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Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
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2022 | Heft 3 September Wie Verkehrsmittel und Infrastrukturen besser genutzt werden können Multimodal und nachhaltig Heft 3 | September 2022 74. Jahrgang POLITIK ÖV-Preispolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz LOGISTIK Neue Wege gehen beim Modal Split MOBILITÄT 9-Euro-Ticket - Mobilitätswende jetzt-für alle? TECHNOLOGIE Mikroplastik im Straßenverkehr: Die-unsichtbare Gefahr INTERNATIONAL TRANSPORTATION Focus on rail freight transport and technology worldwide www.internationalesverkehrswesen.de DAS FACHMAGAZIN FÜR DIE JACKENTASCHE Lesen Sie Internationales Verkehrswesen und International Transportation lieber auf dem Bildschirm? Dann stellen Sie doch Ihr laufendes Abo einfach von der gedruckten Ausgabe auf ePaper um - eine E-Mail an service@trialog.de genügt. Oder Sie bestellen Ihr neues Abonnement gleich als E-Abo. 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Der Begeisterung auf der einen Seite angesichts von fast 40-Millionen verkauften Tickets schlägt auf der anderen Seite viel Skepsis entgegen, vor allem weil abzuwarten bleibt, welche Wirkungen die 2,5-Milliarden-Maßnahme tatsächlich generiert. Festzustehen scheint jetzt schon, dass sie vor allem zusätzliche Verkehre erzeugt hat - und dabei insbesondere Freizeitverkehre. Dies aber als Negativ-Effekt zu verbuchen, wäre unangemessen. Vielmehr zeigt sich, dass Menschen gerne unterwegs sind, und dank 9-Euro-Ticket tun sie das mit einem umweltfreundlichen Verkehrsmittel. Dessen ungeachtet haben die Kritiker wohl Recht mit ihren Erwartungen, dass die Auswirkungen, die einen Beitrag zur Mobilitätswende darstellen, nur schwach bleiben und die erhoffte Verlagerung vom Auto zum öffentlichen Verkehr nur marginal zustande kommen wird. Dennoch wird um eine Fortsetzung eines einfacheren und günstigeren Zugangs zum öffentlichen Verkehr gerungen, und das 9-Euro-Ticket könnte sich so immerhin vom Groß-Experiment zur Initialzündung einer Entwicklung wandeln, die weiterhin aufmerksam und sorgfältig begleitet werden muss. Vor allem darf der mediale Hype um das 9-Euro-Ticket nicht vergessen machen, dass die Herausforderungen an einen nachhaltigen Verkehr der Zukunft nichts an Komplexität verloren haben und mit einer spektakulären Tarifmaßnahme nicht einfach „erschlagen“ werden können. Einfache Lösungen gibt es nicht - zumindest dann nicht, wenn ein systemischer Maßstab angelegt wird. Dies betrifft in besonderer Weise auch die Interaktion von Verkehrsmitteln und Infrastrukturen. Von einem Gelingen dieser Interaktion hängt die Möglichkeit zur Integration unterschiedlicher Modi ebenso ab wie der Zugang zu Mobilitätsoptionen. Dabei sollte nicht nur die Alltagsmobilität in den Blick genommen werden, sondern auch derjenige Teil unserer Mobilitätswünsche und -bedürfnisse, der in Form von Reisen über größere Entfernungen, sei es aus privaten oder beruflichen Gründen, stattfindet. Kommt auch hier „Mobilität für alle“ wirklich voran? Wie funktioniert gesellschaftliche Teilhabe für diejenigen, für die die Mitnahme eines Handgepäckstücks bereits eine erste Hürde auf dem Weg in den Urlaub darstellt? Welche Barrieren müssen abgebaut werden, damit Mobilitätsoptionen tatsächlich für alle offen stehen? Liebe Leserinnen und Leser, die September-Ausgabe unseres Journals stellt sich einmal mehr technologie- und branchenoffen wichtigen Themen des Verkehrs und bringt neue Erkenntnisse und interessante Aspekte in die Diskussion ein. Unsere Autorinnen und Autoren blicken aus unterschiedlicher Perspektive auf das 9-Euro-Ticket und auf den weiteren Kontext des öffentlichen Verkehrs. Sie berichten über Barrierefreiheit und Intermodalität bei Flugreisen, und sie beleuchten aktuelle Entwicklungen im Güterverkehr - sowohl auf der Straße als auch auf der Schiene. Dazu wünsche ich Ihnen eine spannende Lektüre. Ihre Barbara Lenz Prof. Dr., ehem. Direktorin Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 4 POLITIK INFRASTRUKTUR 22 Soziale Implikationen einer barrierefreien Flugreise Entwicklungstendenzen innerhalb des Transfers bei rollstuhlfahrenden Menschen Marcel Weber Bernhard Guggenberger Birgit Jocham Katharina Werner Heidelinde Jelinek-Nigitz 27 Neuartiges Konzept der Sicherheitsarchitektur eines Flughafens Ganzheitliche Interpretation der Sicherheitsinfrastruktur am-Flughafen mithilfe von KI Olaf Milbredt Andrei Popa Friederike-Chantal Doenitz Martin Hellman LOGISTIK Foto: Ursula / pixabay SEITE 22 Foto: World in my Eyes / pixabay SEITE 38 Foto: Lachmann-Anke / pixabay SEITE 14 10 Das 9-Euro-Ticket Ziele, Wirkungsmechanismen und Perspektiven Andreas Krämer Anna Korbutt 14 Preissenkungen im öffentlichen Verkehr Wirkungen, Erfolgsfaktoren und Risiken - eine wissenschaftliche Perspektive Hannes Wallimann Widar von Arx Kevin Blättler 18 Geschäftsluftfahrt an deutschen Flugplätzen Zusammenhänge und regionalwirtschaftliche Implikationen Johannes Schneider 38 Nachhaltiger Transportieren Mit Modal Split für Massengüter die Klimaziele besser erreichen Birte Heinen Jan Sebastian Donner Peter Wengelowski 41 Fahrfremde Tätigkeiten in schweren Güterkraftfahrzeugen Was tun Berufskraftfahrende beim Automatisierten Fahren? Eine explorative Stakeholderbefragung zur Ausübung fahrfremder Tätigkeiten Greta Hettich Katharina Beck Heike Flämig Marie Wolter Gina Schnücker Lara Damer WISSENSCHAFT 46 Logistikkonzept für-Gütertransporte per-Straßenbahn Analyse logistischer Anforderungen an ein Güterstraßenbahnkonzept Lisa Fäßler Ingo Dittrich Theo Lutz Jonas Ziegler Roland Frindik Günter Koch Bild: Source: GIZ 54 Lightweight design of the Extended Market Wagon An innovative freight wagon developed in Fr8Rail 4, a Europe’s Rail project David Krüger Christian Gomes Alves Nicolai Schmauder Mathilde Laporte Robert Winkler-Höhn Gerhard Kopp 58 Bundling challenges in Huband-Spoke networks Focus on rail transport with a case of MegaHub in-Hannover- Lehrte Ralf Elbert Hongjun Wu 62 From trucks to tracks Promoting rail freight transport in emerging economies Friedel Sehlleier Tanya Mittal Xuan Ling Karen Martinez Lopez Deepak Baindur INTERNATIONAL WISSENSCHAFT 32 Graphenbasierte Wissensdatenbank zur Infrastrukturplanung Vitali Schuk, Felix Belz, Tobias Weiß, Ullrich Martin Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 5 INHALT September 2022 Aktuelle Themen, Termine und das umfangreiche Archiv finden Sie unter www.internationales-verkehrswesen.de TECHNOLOGIE RUBRIKEN 03 Editorial 06 Im Fokus 17 Bericht aus Brüssel 94 Forum 98 Impressum | Gremien AUSGABE 4 | 2022 90 Digital vorsorgen: Saubere Städte gestalten Datenmodell schafft Grundlage für die Reduktion von Mikroplastikemissionen im öffentlichen urbanen Raum Clara Herkenrath Gerrit Hoeborn Foto: Ri Butov / pixabay SEITE 70 Foto: Wal172619 / pixabay SEITE 90 MOBILITÄT 66 Einbindung des Luftverkehrs in-intermodale Reisen Ziele von „Flightpath 2050“: Noch deutlicher Handlungsbedarf bei der nahtlosen Reise innerhalb von Europa Jörg Buxbaum 70 Weniger Pendelverkehr durch regionale Kooperation Uwe Böhme Thomas Klinger Andrea Dittrich-Wesbuer Christian Holz-Rau Joachim Scheiner 73 Integration des Straßenpersonennahverkehrs in den Deutschlandtarif Kilian Saenger Christian Grotemeier Florian Heinitz 78 ÖPNV für alle? Erwartungen an das 9-Euro-Ticket vor Start der Maßnahme Marie Klosterkamp Paul Papendieck Angela Francke 82 Vom Bahnhof zum intermodalen Mobility Hub Umbau des Bahnhofs Stuttgart- Vaihingen zur- Mobilitätsstation Andrés Vargas Diaz Philipp Henzgen Infrastruktur - Stadt- und Verkehrsplanung - Strategien und Lösungen - Berichte aus der Praxis Erscheint am 16. November 2022 THEMEN, SCHLAGWORTE, AUTOREN, … Schlagen Sie einfach nach: Fach- und Wissenschafts-Artikel aus Internationales Verkehrswesen finden Sie-ab dem Jahr 2000 online in der Beitragsübersicht - auf der Archiv-Seite im Web. www.internationalesverkehrswesen.de/ archiv 86 Neues Wohnen - neue Mobilität? Perspektiven aus der Praxis auf-Mobilitätsmaßnahmen im Wohnbau Jonas Krombach Christoph Singelmann Benjamin Heldt Rebekka Oostendorp Andrea Weninger Gerald Franz Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 6 IM FOKUS Toulouse betreibt längste Seilbahn Frankreichs W ie schon Mexiko-Stadt, New York, Haifa oder Barcelona betreibt nun auch die 500.000-Einwohner-Metropole Toulouse im Süden Frankreichs eine in den ÖPNV integrierte Seilbahn als umweltfreundliches, effizientes und nachhaltiges öffentliches Verkehrsmittel. Die „Téléo“ genannte Anlage des französischen Seilbahnherstellers Poma ist mit drei Kilometern Länge die längste urbane Seilbahn Frankreichs und zugleich die längste urbane Dreiseilumlaufbahn (3S-Bahn) in Europa. Hersteller Poma setzt bei diesem Projekt die bewährte Dreiseiltechnik mit zwei Tragseilen und einem Zugseil ein, die maximale Stabilität und zuverlässigen Betrieb selbst bei Windgeschwindigkeiten über 100 km/ h sichert. Zugleich ermöglicht diese Bauweise sehr geringen Platzverbrauch: Auf der gesamten Länge von drei Kilometern waren nur fünf Stützen notwendig. Dies reduziert die Geräuschemissionen entlang der Strecke auf ein Minimum, und die Anlage fügt sich harmonisch in das Stadtbild ein. Die Seilbahn wurde nach knapp drei Jahren Bauzeit im Mai 2022 eröffnet und ist voll in das Verkehrsnetz integriert. Die Streckenführung verbindet stark frequentierte Hotspots in der Stadt: das Hochschulinstitut „Oncopole“ für Krebsforschung, das Krankenhaus „Rangueil“ und die „Universität Paul Sabatier“ mit rund 30.000 Studierenden. Bisher dauert eine Autofahrt über die gesamte Strecke mehr als eine halbe Stunde, nun beträgt die Fahrzeit nur rund zehn Minuten. Die Lage des künftigen Bahnhofs in unmittelbarer Nähe zur Universität ermöglicht zudem eine einfache Anbindung an den Knotenpunkt zwischen U-Bahn und Bus und macht die neue Seilbahn damit auch zum Verkehrsmittel für Reisende. So erwarten die Seilbahnbetreiber bis zu 8.000 Fahrgäste täglich bei straffer Taktung: Zu den Hauptverkehrszeiten startet alle 90 Sekunden eine der 15 urban ausgestatteten Kabinen, die jeweils 34 Personen Platz bieten. Die Geschwindigkeit und damit die Förderleistung der Seilbahn lässt sich an das Passagieraufkommen anpassen. Wie im gesamten öffentlichen Verkehrsnetz ist auch in den „Téléo“-Kabinen ein eigener Platz für Personen mit eingeschränkter Mobilität ausgewiesen, an den Haltestellen tragen breite Türöffnungen und der stufenlose Zugang zum barrierefreien Einstieg bei. Da ein Fluss und bebaute Gebiete überquert werden, kann ein integriertes Bergesystem die Kabinen falls nötig in die Stationen holen. www.poma.net Bild: Leitner / Poma Safe Computing Platform für den modernen Bahnbetrieb M it der Einführung verbesserter Konzepte für Zugsteuerung, Zugsicherung und Signalgebung (CCS) in das Eisenbahnsystem sowie moderner Technologien wie fortgeschrittener Sensorik und Künstlicher Intelligenz ist es notwendig geworden, geeignete IT-Plattformen für den künftigen Eisenbahnbetrieb zu entwickeln. In diesem Zusammenhang haben die Eisenbahninitiativen Reference CCS Architecture (RCA) und Open CCS Onboard Reference Architecture (OCORA) im Jahr 2020 die Konzeptionierung für eine Safe Computing Platform begonnen. Sie soll die Grundlage für sicherheitsrelevante Bahnanwendungen sowohl für fahrzeuginterne als auch streckenseitige Entwicklungen bilden. Ein zentrales Design-Paradigma ist die Einführung einer standardisierten Methode zur Trennung der Applikationen von der Computerplattform. Dies entkoppelt Bereiche mit sehr unterschiedlichen Lebenszyklen und nutzt Fortschritte im IT-Sektor, wobei Raum für eine Differenzierung der Anbieter bei der detaillierten Implementierung der Computerplattform bleibt. Eine erste Version der Spezifikation der möglichen API zwischen Bahnanwendungen und der Safe Computing Platform enthält eine allgemeine Definition der Konzepte, wichtige Entwurfsparadigmen für die sichere Kommunikation und Berechnung sowie Implementierungsleitlinien. Analysiert wurde auch, wie die im POSIX-Standard definierten Funktionen für die gewünschte API wiederverwendet werden können. Insgesamt bietet die veröffentlichte Arbeit eine solide Grundlage für die weitere Spezifikation und das Prototyping von möglichen Safe Computing Platform Implementierungen. www.rti.com Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 7 IM FOKUS Wasserstoffspeicher: Metallhydride aus Industrieabfall W asserstoff sicher, kompakt und dennoch umweltfreundlich zu speichern, ist nach wie vor eine große Herausforderung. Metallhydride könnten eine attraktive Lösung sein, denn sie ermöglichen eine sehr hohe Speicherdichte. Das ist besonders für Anwendungen sinnvoll, bei denen Volumen und Sicherheit des Speichersystems eine Rolle spielen - zum Beispiel bei der stationären Speicherung in Wasserstofftankstellen oder auf Schiffen. Für die Herstellung dieser Speichermaterialien werden in der Regel hochreine Metalle verwendet, doch deren Abbau und die großtechnische Herstellung dieser Materialien belasten die Umwelt enorm: Die Fertigung setzt große Mengen Treibhausgase frei, ganz zu schweigen von den Auswirkungen des Rohstoffabbaus auf die Umwelt selbst. Forschende des Hereon-Instituts für Wasserstofftechnologie haben nun gezeigt, dass sich hochwertige Wasserstoffspeicher auch aus weniger reinen industriellen Metallabfällen herstellen lassen. Mit diesen Erkenntnissen könnte erstmals eine Strategie der Kreislaufwirtschaft auf die Produktion von Metallhydriden angewendet werden - ihre Herstellung würde wesentlich umweltfreundlicher. Jedes Jahr fallen mehrere Millionen Tonnen Metallabfälle an. Das Recycling dieser Materialien ist von entscheidender Bedeutung. Es könnte in vielen Ländern helfen, die ständig steigende Nachfrage nach Metallen besser zu bedienen und so die Bedrohung des Wirtschaftswachstums zu mindern. Obwohl es für die meisten der in der Industrie verwendeten Metalllegierungen erfolgreiche Recyclingverfahren gibt, geht immer noch eine erhebliche Menge davon verloren. Wie die Hereon-Forschenden jetzt zeigen, könnte die Herstellung von Metallhydriden große Mengen dieser Industrieabfälle auffangen, indem dafür ansonsten nicht recycelbare Materialien verwendet werden. Metallhydride scheinen im Gegensatz zu metallischen Legierungen, z. B. für Hochleistungsbauzwecke, ziemlich unempfindlich gegenüber der genauen Legierungszusammensetzung zu sein. www.hereon.de Foto: Christian Schmid / Hereon Smart City Loop - klimafreundlicher Warentransport im-urbanen Raum D ie DB Cargo AG unterzeichnete am 27. Juli 2022 den Letter of Intent für die Zusammenarbeit mit der Smart City Loop GmbH. Das Logistikkonzept von Smart City Loop ist auf Ballungszentren zugeschnitten und sieht vor, palettierte Waren unterirdisch automatisiert in Städte zu befördern und auf dem Rückweg beispielsweise Leergut und