Internationales Verkehrswesen
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2021 | Heft 2 Mai Das neue Mobilitätsverhalten und seine Folgen Wertewandel im Zeitraffer Heft 2 | Mai 2021 73. Jahrgang POLITIK Weichen stellen für zukunftsfähige Mobilität INFRASTRUKTUR Aktuelle Projekte im Fokus LOGISTIK Digitalisierung als Lösungsweg MOBILITÄT Fahrrad statt Bus: Bleibt der ÖV auf der Strecke? TECHNOLOGIE Forschung und Entwicklung im Blick www.internationalesverkehrswesen.de Gegründet im Jahr 1990, liefert Trialog seit mehr als drei Jahrzehnten zielgruppenspezifische Informationen für Entscheider in technischen Branchen. Die Trialog Publishers Verlagsgesellschaft ist ein spezialisiertes Medienunternehmen mit klassischen und digitalen Publikationen für Ingenieure, technische Fach- und Führungskräfte und Experten aus Wissenschaft und Forschung. Die crossmedialen Fachmedien des Verlags sind darauf ausgerichtet, diese Zielgruppen in Beruf und Karriere professionell zu unterstützen. Bei Trialog Publishers erscheinen die technisch-wissenschaftlichen Fachmagazine »Internationales Verkehrswesen« (mit den englischsprachigen Specials »International Transportation«) sowie »Transforming Cities | Das Fachmagazin zum urbanen Wandel«. ... sind verlässliche Informationen Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | 72270 Baiersbronn | Schliffkopfstraße 22 | www.trialog.de © Gerd Altmann auf Pixabay Was zählt ... Tri-Eintel-Eigen-Anz-1.indd 1 18.02.2021 10: 58: 49 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 3 Sebastian Kummer EDITORIAL Wertewandel - in welche Richtung geht-er? E s ist offensichtlich, dass die Covid-19-Krise den Wertewandel bei Menschen, Unternehmen und natürlich auch der Gesellschaft als Ganzes beschleunigt. Dabei spielen die beiden Megatrends Ökologisierung und Digitalisierung eine entscheidende Rolle. Während die Wirtschaftskrise 2008 für die Ökologisierung einen deutlichen Rückschlag bedeutete, weil alle Kraft auf eine ökonomische Erholung gelegt wurde und aus Gründen der Kostendisziplin keine starken Digitalisierungsinitiativen gesetzt wurden, erscheint die Situation heute anders. Im Güterverkehr zeichnet sich ein eindeutiger Wertewandel hin zur Dekarbonisierung ab. Es ist wohl eine Mischung aus moralischer Überzeugung der Manager*innen und der Erkenntnis, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen zumindest in der EU in den nächsten Jahren radikal ändern werden, die zu zahlreichen Initiativen führt. Das Erfreuliche dabei ist, dass es nicht nur um ein Green Washing oder Green Marketing geht, sondern tatsächlich Veränderungen angestrebt werden. Im Bereich der Digitalisierung investieren im Grunde alle maßgeblichen Player. Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt. Im Bereich der Personenmobilität sehen wir ein sehr gemischtes Bild. Aus Sorge um die Gesundheit erleben wir einen starken Wandel hin zu individuellen Mobilitätsformen. Die ansteigenden Fahrradverkehr- und Fußgängerzahlen sind dabei zwar durchaus positiv für die Umwelt, allerdings bedeutet die Abkehr der Menschen von den öffentlichen Verkehrsmitteln eine enorme Herausforderung. Dass gleichzeitig der PKW (bei niedrigen Rohölpreisen) für preissensible Reisende attraktiv erscheint und das beginnende Angebot bei batterieelektrischen PKW im Verbund mit hoher Förderung für viele Menschen eine Gelegenheit bietet, PKW und Umweltgewissen zu verbinden, ist für den gesamten öffentlichen Personennahverkehr ein Alarmsignal. Es bleibt abzuwarten, ob es sich hierbei um einen Wertewandel weg vom öffentlichen hin zum individuellen Verkehr handelt - wieder einmal. Ein enorm gefährliches Anzeichen in diesem Zusammenhang ist, dass viele Pendler*innen ihre Zeitkarten gekündigt haben. Hier wäre es wichtig, zum Beispiel mit attraktiven, flexiblen Angeboten zu reagieren. Die lange Zeit beliebte Strategie, Einzelfahrten teuer zu machen und Zeitkarten günstiger zu gestalten, ist vor diesem Hintergrund sicherlich kritisch zu sehen. Unabhängig davon, ob nun batterieelektrische Antriebe so umweltfreundlich sind wie von einigen Proponenten propagiert, dürfen sich die öffentlichen Verkehrsunternehmen nicht mehr auf das Narrativ der umweltfreundlichen Verkehre verlassen. Es erscheint mir wichtiger denn je, dass der öffentliche Verkehr mit Werten wie Kundenfreundlichkeit, Zuverlässigkeit und Flexibilität überzeugt und auch bei der Digitalisierung eine innovative Rolle einnimmt. Die vorliegende Mai-Ausgabe von Internationales Verkehrswesen gibt Ihnen eine Vorstellung von der Vielfalt der Ansatzpunkte für den Wertewandel nach der Covid-19-Krise. Viel Spaß beim Lesen Sebastian Kummer Univ. Prof. Dr., Vorstand des Institutes für Transportwirtschaft und Logistik, WU Wien Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 4 Beilagenhinweis Bitte beachten Sie die Beilage zum 10. ÖPNV Innovationskongress in dieser Ausgabe. THEMEN, SCHLAGWORTE, AUTOREN, … Schlagen Sie einfach nach: Fach- und Wissenschafts-Artikel aus Internationales Verkehrswesen finden Sie-ab dem Jahr 2000 online in der Beitragsübersicht - auf der Archiv-Seite im Web. www.internationales-verkehrswesen.de/ archiv POLITIK INFRASTRUKTUR 30 Praxis und Projekte - Schieneninfrastruktur braucht besseres Krisenmanagement - Meilenstein im Projekt „Neue Straßenbahnen für Jena“ - Brenner-Nordzulauf: Beste Streckenführung steht fest - Schneller zum BER: Deutsche Bahn startet Bau der Flughafenkurve - TransAID hilft automatisierten Autos in kritischen Situationen - Green Operation - Infrastruktur für Wasserstoff-Flugzeuge LOGISTIK Foto: Airbus SEITE 30 Foto: Gerhard G / pixabay SEITE 34 Foto: Jürgen Gies SEITE 12 34 Massiv wachsender Straßentransport trotz Schienenausbau? Studie fordert politisches Gesamtkonzept und Maßnahmen für Klimaschutz 36 Megatrend „Supergrid Logistics“ Dirk Ruppik WISSENSCHAFT 38 Ungenutzte Potentiale der Telematik Logistikunternehmen im digitalen Umbruch Boris Zimmermann Yusuf Say 10 Schaffung zukunftsfähiger Grundlagen für einen effizienten Schienengüterverkehr Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur 12 Zukunftsfähiger ÖPNV in ländlichen Räumen Herausforderungen und wichtige Weichenstellungen Melanie Herget Carsten Sommer Jürgen Gies 16 Der Beitrag des Luftverkehrs zur Nachhaltigkeit Christoph Brützel WISSENSCHAFT 24 Corona und Luftfahrt - Anlass oder Ursache der Konsolidierungsphase Hintergründe und Folgerungen für Hersteller und Luftverkehrsgesellschaften Volker Gollnick Christian Weder Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 5 INHALT Mai 2021 Aktuelle Themen, Termine und das umfangreiche Archiv finden Sie unter www.internationalesverkehrswesen.de TECHNOLOGIE RUBRIKEN 03 Editorial 06 Im Fokus 09 Kurz + Kritisch 23 Bericht aus Brüssel 73 Forum Veranstaltungen 74 Impressum | Gremien 75 Vorschau AUSGABE 3 | 2021 71 Aus Forschung und Entwicklung - Nachhaltig: E-Motor ohne Seltene Erden - Digitale Kreuzungsdaten für kooperative Verkehrssysteme - Flussbatterien: Neues Forschungsprojekt der Universität Bayreuth - Hochtemperatur-Brennstoffzelle mit Ammoniak für Schiffe - Drehgestell der neuesten Generation für den Schienenverkehr Foto: Bilal El-Daou / pixabay SEITE 46 Foto: SAF Holland SEITE 71 MOBILITÄT 44 Staufrei in die Berge Corona und die Folgen für den Ausflugsverkehr am Beispiel der Stadt München Korbinian Leitner 46 Klimakosten eines Flughafens Berechnung der Klimakosten aller Linienflüge an einem Flughafen am Beispiel des Flughafens Bremen Richard Klophaus 50 Die Idee von Nabe und Speiche Nissan-Projekt in Japan soll urbane Mobilität und Energieversorgung stärken 52 Ergibt Mikromobilität Sinn? Standpunkt Konrad Otto-Zimmermann 54 Mobilitätsmonitor Nr. 12 - Mai 2021 Christian Scherf Mareike Bösl Andreas Knie Lisa Ruhrort Wolfgang Schade Technologiewandel - Energieträger für morgen - Antriebstechnik im Fokus - Angebot & Akzeptanz Special: International Transportation - Changing the Game: Solutions Erscheint am 1. September 2021 WISSENSCHAFT 58 Persönlichkeitseigenschaften von Radfahrenden Erste Ergebnisse einer explorativen Querschnittsstudie zum Fünf-Faktoren-Modell und PKW-Fahrstilen von Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden in Deutschland Klemens Weigl Leonie Pietsch 65 Die Angebotsattraktivität des SPNV in Deutschland Ein quantitativer Vergleich der-28 großen SPNV-Aufgabenträger Daniel Herfurth Beilagenhinweis Diese Ausgabe liegt eine Information der TAE Technische Akademie Esslingen bei. Wir bitten um Beachtung. Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 6 IM FOKUS Rangier-Robots beschleunigen Umschlag bei ADM do Brasil D er Agrarkonzern Archer Daniels Midland (ADM) setzt beim Umschlag von Soja und Mais in seinem modernisierten Schiffsterminal im brasilianischen Santos auf zwei kabelgebundene und zwei dieselelektrische Rangier-Robots vom süddeutschen Rangierspezialisten Vollert. Im Wechselspiel übernehmen die Rangiermaschinen im 24-h-Betrieb den Verschub von Güterzügen bis 3.900 t. Die beiden Rangier-Robot Pro DER240 mit über 100 t Dienstgewicht sind mit je zwei Drehgestellen und vier gefederten Antriebsachsen ausgestattet, ihr frequenzgeregelter diesel-elektrischer Antrieb mit 240- kN Zugkraft bringt ausreichend Leistung zum Verschub von bis zu 3.900 t. Die Steuerung erfolgt wahlweise aus den zwei beidseitig liegenden Bedienständen oder per Funk. Auch die Kupplung kann automatisch geöffnet werden - wegen der zahlreichen Kupplungsvorgänge beim Wiegen, Entladen und Rückführen der Wagen im Hafenterminal von ADM bringt das einen erheblichen Zeitvorteil. Im Terminal von ADM gliedert sich die Entladung in zwei Bereiche. Den getakteten Verschub der vollen Güterwaggons übernehmen die diesel-elektrischen Rangiermaschinen, die Rückführung und Zusammenstellung der Leerzüge zwei kabelgebundene Rangier-Robot. Die Rangier-Robot DER240 verschieben Züge mit bis zu 30 Wagen je 130-t Gewicht; sie positionieren jeden Wagen einzeln auf einer Waage, führen sie dann weiter zur Entladung und Entkoppelung. Nach der Entladung führen zwei elektrische Rangier-Robot KR70 die leeren Güterwagen zu einer weiteren Waage und stellen anschließend Leerzüge mit einem Gesamtgewicht von bis zu 900 t zusammen. Vier elektronisch geregelte elektrische Fahrantriebe mit einer Gesamtleistung von 60 kW sorgen für emissionsfreien Allradantrieb, eine motorgesteuerte Kabeltrommel zur Energieführung ermöglicht einen Fahrweg von rund 320 m. Gesteuert werden die Rangier-Robot KR70 überwiegend per Funkfernsteuerung, alternativ aus ihrer Fahrerkabine. Zukünftig ist auch die komplette Automatisierung der Abläufe möglich, da die Bereiche parallel doppelt angeordnet sind und zeitversetzt arbeiten. Mit dem Neubau des Hafenterminals rund 80 km von Sao Paolo entfernt investierte ADM insgesamt rund 60 Mio. EUR in einen nachhaltigen Hafenbetrieb. Durch die Modernisierung werden bis zu 80 Prozent der Emissionen an Staub- und Getreidepartikeln vermieden, die bei der Verladung entstehen. www.vollert.de Erstes „faires“ Mautsystem auf der A8 Athen-Patras G riechenland hat als erstes Land der Europäischen Union ein elektronisches Mautsystem in Betrieb genommen, bei dem PKW-Fahrer auf der Autobahn nur noch für tatsächlich gefahrene Kilometer zur Kasse gebeten werden. Das so genannte „Hybrid Multi-Lane-Maut-System“ von Kapsch TrafficCom ergänzt das traditionelle Bezahlsystem, das in der griechischen Bevölkerung über Jahre für Unmut gesorgt hatte: Bisher mussten Autofahrer immer für einen ganzen Streckenabschnitt bezahlen, selbst wenn sie die Autobahn schon bei der ersten Ausfahrt nach einer Mautschranke verlassen hatten. Technisch werden die PKW mit On- Board-Units ausgestattet, die vergleichbar mit einer Vignette an der Windschutzscheibe des Fahrzeugs befestigt werden. Wenn der PKW damit in einen Maut-Checkpoint einfährt, bucht das System die Mautkosten vom Kundenkonto des Halters automatisch ab und die Schranke gibt den Weg auf die Autobahn frei. Sobald das Fahrzeug die Strecke an einer Abfahrt verlässt, findet eine kilometergenaue Abrechnung statt - zu viel gezahlte Kosten für den Gesamtabschnitt werden auf dem Konto des Fahrers wieder gutgeschrieben. Für die Einführung des Systems haben sich die Bürgermeister von an der Autobahnstrecke Athen-Patras gelegenen Städten und Gemeinden stark gemacht. Bisher wollten viele Autofahrer die Kosten für einen gesamten Streckenabschnitt der A8 vermeiden, blieben deshalb auf den Landstraßen und verstopften die Ortsdurchfahrten. Das führte zu einer erheblichen Belastung mit Lärm und Emissionen. Die kilometergenaue Abrechnung der Straßennutzung mit dem neuen System wird jetzt als Rabatt- Lösung verstanden, bei der zu viel gezahlte Streckennutzung nach der tatsächlich gewählten Abfahrt gutgeschrieben wird. Zusammen mit der Zeitersparnis haben Autofahrer nun Anreiz, die Autobahn zu nutzen. www.kapsch.net Kabelgebundener Rangier-Robot Standard KR70 Foto: Vollert Anlagenbau Mautsystem auf der A8 Athen-Patras. Foto: Kapsch TrafficCom< Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 7 IM FOKUS Mobileye, Transdev und Lohr bringen autonome Shuttles D as Intel-Unternehmen Mobileye, die auf autonome Mobilitätslösungen fokussierte Transdev Autonomous Transport System (ATS) als Teil der Transdev Group und die elsässische Lohr Group haben die strategische Zusammenarbeit zur Entwicklung und Bereitstellung autonom fahrender Shuttles angekündigt. Die Unternehmen integrieren dazu das Mobileye-System für selbstfahrende Fahrzeuge (SDS) in das elektrische Shuttle-Fahrzeug i-Cristal der Lohr Gruppe. Ziel ist die Einführung des i-Cristal Shuttles für den öffentlichen Nahverkehr auf Basis selbstfahrender Flotten weltweit, beginnend 2023 in Europa. Durch die Integration der Lohr-Shuttles in das bestehende Mobilitätsservice-Netzwerk von Transdev wollen die Unternehmen die Effizienz und den Komfort des öffentlichen Nahverkehrs verbessern. Mobilität auf Basis selbstfahrender Fahrzeuge kann in den bestehenden ÖPNV integriert werden, um bei Bedarf Fahrzeuge flexibel bereitzustellen, gleichzeitig Kosten zu senken und das Nutzererlebnis zu verbessern. Um bis 2022 die Produktionsreife zu erlangen, werden die Fahrzeuge zunächst in Frankreich und Israel getestet. Die Unternehmen gehen davon aus, dass sie bis 2023 den kommerziellen Betrieb der selbstfahrenden i-Cristal Shuttles in öffentlichen Verkehrsnetzen aufnehmen können. Jedes Shuttle bietet Platz für bis zu 16 Passagiere und ist mit einer Rampe ausgestattet. Es kann mit einer Geschwindigkeit von bis zu 50 km/ h fahren und ist so konzipiert, dass es sich sicher und effizient in öffentliche Verkehrsnetze einfügt. Das Self-Driving System (SDS) von Mobileye ist eine schlüsselfertige Lösung für höchster Sicherheit durch zwei Kernkomponenten: das vom Unternehmen selbst entwickelte formale Modell für „verantwortungsbewusste Sicherheit“ (Responsibility- Sensitive-Safety, RSS) in der Entscheidungslogik sowie ein Umgebungserfassungssystem, das auf True RedundancyTM aufbaut und damit zwei unabhängige Subsysteme (Kameras sowie Radar und Lidar) kombiniert, um die Fahrzeugumgebung sicher wahrzunehmen. Eine eigens entwickelte Road Experience Management Technologie (REMTM) ermöglicht die Erstellung einer proprietären und nutzergenerierten globalen Straßennetzkarte (AV Map), die anhand der durch die weitverbreiteten Fahrerassistenzsysteme von Mobileye gesammelten Daten kontinuierlich und automatisch aktualisiert wird. www. lohr.fr/ de/ Einzelne i-Cristal Shuttles lassen sich modular zu Zügen koppeln. Foto: Lohr Sharing Economy: Kollaboratives Fahrzeugrouting im-Blick N och immer fahren zu viele leere LKW und Güterzüge durch das Land. Ein Grund dafür sind unter anderem Unternehmen, die einander nicht in die Karten schauen lassen möchten, wenn es um Auftragsvolumen, Kosten und Stammkunden geht. An der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt untersuchen Forscher*innen nun, wie die Sharing Economy, konkret das kollaborative Fahrzeugrouting, trotzdem die Zukunft in der Logistikbranche verändern könnte. Das Projekt mit dem Titel „EMIL - Exchange Mechanisms in Logistics“ wird vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanziert und an der Universität Klagenfurt und der Universität Wien durchgeführt. Das Projekt konzentriert sich auf horizontale Kollaborationen, bei denen Unternehmen auf der gleichen Ebene einer Lieferkette durch den Austausch ausgewählter Transportaufträge Ressourcen mit ihren Mitbewerbern teilen. Dies kann über digitale Plattformen organisiert werden, auf denen Transportdienstleister ihre Aufträge so austauschen, dass ihre Touren möglichst wenige Leerfahrten beinhalten. Solche Plattformen sind zwar bereits im Praxiseinsatz, die bestehenden Mechanismen schöpfen aber das Potenzial solcher Kollaborationen längst nicht aus. Denn miteinander im Wettbewerb stehende Unternehmen wollen meist wesentliche Informationen nicht teilen. Herausfordernd ist darüber hinaus, Kosten und auch den Gewinn fair aufzuteilen. Alles Gründe, warum sich zahlreiche ähnliche Ansätze - etwa in der Citylogistik schon seit den 1980er Jahren - immer wieder aufgegeben wurden. Das Projektteam arbeitet daran, diese Hürden mit Mechanismen abzubauen, die es schaffen, mit möglichst geringem Informationsaustausch auszukommen und dennoch eine faire und kostengünstige Aufteilung der Transportaufträge zu erstellen. Hier setzt man unter anderem auf Auktionssysteme, die über ein Bieterverfahren gute Aufteilungen vorhandener Kapazitäten finden, ohne dass teilnehmende Transporteure sensible Daten, wie Kosten oder Stammkunden, offenlegen müssen. Auch sollte der Vergabeprozess so gestaltet sein, dass möglichst viele Transportdienstleister Anreize sehen, nutzbringend teilzunehmen. Dazu gehört, dass gemeinsam erzielte Gewinne fair aufgeteilt werden. Wie eine solche Gewinnaufteilung gestaltet sein könnte, ist eine der wesentlichen Problemstellungen des Projekts. www.aau.at Symbolfoto: Planet Fox / pixabay Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 8 IM FOKUS LogIKTram-Verbundprojekt: Wenn die Tram Pakete bringt K ombinierter Verkehr auf der Schiene bewegt sich derzeit überwiegend zwischen den großen Güterterminals oder von und zu den Seehäfen. In den Städten und urbanen Agglomerationen spielt Schienengüterverkehr bisher kaum eine Rolle. Dort sind zunehmend kleinteilige Verkehre auf der Straße unterwegs, für die es neuer Konzepte bedarf. Das Verbundvorhaben LogIK- Tram soll deshalb ein Logistikkonzept sowie eine Informations- und Kommunikationstechnik (IKT)-Plattform für künftigen Gütertransport in Straßenbahn- und Stadtbahnwagen entwickeln. Das Karlsruher Institut für Technologie (KIT), die Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG), das FZI Forschungszentrum Informatik als Innovationspartner des KIT sowie weitere Partner entwickeln ein fahrzeugtechnisches und logistisches Konzept für eine „Gütertram“ auf Basis einer Karlsruher Zweisystem-Stadtbahn und untersuchen die Auswirkungen auf den Straßen- und Schienenverkehr. Das am 1. März 2021 gestartete Projekt ist auf drei Jahre angelegt und wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert. LogIKTram ist ein grundlegendes Teilprojekt der Gesamtinitiative regioKArgo, die es sich zum Ziel gesetzt hat, in Karlsruhe und der umliegenden Region neue Formen des Warenladungs- und Lieferverkehrs zu untersuchen und umzusetzen. Im Rahmen von regio- KArgo sollen zum einen Verkehre künftig stärker von der Straße auf die Schiene verlagert und zum anderen die letzte Meile der Belieferung emissionsfrei gestaltet werden. Das Projekt LogIKTram verfolgt mehrere Teilziele. So entwickeln die Forscherinnen und Forscher am FAST des KIT das technische Konzept für eine Zweisystem- Gütertram auf der Basis einer Stadtbahn nach dem „Karlsruher Modell“, das schon seit fast 30 Jahren Straßenbahnstrecken in der Stadt und Eisenbahnstrecken im Umland kombiniert. Die AVG stellt hierfür ein Fahrzeug zur Verfügung, das speziell für die Anforderungen des Transports von Gütern angepasst und als erstes Demonstrationsobjekt getestet werden soll. Vor einem Realbetrieb sind weitere Aufgabenstellungen in den Themenfeldern verkehrliches Konzept, Bahnbetrieb, Gestaltung der Umschlagvorgänge und rechtliche Grundlagen zu bearbeiten. Durch variable Innenraumgestaltung soll die Gütertram sowohl Personen als auch Waren transportieren können. Die Transportbehälter sollen automatisiert ein- und entladen sowie über Vorrichtungen wie Haken und Riegel gesichert werden. Eine präzise Positionierung der Bahnen an den Stationen ist essentiell, um die Transportbehälter zentimetergenau bewegen und die normalen Fahrgastwechselzeiten im Personenverkehr einhalten zu können. Bestehende ÖV-Fahrpläne sollen nicht verändert werden. Die LogIKTram ist nicht der erste Versuch, die City-Logistik wenigstens teilweise auf die Schiene zu verlagern. Das im Vorjahr durchgeführte Forschungsprojekt „Logistiktram“ der Frankfurt UAS beschränkte sich jedoch auf die Innenstadt, in Dresden bediente die sogenannte Cargo-Tram bis Dezember 2020 nur eine feste Strecke zwischen Logistikzentrum und Werk für den Autohersteller Volkswagen. www.kit.edu Die LogIKTram soll zu einer besseren Verkehrsklimabilanz beitragen. Foto: Paul Gärtner, KVV Mehr Radwege führen zu deutlich mehr Radverkehr R echnen sich Investitionen in eine klimafreundliche Verkehrsinfrastruktur wirklich oder ist das nur teure Symbolpolitik? Eine Studie des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change) geht dem wissenschaftlich auf den Grund. Als Beispiel dienen in der Corona- Pandemie angelegte „Pop-up-Radwege“, bei denen eine Fahrspur der Straße oder ein Parkstreifen provisorisch umgewidmet werden, etwa mit gelben Linien oder Baustellenbaken. Die Studie vergleicht Städte, die solche provisorischen Trassen ausgewiesen haben, mit jenen, die das nicht tun, und berücksichtigt „Störfaktoren“ wie ÖV-Dichte, Topografie und Wetter. Ausgangspunkt sind die Erhebungen von 736 amtlichen Fahrradzählstationen in 106 europäischen Städten sowie das Monitoring des Europäischen Radfahrerverbands zu den Pop-up-Radwegen. Zwar nutzen derzeit ohnehin mehr Menschen das Rad, um nicht in vollen Bussen und Bahnen zu sitzen. Die Studie zeigt aber, dass die neuen Radwege darüber hinaus in beträchtlichem Umfang zusätzlichen Radverkehr bewirkt haben. Am Ende steht das vorsichtige Fazit: Die untersuchten Popup-Radwege bewirkten von März bis Juli 2020 zwischen 11 und 48 Prozent zusätzlichen Radverkehr. Ein Kilometer Pop-up- Radweg kostete etwa in Berlin nur 9.500 EUR. Sebastian Kraus, Politik-Analyst am MCC und Leitautor der Studie: „Die Chance, hier mit wenig Aufwand den Verkehrsmittel-Mix erheblich zu beeinflussen, wird in vielen Städten zu Unrecht vernachlässigt.“ www.mcc-berlin.net Gerd Aberle KURZ UND KRITISCH Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 9 Hoffnungen, Enttäuschungen, Illusionen A ls Folge der Corona-Epidemie und der politisch gewollt hohen Kapazitätsangebote brach der öffentliche Personenverkehr weitgehend ein, während im Gütertransport sehr unterschiedliche Marktentwicklungen eintraten. Neben den außerordentlich gewachsenen und durch Online- Käufe favorisierten Paketdiensten zeigen sich extreme Kapazitätsengpässe im internationalen Seeverkehr. Sie wurden vor Ostern durch die Suez-Kanal-Störung weiter verschärft. Als Folge stiegen die Frachtraten in der Asien-Fahrt steil an, bei Zunahme der Verspätungen und zusätzlichen Staus in den Seehäfen. Darunter leiden mittlerweile die produzierende und die Logistikwirtschaft aufgrund fehlender Zulieferteile und Nichteinhaltung von vertraglichen Lieferterminen. Parallel hierzu sind die Auftragsbestände für weltweite Schiffsneubauten in der Megamax-Klasse mit über 20.000 TEU-Stellplatzkapazität auf rd. 150 Einheiten angewachsen. Sie werden in zwei bis drei Jahren in den Markt kommen. Dies wird erfahrungsgemäß auch wieder zu Ratenabsenkungen führen, denen die Reedereien dann bald mit Forderungen nach regulativen Wettbewerbsbeschränkungen zu begegnen versuchen. Altbekannte Verhaltensweise im Schweine-Zyklus-Format. Die Großreedereien, entstanden vor allem durch Zusammenschlüsse, versuchen darüber hinaus, die Hinterlandtransporte von/ zu den Seehäfen zulasten der dort tätigen Carrier zu übernehmen, also die Speditionen auszuschalten. Hier ist um die sog. Carrier`s Haulage ein vertikaler Machtkampf entbrannt. Andererseits sind neue Zusammenschlüsse von Seehäfen, etwa von Zeebrügge und Antwerpen, in aktueller Diskussion. Und Hamburg leidet aufgrund der begrenzten Kapazität der langen Revierfahrt bei Großschiffen zusätzlich. Dies erklärt einen Teil der gesunkenen Leistungswerte im Hafenumschlag. Durch die Kapazitätsproblematik im Seeschiffsverkehr wird der Eurasien-Bahnverkehr zusätzlich gefördert, insbesondere mit Duisburg-Hafen als zentralem Empfangs-/ Versandort für den boomenden China-Handel. Mit derzeit rd. 60 Zügen/ Woche und 16 bis 18- Tagen Laufzeit gegenüber 40 Tagen Seetransport hat Duisburg eine interessante, wirtschaftlich für die strukturell leidende Region bedeutsame Entwicklungsstimulanz erreicht. Sie wird von China durch das Projekt „Neue Seidenstraße“ mit hohen Investitionen und Krediten, aber auch geopolitischer Zielrichtung nachhaltig bedacht. Auch hier geht es um Machtoptionen und wirtschaftspolitische Einflussmöglichkeiten. Dies trübt die Euphorie in der Region - Duisport als europäischer China-Hotspot? Hoffnung oder Trauma? Substantiell helfen kann der Eurasien-Bahnverkehr dem Schienenverkehr nicht. Der politischen Zielsetzung, den Marktanteil bis 2030 auf möglichst 25 % anzuheben, ist die Realität (oder der unwillige Markt! ) wieder einmal in die Quere gekommen. Von 2019 sank der Bahnanteil von 19 % auf 17,5 % in 2020 bei gleichzeitigem Anstieg des Straßengüterverkehrs. Die wirtschaftliche Situation der DB AG hat erneut auch in einem erschreckend hohen wirtschaftlichen Desaster der Cargo AG zugeschlagen. Das negative Ebit-Ergebnis erhöhte sich von -308 Mio. (2019) auf -720 Mio. EUR (2020). Aber: Die DB AG verfügt auch über einen Edelstein in der internationalen Logistik, die Schenker Gruppe. Und der soll, so der Bundesrechnungshof in regelmäßiger Anmahnung, veräußert werden. Die Konkurrenz würde es freuen und viel Geld einsetzen. Fürs Stammbuch der Behörde: Auch Staatsunternehmen benötigen solche Leistungsträger mit hohem Markterfolg. Beim Rechnungshof aber statt Ermunterung typische Beamtenmentalität ohne Wirtschaftserfahrung. Was nicht sein soll, darf eben nicht sein. Die 50 Jahre politischer Hoffnung auf deutliche Steigerungen des Modal-Split-Anteils des Schienengüterverkehrs sind immer wieder durch die Marktrealitäten infrage gestellt worden. Die fundamentalen Veränderungen in den Güterstrukturen haben hierzu wesentlich beigetragen. So notwendig 740-m-Überholgleise und Streckenneu- und ausbauten auch sind: Der Schienengüterverkehr leidet unter strukturellen Systemproblemen. Im Vergleich zum LKW ist er wesentlich störanfälliger bei Verspätungen, partiellen Streckensperrungen, Konflikten mit dem Personenverkehr bei Trassenverfügbarkeiten, bei den vielen neuen Industrie- und Logistikansiedlungen ohne Gleisanschluss und bei den Möglichkeiten, individuelle dezentrale Entstörungslösungen zu realisieren. Hinzu kommen ungleich komplexere Probleme im grenzüberschreitenden Verkehr, extrem lange Planungs- und Bauzeiten bei notwendigen Streckenneubauten (etwa: Zu-/ Ablaufstrecken beim Gotthard- und Brenner-Tunnel) und Qualitäts- und Flexibilitätsdefizite bei wichtigen Güterarten. Auch die Klimavorteile der Bahn sind gefährdet: Feldversuche und Forschungsfortschritte lassen bis 2030 die Marktfähigkeit von Grünem Wasserstoff als Antriebsquelle für schwere LKW erwarten, gefördert von staatlichen Wasserstoff-Strategien. Und das sind keine der in Modal-Split-Diskussionen so beliebten Hoffnungen. Die Politik ist illusionsverhakt. Seit 50 Jahren. ■ Prof. Gerd Aberle zu Themen der Verkehrsbranche POLITIK Standpunkt Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 10 Schaffung zukunftsfähiger Grundlagen für einen effizienten Schienengüterverkehr Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die Effizienz des Schienengüterverkehrs signifikant gesteigert werden kann und zu dieser Thematik eine Stellungnahme erarbeitet. Lesen Sie hier eine kurze Einführung. Den vollständigen Text der Stellungnahme finden Sie im Web. D er Schienengüterverkehr (SGV) leidet, insbesondere auch in Deutschland, unter einer Reihe grundlegender struktureller Probleme, die seine Entwicklungsfähigkeit einschränken und gefährden. Während das Schlagwort „Digitalisierung“ inzwischen auch von der Bahn für ihre Innovationspläne verwendet wird, sind die notwendigen Schritte zur Reform des SGV sehr grundlegender Art und nicht unmittelbar unter „Digitalisierung“ subsummierbar. Vielmehr geht es darum, die technischen Grundfunktionen des Güterverkehrstransportprozesses der Eisenbahn (wie z. B. zum Bilden und Fahren der Züge) unter Berücksichtigung der intermodalen Verknüpfung durchgängig so zu gestalten, dass die wesentlichen Voraussetzungen für eine Digitalisierung überhaupt erst geschaffen werden. Dabei wird aufgrund der jahrzehntelang vernachlässigten, systemweiten Modernisierung der Grundfunktionen ein dringender verkehrspolitischer Handlungsbedarf erkennbar. Zur Umsetzung des verkehrspolitischen Leitbildes eines leistungsfähigen effizienten Gütertransportsystems unter Einbeziehung des SGV und dessen Digitalisierung müssen gerade im Bereich der Eisenbahn aufgrund des über Jahrzehnte entstandenen, ausgeprägten Innovationsstaus zunächst die dafür notwendigen technischen und prozessbezogenen Voraussetzungen geschaffen werden. Die verfolgten Ziele, den Klimaschutz zu fördern und mit vorhandenen Ressourcen mehr Güter digital unterstützt zu transportieren, zeigen beispielhaft die volkswirtschaftliche Relevanz und die Stoßrichtung für die Weiterentwicklung des Schienengüterverkehrs. Auch wenn über die Jahre hinweg in der Vergangenheit durchaus immer wieder einzelne technische Innovationen partiell oder als Pilotprojekte in der Praxis umgesetzt wurden, kam es kaum zu einer flächendeckenden Migration, die zu einer vollständigen Ablösung veralteter Technologien geführt hat. Deshalb beanspruchen die Teilprozesse der Zugfahrt, der Zugbildung sowie des Rangierens aber auch des Bebzw. Entladens nach wie vor sehr viel Zeit, verbrauchen unverhältnismäßig Infrastrukturkapazität und sind sehr personalintensiv. In seiner Stellungnahme benennt der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur den vordringlichen Handlungsbedarf zur prozessbezogenen Anpassung der technischen Systeme und zeigt Wege zur Überwindung der strukturellen technologischen Defizite durch Effizienzsteigerung des SGV bereits abgestimmt auf das „Innovationsprogramm Logistik 2030“ [1] auf. Es gibt schwerwiegende, in den technischen Systemen zur Realisierung der Grundfunktionen tief verankerte Defizite des Bahnbetriebs: • Die zentralen Systemtechnologien des Rollmaterials, nämlich die Kupplungen und Bremssysteme, sind stark veraltet. Dies beeinträchtigt nicht nur die Bildung und Umbildung von Güterzügen, sondern auch deren Einsatzbedingungen auf dem Schienennetz, mit weitreichenden Folgen auch für die Infrastrukturkapazitäten von Mischverkehrsstrecken. • Die Infrastruktursysteme sind sehr uneinheitlich und mit teils bereits seit Jahrzehnten veralteten Techniken ausgestattet, so dass daraus eine Vielzahl restriktiver Bedingungen und Zusatzkosten für die Infrastrukturnutzung sowie ein unnötig hoher Personalaufwand resultieren. Dies betrifft die Leit- und Sicherungssysteme ebenso wie die Ausstattung der Rangierbahnhöfe und Terminals für den SGV. Die Systemeffizienz wird durch die parallele Weiternutzung der älteren technischen Lösungen mit jeder Innovation zunehmend beeinträchtigt. • Die Voraussetzungen für moderne Systeme des unbegleiteten Kombinierten Verkehrs (KV), gestützt insbesondere auf Container, aber auch für geeignete Transportketten auf Trailer und Wechselbrücken, sind in Infrastrukturen und Prozessabläufen nur unzureichend umgesetzt. Somit kann derzeit das Potenzial dieser intermodal einsetzbaren Ladegefäße unterschiedlicher Größen bei weitem noch nicht ausgenutzt werden. In der Folge gelten die Produktionsprozesse im SGV generell als ineffizient, teuer, schwerfällig und zeitraubend, zudem zeitlich unzuverlässig und unflexibel, wie u. a. auch an den über Jahrzehnte rückläufigen und gegenwärtig auf niedrigem Niveau verharrenden Anteilen des SGV an der Gesamtgüterverkehrsleistung in Deutschland deutlich erkennbar wird. Als Symptom der Probleme des SGV seien die sehr niedrigen Transportgeschwindigkeiten genannt [2]. In einer Untersuchung [2], bei der Güterwagen mit GPS-Modulen ausgerüstet wurden, konnte exemplarisch im grenzüberschreitenden Verkehr eine durchschnittliche Transportgeschwindigkeit für den gesamten Güterwagenumlauf von nur 2,9 km/ h (bei einer Spannweite von 1,3 km/ h bis 6,3 km/ h) ermittelt werden. Vernach- Standpunkt POLITIK Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 11 lässigt man die Standzeiten einschließlich der Be- und Entladezeiten, d. h. die Betrachtung wird auf die Zeit für die Fahrzeugbewegung, die Wartezeit in den Zugbildungsanlagen sowie die Grenzaufenthaltszeit beschränkt, erhöht sich die durchschnittliche Transportgeschwindigkeit auf 9,0 km/ h. Selbst bei ausschließlicher Berücksichtigung der eigentlichen Zugfahrt im Netz ergab sich eine durchschnittliche Transportgeschwindigkeit von nur 24,8- km/ h. Dabei hat der Grenzübertrittswiderstand keinen nennenswerten Einfluss und kann demzufolge weitgehend vernachlässigt werden. Der Anteil der Wartezeit in den Zugbildungsanlagen beträgt 20 % an der gesamten Transportzeit (Güterwagenumlaufzeit), wohingegen sich der Anteil der Zeit für die Fahrzeugbewegung lediglich auf knapp 12 % beläuft und ca. 68 % für die Standzeiten außerhalb der Zugbildungsanlagen einschließlich der Bebzw. Entladeprozesse zu veranschlagen sind. Die niedrige Transportgeschwindigkeit bei der Fahrzeugbewegung deutet darüber hinaus auf eine Vielzahl von kostentreibenden sowie zeitbeanspruchenden Brems- und Beschleunigungsvorgängen hin, vermutlich aufgrund von Überholvorgängen sowie Personalwechseln. Die Notwendigkeit der Überholvorgänge ergibt sich insbesondere aus der sehr hohen Diskrepanz der Geschwindigkeiten unterschiedlicher Zuggattungen im Mischverkehr und trägt zur Gesamtunpünktlichkeit (auch im Personenverkehr) bei. Als weitere Folge der veralteten Technik ist auch die perspektivische Ausrichtung der Eisenbahngüterverkehrsunternehmen wenig zukunftsorientiert entwicklungsfähig, geschweige denn innovationstreibend orientiert. Der SGV besetzt traditionelle bestehende Marktsegmente, in denen er vor intermodalem Wettbewerb weitgehend geschützt ist, zum Beispiel Containerverkehre von bzw. zu den Seehäfen, langlaufende Autotransporte oder Transporte von Massengütern wie Kohle und Stahl oder Schrott. In diesen Marktsegmenten ist unter den vorhandenen Bedingungen und auch längerfristig Schienengütertransport wirtschaftlich möglich. Aber die - unter anderen Bedingungen - durchaus vorhandenen weitergehenden Einsatz- und Wachstumspotenziale des SGV können mit den auf veralteter Technik beruhenden Grundfunktionen des Transportprozesses nicht entwickelt werden. Dies verträgt sich jedoch nicht mit den Zielen der Bundesregierung, den Anteil des SGV an der gesamten Güterverkehrsleistung von heute unter 20 % auf mindestens 25 % bis 2030 zu steigern [3] (bei prognostiziertem gleichzeitigem Wachstum der Güterverkehrsleistung). Damit soll ein Beitrag zur Erfüllung der CO 2 -Ziele geleistet werden, denn der SGV emittiert deutlich weniger CO 2 pro Tonnenkilometer als der LKW-Verkehr. Die technologische Stagnation und zunehmende Rückständigkeit des SGV passt auch nicht zu den starken Erhöhungen der staatlichen Ausgaben für die Schieneninfrastruktur in den letzten Jahren. Denn diese können sich für den SGV nicht positiv auswirken, wenn Rollmaterial und Güterterminals auf technisch veralteter Infrastruktur dauerhaft hinterherhinken. Die Güterverkehrsbranche ist im SGV durch das Festhalten an den alten Technologien und an den gesicherten Marktsegmenten technologisch und wirtschaftlich quasi festgefahren und wird sich aufgrund des kurzfristig sehr hohen Investitionsaufwandes, aber auch der technischen Heterogenität sowohl im Infrastrukturals auch im Fahrzeugbereich, nicht aus eigener Kraft modernisieren können. Hier ist die Verkehrspolitik gefragt, um den notwendigen Modernisierungsprozess zielgerichtet mit Förderprogrammen aktiv in absehbarer Zeit realisieren zu können sowie die dafür zunächst notwendigen verlässlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, u. a. in Form der Vorgabe von Standards, die eine Einengung auf proprietäre Lösungen vermeiden, aber die Kompatibilität zwischen unterschiedlichen modernen technischen Lösungen sicherstellen. Als Voraussetzung für die Ableitung geeigneter technischer Lösungsansätze werden in der Stellungnahme zunächst wesentliche Probleme bei der gegenwärtigen technischen Gestaltung der Grundfunktionen des SGV identifiziert sowie deren Ursachen und Auswirkungen verdeutlicht. Lösungsansätze werden anhand ihrer Wirkungen und Potenziale begründet, bevor dann Empfehlungen für konkrete Maßnahmen folgen. In der Stellungnahme werden drei wesentliche Handlungsfelder herausgestellt, auf die sich die Politik fokussieren sollte: • Einführung einer automatischen standardisierten, nicht-proprietären, robusten Mittelpufferkupplung mit Energieversorgungs- und Datenverbindung, • flächendeckender Einsatz von ETCS und • Aufbau eines umfassenden Transportsystems für den unbegleiteten Kombinierten Verkehr mit dem Schwerpunkt im Containerverkehr. ■ QUELLEN [1] BMVI (Hrsg.): Innovationsprogramm Logistik 2030. September 2019. [2] Martin, U.; Dobeschinsky, H.; Raubal, B. (2008): Projekt CORRECT, Corridor for Rail Equilibrium and Cooperation in Transport. VWI Stuttgart. Mai 2008; sowie Bundesministerium für Bildung und Forschung (2005): Innovation für die Schiene - Bahnforschungsprojekte des BMBF. Bonn, Berlin. [3] BMVI (Hrsg.): Masterplan Schienenverkehr des BMVI vom Juni 2020. [4] BMVI (Hrsg.) (2021): Schaffung zukunftsfähiger Grundlagen für einen effizienten Schienengüterverkehr. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur Nr. 3/ 2020. März 2021. Die komplette Stellungnahme Nr. 3/ 2020 [4] kann im Volltext heruntergeladen werden unter www.iv-dok.de/ 2105/ Kontakt Geschäftsstelle des Wissenschaftlichen Beirats im BMVI Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Referat G 12 - Frau Ursula Clever, Robert-Schuman-Platz 1, 53175 Bonn, E-Mail: ursula.clever@bmvi.bund.de Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Prof. Dr.-Ing. Hartmut Fricke Dresden Prof. Dr.-Ing. Markus Friedrich Stuttgart Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike Dresden Prof. Dr. Astrid Gühnemann Wien Prof. Dr. Hans-Dietrich Haasis Bremen Prof. Dr. Natalia Kliewer Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Knorr Speyer Prof. Dr.-Ing. Ullrich Martin Stuttgart Prof. Dr. Kay Mitusch (Vorsitzender) Karlsruhe Prof. Dr. Stefan Oeter Hamburg Prof. Dr. Tibor Petzoldt Dresden Prof. Dr. Gernot Sieg Münster Prof. Dr. Wolfgang Stölzle St. Gallen Prof. Dr.