eJournals Italienisch 40/80

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2018
4080 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Riccardo Gasperina Geroni: Il custode della soglia. Il sacro e le forme nell'opera di Carlo Levi. Milano: Mimesis Edizioni 2018, 236 Seiten, € 22,00

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2018
Christoph Söding
ita40800139
139 Kurzrezensionen Riccardo Gasperina Geroni: Il custode della soglia. Il sacro e le forme nell’opera di Carlo Levi. Milano: Mimesis Edizioni 2018, 236 Seiten, € 22,00 Carlo Levi (1902-1975) wird in Deutschland zumeist auf seinen bekanntesten Text, Cristo si è fermato a Eboli, reduziert. In der italienischen Kritik sind zwar immer wieder auch sein theoretisches Werk, seine Reiseberichte und seine Tätigkeit als Maler thematisiert worden, eine umfassende Lektüre seines literarischen Werks vor dem Hintergrund von Levis eigenen philosophischen Ausführungen stand jedoch noch aus. Riccardo Gasperina Geroni unternimmt nun in dem hier vorliegenden Band, der 2018 den XXI Premio Carlo Levi gewonnen hat, den Versuch, den großen Bogen von der frühen theoretisch-geschichtsphilosophischen Abhandlung Paura della libertà, die Levi zu großen Teilen vor dem Krieg im französischen Exil abfasste, und die 1946 erschien, über Cristo si è fermato a Eboli (1945) und L’orologio (1950) bis zu Levis letzter Schrift, dem tagebuchartigen Quaderno a cancelli (1979 postum veröffentlicht) zu schlagen. Das erste Kapitel der Studie, das bereits knapp zwei Fünftel des gesamten Texts ausmacht, führt die Leserschaft in Paura della libertà ein. Die philosophischen Überlegungen Levis in diesem Text versteht Gasperina als grundlegend für seine Lektüre der Romane Cristo si è fermato a Eboli und L’orologio. Gasperina legt zu Recht großen Wert auf die Frage der Positionierung Levis gegenüber Benedetto Croce, dessen Freiheitsbegriff Levi ablehnt. Der Gegenstand von Paura della libertà ist die Frage, wie es zum Aufstieg des Faschismus kommen konnte und warum er von der italienischen Linken und den Philosophen, die ihr zugerechnet werden, nicht vorhergesehen oder gar verhindert werden konnte. Levi konstatiert in diesem Zusammenhang, dass die psychologische Komponente nicht genug beachtet worden sei, genauer das Erzeugen von Angst, ein Kernpunkt der erfolgreichen Strategie der Faschisten. Es sind vor allem drei Denker, auf die Levi in seinen Ausführungen rekurriert. Von Giambattista Vico übernimmt er die Idee einer Entwicklung des Menschengeschlechts, die stufenweise geschieht und eine Geschichte der Entfernung des Menschen vom Natürlichen, vom Unförmigen ist. Von Rudolf Otto leiht Levi sich den Begriff des Heiligen, den er eng mit einem ursprünglichen, archaischen Zustand des Menschen in Relation zu seiner Umwelt assoziiert. C.G. Jung lässt er das Prinzip der Individuation beisteuern, das die Selbstfindung des Menschen in Relation zu seiner Umwelt beschreibt. Kombiniert wird das bei Levi zu einer Auffassung der Menschheitsgeschichte, die von einer fortschreitenden Distanzierung vom Unbewussten, Unförmigen und auch Heiligen geprägt ist. Der Mensch steht dabei in einer zweideutigen Beziehung zum Heiligen: Das Heilige wirkt Italienisch_80.indb 139 01.03.19 12: 09 14 0 Kurzrezensionen auf ihn nach Otto zugleich bedrohlich und anziehend. Er versucht sich also davon zu distanzieren um sich dadurch zu individualisieren, gleichzeitig sucht er als einzelner Mensch aber immer auch die Gesellschaft der anderen Menschen und damit wieder den Kontakt zum Allgemeinen, zum Unbestimmten (oder, mit Jung, zum Archetypischen). Der Erfolg des Faschismus wird nun von Levi darauf zurückgeführt, dass es den Faschisten gelungen sei, das Volk (bestehend aus Individuen) zur Masse zu machen, die keine Individualität kennt, und die der Ebene des Unförmigen, des Heiligen zuzurechnen ist. Der Mechanismus, der den Umgang des Menschen mit dem bedrohlich-anziehenden des Heiligen laut Levi am besten beschreibt, ist die Religion. Sie bietet die Möglichkeit, die unheimlichen Aspekte durch Rituale o.