Wertstoffe mitzunehmen. Eine in Hamburg durchgeführte Machbarkeitsstudie kam zu dem Ergebnis, dass die unterirdische Transportlösung technisch und wirtschaftlich möglich ist. Zudem würde sie einen beträchtlichen Beitrag zur Senkung der CO 2 -Emissionen sowie der Verkehrsbelastung der Stadt leisten. Rückgrat des Konzeptes sind unterirdische Rohrwege. Für deren Bau läuft derzeit die Vorbereitung für das Genehmigungsverfahren. Nach erfolgter Planfeststellung sieht der ambitionierte Zeitplan eine Inbetriebnahme für Anfang 2026 vor, so der Plan des Start-Up-Unternehmens Smart-City-Loop. DB Cargo unterstützt die Umsetzung des Projektes in Hamburg mit vorhandenem technischem Knowhow und regelmäßigem fachlichen Austausch. Denn künftig soll der Schienengüterverkehr mit dem intelligenten Verkehrs- und Warentransportsystem von Smart City Loop erweitert werden. In der Zusammenarbeit mit der DB Cargo wird das Konzept hinsichtlich verschiedener Möglichkeiten der Schienenanbindung geprüft und ggf. weiterentwickelt. Ziel ist der umweltfreundliche Warentransport im urbanen Raum. www.smartcityloop.de Bild: Smart City Loop Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 8 IM FOKUS 3D-LiDAR-Technologie zur Automatisierung im Schienenverkehr A ssistenzsysteme stellen einen bedeutenden Fortschritt für das sichere und effiziente Rangieren von Güterzügen dar und ermöglichen die Einführung autonomer Funktionen. Die zuverlässige automatische Erkennung von Objekten auf den Gleisen hilft dabei, Kollisionen zu vermeiden, ohne Mitarbeitende Gefahren auszusetzen. Für ein aktuelles Entwicklungsprojekt im Bereich des autonomen Zugbetriebs hat Blickfeld, ein Hersteller von LiDAR-Hardware- und Softwarelösungen, dem Forschungsteam Schienenfahrzeugtechnik der FH Aachen 3D- LiDAR-Sensoren für Forschungen und Entwicklungen zur Verfügung gestellt. Die FH Aachen ist Teil eines Forschungskonsortiums, das sich im Rahmen des EU-geförderten Projekts SAMIRA (Shunting Assistant & Monitoring Interface for Autonomous Rail Applications) mit der Herausforderung des Rangierens von Güterzügen befasst. Bis heute ist für das Rangieren in der Regel ein auf der Plattform am Ende des Zuges stehender Rangierbegleiter erforderlich, der unter anderem über Funk Hindernisse meldet, die die Fahrt beeinträchtigen könnten. Diese Aufgabe ist nicht ungefährlich. Das erforschte Rangierassistenzsystem stützt sich auf ein fortschrittliches Sensor- Set, zu dem auch die 3D-LiDAR-Sensoren von Blickfeld gehören. Diese Sensorik ermöglicht es dem Zugführenden, mithilfe der LiDAR-Technik die Umgebung hinter dem Zug vom Führerstand aus dreidimensional zu erfassen und Objekte auf den Gleisen zuverlässig zu erkennen. So gestatten die Sensoren ein sicheres automatisiertes Rangieren und helfen, Kollisionen zu vermeiden, ohne die Mitarbeitenden widrigen Bedingungen und Gefahren auszusetzen. Dadurch wird der Rangierprozess wesentlich effizienter, schneller und sicherer. Das Assistenzsystem übernimmt die Gleisüberwachung unter anderem durch die Integration von Sensoren mit einem breiten Sichtfeld von 70 Grad und Sensoren mit bis zu 150 Meter Reichweite. Diese Kombination kann den relevanten Streckenbereich auch bei Kurvenfahrten im Blick behalten. Die Software-definierten 3D-LiDAR-Sensoren lassen sich hinsichtlich des Sichtfelds und der Auflösung einfach an den jeweiligen Bedarf anpassen. Damit sind sie für diese Aufgabe besonders geeignet, da sie ohne aufwändige Modifikationen an der Hardware in unterschiedlichen Anwendungsszenarien eingesetzt werden können. Darüber hinaus ist die Blickfeld-Sensorik dank Solid-State- Halbleitertechnologie sehr robust und hält damit auch den starken Erschütterungen im Bahnalltag stand. Die LiDAR-Sensoren sind in ein Set weiterer Sensoren integriert, die jeweils zusätzliche Informationen liefern und deren Messergebnisse miteinander verglichen werden: eine Stereokamera für die Nahbereichserfassung, zwei weitere Kameras, die die Datenbasis für die algorithmenbasierte Objekterkennung liefern, sowie ein Radarsensor. Dieses System liefert eine Fusion von Kamerabildern und 3D-Punktwolken, die eine genaue Erkennung von Objekten unter mehrfacher gegenseitiger Kontrolle der verschiedenen Sensortypen ermöglicht. Die daraus extrahierten Informationen werden dem Lokführer live auf einem Tablet dargestellt und zeigen an, ob sich Personen, Signale, Fahrzeuge oder andere Objekte im überwachten Bereich befinden. www.blickfeld.com Darstellung: Blickfeld Elektrisch rangieren unter rauen Bedingungen Z ur InnoTrans 2022 stellt Vollert Anlagenbau das ferngesteuerte Zweiwege- Rangierfahrzeug VLEX 40 erstmals auf einer Messe vor. Der batteriebetriebene kleinere 2-Wege-Robot VLEX 20 für Schiene und Straße wird derzeit schon am Wartungsstandort Modane der Fret SNCF in den französischen Alpen eingesetzt und arbeitet dort bei Schnee, Regen, Eis oder hohen Minustemperaturen zuverlässig. Beim Wechsel zwischen unterschiedlichen Untergründen auf dem Gelände garantiert eine Pendelachse sicheren Boden- und Schienenkontakt aller vier Räder, auch auf unebenen und unbefestigten Böden. Gleichzeitig macht die spezielle Fahrzeuggeometrie mit Knicklenkung und vier einzeln gesteuerten Radnabenmotoren den Rangier-Robot extrem wendig und wirtschaftlich. Während das bei Fret SNCF in Modane eingesetzte Kompakt-Modell VLEX 20 eine Zugkraft von 20 kN bzw. 300 t aufweist, verdoppelt Vollert mit dem Modell VLEX 40 den Einsatzbereich dieser lokal emissionsfreien Lösung auf den Rangierbetrieb mit bis zu 600 t, was auch beim Verschub von Güterwaggons oder schweren innerbetrieblichen Transportwagen nützlich ist. Die Steuerung des Rangier-Robots per Fernbedienung und damit der Verschub der Loks erfordert nur einen Mitarbeiter. Neben Fret SNCF nutzt auch das Schweizer Schienenfahrzeugbauer Stadler das 2-Wege-Fahrzeug für den Verschub von Zügen in der Fertigung und Instandhaltung, sowohl in seiner Niederlassung im englischen Liverpool als auch im neuen Stadler- Werk St. Margarethen in der Schweiz. www.vollert.de Foto: Vollert Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 9 IM FOKUS Bahnhof der Zukunft - wichtiger Baustein zur Verkehrswende M it dem Projekt „Bahnhof der Zukunft“ hat das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) über das Deutsche Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF) beim Eisenbahn-Bundesamt ein Konsortium unter der Leitung des ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung beauftragt, einen modularen Maßnahmenkatalog dafür zu entwickeln. Dem Verkehrsmittel Bahn kommt bei der Verkehrswende eine Schlüsselrolle zu. Im Fokus steht insbesondere die Verknüpfung des Schienenverkehrs mit anderen umweltfreundlichen Verkehrsmitteln wie Straßenbahn, Bus, Rad oder Sharing-Angeboten. Anschlussmobilität ist ein entscheidendes Kriterium für die Attraktivität der Bahnmobilität, denn die sogenannte „erste“ und die „letzte Meile“ bilden das Nadelöhr zum Ziel- und Ankunftsort. Für Akteure wie die Deutsche Bahn, Verkehrsunternehmen, Mobilitätsanbieter und Kommunen ist jedoch die komfortable, einfache und verlässliche Verknüpfung mit dem Verkehrsmittel der Wahl zum Bahnhof und zum Ziel eine echte Herausforderung. Im Projekt „Bahnhof der Zukunft“ untersucht das Forschungsteam daher, wie Bahnhöfe so gestaltet werden können, dass sie zu Knotenpunkten für eine nachhaltige Mobilität werden. So sollen unter anderem auch Maßnahmen identifiziert werden, wie die Attraktivität von Bahnhöfen und ihrem Umfeld erhöht werden kann - indem sie Treffpunkte und Orte für Kultur, Gastronomie und Freizeit werden. Für die Studie werden sozial-empirische Erhebungen durchgeführt, um die Bedürfnisse von Reisenden an Bahnhöfen als multimodale Schnittstellen zu erheben. Darauf aufbauend werden Maßnahmen entwickelt, die nicht nur die technische Seite der Mobilitätsfunktion von Bahnhöfen in den Blick nehmen, wie zum Beispiel Wegweisung, Sicherheit oder Barrierefreiheit. In einer Machbarkeitsanalyse soll dann die Umsetzbarkeit der möglichen Maßnahmen abgeschätzt sowie durch Befragungen potenzieller Nutzer in Virtual-Reality-Simulationen und anhand von 2D-Visualisierungen von Bahnhofsbereichen geprüft werden. So soll ein modularer Maßnahmenkatalog entstehen, eine Art Werkzeugkasten aus unterschiedlichen Möglichkeiten, der es Bahnhofsbetreibern und Kommunen ermöglicht, flexibel die für ihre Situation geeigneten Lösungen zu wählen. Neben dem ISOE - Institut für sozialökologische Forschung als Projektleitung sind die Forschungs- und Praxispartner Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH, Hochschule für Gestaltung Offenbach (HfG) mit dem Designinstitut für Mobilität und Logistik (DML), Nuts One GmbH, Berlin, Gateways, Amsterdam sowie aproxima Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung Weimar GmbH involviert. Das Projekt endet im Februar 2025. www.isoe.de Foto: Michael Gaida / pixabay Pleuelstange verstellbar: Motoren für neue Kraftstoffe fit-machen D er Verbrennungsmotor ist noch nicht völlig abgeschrieben: Die Hochschule Coburg und die Hochschule Heilbronn starten gemeinsame Forschungsprojekte, um durch die Kombination neuartiger Kraftstoffe und fortschrittlicher Motorentechnik neues Potential im Bereich Emissionen und Nachhaltigkeit zu erzielen. Dabei bringt die Hochschule Heilbronn eine motorische Innovation in das Projekt ein: Bei ihrem Prototypen-Fahrzeug ist die Pleuelstange, die Kurbelwelle und Kolben verbindet, verstellbar. Auf diese Weise kann die Verdichtung des Motors angepasst werden. Im niedrigen Teillastbereich kann der Motor eine möglichst hohe Verdichtung nutzen und einen guten Wirkungsgrad erzielen. Bei hohen Lasten könnte es bei Ottomotoren mit hohen Verdichtungen allerdings zu ungewollten Selbstzündungen kommen. Dann kann der Motor nicht mehr mit der optimalen Verbrennungslage arbeiten. Das variable Verdichtungssystem, als Variable Compression Ratio (VCR) bezeichnet, kann jedoch im niedrigen Teillastbereich mit hohen Verdichtungen und im hohen Lastbereich mit niedrigen Verdichtungen arbeiten. Das erlaubt effizienteren Motorbetrieb. Untersucht werden im Rahmen dieses Projekts auch alternative Ottokraftstoffe mit erhöhtem Ethanolanteil. Denn der erhöhte Ethanolanteil könnte sowohl positiven Einfluss auf die Zylinder-Innenkühlung als auch Vorteile bei den Emissionen bieten. In der Kombination von Kraftstoff- und Motorentechnik könnten also noch große technische Potentiale liegen. Die Ergebnisse des gemeinsamen Forschungsprojekts werden Anfang 2023 publiziert. Auf Basis dieser Untersuchungen planen die Hochschule Heilbronn und die Hochschule Coburg in Zukunft weitere Forschungskooperationen im Bereich Motoren- und Kraftstofftechnik. www.hs-coburg.de Foto: Markus Jakob, HS Coburg POLITIK ÖV-Tarife Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 10 Das 9-Euro-Ticket Ziele, Wirkungsmechanismen und Perspektiven 9-Euro-Ticket, Verkehrswende, Verkehrsmittelverlagerung, 365-Euro-Ticket Mit dem 9-Euro-Ticket bezweckt die Politik eine Entlastung der Verbraucher (ÖPNV-Nutzer), führt aber gleichzeitig das bisher größte Feldexperiment im Mobilitätsbereich durch. Die Analysen für den Hamburger Verkehrsverbund (HVV) im Speziellen und übergreifend für das Bundesgebiet unterstreichen nicht nur einen erheblichen Nachfrageschub, den die Branche nach der Corona-Pandemie dringend braucht, sondern lassen auch Nachfrageverschiebungen zulasten des PKW und zugunsten von Bussen und Bahnen erwarten. Diese Effekte sind nur bei extrem günstigen Preisen zu erwarten und bei Angeboten mit deutlich höherem Preis wie z. B. 69 EUR pro Monat nicht realistisch. Andreas Krämer, Anna Korbutt D as Treffen des Koalitionsausschusses der Bundesregierung zum Energie-Entlastungspaket am 23. März 2022 könnte nachhaltige Wirkungen für die gesamte Mobilitätsbranche mit sich bringen [1]. Neben einem Tankrabatt, zwischenzeitlich eher kritisch in den Medien und in der Wissenschaft diskutiert, wurde das 9-Euro-Ticket kreiert, welches die bundesweite Nutzung des Nahverkehrs in den Monaten Juni bis August 2022 für umgerechnet 0,30 Cent pro Tag ermöglicht. Die Bewertung als Erfolgsmodell ließ nicht lange auf sich warten und erfolgte bereits vor Ablauf der 3-Monats-Periode [2]. Der Absatzerfolg und die Mobilisierung von Non-Usern überraschen wohl auch medienpräsente Mobilitätsforscher, die das große Segment der Autofahrer bisher für nicht erschließbar hielten [3]. Selbst kritische Medien bezeichneten das Angebot als „eine echte Sprunginnovation“ [4]. Greenpeace sieht das Ticket sogar als wesentliches Instrument zur Erreichung der Klimaziele [5]. Wie viel Nachfrage ist preislich generierbar? Dabei ist zu beachten, anhand welcher Kennziffern der Erfolg des Tickets bemessen werden soll. Bei einigen Aspekten ist die Lage bereits nach dem ersten Nutzungsmonat relativ klar. Die Entlastung der ÖPNV- Stammkunden wird erreicht. Dies ergibt sich aber zwingend daraus, dass bestehende Abo-Kunden der Verkehrsunternehmen und -verbünde (ca. 10 Mio. Menschen) automatisch das 9-Euro-Ticket erhalten und die preisliche Differenz zum teureren Abonnement erstattet wird. Ob es bei anderen Ticketkäufern zu Entlastungseffekten kommt, hängt davon ab, wie stark Fahrten von anderen Verkehrsmitteln - primär dem PKW - auf Busse und Bahnen verlagert werden. Die Wertschätzung für das Ticket ist groß. Nach eigenen Berechnungen generierte das 9-Euro-Ticket allein im Juni 2022 einen Kundennutzen von mehr als 1 Mrd. EUR [6]. Andere Betrachter bemessen den Erfolg des Angebots an den Verkaufsbzw. Nutzerzahlen. So interpretiert der VDV die für Juni 2022 abgeschätzten mindestens 30 Mio. Nutzer als Erfolgsfaktor [7]. Bei einem Erfolgsfaktor besteht offensichtlich Klärungsbedarf, und zwar zur Höhe des Nachfragezuwachses für den Nahverkehr bzw. zu den Effekten der Verkehrsmittelverlagerung - also der Frage, wie die getätigten Fahrten ohne das 9-Euro-Ticket unternommen worden wären. Eine Erfolgsgeschichte ergibt sich dann, wenn Busse und Bahnen signifikant an Nachfrage gewinnen und dies zulasten von klimaschädlichen Verkehrsträgern (also insbesondere dem PKW) und nicht etwa von Fahrrad- oder Fußwegen. Bedenklich ist insofern, wenn der VDV feststellt: „Gut jede vierte aller Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket, einschließlich der Fahrten der Abo-Kundinnen und -kunden, wäre ohne das Ticket von vornherein gar nicht unternommen worden“ [8]. Ungeachtet dessen werden bereits im Juni und Juli erste tarifliche Nachfolgeprodukte diskutiert, darunter ein bundesweit gültiges 365-Euro-Ticket (Monatsbetrag 30,40 EUR) oder ein monatlich buchbares Ticket zum Preis von 69 EUR. Vor diesem Hintergrund versucht der vorliegende Beitrag erstens, mehr Transparenz bezüglich der Wirkungsweise des 9-Euro-Tickets in punkto zusätzlicher Nachfrage und Verlagerungseffekte zu schaffen, indem unterschiedliche Datenquellen verknüpft werden (bundesweit und für den Hamburger Verkehrsverbund HVV), und zweitens, diese Ergebnisse als Grundlage für eine Einschätzung zu tariflichen Nachfolgeprodukten einzuordnen. Fahrgastplus durch das Ticket - aber uneinheitlich Auch wenn es nicht trivial ist, Veränderungen der Fahrgastzahlen im ÖPNV konkret dem 9-Euro-Ticket zuzuweisen, liegen bereits im Juli 2022 punktuell erste Bewertungen vor. Der HVV geht von Nachfragezuwächsen in Höhe von 20 % (+5 % ggü. 2019) aus [9]. Für Berlin wird berichtet, dass die Fahrgastzahlen Mitte Juni 2022 etwa 96 % des Vor-Corona-Niveaus erreichen, nachdem sie im Mai 2022 noch bei 80 % lagen (+20 %) [10]. Die Stadt Frankfurt berichtet von einem Nachfrageplus von 19 % gegenüber dem Vormonat Mai [11], während der Verkehrsverbund Rhein-Neckar auf 6,5 % kommt, allerdings gegenüber dem Vor-Corona-Niveau [12]. Die Verkehrsunternehmen in Bayern sprechen von einem Fahrgastzuwachs von 20 bis 30 %, wobei insbesondere Regionalstrecken stark betroffen sein sollen [13]. Die Deutsche Bahn verweist auf erhebliche Steigerungen der Nachfrage. Im Juni 2022 sollen die Fahrgastzahlen im Nahverkehr etwa „10 bis 15 Prozent stärker frequentiert sein als vor Beginn der Corona- Pandemie“ [14]. Auch Daten des Statischen Bundesamtes sind nutzbar, um Nachfrageeffekte des neuen Tickets zu bestimmen, allerdings auch nur eingeschränkt, weil die genutzten Mobilfunkdaten nur ab Entfernungen von mehr als 30 km valide Zuordnungen zu Verkehrsmitteln erlauben. Verglichen wurden die aktuellen Zahlen der Bahnreisenden mit den Zahlen des Jahres 2019, wobei sich für Juni 2022 ein Plus von 42 % ergibt („im Mai 2022 hatten sie noch um 3 % höher als im Mai 2019 gelegen“). Gleichzeitig wird ein moderater Rückgang Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 11 ÖV-Tarife POLITIK der PKW-Fahrten festgestellt [15]. Die TAZ schlussfolgert, der Straßenverkehr habe nur geringfügig abgenommen und weiter: „Die Züge haben das Auto nicht verdrängt, sondern wurden zusätzlich genutzt.