-Ing. Peter Vortisch Karlsruhe Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner Darmstadt Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 12 Zukunftsfähiger ÖPNV in ländlichen Räumen Herausforderungen und wichtige Weichenstellungen ÖPNV, Ländlich, Finanzierung, Corona, Homeoffice, Lieferverkehr Ländliche Räume unterscheiden sich in Bezug auf ÖPNV-Angebot und ÖPNV-Nachfrage von Großstädten. Die Klimaschutzziele, die Gewährleistung der Daseinsvorsorge und auch die Folgen der Corona-Pandemie sorgen gerade in ländlichen Räumen für besondere Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der Beitrag Strategien wie Mindestbedienung, Verkehrsverlagerung und Verkehrsvermeidung sowie die Umsetzung einer soliden Finanzierung. Betont wird die Bedeutung der politisch-rechtlichen Weichenstellungen in den kommenden Jahren. Melanie Herget, Carsten Sommer, Jürgen Gies R und 60 % der Deutschen leben in ländlichen Räumen, auf etwa 90 % der Fläche. Ländliche Räume sind allerdings nicht homogen [1]: Eher ländlich mit guter sozioökonomischer Lage ist z. B. das deutsche Bodenseeufer, sehr ländlich mit weniger guter sozioökonomischer Lage sind z. B. große Teile Mecklenburg-Vorpommerns. Trotz solcher Unterschiede gibt es verkehrlich viele Gemeinsamkeiten: Der private PKW dominiert in der Verkehrsmittelwahl. Es gibt selten Stau oder Mangel an Parkplätzen. Für Arztbesuch und Einkauf sind meist längere Wege notwendig. Die ÖPNV-Nutzung ist durch Schüler- und Ausbildungsverkehr bestimmt [2]. Die Reisezeiten mit dem Bus liegen oft deutlich über jenen mit dem PKW. Diese Besonderheiten möchten wir in Bezug setzen zu aktuellen Herausforderungen. Herausforderung 1: Klimaschutz Statt deutlich abzunehmen, sind die CO 2 - Emissionen im Verkehrssektor im Vergleich zum Referenzjahr 1990 kaum gesunken [3]. Dabei sind die verkehrsbezogenen CO 2 - Emissionen pro Kopf in städtischen und ländlichen Räumen nahezu gleich hoch [4]. Wie können die klimarechtlichen Vorgaben noch eingehalten und die Kosten für den verpflichtenden Ankauf von Emissionszertifikaten (30 bis 60 Mrd. EUR laut Lastenteilungsentscheidung der EU) vermieden werden [5]? Für das Erreichen der Klimaschutzziele ist u. a. ein massiver Ausbau des ÖPNV-Angebots erforderlich [6]. Modellrechnungen zeigen, dass eine Erhöhung der ÖPNV-Betriebsleistung um 50 % in Kombination mit einschränkenden Maßnahmen im motorisierten Individualverkehr (MIV) zu einem hohen Rückgang der verkehrsbedingten CO 2 -Emissionen führen kann (vgl. u. a. [7]). Jedoch stellen in vielen ländlichen Räumen das ÖPNV- und das Radwege-Netz derzeit keine alltagstaugliche Alternative zum MIV dar. Wegen der geringen Siedlungsdichte und der schlechten Bündelbarkeit der Ver- Foto: Jürgen Gies POLITIK Mobilitätsstrategie Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 13 Mobilitätsstrategie POLITIK kehrsströme sind in ländlichen Räumen die Pro-Kopf-Kosten für einen Infrastruktur- und Angebotsausbau hoch - und treffen auf oft geringe finanzielle Spielräume der Kommunen. Verkehrsvermeidung durch integrierte Planung? Grundsätzlich ist es für ländliche Räume hilfreich, Verkehrsangebote und Versorgungsstandorte von Anfang an gemeinsam zu planen und aufeinander abzustimmen [8]. So sollten keine Bau- und Gewerbegebiete mehr entwickelt werden, die allein mit dem MIV zu erreichen sind [9]. Weitere Bausteine sind z. B. Direktvermarktung und Dorfläden, Mehrfunktionenhäuser, Telemedizin sowie die Förderung von Telearbeit/ Homeoffice und Co-Working-Räumen. Für telemedizinische Ansätze und dezentrale Formen des Arbeitens ist allerdings ein Ausbau des Mobilfunk- und Breitbandnetzes nötig [10]. Zudem zeigen Analysen aus der Schweiz, dass mehr Telearbeit zwar zu einer geringeren Anzahl beruflicher Wege führte, aber auch zu längeren Gesamtwegelängen - es sind also sog. Rebound-Effekte 1 zu beachten [11]. Eine integrierte Raum- und Verkehrsplanung kann für Personen ohne PKW bzw. Führerschein zu mehr Aufenthaltsqualität und mehr Teilhabemöglichkeiten führen (Daseinsvorsorge) - jedoch sind die stark gestiegenen Wegelängen vor allem auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen, z. B. höhere Einkommen, höhere Bildungsabschlüsse, höhere Frauenerwerbsquote [12]. Ansätze zur Verkehrsverlagerung und Effizienzsteigerung sind also unverzichtbar. Verkehrsverlagerung durch Mindestbedienung? Bislang führen ungleiche kommunale Ausgangssituationen, aber auch unterschiedliche Prioritätensetzungen zu sehr unterschiedlichen ÖPNV-Standards. Um einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse näherzukommen, wären räumlich differenzierte Vorgaben für eine Mindestbedienung sinnvoll, wie auch von der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ empfohlen [13]. Während im KFZ-Verkehr verbindliche Zielvorgaben für die Entwicklung des Straßennetzes auf einem einheitlichen raumordnerischen Ansatz vorliegen und in der Praxis genutzt werden [14], fehlen solche Zielvorgaben für den Öffentlichen Verkehr auf Bundesebene. Die FGSV empfiehlt z. B. bei Bushaltestellen in ländlichen Räumen Einzugsbereiche zwischen 300 und 700 Metern [15]. Gerade für ältere und mobilitätseingeschränkte Personen stellt jedoch schon solch ein Weg zur Haltestelle eine Hürde dar. Erste Vorschläge für konkrete Mindestbedien- und Mindesterreichbarkeitsstandards in Deutschland gibt es bereits. Danach sollten Orte ab 500 Einwohnern eine Verbindungsqualität im 1-Stunden-Takt von 6 bis 22 Uhr erhalten, mit einem maximalen Fahrzeitnachteil gegenüber dem MIV von 30 % sowie einer maximalen Entfernung bis zur nächsten Haltestelle (300 m) für mindestens 80 % der Bevölkerung [16]. Nach Modellrechnungen ist mit dieser Kombination eine Verdopplung bis Verdreifachung des ÖPNV-Anteils möglich (ebd.). Eine Überprüfung des dafür erforderlichen Finanzbedarfs sowie Vorschläge für eine gesetzgeberische Umsetzung stehen allerdings noch aus. Für eine Mindestbedienung in ländlichen Räumen werden jedenfalls moderne On-Demand-Verkehre eine zentrale Rolle spielen [17]. Herausforderung 2: Finanzierung des ÖPNV Soll der ÖPNV im ländlichen Raum mehr sein als Schülerbeförderung, ist eine Finanzierung durch den Aufgabenträger - i. d. R. der Landkreis - erforderlich. Um auch wahlfreie Personengruppen für den ÖPNV zu gewinnen, darf dieser in Reisezeit und Zuverlässigkeit nicht deutlich schlechter sein als der private PKW. Dies ist nur durch eine Optimierung der Hauptachsen und darauf abgestimmte Zubringer erreichbar. Für den ländlichen Schülerverkehr lehnen allerdings viele Eltern diesen Ansatz aufgrund der erforderlichen Umstiege ab. Kommunale Aufgabenträger stehen nun vor der Herausforderung, ein aus Klimaschutzgründen zu stärkendes ÖPNV-Angebot bereits heute anzugehen, obwohl im vergangenen Jahr wegen der Corona-Pandemie die Nutzungszahlen drastisch zurückgegangen sind und unerwartete Ausgaben für Gesundheitsmaßnahmen und Härtefälle hinzukamen. Durch die Klimaschutzdebatte gab es bereits Reformen in den Finanzierungsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern, mit zusätzlichen Fördertatbeständen und größeren Fördersummen. Allerdings ist der finanzielle Beitrag der kommunalen Aufgabenträger für den ÖPNV bereits seit 1993 rückläufig [18]. In ländlichen Räumen spielt die Abhängigkeit von Landeszuweisungen eine große Rolle. Der ÖPNV steht als freiwillige Leistung in der Priorität hinter den kommunalen Pflichtaufgaben und in Konkurrenz zu weiteren freiwilligen Leistungen. Daher wird diskutiert, den ÖPNV als Pflichtaufgabe der kommunalen Selbstverwaltung zu verankern 2 . Im Sinne des kommunalen Konnexitätsprinzips ist es jedoch nötig, dann den Kommunen die entsprechenden Finanzmittel zu gewähren und auch den rechtlichen Rahmen für neue Finanzierungsinstrumente zu bieten. Finanzierungssicherheit durch mehr Kostenwahrheit? Derzeit erzeugt der MIV in Deutschland von der Allgemeinheit zu tragende externe Kosten von ca. 110 Mrd. EUR pro Jahr [19]. Würde der ÖPNV vollständig durch den MIV substituiert, wäre mit deutlich höheren externen Kosten zu rechnen. Für die Stadt Thun (Schweiz) wurden für ein solches Szenario um 60 % höhere volkswirtschaftliche Kosten berechnet [20]. Studien zu ländlichen Räumen liegen bisher nicht vor. Die Diskussion über zukünftige Finanzierungsmodelle des ÖPNV sollte daher nicht isoliert geführt werden, sondern mit Blick auf die gesamte Verkehrsfinanzierung. Die Internalisierung von externen Verkehrskosten würde sowohl zusätzliche Einnahmen generieren als auch die Verkehrsziel- und Verkehrsmittelwahl positiv im Sinne geringerer Emissionen beeinflussen. Hierzu könnte z. B. die Energiesteuer angehoben werden. Mit den Einnahmen könnte der Bund die Regionalisierungsmittel so weit aufstocken, dass auch auf Hauptachsen ländlicher Räume ein attraktives Angebot finanziert werden kann. Ein anderer Weg wäre eine PKW-Maut im gesamten deutschen Straßennetz. Um den Gegebenheiten in den Kommunen gerecht zu werden, sollte ein geänderter Rechtsrahmen auch zusätzliche lokale Handlungsspielräume schaffen, z. B. bei der Parkraumbewirtschaftung. Auch Modelle einer Nutznießerfinanzierung 3 werden diskutiert, jedoch meist für städtische Räume [21]. In ländlichen Räumen könnte z. B. das örtliche Gewerbe eine Co-Finanzierung übernehmen, in Form von Sponsoring oder eines Arbeitgeberbeitrags. Auch aus Tourismusabgaben kann ein Teil für das ÖPNV-Angebot genutzt werden (Bild- 1). Ist das Angebot alltagstauglich, kann auch eine kommunale ÖPNV-Abgabe für Haushalte in Erwägung gezogen werden-[22]. Günstiger durch Digitalisierung? Digitale Technologien können die Attraktivität öffentlicher Verkehrsangebote deutlich erhöhen, indem sie Angebot und Nachfrage in Echtzeit abstimmen und mit Hilfe von individualisierbaren, ortsbasierten Informationen gezielt Unsicherheiten reduzieren. Auch die Corona-Pandemie zeigt, wie hilfreich kontaktlose, digitale Tickets sowie Auskunftssysteme zum Besetzungsgrad sind. Zugleich ergeben sich Fragen nach Datenbesitz, -schutz und -sicherheit. POLITIK Mobilitätsstrategie Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 14 Ob durch eine zunehmende Digitalisierung der öffentliche Verkehr an Gewicht gewinnt, ist stark von den politischen Rahmensetzungen abhängig. Das Gleiche gilt für die Automatisierung der Fahrzeuge. Ob durch die Automatisierung tatsächlich attraktivere Angebote umgesetzt und infolgedessen mehr Fahrgäste für den ÖPNV gewonnen werden können, ist noch nicht abzuschätzen, denn autonom fahrende PKW wären schließlich auch für Menschen ohne Fahrbefähigung voll verfügbar. Hier ist es wichtig, dass Bund, Länder und Gemeinden frühzeitig Regulierungsinstrumente entwickeln, um Risiken zu minimieren und Chancen zu realisieren [23]. Herausforderung 3: Folgen der Corona-Pandemie Noch unklar ist, welche langfristigen Folgen die Corona-Pandemie für die Nutzung kollektiver Verkehre haben wird und ob sich räumliche Unterschiede zeigen werden. Die Schutzmaßnahmen haben vor allem zu einem drastischen Rückgang in der ÖPNV- Nutzung geführt (vgl. u. a. [24]). Während die bisherigen ÖPNV-Nutzenden in Großstädten zum Teil aufs Fahrrad ausweichen, ist diese Entwicklung in ländlichen Räumen nicht im gleichen Ausmaß festzustellen [25], vor allem wegen der größeren Entfernungen und der schlechteren Fahrradinfrastruktur. Sorgfältig muss beobachtet werden, ob dies dazu führt, dass die wahlfreien ÖPNV-Nutzenden in ländlichen Räumen dauerhaft auf den MIV umsteigen. Dazu gehören z. B. auch Eltern, die ihre Kinder mit dem PKW zur Schule fahren können, aber nicht müssen. Kunden halten - mit Schulzeit-Staffelung und neuen Tarifen? In den vergangenen Monaten gab es eine enge Zusammenarbeit zwischen Schulämtern und ÖPNV-Verantwortlichen, um auch in Schulbussen einen Mindestabstand zu gewährleisten und die Fahrzeiten mit den Präsenz- und Distanzunterrichtsphasen abzustimmen. Diese Zusammenarbeit sollte fortgeführt werden, um umwelt- und sozialverträgliche Lösungen für den Schülerverkehr zu entwickeln. Durch Staffelung der Schulzeiten können die Nachfragespitzen im ÖPNV abgeflacht und so 15 bis 20 % der Fahrzeuge eingespart werden [26]. Für eine dauerhafte Akzeptanz müssen allerdings auch die Eltern eng eingebunden werden, und etwaige Betreuungsschwierigkeiten, z. B. von Familien mit mehreren Kindern und von Teilzeit-Lehrkräften mit eigenen Kindern, sind aufzufangen. Durch die Umstellung auf Homeoffice entstehen neue Arbeitsmodelle. Die ÖPNV- Akteure sind dadurch gefordert, flexiblere Tarife zu entwickeln - z. B. Bahncard-Modelle im Nahverkehr (50-%-Rabatt bei Zahlung eines geringen monatlichen Beitrages wie z. B. der Tarif RMVsmart50, Prepaid- Fahrtguthaben mit Rabattierungen gegenüber Einzelbuchungen und nutzungsabhängige Anreizmodelle, die auf E-Ticketing- Systemen basieren [27]). Ob solche flexiblen Tarife dann die Anzahl der Tage im Homeoffice erhöhen und ob sich durch die flexibleren Arbeitsorte die Wohnstandortwahl zugunsten ländlicher Räume verschiebt, ist jedoch noch unklar. Verkehrsvermeidung durch Digitalisierung? Die Digitalisierung kann das Leben auf dem Land verändern: Homeoffice erspart den täglichen Weg zum Arbeitsplatz, Online- Handel einen Teil der Einkaufswege, und Telemedizin erspart manchen Weg zum Arzt. Die Verhaltensänderungen in der Pandemie haben digitalen Diensten zu einem Wachstumsschub verholfen und zugleich Defizite ihrer Verfügbarkeit deutlich gemacht. Ob Online-Käufe Verkehr vermeiden, hängt dabei von vielen Faktoren ab, u. a., inwieweit Wegeketten gebildet werden, woher die Produkte stammen, wie oft und mit welchem Verkehrsmittel eine Adresse angefahren wird und ob noch eine Retoure erfolgt (vgl. u. a. [28]). Um Fehlzustellungen zu reduzieren und die Retouren-Wegelänge zu verringern, sind stationäre oder mobile „Mikro-Depots“ ein Ansatz, der zudem den Einsatz von Lastenfahrrädern und fußläufigen Transporthilfen unterstützt. Hierfür sollten auch ungenutzte Immobilien auf ihre Eignung geprüft werden, die dann von den Dienstleistern gemeinsam genutzt werden können. Fazit: Sorgfältige Weichenstellungen gefragt Für die Sicherung der Daseinsvorsorge und für das Erreichen der Klimaschutzziele ist ein attraktiver, verlässlicher ÖPNV das unverzichtbare Rückgrat. Chancen zur Verkehrsverlagerung in ländlichen Räumen durch attraktive ÖPNV-Angebote bestehen insbesondere auf Hauptachsen und Langstrecken. Der Druck der Klimaschutzpolitik wird weiter steigen. Eine stärkere Internalisierung der externen Verkehrskosten könnte den ÖPNV-Ausbau gegenfinanzieren. Neue Mobilitäts- und Kommunikationstechnologien bieten Chancen für einen effizienteren und kostengünstigeren ÖPNV- Betrieb. Sie erfordern jedoch ein besseres Breitbandangebot in ländlichen Räumen und gesetzgeberische Anpassungen. Ohne sorgfältig gestaltete Rahmenbedingungen besteht die Gefahr, dass die Digitalisierung und auch die Fahrzeugautomatisierung zu einer Zunahme des klimaschädlichen MIV auf Kosten des ÖPNV führen und zu einer Zunahme von Zersiedlung, Flächenverbrauch und Verkehrsleistung - gerade auch in ländlichen Räumen. Aufgrund der zunehmenden Wechselwirkungen zwischen Personen- und Lieferverkehr, Alltagswegen und Fernreisen, Wohnstandortwahl und Alltagswegen muss schließlich die Mobilitätsforschung deutlich stärker als bislang ihre Grenzziehungen Haushaltsfinanzierung Nutzerfinanzierung Nutznießerfinanzierung erweiterte Haushaltsfinanzierung ÖPNV-Ausbau durch stärkere Internalisierung externer Verkehrskosten Bisheriger ÖPNV Bild 1: Aktuelle und mögliche zukünftige Säulen der ÖPNV-Finanzierung Quelle: eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 15 Mobilitätsstrategie POLITIK hinterfragen und komplexere Untersuchungsansätze verfolgen, um valide Politikempfehlungen aussprechen zu können. ■ Dieser Artikel entstand im Rahmen der fachlichen Begleitung und Evaluation der Fördermaßnahme „LandMobil“, finanziert durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. 1 Rebound-Effekt bezeichnet den gesteigerten Konsum von Ressourcen, der auf Effizienzsteigerungen ‚folgt‘. Wenn man z. B. nur noch an drei statt fünf Tagen zum Arbeitsplatz fahren muss, könnten für die verbleibenden Tage deutlich längere Pendelwege in Frage kommen. Durch Rebound-Effekte werden also die theoretisch möglichen Effizienzgewinne in der Praxis nicht erreicht. 2 Rheinland-Pfalz hat 2021 ein neues Nahverkehrsgesetz beschlossen, in dem der ÖPNV als Pflichtaufgabe festgeschrieben ist. 3 Nutznießer sind Personen und Institutionen, die durch das Vorhalten des ÖPNV einen indirekten Vorteil haben - sie ziehen also einen Nutzen aus dem ÖPNV, selbst wenn sie ihn nicht in Anspruch nehmen. LITERATUR [1] Küpper, P. (2016): Abgrenzung und Typisierung ländlicher Räume. Thünen Working Paper 68. Braunschweig. [2] Nobis, C.; Herget, M. (2020): Mobilität in ländlichen Räumen. Betrachtungen aus Sicht der Verkehrswende und der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen. Internationales Verkehrswesen 4/ 2020, S.-40-43. [3] BMU (2021): Treibhausgasemissionen sinken 2020 um 8,7 Prozent. Pressemitteilung 16.03.2021. www.bmu.de/ pressemitteilung/ treibhausgasemissionen-sinken-2020-um-87-prozent/ (Stand: 22.03.2021) . [4] Steck, F.; Eisenmann, C.; Kröger, L.; Winkler, C. (2019): CO 2 -Emissionen im Personenverkehr. Einfluss von Soziodemografie, Wohnort und Einkommen. Internationales Verkehrswesen 4/ 2019, S. 95-99. [5] Agora Energiewende, Agora Verkehrswende (2018): Die Kosten von unterlassenem Klimaschutz für den Bundeshaushalt. Berlin. [6] Naumann, R.; Pasold, S.; Frölicher, J. (2019): Finanzierung des ÖPNV. Status quo und Finanzierungsoptionen für die Mehrbedarfe durch Angebotsausweitungen. Gutachten für das Umweltbundesamt. Berlin. [7] Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg (2017): Verkehrsinfrastruktur 2030 - ein Klimaschutzszenario für Baden-Württemberg. Stuttgart. [8] Rittmeier, B.; Herget, M.; Kaether, J.; Koch, J.; Müller, K. (2018): Sicherung von Versorgung und Mobilität. Strategien und Praxisbeispiele für gleichwertige Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen. BMVI, Berlin. [9] Regling, L.; Stein, A.; Werner, J.; Karl, A. (2020): Grundlagen für ein umweltorientiertes Recht der Personenbeförderung. UBA-Texte 213/ 2020. [10] BMVI (2020): Aktuelle Breitbandverfügbarkeit in Deutschland. Erhebung der atene KOM im Auftrag des BMVI. Berlin. [11] Ravalet, E.; Rérat, P. (2019): Teleworking: Decreasing Mobility or Increasing Tolerance of Commuting Distances? Built Environment, Vol. 45, Nr. 4, S. 582-602. [12] Holz-Rau, C.; Scheiner, J. (2019): Land-use and transport planning - A field of complex cause-impact relationships. Thoughts on transport growth, greenhouse gas emissions and the built environment. Transport Policy, Vol. 74, S. 127-137. [13] BMI, BMEL, BMFSFJ (Hrsg.) (2019): Unser Plan für Deutschland - Gleichwertige Lebensverhältnisse überall. Berlin. [14] FGSV (2008): Richtlinien für integrierte Netzgestaltung. Köln. [15] FGSV (2010): Empfehlungen für Planung und Betrieb des öffentlichen Personennahverkehrs. Köln. [16] Gipp, C.; Brenck, A.; Schiffhorst, G. (2020): Zukunftsfähige öffentliche Mobilität außerhalb von Ballungsräumen. Konzeption einer Angebots- und Organisationsmodernisierung. Studie für den ADAC. [17] Gies, J.; Langer, V. (2021): Mit On-Demand-Angeboten ÖPNV- Bedarfsverkehre modernisieren. Werkstattbericht zu Chancen und Herausforderungen. Berlin (Difu-Sonderveröffentlichung). [18] Wibera, Intraplan (2016): 7. Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Kostendeckung im öffentlichen Personennahverkehr. Berlin. [19] Infras (2019): Externe Kosten des Verkehrs in Deutschland. Straßen-, Schienen-, Luft- und Binnenschiffverkehr 2017. Zürich. [20] Wallimann, H.; von Arx, W.; Hauser, C. (2018): Subventionen im öffentlichen Personennahverkehr. Was aus ökonomischer Sicht für eine staatliche Mitfinanzierung spricht. Internationales Verkehrswesen 3/ 2018, S. 24-27. [21] FGSV (2020): Hinweise zur Einführung und Anwendung neuer Finanzierungsinstrumente. Köln. [22] Darmochwal, A.; Naumann, R.; Pasold, S.; Gies, J.; Hanke, S. (2016): ÖPNV-Beitrag in Verbindung mit einem neuen ÖPNV-Angebot. Grundkonzeption anhand des Modellprojektes „Muldental in Fahrt“, https: / / ratsinfo.leipzig.de/ bi/ vo020.asp? VOLFDNR=1005880 (Stand: 06.03.2021). [23] FGSV (2020): Chancen und Risiken des autonomen und vernetzten Fahrens aus der Sicht der Verkehrsplanung. Köln. [24] Nobis, C.; Eisenmann, C.; Kolarova, V.; Winkler, C.; Lenz, B. (2020): Mobilität in Zeiten der Pandemie. Auswirkungen von Corona auf Einstellungen und Mobilitätsverhalten. Internationales Verkehrswesen 3/ 2020, S. 94-97. [25] WZB & infas (2020): Mobilitätsreport 03. Bonn. [26] Bornhofen, T.; Fügenschuh, A.; Kittler, W.; Wannemacher, V. (2015): Optimierung des Schülerverkehrs durch Schulzeitstaffelung. Erfahrungen mit Ikosana im Schwalm-Eder-Kreis. Der Nahverkehr 4/ 2015, S. 19-24. [27] Hüske, M.; Lange, U. (2020): Pendeln im Wandel. Was veränderte Rahmenbedingungen für Tarif und Ticketing bedeuten. Der Nahverkehr 10/ 2020, S. 24-27. [28] Shahmohammadi, S.; Steinmann, Z.; Tambjerg, L.; van Loon, P.; King, H.; Huijbregts, M. (2020): Comparative Greenhouse Gas Footprinting of Online versus Traditional Shopping for Fast-Moving Consumer Goods: A Stochastic Approach. Environmental Science & Technology, Vol. 54, Nr. 6, S. 3499-3509. Carsten Sommer, Prof. Dr.-Ing. Leitung des Fachgebiets Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Universität Kassel c.sommer@uni-kassel.de Jürgen Gies, Dr. phil. Deutsches Institut für Urbanistik gGmbH, Berlin gies@difu.de Melanie Herget, Dr.-Ing. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Universität Kassel m.herget@uni-kassel.de Software für die Mobilität von morgen E-Mobilität Personaldisposition, Depot- und Lademanagement für E-Busse aus einer Hand www.moveo-software.com Internationales Verkehrswesen 2021-05-12 102 x139mm unten rechts PSI Moveo.indd 1 16.04.2021 16: 04: 13 POLITIK Nachhaltigkeit Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 16 Der Beitrag des Luftverkehrs zur Nachhaltigkeit Luftverkehr, Nachhaltigkeit, Agenda 2030, Klimaschutz, Pariser Abkommen, CORSIA, ETS, Destination-2050 Der Artikel diskutiert die Beiträge des Luftverkehrs zur Nachhaltigkeit vor dem Hintergrund der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Er zeigt, dass der Luftverkehr substantielle Beiträge zu zahlreichen Nachhaltigkeitszielen leistet und im Hinblick auf die in der Agenda ausgewiesenen Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung eine globale Vorreiterrolle einnimmt. Dies gilt auch im Hinblick auf die Klimaziele der Agenda. Christoph Brützel S tellt man den Klimaschutz in den Kontext der Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung, so wird klar, dass der Begriff Nachhaltigkeit mehr beinhaltet als allein das Thema Klimaschutz und dass der Klimaschutz allein weder isoliert zu Nachhaltigkeit führt, noch überhaupt praktisch realisiert werden kann. Bereits bei der Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt der Menschen in Stockholm (1972) 1 wurde deutlich, dass deren Schutz einer weltweit Grenzen überschreitenden Kooperation bedarf und dass diese sich nicht allein auf Umwelt- und Naturschutzfragen beschränken darf. Klimawandel und Klimaschutz im Kontext nachhaltiger Entwicklung So wurde der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ geprägt. Er bezeichnet zusammengefasst eine „Entwicklung, die den Bedürfnissen der jetzigen Generation dient, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.“ 2 Der Begriff schließt neben ökologischen auch soziale und ökonomische Aspekte ein und erkennt zugleich deren gegenseitige Abhängigkeiten. So reklamierten in Stockholm die Schwellen- und Entwicklungsländer, dass die zu leistenden Verzichte und Ressourceneinsätze zum Schutz der Natur in erster Linie durch die Wohlhabenden der Weltgemeinschaft zu finanzieren seien. Das in Stockholm verabschiedete Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme, UNEP) und die auf ihrer Grundlage in Nairobi gegründete Agentur veranstalteten in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Konferenzen, u. a. in Kyoto, Rio de Janeiro und Paris, nach denen die Beschlüsse benannt sind, auf die sich die weltweiten Akteure im Interesse des Klimaschutzes berufen. Beschlüsse wurden nicht nur zum Klimaschutz und Naturschutzaspekten gefasst, sondern auch zu ökonomischen und sozialen Zielen und Maßnahmenprogrammen zur Förderung einer globalen nachhaltigen Entwicklung. Die im September 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedete Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung 3 dokumentiert mit 17 Zielen die Vielfalt und Interdependenz der politischen Herausforderungen zur Gestaltung einer nachhaltigen globalen Entwicklung (Bild 1). Auch wenn die gegenwärtige Rückkehr zu ungeschminktem nationalistischem Gedankengut selbst in Vorbildländern weltoffener Demokratien die Agenda 2030 als gutmenschliche Vision erscheinen lässt, so ist ihr ganzheitlicher Ansatz doch bestechend - und im wahren Sinne des Wortes alternativlos. Sie dokumentiert die gegenseitige Abhängigkeit ökologischer und ökonomischer Ziele zu einer nachhaltigen Entwicklung und die eigentlich banalen Erkenntnisse, dass Nachhaltigkeit nur in globaler Zusammenarbeit erreicht werden kann, und dass diese voraussetzt, dass die menschlichen Grundbedürfnisse weltweit erfüllt werden. Weder kann man die ökologischen Ziele erreichen, wenn man die Grundvoraussetzungen und die ökonomischen Ziele außer Acht lässt oder sie auch nur unterordnet, noch können umgekehrt die ökonomischen Ziele nachhaltig erreicht werden, wenn man die Voraussetzungen und/ oder die ökologischen Ziele unterordnet. Es ist offensichtlich, dass Maßnahmen, die zur Erfüllung ökonomischer Ziele führen, nicht notwendig auch die ökologischen befördern. Da eine uneingeschränkte Dominanz einzelner Ziele nicht konsensfähig sein kein, bedarf es eines Interessenausgleichs. Im Interesse der Nachhaltigkeit geht es hierbei darum, ein ausgewogenes Ergebnis anzustreben. Die natürlichen, wirtschaftlichen und sozialen Umstände der einzelnen Länder sind mehr oder weniger unterschiedlich. Entsprechend können die politischen Agenden und Maßnahmenprogramme zur Erzielung von Nachhaltigkeit nicht für alle Länder gleichgeschaltet werden. Das gilt entsprechend auch für die Schwerpunkte der Beiträge und für die inhaltlichen Ziele und Zielwerte. Auch hier bedarf es neben Diffe- Grundbedürfnisse Ökonomische Ziele Ökologische Ziele Voraussetzungen Bild 1: 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung Quelle: [2] Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 17 Nachhaltigkeit POLITIK renzierung eines fairen Interessenausgleichs. Das Erfordernis einer differenzierten und ganzheitlichen Sicht der Beiträge zur Nachhaltigkeit gilt auch für die unterschiedlichen Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Einzelne gesellschaftliche Gruppen und Industrien können mehr zu den Grundvoraussetzungen beitragen, andere zu den ökonomischen Zielen und wieder andere zu den ökologischen. Auch innerhalb der drei Zielfelder sind die individuellen Möglichkeiten Beiträge zu leisten, unterschiedlich. Zusammenfassend macht es keinen Sinn, Zielwerte für einzelne Größen von einzelnen Beteiligten, seien es Staaten oder Industrien, undifferenziert einzufordern. Vielmehr sollten • die Potenziale bezüglich aller Ziele da gehoben werden, wo die größten Effekte mit dem geringsten Mitteleinsatz erzielt werden können, • Maßnahmen zur Verfolgung eines Ziels möglichst geringe gegenläufige Effekte auf die Erfüllung der anderen Ziele haben, • die Kosten der Leidtragenden aus Interessenausgleichen durch gegenläufige Beiträge von den Nutznießern kompensiert werden. 1. Luftverkehr und Voraussetzungen der Nachhaltigkeit Weil die Nachhaltigkeitsziele nur im globalen oder doch zumindest weitgehend globalen Konsens erreicht werden können, erkennt die Agenda 2030 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ und „Partnerschaften zum Erreichen der Ziele“ als notwendige Voraussetzungen jedes Erfolgs. Ausgehend von der Präambel des Chicagoer ICAO-Abkommens der Vereinten Nationen, des Grundgesetzes des globalen Luftverkehrs, darf dieser wohl für sich in Anspruch nehmen, herausragende Beispiele zur Erfüllung der Voraussetzung der Agenda 2030 zu leisten: „PRÄAMBEL IN DER ERWÄGUNG, daß die zukünftige Entwicklung der internationalen Zivilluftfahrt in hohem Maße dazu beitragen kann, Freundschaft und Verständnis zwischen den Staaten und Völkern der Welt zu wecken und zu erhalten, ihr Mißbrauch jedoch zu einer Bedrohung der allgemeinen Sicherheit führen kann; und IN DER ERWÄGUNG, daß es wünschenswert ist, zwischen den Staaten und Völkern Unstimmigkeiten zu vermeiden und jene Zusammenarbeit zu fördern, von der der Friede der Welt abhängt; HABEN die unterzeichneten Regierungen sich auf gewisse Grundsätze und Übereinkommen geeinigt, damit die internationale Zivilluftfahrt sich sicher und geordnet entwickeln kann, und damit internationale Luftverkehrsdienste auf der Grundlage gleicher Möglichkeiten eingerichtet und gesund und wirtschaftlich betrieben werden können; Sie haben demgemäß zu diesem Zweck dieses Abkommen abgeschlossen.“ Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt (Chicagoer Abkommen von 1944) 4 Das globale Abkommen manifestiert sich in einer einzigartigen Qualität der globalen Abstimmung gemeinsamer Rahmenbedingungen und Zusammenarbeit. In keinem anderen Sektor ist die Verbindlichkeit gemeinsamer Standards im Hinblick auf die Sicherheit und die Zusammenarbeit so flächendeckend und einvernehmlich wie im Luftverkehr. Die Komitees der ICAO und die von ihr ausgeübte Regulierung sind nicht nur im Bereich der Sicherheits-Standards ein Paradebeispiel für eine starke Institution mit höchster Akzeptanz und Durchschlagskraft. Das flächendeckende System von Verkehrsrechten und die damit verbundenen bilateralen und multilateralen Verhandlungen und Abkommen beruhen auf einer stringenten Win-win-Philosophie, die selbst Länder im politischen Konflikt zu konstruktiven Gesprächen zusammenbringt und damit in der Vergangenheit vielfach auch verfeindeten Parteien Gelegenheiten zur Verständigung im Interesse des weltweiten Friedens geboten hat. Der Ausschluss einzelner Länder von der Weltgemeinschaft des Luftverkehrs ist auf extreme Ausnahmefälle begrenzt. Selbst die Zentren der Konflikte im Nahen Osten und „Schurkenstaaten“ wie Nord-Korea bleiben über den Luftverkehr mit der übrigen Welt verbunden. So ist der Luftverkehr im Hinblick auf die Durchsetzung von Maßnahmen zu Zielen der Nachhaltigkeitsagenda in einer klaren Vorreiterrolle. Das gilt, wie zu zeigen sein wird, nicht zuletzt auch für die Klimaziele. 2. Luftverkehr und Grundbedürfnisse der Nachhaltigkeit Die Erfüllung der Grundbedürfnisse ist in den reicheren Ländern der Welt, zu denen auch weite Teile Europas gehören, überwiegend gegeben. Der Beitrag des Luftverkehrs, wenn es ihn dann gegeben hat, liegt in der Vergangenheit. Mit Blick auf z. B. die Seychellen oder die Malediven leistet die Flugtouristik unzweifelhaft für einzelne Regionen und Länder auch heute noch wesentliche Beiträge zur Erfüllung essenzieller Grundbedürfnisse der Bevölkerung und insbesondere zur Überwindung von Armut - fatalerweise oft Regionen, die durch die Veränderung des Weltklimas in einer besonders exponierten Lage sind. Ohne die Anbindung durch den Flugverkehr wären zahlreiche Urlaubsdestinationen in Asien, Afrika, Lateinamerika aber auch in Europa von ihren Quellmärkten abgeschnitten. Der Luftverkehr schafft somit essentielle Einnahmequellen für industriell unterentwickelte Regionen. Für Krisenregionen können kurzfristige Nothilfen zur Gesundheitsversorgung und auch zur Sicherung der Ernährung und anderer Grundbedürfnisse vielfach zeitgerecht nur über Luftbrücken geleistet werden. In zeitkritischen Fällen ist der Transport von Medikamenten, Patienten und/ oder Ärzten durch die Luft auch außerhalb von Krisenregionen zuweilen der einzige Weg, um Leben zu retten bzw. medizinische Versorgung zeitgerecht zu leisten. In Europa wurde während der einsetzenden und anhaltenden Corona-Pandemie der Luftverkehr als systemkritisch zur Gesundheitsversorgung erklärt. Die Rückholung von Verreisten in die Heimat und die Logistik von medizinischen Hilfsgütern und Helfern war auf zahlreiche Flüge und die Offenhaltung von Flughafeninfrastrukturen angewiesen. Im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern ist der Frauenanteil der Beschäftigten im Luftverkehr deutlich höher. Es mag aus Sicht eines wirtschaftlich hoch entwickelten Landes chauvinistisch klingen, dies als Indikator für die Gleichstellung der Geschlechter zu bewerten, dürfte doch die Quote auf den hohen Frauenanteil u. a. in den Servicebereichen (Flugbegleiterinnen, Check-in etc.) liegen. Demgegenüber ist in weniger entwickelten Ländern, in denen das Niveau der Diskriminierung und Ungleichbehandlung von Frauen oft wesentlich substantiellerer Natur ist, der Luftverkehr einer der wenigen Bereiche, in denen Frauen eine Beschäftigung finden, die ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Tore zur Welt öffnet. Bezüglich der weiteren Nachhaltigkeitsziele zu den Grundbedürfnissen, leistet der Luftverkehr unmittelbar keine spezifischen Beiträge. Wenn die Air Transport Action Group zu den Nachhaltigkeitsbeiträgen der Luftverkehrsindustrie reklamiert, dass der Luftverkehr Menschen aus ärmeren Regionen der Welt die Mög- POLITIK Nachhaltigkeit Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 18 lichkeit biete, in besser entwickelten Regionen der Welt zu studieren, 5 so wäre dies nur dann ein realistischer Begründungszusammenhang, wenn nicht auch schon zu Zeiten, als es keine Flugverbindungen gab, junge Menschen aus armen Regionen zum Studium ihre Heimat hinter sich gelassen hätten. 3. Luftverkehr und ökonomische Nachhaltigkeit Als zentraler und teilweise alternativloser Verkehrsträger für den globalen Güterhandel und beruflich oder privat motiviertes Reisen trägt der Luftverkehr erheblich zur Entwicklung des globalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstands bei und damit zum 8. Ziel der Agenda 2030 (Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum). Auch wenn die Veröffentlichungen der Branche selbst sicherlich nicht zu Untertreibungen neigen, so sind die von der globalen Air Transport Action Group ATAG veröffentlichten Zahlen 6 doch einigermaßen beeindruckend. Der Luftverkehr gibt weltweit 87,7 Millionen Menschen Arbeit, davon 11,3 Millionen unmittelbar in der Luftverkehrsindustrie (Bild 2). In vielen anderen Industrien hängen Arbeitsplätze unmittelbar vom Luftverkehr ab. Stärkster Nutznießer ist die Touristik (in den Statistiken einschließlich Geschäftsreisen), in der allein weltweit rund 20 Millionen Arbeitsplätze direkt vom Luftverkehr abhängen, mit dem 58 Prozent aller internationalen Reisen stattfinden. Mit der Bahn sind es nur zwei Prozent, mit dem Schiff vier Prozent. Der Rest reist über die Straße. Auch wenn unter dem Wettbewerbsdruck die Menschenwürdigkeit der Arbeitsplätze in der Luftverkehrsindustrie von Betroffenen teils in Zweifel gezogen werden, so bieten Airlines, Flughäfen, Dienstleister, Hersteller und affine Wirtschaftsbereiche im globalen Kontext zweifelsohne vergleichsweise menschenwürdigere Arbeitsplätze als viele Konsumgüterindustrien und Dienstleistungsgewerbe. Für Deutschland ermittelte die britische Beratungsagentur Oxfort Economics, dass die Luftverkehrsindustrie im Jahr 2018 rd. 2,5 Prozent zum Bruttosozialprodukt beiträgt (Bild 3) 7 . Die Frage nach dem Beitrag des Luftverkehrs zum Wirtschaftswachstum ist differenziert zu beantworten, je nachdem, ob es sich um Passagierluftverkehr handelt oder um Fracht und je nachdem, ob man sie auf globaler Ebene beantwortet oder mit regionalem Bezug. Der Passagierluftverkehr scheint, jedenfalls in den entwickelten Regionen der Welt, eher durch das Wirtschaftswachstum getrieben, als umgekehrt. Wählt man das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner als Indikator für den Wohlstand und sein Wachstum entsprechend für die Entwicklung des Wohlstandes, so sind Flugreisen Teil dieses Wohlstandes, insbesondere wenn es sich um private Anlässe handelt. Je höher das BIP je Einwohner, desto mehr Flugreisen je Einwohner - dieser Zusammenhang wird durch Bild 4 signifikant belegt. Bei den kleinen Ausreißern nach oben handelt es sich regelmäßig um touristische Destinationen. Allein bei ihnen ist der Luftverkehr eine wesentliche Ressource der Wirtschaft und damit auch seines Wachstums. Dieser Zusammenhang ist einleuchtend und wird in einer Studie des Weltwirtschafts-Forums aus 2013 nachvollziehbar belegt. 8 In einem Briefing der IATA zu den Beiträgen des Luftverkehrs zur wirtschaftlichen Entwicklung reklamiert die Luftverkehrsindustrie einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Qualität der Einbindung einer Region in das Luftverkehrsnetz („Konnektivität“) und der Produktivität der Wirtschaft in dieser Region und damit auch der wirtschaftlichen Entwicklung. 9 Die Erklärung dieses Zusammenhangs setzt sich in den einschlägigen Ausarbeitungen der Industrie seither fort. Allerdings können signifikante Impulse des Luftverkehrs für die wirtschaftliche Entwicklung der Region schlüssig im Wesentlichen nur aus Investitionen in Flughafeninfrastrukturen zur Realisierung einer grundlegenden Anbindung an das Luftverkehrsnetz nachgewiesen werden. Im Übrigen aber lässt sich die Ausgangshypothese - dass nämlich eher die Wohlstandsentwicklung das Aufkommen des Passagierluftverkehrs beflügelt und nicht umgekehrt, recht anschaulich an der Entwicklung der Kennzahlen seit Einsetzen der Corona-Pandemie belegen: Während die Verkehrsleistung in, von und nach Deutsch- Quelle: ATAG 2,7 Millionen Nordamerika 595.000 Mittlerer Osten 722.000 Lateinamerika und Karibik 4,2 Millionen Asien/ Pazifik 2,7 Millionen Europa 440.000 Afrika 5,5 % Flughafenbetreiber 49 % Flughafen sonstige 32 % Fluggesellschaften 11,6 % Hersteller 2 % Flugsicherung 11,3 Mio. Bild 2: Direkte Arbeitsplätze in der Luftfahrtindustrie 1,1 Mio. Arbeitsplätze 2,5 % Anteil am BSP 70 Mrd. Wertschöpfung Direkt Zulieferer Konsum Beschäftigte Flug- Touristik 315.000 337.000 299.000 189.000 Arbeitsplätze Wertschöpfung (Mrd. Euro) 21,4 22,2 12,3 14,8 Quelle: Oxfort Economics Umrechnung 1 US$ = 0,82 (31.12.2018) Bild 3: Ökonomische Beiträge der Luftverkehrsindustrie in Deutschland 2018 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 19 Nachhaltigkeit POLITIK land (geleistete Passagierkilometer) in 2020 gegenüber 2019 um 75 Prozent einbrach, weisen die letzten Berechnungen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ein Minus von ca. fünf Prozent aus. Der Einbruch des Passagierluftverkehrs scheint somit die Entwicklung der übrigen Wirtschaftsleistung in Deutschland nur wenig tangiert zu haben. Anders zeichnet eine Studie der Vereinten Nationen die Situation z. B. auf den Malediven, deren Volkswirtschaft zu zwei Dritteln von Touristen abhängt, die fast ausschließlich mit dem Flugzeug anreisen 10 . Ein geschätzter Rückgang des Passagieraufkommens von 68 Prozent für das Gesamtjahr geht hier mit einem Abriss des BIP um über 18 Prozent einher. Die Folgen beschreibt die UN-Studie mit dramatischen Effekten auf Beschäftigung und Lebensstandards bis hin zu elementaren Grundbedürfnissen. Zur Krisenbewältigung wurden umfangreiche internationale Hilfsprogramme aufgelegt. Gegenüber dem Passagierluftverkehr hat die Luftfracht einen wesentlich signifikanteren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung. Der Welthandel wird mit einer breiten Palette von Waren und Dienstleistungen über den Luftverkehr abgewickelt, der effiziente Transporte für zeitkritische und hochwertige Güterströme ermöglicht, von denen die Produktivität zahlreicher globaler Wertschöpfungsketten unmittelbar abhängt. Im Jahr 2018 wurden im internationalen Verkehr Waren im Wert von 6,5 Billiarden Dollar per Luftfracht befördert. Dies entspricht 36 Prozent des internationalen Güterverkehrs bei zugleich lediglich einem Prozent der Tonnage. Die Abhängigkeit des Welthandels und globaler Logistikketten von einem adäquaten Luftfracht-Angebot zeigte sich während der Corona-Pandemie in einer ungebrochenen Nachfrage. Die weltweit auftretenden Integratoren (DHL, Fedex, UPS) sind gar Profiteure der Pandemie. Die Linienluftfracht konnte der Nachfrage nicht genügen, da die für sie essentiellen Belly-Kapazitäten in den Passagierflugzeugen am Boden blieben. Zum Ausgleich ergaben sich Chancen im Chartergeschäft, die teils von Ferienfluggesellschaften wie TUIfly und Condor gefüllt wurden und werden, die hierfür die Sitze aus den Kabinen räumten. Zum Ziel, wirtschaftliche Ungleichheiten in der globalen Verteilung des Wohlstands zu reduzieren, trägt der Luftverkehr wirksamer bei, als die meisten anderen Industrien. In den herstellenden Industrien und in der Landwirtschaft verteilen sich die Wohlstandseffekte in einem offensichtlichen Gefälle zwischen den hochentwickelten Regionen und den Entwicklungs- und Schwellenländern. Die industrialisierten Länder profitieren ungleich stärker von Exporten und wissen zudem ihre Heimatmärkte durch Schutzzölle und regulative Hemmnisse vor Importen aus den weniger entwickelten Ländern abzuschotten. Wie bereits bei den Zielen zu den Voraussetzungen dargelegt, ist der Luftverkehr wie keine andere Industrie durch einvernehmliche globale Standards und Zusammenarbeit geprägt. Das durch Reziprozität gekennzeichnete System der bilateralen Verkehrsrechtsabkommen verleiht den Schwächeren Augenhöhe mit den Stärkeren. Die Angebotskapazitäten werden so dimensioniert, dass sie insgesamt bedarfsgerecht sind und dass die Fluggesellschaften der beteiligten Länder jeweils einen gleichen Anteil hieran haben. Der Schutz der nationalen Interessen kommt z. B. auch der deutschen Luftverkehrsindustrie, allen voran dem Lufthansakonzern, zugute, wenn die Bundesregierung es bisher ablehnt, den Vereinigten Arabischen Emiraten für ihre aggressiven 6.