ä. zu bändigen und begreifbar zu machen. Levi versteht nun den Faschismus italienischer und deutscher Ausprägung als eine solche Religion. Die unförmige Masse wird mithilfe einer Führerfigur, der gottgleiche Eigenschaften zugeschrieben werden, mithilfe von Ritualen und Gebeten (also politischen Kampfparolen) manipuliert, weil ihr vorgegaukelt werden kann, dass dies der Weg zur Individuation sei. Die Menschen haben Angst vor ihrer eigenen Freiheit - hier kommt der Titel des Traktats ins Spiel - und lassen sich deshalb als Masse behandeln. In der Folge wird Levis Roman Cristo si è fermato a Eboli als Dokument der Erinnerung des Autors an seine Verbannung in Süditalien gelesen und damit gleichzeitig, so Gasperina, als Gegengift zur Barbarei des Zweiten Weltkriegs - entstanden ist der Text in der ersten Hälfte des Jahres 1944, als Levi in Florenz unter Hausarrest stand. Es sind dabei vor allem drei Aspekte, die herausgestellt werden, nämlich die Bevölkerung Lukaniens und ihre spezifische soziale Struktur, die Landschaft der Region, und schließlich die Integration des Autor-Protagonisten selbst in die dortige Gesellschaft. Die Menschen, auf die der Erzähler während seiner Verbannung trifft, repräsentieren eine Gegenwelt zur modernen Zivilisation. Begriffe und Ideen wie Fortschritt, Staat, Christentum oder auch Geschichte als lineares Ablaufen der Zeit sind ihnen, so Levis Einschätzung, unbekannt. Stattdessen leben sie in einer archaischen Welt, deren Zeit zyklisch abläuft, und die von den sich wiederholenden Tagen und Jahren geprägt ist. Ihnen gegenüber stehen die «signori», eine kleine Gruppe von Personen, die für Verwaltung und Politik zuständig sind, und die entweder von Rom eingesetzt sind oder sich selbst entsprechend angepasst haben. Nicht nur den Menschen, sondern auch der Landschaft Lukaniens werden von Levi ursprüngliche, archaische Eigenschaften zugeschrieben. Es handle sich, so Gasperina, um einen Chronotopos der Unbeweglichkeit. Implizit werden hier immer wieder Anspielungen auf Paura della libertà deutlich, und zwar besonders auf die Idee des Heiligen, des Unförmigen, des Italienisch_80.indb 140 01.03.19 12: 09 141 Kurzrezensionen Archaischen, dem innerhalb von Cristo si è fermato a Eboli die Einwohner und die Landschaft Lukaniens zugeordnet werden. Gasperina liest, sicher nicht zu Unrecht, diese Konstellation im Anschluss an Walter Benjamin als Schwellenbereich, in dem der Ich-Erzähler verschiedene Stufen der Initiation durchläuft, und in dem er sich schließlich selbst findet. Diese Selbstfindung, so die Schlussfolgerung, ließe sich von der persönlichen auf die politische Ebene übertragen: So wie das Ich durch die Immersion in die archaische Lebenswelt gewachsen sei, könne auch ganz Italien an einer solchen Erfahrung wachsen. Das Kapitel über Levis zweiten Roman, L’orologio, greift die politische Ebene am Anfang kurz auf und verweist auf die lange Tradition einschlägiger Deutungen, die erst seit den Neunziger Jahren um alternative Ansätze ergänzt worden ist. Indem er eine lange politische Rede behandelt, in der Levi durch eine der Figuren des Romans seine Einteilung der italienischen Gesellschaft