“ [16]. Auch andere Berichterstattungen sprechen von einer besonders starken Nutzung des Tickets am Wochenende und einem geringen Rückgang bei kurzen Autofahrten [17]. Bereits Anfang Juni veröffentlichte das Magazin Der Spiegel Befragungsergebnisse, nach denen der Freizeitverkehr bei der Nutzung dominiert [18]. Diese Darstellung fragmentierter Datenquellen unterstreicht zum einen, dass sowohl auf kürzeren Strecken am Wohnort Nachfragezuwächse für den ÖPNV als auch auf längeren Strecken außerhalb von Verkehrsverbünden zusätzliche Fahrten für den Bahnverkehr generiert wurden. Schwierig ist hingegen die Bestimmung von Verlagerungseffekten. Hierzu ist ein genaueres Verständnis für die Nutzung des Tickets erforderlich. Das 9-Euro-Ticket im HVV Empirische Ergebnisse zur Bewertung und Nutzung Im Folgenden werden Ergebnisse einer von Exeo im Auftrag des HVV durchgeführten Erhebung zur Nutzung des 9-Euro-Tickets (Jun./ Jul. 2022, n = 1.966, Online-Interviews, jeweils zum Monatsende) verdichtet dargestellt (Bild 1). Durch ein repräsentatives Screening wird erkennbar, dass 46 % der Einwohner des HVV-Bezugsgebietes ab 18 Jahren 9-Euro-Ticketnutzer sind. Fast jeder zweite Nutzer ist Abo-Besitzer. Bei knapp 17 % handelt es sich um bisherige Nicht- oder Selten- Nutzer des ÖPNV. Die dargestellten Ergebnisse von Statement-Bewertungen fallen bei den Nutzern überwiegend positiv aus und zeigen auch Indikatoren für eine Nachfrageverlagerung (insbesondere vom PKW). Etwa 76 % der Ticketbesitzer stimmen der Aussage zu „Mit dem Ticket ist es möglich, Fahrten vom PKW auf Busse und Bahnen zu verlagern“. Etwa 29 % Ablehnung betrifft das Statement „Meine Fahrten mit dem 9-Euro- Ticket im Juni 2022 hätte ich auch ansonsten mit dem Nahverkehr unternommen“. Auf eine Substitution der PKW-Nutzung weisen auch andere Ergebnisse, z. B. dass 23 % (30 % der Kunden ohne Abo) aktuell häufiger den ÖPNV nutzen als in den Monaten vor der Ticketeinführung und 54 % (62 % der Kunden ohne Abo) aktuell von einer eingeschränkten PKW-Nutzung ausgehen. 24 % der Ticketbesitzer (37 % der Kunden ohne Abo) nennen den „Verzicht auf Autofahrten“ als Grund für den Kauf des 9-Euro-Tickets. In der gesamtdeutschen Studie des VDV (identisches Fragedesign) liegt dieser Anteil sogar bei 39 % aller Nutzer [7]. Verlagerungseffekte durch das Ticket Alternativen zur Nutzung des 9-Euro-Tickets in einer Welt, in der das günstige Ticket-Angebot nicht existiert, wurden zum einen mit dem Bezugspunkt der letzten Nutzung, zum anderen auf Basis aller Fahrten im Nutzungs-Monat bestimmt. Bild 2 illustriert die Ergebnisse mit dem Bezugspunkt „Letzte Nutzung“. Die Ergebnisse werden dann Fahrten-gewichtet, um Aussagen über das Gesamtbild aller Fahrten pro Monat zu erhalten. Im Ergebnis handelt es sich bei 75 % aller Fahrten um bestehende Mobilität im Nahverkehr, 25 % der Fahrten konnten hinzugewonnen werden, wobei das Verhältnis zwischen Fahrtenverlagerung und induziertem Verkehr etwa 3 : 1 ist. Substituiert werden primär Autofahrten. Strukturell entsprechen die Ergebnisse Erhebungen, die die Nutzung zu Beginn der Gültigkeitsperiode im Juni deutschlandweit gemessen haben [19]. Für das HVV-Gebiet wird eine Mehrverkehrsquote von 23 % ausgewiesen. Diese ist deutlich höher bei Fahrten, die über das Verbundgebiet hinausgehen (43 %). Allerdings entfallen weniger als 10 % der Fahrten auf solche Strecken (Bild-1). Die Ergebnisse sind konsistent zu Beobachtungen im HVV-Gebiet (deutliche Fahrtenzuwächse im ÖPNV, leichte, aber signifikante Rückgänge der PKW-Nutzung). Substituiert werden im Nahbereich auch Fußwege und Fahrten mit dem Fahrrad, auf längeren Strecken kommt es zu Verlagerungseffekten von Fernzum Nahverkehr mit der Bahn. Multi-Method-Ansatz zur Prüfung der Ergebniskonsistenz Wichtig für das Verständnis der abgeschätzten Verlagerungseffekte ist, dass erstens die 1) Inwieweit stimmen Sie den folgenden Aussagen zum 9-Euro-Ticket zu? Bitte antworten Sie auf einer Skala von 1 bis 5. Dabei bedeutet 1 = „stimme voll und ganz zu“ und 5 = „stimme überhaupt nicht zu“. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Bewertung abstufen. 2) Für wie viele einzelne Fahrten haben Sie das Ticket im Monat Juni / Juli 2022 genutzt? Eine Hin- und Rückfahrt entspricht 2 Fahrten: 3) Wenn Sie einmal an die Monate Januar bis Mai 2022 denken: Wie oft sind Sie in einer normalen Woche durchschnittlich mit den Bussen und (U-/ S-/ Regional-)Bahnen an Ihrem Wohnort bzw. im hvv-Gebiet (Hamburger Verkehrsverbund) gefahren? Ich bin der Meinung, das 9-Euro-Ticket sollte dauerhaft angeboten werden. Es ist super, dass ich mit dem 9-Euro-Ticket auch auf längeren Strecken … unterwegs sein kann. Mit dem Ticket ist es möglich, Fahrten vom P KW auf Busse und Bahnen zu verlagern. Mit dem Ticket ist es möglich, neue Kunden für Busse und Bahnen zu gewinnen. Ich würde das Ticket auch nutzen, wenn der Preis höher als 9 EUR wäre. Meine Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket im Jun./ Jul. 22 hätte ich auch ansonsten mit dem Nahverkehr unternommen. Ich nehme bei Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket auch volle Busse / Bahnen / Bahnhöfe gern in Kauf. Aufgrund des Tickets werde ich nach Ende der Aktion (Aug. 2022) häufiger den hvv nutzen. Ich bin insgesamt zufrieden mit dem 9-Euro-Ticket. 81% 80% 74% 73% 55% 50% 34% 20% 79% 10% 14% 18% 18% 27% 20% 29% 33% 16% 10% 6% 8% 9% 18% 30% 37% 48% 5% Zustimmung top-2 Ablehnung low-2 69% 23% 5% 3% Wohnort >Wohnort, Verbund >Verbund, <100 km >Verbund, >100 km 1 Statements zum 9-Euro-Ticket 1) 3 Bisherige ÖPNV-Nutzung 3) 37% 47% 17% 4+ Tage pro Woche 1 Tag+ pro Mo. (< 4+ Tage/ Wo.) ÖPNV- Selten-/ Nicht-Nutzer 2 Verteilung der Fahrten 2) Verteilung der Antworten in % 1 2 3 Bild 1: Bewertung, Nutzung und Nutzerstruktur des 9-Euro-Tickets im HVV (Juni 2022) Alle Darstellungen: Exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG Ticket-Nutzung (validiert, fahrtengewichtet) 2) Ich hätte die Fahrt mit denselben Verkehrsmitteln (ÖPNV/ Bahn) unternommen, nur mit einem anderen Ticket. Ich hätte die Fahrt mit dem P KW unternommen. Ich hätte die Fahrt mit der Bahn im Fernverkehr (IC/ EC/ ICE oder anderer Fernverkehrszug) unternommen. Ich hätte die Fahrt mit einem Fernlinienbus / Reisebus unternommen. Ich hätte die Fahrt mit dem Flugzeug unternommen. Ich hätte die Fahrt mit dem Fahrrad unternommen. Ich hätte die Fahrt mit einem sonstigen Verkehrsmittel (E-Scooter etc.) unternommen. Ich wäre zu Fuß gegangen. Ich hätte die Fahrt gar nicht unternommen. 75% 12% 1% 0% 0% 4% 0% 1% 6% Alternative zum 9-Euro-Ticket (gestützte Abfrage) 1) 1) Bezogen auf Ihre letzte Nutzung des 9-Euro-Tickets: Was hätten Sie gemacht, wenn Sie das 9-Euro-Ticket nicht besessen hätten? 2) Validierung über Hintergrund-Informationen; Gewichtung anhand der Nutzungstage je Monat. 3) Bezug letzte Fahrt mit dem Ticket; Nur Fahrten im hvv-Einzugsgebiet. 75% 19% 6% Fahrtenkannibalisierung Fahrtenverlagerung Fahrten induziert 19 % Alternativen zum Ticket aggregiert (validiert, fahrtengewichtet) 2) 77% 18% 5% Fahrtenverlagerung Fahrten induziert Fahrtenkannibalisierung Perspektive: Nur hvv-Gebiet 3) Verbundgebiet hvv: ca.23 % Mehrverkehr (Wohnort: 21 %), außerhalb hvv: ca. 43 % Mehrverkehr Methodischer Hinweis: Abfrage erfolgt einstufig Bild 2: 9-Euro-Ticket - Befragungsergebnisse zur Verkehrsmittelverlagerung (% der Fahrten) POLITIK ÖV-Tarife Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 12 alternative Nutzung zum Ticket mit einem einstufigen Ansatz erfolgt (der Studienteilnehmer hat alle Optionen bzw. Alternativen vor Augen), zweitens werden die Daten in unterschiedlichen Schritten validiert (so wird bei Abo-Besitzern im Gültigkeitsbereich des Abos kein Mehrverkehr zugelassen; Verlagerungen vom PKW werden ausgeschlossen, wenn keine PKW-Verfügbarkeit besteht etc.). Auf Basis von Fahrtenfaktoren werden die Ergebnisse dann für die Hochrechnung zusätzlich gewichtet. Ein leicht zu übersehender, aber erheblicher Faktor für die Messung der Verlagerungswirkungen ist die Art der Abfrage. Die Autoren haben durch eine experimentelle Versuchsanordnung belegen können, dass sich die in Bild 2 präsentierten Ergebnisse dramatisch zugunsten des Anteils an induziertem Verkehr und zulasten der Fahrtenverlagerung vom PKW verändern, wenn eine zweistufige Abfrage in Interview zum Einsatz kommt (1. Stufe: Hätten Sie diese Fahrt auch ohne das 9-Euro-Ticket unternommen? Nein = induzierter Verkehr; bei Ja = 2.- Stufe: Bestimmung des alternativen Verkehrsmittels [19]). Dies erklärt zu einem erheblichen Teil, warum die Messung des VDV etwa 27 % der Fahrten dem induzierten Verkehr zuordnet (3 % Verlagerung vom PKW; Messung Juni 2022). Eine Plausibilisierung der Ergebnisse kann neben der inhaltlichen Überprüfung innerhalb des Datensatzes durch externe Daten erfolgen. Hierzu lassen sich die Fahrgastzählungen im HVV heranziehen, andererseits auch Statistiken zur Autonutzung im Stadtgebiet. Stauprobleme auf den Straßen sind den Daten des Navigationsunternehmens TomTom entsprechend im Juni 2022 zurückgegangen - und zwar einerseits im Vergleich zum Vormonat Mai, andererseits auch im Verhältnis zum Juni 2019, also der Zeit vor der Pandemie [20]. Zu berücksichtigen ist: Leichte prozentuale Verringerungen der PKW-Nutzung bedeuten aber absolut gesehen erhebliche Nachfrageverlagerungen. So liegt das Fahrten-Verhältnis von motorisiertem Individualverkehr zu ÖPNV im HVV bei ca. 3 : 1 [21], auf Strecken ab 50 km liegt es bei etwa 7 : 1 [22]. Die Frage nach sinnvollen Ergänzungsangeboten Maximale Preisbereitschaft der Nutzer Die in der Öffentlichkeit diskutierten möglichen Nachfolge-Produkte orientieren sich im Prinzip meist an einem vergleichbaren Leistungsumfang, allerdings zu einem erhöhten Preis. Welche potenziellen Nutzer bei entsprechenden Preishöhen angesprochen werden, lässt sich simulieren, wenn die Zahlungsbereitschaften für das 9-Euro- Ticket bekannt sind. So ist nicht nur erwartbar, dass die Preisbereitschaften der Nutzer erheblich streuen, sondern auch, dass sich Teilsegmente erkennbar strukturell voneinander unterscheiden [23]. Im Rahmen einer Sondererhebung der Studienreihe OpinionTRAIN wurde die Nutzung des 9-Euro-Tickets in den ersten sieben Gültigkeitstagen im Juni gemessen. Auf der Basis der eigenen Methodik PSM- Plus [24, 25] wurde abgeschätzt, welchen Preis die Ticketbesitzer maximal für die Nutzung des Nahverkehrs in Deutschland pro Monat zu zahlen bereit sind [6]. In Bild 3 (links, A) sind die individuellen Ergebnisse kumuliert absteigend dargestellt, so dass sich auf dieser Grundlage Preis-Absatz- Beziehungen modellieren lassen. Auf dieser Basis wurden unterschiedliche Preissegmente definiert und dann analysiert, wie stark sich die Teilgruppen in Hinblick auf die veränderte Verkehrsmittelwahl durch das 9-Euro-Ticket unterschieden. Tendenziell nehmen die Mehrverkehrseffekte mit zunehmender Preishöhe ab. Oder anders ausgedrückt: Erst durch die extreme Vergünstigung des ÖPNV ergeben sich stärkere Nachfragezuwächse durch das Pauschalticket (Bild 3, rechts, B). Bereits im Kontext der Diskussion eines kostenlosen ÖPNV wurde darauf hingewiesen [26]. Kundenprofile im Quervergleich In einem weiteren Schritt werden neben den Nutzern des 9-Euro-Tickets zwei hypothetische Angebote bezüglich der Größe und der strukturellen Zusammensetzung analysiert, und zwar ein Angebot zu 30,4 EUR pro Monat (365-Euro-Ticket) und eine 69-Euro-Monatskarte (Vorschlag VDV), dargestellt über die Segmente 1 bis 3 in Bild- 3 links. In Bild 4 werden diese drei Gruppen direkt vergleichbar gegenübergestellt. Insbesondere beim Preispunkt 69- EUR wird deutlich, dass ein solches Angebot zum einen fast 90 % der aktuellen Ticketnutzer nicht mehr abdeckt, und zum anderen das Segment durch einen erhöhten Anteil von ÖPNV-Stammkunden, Personen im mittleren Alter mit einem tendenziell höheren Einkommen und Einwohnern größerer Städte gekennzeichnet ist (Bild 4). Schließlich sind die im Preismanagement bekannten Selbstselektionswirkungen zu erwarten. Bei höheren Preisen steigt die Attraktivität des Tickets für Personen mit hoher und planbarer Mobilität, z. B. Stammkunden des ÖPNV, die auch teilweise längere Fahrten unternehmen, oder Personen, die den Bahnnahverkehr auf längeren Strecken öfter als einbis zweimal im Monat nutzen. Bisher fungierte das Quer-durchs-Land- Ticket der Deutschen Bahn als Preisdeckel, der bereits mit dem zweiten Nutzungstag pro Monat durch den Preis der Monatskarte von 69 EUR unterlaufen wird. In jedem Fall sind erhöhte Umsatzkannibalisierungen zu erwarten, gleichbedeutend mit einem höheren Finanzierungsbedarf pro Ticket. Ausblick Für die zukünftige Tarifgestaltung liefert der 9-Euro-Ticket-Großversuch mehrere Anhaltspunkte. Erstens: Durch niedrigschwellige Preisangebote lassen sich bisherige Nicht- oder Selten-Nutzer mobilisieren. Zweitens: Der ÖPNV (und der Bahnnahverkehr) erhalten einen Schub bei den Fahrgastzahlen, der das bestehende Gap zum Vor-Corona-Niveau teilweise schließt bzw. wie in Hamburg sogar deutlich darüber hinausgeht. Dieser Schub ist drittens zumindest nach den vorliegenden Ergebnissen stark durch eine Fahrtenverlagerung vom PKW bestimmt. Viertens produziert das Abschätzung der Zahlungsbereitschaft für das 9-Euro-Ticket (% der Befragten) 1) 1) Zahlungsbereitschaft: Mittelwert der individuellen Angaben für die Preispunkte „Teuer, aber gerade noch angemessen“ und „So teuer, dass ich das Ticket nicht mehr kaufen würde“. 