-Freiheitscarrier zusätzliche Verkehrsrechte einzuräumen. Allein innerhalb der sogenannte European Common Aviation Area, Nordamerikas und Australiens und einzelnen Open-Sky-Abkommen wurde dieses System durch freien Wettbewerb ersetzt - mit der Folge wenig nachhaltiger, massiver Überkapazitäten und vielfach beklagter Billigstangebote. Die Gebührenordnungen der Flughäfen und der Flugsicherungsorganisationen gelten verbindlich weltweit für alle Verkehrsteilnehmer diskriminierungsfrei und werden nach einvernehmlichen Standards grundsätzlich höchstens kostendeckend kalkuliert. Kein Flughafen und keine Flugsicherungsorganisation dürfen etwa nationale Fluggesellschaften gegenüber ausländischen, egal welcher Provenienz, bevorteilen. Dasselbe gilt für die Slots an verkehrsreichen Flughäfen und im Luftraum. Nicht nur formal (Regulierung, internationale Verträge) sondern auch praktisch darf der Luftverkehr somit wohl zu Recht die Rolle eines Vorreiters für sich reklamieren, wenn es um Gleichberechtigung und Chancengleichheit geht. Bezüglich der weiteren ökonomischen Ziele der Nachhaltigkeitsagenda werden seitens der Industrie selbst einzelne Zusammenhänge konstruiert. So verweist die ATAG auf eine Bedeutung von Flughäfen und der damit einhergehenden Anbindung an das Luftverkehrsnetz auf die Nachhaltigkeit von Städten und Gemeinden. Liest man allerdings die Erläuterungen der Agenda 2030 zur Nachhaltigkeit zum Ziel „Nachhaltige Städte und Gemeinden“, so beruht der reklamierte Zusammenhang offenbar auf einem Missverständnis. Dort geht es um andere Sachverhalte, insbesondere die sozialen Konfliktpotenziale aus Flugreisen je Einwohner von / nach Bruttoinlandsprodukt je Einwohner Quelle: IATA Bild 4: Bruttoinlandsprodukt und Flugreisen (2018) POLITIK Nachhaltigkeit Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 20 der massiven Urbanisierung in weiten Teilen der Welt. 4. Luftverkehr und ökologische Nachhaltigkeit Für zwei der drei ö k o l o g i s c h e n Nachhaltigkeitsziele im Katalog der Agenda 2030 hat der Luftverkehr erkennbar geringe Relevanz, so dass sich eine vertiefende Analyse hierzu erübrigt. Demgegenüber scheint es so, dass der Luftverkehr unter allen Verkehrsträgern und Industrien als Klimafeind Nr. 1 ausersehen ist. Wegen seiner Lärm- und Schadstoffemissionen steht er vornehmlich in Europa am Pranger der Vertreter von Ökologie und Klimaschutz. Wenn man die Begriffe „Luftverkehr“ und „Nachhaltigkeit“ in eine der gängigen Internet-Suchmaschinen eingibt, so zeigt sich sehr eindrucksvoll, dass sich die Inhalte zur Nachhaltigkeit des Luftverkehrs nahezu ausschließlich auf die ökologischen Aspekte und insbesondere die Klimaeffekte beschränken. Dies mag mit der oft allgemeinen Gleichsetzung der beiden Begriffe in der öffentlichen Diskussion erklärbar sein. Es ändert aber nichts daran, dass eine isolierte Diskussion nur der ökologischen Nachhaltigkeitsaspekte zwar hilfreich zur Erhitzung der Gemüter sein kann, nicht aber zu einem effektiven, also erfolgreichen Umgang mit diesen Zielen bzw. zu ihrer Erfüllung. Klimarettung funktioniert nur in globaler Zusammenarbeit Wenn das Klima gerettet werden soll, so wird dies nur in weltweiter Zusammenarbeit funktionieren und diese wiederum funktioniert nur, wenn hierfür flächendeckend die Grundvoraussetzungen geschaffen werden, auch die anderen Ziele der Agenda nicht aus den Augen verloren werden und wenn schließlich auch ein fairer Interessenausgleich dabei stattfindet. Es soll im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht etwa der Beitrag des Luftverkehrs zur Belastung des Weltklimas bestritten oder auch nur heruntergewertet werden. Es soll auch nicht der Beitrag des Luftverkehrs in Relation gesetzt werden zu dem etwa des Individualverkehrs oder zu dem anderer öffentlicher Verkehrsträger. Zu diesen Aspekten liegen genügend Veröffentlichungen vor, die zeigen, dass sich der Luftverkehr unter den öffentlichen Verkehrsträgern relativ zur Beförderungsleistung die hinteren Ränge mit dem Schiffsverkehr teilt. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Richtig ist aber auch, dass der Luftverkehr bisher der einzige Transport- und auch Wirtschaftssektor ist, der überhaupt auf globaler Ebene zu abgestimmten Zielen und Maßnahmen sowie zu vertraglich bindenden Programmen im Sinne der globalen Klimaziele übereingekommen ist. Man mag über die Effektivität des Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation (CORSIA) durchaus geteilter Meinung sein, allein der Luftverkehr hat es allerdings vollbracht, überhaupt ein weltweit flächendeckend verbindliches, abgestimmtes Programm zu verabschieden - auch wenn es sicherlich noch einiges nachzubessern gibt. Man mag auch über die Effektivität des europäischen Emission Trading Scheme (ETS) geteilter Meinung sein. Unter den Verkehrsträgern ist allerdings der Luftverkehr der Vorreiter, wenn es um die Einbeziehung geht. Beide, CORSIA und ETS, sind zumindest grundsätzlich geeignet, Maßnahmen zur Kompensation der verursachten Klimaeffekte zu befördern bzw. zu finanzieren - anders als die allenthalben eingeforderte Besteuerung von Kerosin, die bisher nicht nur an internationalen Statuten scheitert, sondern die auch weder effektiv zu einer Eindämmung der Verkehrsentwicklung führen würde, noch käme die erhobene Steuer Klimaschutzmaßnahmen zugute. 11 CORSIA liefert ein Beispiel dafür, wie durch die effektive Koordination einer globalen Institution (ICAO) bei fairem Interessenausgleich im Hinblick auf die übrigen Nachhaltigkeitsziele globales Einvernehmen zu einem nahezu flächendeckenden Abkommen erzielt werden kann. Es berücksichtigt explizit die höhere Priorität anderer Nachhaltigkeitsziele in Regionen der Welt, in denen die Anbindung an das internationale Luftverkehrsnetz unterentwickelt ist und in solchen, deren Wohlstand substantiell von der Anbindung an das Luftverkehrsnetz abhängt, z. B. die Malediven (Bild-5). Die in der Grafik grau unterlegten Staaten tragen jeweils weniger als 0,5 Prozent zum jährlichen CO 2 -Emissionsvolumen des globalen Luftverkehrs bei und gemeinsam weniger als 10 Prozent. Die gegenüber anderen Sektoren und UN-Organisationen starke Führungsrolle und Vernetzung mit den nationalen Aufsichtsbehörden der ICAO macht es möglich, ein Programm wie CORSIA nicht nur auf dem Reißbrett zu verabschieden, sondern auch effektiv einzuführen und zu moderieren. Der einzige andere, global aufgestellte Mode, die Schifffahrt, beschränkt sich zur Einhaltung der Pariser Klimaziele bisher auf vollmundige Ankündigungen von Bemühungen. Die International Shipping Organisation (ISO; Pendant zu ICAO für internationalen Schiffverkehr) liefert den traurigen Beleg, dass es gute Absichten gibt aber nichts Verbindliches. 12 Für andere Modes und Industrien gibt es nicht einmal dies, sondern, wenn überhaupt, gesetzliche Vorgaben in der EU und einzelnen anderen Ländern. So kann die Konzentration der öffentlichen Diskussionen zum Klimaschutz auf Bild 5: Regionaler und zeitlicher Migrationspfad CORSIA Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 21 Nachhaltigkeit POLITIK den Luftverkehr nur dadurch einen Sinn gewinnen, dass eben dieser Sektor scheinbar der einzige ist, der global so aufgestellt ist, dass etwas bewegt werden kann. Auch auf europäischer Ebene zeigt sich die Luftverkehrsindustrie gut abgestimmt und schlagkräftig, wenn es um das Erreichen der Klimaziele geht. In einer im Februar 2020 veröffentlichten Studie erklären die europäischen Verbände der Fluggesellschaften, Flugzeughersteller, Flughäfen und Flugsicherungsorganisationen gemeinsam, wie sie sich den Weg zu einem CO 2 -neutralen Luftverkehr in, von und nach Europa bis 2050 vorstellen und wie sie dabei zugleich die Ziele aus dem Pariser Abkommen für den Luftverkehr insgesamt einhalten wollen (Bild 6). 13 Die Kosten der Vermeidung bzw. Kompensation der CO 2 -Emissionen werden demnach den Luftverkehr gegenüber dem im Referenzszenario für 2050 erwarteten um rd. 15 Prozent reduzieren. Weitere 37 Prozent Einsparungen fossiler Brennstoffverbräuche erhofft man sich durch effizientere Antriebe und optimierte Flugwege und -prozesse. Mehr als die Hälfte der Effekte für den erwarteten Gesamtverkehr werden aber aus Kompensationsmaßnahmen erwartet, bei denen die fossilen Brennstoffe entweder durch äquivalenten Entzug von CO 2 bei deren Herstellung gewonnen werden („nachhaltiger Treibstoff“) oder die Emissionen an anderer Stelle durch CO 2 -Absorbtionen kompensiert werden. Klimaschutz effektiver gestalten Nach Einschätzung des Verfassers ist es eine große, wenn nicht gar magisch anmutende Herausforderung, die erwarteten Einsparungen aus der Entwicklung moderner Technologien traditioneller Antriebstechniken sowie der Optimierung von Flugwegen und -verfahren mit konkreten Maßnahmen zu unterlegen. Auch die Hoffnung, fast ein Viertel des bei reduziertem Wachstum verbliebenden Energiebedarfs auf Wasserstoff an Bord umstellen zu können, mutet bei den bekannten Pilotprojekten für hierfür ausgelegte Flugzeugmuster eher magisch an. Im Gesamtinteresse der globalen Nachhaltigkeit im Allgemeinen und des Klimas im Besonderen wäre es deshalb besser, den dargestellten Anteil kompensierender Maßnahmen zu erhöhen. Offensichtlich wäre es effizienter und für das Weltklima auch wesentlich effektiver, die hierdurch freisetzbaren Finanzierungsmittel • in CO 2 -absorbierende Maßnahmen da zu investieren, wo im wahrsten Sinne des Wortes der Regenwald brennt und • in CO 2 -emissionseinsparende Maßnahmen in den Sektoren und Industriezweigen, in denen eine Umstellung auf nicht fossile Brennstoffe technisch und wirtschaftlich unter weitaus günstigeren Bedingungen realisiert werden kann. Die Zeche, die der Luftverkehr und seine Nutzer zur Kompensation der durch sie verursachten Klimawirkungen zu zahlen hätten, wäre deutlich besser angelegt, und zudem könnten die nicht zu vernachlässigenden negativen Auswirkungen auf andere Ziele der Nachhaltigkeitsagenda damit vermieden werden. Fazit Der Luftverkehr • hat Vorbildfunktion im Hinblick auf die Erfüllung der Voraussetzungen zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, • leistet substantielle Beiträge zur Erfüllung der Grundbedürfnisse und zu ökonomischen Zielen, • ist der einzige Verkehrs- und Industriesektor, - der auf globaler Ebene eine verbindliches Programm zur Erfüllung der Pariser Klimaziele hat, - der auf europäischer Ebene ein Programm zur vollständigen Klimaneutralität bis 2050 hat. Im Interesse der Gesamtziele der Agenda 2030 im Allgemeinen und des Weltklimas im Besonderen ist es effizienter und effektiver, die CO 2 -Emissionen des Luftverkehrs auf seine Kosten an anderer Stelle zu kompensieren, als ihn regulativ zu beschränken. ■ 1 Vereinte Nationen: Report of the United Nations Confference in the Human Environment, Stockholm, 5.-16. Juni 1972, http: / / www.un-documents.net/ aconf48-14r1.pdf 2 Volker Hauff (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft: Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, S. 46 3 Vereinte Nationen: Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung; Resolution der Generalversammlung vom 25.09.2015, https: / / www.un.org/ Depts/ german/ gv-70/ band1/ ar70001.pdf 4 Vereinte Nationen: Abkommen über die Zivilluftfahrt, Chicago, 07.12.1944, https: / / web.archive.org/ web/ 20140313043526/ http: / www.luftrecht-online.de/ l-o-regelwerke/ ICAO-D.pdf 5 Air Transport Action Group (ATAG): Aviation Benefits beyond Borders, September 2020, https: / / aviationbenefits. org/ media/ 167186/ abbb2020_full.pdf 6 vgl. ebenda 7 IATA: The Importance of Air Transport to Germany, o.O. 2019, https: / / www.iata.org/ en/ iata-repository/ publications/ economic-reports/ germany--value-of-aviation/ 8 World Economic Forum: The Travel & Tourism Competitiveness Report 2013, Genf 2013, http: / / www3.weforum.org/ docs/ WEF_TT_Competitiveness_Report_2013.pdf, insbesondere Kapitel 1.4. 9 IATA: Aviation Economic Benefits - Measuring the economic rate of return on investment in the aviation industry, IATA ECONOMICS BRIEFING No8, July 2007, https: / / www.iata. org/ en/ iata-repository/ publications/ economic-reports/ aviation-economic-benefits 10 UNSDG: COvid-19 Socioeconomic Responese and Recovery Framework - Maledives, Male 2020, https: / / unsdg.un.org/ sites/ default/ files/ 2020-08/ MDV_Socioeconomic-Response-Plan_2020.pdf 11 Vgl. hierzu Brützel, C.: Zur politischen Begrenzung des Klimaschadens durch den Luftverkehr, 09/ 2019, https: / / www. airliners.de/ einfluesse-besteuerungs-szenarien-aviationmanagement/ 51841 12 vgl. hierzu IMO: IMO and the Sustainable Development Goals, https: / / www.imo.org/ en/ MediaCentre/ HotTopics/ Pages/ SustainableDevelopmentGoals.aspx 13 A4E, ACI Europe, ASD, ERA, CANSO: Destination 2050 - A route to net zero European aviation, 02/ 2021, https: / / www. destination2050.eu/ wp-content/ uploads/ 2021/ 02/ Destination2050_Report.pdf? mc_c id= e08 e4 1 1 8 39&mc_ eid=907fecd6da Christoph Brützel, Prof. Dr. Aviation Consulting, Meerbusch christoph@bruetzel.com Hypothetisches Referenzszenario Treibstoffeinsparungen (Technologie) Wasserstoffantrieb Kosten-/ Nachfrageeffekt H-Antrieb auf Verkehrsleistung CO 2 -Emissonen netto Verkehrsführung und Flugprozesse Nachhaltiger Treibstoff Kosten-/ Nachfrageeffekt nachhaltiger Treibstoffauf Verkehrsleistung CO 2 -Emissonen netto Innerhalb EU+ Kompensationsprogramme (CORSIA, ETS) Kosten-/ Nachfrageeffekt Kompensationsprogramme auf Verkehrsleistung 55 % der CO 2 -Emissonen netto innerhalb EU+ (1990) Quelle: A4E, ACI, ASD, ERA, CANSO: Destination 2050: A Route to Net Zero European Aviation, 02/ 2021 CO₂-Emissionen Luftverkehr EU+ (Mio. t) Bild 6: Migrationspfad CO 2 -Einsparungen Luftverkehr in, von und nach Europa DAS FACHMAGAZIN FÜR DIE JACKENTASCHE Lesen Sie Internationales Verkehrswesen und International Transportation lieber auf dem Bildschirm? Dann stellen Sie doch Ihr laufendes Abo einfach von der gedruckten Ausgabe auf ePaper um - eine E-Mail an service@trialog.de genügt. Oder Sie bestellen Ihr neues Abonnement gleich als E-Abo. Ihr Vorteil: Überall und auf jedem Tablet oder Bildschirm haben Sie Ihre Fachzeitschrift für Mobilität immer griffbereit. www.internationales-verkehrswesen.de/ abonnement Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 3 11.11.2018 18: 27: 05 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 23 A ls das riesige Containerschiff „Ever Given“ sich im Suezkanal festfuhr und diese Hauptschlagader des Welthandels auf ungewisse Zeit blockierte, haben viele in der Transport- und Logistikwirtschaft den Atem angehalten. Nach rund einer Woche war der Weg wieder frei, die Folgen des Schiffs- und Warenstaus wirken aber in allen Teilen der Welt noch viel länger nach. Sie könnten auch einer Diskussion eine viel stärkere Dynamik geben, die in Brüssel ohnehin schon seit einer Weile geführt wird: der Diskussion darüber, ob der Trend zu immer größeren Schiffen zu einem immer effizienteren und auch umweltverträglicheren Welthandel beiträgt oder ob er den weltweiten Markt für Containertransport aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. Nach Jahren der Krise sind die großen Linienreedereien in diesem Markt wieder obenauf. Sie haben es geschafft, Kosten zu senken und die Effizienz zu steigern. Mit Mega-Frachtern kann der einzelne Container immer günstiger und mit anteilig weniger CO 2 -Emissionen etwa von Asien nach Europa oder Nordamerika gebracht werden. Und anders als Experten noch vor einem Jahr erwarteten, haben die Linienreedereien durch die Covid-Pandemie nicht etwa Milliardenverluste hinnehmen müssen, sondern sogar Rekordgewinne gemacht. Daran dürften niedrige Treibstoffkosten und Effizienzsteigerungen einen großen Anteil haben. Viele Reedereien sehen das als dringend benötigten Ausgleich für die vergangenen Krisenjahre mit hohen Verlusten und Schulden an. Auch angesichts der Investitionen, die in den kommenden Jahren wahrscheinlich für den Klimaschutz notwendig werden. Mit Sorge blicken dagegen europäische Verbände von verladender Wirtschaft, Spediteuren, Hafen- und Terminalbetreibern auf die immer größer werdenden Containerriesen. Schon seit längerem kritisieren sie, dass sie die negativen Begleiterscheinungen eines effizienteren Seetransports abfedern müssen: Kosten für tiefere Hafenbecken und stärkere Kaimauern etwa, höhere Belastungsspitzen beim Umschlag der Containerflut mit Engpässen bei Personal und Lagerraum sowie Staus beim Weitertransport ins Hinterland. Durch die Blockade im Suezkanal hat sich die Lage weiter zugespitzt. Die zunächst verspäteten und dann kurz nacheinander eintreffenden Containerriesen haben die Kapazitäten europäischer Häfen, Speditionen und Hinterlandtransporteure teils gesprengt. Auch beim Suezkanal selbst stellt sich nach der Havarie der „Ever Given“ die Frage, ob die weltweite Transportinfrastruktur immer größere Containerschiffe verkraften kann. Die europäischen Spediteure meinen allerdings jetzt schon, dass die Entwicklung in die falsche Richtung läuft. Mit den Mega-Schiffen sei der Frachtraum nicht größer geworden, weil viele kleinere Schiffe vom Markt verschwunden seien. Der europäische Verladerverband ESC bemängelt, dass viele kleinere europäische Häfen von den großen Containerschiffen nicht mehr angelaufen, sondern nur noch vom Kurzstreckenseeverkehr, von Binnenschiffen, LKW und Güterzügen bedient werden. Wenn Container sich zunächst in - zunehmend verstopften - Großhäfen stauen und dann eventuell noch mehrmals umgeladen werden müssen, bevor sie ans Ziel kommen, verlängert sich die Gesamtlaufzeit der Ware und auch die Klimabilanz wird schlechter, bemängeln die Verlader. Effizienz müsse über die gesamte Lieferkette beurteilt werden, nicht nur für den Transport über die Ozeane. Der ESC fordert eine Diskussion über- eine Größenbegrenzung für Schiffe in EU-Häfen. Europäische Reedereikunden beschweren sich über explodierende Frachtraten und Zuschläge, kurzfristig gestrichene Abfahrten oder darüber, dass die Carrier häufig lieber Leercontainer nach Asien bringen, um dann von den sehr hohen Frachtraten im Ost-West- Verkehr zu profitieren, als auf europäische Ware zu warten. Eine Mitschuld an der Entwicklung geben die Reedereikunden der EU- Kommission, weil diese 2020 die Gruppenfreistellung der Linienreedereien vom EU-Wettbewerbsrecht für vier Jahre verlängert hat. Das erlaubt den Reedern etwa die Zusammenarbeit in „Allianzen“. Im Streit um die Wettbewerbsbedingungen moderiert die EU- Kommission derzeit zwar Gespräche zwischen allen Beteiligten an der Lieferkette, lässt sich aber nicht festnageln, ob sie regulierend eingreifen will. Das durch den Unfall im Suezkanal aktuell gewordene Thema der Megafrachter könnte vielleicht dazu führen, dass der Containerverkehr noch einmal umfassender betrachtet wird - jenseits der Gruppenfreistellungsdiskussion. Denn egal wie man sich zu immer größeren Containerschiffen stellt, muss die europäische Verkehrsplanung daran angepasst werden. Im Herbst will die Kommission ihren Vorschlag für eine Neufassung der Verordnung über die transeuropäischen Verkehrsnetze vorlegen (TEN-V). Der Zeitpunkt für eine gründliche Diskussion wäre also günstig. ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN Wie groß ist groß genug in der Containerschifffahrt? Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 24 POLITIK Wissenschaft Die Covid-19-Pandemie - Anlass oder Ursache der Konsolidierungsphase in der Luftfahrt Luftfahrt, Pandemie, Konsolidierung, Flottenentwicklung, Produktionszahlen, Flugzeugmarkt, Nachfrage, Flottenbedarf Die Covid-19-Pandemie hat insbesondere auf die Luftfahrt gravierende Auswirkungen. Diese Arbeit analysiert vergleichbare Ereignisse der Vergangenheit in Ursache und Wirkung und schließt von dort auf mögliche Entwicklungen, die sich mit dem Ausklang der Pandemie für die Luftfahrt in Herstellung und Betrieb ergeben können. Hierzu werden Produktions- und Beschäftigungszahlen der Vergangenheit ursächlich analysiert und in Bezug zur aktuellen Entwicklung gesetzt. Mittels Merkmalsanalogie zu anderen marktbestimmenden Airlines werden anhand der publizierten Flottenentwicklung einer Beispiel-Airline Auswirkungen auf Flottengrößen und Produktionsraten aufgezeigt. Eine Konsolidierung bis zu 40 % bei Herstellern und Betreibern erscheint dabei aus kausaler Marktsicht aufgrund zuvor entwickelter Überkapazitäten sowie geringerer benötigter Flottengrößen bei gleicher oder höherer Sitzplatzkapazität je Flugzeug realistisch. Volker Gollnick, Christian Weder D ie Covid-19-Pandemie hat in erheblichem Maße die jüngste Entwicklung der Luftfahrt beeinflusst. Die weltweiten Lockdown-Wellen haben zu einem massiven Einbruch in Herstellung und Betrieb und dem weitgehenden, andauernden Erliegen des Weltluftverkehrs geführt. Wie sich die Luftfahrt nach dem Abflauen der Pandemie erholen wird, ist dabei unsicher. Dieser Artikel befasst sich zunächst mit einer kausalen Auswirkungsanalyse bisheriger Ereignisse auf die Luftfahrt, die ansatzweise vergleichbare Auswirkungen wie die Pandemie auf die Luftfahrt gehabt haben. Aus diesen Analysen und der Bewertung publizierter Anpassungsmaßnahmen einer beispielhaften Netzwerkairline werden mögliche Entwicklungen für die Luftfahrt abgeleitet, die in Folge der aktuellen Pandemie-Situation eintreten können. Dabei werden Betreiber- und Herstellerverhalten wegen der engen Abhängigkeit gemeinsam betrachtet. Entwicklung des Luftverkehrs 1970 bis März 2020 Die Entwicklung des Luftverkehrs hat seit den 1970er Jahren einen steten Anstieg der Beförderungsleistung in Passagierkilometern erlebt (Bild 1). Dabei wurden von den großen Herstellern seit vielen Jahren jährlich weltweit erwartete Zuwachsraten zwischen 4 und 5 % bis 2038 prognostiziert [1, 2]. Es lässt sich zeigen, dass die Pandemie in ihrer Intensität deutlich stärkere Auswirkungen hervorruft als bisherige Ereignisse. Die relativ hohen Rohölpreis-Steigerungen der 1970er-Jahre haben keinen signifikanten Rückgang in der Beförderungsleistung bewirkt, weil Fliegen zu der Zeit noch nicht die ausgeprägte Preissensitivität wie im 21. Jahrhundert hatte. Auch die Golfkriege Anfang der 1990er Jahre hatten keinen sichtbaren Einfluss auf die positive Entwicklung der Luftfahrt, obwohl die Kriegshandlungen den Luftraum in der Golfregion eingeschränkt haben. Aufgrund der nur lokalen Beschränkungen wurde der Weltluftfahrtverkehr nicht beeinträchtigt. Die den Luftverkehrsmarkt tragenden Wirtschaftsregionen waren von den Kriegshandlungen nicht räumlich betroffen. Auch die Wirtschaftskrise in Asien Ende der 1990er Jahre hat zu keinen Einbrüchen geführt, weil zu dem Zeitpunkt dieser Wirtschaftraum noch nicht die heutige globale Bedeutung hatte. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben erstmalig in der zivilen Luftfahrt zu Sperrungen ganzer kontinentaler Lufträume über mehrere Tage geführt, die zudem einen der weltweit führenden Wirtschaftsräume betrafen. Gleichzeitig hat das Angstgefühl, resultierend aus den Terroranschlägen, erstmalig zu rückläufigen weltweiten Fluggastzahlen für zwei Jahre geführt. Maßnahmen wie „Sky-Marshalls“, verschließbare Cockpit-Türen und PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 20.11.2020 Endfassung: 27.01.2021 Durch einen technischen Fehler wurde in der gedruckten Ausgabe von Internationales Verkehrswesen 1/ 2021 eine nicht revidierte Rohfassung des Beitrags veröffentlicht. Die Redaktion entschuldigt sich und druckt in dieser Ausgabe die finale Fassung des Beitrags ab. Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 25 Wissenschaft POLITIK intensive Sicherheitskontrollen wurden schnell zur Prävention eingeführt [5, 6]. Das Sicherheitsgefühl der Passagiere in der Luftfahrt konnte nur verzögert wiederhergestellt werden. Luftraumsperrung und Nachfragerückgang zusammen haben daher sichtbar zu einem Rückgang der Entwicklung über zwei bis drei Jahre geführt (Bild 1). Die Sars-Epidemie 2003, die in der Schwere der Erkrankung mit der heutigen Covid-19-Pandemie vergleichbar ist, hatte wegen der regionalen Begrenzung keinen sichtbaren Einfluss auf den Anstieg des Passagieraufkommens. Das Virus breitete sich ausgehend von südchinesischen Provinzen auch weltweit aus, mit insgesamt 8.400 Fällen in 29 Ländern war der Umfang im Vergleich zur Covid-19-Pandemie jedoch sehr gering [6, 7]. Ende Januar 2021 weist die Covid-19-Pandemie rund 99-Mio. Fälle und rund 2,1 Mio. Tote auf [7, 8]. Die Jahre nach der Finanzkrise 2008 bis 2010 zeigen dagegen ebenfalls eine leicht rückläufige Entwicklung der Passagierzahlen infolge des globalen Einbruchs der Wirtschaftsleistung. Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull führte 2010 ohne nachhaltige Wirkung zu tagelangem deutlichem Rückgang des Flugverkehrs in Europa mit einem Ausfall von rund 100.000 Flügen, was rund 48 % des normalen Aufkommens der Zeit entsprach [8, 9]. Resümierend ist festzuhalten, dass in der Vergangenheit entweder wirtschaftliche Einbrüche oder Einschränkungen des Luftverkehrs als Einzelursachen von enger zeitlicher und räumlicher Begrenzung nur zu geringen Einbrüchen im Luftverkehrswachstum geführt haben. Die Covid-19-Pandemie begann im Spätherbst 2019 in epidemischer Form in China und breitete sich zunehmend im asiatischen Raum und dann über die globalen Verkehrswege weltweit aus. Eine Vielzahl schwerer Krankheitsverläufe bis hin zum Tod sowie fehlende Impfstoffe erzeugen weltweit erhebliche Ängste in Politik und Bevölkerung und führten weltweit im Frühjahr 2020 zum sogenannten ersten „Lockdown“ und damit zu einem globalen Zusammenbruch der Personenmobilität und weltweiten Rückgängen der Wirtschaftsleistung von rund -17 % [8, 9]. Diese Maßnahmen wurden im Herbst 2020 wiederholt, so dass der globale und regionale Passagierluftverkehr nahezu vollständig zum Erliegen kam. Die Folgen waren weitreichende Flottenstillegungen der großen Airlines, so dass bis zu 90 % oder 700 der Flugzeuge bei einer Airline am Boden blieben [13, 16]. So hat Air France 180 seiner 224 Flugzeuge am Boden behalten und nur 5 % der regulären Flüge angeboten [11]. Andere Quellen sprechen von bis zu 17.000 stillgelegten Verkehrsflugzeugen (64 % der Weltflotte) [4]. Die ICAO weist 2020 einen Rückgang der Beförderungsleistung von rund 60 % aus [4]. Dies führt in Bild 1 zu einem einschneidenden Einbruch der Luftverkehrsentwicklung, der in vergleichbarer Form auch von der IATA bis 2024 prognostiziert wird [5]. Globale staatliche Anordnungen, auf Reisen zu verzichten, sind im Vergleich zu früheren Ereignissen einmalig und neu. Betrachtet man die Covid-19-Pandemie vor diesem Hintergrund hinsichtlich ihrer Wirkung, so überlagern in der Pandemie der erhebliche Rückgang der weltweiten Mobilitätsnachfrage und staatliche vorgegebene Angebotsbeschränkungen, die zudem räumlich, zeitlich und in der Intensität deutlich einschneidender verlaufen, als bei früheren Ereignissen mit funktional vergleichbaren Auswirkungen. Vergleicht man den Einbruch durch die Pandemie mit den Einbrüchen 2001 und 2009, so zeigt sich allein grafisch ein Unterschied in Größenordnungen in zeitlicher Dauer und Intensität. Folgen dieser Entwicklung sind ein erheblicher Personalabbau und Flugzeugstillegungen bei den Luftfahrzeugbetreibern von bis zu 35 % laut IATA [20]. Die Flugzeugproduktion - ein überhitzter Markt? Die Auswirkungen der Pandemie auf den Luftverkehr führen auch zu einem massiven Einbruch des Herstellermarktes. Eine vergleichbare Entwicklung hat die europäische militärische Luftfahrtindustrie mit dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre erlebt, als umfangreiche Einsparprogramme einen erheblichen Rückgang der Auftragslagen und Beschäftigungen bewirkt haben. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks veränderte sich grundlegend die sicherheitspolitische Lage in der Welt. Während zu diesem Zeitpunkt die zivile Luftfahrtindustrie nur geringe Produktionsstückzahlen aufwies, dominierte die Militärluftfahrtindustrie mit den Großprogrammen Tornado, Eurofighter, Tiger und NH90. Als Konsequenz wurden die Stückzahlen für alle militärischen Flugzeugmuster deutlich reduziert. Zusammen mit Wechselkursungleichgewichten Deutsche Mark und Dollar führten die Entwicklungen 1995 zu Bild 1: Entwicklung der globalen Beförderungsleistung der Luftfahrt seit 1970 [1, 3, 4]. Bild 2: Beschäftigungsentwicklung in der deutschen Luftfahrtindustrie 1979 - 2019, erweitert aus [15] Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 26 POLITIK Wissenschaft dem Einsparprogramm „Dolores“ (Dollar Low Rescue) der damaligen DASA und dem Abbau von rund 40 % der damalig 95.000 Arbeitsplätze in der Luftfahrtindustrie in Deutschland (Bild 2) [15]. Diese Entwicklung ist vergleichbar mit der aktuellen Situation, dergestalt, dass durch stillgelegte Flugzeuge der Markt für Neuflugzeuge zusammengebrochen ist und die Airlines in Personal und Sitzplatzangebot um gut 30 % weltweit schrumpfen. Airbus lieferte 2020 566 Flugzeuge aus, Boeing 157 - Einheiten. Diese Zahlen entsprechen in etwa dem Umfang der im April 2020 am Boden befindlichen Flugzeuge der Lufthansa-Gruppe. British Airways und Air France haben im Januar 2021 immer noch 194 ihrer 469 Flugzeuge am Boden [12]. Die Ankündigungen von Boeing und Airbus von 40 % Produktionsratenkürzung lassen daher erwarten, dass in ähnlicher prozentualer Größenordnung wie 1994 ein Personalabbau stattfinden wird. Teile dieses Einbruchs können durch das erstarkende Militärprogramm FCAS (Future Combat Air System) kompensiert werden, ähnlich wie umgekehrt nach 1995 der Verkehrsflugzeugmarkt kompensieren konnte. Seit 2006 entwickelten sich die Bestellzahlen, die deutlicher auf Marktstimmungen reagieren als Auslieferungszahlen, schwankend, und zeigen eine klare Abhängigkeit von einschneidenden Ereignissen wie den Terroranschlägen 2001 und der Finanzkrise 2009, wobei die Terroranschläge nachhaltiger wirkten (Bild 3). Aus den bisherigen Vorhersagen der großen Hersteller resultiert etwa alle 15 Jahre eine Verdoppelung der Beförderungsleistung, so dass 2020 rund acht Milliarden und 2025 zehn Milliarden Passagierkilometer zu erwarten waren (Bild 1). Dazu konnten in den letzten Jahren erhebliche Steigerungen in den jährlichen Produktionszahlen bei Airbus und Boeing verzeichnet werden, so dass im Jahr 2019 rund 1.300 Kurz- und Mittelstreckenmaschinen ausgeliefert wurden (Bild 4). Zusätzlich zeigt sich nach Herstellerangaben ein Trend zu immer größeren Sitzplatzkapazitäten je Flugzeug. So ist die Kapazität eines Airbus A320NEO mit- 180- Sitzplätzen gegenüber der A320-200 mit 140 bis 170- Plätzen um gut 6 % höher. Ähnliche Relationen bestehen für die B737MAX-Familie mit vergleichbaren Steigerungen gegenüber der 737NG-Serie. Damit steigt das Sitzplatzangebot der sich erneuernden Flotte, so dass mit weniger Flugzeugen das gleiche oder ein größeres Transportangebot erbracht werden kann. Bild 4 zeigt, dass seit 2012 die jährlichen Produktionsraten um mehr als 20 bis 30 % über dem jährlichen Wachstumsbedarf lagen und somit zusätzliche Kapazitäten, getrieben durch den Kampf der Hersteller um Marktanteile, erzeugten. Insbesondere typische Listenpreisrabatte im mittleren zweistelligen Prozentbereich lassen darauf schließen, dass ein nennenswerter Anteil an Bestellungen herstellerseitig induziert wurde und nicht unmittelbar marktgetrieben war. Airbus und Boeing hatten weitere Produktionssteigerungen auf monatlich 70 Kurz-/ Mittelstreckenflugzeuge für die nächsten Jahre angekündigt. Die hohen Produktionsraten bei Airbus und Boeing in den letzten Jahren resultierten u. a. auch aus der Notwendigkeit, in beiden Unternehmen einen ausreichenden Cashflow zu generieren, um die milliardenschweren Verbindlichkeiten aus den großen Entwicklungsprogrammen A380, A350, A400M bzw. B787, B737MAX usw. sowie den damit verbundenen Personalbestand zu finanzieren, der in diesem Ausmaß schon länger nicht mehr benötigt wurde. Eine künstliche Stimulation von Bestellungen, auch um den Wettlauf im Markt zu befeuern, findet hier eine logische Begründung. Insofern sind deutliche Hinweise auf eine Überhitzung in der Luftfahrt, verbunden mit wettbewerblich getriebenen, immer neuen Lieferrekorden, bereits vor der Corona-Pandemie gegeben. Durch die Covid-19-Pandemie ausgelöst, aber auch begründet durch die erkennbare Überhitzung, kündigte Airbus im Juni 2020 eine Kürzung der A320-Produktionsrate auf 40 Exemplare und für die A350-Familie einen Rückgang von sechs auf fünf Exemplare monatlich an. Reaktion einer Airline Mit Blick auf mögliche, den Flugzeugabsatz stimulierende politische Maßnahmen wird im Weiteren untersucht, Bild 4: Entwicklung und Perspektive der Produktionsraten der Kurzstreckenflugzeuge seit 2015, abgeleitet aus Herstellerangaben Eigene Darstellung Bild 3: Entwicklung der Bestellzahlen seit 2001 Eigene Recherche [14] Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 27 Wissenschaft POLITIK wie sich die Produktivität der Airlines in den nächsten Jahren entwickeln kann. Dazu wurden öffentlich kommunizierte Aussagen hinsichtlich möglicher künftiger Flottenzusammensetzungen der Lufthansa analysiert. Da die Lufthansa-Gruppe vergleichbare Flottenstrukturen aufweist wie British Airways und Air France, können die nachfolgenden Analysen durchaus auch auf andere Airlines ähnlicher Flottenstruktur übertragen werden. Die Flotte bestand Ende 2019 aus rund 700 Passagierflugzeugen mit einem Durchschnittsalter von knapp zwölf Jahren. Davon sind rund 540 dem Kurzstreckenbetriebssegment und ca. 160 dem Langstreckensegment zuzuordnen mit insgesamt rund 135.000 Sitzplätzen (Kurzstrecke 83.000, Langstrecke 52.000). Zu Beginn der Krise wurde von diesen Flugzeugen die Ausmusterung von sechs A380-800, sieben A340- 600, drei A340-300, fünf B747-400 sowie 21 A320-200 verkündet [16, 17, 18]. Nach Aussage der Airline vom September 2020 sollen Ende 2021 noch rund 300 der rund 700 Passagierflugzeuge am Boden stehen. In 2022 werden noch 200 Flugzeuge nicht im Betrieb sein, und ab 2023 wird die Flotte mit rund 150 Flugzeugen weniger als 2019 ihre neue Zielgröße erreichen [21, 22]. Im Zuge dieser Reduzierung werden bis Mitte des Jahrzehnts alle älteren und insbesondere vierstrahligen Jets ausgemustert. Gleichzeitig werden neue, modernere Maschinen eingeflottet (Tabelle 1) [18]. Für eine Einschätzung der weiteren Entwicklung ist zu berücksichtigen, dass die Dienstleistung „Flugreise“ anders als ein Flugzeug erst bei seiner Nutzung entsteht. Daraus folgt, dass stillgelegte Sitzplatzkapazitäten, durch nicht genutzte, am Boden stehende Flugzeuge erhebliche Fixkosten (Kapital- und Wartungskosten) verursachen. Daher ist es vital, die verfügbaren Sitzplatzkapazitäten jenseits normaler kurzfristiger saisonaler und konjunktureller Schwankungen an den Bedarf zu koppeln, was bei einem längeren Luftverkehrseinbruch eine Flottenreduktion begründet. Da eine schnelle Erholung u. a. aus vorgenannten Gesichtspunkten nicht plausibel erscheint, wurden mehrere Szenarien bis 2025 entwickelt, von denen drei unterschiedliche Ausprägungen hier dargestellt werden. Die Analyse dieser Szenarien dient in erster Linie dazu, den möglichen Lösungsraum zukünftiger Flottenentwicklung auszuleuchten und seine Sensitivitäten zu ergründen: • Luftfahrtmarkt konsolidiert mit gesteigerter Effizienz KS-LS 3 : 1 (-150 Flugzeuge): Flottenmix bleibt bei einem Verhältnis von etwa 3 : 1 von Kurzstrecke zu Langstrecke, die Flotte wird 2025 gegenüber 2019 um etwa 150 Flugzeuge reduziert sein. • Luftfahrtmarkt verschiebt sich auf die Kurzstrecke KS-LS 4 : 1 (-150 Flugzeuge): Flottenmix verschiebt sich zu einem Verhältnis von 4 : 1 von Kurzstrecke zu Langstrecke bei ebenfalls 150 Flugzeugen weniger in der Flotte unter der Annahme, dass teure interkontinentale Dienstreisen aus Kostengründen zunehmend virtuell durchgeführt werden. • Luftfahrtmarkt schrumpft stärker KS-LS 3 : 1 (-250 Flugzeuge): Flottenmix bleibt bei einem Verhältnis von etwa 3 : 1 von Kurzstrecke zu Langstrecke unter der pessimistischen Annahme, dass die Flotte bis 2025 um etwa 250 auf ca. 450 Flugzeuge geschrumpft ist. Tabelle 2 stellt unter Einbeziehung des Teilflottenalters mögliche Ausflottungen bis 2025 dar. Mit schrittweiser Wiederaufnahme des Flugbetriebes im Verlauf der kommenden Jahre und durch die sukzessive Inbetriebnahme der neubestellten Flugzeuge wächst die aktive Flotte nach einem Minimum im April 2020 wieder. Durch die Indienststellung der Neubestellungen (siehe Tabelle 1) und vermindert um die auszumusternden Flugzeuge (siehe Tabelle 2), reduziert sich die Flottengröße auf ca. 550 Maschinen in 2025 für die Szenarien KS- LS 3 : 1 (-150) und KS-LS 4 : 1 (-150) und ca. 450 Flugzeuge für das Szenario KS-LS 3 : 1 (-250) (Bilder 5 und 6). Für das Erreichen der angestrebten Flottengröße müssen neben der endgültigen Stilllegung sämtlicher A380 und A340 auch einige neuere A330-300, B747-8 sowie Embraer 190/ 195 und CRJ 900 ausgemustert werden, die 2025 zwischen zwölf und 20 Jahren alt sein wer- Langstrecke Bestellungen (Sitzplätze) - Inbetriebnahme bis 2025 A350-900 24 (293) B777-9 34 (400) B787-9 20 (280) Gesamt 78 (26232) Kurzstrecke Bestellungen (Sitzplätze) - Inbetriebnahme bis 2025 A320neo 40 (180) A321neo 29 (215) Gesamt 69 (13435) Tabelle 1: Anzahl bestellter Flugzeugmuster der LH-Gruppe bis zum Jahre 2025 im Lang- und Kurzstreckensegment (mittlere Sitzplatzanzahl pro Flugzeug bzw. aggregierte Sitzplatzanzahl in Klammern) Langstrecke KS-LS 3: 1 (-150) KS-LS 4: 1 (-150) KS-LS 3: 1 (-250) A380-800 14 (509) 14 (509) 14 (509) A340-600 19 (297) 19 (297) 19 (297) A340-300 23 (271) 23 (271) 23 (271) A330-300 1 (295) 20 (284) 20 (284) B747-400 13 (371) 13 (371) 13 (371) B747-8 10 (364) 19 (364) 19 (364) B767-300ER 6 (211) 6 (211) 6 (211) B777-200 6 (306) 6 (306) 6 (306) Gesamt LS 92 (27203) 120 (39496) 120 (39496) Kurzstrecke A319-100 36 (141) 33 (141) 63 (144) A320-200 71 (174) 48 (174) 97 (174) A321-200 42 (204) 34 (204) 40 (204) DHC-8 400 31 (76) 31 (76) 31 (76) E190 2 (104) 12 (104) 8 (101) E195 0 12 (120) 0 CRJ900 17 (90) 0 33 (90) Gesamt KS 199 (30053) 170 (24877) 272 (40105)d Gesamt LS+KS 291 290 392 Flottenalter 2025 9,5 Jahre 10,0 Jahre 8,1 Jahre Tabelle 2: Anzahl möglicher Ausflottungen bis 2025 im Lang- und Kurzstreckensegment für Flottenmix-Szenarien (mittlere Sitzplatzanzahl pro Flugzeug bzw. aggregierte Sitzplatzanzahl in Klammern) sowie das Durchschnittsalter der verbleibenden Flotte Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 28 POLITIK Wissenschaft den. Die Ausflottung älterer Flugzeuge ist dabei als eher kurzfristiges Instrument zur Steuerung der Gesamtflottenstruktur anzusehen, im Gegensatz zur langfristig zu planenden Einflottung neuer Maschinen. Durch den Flottenumbau würde auch das mittlere Flottenalter von 11,7 Jahren im Dezember 2019 bis 2025 auf etwa acht bis zehn Jahre abnehmen, so dass ein weiterer Austausch vorerst nicht sinnvoll erscheint. Bild 7 zeigt, dass in den beiden Szenarien 2025 mit einer um 150 Flugzeuge verkleinerten Flotte etwa 85 % des Sitzplatzangebotes aus Dezember 2019 wieder erreicht werden kann. Dies liegt vor allem an den höheren Sitzplatzkapazitäten der neuen A320neo/ A321neo und der B777-9 im Vergleich zu den ausgemusterten A320/ A321 und den A340 sowie den B747-400. Insbesondere im Szenario KS-LS 3 : 1 (-150) können die 78 neu in Dienst gestellten Langstreckenflugzeuge das Sitzplatzdefizit der 92 ausgeflotteten Langstreckenjets nahezu kompensieren. Im Szenario 3 : 1 (-250) werden infolge der Flottenveränderungen bis 2025 noch etwa 71 % der Sitzplatzkapazität aus 2019 erreicht. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich auch bei anderen Airlines beobachten [19]. Folgerungen und Ausblick Aus den vorstehenden Analysen lassen sich eine Reihe von Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung ableiten: • Die zeitlich und räumlich ausgedehnte Überlagerung des weltweiten Einbruchs der Luftverkehrsnachfrage gekoppelt mit erheblichen staatlichen Auflagen und Einschränkungen beim Luftverkehrsangebot ist bisher einmalig und lässt aufgrund von Analogien zur Vergangenheit sowohl bei Herstellern wie auch Betreibern Produktions- und Beschäftigungseinbrüche von bis zu 40 % realistisch erscheinen. • Der Kampf um Marktanteile bei Betreibern und Herstellern sowie hohe Entwicklungskosten haben in der Vergangenheit das Bestellverhalten stimuliert. Damit wurden vor der Pandemie Überkapazitäten geschaffen. • Werden die laufenden Neubeschaffungen der Airlines trotz der Pandemie umgesetzt, erfolgt eine erhebliche Flottenverjüngung, die keine weiteren Beschaffungen rechtfertigt. • Mit den neuen Flugzeugmustern können die Airlines mit deutlich reduzierter Flottengröße aufgrund höherer Sitzplatzdichte fast die gleiche Transportleistung anbieten. • Auch der Sekundärmarkt der ausgemusterten älteren Flugzeuge untergräbt für einige Jahre die Notwendigkeit von Neubeschaffungen und Neuentwicklungen. • Die politisch stimulierte Beschaffung weiterer Neuflugzeuge über die bisherigen Bestellungen hinausgehend bedroht die wirtschaftliche Substanz der Airlines durch Leerstand und kann daher nicht empfohlen werden. Eine deutliche Konsolidierung des Herstellermarktes allein nimmt erheblichen Druck aus dem Lufttransportsystem. Für diese Entwicklung ist die Covid-19-Pandemie Auslöser, nicht aber alleinige Ursache. Die Covid-19-induzierten Rückgänge werden von längerfristigem Bestand sein und sind als Korrektiv anzusehen. Daher sollte eine Konsolidierung des Herstellermarktes und Orientierung auf neue gefragte Produkte wie Drohnen, Lufttaxis und Militärprogramme unvoreingenommen betrachtet werden, um negative Dominoeffekte vom Hersteller auf den zivilen Betreibermarkt zu vermeiden. ■ Bild 7: Entwicklung des Sitzplatzangebotes nach Ausgang aus der Pandemie für die Gesamtflotte Eigene Darstellung Bild 6: Mögliche Flottenentwicklung von 2020 bis 2025 im Szenario KS-LS 3 : 1 (-250) Eigene Darstellung Bild 5: Mögliche Flottenentwicklung von 2020 bis 2025 im Szenario KS-LS 3 : 1 (-150) Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 29 Wissenschaft POLITIK QUELLENVERZEICHNIS [1] Gollnick, V.: Entwicklung des Weltluftverkehrs, Vorlesung Lufttransportsysteme, Institut für Lufttransportsysteme, Technische Universität Hamburg, SS2020 [2] N.N.: Airbus - Global Market Forecast 2019, www.airbus.com, letzter Zugriff, 04.09.2020 [3] N.N.: Boeing - Current Market Outlook 2019, www.boeing.com, letzter Zugriff 04.09.2020 [4] N.N.: Effects of Novel Coronavirus (Covid-19) on Civil Aviation: Economic Impact Analysis, International Civil Aviation Organization, ICAO, Montreal, 14. 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SB-21-093 RZ Anz_IntVerkehrswesen_210x139.indd 1 12.04.21 10: 02 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 30 INFRASTRUKTUR Praxis Meilenstein im Projekt „Neue Straßenbahnen für Jena“ D er Jenaer Nahverkehr will langfristig einen attraktiven und leistungsfähigen Nahverkehr in Jena anbieten. Dazu gehört auch die Beschaffung neuer Straßenbahnen, die größer sind und damit mehr Fahrgäste an ihr gewünschtes Reiseziel bringen. In diesem Zusammenhang erfolgen notwendige Umbauarbeiten des Betriebshofes in Burgau sowie Anpassungen innerhalb des Streckennetzes in der Saalestadt. Ende Januar 2021 erfolgte dazu die Vergabe der Leistungen Projektentwicklung, Planung und Umsetzung für das Teilprojekt „Umbau Betriebshof“ an die Arbeitsgemeinschaft „JVN-Umbau Betriebshof Burgau“ aus den Firmen Prokonzept GmbH Industrieanlagenplanung, Berlin, und Glass Ingenieurbau Leipzig GmbH. Steffen Gundermann, Geschäftsführer des Jenaer Nahverkehrs: „Mit der Arge Prokonzept Glass als qualifizierten Generalübernehmer bündeln wir Planungs- und Umsetzungsphase, was uns eine technische, zeitliche und qualitätsmäßige Optimierung der Gesamtmaßnahme ermöglicht.“ Insgesamt sei es ein sehr ehrgeiziges Vorhaben. Bereits im Herbst 2021 sollen die ersten Umbaumaßnahmen auf dem Betriebshof beginnen, damit rechtzeitig bis zur Anlieferung der ersten Bahnen Ende 2022 Betriebshof und Anlagen bezugsfertig und funktionsfähig sind. Zu diesem Projektteil gehören neben der Erweiterung der Straßenbahnwerkstatthalle, der Ausbau der bestehenden Abstellanlagen sowie die Errichtung eines Multifunktionsgebäudes. www.nahverkehr-jena.de / ae N och im Februar verkehrten zwischen Kaub und Kamp-Bornhofen im Rhein- Lahn-Kreis südlich von Koblenz wöchentlich 1.108 Züge des Güter- und des Personennahverkehrs. Nach einem Felssturz bei Kestert am 15. März wurde die Strecke gesperrt - und damit die rechtsrheinische Hauptschlagader des Schienengüterverkehrs zwischen den sogenannten ARA-Häfen (Antwerpen, Rotterdam, Amsterdam) und Süddeutschland sowie den südlichen Nachbarn Deutschlands abgeklemmt. „Das Krisenmanagement bei Störungen im Eisenbahnverkehr muss auf den Prüfstand“, sagte der Geschäftsführer des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen in Berlin, Peter Westenberger. Die Güterbahnen hatten von der DB Netz AG als Infrastrukturbetreiber bereits Ende März verlangt, zusammen mit den Betreibern von Nah- und Fernverkehren mehr Kapazität auf der linksrheinischen Bahnstrecke zu schaffen, statt viele Güterzüge jeden Tag umzuleiten: über lange Umwege durch das hessische Bergland, entlang der Mosel oder in Einzelfällen noch weiträumiger. Die Umleitungen sind nicht nur kostenträchtig, sondern bringen vor allem die Fahrpläne für die industriellen Kunden der Güterbahnen unter Druck. Die Güterbahnen haben daraufhin die Bundesnetzagentur gebeten, darzulegen, wie sie mit Hilfe des Eisenbahnregulierungsgesetzes den gesetzlich gewährleisteten Netzzugang für die Güterbahnen und eine befristete effiziente Verteilung der Schienenkapazität auf der linken Rheinstrecke sicherstellen will. Westenberger: „Für schnelles Krisenmanagement bei Großstörungen gibt es im Eisenbahnregulierungsgesetz keine geeigneten Vorschriften.“ Ähnlich wie bei der Sperre nach dem Tunneleinsturz von Rastatt im Jahr 2017 sind davon, dass in Deutschland ein Felssturz über eine einzelne Bahnstrecke geht, die Verkehrsströme in fünf Ländern beeinträchtigt. Die Güterbahnen haben daher die Angelegenheit auch auf die Ebene der Europäischen Union gehoben. „In solch schwerwiegenden Fällen einer europaweiten Störung sollte automatisch das internationale Contingency-Management-Verfahren ausgelöst werden“, betont UIRR-Präsident Ralf-Charley Schultze. Während Fahrgäste relativ einfach von einem Zug auf einen Bus umsteigen können, um einen gestörten Streckenabschnitt zu umgehen, steht diese Möglichkeit bei Güterzügen nicht zur Verfügung. Daher sollten alle verfügbaren Umleitungstrassen auch den Güterverkehrskunden zur Verfügung stehen. Benachbarte Schienengüterverkehrskorridore sollten rechtzeitig alarmiert werden und konzertierte Anstrengungen unternommen werden, um den Fluss des Schienengüterverkehrs mit dem geringsten Maß an Störungen zu ermöglichen. www. netzwerk-bahnen.de / red Schieneninfrastruktur braucht besseres Krisenmanagement Felsrutsch am 15. März 2021 bei Kestert an der Rechten Rheinstrecke Foto: Marion Halft / Wikimedia / CC BY-SA 4.0 Drohnenaufnahme Nahverkehrs-Betriebshof von 2017 Foto: Jenaer Nahverkehr Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 31 Praxis INFRASTRUKTUR Schneller zum BER: Deutsche Bahn startet Bau der Flughafenkurve D ie Deutsche Bahn hat in Blankenfelde- Mahlow mit dem Bau der neuen Flughafenkurve zum Hauptstadtflughafen BER begonnen. Gemeinsam mit dem Bund und den Ländern Berlin und Brandenburg wurde der erste Spatenstich für die 960 Meter lange neue Strecke gesetzt. Die Flughafenkurve kürzt den bisherigen Weg enorm ab und ermöglicht so ab 2025 den Shuttle-Verkehr im 15-Minuten-Takt zwischen dem Berliner Hauptbahnhof und dem Bahnhof Flughafen BER. Die Fahrzeit beträgt dann nur noch 20 Minuten - acht Minuten weniger als heute. Insgesamt investieren Bund und Länder rund 62 Millionen Euro in den Ausbau. Die neue Flughafenkurve, auch „Mahlower Kurve“ genannt, ist eine zweigleisige Verbindung vom Berliner Außenring auf die Dresdner Bahn (Strecke Berlin Südkreuz - Blankenfelde). Für das stadtauswärts führende Gleis der Verbindungskurve wird die Errichtung eines Kreuzungsbauwerks erforderlich. Neben dem Neubau von Gleisen, Oberleitung und Signalanlagen werden entlang der Kurve auf der anwohnerzugewandten Seite auf voller Länge Schallschutzwände mit einer Höhe von bis zu fünf Metern errichtet. Zur Herstellung der unterführten Strecke im Bereich des Kreuzungsbauwerks muss ein sogenannter Trog hergestellt werden. Dazu ist es erforderlich, Spundwände zur Baugrubensicherung einzubringen, sodass nach Fertigstellung des Spundwandkastens mit dem Aushub der Baugrube begonnen werden kann. Dazu Alexander Kaczmarek, Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn für das Land Berlin: „In 20 Minuten aus der Innenstadt zum BER wird eine konkurrenzlose Fahrzeit! Auch entlang der Dresdner Bahn in Berlin ist der Baufortschritt für diese wichtige Relation nicht zu übersehen. Und hier zeigt sich mal wieder, dass auch sehr langfristige Flächenfreihaltungen für die Bahn sinnvoll sind! “ Ingmar Streese, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz des Landes Berlin: „Die neue schnelle Verbindung aus Berlin zum BER wird nicht nur für Flugreisende, sondern gerade auch für Pendlerinnen und Pendler eine attraktive Alternative zum Auto. bauprojekte.deutschebahn.com / red Brenner-Nordzulauf: Beste Streckenführung steht fest D er Weg für die neue Bahnstrecke zum Brenner im Inntal und im Raum Rosenheim ist gefunden. Von fünf möglichen Streckenführungen schneidet die sogenannte „Variante Violett“ am besten ab. Sie führt vom österreichischen Schaftenau über die Gemeinden Kiefersfelden, Oberaudorf und Stephanskirchen östlich an Rosenheim vorbei bis Ostermünchen. Der Brenner-Basistunnel ist eines der wichtigsten Verkehrsprojekte Europas und trägt maßgeblich dazu bei, mehr Verkehr auf die klimafreundliche Schiene zu verlagern. Die Trassenempfehlung für die nördliche Zulaufstrecke ist damit ein zentraler Schritt in Richtung Mobilitätswende. Klaus-Dieter Josel, DB-Konzernbevollmächtigter für Bayern: „Nach sechs Jahren Planungsarbeit ist damit ein entscheidender Meilenstein im Projekt erreicht. [...] Ich bin mir sicher, dass wir mit der nun gefundenen Streckenführung eine große Akzeptanz vor Ort schaffen. Unser Ziel ist es, noch mehr Verkehr auf die umweltfreundliche Schiene zu verlagern und so die Mobilitätswende weiter voranzutreiben.“ Die ausgewählte Strecke liegt beim Thema Umweltschutz vorne. Die 54 Kilometer lange Trasse verläuft zu 60 Prozent unterirdisch. Dadurch beansprucht sie weniger Fläche, minimiert die Auswirkungen auf Tiere, Pflanzen und die biologische Vielfalt und schont somit die Umwelt. Der grenzüberschreitende Tunnel Laiming sowie der Tunnel Steinkirchen sind jeweils rund 13 Kilometer lang. Zudem unterquert ein 5,5 Kilometer langer Tunnel das Gemeindegebiet von Stephanskirchen. www.brennernordzulauf.eu / red „Variante Violett“ als besonders umweltschonende Lösung Quelle: www.brennernordzulauf.eu Bauprojekt Berlin Südkreuz - Blankenfelde (Dresdner Bahn) Quelle: DB Netz AG Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 32 INFRASTRUKTUR Praxis TransAID hilft automatisierten Autos in kritischen-Situationen K ann ein hoch automatisiertes und vernetztes Fahrzeug mit einer Situation nicht umgehen, gibt es die Kontrolle wieder an den Fahrenden zurück. Reagiert der Insasse nicht, hält es sicherheitshalber an. Das kann zum Beispiel in komplizierten Baustellen vorkommen, bei denen die Spurmarkierungen fehlen, oder bei Nebel. Halten automatisierte Fahrzeuge mitten im Verkehr plötzlich an, sind Staus oder kritische Situationen unvermeidlich. Im EU-Projekt TransAID hat das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gemeinsam mit internationalen Partnern aus Industrie und Forschung solche Situationen genau unter die Lupe genommen und Lösungsansätze entwickelt. Im Fokus stehen vor allem Kameras und Kommunikationstechnik an Straßenmasten als unterstützende Infrastruktur. Diese haben oft einen besseren Überblick und versorgen automatisierte Fahrzeuge mit zusätzlichen Informationen. So können diese Autos schwierige Situationen besser meistern. „Damit automatisiertes und vernetztes Fahren ein Erfolg wird, benötigen wir nicht nur intelligente Fahrzeuge, sondern auch eine Perspektiven-erweiternde Infrastruktur, die mit den Fahrzeugen kommuniziert. Sie ist ein entscheidender Schlüssel, um viele zukunftsweisende Mobilitätskonzepte überhaupt erst möglich und effizient zu machen“, erklärt Prof. Katharina Seifert, Direktorin des DLR-Instituts für Verkehrssystemtechnik in Braunschweig. An Baustellen, komplexen Kreuzungen oder bei plötzlich auftretenden Behinderungen wie Unfällen: Der Verbund von Kameras und Sensoren kann automatisierten Fahrzeugen passende Lösungen vorschlagen. So können sie beispielsweise den Weg durch Baustellen berechnen oder aktuelles Kartenmaterial bereitstellen, das auch kurzfristige Änderungen in der Verkehrsführung enthält. Falls das dem automatisierten Fahrzeug nicht hilft, kann die intelligente Infrastruktur auch Haltepunkte vorgeben, durch die der restliche Verkehr so wenig wie möglich behindert wird. „Im Projekt haben wir gezeigt, dass die Unterstützung durch Infrastruktur die negativen Effekte auf den nachfolgenden Verkehr drastisch reduziert. Das gilt insbesondere in schwierigen Situationen, die sonst einen Nothalt verursachen würden“, fasst Projekt- Koordinator Julian Schindler vom DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik zusammen. Die Ergebnisse aus dem Projekt fließen in die Standardisierung im Bereich der Kommunikation automatisierter und vernetzter Fahrzeuge mit der Infrastruktur ein. Zudem erarbeitet TransAID Richtlinien für Interessengruppen, wie Städte, Zulieferer, Behörden sowie Hersteller von Fahrzeugen und Infrastruktur. www.dlr.de / ebl Green Operation - Infrastruktur für Wasserstoff-Flugzeuge W issenschaftler des Helmholtz-Zentrums Geesthacht - Zentrum für Material- und Küstenforschung (HZG) und der Technischen Universität Hamburg erarbeiten gemeinsam mit Airbus ein Gesamtkonzept für die Luftfahrt der Zukunft. Es heißt „Green Operation of Future Aviation“ und hat die kostengünstige und effiziente Versorgung eines Produktionsstandortes mit Wasserstoff am Beispiel des Airbus-Areals in Hamburg-Finkenwerder zum Ziel. Die deutsche Klimapolitik sieht vor, bis 2050 den Ausstoß von Treibhausgasen wie CO 2 um 80 bis 95 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. Bis dahin gibt es viele Zwischenziele. Um diese zu erreichen, müssen fossile Energieträger sukzessive ersetzt werden. Wesentlich dabei ist die Umstellung des Verkehrssektors in allen Bereichen - Luftfahrt, Schifffahrt und Straßenverkehr. Der grüne Energieträger Wasserstoff ist als einer der wesentlichen Bausteine unerlässlich und soll gerade den Luftfahrtstandort Hamburg maßgeblich verändern: von der Qualifizierung rund um Wasserstoffsysteme und Brennstoffzellentechnik bis zum späteren Bau von Flugzeugen, deren Energieversorgung zukünftig mit Wasserstoff laufen könnte. Der Luftfahrtkonzern Airbus strebt an, bis zum Jahr 2035 das erste wasserstoffbetriebene Verkehrsflugzeug in den kommerziellen Einsatz zu bringen. Für die Markt- Bild: Airbus Versuchsfahrzeuge und mobile Sensorik Bild: DLR Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 33 Praxis INFRASTRUKTUR einführung von Wasserstoffflugzeugen muss entsprechend früh die Möglichkeit zur Betankung erprobt sowie die Implementierung ins Werksgelände etabliert werden. „Wir werden uns im Projekt ‚Green Operation of Future Aviation‘ mit den Fragen auseinandersetzen “, erklärt Professor Thomas Klassen, Koordinator des Projektes und Leiter des HZG-Instituts für Wasserstofftechnologie. „Wie kann die Versorgung mit Wasserstoff für den Produktionsstandort effizient und wirtschaftlich realisiert werden, um eine deutliche Reduktion der Treibhausgasemissionen zu erreichen? Wie können neue Produkte und Anwendungen im Werk mit Wasserstoff versorgt werden? “ Das Projekt „Green Operation of Future Aviation“ wird wissenschaftlich vom Institut für Wasserstofftechnologie des HZG und dem Institut für Umwelttechnik und Energiewirtschaft (IUE) der TU Hamburg ausgearbeitet und anschließend wirtschaftlich bewertet. Airbus selbst stellt benötigte Daten zur Verfügung. Finanziert wird das Projekt von der Stadt Hamburg, konkret der Behörde für Wirtschaft und Innovation, mit knapp 1,4 Millionen Euro. „Wasserstoff wird künftig nicht nur beim Betrieb von Flugzeugen eine Schlüsselrolle spielen. Die Technologie ist auch branchenübergreifend als Energieträger für Industrie und Mobilität am Boden sehr vielversprechend ”, sagt Dr. André Walter, Vorsitzender der Geschäftsführung von Airbus Commercial in Deutschland und Leiter des Werks Hamburg. Für das Konzept am Beispiel des Werkes Hamburg-Finkenwerder wird das Team zunächst eine Standortanalyse erarbeiten und untersuchen, in welchen Anwendungen - außer in der Flugzeugbetankung - Wasserstoff ebenfalls vorteilhaft eingesetzt werden kann. Außerdem wird analysiert, wie sich die Nachfrage nach Wasserstoff in den kommenden Jahren entwickeln könnte. Anschließend werden die unterschiedlichen und sich über die kommenden Jahre sicherlich stark verändernden Optionen für die Versorgung mit Wasserstoff analysiert. Dabei werden die eigene lokale Erzeugung, die Abnahme aus regionalen Wasserstoffquellen, die nationale Versorgung und der Import von Wasserstoff, zum Beispiel aus Südeuropa, Nordafrika (Tunesien) und Australien, berücksichtigt. Zusätzlich werden unterschiedliche Speicher-Optionen betrachtet. Prof. Martin Kaltschmitt, Leiter des Instituts für Umwelttechnik und Energiewirtschaft der TU Hamburg erwartet: „Ein auf all diesen Faktoren basierendes Modell ermöglicht die Optimierung der gesamten Wasserstoffversorgung, einschließlich der Nutzung, hinsichtlich der Kosten, der energetischen Effizienz und der Emissionen - unter Berücksichtigung der jeweiligen Abhängigkeiten und zu erwartenden zeitlichen Entwicklung.“ Aus den Ergebnissen wird ein langfristiges Gesamtkonzept für den Auf- und Ausbau der Wasserstoffversorgung und -nutzung im Airbus-Werk Finkenwerder abgeleitet, das als Grundlage für Investitionsentscheidungen am Standort dienen kann. Das so entwickelte Konzept kann Ausgangspunkt für den Aufbau von Flughafen-Versorgungsinfrastrukturen und für Betriebe der Fahrzeugproduktion sein. www.hzg.de / ae 1. FACHKONGRESS Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur ANMELDUNG - SCHNELL, EINFACH UND BEQUEM UNTER: www.tae.de/ 50051 29. und 30. Juni 2021 in Ostfildern/ Stuttgart Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 34 Massiv wachsender Straßentransport trotz Schienenausbau? Studie fordert politisches Gesamtkonzept und Maßnahmen für Klimaschutz Güterverkehr, Infrastrukturausbau, Verkehrsträger, Emissionen Eine aktuelle Studie des Zentrums für Transportwirtschaft und Logistik (ZTL) der Wirtschaftsuniversität Wien zeigt: Bis 2040 sind in und durch Österreich etwa 45 % mehr Güterverkehr zu erwarten - ein Wachstum, das der Schienengüterverkehr nach heutigem Stand nicht auffangen kann. Im Klartext heißt das: Verpflichtende Klimaziele sind nur mit straffem Infrastrukturkonzept, gezielten Investitionen und zielgerichteten Fördermaßnahmen erreichbar. D er Güterverkehr in und durch Österreich wird Prognosen zufolge bis 2040 um rund 45 % zunehmen. Ein Wachstum, das die Schiene auch bei einem maximalen Ausbau von Infrastruktur und Angebot nicht auffangen kann. Selbst wenn der von Bahn und Politik angestrebte Anteil von 40 % am Modal Split (2019: 28 %) erreicht würde, müsste der Straßengüterverkehr bis 2040 um mehr als ein Fünftel steigen, so eine Studie des österreichischen Zentrums für Transportwirtschaft und Logistik im Auftrag des Zentralverbandes Spedition & Logistik [1]. Selbst das eher realistische Szenario von + 42 % Zuwachs auf der Schiene und 49 % auf der Straße würde die CO 2 - Emissionen stark steigen lassen und den EU-Klimazielen diametral entgegenwirken (Bild 1). Das bedeutet, dass die Straße auch langfristig der wichtigste Verkehrsträger für den Transport von Gütern bleiben wird und folglich im Mittelpunkt der Dekarbonisie- Foto: Gerhard G / pixabay LOGISTIK Österreich Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 35 Österreich LOGISTIK rung stehen muss. Österreich brauche deshalb umgehend ein integriertes, an Klimazielen orientiertes Gesamtkonzept für die Gütermobilität auf Straße und Schiene, so der Studienleiter, Univ. Prof. Sebastian Kummer von der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien: „Wenn Österreich die EU-Ziele zur Reduktion der CO 2 -Emissionen im Straßenverkehr erreichen will, besteht akuter Handlungsbedarf. Es braucht eine ganzheitliche Lösung für die Gütermobilität auf Straße und Schiene, Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung sowie umfassende Fördermaßnahmen für alternative Antriebsformen.“ Die Schiene kann das Wachstum nicht auffangen Die Kapazität der Schiene wird - nicht zuletzt durch den wachsenden Personenverkehr - selbst bei Realisierung aller geplanten Ausbaumaßnahmen ab 2030 an ihre Grenzen stoßen. Beim angestrebten Modal Split von 40 % bis 2040 müsste der Schienengüterverkehr um 110 % wachsen. Tatsächlich werden sich aber bereits bestehende Engpässe in Zukunft weiter verschärfen. Dazu zählen der Vorrang von Personenverkehr gegenüber Güterverkehr - zusätzlich ab Einführung des österreichweiten 1-2-3-Tickets noch in diesem Jahr - und daraus resultierende Stopps in Stoßzeiten. Dazu kommen fehlende Überhol- und Ausweichgleise, Engpässe an Bahnhöfen und Umschlagpunkten, unzureichende Zubringer-Infrastruktur, mangelnde technologische Interoperabilität im internationalen Verkehr und administrative Hürden wie der vorgeschriebene Personalwechsel bei Grenzübertritten. Eine Modellrechnung am Beispiel der österreichischen Westbahnstrecke habe gezeigt, dass bereits ab 80 % Kapazitätsauslastung ein zuverlässiger Gütertransport fraglich ist. Zudem würden Markttrends wie die wachsende Konsumnachfrage nach vielen kurzfristigen Kleinlieferungen den Transportbedarf jenseits der Bahn zusätzlich steigen lassen, so Kummer. Die Straße bleibt mit Abstand größter Güterverkehrsträger Dadurch wird die Straße auch 2040 und darüber hinaus der dominierende Güterverkehrsträger bleiben. Ausgehend von einem Modal Split von 69,3 % Straße und 27,7 % Schiene im Jahr 2019, also vor den Auswirkungen der Corona-Pandemie, haben die Studienautor*innen im Auftrag des Zentralverbandes Spedition & Logistik drei unterschiedliche Szenarien errechnet. Als wahrscheinlichste Entwicklung wurde daraus ein durchschnittliches Wachstum der Schiene von jährlich 2,2 % bis 2040 und in der Folge ein Straßengüterverkehrswachstum von 49 % oder 26,5 Mrd. Tonnenkilometern (tkm) errechnet (Bild 2). Selbst in einem optimistischen Szenario, das von 40 % Schienenanteil im Jahr 2040 ausgeht, würde der Transport auf der Straße noch immer um 21 % zunehmen. Entwicklung von Modal Split und Transportvolumina steht EU-Zielen entgegen Sowohl die bisherige Entwicklung des Modal Split als auch das prognostizierte Wachstum des Straßengüterverkehrs widersprechen deutlich die Zielsetzungen der Europäischen Union. Während die EU beim Schienenanteil ein Wachstum auf 30 % bis 2030 und 40 % bis 2040 anstrebt, ist dieser in Österreich sogar geschrumpft: von über 40 % im Jahr 1980 auf unter 30 % im Jahr 2019. Zugleich bedeutet der zunehmende Güterverkehr auf der Straße eine gegenläufige Entwicklung zu den verbindlichen CO 2 - Zielen der EU. Sebastian Kummer: „Das genannte optimistische Szenario würde zusätzliche CO 2 -Emissionen im Ausmaß von jährlich 9,6 Millionen Tonnen bedeuten. Realistisch gesehen müssen wir aber mit jährlich 20 Millionen Tonnen rechnen. Das- offenbart, wie dringend wir uns um konstruktive und weitreichende Lösungsansätze, auch abseits der Schiene kümmern müssen.“ Die Antwort auf diese Herausforderungen könne nur ein beide Verkehrsträger umfassendes, integriertes Konzept sein, so Kummer. Es müsse sowohl ineinandergreifende Maßnahmen in der Bahn- und Straßeninfrastruktur als auch eine Förderung von Investitionen sowie nachhaltigkeitsorientierte Gesetzesanpassungen für den Straßengüter- und Schwerverkehr enthalten. Kummer: „Hier geht es nicht um die Frage ‚entweder Schiene oder Straße‘, sondern wo man wie viel dekarbonisieren kann. Angesichts des großen Handlungsbedarfs gilt es aber dort hinzugreifen, wo man am meisten bewirken kann, und das ist eine umgehende Emissionsreduktion im Straßengüterverkehr.“ ZTL/ red ■ LITERATUR [1] Zentrum für Transportwirtschaft und Logistik (2021): Modal-Studie zum Verlagerungspotential des Güterverkehrs. www.iv-dok.de/ 2021/ modalsplit210326.pdf 16 0 20 40 60 80 100 120 54,5 Mrd tkm 21,7 Mrd tkm Wachstum Straße 2019 - 2040 Wachstum Schiene 2019 - 2040 78,6 Mrd tkm Wachstum Gesamtgüterverkehr 2019 - 2040 Gesamtgüterverkehr = Straße + Schiene + Binnenschiffahrt Werte in Millarden Tonnenkilometer (tkm) - Quelle: eigene Berechnung + BMVIT + Statistik Austria Gesamtgüterverkehr Straße Schiene Bild 1: Prognose des Wachstums für den Gesamtgüterverkehrs, der Straße sowie der Schiene bis 2040 [1] Bild 2: Wachstumsprognose der Straße sowie der Schiene bis 2040 [1] Wachstumsprognose der Straße sowie der Schiene bis 2040 © UNIV.-PROF. DR. SEBASTIAN KUMMER 17 Werte in Millarden Tonnenkilometer (tkm) - Quelle: eigene Berechnung + BMVIT + Statistik Austria 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 2019 2040 Schiene Straße Schiene Straße 54,5 Mrd tkm 21,7 Mrd tkm 30,7 Mrd tkm 81,0 Mrd tkm Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 36 Megatrend „Supergrid Logistics“ Globalisierung, Künstliche Intelligenz, Logistik-Dienstleister, Supply Chain Das logistische Supergrid basiert auf einer intelligenten multinationalen Datenplattform, die reibungslos und flexibel alle Parteien entlang von Versorgungsketten integriert. Ziel ist, Kosten und Transitzeiten für alle Kundengruppen zu reduzieren sowie die Effizienz zu maximieren. Wie wird diese Technologie die Logistik verändern? Dirk Ruppik D ie globale Logistik durchläuft bereits jetzt und auch künftig gewaltige Transformationen. Die rasanten technologischen Entwicklungen im Bereich Algorithmen, Big Data Analysis, Künstliche Intelligenz, etc. führen zu vielen neuen Anwendungen und Trends. Laut dem 5. Logistics Trend Radar von DHL [1] haben unter anderem folgende Megatrends in den nächsten fünf Jahren große Auswirkungen auf die Logistikbranche: nachhaltige Logistik, Omnichannel-Logistik, Künstliche Intelligenz, Internet der Dinge und Big-Data Analysis. In den nächsten zehn Jahren aber werden selbstfahrende Fahrzeuge, Next Generation Security und Supergrid Logistics einen großen Einfluss haben. Was bedeutet eigentlich Supergrid Logistics? Der Begriff „Supergrid“ wurde aus der Hochspannungstechnik entliehen. Durch ein Supergrid wird die Übertragung von elektrischem Strom in großen Mengen über lange Distanzen möglich. Es verbindet üblicherweise Kontinente und ist multinational. Das logistische Supergrid basiert auf einer globalen Instanz oder (cloudbasierten) Plattform, die reibungslos und flexibel alle Parteien entlang von Versorgungsketten integrieren kann. Dadurch entsteht ein Angebot von modularen Diensten für alle Kundengruppen mit dem Ziel, die Kosten und die Transitzeiten zu reduzieren sowie die Effizienz zu maximieren. Mit Supergrid-Plattformen werden wir voraussichtlich eine neue Logistiker-Generation sehen: Sie werden sich hauptsächlich auf die Verknüpfung globaler Supply Chain- Netzwerke, die viele Hersteller und Logistikanbieter integrieren, fokussieren. Dadurch werden neue Geschäftsmöglichkeiten beispielsweise für 4PL-Logistiker, spezialisierte Logistikanbieter, kleine Expressdienstleister und Startups entstehen - und der Kunde kann aus einer Vielzahl von Services den für ihn besten auswählen. Durch diese Plattformen wird eine neue Transparenz im Markt entstehen und speziell kleine Unternehmen Zugang zum globalen Markt erhalten. Die Tatsache, dass Kunden weltweit Waren über das Internet direkt beim Hersteller unter Auslassung des Einzel- und Großhandels bestellen können, ist ein weiteres Argument für das Entstehen eines logistischen Supergrids, durch das die Kunden die besten und am besten passenden Dienste auswählen können. Globale Marktteilnehmer werden sich überwiegend auf die grenzüberschreitende Integration von Diensten, Premium-Marktsegmente sowie die Zusammenstellung regionaler Dienste und Logistikdienstleister, die normalerweise Wettbewerber sind, fokussieren. In der Szenario- Studie „Logistics 2050“ [2] geht DHL u. a. davon aus, dass ein Supergrid mit Megatransportern (LKW, Schiff, Flugzeug) sowie Raumtransportern wichtige Handelsver- Symbolfoto: Claudio Schwarz | purzlbaum, Unsplash LOGISTIK Digitalisierung Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 37 Digitalisierung LOGISTIK bindungen zwischen Megastädten bis 2050 weltweit geschaffen hat. Herausforderungen beim Supergrid- Aufbau Fehlende weltweite Standards für die Eingliederung unterschiedlicher Dienste von verschiedenen nationalen und internationalen Logistikdienstleistern gelten als größte Herausforderung. Gleichzeitig existieren nur wenige länder- und branchenübergreifende Supergrid-Pilotunternehmen wie z. B. Alibaba und die Deutsche Post DHL. Basierend auf einem Full-Logistics-as-a- Service(LaaS)-Modell können intelligente Unternehmensnetzwerke gebildet werden, die individuelle intermodale, multimodale und synchromodale Dienste anbieten. Dabei müssen diese Dienste modular aufgebaut sein, damit sie jederzeit reibungslos zusammengestellt und ausgeführt werden können. Hauptzwecke von Synchromodalität in der Logistik sind die intelligente Nutzung vorhandener Ressourcen und die Synchronisierung von Transportströmen, um Kosten, Emissionen, Lieferzeiten und die Qualität von Supply Chain-Services zu optimieren. In den LaaS-Anbieterfirmen arbeiten Logistik- und Effizienzexperten, die das Unternehmens-Transportnetzwerk managen und täglich nach Wegen suchen, die Dienstleistungen besser, schneller und billiger zu machen bzw. anbieten zu können. Durch das Supergrid entsteht nicht nur mehr Transparenz, sondern auch eine weltweite Konkurrenzsituation und wachsender Preisdruck auf Hersteller und Logistiker. In anderen Bereichen ist bereits zu sehen, dass Plattformen, die Infrastruktur für Dienste stellen wie etwa Udemy, Amazon, Facebook oder Fiverr, schnell den Nutzern Preise diktieren können. Es entsteht eine hohe Abhängigkeit der Firmen von der Plattform. Alibaba als Beispiel für einen Supergrid-Logistiker Das Smart Logistics Network von Alibaba (Cainiao Network [3], gegründet 2013) mit Sitz in Hangzhou, arbeitet taktisch bereits auf ein Supergrid-Netzwerk hin. Cainiao will das weltweit effizienteste Logistik-Netzwerk werden und in China innerhalb von 24- h und global innerhalb von 72 h liefern. Genutzt wird dabei eine intelligente offene Datenplattform, die reibungslos E-Commerce-Unternehmen und Logistiker in China integriert, um lückenlose Dienste anzubieten. Im Land der Mitte kollaboriert Cainiao mit den 15 Top-Expresszulieferern wie etwa SF Express, Shentong Express, YTO Express, ZTO Express und Yunda. Die Datenplattform kann kosteneffizientere Lösungen für die durch den E-Commerce-Boom ausgelöste, schnell wachsende Logistiknachfrage generieren. Sie verarbeitet Daten von durchschnittlich 42 Millionen Päckchen pro Tag in China (70 Prozent des gesamten Aufkommens). Die Lagerhäuser befinden sich in rund 250 Städten. Das Netzwerk beschäftigt mehr als zwei Millionen Mitarbeiter im Liefer- und Lagerhaussektor und setzt 230.000 Fahrzeuge und 180.000 Lieferstationen ein. Momentan werden mit 90 chinesischen und internationalen Partnern rund 224 Länder und Regionen beliefert. Durch Big-Data-Analyse wurde die Genauigkeit beim intelligenten Routing bei 99 Prozent aller Lieferungen verbessert und gleichzeitig die durchschnittliche Lieferzeit in China beträchtlich verkürzt. Laut Cainiaos Präsident Wan Lin „hat sich die Logistik zu einem integralen Bestandteil der digitalen Infrastruktur und zum Hauptunterscheidungsmerkmal der Unternehmen in der heutigen Welt entwickelt, der die Spielregeln verändert.“ Er fügte an: „Unser Investment in den Aufbau des globalen Smart Logistics Network, das internationale Seefahrtsrouten und Lagerhauseinrichtungen umfasst, wird Unternehmen eine höhere betriebliche Effizienz, Kosteneinsparungen, Transparenz und Genauigkeit im Supply Chain Management bieten.“ Cainiao hat die globalen Lieferzeiten bereits um 20 Prozent, die Kosten pro Päckchen im B2C-Bereich um neun Prozent und die Effizienz beim Sortieren und Liefern um 24 bis 27 Prozent in China verbessert. Die grenzüberschreitenden Logistikdienstleistungen sind überwiegend auf die Händler der Alibaba-Plattformen Aliexpress, Tmall Global (für Auslandsprodukte) und Taobao International ausgerichtet. Durch die Big-Data-Technologie kann Alibaba zudem sein E-Commerce-Angebot in den ländlichen Gebieten Chinas ausweiten. Die Händler können im Cainiao-Netzwerk den Expresszusteller auswählen, der den effizientesten Dienst anbietet. Der „Smart Routing and Sorting Service“ minimiert zudem Lieferfehler um rund 40 Prozent. Fazit Neben den vielen Möglichkeiten und Herausforderungen, die eine intelligente Logistikplattform wie das Supergrid bietet, bringt sie auch eine Verschärfung des Wettbewerbs mit sich. Für einen Logistiker geht es nicht mehr um das ROI für ein Investment in eine Technologie, sondern vielmehr um die Frage, ob er das Risiko der Auslöschung des Unternehmens bei Nicht-Investment tragen will. Das Supergrid wird den Partnerfirmen wertschöpfende Premium-Dienste wie Zollabfertigung, Risikomanagement, Sicherheitsschutz, Versicherungen und Konformitätsprüfungen bereitstellen und damit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Nicht-Teilnehmern am Netzwerk bieten. ■ QUELLEN [1] www.dhl.com/ trendradar [2] www.dhl.com/ content/ dam/ dhl/ global/ core/ documents/ pdf/ study_logistics_2050.pdf [3] www.cainiao.com Dirk Ruppik Asien-Korrespondent und freier Fachjournalist, Thailand sl2sl@web.de RELEVANT < 5 YEARS RELEVANT < 5 YEARS RELEVANT 5-10 YEARS RELEVANT 5-10 YEARS HIGH IMPACT Supergrid Logistics Self-Driving Vehicles Artificial Intelligence 3D Printing Unmanned Aerial Vehicles Blockchain Robotics & Automation Internet of Things Big Data Analytics Bionic Enhancement Cloud & APIs Next- Generation Wireless Digital Twins Augmented & Virtual Reality Smart Containerization Future of Work Omnichannel Logistics Sharing Economy Servitization Fresh Chain Logistics Marketplaces Sustainable Logistics Silver Economy Next-Generation Security Multisourcing Rethinking Packaging Mass Personalization Space Logistics Quantum Computing LOW IMPACT LOW IMPACT High Impact: revolutionary applications that are potentially disruptive Low Impact: evolutionary changes with incremental improvements Relevancy: when a trend will become ubiquitous or commonplace in the logistics industry as a whole Social & Business Trends Technology Trends Bild 1: Megatrends mit großen Auswirkungen auf die Logistikbranche Quelle [1] Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 38 LOGISTIK Wissenschaft Ungenutzte Potentiale der Telematik Logistikunternehmen im digitalen Umbruch Telematik, Digitalisierungsgrad in der Logistik, Telematik-Marktanalyse, Potentiale von Telematiklösung Viele Telematiklösungen für Logistikunternehmen sind im Markt bereits etabliert, doch werden wirklich alle Potentiale der vorhandenen Softwarelösungen genutzt? Die Analyse betrachtet die Nutzung von Telematikpotentialen durch Logistikunternehmen. Hierzu wurden 26 Logistikunternehmen befragt und die Angebote von 52 Telematikanbietern ausgewertet. Es zeigte sich, dass alle verfügbaren Nutzungspotentiale bei Dispositionsprozessen von weniger als 19 % der Befragten genutzt werden. Damit die Angebote besser und häufiger genutzt werden, müssen diese zeitnah einen Return-on-Investment bieten, sagen die befragten Logistikunternehmen. Boris Zimmermann, Yusuf Say D as Bundesministerium für Wirtschaft und Energie sieht in der Digitalisierung einen wesentlichen Treiber für die Zukunft des Standorts Deutschland [1]. Die Digitalisierungspotentiale in der Logistik wurden 2018 in der Studie „Digitalisierungswerkzeuge in der Logistik“ untersucht, dabei wurde festgestellt, dass zahlreiche Digitalisierungswerkzeuge bereits in der Praxis eingesetzt werden, so sind beispielsweise Telematikplattformen fest in den Prozessen der Logistikunternehmen etabliert. Andere Angebote, wie z. B. Predictive Analytics-Lösungen, werden von weniger als 50 % der befragten Logistikunternehmen genutzt. Nur 50 % der Logistikunternehmen haben die Vision von einer „digitalen Spedition“ [2]. Die Frage stellt sich, ob es an Software- oder Telematikangeboten fehlt, damit mehr Unternehmen weiteres Digitalisierungspotential nutzen wollen. Die Digitalisierung der Logistikbranche Der Telematikmarkt ist bisher mit ca. 10 bis 20 % pro Jahr gewachsen und liegt bei einem Volumen von rund 120 Mio. EUR. Bis 2027 wird von einer Verdoppelung des Umsatzvolumens ausgegangen. [3] Die weitere Entwicklung ist davon abhängig, wie Logistikunternehmen die neuen Potentiale der Telematikanbieter nutzen werden. In dieser Untersuchung soll die Frage beantwortet werden, ob und in welchem Grad die Potentiale der vorhandenen Telematiklösungen am Markt durch die Logistikunternehmen genutzt werden. Damit soll gezeigt werden, welche Nutzungspotentiale noch bestehen, die zu erschließen sind. Untersuchungsmethodik und Forschungsstand Zuerst wird der aktuelle Stand der Forschung kurz dargestellt. Anschließend wird der State-of-the-Art von Telematikangeboten untersucht und daraus Digitalisierungscluster gebildet; diese sind wesentlich, um den Digitalisierungsgrad der Logistikunternehmen zu bestimmen. Die Untersuchung ist induktiv, da auf Basis von gezielten Befragungen ausgewählter Logistikunternehmen ein Digitalisierungsgrad für den Gesamtmarkt abgeleitet wird. Der Fokus liegt dabei auf dem logistischen Kernprozess Transport und zwei seiner Unterstützungsprozesse, der Fahrzeugwartung und der Lohnbuchhaltung des Fahrpersonals. Nach Darstellung des Nutzungsgrades der Telematikanwendungen wird das Marktangebot im Detail analysiert. Die Ergebnisse wurden ausgewählten Logistikunternehmen im Rahmen eines Workshops vorgestellt, hinterfragt und anschließend empirisch evaluiert. Der Workshop sollte zeigen, welche der Nutzungspotentiale in Zukunft durch die Logistikunternehmen realisiert werden können und welche nicht. Insgesamt wurden 19 Veröffentlichungen gefunden; acht stammen aus dem anglo-amerikanischen Raum, elf aus Deutschland. Während die internationalen Studien aus den Jahren 2020 und 2019 stammen, wurden in Deutschland in diesem Zeitraum nur zwei Studien veröffentlicht. Allerdings beinhalten die internationalen Studien hauptsächlich die PKW-Telematik und deren Anwender, lediglich eine Studie