in «contadini» und «luigini» ausführt, gelingt es Gasperina, die Verbindungen zu Cristo si è fermato a Eboli aufzuzeigen, wo ja ein analoges Modell verwendet worden war. Er wendet sich jedoch in der Folge der privaten, psychologischen Dimension des Romans zu und untersucht die Rolle, die verschiedene Konzeptionen von Zeit in ihm spielen. Im Zentrum steht dabei die Uhr des Protagonisten, anhand deren Verlusts durch den Protagonisten sowie einen sich daran anschließenden Traum der Roman einige Reflexionen über Zeit an sich anstellt. Gasperina arbeitet dabei an unterschiedlichen Stellen heraus, dass Levi auf politischer wie künstlerischer Ebene gleichermaßen vom Scheitern der rationalistisch-progressistischen Weltanschauung überzeugt ist. Die Studie zeigt immer wieder auf, inwiefern Levi sich von Hegel und Croce abgrenzt und sich zu Walter Benjamins Begriff der «Jetztzeit» hinwendet. Das Bemühen des Protagonisten, eine neue Uhr zu finden, wird dabei analog gesetzt zum Bemühen Levis, eine neue Epoche einzuläuten, in der die alte, paternalistisch-lineare Zeitordnung zugunsten einer «contemporaneità dei tempi» abgelöst wird. Abschließend wirft die Studie noch einen Blick auf Quaderno a cancelli, Levis letzte Schrift, die unter dem Eindruck der einsetzenden Blindheit des Autors in dessen letzten Lebensjahren entstanden ist. Gasperina zeigt, dass Levi trotz teilweise dramatischer Veränderungen der Lebensumstände in bestimmten Überzeugungen und Grundannahmen stets konsistent geblieben ist. So findet sich auch in Quaderno a cancelli die Ablehnung eines aufgeklärten Fortschrittsglaubens - in diesem Fall ausgearbeitet anhand der Lichtmetapher (Illuminismo), die Levi mit der ihn umgebenden Dunkelheit bzw. dem Grauen kontrastiert. Wie bei den anderen besprochenen Texten wird auch hier eine ganze Reihe von philosophischen und künstlerischen Referenzpunkten aufgezeigt, etwa die aus Paura della libertà, Cristo si è fermato Italienisch_80.indb 141 01.03.19 12: 09 142 Kurzrezensionen a Eboli und L’orologio bekannten C.G. Jung und Walter Benjamin, darüber hinaus aber auch Eugenio Montale und Giacomo Leopardi sowie der Psychoanalytiker Sándor Ferenczi. Ergänzt wird diese Ideensammlung um die Kategorie der futilità, einen etwas vagen Begriff, der hier vielleicht mit ‘Belanglosigkeit’ wiedergegeben werden kann. Gasperina bringt sie wiederum eng mit dem konkreten körperlichen Zustand Levis in Verbindung. Sie wird im Spätwerk zum ersten Mal entworfen und drückt den Versuch aus, einen Begriff zu finden, unter den sich die zahlreichen negativen Definitionen subsumieren lassen. Ähnlich dem Sprecher in Montales «Non chiederci la parola…» verwehrt sich auch Levi gegen positivistische, rationalistische Versuche der Welterklärung und verlegt sich daher auf eine Art via negationis, die mit dem Begriff der futilità überschrieben wird. Gasperinas Studie zeigt also mithilfe einer Reihe von abstrakten Analogien und einigen Beispielen für konkrete Rezeption philosophischer Ideen das geschichtsphilosophische Potenzial Carlo Levis auf. Implizit und ganz am Ende auch explizit steht dabei die Frage im Zentrum, ob Levi damit ‘nur’ ein aufmerksamer Zeitdiagnostiker war, der die Mechanismen des Faschismus erkannte und beschrieb, oder ob in seinem Denken auch eine optimistische Zukunftsaussicht angelegt ist. Diese Frage, die Gasperina mit einer Tendenz zum Optimismus beantwortet, verdeutlicht, wie aktuell Carlo Levi als Theoretiker und Schriftsteller heute ist, und macht somit auch die Relevanz dieser Studie in der heutigen Zeit klar. Christoph Söding Italienisch_80.indb 142 01.03.19 12: 09