2) Bezogen auf Ihre letzte Nutzung des 9-Euro-Tickets: Was hätten Sie gemacht, wenn Sie das 9-Euro-Ticket nicht besessen hätten? 9 EUR Maximaler Preis für das 9-Euro-Ticket in EUR Prozent der Befragten (kumuliert absteigend) Unter 20 EUR 29 % 20 EUR bis <30,4 EUR 23 % 30,4 EUR bis <50 EUR 14 % 50 EUR bis <69 EUR 22 % 69+ EUR 12 % Preisbereitschaft Unter 20 EUR 20 EUR bis <30,4 EUR 30,4 EUR bis <50 EUR 50 EUR bis <69 EUR 69+ EUR 39% 60% 53% 89% 81% 47% 36% 35% 11% 16% 14% 5% 12% 0% 3% Fahrtenkannibalisierung Fahrten induziert Fahrtenverlagerung Alternative Verkehrsmittelwahl berichtete Fahrt nach Preissegment (% der Fahrten) 2) 1 2 3 Alle Nutzer 72 % 24 % 4 % Preisbereitschaft A B 30,4 EUR 69 EUR Bild 3: Verteilung der Zahlungsbereitschaften für das 9-Euro-Ticket und alternative Verkehrsmittel in Abhängigkeit von der Zahlungsbereitschaft Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 13 ÖV-Tarife POLITIK Ticket aufgrund der fehlenden Nachfragesteuerung im System Nachfrageüberhänge. Die Kunden akzeptieren bei dem niedrigen Preisniveau Komfortverluste, auf die Verkehrsunternehmen kommen aber Kosten für zusätzliche Kapazitäten zu. Insofern ist die Frage, wie es nach dem 9-Euro-Ticket weitergehen soll, nichts Geringeres als eine strategische Entscheidung. Vor dem Hintergrund der Verkehrswende und der Klimaziele hat sich dieses befristete Angebot als effizient erwiesen, Nachfrage hin zu Bussen und Bahnen zu verlagern, dem ÖPNV also ein Stück Wettbewerbsfähigkeit zurückzugeben. Die dreimonatige Testperiode sagt leider nichts darüber aus, welche zusätzlichen Nachfrageeffekte möglich sind [5], wenn Autofahrer einen planbar sehr günstigen ÖPNV wahrnehmen und sich herumspricht, dass die Kundenerfahrungen zum weitaus größten Teil positiv sind (hier ist anderseits auch auf die hohe Kundenzufriedenheit und Weiterempfehlungsabsicht zu verweisen, vgl. Bild 2). Abschließend eine Vision: Was spricht dagegen, ein günstiges Nachfolgeprodukt anzubieten, das zentral über eine bundesweite App (in einer rein digitalisierten Form) angeboten wird und das an die Bedingung geknüpft ist, der Erfassung von Nutzungsdaten in anonymisiert auswertbarer Form zuzustimmen? Wenn keine Lenkungswirkung über den Preis möglich ist, dann bleibt die Lenkungswirkung über die Kundeninformation (z. B. Anzeige möglicher Hochlast etc., Empfehlungen für alternative Wege etc.) [27]. Dies wäre dann auch ein Riesenschritt in Richtung Digitalisierung im ÖPNV. ■ LITERATUR [1] Bundesregierung (2022): Fragen und Antworten: 9-Euro-Ticket seit Juni 2022. www.bundesregierung.de/ breg-de/ aktuelles/ faq-9-euro-ticket-2028756 (Abruf 20.07.2022). [2] Grotemeier, C. (2022): Das ÖPNV-Tarifsystem gehört dauerhaft auf den Bierdeckel. Bus & Bahn v. 04.07.2022. www.busundbahn.de/ nachrichten/ personen-positionen/ detail/ news/ das-oepnv-tarifsystem-gehoert-dauerhaft-auf-den-bierdeckel.html (Abruf 20.07.2022). [3] Bargel V. I.; et al. (2022): Wer vom 9-Euro-Ticket profitiert - und wo es floppt. Der Spiegel v. 24.06.2022. www.spiegel.de/ auto/ 9euro-ticket-wer-tatsaechlich-profitiert-und-wo-es-floppt-einezwischenbilanz-a-d78bd85f-6b00-4c8a-8514-a2f9ddd64ebd (Abruf 25.07.2022). [4] Kaiser, A. (2022): 9-Euro-Ticket forever - das Geld liegt auf der Straße. Der Spiegel v. 20.07.2022, www.spiegel.de/ auto/ 9-euroticket-forever-das-geld-liegt-auf-der-strasse-kommentara-47992ac5-2f2a-48e3-8a21-2c55b44d479f (Abruf 20.07.2022). [5] Greenpeace (2022); Klimaticket: Wie ein Anschluss an das 9-Euro- Ticket für mehr Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sorgen kann. [6] Hercher, J.; Krämer, A. (2022): Das 9-Euro-Ticket generiert im ersten Monat mehr als eine Mrd. EUR an Kundennutzen. www.pressebox. de/ pressemitteilung/ rogator-ag/ Das-9-Euro-Ticket-generiert-imersten-Monat-mehr-als-eine-Mrd-E U R-an-Kundennutzen/ boxid/ 1118616 (Abruf 20.07.2022). [7] VDV (2022): 9-Euro-Ticket-Marktforschung: Jeder Fünfte hat den ÖPNV vorher normalerweise nicht genutzt. www.vdv.de/ 220711pm-9-euro-ticket-marktforschung-zu-nutzungseffekten.pdfx (Abruf 20.07.2022). [8] N.N. (2022): Kommt ab September das 69-Euro-Ticket? Tagesschau online v. 15.07.2022, www.tagesschau.de/ wirtschaft/ verbraucher/ 69-euro-ticket-101.html (Abruf 20.07.2022). [9] HVV (2022): 9-Euro-Ticket: Wie geht es weiter? Pressemitteilung v. 02.08.2022, www.HVV.de/ de/ ueber-uns/ neuigkeiten/ neuigkeitendetail/ 9-euro-ticket-wie-geht-es-weiter--84558 (Abruf 03.08.2022). [10] N.N. (2022): Wegen 9-Euro-Ticket: BVG fast so voll wie vor Corona. Berliner Zeitung v. 21.06.2022, www.berliner-zeitung.de/ news/ verkehr-wegen-9-euro-ticket-bvg-fast-so-voll-wie-vor-coronali.238840 (Abruf 20.07.2022). [11] traffiQ (2022): 9-Euro-Ticket: Deutlich mehr Fahrgäste in Frankfurts Bahnen und Bussen. www.traffiq.de/ traffiq/ medien/ presse-informationen/ presse-information/ 9-euro-ticket-deutlich-mehr-fahrgaeste-in-frankfurts-bahnen-und-bussen.html (Abruf 20.07.2022). [12] VRN (2022): rnv zieht positive Zwischenbilanz bei 9-Euro-Ticket. SWR v. 13.07.2022, www.swr.de/ swraktuell/ baden-wuerttemberg/ mannheim/ rnv-zwischenbilanz-9-euro-ticket-100.html (Abruf 21.07.2022). [13] Rauch, A. (2022): Monatsbilanz 9-Euro-Ticket: Mehr Fahrgäste als vor Corona. BR24 v. 30.06.2022, www.br.de/ nachrichten/ bayern/ m o n a t s b i l a n z - 9 e u ro t i c k e tm e h rf a h rg a e s t e a l s -vo rcorona,TAAmbC5 (Abruf 20.07.2022). [14] Deutsche Bahn (2022): Ein Monat 9-Euro-Ticket: Hohe Nachfrage und Fahrgastzahlen über Vor-Corona-Niveau. www.deutschebahn. com/ de/ presse/ pressestart_zentrales_uebersicht/ Ein-Monat- 9-Euro-Ticket-Hohe-Nachfrage-und-Fahrgastzahlen-ueber-Vor- Corona-Niveau-8122242? (Abruf 20.07.2022). [15] DESTATIS (2022): 9-Euro-Ticket: Mobilität steigt deutlich auf kurzen Distanzen im Schienenverkehr. [16] Herrmann, U. (2022): Debatte um das 9-Euro-Ticket: Bloß nicht verlängern. https: / / taz.de/ Debatte-um-das-9-Euro-Ticket/ ! 5864045/ (Abruf 20.07.2022). [17] Brandt, J.; Kerpacs, L.; Spöcker, C. (2022): 9-Euro-Ticket: Handy-Daten zeigen, ob es ein Erfolg ist. SWR3 online v. 07.07.2022, www. swr3.de/ aktuell/ neun-euro-ticket-oepnv-bw-rlp-100.html (Abruf 20.07.2022). [18] N.N. (2022): Mehrheit nutzt 9-Euro-Ticket für die Freizeit. Der Spiegel online v. 16.06.2022, www.spiegel.de/ auto/ fahrkultur/ 9-euroticket-erweist-sich-laut-umfrage-als-freizeitticket-a-77af7e4ea6b6-476a-ace9-4b0425d422d7 (Abruf 20.07.2022). [19] Krämer, A. (2022): Erste Erfahrungen mit dem 9-Euro-Ticket. In: Der Nahverkehr, 40 Jg., H. 7/ 8, S. 24-26. [20] Meyer-Wellmann, J. (2022): Verkehr: TomTom misst weniger Verkehr in Hamburg - wegen des 9-Euro-Tickets? Hamburger Abendblatt v. 04.07.2022, www.abendblatt.de/ hamburg/ article235798723/ verkehr-hamburg-weniger-stau-laut-tomtom-wegen-9-euro-ticket-bus-bahn-verkehrsdaten.html (Abruf 20.07.2022). [21] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2019): MiD - Regionalbericht Metropolregion Hamburg und Hamburger Verkehrsverbund. GmbH. [22] Krämer, A. (2018): Die Mobilisierung von preissensibler Nachfrage in einer digitalisierten Welt - Die Entstehung von vier Quasi-Monopolen im deutschen Fernverkehrsmarkt. In: Internationales Verkehrswesen, 70 (1), S. 16-20. [23] Krämer, A. (2022): Zeitkarten im ÖPNV - Nachfragepotenziale in Abhängigkeit vom Preisniveau. In: Der Nahverkehr, 40 Jg., H. 6, S. 24-27. [24] Krämer A.; Burgartz, T. (2022): Kundenwertzentriertes Management. Springer Gabler, Wiesbaden. [25] Krämer, A. (2017): Van Westendorp Reloaded: Wie sich auf Basis des PSM-Ansatzes (doch) gute Preisentscheidungen treffen lassen. Vortrag auf der Research & Results Messe, am 25.10.2017 in München. [26] Andor, M. A.; Fink, L.; Frondel, M.; Gerster, A.; Horvath, M. (2021): Kostenloser ÖPNV: Akzeptanz in der Bevölkerung und mögliche Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten. In: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik (Vol. 46, No. 3, pp. 299-325). Springer Berlin, Heidelberg. [27] Krämer, A. (2021): Verhaltenswissenschaftliche Ansätze zur Lenkung der Nachfrage im Bahnfernverkehr. In: ZEVrail, 145 (1-2), S. 18-25. Andreas Krämer, Prof. Dr. Vorstandsvorsitzender exeo Strategic Consulting AG, Bonn; Direktor VARI (Value Research Institute), Iserlohn andreas.kraemer@exeo-consulting. com Anna Korbutt Geschäftsführerin, Hamburger Verkehrsverbund (hvv), Hamburg korbutt@hvv.de Alter HHNE* Wohnort Stammkunde ÖPNV (3+ Tage/ W.) Medium-Nutzer ÖPNV Nicht- oder Selten-Nutzer ÖPNV < 30 Jahre 30-59 Jahre 60+ Jahre < 2.000 EUR HHNE 2.000-3.000 EUR HHNE 3.000+ EUR HHNE < 50.000 Einwohner 50.000-500.000 Einwohner 500.000+ Einwohner BahnCard-Besitz Attraktivität längerer Strecken** ÖPNV 36% 39% 25% 29% 50% 22% 38% 27% 35% 39% 33% 28% 15% 58% Merkmal 9-Euro-Ticket 30,4-Euro-Ticket (365 EUR p.a.) * Haushaltsnettoeinkommen ** Zustimmung „Mit dem 9-Euro-Ticket nutze ich bei längeren Reisen eher den Bahnnahverkehr (RE, RB, IRE) als den Bahnfernverkehr (IC, EC, ICE etc.)“ 69-Euro-Ticket (828 EUR p.a.) Segmentgröße (Personen) 100 % 60 % 12 % 56% 32% 12% 20% 58% 22% 36% 30% 34% 32% 36% 32% 16% 60% 46% 38% 16% 20% 67% 13% 33% 26% 40% 32% 33% 36% 22% 65% Bahn 1 2 3 Bild 4: Kundenprofile für unterschiedliche Nutzergruppen (nach Preispunkt) Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 14 Preissenkungen im öffentlichen Verkehr Wirkungen, Erfolgsfaktoren und Risiken - eine wissenschaftliche Perspektive Öffentlicher Verkehr, Preissenkungen, ökonometrische Analyse, synthetische Kontrollmethode Es steigen die Temperaturen auf der Erdoberfläche und die Preise für Konsument: innen. Um der Klimaerwärmung und der Inflation entgegen zu wirken, wurden generelle Preissenkungen im öffentlichen Verkehr von Politiker: innen vorgeschlagen und eingeführt. Dieser Beitrag bespricht die Wirkung solcher Politikmaßnahmen, die benötigten Erfolgsfaktoren aber auch die Risiken, die vor einer Einführung zu beachten sind. Die Diskussion wird anhand der Ergebnisse einer ökonometrischen Untersuchung geführt, welche die Preissenkung in einem Schweizer Tarifverbund analysierte. Hannes Wallimann, Widar von Arx, Kevin Blättler F ür neun Euro konnte man diesen Sommer einen Monat lang mit dem Nahverkehr durch Deutschland reisen. Ein Angebot, mit welchem die Bundesregierung der Ampelkoalition beabsichtigte, die Bevölkerung von den steigenden Energiekosten zu entlasten und gleichzeitig CO 2 -Emissionen zu reduzieren. Dies, indem Menschen motiviert werden, ihre Reise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anstelle des motorisierten Individualverkehrs (z. B. Auto) zurückzulegen. Reduktionen von CO 2 -Emissionen im Transportsektor sind von Relevanz, da in Europa rund ein Drittel der schädlichen Emissionen durch diesen Sektor ausgelöst werden (vgl. z. B. [1]). In genau dieselbe Richtung argumentierte Österreich, als das sogenannte Klima- Ticket eingeführt wurde. Mit diesem Ticket reist man ein Jahr für 1.095 EUR mit dem öffentlichen Verkehr. Inwiefern sich Preise im öffentlichen Verkehr auf das Verhalten der Reisenden auswirken, wird in der wissenschaftlichen Literatur oft diskutiert (vgl. z. B. [2, 3]). In diesem Beitrag stellen wir eine Studie vor, welche eine Preissenkung in der Schweiz analysierte und zeigen auf, welche Risiken bei generellen Preissenkungen zu beachten und welche Erfolgsfaktoren von zentraler Bedeutung sind. Preissenkungen im Genfer Tarifverbund In der Schweiz gibt es im öffentlichen Verkehr rund 20 regionale Tarifverbünde [4]. Diese Verbünde agieren auf Bestellung durch Bund und Kantone und bieten über mehrere Transportunternehmen einen gemeinsamen Tarif an. Dies ermöglicht eine gesamte Reise mit einem einzelnen Billett, auch wenn für die Fahrt Verkehrsmittel von Symbolbild: Lachmann-Anke / pixabay POLITIK ÖV-Tarife Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 15 ÖV-Tarife POLITIK verschiedenen Unternehmen genutzt werden. Diese Zusammenarbeit der Transportunternehmen existiert auch auf nationaler Ebene und wird Nationaler Direkter Verkehr genannt. Der regionale Tarifverbund Unireso, welcher den Kanton Genf umfasst, senkte im Dezember 2014 die Preise im öffentlichen Verkehr. Diese Preissenkung war die Folge einer durch die Stimmbevölkerung angenommenen Volksinitiative 1 im Westschweizer Kanton. Durchschnittlich wurden die Preise für den öffentlichen Verkehr um 12,6 % gesenkt [5]. Konkret kostete beispielsweise ein Jahresabonnement neu 500- CHF (das entspricht knapp 500 EUR, betrachtend den Wechselkurs EUR zu CHF vom Juli 2022), anstelle von 700 CHF. Im Auftrag des SBB Forschungsfonds untersuchte die Hochschule Luzern gemeinsam mit dem Unternehmen Rapp AG die Wirkung dieser Preissenkung [5, 6]. Die ökonometrische Analyse drehte sich hauptsächlich um das im Genfer Tarifverbund mit Abstand größte Transportunternehmen TPG. Die Ergebnisse zeigen, dass der geschätzte kausale Effekt der Preissenkung auf die Nachfrage über fünf Jahre (vor der Corona-Pandemie) 10,6 % beträgt. Diese Nachfragesteigerung sieht man auch in Bild-1, wenn man die beiden Entwicklungen von TPG mit Preissenkung und TPG ohne Preissenkung miteinander vergleicht. Methodik und Analyse Um den kausalen Effekt der Politikmaßnahme in der vorhin genannten Studie messen zu können, wurden die Einsteigerzahlen in Genf mit den Einsteigerzahlen eines sogenannten konterfaktischen Genfer Transportunternehmens verglichen. Letzteres zeigt auf, wie sich die Nachfragezahlen in Genf ohne die Preissenkung entwickelt hätten. Um dieses konterfaktische Transportunternehmen zu konstruieren, verwendeten die Forschenden die sogenannte synthetische Kontrollmethode (vgl. [7, 8]). Mithilfe dieses ökonometrischen Verfahrens wurden datengetrieben vergleichbaren städtischen Transportunternehmen in der Schweiz Gewichte zugeteilt. Dies mit dem Ziel, die Charakteristiken des Transportunternehmens in Genf in der Zeit vor der Preissenkung optimal nachzubilden. In Bild 1 sieht man, dass dies im Forschungsprojekt gelang: Die schwarze und gestrichelte Linie, welche das Original und das synthetische Genfer Transportunternehmen darstellen, sind beinahe deckungsgleich bis zur Einführung der Preissenkung. Die Differenz zwischen den echten Einsteigerzahlen und den Einsteigerzahlen der synthetischen Kontrollgruppe nach der Preissenkung stellt die Wirkung dar. Ergänzend muss präzisiert werden, dass die Einsteigerzahlen der Transportunternehmen um die jeweiligen Fahrzeugkilometer korrigiert wurden. Dies, um