beschäftigt sich ausschließlich mit Telematik für LKW. Die untersuchten Studien sind in den Anlagen [2 bis 20] zu finden. Brosig und Dudek fanden 2017 als zentrales Ergebnis heraus, dass die Nutzbarkeit von Telematikfunktionen auf unterschiedlichen Hardwareplattformen wesentlich für die Nutzer ist. Der Fokus ändert sich von der Steuerung der Fahrzeuge auf die Steuerung der Wa- PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 12.02.2021 Endfassung: 09.04.2021 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 39 Wissenschaft LOGISTIK renströme, dabei bleiben die Logistikunternehmen einem einmal ausgewählten System treu. Das Fahrverhalten bzw. die Fahrerbewertung nehmen, neben der gesetzlich vorgeschriebenen Überwachung der Lenk-, Arbeits- und Ruhezeiten, an Bedeutung zu. Starkes Verbesserungspotential sehen Nutzer hinsichtlich einer benutzerfreundlicheren Anzeige und der Bedienung der Systeme. [18] Dudek hatte bereits 2015 festgestellt, dass Hersteller standardmäßig Flottenmanagementsystem in ihren Fahrzeugen integriert haben. Allerdings unterschieden sich die Funktionen dieser Systeme stark voneinander. [19] Im Jahr 2013 fokussierte sich Voigt auf die Trailer-Telematik und deren Systemeigenschaftenfunktionen, die Total Costs of Ownership und die Entwicklungstrends im Markt. Bereits damals war die Ortungsfunktion weit verbreitet, die OEM-Lösungen hatten die größten Marktanteile. Interessant war bereits damals, dass neben einem Standardsystem mindestens eine weitere Software eingesetzt wurde. So wurden in der Zugmaschine mindestens ein weiteres Telematiksystem eingesetzt, wobei die Zusammenführung der Daten dieser unterschiedlichen Systeme sehr aufwendig war. [20] Ausgehend vom Jahr 2013 zeigt sich, dass die Ansprüche der Anwender individueller werden und die Spezifität der Produkte entsprechend angepasst werden muss. Der Trend geht somit zum Management der Geschäftsprozesse. Jedoch fehlt in den bisherigen Untersuchungen eine umfangreiche Untersuchung der Wünsche der Logistikunternehmen im Verhältnis zu den Angeboten im Markt. In den genannten Studien wurden lediglich maximal zehn Telematikanbieter analysiert, eine Befragung der Kundenwünsche wurde nicht näher beschrieben. Diese Lücke soll nun geschlossen werden. Kriterien zur Untersuchung des Digitalisierungsgrades von Logistikunternehmen Damit die Untersuchung des Digitalisierungsgrades von Logistikunternehmen nach einheitlichen Kriterien erfolgt, wurden aufgrund einer Analyse der Angebote von Telematikunternehmen Kriterien definiert, die den Entwicklungsgrad der Anwendung bestimmen [21]. Zudem wurden die Prozesse der Logistikunternehmen in Kernprozesse und unterstützende Prozesse getrennt. Der Kernprozess von Logistikunternehmen ist der Transport und damit die Disposition. Aufgaben der Lagerhaltung werden durch Telematiksysteme nicht unterstützt und sind somit nicht Gegenstand der Untersuchung [22]. Zwei unterstützende Prozesse wurden ebenso untersucht, die Wartungsplanung der Fahrzeuge und die Lohnbuchhaltung des Fahrpersonals, da diese Prozesse unmittelbar von der Disposition ausgelöst werden. Auf Basis der untersuchten Angebote wurden die gefundenen Telematiklösungen unterschieden nach: • Standard-Telematiklösungen, d. h. es werden einfache Fahrzeugdaten analysiert (Grad 1), • Advanced Telematik, d. h. es werden erweiterte Fahrzeugdaten analysiert (Grad 2), und • Smart Telematik, d. h. es werden Geschäftsprozesse automatisiert (Grad 3). Standard-Telematiklösungen (Grad 1) werden durch alle identifizierten Anbieter unterstützt. Funktionen wie Positionsbestimmung über GPS, Kommunikation zwischen Disponenten und Fahrer, Überwachung bestimmter Parameter, z. B. Messung des Kraftstoffverbrauches, der Geschwindigkeit, Meldung des Tankfüllstands oder Reifendrucküberwachung, gehören zum Standard einer jeden Telematik. Durch standardisierte Tourenplanungsmanagementsysteme (TMS) werden Funktion der Tourenplanung abgedeckt, so gibt es die Möglichkeit, Routen hinsichtlich der Kriterien wie Verbrauch, Maut oder Baustellen zu optimieren. Diese Funktionalität ist im Markt etabliert und wird deswegen nicht weiter betrachtet, alle Anbieter haben diese Funktionen in ihrem Standardangebot integriert. Advanced Telematik (Grad 2) sind Anwendungen, die dabei helfen, die gesammelten Daten gezielt auszuwerten. Zu den Funktionen gehören z. B. die Bewertung des Fahrpersonals durch Fahrstilanalyse oder die Wartungsplanungsunterstützung inklusive der Anzeige von Untersuchungsterminen. Außerdem werden bei derartigen Anwendungen das Remote-Auslesen des Massenspeichers und der DTCO-Fahrerkarte angeboten und ermöglichen nicht nur eine Überwachung von Lenk- und Ruhezeiten sowie das Führen eines Fahrtenbuches, sondern auch das erweiterte Fahrerkartenmanagement z. B. durch eine Arbeitszeitenkontrolle, Spesenabrechnung und Bußgeldkontrolle. Smarte Telematikanwendungen (Grad 3) zeichnen sich dadurch aus, dass sie dabei helfen, Prozesse komplett zu automatisieren. Zum Beispiel wird durch Geofencing eine proaktive Lieferavise möglich, oder abgestimmte Zustellinformationen werden an den Warenempfänger weitergeleitet. Ebenso werden Belege vollständig digitalisiert, wie z. B. durch Sign-on-Glas oder durch den e-CMR-Standard Frachtbrief. Die gezielte Anwendung künstlicher Intelligenz (KI) hilft bei der intelligenten und automatisierten Tourenplanung, der Arbeitszeitenkontrolle und der Gehaltsabrechnung. Predictive Maintenance ersetzt die Wartungsplanung komplett. Im Weiteren werden nur Grad 2 und Grad 3 untersucht, die Tabelle 1 zeigt die definierten Untersuchungskriterien zur Bestimmung des Digitalisierungsgrades. Diese Kriterien sollen auch zur Klassifizierung der Anbieter von Telematiklösungen genutzt werden, um so den Best-in-Class-Grad im Markt des jeweiligen Anbieters festzulegen. AT A GLANCE After evaluating 19 publications, interviewing 26 logistics companies and analysing 52 telematics providers, the state of digitisation of logistics companies was determined. The degree of digitalisation was analysed for the core processes of transport and dispatching, as well as for the support processes of payroll accounting for drivers and vehicle maintenance. A distinction was made between advanced telematics and smart telematics. The available utilisation potentials were fully utilised for smart telematics applications in only 19 % of the logistics companies surveyed. 15 % of the logistics companies schedule their vehicles exclusively manually, and no advanced telematics applications are used here either. Therefore higher individuality, a transparent return on investment and more logistics know-how on the part of the telematics providers are necessary to reach a higher degree of digitalisation. Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 40 LOGISTIK Wissenschaft Nutzung von Telematikanwendungen in Logistikunternehmen Für die Analyse wurden 26 Logistikunternehmen befragt. Zur Einteilung der Unternehmen in Größenklassen wurde die Kategorisierung der Europäischen Union verwendet [23]. Die Verteilung der Unternehmen in der Stichprobe ist in Bild 1 zu sehen. Die Unternehmensgrößenklassen wurden mit der Verteilung im Markt verglichen. Die Daten stammen zwar aus dem Jahr 2015, jedoch dürfte sich die Verteilung im Markt kaum verändert haben [24]. Neben der Unternehmensgröße ist auch das Marktsegment wesentlich für die Übertragbarkeit der Daten auf den gesamten Markt. Bild 1 zeigt ebenso das Ergebnis des Vergleiches der Umsatzanteile der befragten Unternehmen mit den Umsatzvolumina im gesamten Logistikmarkt, die Datenbasis war die Top 100 der Logistik aus Jahr 2018 [25]. Kleine Unternehmen bis 50 Mitarbeiter sind in dieser Stichprobe unterrepräsentiert, die Ergebnisse sind deswegen entsprechend zu werten. In der Befragung wurde deutlich, dass Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeiter generell einen geringeren Digitalisierungsgrad aufwiesen. Insofern dürfte der tatsächliche Digitalisierungsgrad im Logistikmarkt geringer sein. In der Stichprobe war die Verteilung gemäß der Marktsegmente ungleich, sodass nur in einzelnen Teilmärkten die Aussagen auf den Gesamtmarkt übertragen werden können. Bei der Befragung der Logistikunternehmen sollten diese den Nutzungsgrad der jeweiligen Funktion im Unternehmensprozess schätzen. Hierzu wurde gezielt die Disposition und die anderen Abteilungen im jeweiligen Logistikunternehmen befragt. Die Kriterien aus der Tabelle 1 wurden dabei übernommen, sodass der jeweilige Nutzungsgrad der Telematik bestimmt werden konnte. Das Ergebnis der Befragung ist in Bild 2 dargestellt. Zur Bestimmung der Digitalisierungsgrade im jeweiligen Segment Disposition, Wartung und Lohnbuchhaltung wurden die 100-%-Nutzung und die Nutzung zwischen 75 % und 50 % addiert und der Mittelwert daraus gebildet. Für den Bereich Advanced Telematik ergab sich so ein Digitalisierungsgrad von 65 % bei der Disposition (Durchschnitt aus Kriterium 1, 2 und 3). Bei der Lohnbuchhaltung (Gehaltsabrechnung Kriterium 4) lag dieser bei 62 % bei der Wartungsplanung (Kriterium 5) bei 100 %. Im Bereich der Smart Telematik lag der Digitalisierungsgrad der Disposition bei 19 %, in der Lohnbuchhaltung (Kriterium 4) bei 42 %, der Wartungsplanung bei 8 %. Bei allen befragten Logistikunternehmen wird die Disposition immer noch manuell unterstützt, vollständig durch KI wird dies bei keinem Unternehmen durchgeführt. Die Einflussnahme in der Lohnbuchhaltung durch Geschäftsführer wird ebenso als häufiger Grund genannt, warum Daten nicht ohne Medienbrüche Grad 2 Advanced Telematik: Erweiterte Fahrzeugdatenanalyse Grad 3 Smart Telematik: Unterstützung des Geschäftsprozessmanagements Kernprozesse Disposition und Transport Kernprozesse Disposition und Transport Dispositionsprozesse erfolgen weitgehend manuell, das System gibt lediglich Hinweise zur Optimierung. Automatisierungspotentiale, wie das Auslesen des Massenspeichers, werden jedoch genutzt Die Disposition überwacht nur die Systemprozesse und greift nur selten manuell in den Ablauf ein. Prozesse werden lediglich kontrolliert und überprüft. Definierte Messkriterien zur Bestimmung des Digitalisierungsgrades 1. Automatisierte Meldung von erreichten GPS-Positionen mit anschließend manueller Entscheidung was mit dieser Meldung passieren muss 2. Teildigitalisierung der Belege, wie Remote-Auslesen des Massenspeichers oder Einscannen/ Fotografieren von Belegen 3. Tourenplanungsvorschläge und Hinweise durch das System 1. Geofencing, wie z. B. proaktive Lieferavise 2. Vollständige Digitalisierung von allen Belegen beim Transport (Sign-on-Glass und E-CMR) 3. Intelligente automatisierte Tourenplanung durch KI Unterstützende Prozesse: Wartung und Lohnbuchhaltung Unterstützende Prozesse: Wartung und Lohnbuchhaltung Prozesse wie Lohnbuchhaltung werden durch gezielte Information über das Fahrpersonal unterstützt, werden jedoch noch aufgrund von Medienbrüchen manuell weiterverarbeitet. Die Prozesse sind ohne Medienbrüche vollständig automatisiert, es erfolgt lediglich eine stichprobenartige manuelle Kontrolle Definierte Messkriterien zur Bestimmung des Digitalisierungsgrades 4. Gehaltsabrechnung teilautomatisiert, aber Arbeitszeitenkontrolle manuell, Fahrerbewertung teilautomatisiert, d.h. Boni zum Lohn werden manuell bestimmt auf Basis von Hinweisen über das Fahrverhalten vom dem Telematiksystem 5. Wartungsplanung teilautomatisiert (Anzeige von Störungen, die eine manuelle Entscheidung erfordern) 4. Gehaltsabrechnung vollständig automatisiert, Arbeitszeitenkontrolle und Fahrerbewertung unterstützt durch KI 5. Wartungsplanung automatisiert (Predictive Maintenance) Tabelle 1: Ausgewählte Prozessschritte von Logistikabläufen in Logistikunternehmen Bild 1: Verteilung der Unternehmensgrößenklasse im Logistikmarkt im Vergleich mit der Stichprobe der befragten Logistikunternehmen Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 41 Wissenschaft LOGISTIK weiterverarbeitet werden. Beim Predictive Maintance ist die Nutzung abhängig vom jeweiligen Hersteller der Fahrzeuge und aufgrund von Kostengründen nicht überall frei geschaltet. Der Digitalisierungsgrad in Logistikunternehmen ist somit im Bereich Smart Telematik ausbaufähig. Aufgrund einer Auswertung von über 250 Internetseiten wurden 52 Telematikanbieter berücksichtigt. Der Markt ist mittelständisch geprägt, 22 Unternehmen hatten weniger als 100 Mitarbeiter, 40 Unternehmen weniger als 200 Mitarbeiter. Die Anbieter fokussieren sich auf Telematiklösungen, nur fünf Unternehmen bieten eine eigene Speditionssoftwarelösung an. Alle Anbieter bieten die Option ihre Dienstleistungen auch als Software-as-a-Service-Lösung (kurz SaaS) an, 15 Telematikanbieter bieten ihre Leistungen ausschließlich als SaaS an. Von den befragten Logistikunternehmen hat keines diesen Service genutzt, da die Unternehmen bereits eine eigene Infrastruktur besitzen. Inwieweit durch neue Angebote am Markt sich die IT-Infrastruktur ändert, wurde nicht gefragt, es gibt hier jedoch ungenutztes Potential die Digitalisierungsgrade zu erhöhen. Festgehalten wurde bei der Analyse, ob die jeweilige Funktionalität Element der Standardlösung war oder ob es als Zusatzprogramm erworben werden musste. Ebenso wurde untersucht, ob die Funktionalität durch eine Schnittstelle oder einfache Anpassung in die Standardlösung eingebunden werden konnte. Bei 25 % der untersuchten Anbieter musste nachgefragt werden, ob Alternativen existieren, z. B. durch eine eigene Sonderprogrammierung. Die Anbieter von Telematikanwendungen sind im Bereich Advanced Telematik sehr gut aufgestellt, insofern wird in Bild 3 nur die Smart Telematik dargestellt. Die Kostenfaktoren der jeweiligen Softwarepakete wurden untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die Preise sehr stark vom Nutzungsumfang und der gewünschten Integration in die Geschäftsprozesse des Kunden abhängen, sodass die Kosten je Angebot von den individuellen Anforderungen des Kunden abhängig sind. Es wurde keine Abfrage bei den Telematikanbietern hinsichtlich eines Standardangebotes für in dieser Untersuchung definierten Digitalisierungsgrade gemacht, sodass hier keine Zahlen vorliegen. Diese Analy- Bild 2: Ergebnisse der Befragung der Logistikunternehmen zum Nutzungsgrad der Telematik unterschieden nach Grad-2 Advanced Telematik und Grad-3 Smart Telematik Bild 3: Entwicklungsstand von Telematikanwendungen im Bereich Smart Telematik Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 42 LOGISTIK Wissenschaft se könnten in weiteren Untersuchungen durchgeführt werden. Da eine automatisierte Tourenplanung, wie in Bild 2 gezeigt, derzeit von keinem der befragten Logistikunternehmen genutzt wird, wird diese von 29 % der Telematikanbieter nicht als Angebot im Markt platziert. 29 % der Telematikanbieter bieten keine eigene Schnittstelle für die Gehaltsabrechnung an, auch hier ist die mangelnde Nutzung der Logistikunternehmen ein Grund. Der hohe Anteil einer nicht vorhandenen automatisierten Wartungsplanung lässt sich dadurch erklären, dass hierfür der Hersteller der LKW die entsprechenden Schnittstellen im CAN-BUS freigeben muss. Der Digitalisierungsgrad bei den Telematikanbietern ist in Bezug auf die Smart Telematik sehr hoch. Jedoch muss festgehalten werden, dass lediglich 8 % aller Telematikanbieter alle Smart Telematik-Funktionen im Standardprogramm anbieten. Um den vollen Funktionsumfang zu erhalten, müssen Logistikunternehmen daher zusätzlich in spezifische Programmierleistung investieren. Vor allem bei margenschwachen Logistikdienstleistungen stellt sich allerdings die Frage, ob dieses Investitionsvolumen zumindest für KMU aufgebracht werden kann. Auf Basis dieser Ergebnisse lässt sich das Potentialdefizit zwischen Angebot und Nachfrage ermitteln, die Auswertung ist in Bild 4 dargestellt. Bei der Disposition zeigt sich, dass die Digitalisierung von Belegen derzeit bei weniger als 20 % der Logistikunternehmen genutzt wird im Verhältnis zu den Angeboten der Telematikanbieter, dies muss hinterfragt werden. Dies gilt ebenso für die automatisierte Tourenplanung, die Disposition ist nur zu 85 % teilautomatisiert (vgl. Bild-2) und wird bei 15 % der befragten Logistikunternehmen rein manuell ausgeführt. Die Lohnbuchhaltung ist bei knapp 60 % automatisiert, dies entspricht auch den Angeboten am Markt. Auf die Nutzung des Predictive Maintenance wurde bereits eingegangen. Ursachenforschung: Woher kommt dieses Defizit? Mit 14 ausgewählten Logistikunternehmen konnte im Nachgang der schriftlichen und mündlichen Befragung ein Online-Workshop durchgeführt werden, ein Telematiksoftwareanbieter erklärte sich ebenso zur Teilnahme bereit. Der Workshop dauerte zwei Stunden, es wurden zunächst die obigen Ergebnisse dargestellt und erläutert. Generell wurde von den Logistikunternehmen dargestellt, dass die Personalsituation bei dem LKW-Personal schwierig ist und bleiben wird. Personal muss intensiv betreut werden, die Disposition übernimmt auch einen „sozialen Faktor“, der für den Verbleib des Personals als wesentlich eingeschätzt wird. Die Kontrolle der Fahrer über Smart Telematik wird somit kritisch gesehen. Dies gilt insbesondere für die Fahrerbewertung, diese ist durch gezielte technische Eingriffe vom Fahrer selbst manipulierbar. Somit können die Ergebnisse nicht eindeutig sein. Zusätzlich sind die Einsatzgebiete je Fahrzeug sehr unterschiedlich, sodass Telematikprogramme stark individualisiert werden müssen. Die vollständige Digitalisierung von Belegen ist aufgrund der Diversität der Leistungsangebote der Logistikunternehmen nur schwierig umzusetzen. Das Kundenportfolio ist sehr vielfältig und die Wünsche schwer in einheitlichen Formaten standardisierbar. Zudem fehlt es bei den Telematikanbietern an Verständnis der jeweiligen Unternehmensprozesse, da diese auch innerhalb von Marktsegmenten durch gewachsene Strukturen stark individuell sind. Bei allen Logistikunternehmen besteht der Wunsch nach maßgeschneiderten Lösungen, die bei der Digitalisierung der Belege helfen würden. Beim Geofencing wurde erkannt, dass die Angebote der Logistikunternehmen gegenüber ihren Kunden verbessert werden müssen; eine proaktive Marktakquise mit entsprechenden Leistungen wäre hier notwendig. Die Telematikanbieter Bild 4: Gegenüberstellung des Digitalisierungsgrades von Logistikunternehmen und dem Angebot von Telematikanbietern in Bezug auf Smart Telematik-Lösungen Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 43 Wissenschaft LOGISTIK haben erkannt, dass sie deutlich stärker in Logistik- Knowhow investieren müssen. Umgekehrt muss das IT- Knowhow bei den Logistikunternehmen, vor allem bei den KMU mit weniger als 50 Mitarbeitern, verbessert werden. Es bleibt jedoch die Aufgabe des Telematikmarktes, Angebote kostengünstiger und leichter integrierbar zu gestalten. Fazit Der Digitalisierungsgrad bei Anwendungen der Advanced Telematik erreicht in den Logistikunternehmen bereits 65 % bei Dispositionsprozessen, im Bereich Smart Telematik lediglich 19 %. Die Angebote der Telematikanbieter könnten besonders in der Smart Telematik verbessert werden, da die Lohnbuchhaltung oder die Wartung bei mehr als 30 % der Angebote nicht dem State-of-the-Art der technischen Möglichkeiten entspricht. Angebote müssen individueller, detaillierter und kostengünstiger sein, oder der Return-On-Investment muss transparenter werden. Ohne weiteren Aufbau von Logistik-Knowhow bei den Telematikanbietern wird das nicht gelingen. Auf der anderen Seite müssen Logistikunternehmen besonders ihre zum Großteil manuellen Dispositionsprozesse auf weitere Digitalisierungspotentiale hin überprüfen. Insbesondere bei der Belegerfassung ist es fraglich, warum weniger als 20 % der Unternehmen die entsprechenden Telematikangebote nutzen. ■ LITERATUR [1] BMWi (2021): Den digitalen Wandel gestalten. In: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. www.bmwi.de/ Redaktion/ DE/ Dossier/ digitalisierung.html (Abruf: 27.10.2020) [2] Stölzle, W.; Schmidt, T.; Kille, C.; Schulze, F.; Prinz von Sachsen, P. C.; Widhopf, V.; Wildhaber, C. (2018): Digitalisierungswerkzeuge in der Logistik: Einsatzpotenziale, Reifegrad und Wertbeitrag. Impulse für Investitionsentscheidungen in die Digitalisierung - Erfolgsgeschichten und aktuelle Herausforderungen. Universität St. Gallen, Institut für Supply Chain Management. 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Boris Zimmermann, Prof. Dr. Professor für Betriebswirtschaftslehre insbesondere Logistik, Fachbereich Wirtschaft; Studiengangsleiter duales Studium Logistikmanagement (BA), Hochschule Fulda boris.zimmermann@w.hs-fulda.de Yusuf Say Studentischer Mitarbeiter, Fachbereich Wirtschaft, Hochschule Fulda yusuf.say@w.hs-fulda.de Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 44 Staufrei in die Berge Corona und die Folgen für den Ausflugsverkehr am Beispiel der Stadt München Ausflugsverkehr, Infrastruktur, Parkraumbewirtschaftung, Stau, Verkehrssteuerung, Voralpenland Erst ein „Friedensgipfel“ konnte die Lage wieder beruhigen, nachdem der Konflikt um den Ausflugsverkehr der Münchner Bevölkerung ins Voralpenland eskaliert ist. Der Landkreis Miesbach verbot die Einreise zu touristischen Tagesausflügen und brachte die Münchner gegen sich auf. Im Lockdown suchen die Stadtbewohner die nahe gelegene Erholung, nur die Zielorte ersticken im Verkehr. Statt Umsätze in Handel und Gastronomie zu erzielen, bleiben verstopfte Landstraßen, Luft- und Lärmbelastung. Digitale Lösungen haben das Potenzial, den Verkehr von der Quelle bis zum Ziel staufrei zu steuern. Korbinian Leitner N ichts geht mehr: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beschränken die Reisemöglichkeiten nahezu vollständig und verordnen den Bürgerinnen und Bürgern eine Art „Heimat-Arrest“. Alle sind Zuhause und verbringen ihre Zeit hier, den Urlaub, die Wochenenden und die Sonn- und Feiertage. So fahren die Stadtbewohner in die Naherholungsgebiete der ländlichen Umgebung. Die Münchnerinnen und Münchner zieht es in das Alpenvorland. Mit seinen Bergen und Seen ist es zu jeder Jahreszeit prädestiniert für einen Ausflug in die Natur. Für die Voralpenregion ist dieser Ausflugstourismus keine Überraschung. Bereits mit Beginn des Eisenbahnzeitalters wurden die Naherholungsgebiete Zug um Zug mit Direktverbindungen in die bayerische Landeshauptstadt erschlossen. Der Ort Schliersee beispielsweise verfügt seit 1869 über einen Bahnanschluss, Tegernsee wurde 1912 angebunden. Die Straßenverbindungen kamen sukzessive über die Jahrzehnte hinzu. Kurz gesagt, die Zielorte der Ausflügler sind seit Beginn der Sommerfrische touristisch geprägt, haben gelernt, mit ihren Gästen umzugehen und leben überdies zum großen Teil vom Tourismus. Aber Corona verändert scheinbar alles und bringt einen Konflikt zum Ausbruch, der noch nie so heftig ausgetragen worden ist wie jetzt. Ausflugsverkehr An schönen Tagen machen sich viele Münchnerinnen und Münchner auf den Weg in die Voralpenregion und bringen den Verkehr zum Erliegen. Beispiel Luftkurort Walchensee im Landkreis Bad Tölz- Wolfratshausen. In etwa 6.000 Autos fahren bis zu 20.000 Menschen in einen Ort, der selbst nur 350 Einwohner zählt [1]. Auf den Zufahrtsstraßen kommt es zu kilometerlangen Staus und die Parkplätze im Ort und Foto: Dürnsteiner / pixabay MOBILITÄT Freizeitverkehr Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 45 Freizeitverkehr MOBILITÄT auch der umliegenden Gemeinden sind voll belegt. Wer keinen Platz mehr findet, der zwängt sich an den Straßenrand und versperrt nicht selten eine Zufahrt. All das zum Ärger der Bevölkerung, die sich neben der Luft- und Lärmbelastung um ihre eigene Mobilität gebracht sieht. In anderen Orten am Voralpenrand ist die Situation ähnlich. Die Ausflügler entscheiden sich in Corona- Zeiten für das Automobil und meiden Bus und Bahn. Da hilft es auch nicht, dass die Ausflugsregionen bestens mit Nahverkehrszügen erschlossen sind, deren Frequenz und Taktung zum Fahrplanwechsel just im Dezember 2020 nochmals verdichtet worden ist [2]. Problemstellung Die Situation ist volkswirtschaftlich schnell erklärt: Die Nachfrage übersteigt das Angebot und es kommt zur Übernutzung der Infrastrukturkapazitäten. Für den fließenden Verkehr bedeutet dies Stau, d. h. es wollen mehr Fahrer eine Straße zur selben Zeit nutzen als es die Kapazitäten hergeben. Für den ruhenden Verkehr bedeutet es Vollauslastung der Parkplätze und in der Folge „wildes Parken“, d. h. ein Teil der Fahrer weicht - oft straßenrechtswidrig - auf hierfür nicht vorgesehene Flächen aus. Wir haben es also mit einem Infrastrukturproblem zu tun. Lösung Es gibt zwei Möglichkeiten, die Probleme in den Griff zu bekommen: Die Infrastruktur kann ausgebaut und das Angebot der Nachfrage angepasst werden oder man passt umgekehrt die Nachfrage dem Angebot an und steuert die Nutzung der Infrastruktur. Ausbau der Infrastruktur Straßen und Parkplätze könnten grundsätzlich erweitert werden. In den Zielgebieten der Voralpen stößt man hier allerdings schnell auf bauliche Grenzen und Vorbehalte. Nicht nur dass mancherorts tatsächlich kein Platz mehr für Erweiterungen vorhanden ist, es widerspricht auch dem Geschäftsmodell, unberührte Flächen für eine Erweiterung der Infrastruktur zu versiegeln. Schließlich ist es der Naturgenuss selbst, der die Ausflügler zum Ausflug motiviert. Am Beispiel des Ortes Spitzingsee im Landkreis Miesbach zeigt sich auch, dass die vorhandenen Anlagen vor Jahrzehnten mit wenig Rücksicht und Feingefühl für die Belange des Landschaftsschutzes errichtet worden sind. Der größte Teil des Ortes ist mit Parkflächen versiegelt, ebenerdig und eingeschossig, und sogar hochwertige Flächen unmittelbar am Seeufer werden aktuell völlig unter Wert als Abstellort verwendet. Ich schlage deshalb vor, die Hanglagen geschickt für mehrgeschossige Parkhäuser zu nutzen, die entsprechend „unsichtbar“ in die Topographie eingefügt werden können. Damit würde die versiegelte Grundfläche effektiver genutzt, attraktive Lagen könnten renaturiert oder einer höherwertigen touristischen Nutzung zugeführt werden und das Erscheinungsbild des Ortes Spitzingsee würde deutlich gewinnen. Steuerung der Nutzung Ein zweiter Lösungsansatz ist die Bewirtschaftung von Parkraum. Viele Kommunen bepreisen ihre öffentlichen Stellplätze und erheben eine Nutzungsgebühr. Auch die Orte in der Voralpenregion tun dies und verlangen Parkgebühren. So stellt sich allein die Frage, ob es darüber hinaus einer überörtlichen Steuerung der Nachfrage bedarf und ob die Parkgebühren ihrer Höhe nach richtig gesetzt sind, um eine lenkende Wirkung zu entfalten. Parkplatzbepreisung Solange mehr Autofahrer einen Stellplatz suchen als Parkplätze vorhanden sind, ist der Preis zu niedrig. Die Möglichkeiten einer Bewirtschaftung scheinen nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht ausgeschöpft zu sein. Ich schlage daher vor, die Preise zu erhöhen und ggf. zeitlich zu differenzieren. Das Parkticket an Sonn- und Feiertagen würde demnach teurer sein als an Werktagen, da auch die Lenkungswirkung aufgrund höherer Nachfrage größer sein muss. So kann mit dem Instrument des Preises ein Nachfrageüberhang vermieden werden. Schnell könnte der Eindruck entstehen, die Kommunen würden damit einfach nur Kasse machen wollen. Um dem entgegen zu wirken, bieten sich Gegenleistungen für die Parkkunden an. So ließe sich zum Beispiel mithilfe der Gebühreneinnahmen ein attraktives Parkangebot finanzieren, etwa in Form von Sanitäranlagen und Versorgungsmöglichkeiten wie Kioske. Oft genug empfängt einen eine wenig einladende und mangelbehaftete Infrastruktur. Parkplatzreservierung Darüber hinaus kommt man an einer überörtlichen Steuerung nicht umhin, möchte man den Ausflugsverkehr großräumig in den Griff bekommen. Die Ausflügler benötigen bereits zum Zeitpunkt und am Ort ihrer (Ausflugs-)Entscheidung - Zuhause bzw. in der Unterkunft - die Information über freie Parkplätze. So genügt es also nicht, den Fahrer erst auf dem Weg oder im Zielort über voll besetzte Parkanlagen zu informieren. Die Kommunen (als Betreiber der Parkplätze) müssen diese Information früher platzieren. Ein Vorschlag: Sämtliche Parkplatzkapazitäten im voralpinen Naherholungsgebiet von München online buchbar machen. Auf diese Weise kann der Ausflugsverkehr bereits an der Quelle gesteuert und in Gebiete gelenkt werden, in denen noch freie Kapazitäten zur Verfügung stehen. Parkanlagen an Flughäfen beispielsweise werden auf diese Weise bewirtschaftet. Die Gemeinden könnten einen Dienstleister mit dieser Aufgabe betrauen. Im Großraum München gibt es dazu bereits ein Musterbeispiel: Die Park&Ride GmbH München managt seit 1992 rund 40 Stellplatzanlagen im Stadtgebiet und der näheren Umgebung. Alternativ dazu ist ein kommunaler Zweckverband oder eine neu zu gründende Betreibergesellschaft denkbar, um die zweckgebundene, interkommunale Zusammenarbeit zu organisieren und die Buchungsplattform für Parkplätze in den Ausflugsgebieten bereitzustellen und zu betreiben. Politische Umsetzung Wie wenig sich die kommunalen Mandatsträger in der Sache zu helfen wissen, zeigen deren Reaktionen, über die in der Lokalpresse in aller Ausführlichkeit berichtet wird. „Es brennt wirklich“, schreibt etwa der Miesbacher Landrat Olaf von Loewis an den bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder, und die örtlichen Bürgermeister rufen in den Zeitungen dazu auf, doch bitte Zuhause zu bleiben. Eine Allgemeinverfügung verbietet schließlich touristische Tagesausflüge in den Landkreis Miesbach. So wird die Atmosphäre zwischen Stadt und Land nach Kräften vergiftet, bis schließlich ein „Friedensgipfel“ Mitte Januar 2021 die Kommunalpolitiker wieder an einen Tisch bringt [3]. Die Allgemeinverfügung wird aufgehoben und die Diskussion versachlicht. Erste Lösungsansätze machen die Runde. ■ LITERATUR [1] Vecchiato, A. (2020): Ärger mit dem „Overtourism“. In: Süddeutsche Zeitung (online) vom 27. Dezember 2020, www.sueddeutsche. de (Abruf: 24.2.2021) {2] Sechs neue Lint-Züge angekommen - BRB verdichtet den Takt. In: Miesbacher Merkur (online) vom 10. Dezember 2020, www.merkur. de (Abruf: 26.2.2021) {3] Effern, H.; Köpf, M. (2021): Mein Berg, mein See, mein Auto. In : Süddeutsche Zeitung (online) vom 15. Januar 2021, www.sueddeutsche. de (Abruf: 26.2.2021) Korbinian Leitner, Dr. Referatsleiter Verkehr, IHK für München und Oberbayern, München leitner@muenchen.ihk.de Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 46 Klimakosten eines Flughafens Berechnung der Klimakosten aller Linienflüge an einem Flughafen am Beispiel des Flughafens Bremen Klimakosten, Schadstoffemissionen, Linienluftverkehr, Flughafen Bremen Mit einer auf andere Flughafenstandorte übertragbaren Methodik wird untersucht, welche Klimakostenreduktion möglich wäre, wenn alle Flugreisen im Linienluftverkehr am Flughafen Bremen ersatzlos unterblieben. Die Klimakosten werden über die ein- und aussteigenden Passagiere für die Teilstrecken zwischen dem Flughafen Bremen und den Streckenherkunfts- und Streckenzielflughäfen berechnet. Es findet keine Verrechnung mit gegenläufig wirkenden Klimakosten durch eine Verkehrsverlagerung auf andere Flughäfen oder die Nutzung anderer Verkehrsträger statt. Richard Klophaus O bwohl moderne Flugzeugtypen und Triebwerke gemessen an den Vorgängermodellen leiser und sparsamer sind, geht Luftverkehr unstrittig mit Umweltbelastungen einher [1]. Dazu zählen: • Schadstoffemissionen, • Fluglärm und • Flächenversiegelungen an Flughäfen. Beim Betrieb von Flugzeugen entstehen klimawirksame Gase sowie Änderungen der Wolkenbedeckung, die insgesamt zur globalen Erwärmung beitragen. Nachstehend werden die Klimakosten durch Schadstoff emissionen als Teil der gesamten Umweltkosten des Flughafens Bremen für das Bezugsjahr 2019 berechnet. Konkret lautet die Fragestellung: Welche Klimakostenreduktion würde resultieren, wenn alle Flugreisen im Linienluftverkehr mit Start oder Ziel am Flughafen Bremen ersatzlos unterblieben? Schadstoffemissionen entstehen durch die Verbrennung von Treibstoff beim Betrieb der Flugzeuge und zudem durch den Bau, die Instandhaltung und den Betrieb der Flughafeninfrastruktur. Im Folgenden werden ausschließlich die Klimakosten des mit dem Flughafen Bremen verbundenen Linienluftverkehrs berechnet. Dabei wird eine Methodik vorgestellt, die auf andere Flughafenstandorte übertragbar ist. Methodik Die Klimakosten aller Flugreisen im Linienluftverkehr mit Start oder Ziel in Bremen werden für die Teilstrecken zwischen dem Flughafen Bremen und den Streckenherkunfts- und Streckenzielflughäfen berechnet. Es findet keine Verrechnung mit gegenläufig wirkenden Klimakosten durch eine Verkehrsverlagerung auf andere Flughäfen oder die Nutzung anderer Verkehrsträger statt. Entsprechend werden erzeugte Schad- Foto: Bilal El-Daou / pixabay MOBILITÄT Umweltbelastung Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 47 Umweltbelastung MOBILITÄT stoffemissionen einer PKW- oder Zugfahrt als Reisealternative nicht mit den vermiedenen Schadstoffemissionen eines innerdeutschen Fluges saldiert. Diese Bruttobetrachtung führt zu höheren Klimakosten als eine Methodik mit einer Nettobetrachtung. Die klimaschädlichen Emissionen der im Linienluftverkehr angebotenen Flüge am Flughafen Bremen werden mit dem Emissionsberechnungsprogramm von Atmosfair geschätzt. Auf ihrer Website (www.atmosfair.de) bietet diese Non-Profit-Organisation an, Treibhausgasemissionen auszugleichen. Die zugrundeliegende Methodik und die verwendeten Daten sind dabei transparent dokumentiert [2] und gelten als international anerkannter „Gold-Standard“ zur Kompensation von Flugreisen [3]. Selbst bei einer so vorteilhaften Einschätzung ist zu beachten, dass jede Methodik zur Bewertung von Klimaschadenskosten angezweifelt werden kann, „da einerseits die Schäden schwer abzuschätzen sind und sie andererseits zum großen Teil weit in der Zukunft liegen“ [4]. Die durch das Emissionsberechnungsprogramm ermittelte Klimawirkung in Kilogramm Kohlendioxid (CO 2 ) und der entsprechende Kompensationsbeitrag pro Reisenden im Linienluftverkehr von/ nach Bremen wird mit der jeweiligen Zahl ein- und aussteigender Passagiere gewichtet. Die im Jahr 2019 angebotenen Linienflugverbindungen am Flughafen Bremen werden einer Flugplandatenbank [5] entnommen, die Zahl ein- und aussteigender Passagiere der amtlichen Statistik [6]. Die Klimakosten werden für Hin- und Rückflug berechnet. Es wird auf die Analyse einzelner Flugereignisse verzichtet, auch wenn bei einer gegebenen Strecke die Emissionen je nach Fluggesellschaft und Flugzeugtyp sowie von Flug zu Flug durch unterschiedliche Flughöhen und -routen variieren können. Es werden die flugstreckenspezifischen Basiswerte für eine durchschnittliche Airline ohne Festlegung auf einen bestimmten Flugzeugtyp verwendet. So weist die Strecke von Bremen nach München eine durchschnittliche Klimawirkung von 362 kg CO 2 auf, wobei die Klimawirkung bei Einsatz eines Flugzeugtyps der Airbus A320-Familie mit 332 kg CO 2 unter derjenigen von 395 kg CO 2 für Flugzeugtypen wie dem Canadair Regional Jet 900 oder der Embraer 195 liegt. Tabelle 1 zeigt exemplarisch die Emissions- und Klimakostenberechnung für einen Flugreisenden auf der Strecke von Bremen nach Istanbul und zurück. Die berechnete Klimawirkung für einen Flugreisenden beträgt 1.104 kg. Im Vergleich dazu führt ein- Jahr Autofahren (Mittelklassewagen, 12.000-km) zu einer Klimawirkung von zwei Tonnen [2]. Gewichtet mit der Passagierzahl des Jahres 2019 handelt es sich mit insgesamt 68,7 Tsd. Einsteigern um die Strecke mit der größten Klimawirkung im Bremer Flugplan. Die Klimawirkung von insgesamt 75.843 Tonnen entspricht ca. 38.000 Jahren Autofahren mit der genannten Fahrzeugklasse und Fahrleistung. Neben den Kohlendioxidemissionen werden weitere Schadstoffe bei der Emissionsberechnung berücksichtigt und in CO 2 - Äquivalente umgerechnet. Die CO 2 -Emissionen werden über den Treibstoffverbrauch eines Flugzeugs auf einem bestimmten Flug berechnet und dann durch die Anzahl der Passagiere geteilt, wobei vorher die Beiladefracht abgezogen wird. Andere Schadstoffe und deren Erwärmungswirkung etwa über Kondensstreifen und Ozonbildung werden von [2] so berücksichtigt, dass alle CO 2 - Emissionen, die in Flughöhen über 9 km erfolgen, mit dem Faktor 3 multipliziert werden. CO 2 -Emissionen in Höhen unter 9 km erhalten dagegen keinen Aufschlagsfaktor. Atmosfair setzt grundsätzlich einen Preis von 23 EUR pro Tonne CO 2 an. Das soll der benötigte Betrag sein, um eine Tonne CO 2 in Klimaschutzprojekten einzusparen. Für Kurzstreckenflüge wird ein Mindestbetrag von 10 EUR angesetzt. Der Minimumbetrag gilt für Strecken mit einer Klimawirkung durch CO 2 -Emissionen und Nicht-CO 2 -Emissionen (in CO 2 -Äquivalenten) von weniger als 435 kg CO 2 für Hin- und Rückflug. Bild 1 zeigt den Zusammenhang zwischen Klimawirkung und Kompensationsbetrag pro Einsteiger für alle 41 Ziele, die im Jahr 2019 nonstop mit einem Linienflug ab dem Flughafen Bremen erreichbar waren. Ein Vergleichsmaßstab für den Atmosfair-Kompensationsbetrag von 23 EUR pro Tonne CO 2 ist der Zertifikatspreis für eine Tonne CO 2 im europäischen Emissionshandel (EU-ETS). Aufgrund der Corona-Krise lag der Zertifikatspreis im März 2020 bei ca. 15 EUR, im November 2020 bei ca. 25-EUR und ist zwischenzeitlich auf ein Allzeithoch von über 40 EUR gestiegen. Für die Marktteilnehmer scheint also die erwartete Knappheit an Zertifikaten und nicht mehr die Corona-Krise im Vordergrund zu stehen. Aus deutscher Perspektive ist ein weiterer Vergleichsmaßstab für den Atmosfair-Kompensationsbetrag die seit dem 1. Januar 2021 eingeführte CO 2 -Steuer von 25 EUR pro Tonne CO 2 , die in den 1 Flugreisender, Bremen (BRE) - Istanbul-Atatürk (IST), Hin- und Rückflug Flugdistanz 4.072 km Maximale Flughöhe 12.500 m CO 2 -Emissionen 404 kg Klimawirkung durch Nicht-CO₂-Emissionen (in CO₂-Äquivalenten) 700 kg Klimawirkung insgesamt 1.104 kg Kompensationsbetrag 26 EUR Tabelle 1: Beispielberechnung Emissionen und Klimakosten 3 Neben den Kohlendioxidemissionen werden weitere Schadstoffe bei der Emissionsberechnung berücksichtigt und in CO₂-Äquivalente umgerechnet. Die CO₂-Emissionen werden über den Treibstoffverbrauch eines Flugzeugs auf einem bestimmten Flug berechnet und dann durch die Anzahl der Passagiere geteilt, wobei vorher die Beiladefracht abgezogen wird. Andere Schadstoffe und deren Erwärmungswirkung etwa über Kondensstreifen und Ozonbildung werden von [2] so berücksichtigt, dass alle CO 2 - Emissionen, die in Flughöhen über 9 km erfolgen, mit dem Faktor 3 multipliziert werden. CO 2 -Emissionen in Höhen unter 9 km erhalten dagegen keinen Aufschlagsfaktor. Atmosfair setzt grundsätzlich einen Preis von 23 pro Tonne CO 2 an. Das soll der benötigte Betrag sein, um eine Tonne CO₂ in Klimaschutzprojekten einzusparen. Für Kurzstreckenflüge wird ein Mindestbetrag von 10 angesetzt. Der Minimumbetrag gilt für Strecken mit einer Klimawirkung durch CO 2 -Emissionen und Nicht-CO₂-Emissionen (in CO₂-Äquivalenten) von weniger als 435 kg CO₂ für Hin- und Rückflug. Bild 1 zeigt den Zusammenhang für zwischen Klimawirkung und Kompensationsbetrag pro Einsteiger für alle 41 Ziele, die im Jahr 2019 nonstop mit einem Linienflug ab dem Flughafen Bremen erreichbar waren. Bild 1: Kompensationsbetrag (in ) und Klimawirkung (CO 2 -Äquivalente in kg). Ein Vergleichsmaßstab für den Atmosfair-Kompensationsbetrag von 23 pro Tonne CO 2 ist der Zertifikatspreis für eine Tonne CO 2 im europäischen Emissionshandel (EU-ETS). Aufgrund der Corona-Krise lag der Zertifikatspreis im März 2020 bei ca. 15 , im November 2020 bei ca. 25 und ist zwischenzeitlich (Stand: Anfang März 2021) auf ein Allzeithoch von über 40 gestiegen. Für die Marktteilnehmer scheint also die erwartete Knappheit an Zertifikaten und nicht mehr die Corona-Krise im Vordergrund zu stehen. Aus deutscher Perspektive ist ein weiterer Vergleichsmaßstab für den Atmosfair-Kompensationsbetrag die seit dem 1. Januar 2021 eingeführte CO 2 -Steuer von 25 pro Tonne CO 2 , die in den nächsten Jahren schrittweise auf 55 im Jahr 2025 steigt. Der Atmosfair-Kompensationsbetrag pro Tonne CO 2 wirkt demnach niedriger als der aktuelle Preis für eine Tonne CO 2 im europäischen Emissionshandel bzw. als die zum Jahresanfang Bild 1: Kompensationsbetrag (in EUR) und Klimawirkung (CO 2 -Äquivalente in kg) Quelle: eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 48 MOBILITÄT Umweltbelastung nächsten Jahren schrittweise auf 55 EUR im Jahr 2025 steigt. Der Atmosfair-Kompensationsbetrag pro Tonne CO 2 wirkt demnach niedriger als der aktuelle Preis für eine Tonne CO 2 im europäischen Emissionshandel bzw. als die zum Jahresanfang 2021 in Deutschland eingeführte CO 2 -Steuer. Jedoch werden auch Nicht-CO 2 -Emissionen in den passagierbezogenen Kompensationsbeträgen berücksichtigt. Bezogen auf die Linienflüge am Flughafen Bremen im Jahr 2019 ist eine Tonne CO 2 im Durchschnitt aller Einsteiger zusätzlich mit 1,38 Tonnen CO 2 -Äquivalenten durch Nicht-CO 2 -Emissionen verknüpft. Der durchschnittliche passagierbezogene Kompensationsbetrag, pro Tonne CO 2 beträgt somit insgesamt knapp 63 EUR. Wie Bild 2 zeigt, liegt die monetäre Gesamtbewertung der Klimawirkung damit über der für das Jahr 2025 vorgesehenen CO 2 - Steuer von 55 EUR pro Tonne CO 2 . Für innerdeutsche Flüge nennt Atmosfair keine Kompensationsbeträge mit dem Hinweis auf alternative Bahnverbindungen. Bei der Berechnung der Klimakosten wird daher der Minimumbetrag von 10 EUR pro Einsteiger angesetzt, den Atmosfair bei kurzen Flugstrecken ins europäische Ausland verwendet. Ergebnisse Für die innerdeutschen Strecken ab Bremen liegt die Klimawirkung (CO 2 und Nicht-CO 2 ) für Hin- und Rückflug bei 362-kg (München, MUC), 352 kg (Stuttgart, STR) und 202 kg (Frankfurt, FRA). Mit dem Minimumbetrag von 10 EUR pro Einsteiger liegt die monetär bewertete Klimawirkung pro Tonne Emissionen (CO 2 - und Nicht- CO 2 ) somit bei 27,6 EUR (MUC), 28,4 EUR STR) und 49,5 EUR (FRA) und ausschließlich auf die CO 2 -Emissionen bezogen bei 58,1 EUR (MUC), 56,8 EUR (STR) und 75,8-EUR (FRA). Bild 3 veranschaulicht den Zusammenhang für die drei innerdeutschen Strecken und die weiteren Top-10-Flugziele des Flughafens Bremen im Jahr 2019 nach angebotenen Sitzen. Wenn die Säule „CO 2 - und Nicht-CO 2 “ deutlich über 23 EUR liegt, d. h. nicht wie bei Istanbul (IST) mit 24 EUR ein Ergebnis gerundeter Zahlen ist, handelt es sich um Kurzstreckenziele, bei denen der Minimumbetrag von 10 EUR unabhängig von den Emissionen greift. Bei den entfernteren Zielen Istanbul (IST), Mallorca (PMI) und Malaga (AGP) beruht ein relativ großer Anteil der monetär bewerteten Klimawirkung auf Kondensstreifen und Ozonbildung, d. h. auf Nicht-CO 2 -Emissionen, die in CO 2 -Äquivalente umgerechnet wurden. Nr. Flugziel Airline Einsteiger (Tsd.) Klimawirkung pro Einsteiger (kg) Klimakosten CO 2 Non-CO 2 Summe Pro Einsteiger (EUR) Strecke (Mio. EUR) 1 München (MUC) LH 206,8 172 190 362 10 2,07 2 Frankfurt (FRA) LH 150,7 132 70 202 10 1,51 3 Stuttgart (STR) EW 84,5 176 176 352 10 0,84 4 London (STN) FR 93,4 174 199 373 10 0,93 5 Amsterdam (AMS) KL 86,2 142 38 180 10 0,86 6 Istanbul (IST) TK 68,7 404 700 1.104 26 1,79 7 Mallorca (PMI EW, FR 74,7 258 432 690 16 1,19 8 Zürich (ZRH) LX 40,3 178 212 390 10 0,40 9 Paris (CDG) AF 33,6 204 242 446 11 0,37 10 Malaga (AGP) FR 29,1 421 734 1.155 27 0,79 … … ... ... ... ... ... ... ... 