eJournals Italienisch 39/77

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2017
3977 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Tullio de Mauro zum Gedenken

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2017
Thomas Krefeld
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129 Mitteilungen Tullio de Mauro zum gedenken Zu Jahresbeginn, am 5. Januar 2017, ist Tullio de Mauro (*31.3.1932) gestorben (vgl. http: / / www.tulliodemauro.com/ ). Mit ihm hat die italienische Sprachwissenschaft eine ihrer maßgeblichen Persönlichkeiten und Europa einen bedeutenden, auch politisch engagierten Intellektuellen verloren: Seinesgleichen findet man nur ganz selten. Die linguistische Bedeutung seines umfangreichen Œuvres (http: / / www. tulliodemauro.com/ bibliografia/ ) zeigt sich in seiner außerordentlichen Vielseitigkeit, denn hat er der Forschung durch innovative Arbeiten auf ganz unterschiedlichen Gebieten - u. a. der Sprachgeschichtsschreibung, der Wissenschaftsgeschichte, sowie der Lexikologie und Lexikographie - methodologisch bahnbrechende Impulse gegeben, die sich im Spiegel ihrer produktiven Rezeption bis heute als wegweisend erwiesen haben. Ganz exemplarisch seien drei Werke hervorgehoben. Eine Schlüsselrolle für das Verständnis von Werk und Wirkung spielt die Storia linguistica dell’Italia unita (Bari: Laterza 1963 [ 2 1970]); auf den ersten Blick markiert diese Untersuchung einen regelrechten Neuansatz der Sprachgeschichtsschreibung. Zum ersten Mal wird hier - sozusagen - sprachliche Gegenwartsgeschichte im Kontext eines politischen und gesellschaftlichen Raums (Italia) konzipiert und konkret gefüllt. Mit großer Selbstverständlichkeit kann so die dynamische Verflechtung ganz unterschiedlicher, mehr oder weniger standard- oder aber dialektnaher Varietäten behandelt und zu außersprachlichen Entwicklungen und Daten in Beziehung gesetzt werden, so etwa zur massenhaften Emigration seit dem letzten Drittel des Ottocento, zur Bildungs- und Mediengeschichte usw. Auf den zweiten Blick wird Sprachgeschichte hier, de facto, als sozio-kulturell verankerte Geschichte eines mehrdimensionalen Variations- und Varietätenraums geschrieben - etliche Jahre bevor sich die variationsbezogene Terminologie in der Linguistik überhaupt etablieren konnte). Ganz nebenbei tritt weiterhin die Notwendigkeit einer Medienlinguistik hervor. Die Beständigkeit der Konzeption, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass noch der 40. Jahrestag der Ersterscheinung zum Anlass eines prominent besetzten Kongresses genommen wurde (publiziert in: Gli italiani e la Lingua , hrsg. von Franco Lo Piparo und Giovanni Ruffino, Palermo: Sellerio 2005). Tullio De Mauro selbst hat anlässlich dieses Kongresses - rückblickend - festgestellt, dass mit dem frühen Meisterwerk, ohne sich selbst vollkommen darüber klar gewesen zu sein, die Fluchtpunkte seines gesamten persönlichen Forschungsparadigmas festgelegt waren: «Quindi sono anch’io debitore alla Storia linguistica dell’Italia unita , e vi ringrazio di avermelo fatto capire» (S. 357). 2_IH_Italienisch_77.indd 129 12.06.17 11: 15 Mitteilungen 130 De Mauros Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Linguistik ließe sich an zahlreichen Arbeiten, etwa zu Wittgenstein und zur Semantik festmachen; den größten Einfluss auf diesem Gebiet hat er jedoch mit einem Buch erlangt, das von vielen Lesern wohl kaum mit seinem Namen in Verbindung gebracht wird, nämlich mit dem Cours de linguistique générale von Ferdinand de Saussure: Die von zahlreichen Generationen Studierender gelesene, in Paris bei Payot (erstmals 1972) erschienene Ausgabe ist ja mit einer Einleitung und einem bemerkenswerten Anmerkungsapparat aus der Feder Tullio De Mauros versehen, der ursprünglich mit seiner italienischen Übersetzung des Cours (Bari: Laterza 1967) erschienen war, und erst danach (in der Übersetzung von Jean-Louis Calvet) der französischen Ausgabe beigegeben und mit dieser in zahlreiche Sprachen übertragen wurde (so ins Japanische, Spanische, Chinesische, Tschechische, Russische und Rumänische; vgl. http: / / www.tulliodemauro.com/ tullio-de-mauro-biografia/ , s.v. Introduzione e commento a F. de Saussure…). Gewichtig ist Tullio De Mauros Beitrag zur Lexikographie; unter zahlreichen Werken (vgl. mit G.G. Moroni, DIB . Dizionario di base della lingua italiana , Torino: Paravia 1996; mit A. Cattaneo, Dizionario visuale della lingua italiana , Torino: Paravia 1996; DAIC . Dizionario avanzato dell’italiano corrente , Torino: Paravia 1997; mit Marco Mancini,- Dizionario