den Effekt der Preissenkung zu isolieren, bzw. von der steigenden (oder sinkenden) Nachfrage durch Angebotsveränderungen zu trennen. So konnte eine statistische Annahme der Studie berücksichtigt werden, nämlich diejenige, dass keine „externen Schocks“ während der untersuchten Zeit auftraten, welche die Einsteigerzahlen beeinflussten. Annahmen, wie die Zusammenhänge in der Welt funktionieren, sind bei solchen statistischen Schätzungen von Wirkungen von zentraler Bedeutung. Ein weiteres Beispiel für eine solche Annahme der Analyse war die Verfügbarkeit einer vergleichbaren Kontrollgruppe, in diesem Fall Transportunternehmungen, welche keine Preissenkungen durchführten. Diese Annahmen bzw. das Studiendesign wurden dann auch in mehreren Robustheitstests untersucht. Grundsätzlich konnte der Effekt bestätigt werden. Es zeigte sich, dass die tiefst mögliche Zunahme der Nachfrage über fünf Jahre 3,7 % betrug, welche als untere Grenze für den Effekt definiert wurde. Dieses Resultat kommt zustande, wenn die Einsteigerzahlen nicht um die jeweiligen Fahrzeugkilometer korrigiert wurden. Mittels der Veränderungen bei den Einsteigerzahlen konnte die Preiselastizität (die prozentuale Änderung der Nachfragemenge als Reaktion auf eine Preisänderung) der Nachfrage berechnet werden. Der Effekt von 10,6 % führt zu einer Elastizität von -0,84, welche in etwa mit der Literatur vergleichbar ist. Beispielsweise besagt Holmgren [2], dass die Preiselastizitäten in Europa in kurzfristig -0,75 und langfristig -0,91 betragen, wenn für die Fahrzeugkilometer kontrolliert wird. Wichtig ist noch anzufügen, dass es sich um eine Punktschätzung handelt. Das heißt, wenn die Preise zukünftig nochmals um den gleichen Betrag gesenkt werden, wird die Nachfrage wahrscheinlich nicht nochmals um die gleichen Prozentzahlen steigen. Dieser geschätzte kausale Effekt unterliegt gewissen Limitationen. Beispielsweise wurde in Genf bis 2012 das Tramnetz ausgebaut. Dieser Ausbau könnte sich auch noch nach der Preissenkung auf die Nachfrage ausgewirkt haben, indem beispielsweise wegen des möglichen gestiegenen Komforts mehr Personen den öffentlichen Verkehr benutzten. Dieser Effekt wäre dann aber nicht mehr komplett von der Wirkung der Preissenkung zu trennen gewesen, folglich wäre die geschätzte Wirkung überschätzt. Ein weiterer Punkt ist, dass in Genf vergleichsweise viele Grenzgänger: innen unterwegs sind. Folglich könnte sein, dass die Charakteristiken des Genfer Transportunternehmens nicht eindeutig mit den anderen Transportunternehmen in der Schweiz nachgebildet werden konnte. Auch ist anzufügen, dass aufgrund der Studie keine Aussagen gemacht werden können, ob es sich bei der gestiegenen Nachfrage nun um Verlagerung oder induzierten Neuverkehr handelte. Letzteres sind Fahrten, welche ohne die Preissenkung nicht zustande gekommen wären. Bei der Nachfrageverlagerung wäre zusätzlich spannend gewesen zu unterscheiden, ob das Kund: innen waren, welche ohne tiefere Preise die Reise mit dem Auto oder zu Fuss zurückgelegt hätten. Erfolgsfaktoren und Risiken genereller Preissenkungen Basierend auf den oben diskutierten Studien kann davon ausgegangen werden, dass eine generelle Preissenkung für Reisen mit dem Bild 1: Entwicklung der Kund: innenzahlen in Genf Quelle: [6], Achsenbeschriftungen ins Deutsche übersetzt POLITIK ÖV-Tarife Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 16 öffentlichen Verkehr - wie bei einem normalen Gut - zu zunehmender Nachfrage führt. Zusätzlich steigern weitere Faktoren die Attraktivität einer generellen Preissenkung wie derjenigen des 9-Euro-Tickets und lösen somit einen positiven Effekt auf die Nachfrage von ÖV-Reisenden aus. Solche Faktoren dürften die einfache Umsetzung und die umfassende Gültigkeit sein. Mit dem Angebot werden Tarif-Brücken überwunden, die verhindern, dass Kund: innen Ziele außerhalb ihrer Stammgebiete einfach und günstig erreichen können. Auf psychologischer Ebene ist zusätzlich bekannt, dass Flatrate-Angebote bei Reisenden sehr beliebt sind (vgl. z. B. [9, 10]). Flatrate-Sortimente reduzieren beispielsweise den sogenannten Taxameter Effekt, der durch häufige Zahlungsvorgänge im öffentlichen Personennahverkehr entsteht. Diese häufigen Zahlungsvorgänge machen den Konsum weniger genießbar, da Reisende, im Gegensatz zu einem Flatrate- Sortiment, die Kosten analog zu einem Taxameter regelmäßig beobachten. Eine Flatrate kann zudem mit dem Versicherungseffekt aufwarten, indem die Kund: innen sicher sein können, dass keine zusätzlichen Kosten anfallen. Und der Überschätzungseffekt führt sogar dazu, dass die Kunden bereit sind, für Flatrate-Angebote deutlich mehr Geld auszugeben, als sie für ihre Mobilität mittels Pay-per-use-Tickets bezahlen würden. Ein zentraler Erfolgsfaktor für den öffentlichen Verkehr ist auch die Qualität des Angebots [11]. Der Umstieg vom motorisierten Individualverkehr auf den öffentlichen Verkehr darf im Alltag nicht an der fehlenden Erreichbarkeit, an der ungenügenden Pünktlichkeit oder an den unattraktiven Reisezeiten scheitern. Bei generellen Preissenkungen besteht jedoch das Risiko, dass (zumindest kurzfristig) Umsatzzahlen von Transportunternehmen sinken. Insbesondere dann, wenn ein neu eingeführtes, preiswertes Produkt bestehende Sortimente kannibalisiert. Auch in dem untersuchten Fallbeispiel aus Genf gingen die Verkäufe für Ticketsortimente, deren Preise nicht gesenkt wurden, deutlich zurück und die Nachfragesteigerung reichte nicht aus, um den Umsatzverlust aufgrund der Preissenkungen wettzumachen [5]. Wenn die fehlenden Erträge nicht vom Staat gedeckt werden, kann dies die Angebotsqualität verschlechtern. Dies wiederum führt dann dazu, dass Reisende unzufriedener sind und dadurch weniger den öffentlichen Verkehr nutzen. Wenn die sinkenden Erträge durch die öffentliche Hand gedeckt werden, steigen die Staatsausgaben. Steigende Staatsausgaben können, vereinfacht zusammengefasst, durch Ausgabekürzungen in anderen Bereichen oder Steuererhöhungen kompensiert werden. Beides ist politisch oft nicht einfach durchzusetzen. Ein weiteres Risiko von generellen Preissenkungen ist, dass die Nachfrage nicht aktiv geglättet wird. Eine Glättung der Nachfrage wäre für Transportunternehmen des öffentlichen Verkehrs von großer Bedeutung, denn während der Stoßzeiten am Morgen oder Abend ist es teilweise schwierig, einen Sitzplatz zu finden. Andererseits waren beispielsweise im Schweizer Fernverkehr vor der Corona-Pandemie durchschnittlich nur knapp 30 % der Sitzplätze belegt [12]. Wenn nun die Preise für alle Reisen gesenkt werden, hat das folglich auch einen Einfluss auf die Hauptverkehrszeiten. Während dieser Zeiten wäre das Angebot zu knapp und bedürfe eines Angebotsausbaus. Vor allem der Ausbau von Bahninfrastruktur ist überdurchschnittlich teuer und beansprucht große Mengen grauer Energie. Somit steigen auch hier die Kosten für den Staat, die Steuerzahler: innen und auch das Klima. Folglich könnten Preissenkungen gezielter eingesetzt werden, beispielsweise für Rabatte auf Einzelfahrtausweise oder vergünstigte Abonnemente während der Nebenverkehrszeiten, um Menschen weg von Stoßzeiten zu lenken und das bestehende Angebot effizienter zu nutzen (vgl. z. B.-[13]). Weiter hat die Forschung gezeigt, dass ein unerwünschter Modal-Shift vom Fuß- und Radverkehr aufgrund von Preissenkungen vor allem auch im ÖPNV möglich ist, nicht nur eine Verlagerung vom Individualverkehr (vgl. z. B. [14]). Um die Mobilität vom Auto auf den öffentlichen Verkehr zu verlagern, braucht es zusätzliche lenkende Maßnahmen bei der Regulierung von Parkplätzen, der Straßenkapazität und den finanziellen Anreizen. Unser Fazit zum Thema Preissenkungen im öffentlichen Verkehr ist, dass diese immer gut in einen Policy- Mix einzubinden sind. Dazu gehört die Abstimmung mit der Angebotsseite, um Kapazitätsreserven in den Spitzenzeiten nicht zusätzlich zu belasten. Weiter empfehlen wir eine geschickte Segmentierung der Kunden, um Kannibalisierungseffekte und somit einschneidende Umsatzeinbußen möglichst zu vermeiden. Abschließend empfehlen sich auch regulatorische Maßnahmen im Individualverkehr. Dies, da rein angebotsseitige Maßnahmen im öffentlichen Verkehr wohl leider nicht ausreichend sind, anvisierte Verhaltensänderungen bei Reisenden zu bewirken. ■ 1 Eine Volksinitiative ist ein politisches Instrument der direkten Demokratie, das es den Bürger: innen ermöglicht, die Verfassung zu ändern. Dieses Instrument kann auf nationaler, kantonaler oder kommunaler Ebene angewandt werden. LITERATUR [1] Batty, P.; Palacin, R.; Gonzalez-Gil A. (2015): Challenges and opportunities in developing urban modal shift. In: Travel Behaviour and Society, 2 (2), pp. 109-123 [2] Holmgren, J. (2007): Meta-analysis of public transport demand. In: Transportation Research Part A: Policy and Practice, 41(10), pp. 1021-1035 [3] Axhausen, K. W.; Molloy, J.; Tchervenkov, C.; Becker, F.; Hintermann, B.; Schoeman, B.; Gotschi, T.; Castro Fernandez, A.; Tomic, U. (2021): Empirical analysis of mobility behavior in the presence of Pigovian transport pricing. ETH Zurich discussion paper [4] Alliance Swisspass: / / www.allianceswisspass.ch/ de/ ueberuns/ diealliance-swisspass (abgerufen am 12.07.2022). [5] von Arx, W.; Blättler, K.; Wallimann, H.; Conradin, H.; Steinle, M. (2022): The Demand Effects of Price Reductions in Urban Public Transport. https: / / imp-sbb-lab.unisg.ch/ de/ forschungsfonds-sbb-eng (abgerufen am 12.07.2022). [6] Wallimann, H.; Blättler, K.; von Arx, W. (2021): Do price reductions attract customers in urban public transport? A synthetic control approach. arXiv preprint. [7] Abadie, A.; Gardeazabal, J. (2003): The economic costs of conflict: A case study of the Basque Country. In: American economic review, 93(1), pp. 113-132. [8] Abadie, A.; Diamond, A.; Hainmueller, J. (2010): Synthetic control methods for comparative case studies: Estimating the effect of California’s tobacco control program. In: Journal of the American statistical Association, 105 (490), pp. 493-505. [9] Lambrecht, A.; Skiera, B. (2006): Paying too much and being happy about it: Existence, causes, and consequences of tariff-choice biases. In: Journal of marketing Research, 43(2), pp. 212-223 [10] Wirtz, M.; Vortisch, P.; Chlond, B. (2015): Flat rate bias in public transportation-magnitude and reasoning. In: 94th Annual Meeting of the Transportation Research Board, Washington, DC, January 2015. [11] Redman, L.; Friman, M.; Garling, T.; Hartig T: (2013): Quality attributes of public transport that attract car users: A research review. In: Transport policy, 25, pp. 119-127 [12] SBB Statistikportal - Verkehr: https: / / reporting.sbb.ch/ verkehr (abgerufen am 13.07.2022). [13] Huber, M.; Meier, J.; Wallimann, H. (2022): Business analytics meets artificial intelligence: Assessing the demand effects of discounts on Swiss train tickets. In: Transportation Research Part B: Methodological, 163, pp. 22-39. [14] Cats, O.; Susilo, Y. O.; Reimal, T. (2017): The prospects of fare-free public transport: evidence from Tallinn. In: Transportation, 44 (5), pp. 1083-1104. Widar von Arx, Prof. Dr. Leiter Kompetenzzentrum Mobilität der Hochschule Luzern (CH) widar.vonarx@hslu.ch Kevin Blättler, MSc Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kompetenzzentrum Mobilität der Hochschule Luzern (CH) kevin.blaettler@hslu.ch Hannes Wallimann, Ph.D. Senior Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kompetenzzentrum Mobilität der Hochschule Luzern (CH) hannes.wallimann@hslu.ch Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 17 W arum sollten Verkehrspolitiker und -planer in Brüssel eigentlich besser wissen als ihre Kollegen in den Hauptstädten und Regionen der EU-Staaten, welche Verkehrswege und Logistikeinrichtungen vorrangig ausgebaut werden sollen? Diese Frage wird - mehr oder weniger offen - wieder häufiger gestellt werden, wenn nach der politischen Sommerpause ab September die Diskussionen über die Neufassung der Verordnung für die transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V) im EU-Ministerrat und im Europäischen Parlament Fahrt aufnehmen. Die vordergründige Antwort lautet: Es gibt keinen zwingenden Grund, anzunehmen, dass es „die in Brüssel“ besser wissen. In Branchenverbänden wird bereits an Listen von Straßen, Bahntrassen, Häfen, Airports und Terminals gearbeitet, von denen Unternehmen oder Verbände meinen, die EU-Kommission habe sie in ihren Vorschlägen für die Überarbeitung der TEN-V- Karten vergessen oder ihren Ausbaubedarf falsch bewertet. Einige Beispiele: Beim Kombinierten Verkehr wundert man sich, dass eines der größten europäischen Umschlagterminals im italienischen Busto Arsizio nur zum „erweiterten“ TEN-V gehören soll. Schienengütertransporteure wie Binnenschiffer wollen, dass die Bahnstrecke von Wörth über das Elsass nach Appenweier ins TEN-V-Kernnetz aufgenommen wird, weil sie bei Problemen auf dem Rhein oder der Rheintalbahn als wichtige Ausweichstrecke gebraucht wird. Auch von den Mitgliedstaaten dürften noch Änderungswünsche an den Karten und an den Kommissionsvorschlägen für die Ausbaustandards kommen. Diskussionen sind etwa über die Definition eines „guten Navigationsstatus“ mit entsprechender Mindestwassertiefe auf den verschiedenen Wasserstraßen zu erwarten. Auch eine deutliche Verlängerung der Liste von „städtischen Knotenpunkten“ trifft bei den Mitgliedstaaten nicht auf „übermäßige Begeisterung“, wie Henrik Hololei, Generaldirektor für Verkehr bei der EU-Kommission, einräumt. Denn das würde unter anderem bedeuten, dass in den aufgelisteten Städten mindestens ein intermodales Terminal stehen muss, das auch 740 Meter lange Güterzüge abfertigen kann. Einen Vorgeschmack auf die Diskussionen gibt auch die Reaktion auf den von der Kommission nachgeschobenen Vorschlag, über die TEN-V-Verordnung die Eisenbahnspurweiten im transeuropäischen Verkehrsnetz zu harmonisieren. Der Ukraine-Krieg zeige gerade, wie wichtig ein einheitlicher Bahn-Binnenmarkt sei, lautet die Begründung der Kommission. Aus Finnland (Breitspur) kam umgehend entschiedener Widerspruch. Nicht umsetzbar und zu teuer, hieß es. Die Mitgliedstaaten lassen sich nicht gerne in ihre Verkehrsplanung hineinreden und sie fürchten die finanziellen Folgen verbindlicher EU-Vorgaben. Das zeigte auch eine erste Aussprache über die TEN-V-Vorschläge im EU-Verkehrsministerrat. Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Es ist nicht gesagt, dass die EU-Kommission am besten weiß, wie das europäische Verkehrsnetz sich entwickeln sollte. Aber es gibt einen guten Grund, warum sie dabei mitreden muss: Der Blick der nationalen Verkehrspolitiker reicht nämlich immer noch zu oft nur bis zur Landesgrenze. Einen aktuellen Beleg dafür hat der wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments geliefert, der sich im Auftrag des EP-Verkehrsausschusses angesehen hat, wofür 22 der 27 Mitgliedstaaten die Milliarden Euro ausgeben wollen, die sie aus dem Corona-Wiederaufbauprogramm der EU erhalten. Fast 450 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten stehen den 22-Länder zur Verfügung, ein großer Teil soll tatsächlich in Verkehrsprojekte fließen. 