41 Kiev (IEV) W6 0,5 335 554 889 21 0,01 Summe 1.142,7 17,25 Tabelle 2: Klimakosten des Flughafens Bremen 2019 4 2021 in Deutschland eingeführte CO 2 -Steuer. Jedoch werden auch Nicht-CO 2 -Emissionen in den passagierbezogenen Kompensationsbeträgen berücksichtigt. Bezogen auf die Linienflüge am Flughafen Bremen im Jahr 2019 ist eine Tonne CO₂ im Durchschnitt aller Einsteiger zusätzlich mit 1,38 Tonnen CO 2 -Äquivalenten durch Nicht-CO 2 -Emissionen verknüpft. Der durchschnittliche passagierbezogene Kompensationsbetrag, pro Tonne CO 2 beträgt somit insgesamt knapp 63 €. Wie Bild 2 zeigt, liegt die monetäre Gesamtbewertung der Klimawirkung damit über der für das Jahr 2025 vorgesehenen CO 2 -Steuer von 55 € pro Tonne CO 2 . Bild 2: Atmosfair-Kompensationsbetrag, EU-ETS-Zertifikatspreis und CO 2 -Steuer (in €) für eine Tonne CO 2 im Vergleich. Für innerdeutsche Flüge nennt Atmosfair keine Kompensationsbeträge mit dem Hinweis auf alternative Bahnverbindungen. Bei der Berechnung der Klimakosten wird daher der Minimumbetrag von 10 € pro Einsteiger angesetzt, den Atmosfair bei kurzen Flugstrecken ins europäische Ausland verwendet. Ergebnisse Für die innerdeutschen Strecken ab Bremen liegt die Klimawirkung (CO 2 und Nicht-CO 2 ) für Hin- und Rückflug bei 362 kg (München, MUC), 352 kg (Stuttgart, STR) und 202 kg (Frankfurt, FRA). Mit dem Minimumbetrag von 10 € pro Einsteiger liegt die monetär bewertete Klimawirkung pro Tonne Emissionen (CO₂- und Nicht-CO 2 ) somit bei 27,6 € (MUC), 28,4 € (STR) und 49,5 € (FRA) und ausschließlich auf die CO 2 -Emissionen bezogen bei 58,1 € (MUC), 56,8 € (STR) und 75,8 € (FRA). Bild 3 veranschaulicht den Zusammenhang für die drei innerdeutschen Strecken und die weiteren Top 10-Flugziele des Flughafens Bremen im Jahr 2019 nach angebotenen Sitzen. Wenn die Säule „CO₂- und Nicht-CO2“ deutlich über 23 € liegt, d.h. nicht wie bei Istanbul (IST) mit 24 € ein Ergebnis gerundeter Zahlen ist, handelt es sich um Kurzstreckenziele, bei denen der Minimumbetrag von 10 € unabhängig von den Emissionen greift. Bei den entfernteren Zielen Istanbul (IST), Mallorca (PMI) und Malaga (AGP) beruht ein relativ großer Anteil der monetär bewerteten Klimawirkung auf Bild 2: Atmosfair-Kompensationsbetrag, EU-ETS-Zertifikatspreis und CO 2 -Steuer (in EUR) für eine Tonne CO 2 im Vergleich Quelle: eigene Darstellung 5 Kondensstreifen, Ozonbildung, d.h. auf Nicht-CO 2 -Emissionen, die in CO 2 -Äquivalente umgerechnet wurden. Bild 3: Monetär bewertete Klimawirkung pro Tonne CO 2 der Top 10-Flugziele des Flughafens Bremen. Für innerdeutsche Flüge werden also deutlich höhere Klimakosten als 23 € pro Tonne CO 2 zugrunde gelegt. Obwohl bei innerdeutschen Flügen die Emissionen vor allem in Höhen unter 9 km erfolgen, sind deren Klimakosten in der Größenordnung mit dem durchschnittlichen passagierbezogenen Kompensationsbetrag von knapp 63 € pro Tonne CO 2 für alle Linienflüge am Flughafen Bremen im Jahr 2019 vergleichbar. Erst bei der 674 km langen Flugstrecke von Bremen nach Paris (CDG) führt die Klimawirkung von insgesamt 446 kg CO₂ multipliziert mit 23 € pro Tonne CO₂ aufgerundet zu einem Betrag von 11 €, der knapp über dem Minimum von 10 € liegt. Der höchste Kompensationsbetrag von 43 € errechnet sich für das ägyptische Reiseziel Hurghada (HRG) mit einer Klimawirkung pro Einsteiger von 1.840 kg CO₂ (Hin- und Rückflug). Die einfache Flugdistanz der Strecke von Bremen nach Hurghada beträgt 3.594 km. Für die 647 kg CO 2 -Emissionen (d.h. ohne Nicht- CO 2 -Emissionen) auf dieser Strecke ergibt sich eine Belastung von 66,5 € pro Tonne CO₂. Der Linienluftverkehr am Flughafen Bremen war im Jahr 2019 mit einer Klimawirkung von 654,0 Tsd. Tonnen Emissionen verbunden, davon 274,9 Tsd. Tonnen CO 2 -Emissionen und 379,1 Tsd. Tonnen Nicht-CO₂-Emissionen (in CO₂-Äquivalenten). Tabelle 2 zeigt zusammenfassend die Klimakosten bzw. die monetäre Bewertung der Klimawirkungen. Der Linienluftverkehr am Flughafen Bremen hat im Jahr 2019 demnach 17,25 Mio. € Klimakosten verursacht. Davon entfallen 10,75 Mio. oder ca. 62% auf die Top 10-Flugziele des Flughafens. Bei insgesamt 1.142,7 Tsd. Einsteigern liegen die durchschnittlichen Klimakosten pro Einsteiger (= Reisender mit Hin- und Rückflug) bei 15 €. Als Großluftfahrt werden hier die Verkehrssegmente Linien-, Touristik- und Low-cost- Verkehr mit Passagieren zusammengefasst. Im Jahr 2019 wurden 21,7 Tsd. Flugbewegungen (Starts/ Landungen) in der Großluftfahrt am Flughafen Bremen gezählt. Davon waren 21,3 Tsd. Flugbewegungen (98,2%) in der Flugplandatenbank [5] hinterlegt und wurden bei der Bild 3: Monetär bewertete Klimawirkung pro Tonne CO 2 der Top 10- Flugziele des Flughafens Bremen Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 49 Umweltbelastung MOBILITÄT Für innerdeutsche Flüge werden also deutlich höhere Klimakosten als 23 EUR pro Tonne CO 2 zugrunde gelegt. Obwohl bei innerdeutschen Flügen die Emissionen vor allem in Höhen unter 9 km erfolgen, sind deren Klimakosten in der Größenordnung mit dem durchschnittlichen passagierbezogenen Kompensationsbetrag von knapp 63- EUR pro Tonne CO 2 für alle Linienflüge am Flughafen Bremen im Jahr 2019 vergleichbar. Erst bei der 674 km langen Flugstrecke von Bremen nach Paris (CDG) führt die Klimawirkung von insgesamt 446 kg CO 2 multipliziert mit 23 EUR pro Tonne CO 2 aufgerundet zu einem Betrag von 11 EUR, der knapp über dem Minimum von 10 EUR liegt. Der höchste Kompensationsbetrag von 43 EUR errechnet sich für das ägyptische Reiseziel Hurghada (HRG) mit einer Klimawirkung pro Einsteiger von 1.840 kg CO 2 (Hin- und Rückflug). Die einfache Flugdistanz der Strecke von Bremen nach Hurghada beträgt 3.594 km. Für die 647 kg CO 2 -Emissionen (d. h. ohne Nicht-CO 2 - Emissionen) auf dieser Strecke ergibt sich eine Belastung von 66,5 EUR pro Tonne CO 2 . Der Linienluftverkehr am Flughafen Bremen war im Jahr 2019 mit einer Klimawirkung von 654,0 Tsd. Tonnen Emissionen verbunden, davon 274,9 Tsd. Tonnen CO 2 - Emissionen und 379,1 Tsd. Tonnen Nicht- CO 2 -Emissionen (in CO 2 -Äquivalenten). Tabelle 2 zeigt zusammenfassend die Klimakosten bzw. die monetäre Bewertung der Klimawirkungen. Der Linienluftverkehr am Flughafen Bremen hat im Jahr 2019 demnach 17,25 Mio. EUR Klimakosten verursacht. Davon entfallen 10,75 Mio. oder ca. 62 % auf die Top-10-Flugziele des Flughafens. Bei insgesamt 1.142,7 Tsd. Einsteigern liegen die durchschnittlichen Klimakosten pro Einsteiger (= Reisender mit Hin- und Rückflug) bei 15 EUR. Als Großluftfahrt werden hier die Verkehrssegmente Linien-, Touristik- und Low-cost-Verkehr mit Passagieren zusammengefasst. Im Jahr 2019 wurden 21,7 Tsd. Flugbewegungen (Starts/ Landungen) in der Großluftfahrt am Flughafen Bremen gezählt. Davon waren 21,3 Tsd. Flugbewegungen (98,2 %) in der Flugplandatenbank [5] hinterlegt und wurden bei der Schätzung der Klimawirkung des Linienluftverkehrs des Flughafens ausgewertet. Die Division der gesamten Klimakosten von 17,25 Mio. EUR durch 21,3 Tsd. Flugbewegungen ergibt durchschnittlich ca. 800 EUR Klimakosten pro Flugbewegung. Die Klimakosten pro Flugbewegung variieren stark mit der jeweiligen Flugdistanz. So verursacht das Reiseziel Istanbul Klimakosten in Höhe von 1,79 Mio. EUR bei ca. 1,1 Tsd. Flugbewegungen, d. h. durchschnittliche Klimakosten von ca. 1.600 EUR pro Flugbewegung. Für eine aus Hin- und Rückflug bestehende Reise sind die genannten Klimakosten pro Flugbewegung zu verdoppeln. Das Aufkommen von rund 2,3 Mio. Passagieren am Flughafen Bremen im Jahr 2019 entspricht 1,15 Mio. Einsteigern. Für diese Zahl an Einsteigern hat [3] die Klimabelastung bei Annahme von Hin- und Rückflug pro Einsteiger kalkuliert. Das Ergebnis sind CO 2 -Emissionen von 235,8 Tsd. Tonnen und eine Erwärmungswirkung durch andere Schadstoffe in großer Höhe mit CO 2 -äquivalenten Emissionen von 544,0 Tsd. Tonnen, insgesamt eine Klimawirkung von 779,8 Tsd. Tonnen. Die Schätzung der Klimawirkung von [3] liegt trotz einer grundsätzlich vergleichbaren Vorgehensweise damit um immerhin 19,2 % über der Schätzung in diesem Beitrag von 654,0 Tsd. Tonnen. Die Abweichung beruht darauf, dass die Einsteiger hier nach dem Streckenziel ab Bremen erfasst sind, bei [3] dagegen - das wird dort allerdings nicht klar beschrieben - nach dem letztbekannten Ziel. Während es z. B. 86.230 Einsteiger für das Streckenziel Amsterdam - einem der großen Umsteigeflughäfen Europas - ab dem Startflughafen Bremen gab, lag bei Amsterdam als letztbekanntem Ziel die Zahl der Einsteiger lediglich bei 7.741 [6]. Für Asien als Streckenziel - hier gibt es kein Nonstop- Linienflugangebot ab Bremen - werden lediglich vier Einsteiger ausgewiesen, jedoch 57.437 beim letztbekannten Flugziel [6]. Tendenziell führt eine Zuordnung nach dem letztbekannten Flugziel also zu längeren Reisedistanzen und damit zu höheren Klimawirkungen. Dem Ansatz einer Zählung der Einsteiger nach dem letztbekannten Flugziel wird hier nicht gefolgt, da die gesamte Klimawirkung einer Flugreise von Bremen nach Asien die Nutzung eines Umsteigeflughafens wie z. B. Amsterdam voraussetzt. Die mit beiden Flughäfen verknüpfte Klimawirkung sollte nicht alleine einem Flughafen zugeordnet werden. Es sei ergänzend nochmals erwähnt, dass in der vorliegenden Untersuchung keine Verrechnung mit gegenläufig wirkenden Klimakosten durch Verkehrsverlagerung auf andere Flughäfen und/ oder Nutzung anderer Verkehrsträger erfolgt. Diese Bruttobetrachtung führt zu höheren Klimakosten als es bei einer Nettobetrachtung der Fall sein würde. Fazit Insgesamt war der Linienluftverkehr am Flughafen Bremen im Jahr 2019 mit einer Klimawirkung von 654,0 Tsd. Tonnen Emissionen verbunden, davon 274,9 Tsd. Tonnen CO 2 -Emissionen und 379,1 Tsd. Tonnen Nicht-CO 2 -Emissionen (in CO 2 -Äquivalenten). Eine Tonne CO 2 ist also im Durchschnitt aller Einsteiger zusätzlich mit 1,38-Tonnen CO 2 -Äquivalenten durch Nicht- CO 2 -Emissionen wie Kondensstreifen und Ozonbildung verknüpft. Der in diesem Beitrag bei der Berechnung der Klimakosten verwendete durchschnittliche passagierbezogene Kompensationsbetrag liegt bei knapp 63 EUR pro Tonne CO 2 . Der gesamte Linienluftverkehr des Flughafens Bremen hat dadurch 17,25-Mio. EUR Klimakosten verursacht. Bei insgesamt 1.142,7 Tsd. erfassten Einsteigern sind das durchschnittliche Klimakosten von 15 EUR pro Einsteiger (= Reisender mit Hin- und Rückflug). Bezogen auf ausgewertete 21,3 Tsd. Flugbewegungen im Linienluftverkehr am Flughafen Bremen resultieren pro Flugbewegung durchschnittlich etwa 800-EUR Klimakosten. ■ QUELLEN [1] Umweltbundesamt (2020): Further development of the EU ETS for aviation against the background of the introduction of a global market-based measure by ICAO, Final report, Dessau-Roßlau. [2] Atmosfair (2016): atmosfair Flug-Emissionsrechner. Dokumentation der Methode und Daten, Berlin. [3] Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) (2020): Regionalflughäfen - Ökono-misch und klimapolitisch unverantwortliche Subventionen, Berlin, S. 19. [4] DIW Econ (2015): Grundlagenermittlung für ein Luftverkehrskonzept der Bundesregierung, Schlussbericht, Berlin, Karlsruhe, Hamburg, Frankfurt, Darmstadt und Ottobrunn, S. 70. [5] OAG Official Airline Guide (2020): Weltweiter Flugplan, fortlaufend aktualisierte Flug-plandatenbank. [6] Statistisches Bundesamt (Destatis) (2020): Fachserie 8, Reihe 6.1 Luftverkehr auf Hauptverkehrsflughäfen 2019, Wiesbaden, Februar 2020. Richard Klophaus, Prof. Dr. Studiengangsleitung Aviation Management, Fachbereich Touristik/ Verkehrswesen, Hochschule Worms klophaus@hs-worms.de Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 50 Die Idee von Nabe und Speiche Nissan-Projekt in Japan soll urbane Mobilität und Energieversorgung stärken Mobility as a Service, Rufbus, Energiespeicher, Elektromobilität Nissan und seine Projektpartner erproben in der von Erdbeben und Tsunami getroffenen Präfektur Fukushima nördlich von Tokyo ein Konzept, das neue Wege für innovative Mobilität, umweltfreundliche Energieversorgung und besseres soziales Zusammenleben gleichermaßen weisen soll. I n der Stadt der Zukunft könnte ein Konzept an Bedeutung gewinnen, das „Nabe und Speiche“ genannt wird: Denn was sich hinter diesem Begriff verbirgt, bringt nicht nur die Menschen in der Stadt in Bewegung, sondern zeigt auch neue Wege für eine stabile und umweltfreundliche Energieversorgung auf. Teil dieses Projekts, das von Fahrzeughersteller Nissan und sieben weiteren Projektpartnern durchgeführt wird, ist ein ausgeklügeltes Transportsystem in Kombination mit Technologien, die durch Integration von Elektrofahrzeugen und ihren Batterien die Stromversorgung resilienter machen sollen - speziell in Ausnahmesituationen wie Naturkatastrophen. Wiederaufbau mit innovativen Ideen Die Wahl der Projektregion geschah aus guten Gründen: Im März 2011 wurde die Küstenstadt Namie von Erdbeben und Tsunami schwer getroffen und daraufhin evakuiert. „Dieses Projekt ist einzigartig“, sagte Nissan-CEO Makoto Uchida kürzlich anlässlich des Starts. „Wir wollen nicht nur den Wiederaufbau der betroffenen Region unterstützen, sondern auch das Leben der Menschen bereichern.“ So sollen Innovationen eine zentrale Rolle bei der Revitalisierung der Stadt spielen. Zum Beispiel ist Namie seit dem Jahr 2018 auch Standort eines neuen Nissan-Werks, in dem das Partnerunternehmen 4R Energy gebrauchte Batterien aus Elektrofahrzeugen für ein „zweites Leben“ recycelt. Das neue Projekt ist freilich breiter angelegt und umfasst zahlreiche Aktivitäten. Vier Aspekte sind besonders wichtig: • die Einführung von Mobilitätsdiensten, um die Menschen mobil zu halten, • der Einsatz erneuerbarer Energien, um CO 2 -Emissionen zu reduzieren, • eine stabile „grüne“ Energieversorgung für die Gemeinden und • eine höhere Widerstandsfähigkeit gegen die Folgen von Naturkatastrophen. Wo ein Rad ist, ist auch ein Weg In vielen kleineren Städten, in Japan und anderswo auf der Welt, schrumpft und altert die Bevölkerung, weil immer mehr junge Leute in größere Städte ziehen. Dies wirkt sich auch auf den öffentlichen Nahverkehr aus: Weil immer weniger Menschen Busse und Bahnen nutzen, werden in vielen Teilen der Welt immer mehr regionale Verbindungen stillgelegt. Nach dem Tsunami von 2011 und seinen Folgen baut Namie sein Nahverkehrsnetz nun neu auf: für Menschen, die nach Hause zurückkehren, und für neue Besucher. Dabei werden auch Bevölkerungs- Trends und Altersdynamik berücksichtigt. Übliche Shuttle-Dienste bringen die Fahrgäste zwar von Tür zu Tür, doch dafür Alle Abbildungen: Nissan MOBILITÄT Innovation Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 51 Innovation MOBILITÄT braucht man viele Fahrzeuge und viele Fahrer. Das ist teuer und mitunter schwierig zu organisieren. Das „Nabe und Speiche“-System dagegen bietet Menschen in Städten wie Namie eine völlig neue Art, unterwegs zu sein. Wie bei einem Speichenrad befindet sich in der Mitte eine zentrale Fahrzeugstation, gewissermaßen die Nabe des Rades. Von hier aus führen kürzere Routen - die Speichen - zu Wohnquartieren, Firmen oder Geschäften. Die Naben mehrerer solcher Räder werden dann durch Shuttle- Services mit Elektro-Minibussen verbunden (Bild 1). Die Nutzer können Fahrten entlang der Speichen buchen - schnell und einfach per Smartphone-App - und dann per Shuttle von einer Nabe zur anderen wechseln, um sich durch die Stadt zu bewegen. Komfortabel ist ein so organisierter Mobilitätsdienst für praktisch alle Nutzer: ältere Einwohner, die in der Stadt shoppen gehen wollen, Geschäftsreisende auf dem Weg zu einem Meeting oder Touristen beim Sightseeing. Genau dieses Konzept wird derzeit im Rahmen des Gesamtprojekts in Namie erprobt - und stößt bei den Nutzern durchweg auf positive Resonanz: „Ich brauchte keine Reservierung zu machen, sondern stand einfach nur an einer digitalen Bushaltestelle, als ein Auto vorbeikam“, berichtet ein Teilnehmer (Bild 2). „Ich glaube, dass so ein intelligentes Mobilitätssystem es den Menschen in Namie ermöglichen würde, sorgenfrei ihrem täglichen Leben nachzugehen.“ Energieversorgung - umweltfreundlich und stabil Einen Schritt weitergedacht: Können diese Elektrofahrzeuge vielleicht auch dazu beitragen, eine umweltfreundliche und zugleich sichere Energieversorgung für die Einwohner sicherzustellen? Um den Klimawandel zu bekämpfen und die CO 2 -Emissionen zu senken, spielen Erneuerbare Energien wie Sonne und Wind eine zentrale Rolle. Doch die Energieproduktion hängt bei diesen Quellen eben von äußeren Umständen ab und ist daher unregelmäßig. Es kommt nun darauf an, Angebot und Nachfrage möglichst ins richtige Gleichgewicht zu bringen. Batterien von Elektrofahrzeugen können mit derartigen, häufig wechselnden Nachfragebedingungen gut umgehen. Denn sie sind darauf ausgelegt, beim Beschleunigen und Bremsen hohe Mengen von Elektrizität praktisch verzögerungsfrei abzugeben und wieder zu speichern. Mit anderen Worten: Sie können Energie speichern, wenn sie gerade nicht benötigt wird oder im Überfluss vorhanden ist, und den Stromfluss zu regeln. Sie können bei Nacht geladen werden, wenn die Nachfrage gering ist, und diese Energie zurückspeisen, wenn die Nachfrage hoch ist (Bild 3). Die Second-Life-Batterien können ein Lebensmittelgeschäft, einen Straßenzug oder ein Stadion mit Energie versorgen. Auf diese Weise wurden beispielsweise Akkus des Nissan Leaf bereits für die Stromversorgung von Gebäuden in Katastrophengebieten genutzt. Diese Art von Energiemanagement kann aber auch Kommunen dabei helfen, Angebot und Nachfrage auszugleichen und Nachfragespitzen zu bewältigen. Über das Rad hinaus denken Dank maßgenauer Shuttle-Services und Energiemanagement-Systeme sind Elektroautos bei diesem Projekt nicht mehr nur Transportmittel: Sie werden zu Treibern für eine Neubelebung von Stadt und Gesellschaft. „Durch unsere Teilnahme an dem Projekt tragen wir mit Hilfe unserer Technologie dazu bei, dass das Leben in der Stadt angenehmer wird“, sagt Kunio Nakaguro, Executive Vice President, Global Research and Development, bei Nissan. „Dadurch bringen wir Menschen von außerhalb zurück in die Stadt, vor allem auch jene, die vor der Katastrophe hier gelebt haben. Mit diesem Projekt wollen wir nicht nur Mobilitätsdienste mit automatisiertem Fahren und anderen Technologien aufbauen, sondern auch ein Ökosystem mit recycelten Elektroauto-Batterien. Und wir möchten zusammen mit den Menschen vor Ort eine Gemeinschaft aufbauen, die auf diesem Ökosystem basiert.“ Mit anderen Worten: Beim Projekt in Namie geht es um mehr als um die Bewältigung einer lokalen Herausforderung. Es könnte zeigen, wie Innovationen die Gesellschaft in eine CO 2 -arme und letztlich CO 2 freie Zukunft führen können. www.nissan.de / ae / red ■ Hour Power demand Discharge EV to reduce peak Charging EV at night Baseline power (Thermal, etc.) Reusable energy (Solar, wind, etc.) Hour Power generated Adjust by charging/ discharging EV batteries Bild 3: Wechselnde Nachfragebedingungen ausgleichen mit Second-Life-Batteriespeichern Bild 1: Das Nabe-und-Speiche-Prinzip Bild 2: Bushaltestelle des Nabe-und-Speiche-Projekts Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 52 Ergibt Mikromobilität Sinn? Mikromobilität - was in der „Micromobility Community“ die Glückhormone stimuliert und Adrenalinschübe auslöst, stärkt bei anderen Abschätzigkeit: Sollen die ruhig mit ihren Spielzeugen hantieren, ich kümmere mich um die richtige Mobilität. Also was jetzt? - Ein Blick auf Begrifflichkeiten und Bedeutungen von Konrad Otto-Zimmermann, Stadt- und Umweltplaner in Freiburg im Breisgau. D er Begriff „Mikromobilität“ ist nicht neu, aber seine Benutzung nahm in den vergangenen Jahren an Fahrt auf. Vor zwei Jahren kam rund um die Zulassung von Elektrotretrollern ein Mikromobilitäts-Hype auf, und das Bundesverkehrsministerium erklärte: „Wenn wir über Mikromobilität sprechen, sprechen wir über kleinere Fahrzeuge mit elektrischem Antrieb, wie z. B. elektrische Tretroller und Segways. Diese werden unter dem Oberbegriff „Elektrokleinstfahrzeuge“ zusammengefasst.“ 1 Neue Batterie-, Motoren- und Steuerungstechnik hatte es erlaubt, Produkte wie Hovershoes, Hoverboards und Tretroller mit motorischem Antrieb zu versehen. Die Bundesregierung erließ die Elektrokleinstfahrzeugeverordnung, um Elektrotretroller-Vermietern den Weg in die Städte zu ebnen. Im Jahr 2019 brachte der Industrie-Analyst Horace Dediu viele Akteure rund um kleine, leichte Fahrzeuge zusammen und machte „micromobility“ international populär. Er definierte Mikromobilität als geteilte Fahrzeuge mit bis zum 500 kg Gewicht. 2 Definitionen des Begriffs haben auch Fraunhofer-Institute 3,4,5 , DLR 6 , OECD- ITF 7 und zahlreiche Protagonisten der Mikromobilität beigesteuert. Dabei schließen einige Definitionen nur elektrisch betriebene Fahrzeuge bzw. nur geteilte Fahrzeuge ein, andere sprechen von einer Gewichtsgrenze von 750 kg oder reichen bis hin zur Einbeziehung von kleinen Elektroautos. Templeton 8 hat vorgeschlagen, zwischen Rollern und dem Auto eine „Minimobilität“ anzusiedeln; ihre bekanntesten Vertreter wären Renault Twizzy und Toyota iRoad. Dieser Begriff hat sich aber nicht verbreitet. Eine einheitliche und allgemein anerkannte Definition von „Mikromobilität“ gibt es bislang nicht. Drei Quellen von Definitionen für Mikromobilität sind zu finden: rechtliche Kategorisierungen in EU-, nationalen und Ländervorschriften, technische Definitionen durch Industrieverbände, wissenschaftlich-technische Organisationen und Beratungsfirmen sowie Beschreibungen in der PR der Protagonisten aus der Mikromobilitätsszene. Als der Begriff micromobility im angelsächsischen Raum Fuß fasste, muss er wohl vom amerikanischen Maßstab und der Neigung zu maßlosen Übertreibungen geprägt worden sein. Geht man vom Drei-Tonnen-Pickup aus, dann erscheint ein Elektrotretroller daneben tatsächlich winzig - aber „mikro“? Mikro ist 10 -6 , also ein Millionstel, Mikro-Mobilität also der millionste Teil von Mobilität. Was aber ist die Urmobilität? Wäre es falsch, vom Menschen als Maß auszugehen? Leichte Elektro-Tretroller wiegen ein Zehntel des Gewichts eines durchschnittlichen Erwachsenen. Bewegung mit solch einem E-Scooter wäre Dezi- Mobilität. Auf der Suche nach einem Bewegungsmittel für Zenti- Mobilität fallen Hovershoes, die vermeintlich kleinsten Verkehrsmittel, mit über 3 kg pro Schuh bereits aus, aber die leichtesten Holzroller für Kinder von zwei bis fünf Jahren reichen in diese Ge- Foto: Unsplash MOBILITÄT Standpunkt Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 53 Standpunkt MOBILITÄT wichtsklasse hinein. Bewegungsmittel für Milli-Mobilität mit rund 80 g sind beispielsweise „Po-Rutscher“, bei Kindern beliebt als Schlittenersatz. Mikromobilität hieße aber ein nochmals tausendfach geringeres Gewicht, also etwa ein Zehntel Gramm. Da fällt mir nichts mehr ein, mit dem sich ein Mensch bewegen könnte, wenn doch schon ein Blatt Papier 5 g wiegt. Selbst eine Ameise als Reittier wäre schwerer. Anders betrachtet: Wer ein 40-kg-Lastenrad als Mikromobilität betrachtet, muss eine Boeing 737-800 als Normalmobilität zum Maßstab nehmen. Soll „Mikromobilität“ vielleicht nur ein Marketingbegriff sein, ein Schlagwort, ein Kampfbegriff im Bemühen um Marktanteile, ein Stempel in der Debatte über nachhaltige Mobilität? Dabei käme es nicht auf die Bedeutung des Begriffs an; es genügte, wenn Assoziationen in die gewünschte Richtung geweckt werden. Doch während sich eine Startup-Community begeistert um den Begriff der Mikromobilität schart, klingt er in den Ohren anderer eher verniedlichend und damit geringschätzend. Er suggeriert eine Spielwiese, die der ernsthaften Mobilität, der Automobilwelt, keinen Abbruch tut. So verwundert es nicht, dass der Fahrradsektor sich der Vereinnahmung durch die Mikromobilisten entzieht. Ebenso wird man den Begriff nicht in der Motorrollerbranche und auch nicht bei Herstellern und Händlern von Rollstühlen, Rollatoren und Seniorenscootern finden. Vermutlich ist das Wort Mikromobilität dennoch nicht mehr wegzubekommen. Zu tief hat es sich in den Sprachgebrauch eingefressen, und es gibt wirtschaftliche Interessen. Die Deutsche Messe veranstaltet seit 2019 die „Micromobility“-Messe, das Schweizer Unternehmen „Micro Mobility Systems Inc.“ hat sich auf elektrische Kleinfahrzeuge spezialisiert und die großen Elektrotretroller-Vermieter haben eine Lobby- Koalition namens „Micromobility for Europe” gegründet. McKinsey berichtete 2019, dass Anteilseigner seit 2015 bereits 5,7- Mrd.- USD in Mikromobilitäts-Startups investiert haben 9 , und im selben Jahr zählte Dediu über 700 Unternehmen in diesem Bereich. 10 Ohne Zweifel brauchen wir einen Begriff, mit dem sich die Feinmobilität mit Fahrzeugen und Mobilitätshilfen im Spektrum „zwischen Schuh und Auto“ benennen lässt. Die Abrüstung im Stadtverkehr auf Verkehrsmittel mit menschlichem Maß, die Abkehr von der Gigantomanie, ist eine wesentliche Komponente der Verkehrswende. Und „fein“ soll der Stadtverkehr der Zukunft ja sein; um mit dem Duden zu sprechen: dezent, klein, zivilisiert, edel, erfreulich, anständig, solide, vorzüglich, erste Wahl … ■ Der Beitrag basiert auf einem umfangreicheren englischen Artikel, der zum Download bereitsteht unter www.iv-dok.de/ 2021/ micromobility.pdf 1 Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur, Elektrokleinstfahrzeuge - Fragen und Antworten, www. bmvi.de/ SharedDocs/ DE/ Artikel/ StV/ Strassenverkehr/ elektrokleinstfahrzeuge-verordnung-faq.html, dokumentiert am 20. April 2020 2 https: / / micromobility.io/ our-team, dokumentiert am 24. März 2021 3 Fraunhofer IML und ivm GmbH, Zukunftsfeld Mikromobile E-Tretroller & Co - Anforderungen und Handlungsmöglichkeiten für Kommunen und kommunale Aufgabenträger in der Region RheinMain. Frankfurt und Prien 2019. From: www.ivm-rheinmain.de/ was-ist-mikromobilitaet/ , documented on 05 April 2020 4 Vargas Díaz, A.; Wagner, N.; Lietz, S.: Zukunftsfeld Mikromobile - Steckbriefe mikromobiler Fahrzeugtypen, Hrsg. Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, IML, Frankfurt o.J. www.ivm-rheinmain.de/ wp-content/ uploads/ 2019/ 06/ 20190625_Steckbriefe_Mikromobile_V15_ final-ohne-Bilder.pdf , documented on 05 April 2020: 5 Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organization IAO, Mikromobilität - Nutzerbedarfe und Marktpotentiale im Personenverkehr, Stuttgart 2017, p.11 6 Milakis, D.; Gebhardt, L.; Ehebrecht, D.; Lenz. B.: Is micromobility sustainable? An overview of implications for accessibility, air pollution, safety, physical activity and subjective wellbeing. Preprint of contribution in Handbook of Sustainable Transport edited by Curtis, C., Elgar Publishing Ltd., forthcoming 2020, Edward. Source: https: / / elib.dlr. de/ 1 34566/ 1/ Milakis%20et%20al_Micromobility%20 %28Edward%20Elgar%29_Preprint.pdf, documented on 26 March 2021. 7 OECD ITF CPB, Safe Micromobility. Report. Paris 2020 8 Templeton, B. (2019): Between Cars And Micromobility Lies ‚Minimobility‘ - A Self-Driving Transportation Revolution. In: Forbes, 12.08.2019, www.forbes.com/ sites/ bradtempleton/ 2019/ 08/ 12/ between-cars-and-micromobility-liesminimobility-a-self-driving-transportation-revolution, dokumentiert am 11. April 2021 9 McKinsey, Micromobility’s 15,000-mile checkup, 2019. www.mckinsey.com/ industries/ automotive-and-assembly/ our-insights/ micromobilitys-15000-mile-checkup, dokumentiert am 28. März 2021 10 https: / / micromobility.io/ landscape, dokumentiert am 24.-März 2021 Konrad Otto-Zimmermann The Urban Idea, Freiburg konrad@theurbanidea.com IDEEN FÜR DIE STADT VON MORGEN www.transforming-cities.de/ einzelheft-bestellen www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Digitalisierung versus Lebensqualität Big Data | Green Digital Charter | Kritische Infrastrukturen | Privatheit | Sharing-Systeme 1 · 2016 Was macht Städte smart? URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Mit veränderten Bedingungen leben Hochwasserschutz und Hitzevorsorge | Gewässer in der Stadt | Gründach als urbane Klimaanlage |Baubotanik 1 · 2017 Stadtklima URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Lebensmittel und Naturelement Daseinsvorsorge | Hochwasserschutz | Smarte Infrastrukturen | Regenwassermanagement 2 · 2016 Wasser in der Stadt URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Verbrauchen · Sparen · Erzeugen · Verteilen Energiewende = Wärmewende | Speicher | Geothermie | Tarifmodelle | Flexible Netze | Elektromobilität 2 · 2017 Stadt und Energie URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Erlebnisraum - oder Ort zum Anbau von Obst und Gemüse Urban Farming | Dach- und Fassadenbegrünung | Grüne Gleise | Parkgewässer im Klimawandel 3 · 2016 Urbanes Grün URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Die Lebensadern der Stadt - t für die Zukunft? Rohrnetze: von Bestandserhaltung bis Digitalisierung | Funktionen von Bahnhöfen | Kritische Infrastrukturen 4 · 2016 Städtische Infrastrukturen URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Die Vielschichtigkeit von Informationsströmen Smart Cities | Automatisierung | Mobilfunk | Urbane Mobilität | Datenmanagement | Krisenkommunikation 3 · 2017 Urbane Kommunikation URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Angri ssicherheit · Betriebssicherheit · gefühlte Sicherheit IT-Security | Kritische Infrastrukturen | Notfallkommunikation | Kaskadene ekte | Vulnerabilität | Resilienz 4 · 2017 Sicherheit im Stadtraum URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Was macht Städte smart? Soft Data | IT-Security | Klimaresilienz | Energieplanung | Emotionen | Human Smart City | Megatrends 1 · 2018 Die intelligente Stadt URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Energie, Wasser und Mobilität für urbane Regionen Mieterstrom | Solarkataster | Wärmewende | Regenwassermanagement | Abwasserbehandlung | Mobility as a Service 2 · 2018 Versorgung von Städten URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Zunehmende Verdichtung und konkurrierende Nutzungen Straßenraumgestaltung | Spielraum in Städten | Grüne Infrastruktur | Dach- und Fassadenbegrünung | Stadtnatur 3 · 2018 Urbane Räume und Flächen URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Daseinsvorsorge für ein funktionierendes Stadtleben Urbane Sicherheit | Mobilität im Stadtraum | Zuverlässige Wasser- und Energieversorgung | Städtische Infrastruktur 4 · 2018 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Gesund und sicher leben in der Stadt Gesund und sicher leben in der Stadt Innovativer und nachhaltiger Umgang mit knappem Stadtraum Stadtgrün | Gewerbegebiete | Nachkriegsmoderne | Stadt auf Probe | Reverse Innovation | Stadtverkehr 1 · 2019 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Leben und arbeiten in der Stadt Mit der Größe der Städte wachsen auch Risiken und Belastungen Vulnerabilität | Risikowahrnehmung | Prävention | Bürgerbeteiligung | Freiwilliges Engagement | Resilienz 2 · 2019 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Städte im Krisenmodus? Anpassungsstrategien an die Auswirkungen des Klimawandels Stadtklima | Grüne und blaue Infrastruktur | Schwammstadt | Stadtgrün | Urbane Wälder | Klimaresilienz 3 · 2019 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Städtisches Grün - städtisches Blau TranCit drittel hoch.indd 1 26.04.2021 14: 53: 46 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 54 Mobilitätsmonitor Nr. 12 - Mai 2021 ÖPNV-Nachfrage, Geteilte Mobilitätsangebote, Fahrradverkehr, Elektromobilität WZB und M-Five erstellen ein halbjährliches Monitoring zur klimafreundlichen Mobilität in deutschen Städten. Im Fokus stehen Indikatoren der Verkehrswende im Hinblick auf Alternativen zu Privatautos mit Verbrennungsmotor. Diese Ausgabe zeigt den Fahrgast-Rückgang im ÖPNV sowie die Entwicklung des Sharing-Marktes im Corona-Krisenjahr. Zudem werden Radzählungen und Neuzulassungen von E-PKW von 2020 mit dem Vorjahr verglichen. Christian Scherf, Mareike Bösl, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Wolfgang Schade I m Unterschied zu den vorherigen Ausgaben wurden diesmal mit Düsseldorf und Hannover zwei zusätzliche Großstädte in die Betrachtung aufgenommen. Die betrachteten zehn Städte haben eine Einwohnerzahl von ca. 0,5 bis 3,6 Millionen, was zusammen über 11 Millionen Menschen bzw. ungefähr 14 % der deutschen Gesamtbevölkerung ergibt. In Städten zeigen sich nicht nur die Anzeichen der Verkehrswende oft früher als in kleineren Orten: Auch die bisherigen Corona-Effekte scheinen in Ballungsräumen besonders hervorzustechen. Die Daten 1 lassen starke Nachfrageeinbrüche im urbanen ÖPNV erkennen. Der Sharing-Markt ist robuster als anfangs gedacht. In der Elektromobilität und Fahrradnutzung gibt es hingegen Hinweise auf teils deutliche Anstiege der Nachfrage und Nutzung (nicht nur coronabedingt). ÖPNV-Nachfrage im Corona-Jahr 2020 Der zumeist leicht wachsende ÖPNV-Markt erfuhr ab März 2020 erhebliche Rückgänge der Fahrgastzahlen. Darin spiegelt sich Corona wider, denn viele Fahrgastgruppen waren entweder weniger unterwegs (z. B. Studierende und Schüler*innen) oder sogar zeitweise kaum anzutreffen (z. B. Dienstreisende und Tourist*innen). Die Bilder 1 bis 6 zeigen die Anzahl bzw. Anteile der Fahrgastfahrten einzelner Verkehrsbetriebe basierend auf dem monatlichen Durchschnitt des Jahres 2019. Der monatliche Durchschnitt des Vorjahres wurde aus den jährlichen Fahrgastdaten der VDV-Statistik 2019 ermittelt. Die unterjährigen Verläufe für das Krisenjahr 2020 beruhen zumeist auf prozentualen Angaben der jeweiligen Verkehrsbetriebe oder -verbünde, die auf den Vorjahresdurchschnitt bezogen wurden. 