delle parole straniere , Milano: Garzanti Linguistica 2001 u.a.) sticht vor allem ein echtes Referenzwörterbuch heraus, der Gradit - Grande dizionario italiano dell’uso (6 Bände, CD-rom, Torino: UTET 1999; und zwei Supplementbände 2003 und 2008). Das originellste und innovativste Lexikon ist jedoch zweifellos der gemeinsam mit F. Mancini, M. Vedovelli und M.V oghera publizierte- LIP ( Lessico di frequenza dell’italiano parlato , mit 2 CD-ROM, Milano: EtasLibri 1993). Denn es liegt ein für die Entstehungszeit durchaus beachtliches Korpus des gesprochenen Italienischen (490.000 Wörter) zu Grunde, das unterschiedliche Diskurstraditionen (u.a. Telefongespräche) aus vier verschiedenen Städten (Mailand, Florenz, Rom, Neapel) repräsentiert; das Korpus wurde ebenfalls, auf CD-ROM, veröffentlicht und mittlerweile durch Stefan Schneider in Gestalt eines annotierten Web-Korpus online zugänglich gemacht (BAnca Dati dell’Italiano Parlato; vgl. http: / / badip.uni-graz.at/ en/ description). Diese Nachnutzbarkeit im Sinne des Web 2.0 war 1993 nicht vorhersehbar, aber sie wurde durch die damalige informationstechnologische Konzeption und Realisierung nicht nur ermöglicht, sondern sie erfolgte auch im Sinne des Autors. Genauso stellt man sich wissenschaftlichen Fortschritt vor. ‘Medien’ waren für Tullio also nicht nur Gegenstand der Forschung, sondern immer auch Instrument. Über die Wissenschaft hinaus hat er die Neuen Medien im Übrigen auch für sein politisches Engagement genutzt, wie sich nicht zuletzt in der mehrjährigen Präsidentschaft der Fondazione Mondo Digitale (http: / / www.mondodigitale.org/ it) erweist, die dem Motto «Lavoriamo per una società democratica della conoscenza» verpflichtet ist. 2_IH_Italienisch_77.indd 130 12.06.17 11: 15 Mitteilungen 131 Die Größe dieses Mannes lag eben nicht zuletzt darin, sein Wissen und seinen Scharfsinn, in der Wissenschaft wie in der Politik, nicht nur in theoretische Modellierung, sondern gleichermaßen in mustergültige Praxis zu investieren. Im Jahre 1973 erfolgte eine Initiative zur Gründung des Gruppo di Intervento e Studio nel Campo dell’Educazione Linguistica (http: / / www.giscel.it/ ? q=academics) mit der Aufstellung der zehn berühmten Thesen, und es sei daran erinnert, dass sein Name - in der Funktion des Ministro della pubblica istruzione - auch unter dem Regolamento di attuazione della legge 15 dicembre 1999, n. 482, recante norme di tutela delle minoranze linguistiche storiche steht (https: / / archivio.pubblica.istruzione.it/ normativa/ 2001/ dpr345_ 01.shtml). Von einem ‘erfüllten’ Forscherleben mag man nicht sprechen, denn ‘Forschung’ ist per definitionem unerfüllbar. Aber zweifellos hat dieses Leben überreiche und - im etymologischen Sinne - wirkliche Forschungsergebnisse hervorgebracht, für die wir alle dankbar sind. Thomas Krefeld «Schreiben, finden und erfinden» - Claudio Magris erhält den Doctor phil. honoris causa der Freien Universität Berlin und wird mit einem Studientag geehrt Claudio Magris, der in Deutschland derzeit wohl am meisten beachtete und gewürdigte italienische Intellektuelle, hat am 11. Mai 2017 in Anwesenheit des Botschafters der Republik Italien, S.E. Pietro Benassi, die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin erhalten. In ihren Ansprachen würdigten der Präsident der FU, Prof. Dr. Peter-André Alt, und die Dekanin des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften, Prof. Dr. Claudia Olk, die Verdienste von Claudio Magris als Literaturwissenschaftler, Kulturtheoretiker und Kulturhistoriker, Essayist und Romancier. Sie unterstrichen die grenzüberschreitende Perspektive, mit der Magris die deutsche Literatur der Moderne im europäischen Kontext verankert habe, und die ethische Verpflichtung, die Magris der Literatur zuschreibe und auch selbst in seinen Texten immer wieder neu zum Thema mache. Dies sei, so Alt, insbesondere angesichts der derzeitigen europäischen und globalen politischen Situation von nicht zu überschätzender Bedeutung; er erinnerte in diesem Zusammenhang an die aktuellen Bestrebungen, die Freiheit der Wissenschaft und des kritischen Denkens zu sichern (u.a. ‘March for Science‘). Des Weiteren betonte Alt, die erstmalige Verleihung des Ehrendoktors einer deutschen Universität an Claudio Magris stehe der FU angesichts ihrer Gründungsgeschichte als freiheitlich-demokratische Institution in einer geteilten Stadt besonders gut zu Gesicht. Claudia Olk ergänzte dies durch eine Einordnung von Magris‘ wissenschaftlichem und literarischem Schaffen 2_IH_Italienisch_77.indd 131 12.06.17 11: 15