384 entsprechende Vorhaben listet der Bericht auf, die Bahn soll am stärksten profitieren. Geld ist für den Verkehr in den nächsten Jahren so viel da wie wohl noch nie. Wann, wenn nicht jetzt, gibt es die Chance, beim Aufbau eines zukunftstauglichen EU- Verkehrsnetzes einen Riesenschritt voran zu kommen? Doch an grenzüberschreitenden Projekten mangelt es in den nationalen Programmen, lautet ein Hauptkritikpunkt in dem EP-Bericht. Nur vier Mitgliedstaaten hätten entsprechende Pläne. Meist handele es um Programme zum grenzüberschreitenden Austausch von Mobilitätsdaten. Ein Straßenbauprojekt in Portugal wird explizit erwähnt. Wahr ist: Das Geld aus dem Corona-Programm ist für nationale Projekte vorgesehen. Für grenzüberschreitende Vorhaben gibt es noch andere EU-Fördertöpfe. Aber das Corona-Geld nicht auch „europäisch“ zu nutzen, hieße, eine historische Chance zu verpassen. Ein europäisches Verkehrsnetz mit Lücken ist kein gutes Netz, egal wie gut die nationalen Verbindungen sind. Das gilt vor allem für den international orientierten Güterverkehr. Außerdem handelt es sich bei den Fördermilliarden um „europäisches“ Geld, das sich die EU in einer beispiellosen Aktion an den Finanzmärkten geliehen hat. Einen solchen Kraftakt wird sie nicht beliebig wiederholen können - wenn überhaupt. ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN EU-Staaten sollten historische Chance nicht verpassen Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 18 Geschäftsluftfahrt an deutschen Flugplätzen Zusammenhänge und regionalwirtschaftliche Implikationen Flugplätze, Regionalentwicklung, Geschäftsluftfahrt, Business Aviation, Erreichbarkeitsanalysen Die vorliegende Analyse legt den Schwerpunkt auf die kleineren Flugplatzstandorte in den Regionen Deutschlands und fragt nach deren konkreten Aufgaben und Funktionen, insbesondere im Bereich der Geschäftsluftfahrt. Manche Flugplätze liegen in Ballungsgebieten und andere in peripheren Gebieten. Oftmals haben sie in den Regionen eine wichtige verkehrliche Erschließungsfunktion, die zudem regionalwirtschaftliche Akteure konkurrenzfähig hält und Standortvorteile bringt. Die Darstellung zeigt die Bedeutung der Geschäftsluftfahrt an den regionalen Flugplätzen sowie aktuelle Erreichbarkeitsanalysen. Johannes Schneider D ie in Deutschland historisch gewachsenen polyzentrischen Siedlungsstrukturen spiegeln sich auch in der räumlichen Verteilung der Flughafenstandorte wider, die sich als dezentrale Konzentration bezeichnen lässt. Etabliert hat sich ein dezentrales Flughafennetz mit kleineren und größeren Flughafenstandorten. Neben den 23 Hauptverkehrsflughäfen [1] erbringen die kleineren knapp 390 Flugplätze die grundsätzliche Versorgung mit Luftverkehrsinfrastruktur für die jeweiligen Regionen. Die Geschäftsluftfahrt spielt dabei eine wichtige Rolle. Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Zugang zu Märkten Flughäfen stellen eine wesentliche Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftskraft auf nationaler und regionaler Ebene dar; denn ein wichtiges Kriterium für die Konkurrenzfähigkeit von Regionen und Teilräumen ist deren Anbindung und Integration in ein übergeordnetes Flugverkehrssystem [2]. Das letzte Flughafenkonzept der Bundesregierung geht davon aus, dass „ein leistungsfähiger Verkehrslandeplatz oder regionaler Verkehrsflughafen ein wichtiges Argument für die Standortwahl und damit für die regionale Wirtschaftsförderung“ ([3], S. 25) ist. Sowohl eine gute Anbindung zu den relevanten wirtschaftlichen Zentren in Europa und weltweit als auch an die unternehmenseigenen Standorte stellt für die international operierenden Unternehmen ein wichtiges Standortkriterium dar. Insbesondere kontaktintensive Betriebe müssen, wenn sie nicht in den großen Ballungszentren selbst liegen, über gute und schnelle Verbindungen an solche Räume verfügen. Das dezentrale Netz an (regionalen) Flughäfen und Landeplätzen ist dabei insbesondere für die regionalen, häufig mittelständisch geprägten, peripheren Wirtschaftsräume von Bedeutung, von denen eine „hohe Reaktionsgeschwindigkeit“ [4] erwartet wird. Bedarfe der Allgemeinen Luftfahrt und Geschäftsflugverkehr Neben vereinzelten Linien- und Urlaubsflügen bedienen die kleineren Flughafenstandorte im Rahmen ihrer Ergänzungs- und Entlastungsfunktion im deutschen Luftverkehrssystem im besonderen Maße die Bedarfe des nicht planmäßigen Verkehrs und damit der Allgemeinen Luftfahrt. Hierzu Foto: Public Domain Pictures / pixabay POLITIK Luftverkehr Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 19 Luftverkehr POLITIK zählt neben Schulungs-, Sport- und Vereinsflügen auch der Geschäftsflugverkehr (auch Business Aviation genannt), worunter der nicht-planmäßige firmeneigene Werkverkehr sowie der gewerbliche Betrieb von Geschäftsreiseflugzeugen zum Zwecke des Transportes von Personen und Gütern bezeichnet wird. Sind bei den Flughäfen mit Linien- und Frachtverkehr insbesondere die tatsächlich abgefertigten Passagier- und Frachtvolumina als Bewertungsmaßstab maßgeblich, so ist bei den Flugplätzen ohne planmäßigen Verkehr die Anzahl der Flugbewegungen als quantitative Bestimmungsgröße relevant [5]. Anbindung an eigene Unternehmensstandorte im Rahmen der Geschäftsluftfahrt Vor allem in den Branchen Maschinenbau, Automobilindustrie und -zulieferer, Elektrotechnik, Chemieindustrie und Stahlindustrie/ Metallverarbeitung gibt es zahlreiche deutsche Unternehmen - häufig Weltmarktführer [6] -, die die naheliegenden Flugplätze für ihre Geschäfts- und Werkverkehre nutzen. Hierzu zählen z. B. SAP (Mannheim), die BASF-Gruppe (Speyer), Bertelsmann (Paderborn/ Lippstadt), Volkswagen (Braunschweig, Ingolstadt), Würth (Schwäbisch-Hall) und viele andere. Unter den Weltmarktführern gibt es auch viele so genannte „Hidden Champions“. Hidden Champions sind kleine und mittelständische und hoch innovative Unternehmen, die auf dem Weltmarkt agieren und wirtschaftlich überdurchschnittlich erfolgreich sind. Häufig sind sie Weltmarktführer mit einer ausgeprägten globalen Präsenz [7]. Bild 1 zeigt die Verteilung der Unternehmenssitze dieser Hidden Champions. Zahlreiche Hidden Champions haben ihren Hauptsitz in ländlich geprägten, peripheren Regionen. Besonders deutlich zeigt sich deren starke flächenmäßige Verteilung in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein- Westfalen und etwas abgeschwächter auch in Hessen und Niedersachsen [7]. Hierher stammen auch die meisten Weltmarktführer [6]. Die dort gelegenen Flugplätze werden auch im Rahmen der Geschäftsluftfahrt genutzt. So nutzt beispielsweise das Unternehmen Herrenknecht als Hersteller von Tunnelvortriebsmaschinen den Sonderflughafen Lahr, die Viessmann-Werke als Hersteller von Heiz-, Kühl- und Lüftungstechnik den werkseigenen Verkehrslandeplatz in Allendorf/ Eder oder der Automobilzulieferer Brose Fahrzeugteile den Verkehrslandeplatz in Coburg. Viele weitere deutsche Unternehmen nutzen auf diese Weise kleinere Flugplätze, abseits der großen Hauptverkehrsflughäfen und stellen damit eine überregionale Anbindung an eigene Unternehmensstandorte oder die Nähe zu Kunden im In- und Ausland sicher. Diese Flugplätze liegen vor allem in Gebieten, in denen entweder ein größerer Flughafen mit attraktiven Linienanbindungen fehlt und/ oder Unternehmen ihren Sitz haben, die durch nationale und internationale Verflechtungen einen hohen Bedarf an Mobilität aufweisen. Die Rolle der regional verteilten Flugplätze in Deutschland ist für ihre jeweiligen Einzugsgebiete vielfältig. Indem sie die deutschen und europäischen Regionen miteinander verbinden, ermöglichen die Flugplätze Mobilität [9]. Für die Funktionsfähigkeit der eng miteinander vernetzten deutschen, europäischen und weltweiten Regionen ist eine zuverlässige Luftverkehrsinfrastruktur essenziell. So sind die Verkehrsanbindungen zwischen Unternehmenswerken - beispielsweise um dringende Reparatur- oder Wartungsaufträge zu erledigen - oder zu bestehenden und potenziellen Kunden entscheidend für viele Unternehmensstandorte [4]. Durch den direkten Zugang von entfernten Regionen zu anderen Regionen und Wirtschaftszentren er- Unternehmenssitze von Hidden Champions in Kleinstädten und in Deutschland Datenbasis: Prof. Dr. Bernd Venohr „Datenbank Deutscher Weltmarktführer“ & WeissmanGruppe für Familienunternehmen, Ergänzungen und eigene Recherchen des Leibniz-Institut für Länderkunde, Lagetypen des BBSR Geometrische Grundlage: Verbandsgemeinden (generalisiert), 31.12.2016 © GeoBasis-DE/ BKG Bearbeitung: G. Krischausky 100 km BBSR Bonn 2018 © 1 15 35 Unternehmenssitze von Hidden Champions Lage peripher sehr peripher Anzahl Kleinstädte Großstädte, Mittelstädte, Landgemeinden NL BE LU FR CH AT CZ PL DK Ulm Bonn Kiel Köln Mainz Essen Erfurt Berlin Kassel Bremen Potsdam Rostock Cottbus Dresden Leipzig Hamburg München Mannheim Schwerin Halle/ S. Hannover Chemnitz Nürnberg Magdeburg Bielefeld Wiesbaden Stuttgart Düsseldorf Saarbrücken Freiburg i.Br. Dortmund Frankfurt/ M. Bild 1: Unternehmenssitze von Hidden Champions [8]. # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % NL BE LU FR CH AT CZ PL DK Erreichbarkeit von Flughäfen und Flugplätzen der Geschäftsluftfahrt Datenbasis: Erreichbarkeitsmodell des BBSR Geometrische Grundlage: Kreise (generalisiert), 31.12.2019 © GeoBasis-DE/ BKG Bearbeitung: T. Pütz 100 km BBSR Bonn 2022 © # Flugplatz mit mind. 200 Starts in der Geschäftsluftfahrt % Hauptverkehrsflughafen Saarbrücken Nürnberg Friedrichshafen München Stuttgart Frankfurt/ Main Hamburg Hannover Bremen Düsseldorf Köln/ Bonn Erfurt Dresden Dortmund Paderborn/ Lippstadt Münster/ Osnabrück Rostock-Laage Leipzig/ Halle Hahn Memmingen Karlsruhe/ Baden-Baden Niederrhein Berlin-Brandenburg Augsburg Straubing Vilshofen Ingolstadt-Manching Oberpfaffenhofen Hof-Plauen Coburg-Brandensteinsebene Speyer Lahr Zweibrücken Mannheim Siegerland Kassel-Calden Sylt-Westerland Kiel Lübeck Braunschweig Leer-Papenburg Osnabrück Bielefeld Schönhagen Mönchengladbach Arnsberg-Menden Allendorf/ Eder Dinslaken-Schwarze Heide Reichelsheim Egelsbach Donaueschingen-Villingen Schwäbisch Hall Mengen Giebelstadt bis unter 30 30 bis unter 60 60 bis unter 90 90 bis unter 120 120 und mehr Pkw-Fahrzeit zum nächsten Hauptverkehrsflughafen oder Flugplatz der Geschäftsluftfahrt 2021 in Minuten Bild 2: PKW-Fahrzeit zum nächsten Hauptverkehrsflughäfen oder Flugplatz der Geschäftsluftfahrt 2021 in Minuten Quelle: BBSR [1] POLITIK Luftverkehr Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 20 möglicht der Geschäftsreiseflugverkehr, v. a. an regionalen Flugplätzen, ein hohes Maß an Mobilität. Ergänzt man bei den Erreichbarkeitsanalysen zu den Hauptverkehrsflughäfen auch die v. a. durch die Geschäftsluftfahrt genutzten kleineren Flugplätze, so zeigt sich, dass viele Regionen mit einer eher schlechten Anbindung an einen Hauptverkehrsflughäfen von der Nähe zu einem kleineren Flugplatz profitieren, da die regionalen Akteure diese Flugplätze im Rahmen der Geschäftsluftfahrt nutzen können (vgl. Bild 2). Bedeutung der Geschäftsluftfahrt und regionalwirtschaftliche Relevanz Trotz der bestehenden Nachfrage aus den Regionen führt das gesunkene Angebot im Linienverkehr an einigen kleineren Flugplätzen zu einem Konnektivitätsverlust, der standortbezogen nur über alternative Flugangebote kompensiert werden kann; vorausgesetzt es existiert kein geeigneter ICE- Anschluss [10]. Die Nutzung von Geschäftsreiseflugzeugen ermöglicht den Zugang zu einem wesentlich größeren Netz an Flugplätzen als im klassischen Linienbetrieb. Das Wunschziel kann im direkten Punkt-zu-Punkt-Verkehr angeflogen werden, was zu einer schnellen Erreichbarkeit von entfernten Zielen führt. Abflugzeiten und Abflugort können flexibel bestimmt und Anreisewege und Wartezeiten somit deutlich reduziert werden. Der nächstgelegene Flugplatz wird als Startpunkt gewählt, sodass entfernt liegende, große Verkehrsflughäfen vermieden, individuelle Flugpläne erstellt werden und Umstiege an (Drehkreuz-)Flughäfen entfallen können. Die Nutzung der Business Aviation ermöglicht vielen Unternehmen ein hohes Maß an Flexibilität, bei der sie, ohne auf feste Linienflugpläne angewiesen zu sein, innerhalb eines kurzen Zeitraums bei Bedarf mehrere Orte direkt anfliegen können [11]. Für weniger preissensible Geschäftsreisende sind dabei Zeitopportunitätskosten und eine höhere Komfortorientierung wichtige Entscheidungsgründe [12]. Die hierdurch eingesparten Arbeitszeitkosten ermöglichen eine deutlich erhöhte betriebliche Produktivität. Schätzungen für 2016 zeigen, dass die eingesparten volkswirtschaftlichen Zeitkosten für die Nutzer der Business Aviation in Deutschland bei mindestens 94,9 Mio. EUR pro Jahr liegen (für weitergehende Berechnungen siehe [11] und [13]). Die Aktivitäten der Geschäftsluftfahrt finden in Deutschland auf zahlreichen Flughäfen und Verkehrslandeplätzen statt. Insbesondere die kleineren Flugplätze mit nur geringem oder gar keinem Linienluftverkehr profitieren von der Nachfrage der Business Aviation. Auf den Geschäftsflugverkehr ausgerichtete Flugplätze erfüllen eine wichtige Funktion für die regionale Wirtschaft [14]. Der Bedarf nach Geschäftsreiseflügen resultiert aus den wirtschaftlichen Aktivitäten einer Region und ist auf die nationale und internationale Arbeitsteilung im Industrie- und Dienstleistungsbereich zurückzuführen. Besonders dort, wo die Nachfrage nach flexiblen und schnell verfügbaren Mobilitätsangeboten gefragt ist, kommt für Geschäftsreisen häufig die Business Aviation als Verkehrsträger in Frage. Abseits der infrastrukturell gut ausgestatteten Metropolregionen werden daher häufig auch die dezentralen Flughäfen und Verkehrslandeplätze genutzt [15]. Flugplätze der Geschäftsluftfahrt Bild 3 zeigt die Flugplätze, die für die Geschäftsluftfahrt 2019 am häufigsten genutzt wurden und zeigt alle Flugplätze mit mindestens 200 Starts der Geschäftsluftfahrt. Bei den blau eingefärbten Flugplätzen handelt es sich um die 23 Hauptverkehrsflughäfen. Alle anderen Flugplätze sind orange markiert. Eine für statistische Auswertungen geeignete, eindeutige Definition der Business Aviation gibt es nicht. Für eine qualifizierte Betrachtung der Geschäftsluftfahrt an den deutschen Flugplätzen wird daher die Anzahl der Flugbewegungen Zweibrücken 384 Vilshofen 216 Straubing 438 Speyer 1.100 Schwäbisch Hall 2.017 Reichelsheim 293 Osnabrück 213 Oberpfaffenhofen 2.187 Mönchengladbach 1.425 Mengen 252 Mannheim 1.237 Kassel 953 Ingolstadt-Manching 411 Giebelstadt 514 Egelsbach 591 Dinslaken/ Schwarze Heide 200 Bielefeld 364 Augsburg 1.399 Arnsberg-Menden 216 TXL 1.222 SXF 5.942 STR 4.806 SCN 611 PAD 1.239 NUE 3.515 MUC 7.142 HAJ 2.852 FRA 3.890 