2 Da die 2020er-Werte aus Angaben der Betriebe bzw. Verbünde abgeleitet sind und sich auf unterschiedliche Erhebungen der Vorjahre beziehen können, sind sie nur eingeschränkt vergleichbar. Die Daten verdeutlichen den Corona-Effekt bezogen auf die Anzahl der Fahrgäste. Vor allem in den Phasen des „Lockdowns“ von März bis April und von November bis Dezember 2020 machten sie nur einen Bruchteil des durchschnittlichen Vorjahresniveaus aus. In einem durchschnittlichen Monat des Jahres 2019 zählten zum Beispiel die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) im Mittel ca. 94 Mio. Fahrten pro Monat (Bild 1). Im März 2020 brach die Nachfrage um etwa 1/ 3 im Vergleich zum Vorjahr erheblich ein. In den folgenden DER MOBILITÄTSMONITOR Der Mobilitätsmonitor ist eine gemeinsame Publikationsreihe der Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gGmbH und der M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics in Karlsruhe. Wir danken Robin Coenen - Visual Intelligence & Communication - für die grafische Umsetzung und dem Magazin Internationales Verkehrswesen für die Veröffentlichung. Frühere Ausgaben unter: www.internationales-verkehrswesen.de/ der-mobilitaetsmonitor Foto: Pascal König / pixabay MOBILITÄT Mobilitätsmonitor Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 55 Mobilitätsmonitor MOBILITÄT Monaten ging sie nochmals zurück, so dass die Zahl der unternehmensbezogenen Fahrgastfahrten im Quartalsdurchschnitt etwas unter der Hälfte des Vorjahresniveaus lag. Im dritten Quartal erreichte der Wert wieder ca. zwei Drittel des Vorjahres, um im Corona-bedingten Lockdown zum Jahresende abermals leicht abzusinken. Dieses Muster ist im Allgemeinen in allen untersuchten Städten zu erkennen: Nach starkem Einbruch der Fahrten im März und April, folgte eine Phase allmählicher Erholung im Sommer 2020 Bild 1: Fahrgäste der Berliner BVG pro Monat (2019: Durchschnitt; 2020: Schätzung auf Basis abs. Quartalswerte) Quelle: Auskunft der BVG, Streese 2021, VDV 2019; Recherche: C. Scherf; Grafik: R. Coenen Fahrgäste in Berlin (BVG) Unternehmensbezogene Fahrgastfahrten (Quartalsangaben) 0 Q1 Q2 Q3 Q4 in Mio. 100% 0% 20% 40% 60% 80% 20 40 60 100 20 40 100 80 2019 2020 Anzahl der Fahrten im monatlichen Durchschnitt des Jahres 2019 nach VDV-Statistik monatliche Schätzwerte nach Auskunft der Verkehrsbetriebe bzw. -verbünde corona-bedingte Lockdowns Bild 2: Fahrgäste der Hamburger HOCHBAHN pro Monat (2019: Durchschnitt; 2020: Schätzung bezogen auf Prozentwerte des HVV in Relation zum Vorjahr) Quelle: Auskunft des HVV, VDV 2019; Recherche: C. Scherf; Grafik: R. Coenen Fahrgäste in Hamburg (Hochbahn) Anteile in 2020 bezogen auf den gesamten Verkehrsverbund HVV 0 in Mio. 10 20 30 40 100% 0% 20% 40% 60% 80% Q1 Q2 Q3 Q4 2020 2019 Anzahl der Fahrten im monatlichen Durchschnitt des Jahres 2019 nach VDV-Statistik monatliche Schätzwerte nach Auskunft der Verkehrsbetriebe bzw. -verbünde corona-bedingte Lockdowns Bild 3: Fahrgäste der Münchener MVG pro Monat (2019: Durchschnitt; 2020: Schätzung bezogen auf Prozentwerte in Relation zum Vorjahr) Quelle: Auskunft der SWM, VDV 2019; Recherche: C. Scherf; Grafik: R. Coenen Fahrgäste in München (MVG) Werte in 2020 beziehen sich auf Werktage 0 Q1 Q2 Q3 Q4 2020 2019 in Mio. 20 10 60 50 40 30 100% 0% 20% 40% 60% 80% Anzahl der Fahrten im monatlichen Durchschnitt des Jahres 2019 nach VDV-Statistik monatliche Schätzwerte nach Auskunft der Verkehrsbetriebe bzw. -verbünde corona-bedingte Lockdowns Bild 4: Fahrgäste der Kölner KVB pro Monat (2019: Durchschnitt; 2020: abs. Monatswerte nach KVB) Quelle: Auskunft der KVB, VDV 2019; Recherche: C. Scherf; Grafik: R. Coenen Fahrgäste in Köln (KVB) 0 in Mio. 5 10 15 25 20 100% 0% 20% 40% 60% 80% Q1 Q2 Q3 Q4 2020 2019 Anzahl der Fahrten im monatlichen Durchschnitt des Jahres 2019 nach VDV-Statistik monatliche Schätzwerte nach Auskunft der Verkehrsbetriebe bzw. -verbünde corona-bedingte Lockdowns Bild 5: Fahrgäste des Stuttgarter SSB pro Monat (2019: Durchschnitt; 2020: Schätzung bezogen auf Prozentwerte des VVS in Relation zum Vorjahr) Quelle: Auskunft des VVS, VDV 2019; Recherche: C. Scherf; Grafik: R. Coenen Fahrgäste in Stuttgart (SSB) Anteile in 2020 bezogen auf den gesamten VVS 0 Q1 Q2 Q3 Q4 2020 2019 in Mio. 5 10 20 15 100% 0% 20% 40% 60% 80% Anzahl der Fahrten im monatlichen Durchschnitt des Jahres 2019 nach VDV-Statistik monatliche Schätzwerte nach Auskunft der Verkehrsbetriebe bzw. -verbünde corona-bedingte Lockdowns Bild 6: Fahrgäste der Essener/ Mühlheimer Ruhrbahn pro Monat (2019: Durchschnitt; 2020: Schätzung bezogen auf Prozentwerte in Relation zum Vorjahr) Quelle: Auskunft der Ruhrbahn, VDV 2019; Recherche: C. Scherf; Grafik: R. Coenen Fahrgäste in Essen (Ruhrbahn gesamt, inkl. Mülheim a.d. Ruhr) 0 in Mio. 2,5 5 7,5 10 100% 0% 20% 40% 60% 80% Q1 Q2 Q3 Q4 2020 2019 Anzahl der Fahrten im monatlichen Durchschnitt des Jahres 2019 nach VDV-Statistik monatliche Schätzwerte nach Auskunft der Verkehrsbetriebe bzw. -verbünde corona-bedingte Lockdowns Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 56 MOBILITÄT Mobilitätsmonitor mit wiederholtem Rückgang etwa ab November. Die beiden Tiefpunkte liegen zumeist innerhalb der „Lockdown“-Phasen. Der Rückgang zu Pandemiebeginn war bei der Essener Ruhrbahn am größten, wo die Nachfrage auf ca. 20 % des Vorjahresniveaus zurückging (Bild 6). Am langsamsten war der Rückgang in Berlin und München, wo sich die Nachfrage noch Ende März bei ungefähr 60 % des Vorjahresniveaus befand (Bild 1 und 3). Der Wiederanstieg der Fahrtzahl bis zum Jahresende erreicht den höchsten Wert bei der Essener Ruhrbahn (80 % im November). Damit ist die Ruhrbahn der Anbieter mit den relativ stärksten Schwankungen im Verlauf des Jahres 2020. Am geringsten war die relative Erholung bei der Kölner KVB, wo die Fahrgastzahlen von Ende März bis Jahresende 2020 nicht mehr über ca. 65 % des monatlichen Vorkrisen- Niveaus anstiegen (Bild 4). Sharing-Markt im März 2021 Bild 7 zeigt die aktualisierte Marktentwicklung im Feld der Mobilitätsdienstleistungen (vgl. IV 4/ 2020). Wie schon in der vorangegangenen Ausgabe betrachten wir den Status der Angebote, die in den zehn (vormals acht) Städten verfügbar sind. Dabei zeigt sich, dass die andauernden Einschränkungen durch die Corona-Pandemie zu Veränderungen der Angebotslandschaft beitragen. Vergleichsweise geringe Auswirkungen zeigen sich im Bereich Carsharing, wo weiterhin alle Anbieter auf dem Markt vertreten sind. Die Ausnahme bildet das aus der Region Hannover stammende Start-Up Drivers- Next, das sein im free-floating Modus betriebenes Carsharing-Angebot pandemiebedingt einstellte. Stärkere Veränderungen sind im Bereich des E-Scootersharing zu verzeichnen. Vereinzelt haben sich Anbieter aus bestimmten Städten zurückgezogen: so etwa Bird aus Hannover und Wind aus Essen. Hive, ein E-Scooter-Angebot der Daimler- und BMW-Tochter FreeNow, wurde nach wenigen Monaten Betrieb in Hamburg eingestellt, während das Start-Up DOTT sich aus zwei von vier Städten zurückzog. Ridepooling- Dienste sind ebenfalls von den andauernden Auswirkungen der Pandemie betroffen. Seit Dezember 2020 pausiert der Pooling- Dienst von Moia in Hamburg und Hannover. In München wurde die geplante Umsetzung des IsarTiger, die sich an eine Testphase anschließen sollte, verschoben. Insgesamt ergibt sich somit ein gemischtes Bild: Der Markt für geteilte Mobilitätsangebote scheint weiterhin vorhanden zu sein, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau als vor der Pandemie. Radverkehrszählungen im Vergleich Deutlicher war die Corona-Wirkung im Radverkehr: Bild 8 zeigt die gezählten Radfahrten des Unternehmens Eco Counter an automa- Bild 7: Status der Sharing-Anbieter, Stand März 2021 Quelle: Angaben der Anbieter, Howe 2021; Recherche: M. Bösl, L. Ruhrort; Grafik: R. Coenen B M HH K F S E L H D B M HH K F S E L H D Bikesharing Donkey Republic Mobike Bond Jump Limebike Nextbike LastiBike Hannah Sigo Frank-e Evo Sharing Emmy Eddy Rollersharing Stella Zoom Sharing Tier rhingo Bird Jump (Lime) Circ E-Floater Lime DOTT Hive Wind Tier Spin Cambio Flinkster teilAuto greenwheels Drive Carsharing Ford Carsharing Scouter Fischbecker Heidbrook clever Stattauto Stadtmobil Hertz 24/ 7 Robben Wienjes Van Sharing Miles ShareNow Driverst Next book-n-drive Weshare Stadtflitzer E-Scooter Carsharing Status der Sharing-Anbieter Berlin München Hamburg Frankfurt a. M. Köln Stuttgart Essen Leipzig Hannover Düsseldorf Sixtshare Call a Bike Voi Turo Snappcar CleverShuttle BerlKönig ioki Shuttle Moia Shuttle SSB flex Flexa MVG Isar Tiger P2P-Carsharing Ridepooling Donk-EE *TIER kaufte Fahrzeuge von COUP, ohne das Unternehmen zu übernehmen Eingestellt/ Pausiert Aktiv Übernahme Unbekannter Status Getaround (ehem. Drivy) Isi Bild 8: Radfahrten an Zählstellen in Berlin und der Region Hannover in Prozent (2019: 100 %) Quelle: Eco Counter 2021, Senat von Berlin 2021; Recherche: J. Emmerich; Grafik: R. Coenen 2019 2020 Gezählte Radfahrten in Berlin & Hannover in Prozent (2019: 100%) Berlin 16 EcoCounter-Stellen Region Hannover 8 EcoCounter-Stellen 0 25 50 75 100 125 +22% +10% Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 57 Mobilitätsmonitor MOBILITÄT tischen Zählstationen in Berlin und der Region Hannover. Es handelt sich nicht um eine repräsentative Zählung, sondern jeweils um 16 (Berlin) bzw. acht (Region Hannover) Stationen mit sehr unterschiedlichen Standorten und lokalen Einflüssen. In Berlin befinden sich acht Stationen innerhalb des S-Bahn-Ringes in der Innenstadt und acht Stationen in anderen Teilen der Stadt. In der Region Hannover befinden sich vier Stationen innerhalb und vier Stationen außerhalb der Stadt Hannover. Für den prozentualen Vergleich wurden jeweils sämtliche Fahrten pro Jahr an allen Stationen addiert. 3 In Berlin wurden im Jahr 2020 ca. 22 % Prozent mehr Fahrräder gezählt als im Vorjahr. In der Region Hannover waren es 10 % mehr als 2019. Damit zeigt sich der deutliche Anstieg während der Corona-Pandemie, der allerdings je nach Stadt und Region unterschiedlich stark ausfällt. Der Vergleich mit früheren Werten zeigt indes, dass Corona nicht die einzige Ursache des Anstieges ist, sondern auch andere Einflüsse zu Schwankungen führen: In Berlin wurden im Jahr 2018 z. B. 6 % mehr Fahrten gezählt als 2019. 4 Neuzulassungen von E-PKW Neben den direkten Corona-Effekten wirkten 2020 auch andere externe Faktoren auf die Mobilität. So wurden u. a. CO 2 -Standards und Steuervorteile wirksam, die Modellpalette breiter und die Kaufprämie für E-Fahrzeuge verdoppelt, was den Trend steigender Neuzulassungszahlen verstärkte. Dies zeigt der Vergleich der monatlichen Neuzulassungen reiner Elektroautos (ohne Hybrid) zwischen Januar 2019 und Dezember 2020 in Berlin und Hamburg (Bild 9). Am Beginn der Pandemie im April 2020 gingen die Neuzulassungen kurzzeitig leicht zurück, stiegen aber etwa ab Juli stark an. Dieser Anstieg fällt zeitlich zusammen mit den genannten Gründen wie der Verdopplung des staatlichen Anteils beim Kauf von E-Fahrzeugen (Innovationsprämie) vom 8. Juli. Im Oktober lag die Zahl der Neuzulassungen in Hamburg um etwa 100 Fahrzeuge höher als in Berlin, obwohl in der Hansestadt deutlich weniger Einwohner*innen und PKW gemeldet sind 6 . Im Dezember 2020 wurden in beiden Städten mit über 1.000 neuzugelassenen E-PKW Höchstwerte erreicht. Fazit Mit den Themen ÖPNV-Nachfrage, geteilte Mobilitätsangebote, Fahrradverkehr und Elektromobilität wurden vier verschiedene Entwicklungstrends betrachtet, die für eine urbane Mobilitätswende von zentraler Bedeutung sind. Die Daten zeigen, dass die Corona-Pandemie sich zum Teil gegenläufig auf diese Trends auswirkt. Als Gewinner zeigt sich der Fahrradverkehr, der in den betrachteten Städten deutlich zugenommen hat. Auch im Bereich lokal emissionsfreier PKW konnte trotz Pandemie eine deutliche Zunahme verzeichnet werden, die durch externe Impulse verstärkt wurde. Im noch vergleichsweise jungen Markt der Sharing-Angebote zeigt sich ein gemischtes Bild. Einige Angebote fielen weg, insgesamt erscheint es jedoch bemerkenswert, dass trotz der Krise bisher eine große Anzahl von Anbietern in den meisten Städten erhalten bleibt (ungeachtet der Flottengröße). Hierbei könnte es eine Rolle spielen, dass viele Angebote von ÖPNV-Kund*innen als Zusatzoption genutzt werden. Unter Pandemie-Bedingungen erscheinen Optionen wie Car- oder Bikesharing für manche Personen möglicherweise attraktiver als der ÖV. Durch Homeoffice und -schooling entsteht eine stärkere Nahraumorientierung, die sowohl dem privaten Fahrrad als auch den Bike- und Scootersharing-Angeboten zugute kommt. Der ÖPNV ist hingegen mit Abstand am stärksten von der Corona-Krise betroffen. Es stellt sich die Frage, wie er zukünftig zu einem resilienteren System weiterentwickelt werden kann. Ein „Great Reset“ für den ÖPNV könnte in der weiteren Verknüpfung mit flexiblen Angeboten und dem Radverkehr bestehen. Kontakt WZB: lisa.ruhrort@wzb.eu M-Five: christian.scherf@m-five.de ■ 1 Die Erhebungen erfolgten nach den Standards des wissenschaftlichen Arbeitens, dennoch kann keine Gewähr für die Genauigkeit und Vergleichbarkeit übernommen werden. Dies gilt insbesondere für Daten Dritter. Bei lückenhaften Datenlagen wurden zum Teil Mittel- und Schätzwerte gebildet, so dass die Ergebnisse als Näherungen zu verstehen sind. 2 Für Berlin und Köln wurden absolute Quartalsbzw. Monatsangaben zugrunde gelegt. Für Januar und Februar 2020, in denen Covid-19 die Fahrgastzahl noch kaum beeinträchtigte, wurde der durchschnittliche Monatswert aus 2019 angenommen. Da keine Einzelwerte der jeweiligen Vorjahresmonate bekannt waren, sind die 2020er-Werte - soweit auf Prozentangaben beruhend - lediglich Näherungen. 3 Die Berliner Zählstation Oberbaumbrücke ist seit September 2019 nicht mehr aktiv und wurde aus der Rechnung ausgenommen. 4 Inwieweit die Änderungen durch zusätzliche radfahrende Personen oder mehr Radfahrten bisheriger Personen hervorgerufen sind, lässt sich auf Basis vorliegender Daten nicht beantworten. 5 Der Verfasser dankt der Berliner Agentur für Elektromobilität und dem Statistikamt Nord für hilfreiche Hinweise. 6 Dies könnte auf Eigen- und Flottenzulassungen von Unternehmen hindeuten. QUELLEN Eco Counter (2021): Bike Count Display Interactive Map. Eco Counter GmbH. https: / / t1p.de/ eco-public (Zugriff 09.04.2021). Howe, E. (2021): moped.sharing.research. www.mopedsharing.com (Zugriff 08.04.2021). KBA (2021): Neuzulassungen von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern - Monatsergebnisse, Kraftfahrt-Bundesamt. https: / / t1p.de/ kba-monat (Zugriff 12.04.2021). Senat von Berlin (2021): Karte der Radzählstellen. Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. https: / / t1p.de/ rad-berlin (Zugriff 09.04.2021). Streese, I. (2021): Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Kristian Ronneburg (LINKE) vom 25. Januar 2021 zum Thema „Anzahl der Fahrgäste der BVG während der Corona-Pandemie“ und Antwort vom 07. Februar 2021. Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. https: / / t1p.de/ 7qp5 (Zugriff 27.03.2021). VDV (2019): VDV-Statistik 2019. Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. https: / / t1p.de/ vdv-stat-19 (Zugriff 09.04.2021). Jan. 2020 Jan. 2021 Jan. 2019 Apr. Jul. Okt. Apr. Jul. Okt. 200 0 1.000 800 600 400 1.200 1.400 Monatliche Neuzulassungen von E-Pkw (BEV, ohne Hybrid) Erhöhte Kaufprämie Berlin Hamburg Bild 9: monatliche Neuzulassungen von E-PKW (BEV, ohne Hybrid) in Berlin und Hamburg Quelle: KBA 2021; Recherche: C. Scherf 5 ; Grafik: R. Coenen Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 58 MOBILITÄT Wissenschaft Persönlichkeitseigenschaften von Radfahrenden Erste Ergebnisse einer explorativen Querschnittsstudie zum Fünf-Faktoren-Modell und PKW-Fahrstilen von Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden in Deutschland Radverkehrsforschung, (Nicht-)Radfahrende, Persönlichkeitseigenschaften, Fünf-Faktoren-Modell, PKW-Fahrstile, Geschlecht Radfahren fördert die Gesundheit und ist ein essentieller Teil nachhaltiger Mobilität der Zukunft. Um bislang unzureichend erforschte Persönlichkeitseigenschaften von (Nicht-) Radfahrenden zu untersuchen, führten wir eine Online-Fragebogenstudie bei 104 PKW- Lenker*innen (davon 50 regelmäßig Radfahrende), durch. Sie wurden zum Fünf-Faktoren-Modell (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit) und zu acht verschiedenen PKW-Fahrstilen (dissoziativ, ängstlich, riskant, wütend, Hochgeschwindigkeit, stressreduzierend, geduldig und vorsichtig) befragt. Dabei zeigte sich, dass gewissenhafte Radfahrende berichteten, im Straßenverkehr signifikant weniger riskant, wütend, schnell und stressreduzierend Auto zu fahren als gewissenhafte Nicht- Radfahrende. Zudem gaben für neue Erfahrungen offene Radfahrende an, eindeutig geduldiger Auto zu fahren als Nicht-Radfahrende. Überdies führten Frauen substantiell höhere Werte bei den Faktoren Neurotizismus und Offenheit an als Männer. Klemens Weigl, Leonie Pietsch D as Fahrrad wirkt sich wie kein anderes Verkehrsmittel überdurchschnittlich positiv auf unsere Gesundheit und Umwelt aus. Zudem ist es mit weniger Kosten und innerstädtisch bei einer Strecke von bis zu 5 km durch Entfallen der Parkplatzsuche und die Vermeidung von Stau mit einer Zeitersparnis verbunden [1]. Dennoch werden in deutschen Großstädten 40 bis 50 % aller Autofahrten auf einer Strecke von weniger als 5 km absolviert, wobei bis zu 30 % der Autofahrten durch das Fahrrad ersetzt werden könnten [2]. Überdies berichten Radfahrende eine höhere Zufriedenheit als Pendler passiver Transportmittel, ebenso ein höheres subjektives Wohlbefinden und eine bessere psychische Gesundheit [3, 4, 5, 6]. Zudem kann sich Radfahren sehr positiv auf die körperliche Gesundheit auswirken [7, 8, 9, 10]. Weil der motorisierte Verkehr in den vergangenen Jahren stetig gewachsen ist, stellt die Umweltverschmutzung zusätzlich zum Verkehrslärm, zum Stau und zur Parkplatzknappheit ein zunehmendes Problem dar [11, 12]. So konnten in den letzten 25 Jahren keine Reduktion des Schadstoffausstoßes erreicht, sondern lediglich leichte Schwankungen gemessen werden [13]. Obwohl viele Menschen über die gesundheits- und umweltfördernden Vorteile Bescheid wissen, fällt es dennoch einem erheblichen Anteil von Personen schwer, sich zum Radfahren zu motivieren und das Fahrrad in Kombination mit dem ÖPNV anstatt dem PKW zu wählen. Hinzu kommt, dass manche Personen aufgrund der geographischen Gegebenheiten (z. B. nicht sicher ausgebaute Straßen, keine Radwege usw.) nicht einfach auf das Fahrrad wechseln können. Dennoch wäre es auch hierbei in vielen Fällen möglich, intermodal den Weg zurückzulegen und beispielsweise im Kofferraum oder auf dem Fahrradträger des PKW ein (Klapp-)Rad mitzuführen, den PKW am Stadtrand zu parken und die letzten Kilometer in der Stadt mit dem Fahrrad zu absolvieren, bei gleichzeitiger Förderung der Gesundheit und Umwelt. In groß angelegten Studien zur Förderung des Rad- PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 09.03.2021 Endfassung: 23.04.2021 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 59 Wissenschaft MOBILITÄT verkehrs in Großbritannien zeigte sich, dass es der falsche Ansatz ist, ausschließlich auf den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur zu setzen [14, 15]. Umso wichtiger ist es daher, verkehrs- und differentialpsychologische Studien durchzuführen, um mögliche Persönlichkeitsunterschiede zwischen Radfahrenden und Nicht- Radfahrenden zu identifizieren und neue Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs zu entwickeln und anzubieten. Fünf-Faktoren-Modell und Fahrstile Es wurde bereits untersucht, dass die Persönlichkeitsfaktoren des Fünf-Faktoren-Modells mit den fünf zentralen Persönlichkeitsmerkmalen Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, soziale Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit [16] beim Autofahren eine bedeutende Rolle zu spielen scheinen [17]. Zusätzlich zu diesen Persönlichkeitseigenschaften scheint auch der Fahrstil einer Person ein Prädiktor für das Verhalten im Straßenverkehr zu sein. Beim Fahrstil handelt es sich um ein konsistentes Muster im Fahrverhalten einer Person, unabhängig von ihrer Fähigkeit Auto zu fahren. Dies beinhaltet beispielsweise wie schnell jemand fährt, wie viel Abstand er zu anderen Verkehrsteilnehmer*innen hält und ob jemand eher vorsichtig oder aggressiv fährt. In der Wissenschaft hat sich eine Differenzierung in fol- Foto: Pexels / pixabay Abstract Cycling improves health and is an essential part of sustainable mobility of the future. To investigate currently under-researched personality and driving traits of (non-) cyclists, we conducted an online questionnaire study and queried 104 car drivers (of which 50 are regular cyclists). They answered questions on the Big Five personality traits (i. e., neuroticism, extraversion, openness, agreeableness, and conscientiousness) and on eight car driving styles (i. e., dissociative, anxious, risky, angry, high-velocity, distress-reduction, patient, and careful). The findings revealed that more conscientious cyclists report to drive significantly less risky, angry, fast, and distress-reducing than conscientious non-cyclists. Additionally, cyclists with more openness for new experiences report to drive more patiently than noncyclists. Moreover, women assigned substantially higher values to the factors neuroticism and openness than men. Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 60 MOBILITÄT Wissenschaft gende acht Fahrstile als sinnvoll erwiesen: dissoziativ, ängstlich, riskant, wütend, Hochgeschwindigkeit, stressreduzierend, geduldig und vorsichtig [18]. Obwohl es in der Automobilforschung bisher erste Erkenntnisse zum Fünf-Faktoren-Modell und zu den acht Fahrstilen gibt [19], wurden beide Themenkomplexe bislang nicht gemeinsam im Kontext des Radfahrens untersucht. Zielsetzung der aktuellen Studie Die vorliegende explorative Querschnittsstudie verfolgt daher die Zielsetzung, erste Ergebnisse zu etwaigen Persönlichkeitsunterschieden zwischen weiblichen und männlichen Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden beim Fünf-Faktoren-Modell und den acht unterschiedlichen Fahrstilen beim Autofahren zu liefern sowie etwaige korrelative Zusammenhänge aufzuzeigen. Diese Erkenntnisse sollen einerseits weiterführenden Studien dienen und andererseits bei neuen Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs berücksichtigt werden. Methode Teilnehmende Insgesamt nahmen an der Studie in der Haupterhebungsphase 107 Personen teil, wobei 104 Personen alle Fragebögen vollständig ausfüllten und drei die Teilnahme vorzeitig beendeten. Zum Zeitpunkt der Befragung waren alle Personen volljährig und besaßen einen Führerschein. Unter den Teilnehmenden waren 54 Frauen mit einem durchschnittlichen Alter von 49,3 Jahren (SD-= 19,5) und 53 Männer mit einem Durchschnittsalter von 52,8 Jahren (SD = 17,7; Spannweite über alle: 18 bis 81 Jahre). Einen Hauptschulabschluss hatten 15 Personen, einen Realschulabschluss 25, das Fachabitur oder das Abitur 27 und einen Fachhochschul- oder einen Hochschulabschluss 32 (ohne Angabe 5). Pro Jahr fuhren die Teilnehmenden zwischen 0 und 150.000 km Auto, wobei die durchschnittlich zurückgelegte Strecke 10.951,8 km (SD = 19.377,2) betrug. Zudem gaben 28 Befragte an, auf dem Land zu leben, und 76, in einer Stadt zu wohnen. Ride- und Carsharing wurde den Angaben zufolge von sieben Personen genutzt. Alle Teilnehmenden hatten die deutsche Staatsbürgerschaft und sprachen deutsch als Muttersprache. Die Versuchspersonen wurden in verschiedenen Institutionen, Vereinen, Schulen und Messen durch persönliche Einladungen und Aussendungen per E-Mail rekrutiert. Studiendesign Die beiden unabhängigen Variablen dieser explorativen und altersrepräsentativen Querschnittsstudie waren Geschlecht (weiblich, männlich, divers; divers wurde nicht gewählt) und Radfahren. Dabei war Radfahren definiert als regelmäßiges Radfahren, d. h. mehrmals pro Woche. Es ergab sich ein zweifaktorielles Design mit den beiden Haupteffekten Geschlecht und Radfahren. Die fünf Persönlichkeitsfaktoren des Fünf-Faktoren-Modells und die acht verschiedenen Fahrstile stellten die abhängigen Variablen dar, die auch für die Korrelationsanalysen verwendet wurden. Fragebögen Die Persönlichkeitsmerkmale des Fünf-Faktoren-Modells wurden mit dem aus 15 Items (3 Items je Faktor) bestehenden Big Five Inventory-SOEP (BFI-S) erfasst [20]. Zur Erhebung des Fahrstils wurden die 44 englischen Items des Multidimensional Driving Style Inventory (MDSI) von uns ins Deutsche übersetzt [18, 21]. Der Fragebogen unterscheidet Fahrstile in: dissoziativ, ängstlich, riskant, wütend, Hochgeschwindigkeit, stressreduzierend, geduldig und vorsichtig. Als Antwortformat wurde für beide Fragebögen, jeweils in Rücksprache und mit freundlichem Einverständnis der Fragebogenentwickler*innen, eine visuelle Analogskala verwendet. Die beiden Pole der Skala waren mit „Stimme überhaupt nicht zu“ (Ziffer 0; links), und „Stimme voll zu“ (Ziffer 10; rechts) verankert. Obwohl der BFI-S und der MDSI mit einer 7-stufigen Ratingskala entwickelt wurden, wählten wir die 10-stufige visuelle Analogskala, um den Teilnehmenden bei der Beantwortung der Items eine etwas höhere Differenzierung zu ermöglichen und kontinuierliche Daten (anstatt ordinaler) zu erheben [22, 23]. Die Autoren implementierten die Online-Fragebogenstudie in LimeSurvey, Version 3.12.1 + 180616 [22], und erhoben alle Daten online und anonym. Studienablauf Vor Beginn der Studie wurde ein positives Ethikvotum der Ethikkommission der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt eingeholt. Zur Optimierung der Instruktion für die Haupterhebung wurde eine Pilotstudie durchgeführt. Dabei wurden 22 Personen befragt, die nicht in die spätere Datenanalyse eingeschlossen wurden. Zudem wurde in der Pilotphase die deutsche Übersetzung des MDSI getestet und ein Item aufgrund missverständlicher Formulierung geändert. Die deutsche Version wurde später an die daran interessierte Fragebogenentwicklerin Frau Taubman-Ben-Ari gesandt. Die Haupterhebung fand entweder persönlich vor Ort (n = 94) oder bei telefonischer Erreichbarkeit (n- = 13) während des Ausfüllens des Fragebogens statt, sodass Unklarheiten sofort geklärt werden konnten. Um verzerrte Antworten durch soziale Erwünschtheit zu minimieren, wurde im Rahmen der standardisierten Instruktion betont, dass es im Gegensatz zu einem Leistungs- oder Wissenstest in dieser Online-Fragebogenstudie keine falschen Antworten gebe. Zudem wurden die Teilnehmenden gebeten, alle Fragen aufrichtig und ehrlich zu beantworten, wobei eine Frage dann richtig beantwortet ist, wenn die eigene Einstellung, die eigenen Werte und die eigenen Gefühle widergespiegelt werden. Dann wurde allen Teilnehmenden als notwendige Teilnahmevoraussetzung eine Einverständniserklärung in Papierform ausgehändigt. Bei den Telefonbefragungen erhielten die Teilnehmenden diese Einverständniserklärung per E-Mail, die dann entweder gefaxt oder mit eingescannter Unterschrift gemailt wurde. Die Teilnehmenden bearbeiteten selbstständig an je einem elektronischen Gerät zunächst das MDSI und danach das BFI-S. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer betrug 10 Minuten und 20 Sekunden (SD = 3,2 min). Die Teilnehmenden erhielten keine finanzielle Vergütung, worüber sie anfangs informiert wurden. Nach Abschluss der Datenerhebung wurden unter allen Befragten, die freiwillig ihre E-Mail-Adresse angegeben hatten, fünf Büchergutscheine im Wert von je 20 Euro verlost. Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 61 Wissenschaft MOBILITÄT Ergebnisse Geschlecht und Radfahren beim Fünf-Faktoren-Modell Zunächst wurde ein möglicher Einfluss von Geschlecht und Radfahren (Radfahrende vs. Nicht-Radfahrende) auf die Ausprägungen der Persönlichkeitsmerkmale des Fünf-Faktoren-Modells untersucht. Bei den Ergebnissen der multivariaten Varianzanalyse (MANOVA) zeigte sich ein signifikanter Geschlechtsunterschied (F (5, 96) = 2.52; p = .035; η 2p = .12), wobei zwischen Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden (F (5, 96) = 1.16; p = .337; η 2p = .06) und bei der Prüfung einer möglichen Interaktion zwischen Geschlecht und Radfahren (F (5, 96) = 0.52; p = .760; η 2p = .03) jeweils kein statistisch bedeutsamer Unterschied identifiziert werden konnte. In den weiterführenden univariaten Varianzanalysen zur unabhängigen Variablen Geschlecht zeigte sich bei Neurotizismus und Offenheit jeweils ein Geschlechterunterschied (siehe Tabelle 1 und Bild 1), wobei Frauen jeweils höhere Werte als Männer angaben (Neurotizismus: Frauen: M = 17.1 (SD- =- 5.8); Männer: M = 14.2 (5.3); Offenheit: Frauen: M-=-17.7 (4.8); Männer: M = 15.5 (5.3); je Randmittelwerte über Radfahrende und Nicht-Radfahrende hinweg). Hierbei ist anzumerken, dass die vorliegenden Geschlechterunterschiede sowohl bei Neurotizismus als auch bei Offenheit mit kleinen Effektstärken einhergehen (siehe Tabelle 1, η 2p ). Geschlecht und Radfahren bei unterschiedlichen Fahrstilen. Im nächsten Schritt wurde ein möglicher Einfluss von Geschlecht und Radfahren auf die Ausprägungen der unterschiedlichen acht Fahrstile untersucht (siehe Bild 2). Bei den MANOVA-Ergebnissen konnte hierbei weder bei den Haupteffekten Geschlecht (F (8, 92) = 1.85; p = .078; η 2p = .14) und Radfahren (F-(8,-92) = 0.80; p = .608; η 2p = .07) noch bei der Interaktion zwischen Geschlecht und Radfahren (F-(8,92)-= 0.68; p = .711; η 2p = .06) ein statistisch bedeutsamer Unterschied gefunden werden (siehe Bild 2). Korrelationsanalysen zu Persönlichkeitseigenschaften Zur Überprüfung möglicher positiver oder negativer Assoziationen zwischen (1) den Persönlichkeitsmerkmalen des Fünf-Faktoren-Modells, (2) den acht Fahrstilen und (3) dem Alter, jeweils für Radfahrende und Nicht-Radfahrende getrennt, wurden explorative Korrelationsanalysen durchgeführt (siehe Tabelle 2). In der Zusammenschau aller explorativen Korrelationsergebnisse zwischen dem Fünf-Faktoren-Modell und den acht verschiedenen Fahrstilen fallen insbesondere die zehn Korrelationskoeffizienten der insgesamt fünf gleichen Variablen-Paare auf, die sich bei Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden statistisch eindeutig unterscheiden (siehe Tabelle 2, Korrelationskoeffizienten in Fettschrift). Dabei geht eindeutig hervor, dass gewissenhafte Radfahrende angeben, im Straßenverkehr weniger riskant, wütend, schnell und stressreduzierend Auto zu fahren als gewissenhafte Nicht-Radfahrende. Überdies berichten Radfahrende mit einer hohen Ausprägung beim Faktor Offenheit für neue Erfahrungen, geduldiger Auto zu fahren als Nicht-Radfahrende. Quelle Neurotizismus Extraversion Offenheit Verträglichkeit Gewissen a F p η 2p F p η 2p F p η 2p F p η 2p F p η 2p Geschlecht b 6.43 .013 .06 1.42 .236 .01 5.48 .021 .05 0.06 .802 .00 0.09 .759 .00 Radfahren c 3.27 .074 .03 0.86 .355 .01 1.64 .203 .02 1.05 .307 .01 0.90 .346 .01 G x Rd 1.33 .251 .01 0.04 .850 .00 0.29 .589 .00 0.29 .591 .00 0.44 .507 .00 Anmerkungen. Big Five Inventory-SOEP (BFI-S; 15 Items). η 2p = partielles η 2p ; a Gewissenhaftigkeit. b Geschlecht (G): 1 = weiblich; 2 = männlich; c Radfahren (R): 1 = Radfahrende; 0 = Nicht-Radfahrende; dInteraktion von Geschlecht x Radfahren; df = 1, 100. Tabelle 1: Univariate Ergebnisse zur zweifaktoriellen, multivariaten Varianzanalyse von Geschlecht und Radfahren beim Fünf-Faktoren- Modell Bild 1: Mittelwerte und Standardfehler des Mittelwertes der die Summenwerte der Ratings je Faktor (Range jeweils: 0 bis 30; 3 Items je Faktor à 0-10 Punkte) von allen weiblichen und männlichen Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden zu den fünf Faktoren. Offenheit = Offenheit für neue Erfahrungen Bild 2: Mittelwerte und Standardfehler des Mittelwertes je Faktor (Range jeweils: 0 bis 10 je Item) von allen weiblichen und männlichen Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden zu den acht Fahrstilen. Zu schnell = Hochgeschwindigkeits-Fahrstil; Stress = Stressreduzierender Fahrstil Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 62 MOBILITÄT Wissenschaft Diskussion In der vorliegenden Studie wurden zum Fünf-Faktoren- Modell und den acht PKW-Fahrstilen drei Hauptanalysen durchgeführt, die in dieser Form für Radfahrende und Nicht-Radfahrende bisher noch unerforscht sind. Bei der ersten, zum Fünf-Faktoren-Modell, konnte bei den Faktoren Neurotizismus und Offenheit ein Geschlechterunterschied identifiziert werden, wobei Frauen jeweils höhere Werte angaben. Hingegen zeigten sich bei Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden keine substanziellen Persönlichkeitsunterschiede und auch keine Interaktion zwischen Geschlecht und Radfahren. Die stärkere Ausprägung beim Faktor Neurotizismus, der auch mit emotionaler Labilität und Verletzlichkeit beschrieben wird, ist konsistent mit der Literatur [25, 26, 27]. Interessanterweise konnte bei Frauen die höhere Ausprägung beim Faktor Offenheit für neue Erfahrungen in anderen Studien bislang nicht bestätigt werden [25, 27]. Hinzu kommt, dass Frauen in vielen Studien beim Faktor soziale Verträglichkeit häufig eine etwas höhere Ausprägung aufweisen [25, 26, 27], was in der aktuellen Studie eindeutig nicht bestätigt wurde (Frauen: M = 18.3 (SD = 4.0); Männer: M = 18.1 (3.6)). Möglicherweise meldeten sich zum Thema Mobilität der Zukunft und Radfahren offenere Frauen als Männer, wobei beide Geschlechter eine sehr ähnliche Ausprägung beim Faktor Verträglichkeit aufwiesen. Dennoch wäre es auch möglich, dass sich diese altbekannten Geschlechterunterschiede über die Zeit hinweg langsam verändern und nun andere Ergebnisse beobachtet werden als vor über zehn Jahren. Bei der zweiten statistischen Analyse, zu den acht PKW-Fahrstilen, konnten weder bei den Haupteffekten Radfahren und Geschlecht, noch bei der Interaktion der beiden unabhängigen Variablen statistisch bedeutsame Unterschiede beobachtet werden. Obwohl diese Analyse keine Unterschiede aufzeigte, zeichnete die dritte statistische Analyse ein differenzierteres Bild. Hierbei wurden die korrelativen Zusammenhänge zwischen dem Fünf- Faktoren-Modell und den acht Fahrstilen für Radfahrende und Nicht-Radfahrende getrennt dargestellt. Dabei zeigte sich eindeutig, dass gewissenhafte Radfahrende berichteten, im Straßenverkehr weniger riskant, wütend, schnell und stressreduzierend Auto zu fahren als gewissenhafte Nicht-Radfahrende. Überdies gaben Radfahrende mit einer hohen Ausprägung beim Faktor Offenheit für neue Erfahrungen an, geduldiger Auto zu fahren als Nicht-Radfahrende. Möglicherweise sind sich jene PKW-Fahrer*innen, die regelmäßig als Radfahrende am Straßenverkehr teilnehmen, der Vulnerabilität anderer Verkehrsteilnehmer*innen und ihrer eigenen stärker bewusst als Nicht-Radfahrende, so dass sie berichteten, weniger riskant, wütend, schnell, stressreduzierend und geduldiger PKW zu fahren und somit achtsamer am Straßenverkehr teilnehmen. Limitationen und zukünftige Studien Nachdem für eine Fragebogenentwicklung 300 Personen (idealerweise über 500) empfohlen werden [28], wäre es interessant, die faktorielle Struktur der Übersetzung des MDSI ins Deutsche an einer größeren Stichprobe hier in Deutschland mittels explorativer und konfirmatorischer Faktorenanalysen, sowie Strukturgleichungsmodellierungen zu validieren. Ebenfalls könnte es bei einer größeren Fallzahl spannend sein, weitere demographische Variablen wie beispielsweise Alter, Bildungsniveau und gefahrene Kilometer mit dem Auto und Fahrrad zu berücksichtigen. Störende Einflüsse durch soziale Erwünschtheit können trotz unserer standardisierten Instruktion (siehe Studienablauf ) nicht ausgeschlossen werden. Schlussfolgerungen und Ausblick Wenn die Mobilität der Zukunft einen wesentlichen und langfristigen Beitrag zur Gesundheitsförderung und zum Umweltschutz liefern soll, ist es unumgänglich, den Radverkehr dauerhaft in politische Agenden aufzunehmen und ihn, neben infrastrukturellen Maßnahmen (z. B. lückenloses und sicheres Radwegenetz, Trennung von Radfahrenden und anderen Verkehrsteilnehmer*innen und Fußgänger*innen, urbaner Lastenverkehr mit dem Variable n 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Alter Nicht- Radfahrende N E O V 53a 53a 53a 53a .07 .02 .51** -.09 .29* -.09 .14 .26 .12 .28* .20 -.15 .05 .22 .39** -.04 .10 .36** .35* .16 -.22 .11 .14 -.07 -.12 -.25 -.17 .12 .05 -.04 -.32* .13 .02 -.05 -.27 .06 G 53a -.33* -.05 -.08 .01 .05 -.01 .17 .29* -.03 Alter 53a -.19 .02 -.29* -.08 -.27 -.25 .24 .08 1.00** Radfahrende N E O 50 50 50 .21 -.15 .37** .28* -.22 .13 -.04 .04 .15 .13 .01 .16 .05 .11 .21 -.11 .14 .10 .25 .14 .33* .05 .18 .02 -.04 -.18 -.44** V 50 -.11 .06 -.29* -.11 -.21 -.33* .42** .39** .10 G 50 -.60** -.33* -.51** -.43** -.38** -.44** .22 .46** .18 Alter 50 -.23 -.18 -.30* -.03 -.41** -.20 -.11 .16 1.00** Anmerkungen. Abkürzungen der Buchstaben zum BFI-S: N = Neurotizismus; E = Extraversion; O = Offenheit; V = Verträglichkeit; G = Gewissenhaftigkeit; Zahlen 1. bis 8. referenzieren auf die acht Fahrstile des MDSI: 1. = Dissoziativ; 2. = Ängstlich; 3. = Riskant; 4. = Wütend; 5. = Hochgeschwindigkeit; 6. = Stressreduzierend; 7. = Geduldig; 8. = Vorsichtig. aBei den Fahrstilen 5., 6., 7. und 8. Alter beträgt die Fallzahl n = 54; In Fettschrift sind jene Korrelationskoeffizienten hervorgehoben, die sich zwischen Rad- und Nicht-Radfahrenden signifikant unterscheiden (Berechnung: R Paket cocor ) [24]. *p < .05; **p < .01. Tabelle 2: Pearson Korrelationskoeffizienten zwischen BFI-S und MDSI für Radfahrende und Nicht-Radfahrende Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 63 Wissenschaft MOBILITÄT Fahrrad uvm. [29, 30]), gezielt auch verkehrs- und sportpsychologisch zu fördern und attraktiver zu gestalten (z. B. Pendeln mit dem Fahrrad für die Gesundheit und für die Umwelt). Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, Radfahrende und Nicht-Radfahrende differenzierter zu betrachten und neue differentialpsychologische Erkenntnisse bei zukünftigen Radverkehrsmaßnahmen zu berücksichtigen. Hierzu liefert die aktuelle Studie erste Ergebnisse. So könnten beispielsweise sich selbst als gewissenhaft beschreibende Nicht-Radfahrende gezielt angesprochen werden, dass sie aus Perspektive der vulnerablen Verkehrsteilnehmenden und Radfahrenden ihren PKW weniger riskant, wütend, schnell und stressreduzierend lenken und selbst Radfahren. Überdies könnte man für das Radfahren bei Nicht-Radfahrenden werben, insbesondere bei jenen, die sich selbst als weniger geduldig und gleichzeitig für neue Erfahrungen als offen einschätzen. Bei einer Distanz bis zu fünf Kilometern können sie vor allem innerstädtisch ihr Ziel schneller erreichen, Stau und Parkplatzsuche vermeiden. Damit noch mehr Nicht-Radfahrende langfristig zum Radfahren motiviert werden, sind weitere verkehrs- und differentialpsychologische Studien notwendig, um die übergeordneten Ziele der Gesundheits- und der Nachhaltigkeitsförderung zu erreichen. ■ Wir bedanken uns bei den Gutachter*innen für die wertvollen Kommentare, die den Beitrag in einigen Punkten wesentlich verbesserten. LITERATUR [1] NVBW (2020): Faktenpapier „clever mobil“ der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg. Baden-Württemberg [2] Umweltbundesamt. (2019): Radverkehr—Fahrradfahren ist schnell, gesund, umweltfreundlich, klimaschonend, günstig, angesagt und förderungswürdig. Bis zu 30 % der Autofahrten können durch das Fahrrad ersetzt werden. Online: www.umweltbundesamt.de/ themen/ verkehr-laerm/ nachhaltige-mobilitaet/ radverkehr#vorteile-des-fahrradfahrens (Zugriff 23.04.2021) [3] Kaplan, S.; Wrzesinska, D. K.; Prato, C. G. (2019): Psychosocial benefits and positive mood related to habitual bicycle use. 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Dr. Postdoc, Human-Computer Interaction Group, Technische Hochschule Ingolstadt (THI), Ingolstadt; Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt klemens.weigl@gmail.com Leonie Pietsch, B.Sc. Studierende, Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt leonie.pietsch@ku.de GESAMMELTES FACHWISSEN Das Archiv der Zeitschrift Internationales Verkehrswesen mit ihren Vorgänger-Titeln reicht bis Ausgabe 1|1949 zurück. Sie haben ein Jahres-Abonnement? Dann steht Ihnen auch dieses Archiv zur Verfügung. Durchsuchen Sie Fach- und Wissenschaftsbeiträge ab Jahrgang 2000 nach Stichworten. Greifen Sie direkt auf die PDFs aller Ausgaben ab Jahrgang 2010 zu. Mehr darüber auf: www.internationales-verkehrswesen.de Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 4 11.11.2018 18: 32: 23 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 65 Wissenschaft MOBILITÄT Die Angebotsattraktivität des SPNV in Deutschland Ein quantitativer Vergleich der 28 großen SPNV-Aufgabenträger Öffentliche Daseinsfürsorge, Öffentlicher Verkehr, Verkehrswende, Quantitative Leistungsmessung Die Verkehrswende lenkt den Blick auf ökologisch vorteilhafte Verkehrsmittel wie den öffentlichen Verkehr (ÖV). Wenn die Klimaziele erreicht werden sollen, führt neben dem Vermeiden von Verkehr und dem Verbessern von Antriebstechniken kaum ein Weg vorbei an einer Verschiebung des Modal Split: weg vom motorisierten Individualverkehr und hin zum ÖV. Soll dies auf freiwilliger Basis erfolgen, müssen die Angebote des ÖV so attraktiv sein, dass sie zum Umstieg animieren. Diese Studie zeigt am Beispiel des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) die Angebotsattraktivität in den 28 Aufgabenträgergebieten in Deutschland. Dabei wird deutlich, dass erhebliche Unterschiede im Leistungsniveau bestehen, für die bisher gängige Erklärungsmuster nur zum Teil herangezogen werden können. Daniel Herfurth D ie Analyse der Attraktivität des SPNV trifft in Deutschland auf mindestens zwei Probleme: Es fehlt eine verbindliche Definition dafür, was attraktiven SPNV ausmacht [1], und es fehlen Daten. Bisherige Studien fokussieren sich allzu gerne nur auf städtische Ballungsräume [2] oder vermischen sämtliche Arten des ÖV zu einem vermeintlichen Gesamtbild [3]. Was bisher im SPNV ausgespart wurde, ist eine Analyse, die den SPNV flächendeckend und zugleich entlang seiner Verantwortungsstrukturen erfasst. Nur eine flächendeckende Analyse kann die grundgesetzliche Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen ehrlich überprüfen. Gleichermaßen kann nur eine Analyse entlang von Verantwortungsgrenzen auf den politischen Handlungsimpuls hoffen, den die Verkehrswende benötigt: Nur wer zuständig ist, muss sich angesprochen fühlen und kann sich nicht hinter einem Gesamtsystem verstecken. So fortschrittlich der Gedanke der nahtlosen Beförderungskette und der „Mobility as a Service“ [4] aus Nutzerperspektive auch sein mag - rechtlich ist der öffentliche Verkehr ein fragmentiertes System mit klar getrennten Zuständigkeiten. Daher führt diese Kurzvorstellung sämtliche Studienergebnisse zum SPNV stets auf die verantwortlichen Stellen zurück - die Aufgabenträger (AT) des SPNV. Abb. 1: Territoriale Gliederung der Aufgabenträger Eigene Darstellung. Kartengrundlage: © GeoBasis-DE / BKG 2020. Erläuterungen zu den Abkürzungen in der Langfassung dieses Artikels. NVBW BEG VRS VBB-BE VBB-BR RH VRR NVR NWL LNVG RVB NASA TMIL NAH.SH VMV ZSPNV Süd SPNV Nord ZPS VMS VVO ZVNL ZVON HVV SKUMS RMV VRN NVV ZVV Bild 1: Territoriale Gliederung der Aufgabenträger PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 27.01.2021 Endfassung: 06.04.2021 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 66 MOBILITÄT Wissenschaft Die Aufgabenträger des SPNV Im Nachgang zur Bahnreform von 1994 wurde mit der Regionalisierung 1996 die Verantwortung für den SPNV von der Bundesebene auf die Länderebene übertragen. Die Länder regelten in ihren ÖPNV-Gesetzen im eigenen Ermessen, die Aufgabe entweder zentral auf Landesebene anzusiedeln oder auf kommunale Ebene zu delegieren. So bestehen heute - nach einigen Veränderun- Querschnitt AV-1a AV-2a AV-3 AV-4a AV-5a AV-6 Netzdi chte Netzfrequenz 2018 2018 2018 2018 2018 2018 [Anzahl / 1.000 km²] [m / km²] [% d. Fläche] [0-30 Punkte] Bundesebene 17,54 88,15 1,74 1,57 72,70 AT-Ebene 29,50 130,75 2,14 1,92 89,03 9,54 Minimum 7,00 55,00 0,50 0,82 19,60 1,00 Maximum 149,00 660,00 11,26 5,99 100,00 23,00 21 12 23 7 5 23 AT ohne Stadtstaaten 21,92 102,12 1,52 1,62 87,71 9,36 Minimum 7,00 55,00 0,50 0,82 19,60 1,00 Maximum 41,00 308,00 3,42 3,36 100,00 23,00 6 6 7 4 5 23 Anmerkungen 1) Mittelwert für Deutschl and aus den Rohdaten, ohne Berücksi chtigung von AT-Abgrenzungen. 