und Cesare Pavese De Martino würdigt Paveses Werk erst lange nach dessen Tod, obwohl sie gemeinsam Herausgeber einer ethnologischen Reihe, der Collana viola waren Zu Lebzeiten brachte er Pavese eine (so in eigenen Worten in einem rückblickenden Gedicht) «mitleidlose Missachtung» (S 89) entgegen, wohl deshalb, weil dieser das Wilde nicht ‘wissenschaftlich’ nüchtern, sondern bewusst als Inhalt und Form, als nämlich dichterisch-mythische Form literar-ethnologisch vermitteln wollte Auch der japanische Schamanismusforscher Schirokogorow - so Heiko Grünwendel: «Eine Spur des Schamanismus Ernesto de Martinos Lesart von Schirokogorow Psychomental Complex of the Tungus zwischen Aneignung und Präsenzerfahrung» - wird von De Martino eher implizit in sein Werk aufgenommen Der Schamane als Grenzgänger wird für De Martino zum «epistemologischen Schatten» (S 144), der gewissermaßen invers De Martinos Werk selbst zum schamanistischen Präsenzstifter macht Michaela Schäuble stellt im Beitrag «Von der Passion und Poetik des ‘Wahren’: Betrachtungen zum audio-visuellen documentarismo demartiniano» De Martino als Begründer der visuellen Anthropologie vor Die Stärke der cinematografia demartiniana liege aber nicht in einer Exaktheit oder ethnologischen Aufarbeitung des religiösen Rituals, sondern vielmehr in einer phänomenologischen Art der «filmischen Choreographie» (S 132) und stelle so einen «dritten Weg und eine kunstvolle Alternative zu cinéma vérité und direct cinema dar, die bislang nicht entsprechend gewürdigt worden ist» (S 133) Auch Francesco Faetas Beitrag «Orientalismus und Primitivismus im Mezzogiorno Über eine Tendenz im intellektuellen Italien und Europa» stellt 2_IH_Italienisch_77.indd 108 12.06.17 11: 15 Buchbesprechungen 109 heraus, wie in Film und Fotografie nach dem Zweiten Weltkrieg ein «stereotyper Kanon» (S 197) von Darstellungsdispositiven eine «Aufhebung von Raum und Zeit» (ebd .) - wie es mit den Konzepten des Orientalismus und Primitivismus gefasst werden kann - und eine archaisierende Vereinheitlichung des gesamten südlichen Raumes produziert haben, die dabei nicht frei davon ist, ihre Wissenschaftler selbst zu verzaubern (vgl S 198) Zum einen trägt dieser «italieninterne Exotismus» (S 193) zur Akzeptanz der Linken im politischen System bei, zum anderen, so Faeta, und mit De Martino gesprochen «ist [ebendas] für die Intellektuellen des Nordens der ‘rimorso’ des Zweiten Weltkriegs» (S 199) Dass der ‘rimorso’, man möchte sagen, ein «inverser Primitivismus», der die Menschen von innen fasst, noch immer aktuell ist, zeigt Martin Zillinger In «Landschaften voll Heimsuchung und Gnade Zur Geschichte und Zukunft mediterraner Trance» deckt er die außerordentliche Produktivität der aktuellen Entwicklung des religiösen Konzeptes der Trance auf, die über ihre ursprünglichen Räume und Formen, über Schwellen hinweg, im Sinne einer authentischen Präsenzkrise global, z B auf Festivals oder im Internet erlebt und als solche auch von einer quasi «Trance-medialen Öffentlichkeit» (S 161) verwaltet und als Warenwert angeboten wird Auch Stefano de Matteis: «Kann man die Besessenheit historisieren? » stellt in seiner etwas schwer zu lesenden Untersuchung zu den aktuellen Trancephänomenen der Prozession zum Heiligtum der Madonna dell’Arco und den «Notti della Taranta» ein «Ende des Exotischen» fest (S 185); wenn bei ersterer teils noch geschichtliche Anteile in den «Masken» (S 174) der Trance erkennbar sind, gehört die Nacht der Tarantierten im Salento zu den neuen «low-cost Fremdheiten» (S 185), die in dieser purifizierten Form die Leere der Identität heute füllen sollen Von der Macht der Personen und Gruppen, die in der Lage sind, diese ‘Leere’ mit neuen Ritualen heute zu füllen, spricht Erhard Schüttpelz in seinem Interview mit dem Herausgeber Bei Liminalität, dem Ritus, der immer auf der Schwelle steht, geht es also um das «Menschlichste und Allermenschlichste» (S 234), um die Kontrolle über Identitätsverlust und Statuszuweisung Die heutigen Schwellenorte kennzeichnet dabei eine spezifische «Interferenz von Vegetations- und Produktzyklen» (S 227) Liminalitätsexperten können daher von Priestern und Schamanen über Könige und Narren bis zu Pilgern, Modeschöpfern, Kapitalexperten uvm heute alle sein, die modernen, kapitalistischen Formen von «schöpferische[r] Zerstörung» (S 226) dienen, die allgegenwärtig an die Vergänglichkeit erinnert und diese gewissermaßen ritualisiert hat Dreschkes Bildessay «Beklagen, Berühren, Bereuen Eine Wallfahrt zur Madonna dell’Arco am Ostermontag» setzt in ausdrucksstarken Momentaufnahmen die Schwelle im Ritus zwischen aktuellen, in der 2_IH_Italienisch_77.indd 109 12.06.17 11: 15 Buchbesprechungen 110 präsentischen Welt verorteten Anteilen und überzeitlichen Entrückungen des Präsenzverlustes bildmächtig in Szene Diese sind zunächst durch farbige und schwarzweiße Fotografien getrennt, fließen aber im Verlauf subtil ineinander (zum Beispiel durch ein in die schwarz-weiß-Sequenz eingeschobenes zweigeteiltes Foto, in dem Anbetung und präsenzverlustiges Heraustragen eines Menschen auf einer Bahre nebeneinander stehen .) Aus verschiedenen Blickrichtungen zeigt der Band zwei prominente und doch erstaunliche Phänomene ethnologischer Gegenstände auf: Erstens sind diese offenbar immer zwischen einer unklaren Geschichtlichkeit und einer drängenden Aktualität verortet, was sich zweitens auch darin zeigt, dass der Gegenstand in irgendeiner Form, z B in Form von exotischer Verzauberung, auf seinen Beobachter oder den Forscher zurückwirkt Für Italien kommt es De Martino zu, diese Phänomene, die sich in die internationale ethnologische Forschung einschreiben lassen, herausgestellt zu haben Besonders interessant erscheint dies deshalb gerade jetzt, da sowohl die ‘eigene Kultur’ des ‘italienischen Südens’ sich selbstbewusst ausstellt - gleich zweimal hintereinander sind süditalienische Städte Kulturhauptstadt Europas, Palermo 2018 und Matera 2019 - und in diesem Kontext auch vermehrt folklorische und ethnologische Unternehmungen ins Zentrum der europäischen kulturellen Öffentlichkeit rücken; in Matera betrifft dies vor allem Projekte zu De Martino und seiner Equipe, in Sizilien solche der De Martino-Schülerin Chiara Gallini Nicht zuletzt ist auch im kleinen regionalen Geschehen zu beobachten, dass Tradition sich als transareal kulturell wirkmächtiges Handlungsdispositiv erweist, so dass auch eine Tanzgemeinschaft in der Basilikata sich nach dem salentinischen Spinnentier der Lycosa Tarantula benennen kann, die, so De Martino in seiner Studie zur terra del rimorso, den Biss der Tarantierten ausgelöst habe - auch dies ist nur ein Mythos, der den rituellen Präsenzverlust erklärt (vgl S 240 ff .) Die kulturelle Aktualität sowie die Reflexionen zur Identität Europas und die Bedeutung ‘aller Süden der Welt’ machen den Band für Italianisten und kulturell Interessierte gleichermaßen zu einer gewinnbringenden Lektüre . Rosemary Snelling Anmerkungen 1 An Gramsci orientiert erinnert die Idee nicht nur an Marx’ Produktivkraft oder Croces primato del fare, sondern auch an Eric Hobsbawms und Terence Rangers Invention of Tradition 2 Herbert Ührlings, «Inverser Primitivismus . Die ethnographische Situation als dialektisches Bild von Kafka bis Hubert Fichte», in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6 (2015), S . 31-50 2_IH_Italienisch_77.indd 110 12.06.17 11: 15