FMO 1.721 FKB 2.385 FDH 2.160 DUS 3.945 DTM 1.413 CGN 4.181 BRE 2.652 Westerland 1.526 Siegerland 432 Schönhagen 513 Lübeck 419 Leer 238 Lahr 578 Kiel 272 Hof 470 Donaueschingen 461 Coburg 436 Braunschweig 1.689 Allendorf 265 RLG 534 NRN 333 LEJ 1.483 HHN 829 HAM 4.207 FMM 1.185 ERF 839 DRS 942 © 2022 Mapbox © OpenStreetMap Hauptverkehrsflughafen ja nein 2019 200 2.000 4.000 6.000 7.142 ▲ Bild 3: Hauptverkehrsflughäfen 1 (blau) und andere Flugplätze (orange) mit mindestens 200 Starts der Geschäftsluftfahrt 2019 Eigene Auswertung und Darstellung gemäß Daten von WINGX Advance GmbH 2021 [16] # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # # % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % % NL BE LU FR CH AT CZ PL DK Erreichbarkeit von Flughäfen und Flugplätzen der Geschäftsluftfahrt Datenbasis: Erreichbarkeitsmodell des BBSR Geometrische Grundlage: Kreise (generalisiert), 31.12.2019 © GeoBasis-DE/ BKG Bearbeitung: T. Pütz 100 km BBSR Bonn 2022 © bis unter 10 10 bis unter 30 30 bis unter 60 60 bis unter 90 90 und mehr Differenz zwischen der Pkw-Fahrzeit zum nächsten Hauptverkehrsflughafen und der Pkw-Fahrzeit zum nächsten Flugplatz der Geschäftsluftfahrt 2021 in Minuten # Flugplatz mit mind. 200 Starts in der Geschäftsluftfahrt % Hauptverkehrsflughafen Saarbrücken Nürnberg Friedrichshafen München Stuttgart Frankfurt/ Main Hamburg Hannover Bremen Düsseldorf Köln/ Bonn Erfurt Dresden Dortmund Paderborn/ Lippstadt Münster/ Osnabrück Rostock-Laage Leipzig/ Halle Hahn Memmingen Karlsruhe/ Baden-Baden Niederrhein Berlin-Brandenburg Augsburg Straubing Vilshofen Ingolstadt-Manching Oberpfaffenhofen Hof-Plauen Coburg-Brandensteinsebene Speyer Lahr Zweibrücken Mannheim Siegerland Kassel-Calden Sylt-Westerland Kiel Lübeck Braunschweig Leer-Papenburg Osnabrück Bielefeld Schönhagen Mönchengladbach Arnsberg-Menden Allendorf/ Eder Dinslaken-Schwarze Heide Reichelsheim Egelsbach Donaueschingen-Villingen Schwäbisch Hall Mengen Giebelstadt Bild 4: Differenz zwischen der PKW-Fahrzeit zum nächsten Hauptverkehrsflughafen und der PKW-Fahrzeit zum nächsten Flugplatz der Geschäftsluftfahrt 2021 in Minuten Quelle: [1] ▶ Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 21 Luftverkehr POLITIK (Starts) mit einem für die Business Aviation typischen Flugzeugtyp (Jet oder Turboprop) im IFR-Flug (Instrumentenflug) betrachtet. Die meisten Flugbewegungen der Geschäftsluftfahrt finden an den Hauptverkehrsflughäfen statt. Die Standorte Berlin, München, Stuttgart, Hamburg, Köln/ Bonn, Düsseldorf und Frankfurt am Main liegen an der Spitze. Deren räumliche Lage in den Metropoloregionen mit einer entsprechend ausgeprägten Wirtschaftskraft erklärt diese Spitzenstellung bei den Flugbewegungen und ist nachvollziehbar. Gleichzeitig erkennt man, dass zahlreiche für die Business Aviation relevanten Flugplätze keine Hauptverkehrsflughäfen sind (orange), sondern kleinere Verkehrslandeplätze (z. B. Schwäbisch-Hall, Donaueschingen, Augsburg, Hof oder Speyer) und Sonderflughäfen (z. B. Oberpfaffenhofen, Lahr). Häufig liegen sie am Rande oder außerhalb der Verdichtungsräume und Ballungsgebiete, besonders in den Flächenländern mit einer starken Wirtschaftskraft wie Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen. Insgesamt ist deutschlandweit eine breite Verteilung der durch die Geschäftsluftfahrt genutzten Flugplätze erkennbar, mit regionalen Schwerpunkten im Süden und Westen. Erreichbarkeitsanalysen von Hauptverkehrsflughäfen und Flugplätzen der Geschäftsluftfahrt Die Bereitstellung der Infrastruktur durch die dezentralen Flugplatzstandorte ermöglicht es erst, der tatsächlichen Mobilitätsnachfrage in den Regionen gerecht werden zu können. Häufig fehlt peripheren Regionen der unmittelbare Zugang zu einem Hauptverkehrsflughafen oder es müssen lange Anfahrtswege in Kauf genommen werden. Zugleich sagt die Erreichbarkeit zu einem Hauptverkehrsflughafen zunächst nichts aus über die tatsächlichen Anbindungsqualitäten des dort stattfindenden Flugverkehrs. Die Erreichbarkeitsanalysen in Bild 4 zeigen diese Zusammenhänge anhand der Differenz zwischen der PKW-Fahrzeit zum nächsten Hauptverkehrsflughafen und der PKW-Fahrzeit zum nächsten Flugplatz der Geschäftsluftfahrt. Dabei zeigt sich, dass die Erschließung vieler Regionen ohne die Möglichkeit zur Nutzung des jeweiligen regionalen Flugplatzes, wie beispielsweise Straubing, Donaueschingen, Hof, Allendorf, Leer, Giebelstadt oder Schwäbisch-Hall wesentlich schlechter wäre. Die in Bild 4 blau eingefärbten Regionen profitieren grundsätzlich dadurch, dass es in der Region einen Flugplatz für die Geschäftsluftfahrt gibt und sich die Anfahrtszeiten dadurch spürbar reduzieren. Schlussbetrachtung Die regionalen Flughäfen und Landeplätze mögen zwar im Hinblick auf das Passagieraufkommen oder transportierte Frachtvolumina vernachlässigbar erscheinen. Für die Regionen und die lokale Wirtschaftskraft bedeutet der direkte Zugang zu Flugdienstleistungen häufig einen erheblichen Wettbewerbsvorteil, der die Produktivität steigert und die Regionen im internationalen Konkurrenzverhältnis wettbewerbsfähig und anschlussfähig hält. Dies erscheint insbesondere dann plausibel, wenn man sich vor Augen führt, wie stark die deutsche Wirtschaft von mittelständischen Unternehmen geprägt ist. Für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist angesichts der arbeitsteiligen Weltwirtschaft und der Anforderungen an Mobilitätbedürfnisse die Gewährleistung größtmöglicher Konnektivität durch entsprechende Flughafeninfrastrukturen von essenzieller Bedeutung. Hiervon sind auch die kleineren Flughafenstandorte abseits der größeren Hauptverkehrsflughäfen betroffen, die einerseits eine Ergänzungs- und Entlastungsfunktion im deutschen Luftverkehrssystem übernehmen und damit die Verkehrsanbindung peripherer Regionen sicherstellen sowie andererseits die Bedarfe der Allgemeinen Luftfahrt, insbesondere der Geschäftsluftfahrt, abdecken. Die Business Aviation bietet ihren Nutzern quantitative und qualitative Reisezeitvorteile, Konnektivität und ein hohes Maß an Flexibilität. Damit stellt sie eine wichtige Ergänzung zum öffentlichen bzw. kommerziellen Linienluftverkehr und zu anderen Verkehrsträgern dar. ■ 1 Die abgekürzten Hauptverkehrsflughäfen sind: FRA = Frankfurt/ Main; MUC = München; SXF = Berlin-Schönefeld; TXL = Berlin-Tegel; DUS = Düsseldorf; CGN = Köln/ Bonn; HAM = Hamburg; STR = Stuttgart; HAJ = Hannover; NUE = Nürnberg; HHN = Hahn; LEJ = Leipzig/ Halle; DTM = Dortmund; BRE = Bremen; DRS = Dresden; FMO = Münster/ Osnabrück; PAD = Paderborn/ Lippstadt; FKB = Karlsruhe/ Baden-Baden; FDH = Friedrichshafen; NRN = Niederrhein; SCN = Saarbrücken; ERF = Erfurt; RLG = Rostock-Laage; FMM = Memmingen LITERATUR [1] BBSR - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.), 2022: Räumliche Struktur und Bedeutung der Flughafenlandschaft in Deutschland. Flugplatzstruktur, Hauptverkehrsflughäfen und die Bedeutung des Luftverkehrsstandorts Deutschland. BBSR-Analysen KOMPAKT 10/ 2022. [2] Bericht der ad-hoc Arbeitsgruppe MKRO VA, 21.05.2008: Raumordnerische Anforderungen an das Flughafennetz in Deutschland. [3] BMVI - Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, 2009: Flughafenkonzept der Bundesregierung. [4] DLR - Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.; HOLM - House of Logistics & Mobility GmbH; IUBH - Internationale Hochschule GmbH Campus Studies, 2018: Anforderungen an die dezentrale Luftfahrt in Deutschland zur Erfüllung der wachsenden Mobilitätsbedürfnisse, S. 48. www.idrf.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 11/ Mobilit%C3%A4tsstudie-der-dezentralen-Luftfahrt. pdf (abgerufen am 09.03.2021). [5] DLR - Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.; HOLM - House of Logistics & Mobility GmbH; IUBH - Internationale Hochschule GmbH Campus Studies, 2018: Anforderungen an die dezentrale Luftfahrt in Deutschland zur Erfüllung der wachsenden Mobilitätsbedürfnisse, S. 13ff. www.idrf.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 11/ Mobilit%C3%A4tsstudie-der-dezentralen-Luftfahrt. pdf (abgerufen am 09.03.2021). [6] DDW - Die Deutsche Wirtschaft GmbH, 24.01.2022: Das sind Deutschlands Weltmarktführer. https: / / die-deutsche-wirtschaft. de/ lexikon-der-deutschen-weltmarktfuehrer/ (abgerufen am 06.04.2022). [7] BBSR - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.), 2019: Hidden Champions und Stadtentwicklung. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung innovativer Unternehmen für Kleinstädte in peripherer Lage. Bonn. S. 15f. www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ veroeffentlichungen/ sonderveroeffentlichungen/ 2019/ hidden-champions-stadtentwicklung-dl.pdf; jsessionid=443B95B49 C78DA3E9AF4D06AA14B5A2B.live21323 (abgerufen am 06.04.2022). [8] BBSR - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.), 2019: Hidden Champions und Stadtentwicklung. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung innovativer Unternehmen für Kleinstädte in peripherer Lage. Bonn. S. 18. www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ veroeffentlichungen/ sonderveroeffentlichungen/ 2019/ hidden-champions-stadtentwicklung-dl.pdf; jsessionid=443B95B49 C78DA3E9AF4D06AA14B5A2B.live21323 (abgerufen am 15.11.2021). [9] Ülkü, T. (2021): Wie andere Länder regionale Flughäfen organisieren. www.airliners.de/ regionalflughaefen-67-laender-regionaleflughaefen-organisieren/ 59657 (abgerufen am 23.03.2021). [10] Kuhne, M. (2016): Wie viele Flughäfen braucht das Land? www.airliners.de/ erreichbarkeit-flughaefen-angebot-raumordnung-apropos/ 37765 (abgerufen am 12.03.2021). [11] DLR - Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.; HOLM - House of Logistics & Mobility GmbH; IUBH - Internationale Hochschule GmbH Campus Studies, 2018: Anforderungen an die dezentrale Luftfahrt in Deutschland zur Erfüllung der wachsenden Mobilitätsbedürfnisse, S. 61. www.idrf.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 11/ Mobilit%C3%A4tsstudie-der-dezentralen-Luftfahrt. pdf (abgerufen am 09.03.2021). [12] Maertens, S. (2009): Das Potenzial europäischer Sekundärflughäfen im Interkontinentalverkehr, Heft 160. Münster, S. 187. [13] European Business Aviation Association (EBAA), 2018: European business aviation, Economic value & business benefits. Brüssel. www.e b a a .org/ a pp/ uplo a d s/ 2 02 0/ 07/ E B AA- E conomi c-report-2017_compressed-4.pdf (abgerufen am 07.04.2022). [14] Röhl, K.-H. (2009): Regionalpolitische Aspekte der Flughafeninfrastruktur. [15] AOPA, GBAA, IDRF, 2007: Bedeutung der Allgemeinen Luftfahrt, Business Aviation, Regionalflughäfen und Verkehrslandeplätze in Deutschland. Gemeinsames Positionspapier, S. 13. www.idrf.de/ wpcontent/ uploads/ 2018/ 04/ Bedeutung-der-Allgemeinen-Luftfahrt- Business-Aviation-Regionalflugh%C3%A4fen-und-Verkehrslandepl%C3%A4tze-in-Deutschland.pdf (abgerufen am 09.03.2021). [16] WINGX Advance GmbH, 2021: Auswertungen zu Flugbewegungen der Business Aviation an Flughäfen in Deutschland 2019. Johannes Schneider Projektleiter, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), Bonn (DE) johannes.schneider@bbr.bund.de Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 22 Soziale Implikationen einer barrierefreien Flugreise Entwicklungstendenzen innerhalb des Transfers bei rollstuhlfahrenden Menschen Luftverkehr, Öffentliche Verkehrsmittel, Bordrollstuhl, Barrierefreiheit, Transfer, Usability Menschen mit Geh-Einschränkungen müssen im Luftverkehr einen Bordrollstuhl nutzen, mit dem sie vom Gate abgeholt und in das Flugzeug zum Sitzplatz gebracht werden. Aber auch der Toilettengang während des Fluges macht einen Bordrollstuhl für Rollstuhlfahrende unverzichtbar. Dabei kann der Transfer vom eigenen Rollstuhl in den Bordrollstuhl, bzw. vom Bordrollstuhl auf die Flugzeugtoilette für die Betroffenen schmerzhaft und für die Hilfspersonen anstrengend sein. Im Projekt Multifunctional Onboard Accessibility Devices war es u. a. das Ziel, alle Anforderungen und Bedürfnisse aus Sicht potentieller Nutzerinnen und Nutzer eines Bordrollstuhles umfangreich zu analysieren und deren vielfältige spezifische Anforderungen zu verstehen. Marcel Weber, Bernhard Guggenberger, Birgit Jocham, Katharina Werner, Heidelinde Jelinek-Nigitz D ie EU Verordnung EC No 1107/ 2006 widmet sich spezifisch den Fluggastrechten Reisender mit Behinderungen und gilt für alle europäischen Flughäfen, den weltweiten Betrieb europäischer Luftfahrtunternehmen sowie den Betrieb von nicht EU-Luftfahrtunternehmen auf dem Gebiet der EU. Laut der Verordnung sollen alle Reisenden ungeachtet von einer Behinderung oder altersbedingten Mobilitätseinschränkung die gleichen Flugreisemöglichkeiten haben. Die Überwachung der Verordnung, Beschwerdeübernahme und Sanktionierung bei Verstößen obliegt den Mitgliedstaaten. Die Umsetzung der Verordnung seitens der Luftfahrtunternehmen und ihre Überwachung in den Mitgliedsstaaten sind Foto: Ursula / pixabay INFRASTRUKTUR Luftverkehr Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 23 Luftverkehr INFRASTRUKTUR innerhalb der EU von unterschiedlicher Qualität. Im Jahr 2012 hat die Europäische Kommission genaue Auslegungsleitlinien zur Anwendung der Verordnung von 2006 publiziert. Die Auslegungsrichtlinien weisen unter anderem darauf hin, dass die Luftfahrtunternehmen bei der Gestaltung neuer und neu einzurichtender Luftfahrzeuge die Bedürfnisse Reisender mit Behinderungen berücksichtigen müssen. Die Strategien der EU in Bezug auf Menschen mit Behinderungen unterliegen den Prinzipien der Nicht-Diskriminierung und Chancengleichheit. Die Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010- 2020 streicht unter anderem die Wichtigkeit eines barrierefreien Zugangs zu Verkehrsmitteln hervor. [1] Zugleich wird seit mehreren Jahren am EU Accessibility Act gearbeitet, der umfassende Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen vorschreiben wird. Anhand einer Datenerhebung der EU- Statistiken über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) ist mehr als ein Drittel der EU-Bevölkerung physisch und sensorisch behindert - 37 % ab einem Alter von 15 Jahren gaben an, dass sie mäßige bis schwere physische und sensorische Einschränkungen haben. Die Datenerhebung nach Geschlecht zeigte, dass Frauen um 1,6 % stärker von Behinderungen betroffen sind als Männer. Die Datenerhebung nach Alter zeigte, dass in der ältesten Altersgruppe rund zwei Drittel der ab 65-Jährigen von Behinderungen betroffen sind. [2] Ein ähnliches Bild zeigt sich auch am Beispiel Österreich. Laut einem Bericht des österreichischen Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die „Lage von Menschen mit Behinderungen in Österreich 2016“ haben 18,4 % der Bevölkerung, was ungefähr 1,3 Millionen Menschen beträgt, eine dauerhafte Beeinträchtigung der Beweglichkeit und somit unmittelbar Mobilitätsprobleme. Rund 40.000 Personen, was ungefähr 0,5 % der Bevölkerung ab 15 Jahren