2) Glei chgewi chtiges Mittel aus den 28 AT. 3) Verhältni s von Maximum zu Minimum. Gerundet auf ganze Zahlen. Deskriptive Statistik zur Angebotsattraktivität Stationsdi chte Stationsfr. Verbundabd. Transpa'score [Halte / h und Ri.] [Züge / h und Ri.] Mittelwert 1) Mittelwert 2) Faktor 3) Mittelwert 4) Faktor 3) Bild 2: Deskriptive Statistik zur Angebotsattraktivität Abb. 3: Relative Vergleiche zwischen den AT Durchschnittlicher Wert Tarife Wert leicht negativer als der Durchschnitt Wert stark negativer als der Durchschnitt Wert leicht positiver als der Durchschnitt Wert stark positiver als der Durchschnitt Monatskarten Jahreskarten Einzelfahrkarten Zuschussbedarf Transparenz Legende Alle Indikatoren: Einzelwerte der AT bis einschließlich +/ - 10 % um den Mittelwert aller AT gelten als durchschnittlich. Definition der Abweichungen: Eigene Darstellung. Kartengrundlage: © GeoBasis-DE / BKG 2020 Bild 3: Relative Vergleiche zwischen den AT Abweichung … Tarif Zuschussbedarf Transparenz … leicht positiver < 90 bis 70 % < 90 bis 80 % > 110 bis 150 % … stark positiver < 70 % < 80 % > 150 % … leicht negativer > 110 bis 130 % > 110 bis 120 % < 90 bis 50 % … stark negativer > 130 % > 120 % < 50 % Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 67 Wissenschaft MOBILITÄT gen in der Zwischenzeit - 28 AT des SPNV [5]. Details zur Genese, den institutionellen Unterschieden und den-Veränderungen der AT im Zeitverlauf finden sich in der Langfassung zu diesem Artikel (zu finden unter: www.iv-dok.de/ 2021/ 21012741). Diese 28 AT bilden den Anknüpfungspunkt der Untersuchungen in dieser Studie. Bild 1 zeigt die Karte mit den gebräuchlichen Kurznamen der AT und deren territorialen Zuschnitt. Indikatorenauswahl auf Basis von Nutzerpräferenzen Die Auswahl der Indikatoren der Angebotsattraktivität erfolgt auf Basis von Studien zu Nutzerpräferenzen. Jene Studien fördern trotz unterschiedlicher Methodik und Entstehungsjahre sehr ähnliche Ergebnisse zutage: An erster Stelle steht zumeist der Tarif, gefolgt von Aspekten der Zugänglichkeit und der Verfügbarkeit. Aspekte des Komforts stehen zumeist erst weiter unten [6, 7, 8, 9]. Daraus lässt sich ein System von acht Indikatoren bilden, das die Ansprüche der Stakeholder „Nutzer“ und „Steuerzahler“ berücksichtigt. Die Indikatoren lauten: Stationsdichte und -frequenz, Netzdichte und -frequenz, Verbundabdeckung, Transparenz, Tarif und Zuschussbedarf. Die genaue Operationalisierung der Indikatoren kann der ausführlichen Fassung zu diesem Beitrag entnommen werden. Alle Indikatoren werden im Querschnitt für das Jahr 2018 erhoben. Für vier Indikatoren stehen zusätzlich Daten für einen Trend von 1996 bzw. 1998 gegenüber 2018 zur Verfügung. Leistungsunterschiede von bis zu Faktor 23 Die deskriptive Empirie (Bild 2) zeigt deutlich: Die Angebotsattraktivität des SPNV unterscheidet sich anhand dieser acht Indikatoren mitunter erheblich. Das wird besonders gut sichtbar, wenn man für jeden Indikator jeweils die minimale und die maximale Ausprägung miteinander vergleicht. Stets liegt mindestens Faktor 2 zwischen Minimum und Maximum, zum Beispiel beim Zuschussbedarf (AV-8 in Bild 2): Er reicht von 6,49 EUR pro Zugkilometer bis 12,03 EUR pro Zugkilometer. Lässt man die Stadtstaaten, die stets auch AT des SPNV sind, außen vor, reduziert sich der Unterschied zwischen Minimum und Maximum bei manchen Indikatoren, jedoch nicht überall. Mindestens Faktor 2 bleibt auch dann als Unterschied bestehen, im Extremfall sogar Faktor 23 (AV-6 in Bild-2). Relativer Vergleich und politische Benchmarks Die Tabelle in Bild 2 zeigt Mittelwerte, Minima und Maxima für alle Indikatoren als Synopse. Mit der fehlenden Definition für einen attraktiven SPNV wird in dieser Studie nun auf zwei Arten umgegangen: Zum einen können relative Vergleiche zwischen den 28 AT vorgenommen werden. Zum anderen können politische Forderungen, die Mindeststandards postulieren (etwa „überall Stundentakt“), als Benchmarks herangezogen und mit dem Ist-Zustand abgeglichen werden. Bild 3 nimmt sich Indikatoren vor, für die besonders der relative Vergleich zwischen den AT interessant ist. So zeigt Bild 3 für den Tarif, den Zuschussbedarf und die Transparenz auf, wie die AT relativ zum Mittelwert des jeweiligen Indikators abschneiden. Dabei wird deutlich, dass einzelne AT die Mittelwerte um mehr als 50 % überbzw. unterschreiten. Die Farblegende in Bild 3 wurde dabei so intuitiv wie möglich gehalten: Grüne Farbtöne stehen stets für positive Ergebnisse, also einen günstigen Tarif, einen niedrigen Zuschussbedarf oder eine hohe Transparenz. Gelbe und rote Farbtöne stehen entsprechend für negative Ergebnisse, also einen teuren Tarif, einen hohen Zuschussbedarf oder eine niedrige Transparenz - stets mit zwei Abstufungen relativ zum Durchschnitt aller AT. Die Definition von „leichter“ und „starker“ Abweichung vom Durchschnitt wurde anhand der empirischen Werteverteilung mit Rücksicht auf empirische Cluster vorgenommen. Daher unterscheiden sich die Grenzwerte leicht von Indikator zu Indikator. Holistische Betrachtung nicht sinnvoll Es fällt auf, dass allein für diese drei Indikatoren kein einziger der 28 AT stets in derselben „Liga“ spielt, also über alle drei Indikatoren stets durchschnittliche, unter- oder überdurchschnittliche Resultate erzielt. Dies gibt Trend AV-7 AV-8 AV-1b AV-2b AV-4b AV-5b Tarif für 17 km Zuschuss Netzdi chte Netzfrequenz 2018 2018 1998 - 2018 1996 - 2018 1996 - 2018 1998 - 2018 [Einzelfahrkarte in €] [Monatskarte in €] [Jahreskarte in €] [+ / - Anteil] [+ / - Anteil] [+ / - Anteil] [%-Punkte] 9,04 0,01 -0,07 0,40 36,20 5) 4,39 101,30 991,02 9,23 0,01 -0,05 0,39 66,21 2,70 63,40 627,70 6,49 -0,22 -0,32 0,19 19,60 5,90 145,10 1507,20 12,03 0,14 0,13 0,73 100,00 2 2 2 2 4 5 4,56 103,36 1011,87 9,36 0,01 -0,06 0,40 66,21 2,70 63,40 627,70 6,49 -0,22 -0,32 0,20 19,60 5,90 145,10 1507,20 12,03 0,14 0,13 0,73 100,00 2 2 2 2 4 5 4) Glei chgewi chtiges Mittel aus 25 AT (ohne AT der Stadtstaaten). 5) Werte in dieser Spalte nur mit jenen AT, die 1998 noch nicht über 100 % Verbundabdeckung verfügten (n=16). Stationsdi chte Verbundabd. [€ / zkm] AV = abhängige Variable (in diesem Artikel: Variablen der Angebotsattraktivität) Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 68 MOBILITÄT Wissenschaft einen ersten Hinweis darauf, dass eine umfassende Bewertung der Performanz kaum möglich ist. Es sollte folglich vom Versuch Abstand genommen werden, einen holistisch „besten“ AT zu ermitteln. Stattdessen sind die Ergebnisse für jeden Indikator der Angebotsattraktivität einzeln zu betrachten. Politische Benchmarks: Umsetzung zeigt Licht und Schatten Gerade beim Tarif - dem wichtigsten Kriterium aus Nutzerperspektive - lohnt auch ein Abgleich mit der politischen Forderung des „365 Euro Tickets“. Dahinter steht die Idee, eine Jahreskarte anzubieten, die nicht mehr als 365 Euro - entsprechend 1 EUR am Tag - kosten soll [10, 11]. Bezieht man dieses Anliegen einmal auf die durchschnittliche Pendelstrecke, so sieht man, dass diese Forderung nirgends umgesetzt ist: Der günstigste Tarif liegt bei 627,70 EUR für eine Jahreskarte 1, 2 . Im Mittel (der AT) kostet sie 991,02 EUR - also 2,72 EUR pro Tag statt 1 EUR pro Tag. Für weitere Indikatoren der Angebotsattraktivität ist ebenfalls ein absoluter Vergleich mit politischen Forderungen möglich. So gibt es Forderungen nach „mindestens Stundentakt auf allen Strecken“ [12], nach nahtloser Mobilität [13, 14, 15] und nach ganz grundsätzlich „mehr Angebot“ [14, 16]. Übersetzt man diese Forderungen in die zur Verfügung stehende Batterie an Indikatoren, so kann die Stundentakt-Forderung mittels des Indikators „Stationsfrequenz“, die Nahtlose-Mobilität-Forderung mittels des Indikators „Verbundabdeckung“ und die Mehr-Angebot-Forderung mittels einer Kombination aus den Indikatoren „Netzdichte“ und „Netzfrequenz“, jeweils im Trendschnitt, mit dem Status Quo abgeglichen werden. Bild 4 visualisiert die Ergebnisse für jene drei Forderungen. Die Forderung nach einem flächendeckenden Stundentakt als Mindestangebot erfüllen bereits 22 der 28 Aufgabenträger (gelbe und grüne Gebiete in Bild 4 oben links). Acht AT bieten sogar mindestens einen Halbstundentakt im Durchschnitt über all ihre Strecken (grüne Gebiete). Die verbleibenden sechs AT bieten dagegen im Durchschnitt nur einen Zweistundentakt an ihren Stationen (rote Gebiete). Bei der Forderung nach nahtloser Mobilität, die hier über die Existenz von Verkehrsverbünden operationalisiert wurde, ergibt sich empirisch ein sehr heterogenes Bild: Während im Status Quo 23 AT-Gebiete zu jeweils 100 % von Verbünden bedeckt sind (alle Gebiete mit Grüntönen in Bild 4 oben rechts), folgen die restlichen fünf AT mit weitem Abstand, nämlich zwischen 19,6 und 49,6 % Flächenabdeckung (Gebiete mit Rottönen in Bild- 4 oben rechts). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Startbedingungen sehr verschieden waren: Die Abb. 4: Absolute Vergleiche mit politischen Forderungen Sachstand zur Taktfrequenz Eigene Darstellung. Kartengrundlage: © GeoBasis-DE / BKG 2020 Sachstand zu „Mehr Angebot“ Legende zu „Mehr Angebot“ Sachstand zur nahtlosen Mobilität ND > 1 % gewachsen, NF ≥ 40 % gewachsen ND > 1 % gewachsen, NF < 40 % gewachsen ND > 1 % geschrumpft, NF ≥ 40 % gewachsen ND > 1 % geschrumpft, NF < 40 % gewachsen ND - 1 % bis + 1 %, NF ≥ 40 % gewachsen ND - 1 % bis + 1 %, NF < 40 % gewachsen ND = Netzdichte, NF = Netzfrequenz Bedienung mind. 2x pro Stunde Bedienung mind. 1x pro Stunde Bedienung geringer als 1x pro Stunde Legende zur Taktfrequenz 100 % seit mind. 1998 Von >0 % in 1998 auf <100 % in 2018 Von >0 % in 1998 auf <100 % in 2018 Von >0 % in 1998 auf <100 % in 2018 Von >0 % in 1998 auf <100 % in 2018 Legende zur nahtlosen Mobilität Operationalisiert über Verbundabdeckung: Hinweis: Der Schwellenwert zum Wachstum der Netzfrequenz bei 40 % wurde abgeleitet aus dem empirischen Mittelwert des Wachstums der Netzfrequenz in ganz Deutschland. Dieser liegt bei 40 %. Die Karte zeigt damit hinsichtlich der Netzfrequenz unter- und überdurchschnittliches Wachstum. Bild 4: Absolute Vergleiche mit politischen Forderungen Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 69 Wissenschaft MOBILITÄT Farbintensitäten innerhalb der rot und grün gefärbten Gebiete reflektieren das, indem sie den bereits vorhandenen Anteil an Verbundabdeckung im Jahr 1998 angeben. Besonders positiv sind dementsprechend aus heutiger Sicht zwar alle grün gefärbten Gebiete. Was die Entwicklung betrifft, haben sich aber die sechs grün-gelblich gefärbten Gebiete besonders positiv hervorgetan. Sie konnten ihre Verbundabdeckung von 1998 bis 2018 von 0 auf 100-% steigern. Positive Ergebnisse zur Forderung nach „mehr Angebot“ teils trügerisch Die pauschale Forderung nach „mehr Angebot“ bedarf einer Konkretisierung: Ist unter „mehr Angebot“ eine Ausweitung des Netzes und der Stationen zu verstehen, oder eine Erhöhung der Frequenzen auf bestehenden Netzen und an bestehenden Stationen? Empirisch haben die Netzfrequenzen seit der Regionalisierung in ausnahmslos allen AT-Gebieten zugenommen - und zwar zwischen 19 und 73 % (AV-4b in Bild 2). Zieht man nur die Netzfrequenz heran, war die Regionalisierung überall eine reine Erfolgsgeschichte, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Ideal aus Nutzersicht wäre jedoch eine Kombination aus beidem: Eine zunehmende Netzfrequenz sollte einhergehen mit einer zunehmenden oder wenigstens gleichbleibenden Netzdichte. Vereinfacht ausgedrückt wäre eine Kombination aus mehr Abfahrten an einer mindestens konstant bleibenden Zahl von Stationen zu begrüßen. Die Tabelle (AV-2b in Bild 2) zeigt bereits, dass dem nicht so war: Die Netzdichten haben sich seit 1996 zwischen -32 und +13 % verändert. Es zeigt sich dabei in etwa eine Dreiteilung Deutschlands, erkennbar am roten, grünen und grauen Gebiet in Bild 4, untere Karte: In vielen AT-Gebieten im Osten hat die Netzdichte abgenommen (in Rottönen eingefärbt). Im Norden und Westen ist eine Zunahme der Netzdichte zu beobachten (in Grüntönen eingefärbt). Im Süden schließlich sind etwa konstante Netzdichten zu beobachten (in Grautönen eingefärbt). Dem gegenüber steht die Veränderung bei der Netzfrequenz: In allen drei Bereichen lässt sich anhand der Farbintensität der Grad der Zunahme der Netzfrequenz ablesen: Dunkle Rot-, Grün- und Grautöne stehen für eine überdurchschnittliche Zunahme der Netzfrequenz, helle Rot- Grün- und Grautöne für eine unterdurchschnittliche Zunahme der Netzfrequenz. Bild 4, untere Karte, führt die Entwicklung der Netzfrequenz mit derjenigen der Netzdichte zusammen. Besonders positiv hervorzuheben sind also dunkelgrüne Gebiete, in denen die Netzdichte und zugleich die Netzfrequenz überdurchschnittlich gesteigert wurden. Besonders negativ fallen dagegen die hellroten Gebiete auf, in denen die Netzdichte abnahm und zudem noch die Netzfrequenz nur unterdurchschnittlich anstieg. Sozio-geografische Rahmenbedingungen als Erklärungsansätze Die großen Unterschiede zwischen den AT hinsichtlich einiger Indikatoren der Angebotsattraktivität werfen die Frage nach einer Erklärung auf. Während in der Ergebnisdarstellung (s. o.) darauf geachtet wurde, die Leistungsdaten stets als Realphänomene darzustellen (etwa „Halte pro Station“) und nicht mit sozio-geografischen Rahmenbedingungen zu vermischen (etwa „Halte pro Einwohner“), spielen jene sozio-geografischen Rahmenbedingungen nun in der Ursachenforschung eine große Rolle. Bisherige Studien gehen oft davon aus, dass etwaige Unterschiede in der Leistung der AT fast vollständig auf die Unterschiede in der Sozio-Geografie zurückzuführen seien [17, 18]. Korreliert man die Indikatoren der Angebotsattraktivität mit gängigen Indikatoren zu verkehrlich relevanten sozio-geografischen Rahmenbedingungen [19, 20], so ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Die stark ingenieurisch geprägten Indikatoren der Angebotsattraktivität - nämlich Stationsdichte und -frequenz, sowie Netzdichte und -frequenz - weisen tatsächlich starke Zusammenhänge mit sozio-geografischen Indikatoren, wie etwa der Besiedlungsdichte, auf (r zwischen 0,81 und 0,95). Allerdings verbleiben auch für jene vier Indikatoren in einer Ausreißeranalyse noch zahlreiche Paarvergleiche mit nicht über die Sozio-Geografie erklärbaren Leistungsunterschieden. Für alle übrigen Indikatoren der Angebotsattraktivität ist der Zusammenhang jedoch bereits auf Korrelationsebene deutlich schwächer (r zwischen 0,23 und 0,49). Die Ergebnisse im Einzelnen sind in der Langfassung zu finden. Abb. 5: Empirische Variablenbeziehungen Stat'dichte Stat'frequ. Sozio-geografische Indikatoren Pkw-Dichte Netzdichte BIP pro Kopf = Korrelation auf hohem Signifikanzniveau (ρ ≤ 0,01). = Indikatoren der Angebotsattraktivität ohne signifikante Korrelationen Hinweis: Sozio-geografische Indikatoren (SGI), Pkw-Dichte und BIP pro Kopf stehen mit den von der jeweiligen Klammer erfassten Indikatoren der Angebotsattraktivität einzeln in signifikantem Zusammenhang. Aufschlüsselung der SGI im Einzelnen in der Langfassung. Angebotsattraktivität Transparenz Tarif Netzfrequ. Verbund Zuschuss Bild 5: Empirische Variablenbeziehungen Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 70 MOBILITÄT Wissenschaft Nimmt man weitere verkehrlich relevante Kontrollvariablen hinzu, etwa die PKW-Dichte oder das BIP pro Kopf, so ergeben sich auch hier nur vereinzelt hohe Korrelationen mit den Indikatoren der Angebotsattraktivität. Gleicht man wiederum die PKW-Dichte und das BIP pro Kopf mit den sozio-geografischen Rahmenbedingungen ab, so drängt sich der Eindruck auf, dass in Teilen eine Mediationsbeziehung zwischen sozio-geografischen Indikatoren, PKW-Dichte und Indikatoren der Angebotsattraktivität besteht. Bild-5 gibt einen Überblick über den vermuteten mediierten Zusammenhang. Zu beachten ist dabei, dass der Zusammenhang bisher nur auf Basis von Korrelationen abgeleitet wurde. Eine Aussage zur Kausalität ist darin noch nicht enthalten, wobei angenommen werden darf, dass die Sozio-Geografie - wenigstens in der kurzen Frist - den Indikatoren der Angebotsattraktivität, wie auch den zusätzlichen Kontrollvariablen (PKW-Dichte und BIP pro Kopf ), zeitlich und kausal vorgelagert ist. Fazit Die Leistungsunterschiede zwischen den AT-Gebieten sind groß. Zwischen Minimum und Maximum an Angebotsattraktivität liegt je nach betrachtetem Indikator mindestens Faktor 2, maximal Faktor 23. Die bisher gängigen Erklärungen dafür tragen nur zum Teil: Die soziogeografischen Rahmenbedingungen liefern ein hohes Erklärungspotenzial für die vier eher ingenieurisch geprägten Größen (s. o.), jedoch nur ein geringes Erklärungspotenzial für die sonstigen Indikatoren der Angebotsattraktivität. Weitere Kontrollvariablen bieten nur vereinzelt zusätzliche Erklärungsansätze und deuten auf einen Mediationszusammenhang hin. Die Aufgabenträger des SPNV sind die politisch Verantwortlichen für den SPNV. Sollen Leistungsunterschiede im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse im ganzen Land abgebaut werden, sind sie die zuständigen Adressaten, die sich nicht hinter einem Gesamtsystem verstecken können. In Anbetracht der Klimaziele im Verkehrssektor ist es mehr denn je erforderlich, verantwortliche Stellen klar zu benennen und die ihnen zurechenbare Leistung herauszuarbeiten. In Ermangelung verbindlicher Standards für ÖPNV und SPNV ist der relative Vergleich zwischen den zuständigen Stellen im föderalen Wettbewerb momentan die einzige Möglichkeit, um zielgerichtet im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse nachsteuern zu können. Mit Blick auf eine klimafreundliche Verkehrswende wäre eine Konvergenz in Richtung des jeweils höchsten Niveaus an Angebotsattraktivität natürlich am erfreulichsten. Davon ist der SPNV in Deutschland noch weit entfernt. ■ Langfassung des Beitrags: www.iv-dok.de/ 2021/ 21012741 1 Auf welche Nutzungsmöglichkeit sich die Forderung genau bezieht (das Gebiet eines Verbundes, eines Bundeslandes, eines SPNV-AT - oder eben nur auf eine durchschnittliche Pendelstrecke), bleibt in den politischen Programmen leider meistens unklar. 2 Verbünde und andere Tarifkooperationen unterhalb der AT-Ebene bieten 365-Euro-Tickets in Einzelfällen an. Der Bezugspunkt hier sind aber nur solche Pendelstrecken, die so „ungünstig“ liegen, dass sie stets den AT-weit gültigen Tarif erforderlich machen. Etwaige andere Tarife, die nicht AT-weit angewendet werden können, bleiben unberücksichtigt. LITERATUR [1] ARL Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (2020): Raumordnung: Anwalt für gleichwertige Lebensverhältnisse und regionale Entwicklung. Eine Positionsbestimmung. ARL-Positionspapier 115. Hannover: ARL [2] Civity Management Consultants (2017): ÖPNV-Report 2017. Hamburg und Berlin: Civity Management Consultants [3] BBSR Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2018): Verkehrsbild Deutschland. Angebotsqualitäten und Erreichbarkeiten im öffentlichen Verkehr. Bonn: BBSR [4] Hietanen, S. (2014): Mobility as a Service. The new transport model? 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Die Gewinnung der besonderen Metalle belastet die Umwelt erheblich: Jede Tonne gefördertes Selten- Erd-Material produziert hohe Mengen toxischer und ätzender Abgase, zum Beispiel Schwefeldioxid, sowie säurehaltige Abwässer. Die HDSRM150-Maschine von AEM kommt jedoch komplett ohne Seltene Erden wie Neodym und Dysprosium aus. Zusätzlich strebt das Unternehmen an, das Kupfer für die Wicklungen durch Aluminium zu ersetzen, um die Recyclingfähigkeit zu verbessern. Durch den Verzicht auf Kupfer wird der Motor zudem leichter, ohne die Gesamteffizienz zu verringern. Diese nachhaltig produzierte E- Maschine wird in die neue E-Achse SAF TRAKr eingebaut. Sie nutzt Rekuperation, indem sie die Bewegungsenergie des Fahrzeugs in elektrische Energie umwandelt. Diese wird in einer Lithium- Ionen-Batterie zwischengespeichert und anschließend für Nebenverbraucher im Trailer genutzt, etwa für Pumpen oder Kühlsysteme. Die Rekuperation als zusätzliche Quelle der Stromerzeugung spart Kraftstoff ein und verringert gleichzeitig Abgas-Emissionen des Lastzuges. www.safholland.de / red Digitale Kreuzungsdaten für kooperative Verkehrssysteme S eit Jahresbeginn 2021 betreibt der Städteverband OCA e.V. (Open Traffic Systems City Association), ein im Jahre 1999 gegründeter Verband öffentlicher Baulastträger und Betreiber in der Straßenverkehrstechnik, das mFUND-Projekt „Di- MAP“. Es widmet sich der Digitalisierung von Kreuzungstopologien und -geometrien für den Regelbetrieb kooperativer Verkehrssysteme. Im Fokus stehen die Erstellung harmonisierter Spezifikationen sowie die Beschreibung organisatorischer Prozesse hinsichtlich der Erstellung, Bereitstellung und Qualitätssicherung dieser digitalen Kreuzungsinformationen. Im Fokus des „DiMAP“-Projekts stehen eine deutschlandweite, harmonisierte Spezifikation von Daten bezogen auf Kreuzungstopologien und -geometrien - sogenannter MAP-Daten - in Anlehnung an geltende Regulierungen, Standards und Normen unter Berücksichtigung kommunaler Anforderungen, außerdem eine Beschreibung der Prozesse zur Erhebung, Verarbeitung und Pflege der Daten. Des Weiteren soll ein Konzept erstellt werden, das die organisatorischen, rechtlichen und wettbewerblichen Voraussetzungen für den Betrieb einer Clearingstelle mit dem Ziel der permanenten Verbesserung der Datenqualität definiert. Abgerundet wird das Projekt durch eine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung und Empfehlungen zur Behebung von Organisations- und Prozess-Ineffizienzen. Insgesamt soll die Bereitstellung hoch qualitativer digitaler Kreuzungsinformationen ermöglicht werden, um einen deutschlandweiten Regelbetrieb kooperativer Verkehrssysteme sowie digitale Vorrangschaltungen für den ÖPNV und Einsatzfahrzeuge und eine verbesserte Abwicklung anderer Verkehrsträger wie Radfahrer oder Fußgänger gewährleisten zu können. www.oca-ev.org / red Foto: Nick Photoarchive / pixabay Flussbatterien: Neues Forschungsprojekt der Universität Bayreuth D ie langfristige Speicherung aus Sonne und Windkraft gewonnener elektrischer Energie hat für das Gelingen der Energiewende und der Verkehrswende zentrale Bedeutung. Flussbatterien (Redox- Flow-Batterien) haben sich als eine wirtschaftlich und ökologisch interessante Form der Energiespeicherung erwiesen. Ein neues Forschungsprojekt von Birgit Weber, Professorin für Anorganische Chemie an der Universität Bayreuth, will nun diesen Batterietyps optimieren. Das Ziel ist es, Wirkungsgrad und Speicherkapazität umweltfreundlicher Flussbatterien auf der Basis von Eisen deutlich zu steigern. Verglichen mit Lithium-Ionen-Batterien, die mit festen Elektrolyten arbeiten, weisen Flussbatterien zahlreiche Vorteile auf: Sie haben eine relativ hohe Lebensdauer und setzen keine umweltschädlichen Substanzen frei. Zudem macht es der modulare Aufbau der Flussbatterien möglich, die Energiespeicherung von Lade- und Entladevorgängen räumlich zu entkoppeln. Grundsätzlich lassen sich mit Flussbatterien sehr hohe Speicherkapazitäten aufbauen, obwohl die Energiedichte in den flüssigen Elektrolyten gering ist. Flussbatterien, in deren Elektrolytbehältern sich gelöstes Vanadium befindet, haben Bild: SAF Holland Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 72 TECHNOLOGIE Nachrichten Drehgestell der neuesten Generation für den Schienenverkehr D ie Entwicklung eines neuartigen Drehgestellrahmens für den Schienenverkehr geht in die nächste Phase: Ende 2020 arbeitete Hörmann Vehicle Engineering (HVE) mit Sitz in Chemnitz gemeinsam mit ihrem Projektpartner, dem Institut für Konstruktion und Verbundbauweisen (KVB), am Fertigungswerkzeug für ein seriennahes Referenzbauteil des neuartigen „hybridBO- GIE“ (Englisch für Hybrid-Drehgestell). Nun beginnt die Fertigung des innovativen Längsträger-Demonstrators. Beteiligt am Projekt „hybridBOGIE“ sind neben HVE und KVB das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) und die IMA Materialforschung und Anwendungstechnik GmbH (IMA). Ziele sind eine Gewichtseinsparung von 75 Prozent gegenüber einem konventionellen Drehgestellrahmen, die Integration der Primärfeder, eines Steinschlagschutzes und Sensornetzwerkes in den Rahmen, die Erarbeitung eines Degradationsmodelles zur Bestimmung der Restlebensdauer des Faserverbundes und die Entwicklung eines speziell auf den Hybrid-Verbund angepassten Prüfverfahrens. All diese Schritte sollen zu einem Drehgestell mit besseren Parametern bei Funktionalität, Gewicht, Laufleistung und Geräuschemission führen. www.hoermann-gruppe.com / ae Hochtemperatur-Brennstoffzelle mit Ammoniak für Schiffe D er Seeverkehr stößt jedes Jahr viele hundert Millionen Tonnen klimaschädliches Kohlendioxid aus. Weltweit erproben Wissenschaftler neue Antriebskonzepte, die Schweröl als Treibstoff ablösen könnten. Fraunhofer-Forschende arbeiten im ShipFC-Projekt in einem internationalen Konsortium an Brennstoffzellen auf Basis von Ammoniak (NH3). Als Treibstoff für elektrische Schiffsmotoren ist Ammoniak ebenso „grün“ wie Wasserstoff, dabei aber weniger gefährlich und einfacher in der Handhabung. Auch funktioniert die Stromerzeugung mit Ammoniak ähnlich wie bei Anlagen auf Wasserstoff-Basis. Das Fraunhofer-Institut für Mikrotechnik und Mikrosysteme IMM in Mainz entwickelt nun im Projekt ShipFC gemeinsam mit 13 europäischen Verbundpartnern die weltweit erste Brennstoffzelle auf Basis von Ammoniak für Schiffe. Die Fraunhofer-Forschenden sind für den Katalysator zuständig, der dafür sorgt, dass keine klimaschädlichen Abgase entstehen. Das Forschungsteam entwickelt auch den Reaktor, der den passiv arbeitenden Katalysator umgibt. Der Reaktor steuert die Temperatur und regelt die Gasströme. Er heizt den Katalysator beispielsweise schon vor dem Start der Maschinen vor, da er in kaltem Zustand nicht so effizient arbeitet. Die Gase, die den Katalysator durchströmen, sollten voraussichtlich etwa 500 °C heiß sein, damit die Abgasreinigung möglichst wirksam ist. Ein erster kleiner Prototyp soll gegen Ende 2021 fertig sein, Ende 2022 dann ein Prototyp in der endgültigen Größe. In der zweiten Jahreshälfte 2023 wird das erste Schiff mit der Ammoniak-basierten Brennstoffzelle in See stechen, das Versorgungsschiff Viking Energy der norwegischen Reederei Eidesvik. Danach sollen weitere Schiffstypen wie etwa Frachtschiffe damit ausgestattet werden. www.imm.fraunhofer.de / red Foto: UBT / C. Wißler Katalysator-Teststand Bild: Fraunhofer IMM Bild: Hörmann Industries sich in den letzten Jahren als im Prinzip hochattraktive Speichertechnologie erwiesen. Allerdings ist Vanadium ein seltenes und teures Metall, das oft Verunreinigungen aufweist. „Heute gilt Eisen als der mit Abstand am meisten versprechende Kandidat für Flussbatterien. Es ist ein auf der Erde reichlich vorhandenes, kostengünstiges Metall, das sich durch eine geringe Toxizität auszeichnet und in verschiedenen molekularen Umgebungen eingesetzt werden kann“, sagt Prof. Weber. „Unser Ziel ist es, auf der Grundlage von Eisen umweltfreundliche und hocheffiziente Flussbatterien zu entwickeln. Diese werden aufgrund ihrer hohen Speicherkapazität dazu beitragen können, den Anteil nachhaltiger Energiequellen an der Energieversorgung wesentlich zu erhöhen.“ Das Vorhaben wird von der Volkswagen- Stiftung aus dem Programm „Experiment! “ für anderthalb Jahre gefördert. www.uni-bayreuth.de / ebl Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 73 Veranstaltungen FORUM Foto: 1388843 / pixabay Zukunftsfähige Brücken, Tunnel und Straßen Vorschau: 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur, 29. bis 30.-Juni 2021, Esslingen (DE) E rstmals veranstaltet die Technische Akademie Esslingen (TAE) am 29. und 30. Juni 2021 einen Fachkongress zur Sicherung und Erhaltung der Zukunftsfähigkeit einer verkehrsträgerübergreifenden Infrastruktur. Unter der fachlichen Leitung von Dir. Prof. Dr.-Ing. Jürgen Krieger, Abteilungsleiter Brücken- und Ingenieurbau der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), werden in knapp 50 Fachvorträgen in parallelen Sessions Technologien sowie Methoden der Digitalen Transformation vorgestellt und diskutiert. Die Fachvorträge zeigen Potenziale und Herausforderungen digitaler Technologien auf und präsentieren Konzepte zur Verknüpfung von (zukünftigen) digitalen Entwicklungen mit der Verkehrsinfrastruktur. Darüber hinaus werden aktuelle Anwendungen vorgestellt und ihr Nutzen im Lebenszyklus betrachtet. Themenschwerpunkte der zweitägigen Veranstaltung mit begleitender Ausstellung sind: Asset Management, Building Information Modeling (BIM), Digital Twin, das Gebiet Internet of Things, Künstliche Intelligenz und Smart Data in der Anwendung sowie der Bereich Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR). Ziel des Fachkongresses ist es, die Potenziale des Digitalen Wandels für die Verkehrsinfrastruktur deutlich zu machen und so einen wichtigen Beitrag zu deren Zukunftsfähigkeit zu leisten. Im Fokus stehen dabei aktuelle Projektbeispiele aus dem Brücken-, Tunnel- und Straßenbau - mit unterschiedlichen Blickwinkeln aus Planung, Bauausführung und Betrieb. Die TAE wird die Fachtagung im hybriden Flex-Format durchführen. Interessierte können daher (auch spontan) entscheiden, ob sie vor Ort teilnehmen oder die Vorträge lieber zum reduzierten Preis live auf ihr Endgerät streamen möchten. www.tae.de/ go/ digitrave Der European Green Deal und die Folgen Vorschau: 19 th European Transport Congress (ETC), 7. bis 8. Oktober 2021, Maribor (SL) oder online F ür den 7. bis 8. Oktober 2021 hat die European Platform of Transport Sciences EPTS zusammen mit der University of Maribor den 19. European Transport Congress (ETC) geplant. Das Motto „European Green Deal, Challenges and Solutions for Mobility and Logistics in Cities“ umfasst in der Tat die derzeit dringlichsten Herausforderungen und Aufgaben für Verkehrsplaner, Kommunen und Verkehrsbetriebe in Europa. Die Veranstaltung, abgehalten in englischer Sprache, ist verbunden mit der Verleihung des 16. European Friedrich-List-Award für junge Verkehrswissenschaftler. Der Preis erinnert an den 1789 geborenen Wirtschaftstheoretiker, Unternehmer, Diplomat und Eisenbahn-Pionier Daniel Friedrich List, der sich für die Schaffung eines Binnenmarktes durch Abschaffung der Zollgrenzen, vor allem aber den Aufbau eines deutschen Eisenbahnnetzes einsetzte. Im Juni soll die Entscheidung fallen, ob der Kongress online oder als Präsenzveranstaltung im slowenischen Maribor abgehalten werden kann. www.epts.eu/ etc2021 Neue Strategien für Bus und Bahn Vorschau: 10. ÖPNV Innovationskongress, 9. bis 10. Juni 2021, Online-Veranstaltung V erkehrswende und nachhaltige Mobilität, Digitalisierung und Vernetzung - und natürlich auch die aktuellen Herausforderungen durch die Corona-Krise: Beim 10. ÖPNV-Innovationskongress am 9. und 10. Juni 2021 stehen alle Themen auf der Agenda, die die Nahverkehrsbranche bewegen. Veranstalter ist das Ministerium für Verkehr des Landes Baden-Württemberg. Die Corona-Pandemie hat auch auf den öffentlichen Nahverkehr deutliche Auswirkungen. Neue Hygiene- und Abstandsregeln sowie ein stark verändertes Nutzerverhalten stellen die Branche derzeit vor große Herausforderungen. Auch führt der Trend zu mehr Homeoffice dazu, dass die Zahl der Berufspendler - und damit der Fahrgäste im ÖPNV - spürbar sinkt. Nach wie vor auf der Agenda stehen jedoch die großen Themen Digitalisierung und Vernetzung sowie der Klimawandel und die Verkehrswende hin zu einer nachhaltigeren Mobilität. Neue Ideen und Konzepte sind gefragt, damit der öffentliche Nahverkehr aus der aktuellen Situation gestärkt in die Zukunft gehen kann. Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigen zahlreiche Referentinnen und Referenten aus dem In- und Ausland beim ÖPNV-Innovationskongress. Die Veranstaltung findet aufgrund der anhaltenden Einschränkungen durch die Corona-Pandemie und die weiterhin hohen Infektionszahlen nicht wie gewohnt im Kongresszentrum Konzerthaus Freiburg statt, sondern komplett digital. https: / / vm.baden-wuerttemberg.de/ de/ mobilitaet-verkehr/ bus-und-bahn/ oepnvi n n o v a t i o n s k o n g r e s s / k o n g r e s s p r o gramm-2021/ Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 74 GREMIEN | IMPRESSUM Erscheint im 73. Jahrgang Impressum Herausgeber Prof. Dr. Kay W. Axhausen Prof. Dr. Hartmut Fricke Prof. Dr. Hans Dietrich Haasis Prof. Dr. Sebastian Kummer Prof. Dr. Barbara Lenz Prof. Knut Ringat Verlag und Redaktion Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22 | D-72270 Baiersbronn Tel. +49 7449 91386.36 Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de www.trialog.de Verlagsleitung Dipl.-Ing. Christine Ziegler VDI Tel. +49 7449 91386.43 christine.ziegler@trialog.de Redaktionsleitung Eberhard Buhl, M. A. (verantwortlich) Tel. +49 7449 91386.44 eberhard.buhl@trialog.de Korrektorat: Ulla Grosch Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de dispo@trialog.de Gültig ist die Anzeigenpreisliste Nr. 57 vom 01.01.2021 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 service@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr mit International Transportation Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist sechs Wochen vor Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Jahres-Bezugsgebühren Inland: Print EUR 212,00 / eJournal EUR 202,00 (inkl. MWSt.) Ausland: Print EUR 217,00 / eJournal EUR 207,00 (exkl. VAT) Einzelheft: EUR 37,00 (inkl. MWSt.) + Versand Das Abonnement-Paket enthält die jeweiligen Ausgaben als Print-Ausgabe oder eJournal mit dem Zugang zum Gesamtarchiv der Zeitschrift. Campus-/ Unternehmenslizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck Qubus Media GmbH, Hannover Herstellung Schmidt Media Design, München, schmidtmedia.com Titelbild Ehemaliger Flughafen Berlin-Tempelhof / Clipdealer Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Baiersbronn-Buhlbach ISSN 0020-9511 Herausgeberkreis Herausgeberbeirat Matthias Krämer Abteilungsleiter Strategische Planung und Koordination, Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI), Berlin Sebastian Belz Dipl.-Ing., Generalsekretär EPTS Foundation; Geschäftsführer econex verkehrsconsult GmbH, Wuppertal Gerd Aberle Dr. rer. pol. Dr. h.c., Professor emer. der Universität Gießen und Ehrenmitglied des Herausgeberbeirats Magnus Lamp Programmdirektor Verkehr Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Köln Uwe Clausen Univ.-Prof. Dr.-Ing., Institutsleiter, Institut für Transportlogistik, TU Dortmund & Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Vorsitzender, Fraunhofer Allianz Verkehr Florian Eck Dr., Geschäftsführer des Deutschen Verkehrsforums e.V., Berlin Michael Engel Dr., Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Fluggesellschaften e. V. (BDF), Berlin Alexander Eisenkopf Prof. Dr. rer. pol., ZEPPELIN-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Verkehrspolitik, Zeppelin University, Friedrichshafen Tom Reinhold Dr.-Ing., Geschäftsführer, traffiQ, Frankfurt am Main (DE) Ottmar Gast Dr., Vorsitzender des Beirats der Hamburg-Süd KG, Hamburg Barbara Lenz Prof. Dr., Direktorin Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin Knut Ringat Prof., Sprecher der Geschäftsführung der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Hofheim am Taunus Detlev K. Suchanek Gesellschafter-Geschäftsführer, PMC Media House GmbH, Hamburg Erich Staake Dipl.-Kfm., Vorstandsvorsitzender der Duisburger Hafen AG, Duisburg Wolfgang Stölzle Prof. Dr., Ordinarius, Universität St. Gallen, Leiter des Lehrstuhls für Logistikmanagement, St. Gallen Martin Hauschild Vorsitzender des VDI-Fachbeirats Verkehr und Umfeld; Leiter Verkehrstechnik & Verkehrsmanagement BMW Group, München Ute Jasper Dr. jur., Rechtsanwältin Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek, Düsseldorf Johannes Max-Theurer Geschäftsführer Plasser & Theurer, Linz Matthias von Randow Hauptgeschäftsführer Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), Berlin Kay W. Axhausen Prof. Dr.-Ing., Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT), Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), Zürich Hartmut Fricke Prof. Dr.-Ing. habil., Leiter Institut für Luftfahrt und Logistik, TU Dresden Hans-Dietrich Haasis Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Maritime Wirtschaft und Logistik, Universität Bremen Sebastian Kummer Prof. Dr., wissenschaftlicher Leiter der ÖVG und Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik, Wien Peer Witten Prof. Dr., Vorsitzender der Logistik- Initiative Hamburg (LIHH), Mitglied des Aufsichtsrats der Otto Group Hamburg Oliver Wolff Hauptgeschäftsführer Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Köln Oliver Kraft Geschäftsführer, VoestAlpine BWG GmbH, Butzbach Ralf Nagel Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Reeder (VDR), Hamburg Jan Ninnemann Prof. Dr., Studiengangsleiter Logistics Management, Hamburg School of Business Administration; Präsident der DVWG, Hamburg Ben Möbius Dr., Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie in Deutschland (VDB), Berlin Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 75 VORSCHAU | TERMINE Liebe Leserinnen und Leser, je länger diese Pandemie andauert, desto deutlicher rücken ihre Folgen für Transport und Verkehr in den Vordergrund. Der letzthin vielversprechende Zulauf für den ÖV, vom Auto hin zu klimaschonenden Bussen und Bahnen, ist ins Stocken geraten - ja sogar rückläufig. Zahlreiche Beiträge in der vorliegenden Ausgabe bringen Belege für dieses veränderte Mobilitätsverhalten und - weil ja alles von allem abhängt - für die Rückschritte bei Verkehrswende und Klimaschutz. So werden wir in der September-Ausgabe von Internationales Verkehrswesen mit dem Themenschwerpunkt Technologiewandel jene Aspekte in den Blick nehmen, die bereits vor Corona für harte Diskussionen sorgten. Erneuerbare Energieträger wie E-Fuel und Wasserstoff, Antriebsstrategien mit Elektro- und Verbrennungsmotoren sowie deren Akzeptanz stehen ja weiterhin oben auf der Agenda. International Transportation mit Beiträgen in englischer Sprache ist wieder thematisch in das Heft integriert. Changing the Game: Solutions fokussiert auf Lösungen und Praxisbeispiele und soll zeigen, wie diese Herausforderungen anderswo auf der Welt in Angriff genommen werden. Ausgabe 3/ 2021 erscheint am 1. September. Ich lade Sie wieder herzlich ein, Ihr Expertenwissen mit unseren Lesern zu teilen. Ihr Eberhard Buhl Redaktionsleiter TERMINE + VERANSTALTUNGEN Was, wann wo ...? Weiterhin ist unklar, welche angekündigten oder pandemiebedingt verschobenen Termine in den kommenden Monaten wirklich stattfinden können. Daher finden Sie eine laufend aktualisierte Terminübersicht derzeit nur auf der Webseite: www. internationales-verkehrswesen.de Foto: Pexels / pixabay 2021 | Heft 2 Mai