entspricht, benutzen dauerhaft einen Rollstuhl. Mobilitätseinschränkungen treten verstärkt bei Menschen ab 60 Jahren auf, eine Altersgruppe, die in Zukunft aufgrund des demografischen Wandels stark wachsen wird. Im Jahr 2050 werden 34 % der Gesamtbevölkerung in Europa über 60 Jahre alt sein. [3] Angesichts der großen und auch in Zukunft steigenden Zahl von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ist der Begriff Barrierefreiheit in Planung und Bau von großer Bedeutung. Barrierefreie Planung in allen gesellschaftlichen Bereichen gibt Menschen mit Mobilitätseinschränkungen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und dadurch eine höhere Lebensqualität. Dazu gehört das Ermöglichen sowohl der selbstständigen täglichen Mobilität als auch der Mobilität auf (Flug-)Reisen. Im Flugverkehr existiert eine Reihe kostenloser Serviceleistungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, welche von der Abholung vom Eingangsbereich, Unterstützung beim Check-In und beim Zollverfahren bis hin zum Borden in das Flugzeug reichen können. Auch bei der Gestaltung von Flughafengebäuden (z. B. Rampen, Aufzüge etc.) werden die Bedürfnisse von Menschen mit bestimmten Einschränkungen berücksichtigt. Das großzügige Angebot für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen endet jedoch nach dem Borden im Flugzeug und dem Betreten der Flugzeugkabine selbst. Die Auslegung der Fluggastkabinen in der EU zugelassener Luftfahrzeuge unterliegt der europäischen Zertifizierung durch die European Aviation Safety Agency (EASA). Nicht aus der EU stammende Luftfahrzeuge werden von der jeweiligen nationalen Behörde zertifiziert. An Bord europäischer Fluglinien werden im Kurz- und Mittelstreckenverkehr selten Rollstühle zur Verfügung gestellt, welche jedoch für viele mobilitätseingeschränkte Menschen z. B. eine Grundvoraussetzung zur Erreichung der Toiletten darstellen. Die USA setzt hierbei vor allem durch eine Verordnung fest, dass inländische wie auch ausländische Luftfahrtunternehmen ab 100 Sitzplätzen ausreichend Platz für die Unterbringung von Rollstühlen vorgesehen müssen. [4] Unveränderte Transfervorgänge allgegenwärtig Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, haben mehrere Transfers im Rahmen einer Flugreise zu durchlaufen. Derzeit müssen sich die Menschen vor Erreichen des Flugzeuges in einen kabinentauglichen Bordrollstuhl umsetzen oder sich mit Unterstützung von Hilfeleistenden umsetzen lassen. Der eigene Rollstuhl wird nach dem Transfer im Gepäckraum des Flugzeugs verladen. Aus dem kabinentauglichen Rollstuhl werden die Menschen dann in einen normalen Sitz umgesetzt. Diesen Transfer in den Flugzeugsitz können betroffene Menschen oftmals nicht selbst bewältigen. Hier benötigen sie die Unterstützung eines helfenden Menschen oder die Unterstützung einer Flugbegleitung. Diesen Menschen fehlt allerdings oftmals das genaue Wissen, wie sie bestmöglich unterstützen können. Das betrifft zum einen das Wissen, wie die Person im Rollstuhl komplikationslos transferiert wird, und zum anderen, wie dabei der eigene Körper geschont werden kann. Der Transfer ist auch für den unterstützungsbietenden Menschen aufgrund der eingeschränkten Platzverhältnisse mit großen (körperlichen) Anstrengungen verbunden. Übliche Bord- Bild 1: Üblicher Bordrollstuhl im Flugverkehr [5] Quelle: Innovint- Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 24 INFRASTRUKTUR Luftverkehr rollstühle sind einfach gestaltet, vergleichbar mit einem auf Rollen, zum Schieben geeigneten Klappsessel. Sie dienen ausschließlich dazu, Menschen zum Sitzplatz oder bei Verfügbarkeit während des Fluges vom Sitzplatz zur Toilette zu bringen (siehe Bild 1). Zusätzlich ist es für Menschen mit Geheinschränkungen wegen des engen Raums oftmals unmöglich, die Flugzeugtoiletten zu benutzen. Die kabinentauglichen Rollstühle gehören meist dem Flughafen, somit ist während des Fluges kein Rollstuhl in der Kabine vorhanden, mit welchem Passagiere sich in dieser bewegen können. Des Weiteren benötigen Menschen mit Geh- Einschränkungen je nach Art der Behinderung speziell angepasste Rollstühle, beziehungsweise zusätzlich Polster und Sitzhilfen, um z. B. fehlende Muskulatur zu kompensieren, eine schmerzfreie Sitzhaltung zu ermöglichen oder Gesäßpartien zu entlasten, um einen Dekubitus zu verhindern (z. B. bei Querschnittslähmung). Das Sitzen in einem Flugzeugsitz kann für diese Menschen zumindest schmerzhaft, im äußersten Fall auch gefährlich bzw. gesundheitsschädigend sein. Das Umsetzen in die kabinentauglichen Rollstühle und den Flugzeugsitz birgt ebenfalls Verletzungsgefahren,- etwa wenn der beförderte Mensch einen unkontrollierbaren Krampf bekommt und stürzt bzw. fallen gelassen wird. Der Transfer von Menschen in und aus den Rollstühlen sowie in und aus dem Flugzeugsitz kann je nach Behinderungsgrad und dessen/ deren Körpergewicht, aber auch wegen des engen Raumes in der Flugzeugkabine selbst, allgemein für das Flughafenpersonal körperlich anstrengend sein und für beide potenziell zu Verletzungen führen, wenn der Transfer nicht geübt ist. Optimierungsprozess durch analytische Erarbeitung von Bedürfnissen Aufgrund der vorangegangenen Problemerörterung war es ein wesentliches Ziel, die Bedürfnisse und Anforderungen hinsichtlich der Nutzbarkeit von Bordrollstühlen in unterschiedlichen Phasen zu erheben. Gleichzeitig wurden dazu auch die Bedürfnisse und Anforderungen des Kabinenpersonals hinsichtlich eines einfacheren Handlings beim Schieben von Rollstühlen sowie beim Umsetzen von Menschen erhoben sowie zahlreiche Meinungen von Expertinnen und Experten Interessensverbänden, Ergotherapie und Psychotherapie evaluiert. Für eine deskriptive Darstellung der zu erarbeitenden Systemkonzeption ist ein entscheidendes Vorwissen über die unterschiedlichen Problemdimensionen elementar - vor allem hinsichtlich der Generalisierbarkeit. Aufgrund dessen erfolgte innerhalb der Methodologie die Zuhilfenahme von explorativen Elementen, welche durch zwei wesentliche Zugänge charakterisiert waren. Neben einer durchgeführten Befragung, innerhalb dieses Artikels mit dem Fokus auf Menschen im Rollstuhl, wurde zusätzlich ein methodengestützter Vernetzungsworkshop durchgeführt. Die Kombination der zwei qualitativ und quantitativ geprägten Methodologien gewährleistet einen effektiven Zugang auf die unterschiedlichen Problemdimensionen zu den Bedürfnissen und Anforderungen der Bordrollstühle in den unterschiedlichen Nutzungsphasen einer Flugreise. Um eine vergleichende Analyse zu ermöglichen, wurden für die analytische Erarbeitung von Zielgruppen-Bedürfnissen die Faktoren „Individuell“, „Sozial“ und „Organisatorisch“ erarbeitet und diese durch Variablen, hier am Beispiel von rollstuhlfahrenden Menschen, konkretisiert (siehe Bild-3). Ausgeglichenes Geschlechterverhältnis mit viel Flugerfahrungen An der analytischen Untersuchung nahmen insgesamt 63 Menschen, welche auf einer Flugreise auf einen Bordrollstuhl angewiesen sind, teil. Die Altersklassen der Teilnehmenden zeigten dabei ein dominierendes Bild mit 57 % unter den 30 bis 59-jährigen. Dabei ist ein weitgehend ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zu verzeichnen - jeweils 44 % weibliches und männliches Geschlecht nahmen an der analytischen Untersuchung teil, wobei 2 % divers als Geschlechtangaben und 10 % sich nicht zur Geschlechtszugehörigkeit äußerten. Befragung von Menschen in Rollstühlen Befragung von Flugpersonal Befragung von Expert/ -innen Workshop mit den betroffenen Personengruppen Deskrip�ve Analyse Allgemeine Fragen Hilfsmi�el Transfer in/ aus dem Rollstuhl Erfahrungen Soziodemografische Fragen Sons�ge Anmerkungen Umgebung/ Hilfsmi�el Ausbildung/ Transfer Anforderungskatalog Bordrollstuhl Faktor: Individuell Faktor: Sozial Faktor: Organisatorisch Themenblöcke Bild 2: Evaluierungsschritte Eigene Darstellung Bild 3: Übersicht der Faktoren und Variablen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 25 Luftverkehr INFRASTRUKTUR Insgesamt gaben 23 der befragten Menschen an, dass sie vor der Covid-19-Pandemie mindestens eine Flugreise angetreten sind. Weitere 19 sind zweibis viermal im Jahr und 12 sind mehr als viermal im Jahr geflogen. Dabei erhielten die Befragungsteilnehmenden vor allem Unterstützung durch das Bordpersonal (23 Menschen im Rollstuhl) sowie durch Mitreisende (17-Menschen im Rollstuhl). Als die größten Probleme beim Transfer gaben die Befragungsteilnehmenden an, dass der Bordrollstuhl sich nicht ohne Unterstützung einer anderen Person bedienen lässt (20 Menschen im Rollstuhl). Als problematisch werden auch die unpassende Platzierung der Hosenträger-Sicherheitsgurte (neun Menschen im Rollstuhl) und fehlende zusätzliche Haltegriffe für einen sicheren Transfervorgang (neun Menschen im Rollstuhl) genannt. Als sonstige Probleme werden genannt, dass der Bordrollstuhl äußerst unbequem und hart zu sitzen, die Rückenstütze gerade ausgeführt und hauptsächlich für schmale Menschen gebaut ist. Laut einem Befragungsteilnehmenden lassen sich in einigen Flugzeugen die äußeren Armlehnen nicht herunterklappen, so dass ein Transfer vom Bordrollstuhl hinüber in den Sitz nur mit großer Unterstützung möglich ist. Des Weiteren wird genannt, dass der Bordrollstuhl instabil konstruiert ist und die Fußstützen im Weg sind. Außerdem sei es schwer, in den Bordrollstuhl umzusteigen, weil die nicht wegklappbaren Armlehnen zwischen den Sitzen sich nicht verschieben lassen und es schwierig ist, sich über diese weiterzubewegen. In Bezug auf die Zufriedenheit mit dem Bordrollstuhl gab keiner der Menschen im Rollstuhl an, mit der derzeitigen Lösung des Bordrollstuhls sehr zufrieden zu sein. Eine Gruppe von 15 Menschen in Rollstühlen äußerte sich eher zufrieden zu sein, wohingegen sieben angaben, eher nicht zufrieden und sechs überhaupt nicht zufrieden zu sein. Zusammenfassend bekräftigt die Tatsache, dass keiner der befragten Menschen in Rollstühlen angab, mit der derzeitigen Lösung sehr zufrieden zu sein, dass ein Handlungsbedarf für die Überarbeitung des Konzeptes Bordrollstuhl und des entsprechenden Umfeldes bzw. der Umweltfaktoren besteht. Gemäß den Befragungsteilnehmenden stellen Platz- und Sitzkomfort im Bordrollstuhl (15 Menschen im Rollstuhl), der Höhenunterschied zwischen Sitz- und Fußablagen des Bord- und Flughafenrollstuhles (13 Menschen im Rollstuhl) sowie fehlende Haltemöglichkeiten während des Bewegens des Bordrollstuhles (neun Menschen im Rollstuhl) die am häufigsten genannten Probleme dar. Zwei Menschen in Rollstühlen hielten fest, dass ihnen bisher der Bordrollstuhl nur als der am Flughafen verbleibende Transferstuhl präsentiert wurde und, dass es an Bord nie einen gab oder dieser nur selten mitgenommen wurde. Wird der Bordrollstuhl am Flughafen zurückgelassen, schränkt dies die Möglichkeiten an Bord die Toilette zu benutzen stark ein. Als Problem gaben 20 Menschen im Rollstuhl an, dass sich der Bordrollstuhl nicht selbstständig steuern lässt und somit immer externe Hilfe benötigt wird. Ausreichende Hilfsmittel bei einer Flugreise vorhanden Abseits des Flugverkehrs nutzen 23 der befragten Menschen einen manuellen Rollstuhl, neun einen elektrischen Rollstuhl und fünf eine andere Gehhilfe (z. B. Rollator, Stock). Des Weiteren sind sechs Menschen auf eine Hebehilfe oder einen Lifter angewiesen. Lediglich ein Mensch gab an, dass sie keine Hilfsmittel benötigt. Ein Mensch merkte an, dass der Bordrollstuhl eigenhändig bedienbar sein sollte und dass die sehr individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eine allgemeine Aussage nicht zulassen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass Menschen zum Teil spezielle Sitzschalen benötigen, um im Rollstuhl stabil zu sitzen. Für diese Menschen könnte ein herkömmlicher Bordrollstuhl nicht benutzbar sein. Rutschbretter sind zwar sperrig, können aber wesentlich zum Gelingen des Transfers beitragen. Sie müssen derzeit jedoch selbst mitgebracht werden. Ein Rutschtuch wäre eine mögliche Abhilfe, da es über ein geringeres Gewicht verfügt, platzsparender ist und wesentlich zur Positionsausrichtung am Sitz beitragen kann. Außerdem sollten Decken und zusätzliche Polster zur Positionierung den Bordrollstuhl-Nutzer/ -innen sowohl auf Kurzwie auch auf Langstreckenflügen zur Verfügung stehen. Etwa drei Viertel der Befragten gaben an, dass sie grundsätzlich bei einer Flugreise ausreichend mit Hilfsmitteln versorgt sind. Transfer in/ aus dem Rollstuhl von Unsicherheiten geprägt Bei der analytischen Untersuchung wurde auch auf das Thema Schulung/ Ausbildung mit den Teilnehmenden eingegangen. Fehlende Schulungen führen zu Unsicherheiten des Flugpersonals im Umgang mit den Menschen im Rollstuhl und mit dem Bordollstuhl selbst. Die Aussage „der beste Bordrollstuhl ist nichts wert, wenn die Crew damit nicht umgehen kann“ spiegelt dabei die Meinung der befragten Menschen im Rollstuhl wider. Abhilfe könnten Schulungen und Sensibilisierungstrainings für das Flugpersonal bringen, damit das Flugpersonal adäquat auf die individuellen Bedürfnisse der Bordrollstuhlnutzer/ -innen eingehen kann. Da Flüge, bei denen ein Bordrollstuhl zum Einsatz kommt, eher selten stattfinden, kann durch die Erstellung von Kurzinformationen (z. B. in Form einer einseitigen Broschüre), zur raschen Wiederauffrischung der Kursinhalte, das Flugpersonal unterstützt werden. Probleme beim Transfer in/ aus dem Rollstuhl ergeben sich im Detail laut den befragten Menschen im Rollstuhl vor allem durch die Unsicherheit in der Transferphase (z. B. durch fehlende Kenntnisse der Bild 4: Übersicht zu den Anforderungskategorien und deren Empfehlungen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 26 INFRASTRUKTUR Luftverkehr Transfertechniken) (17 Menschen im Rollstuhl), sprachliche Barrieren (z. B. Übersetzungsprobleme) (14 Menschen im Rollstuhl) und durch Missverständnisse in der Kommunikation (z. B. Fehlinterpretationen von Anweisungen) (12 Menschen im Rollstuhl). Fünf Menschen im Rollstuhl gaben an, dass ihnen beim Transfer keine Probleme bekannt sind. Vor allem wurde angegeben, dass die Hilfeleistenden so helfen sollen, wie es die Menschen im Rollstuhl erklären, da jeder Mensch im Rollstuhl individuell unterschiedliche Unterstützung benötigt. Von den Entwicklungstendenzen hin zur Systemoptimierung Die Erkenntnisse aus den analytischen Evaluierungen zeigen zum großen Teil den Bedarf einer Systemoptimierung (siehe Bild 4). Wesentlich genannte Eigenschaften waren hierbei die weitgehend eigenständige Transfermöglichkeit bei Toilettengängen. Dabei steht die Anpassbarkeit der Ausstattung des Bordrollstuhls auf die individuellen Bedürfnisse im Vordergrund. Innerhalb der Kategorie „Umgebung, Infrastruktur und Hilfsmittel“ lässt sich festhalten, dass die Wichtigkeit eines vermehrten Platzangebots beim Transfer, mehr Zeit bei der Transferdurchführung, sowie das Vorhandensein von Haltegriffen besteht. Grundsätzlich kann in der Kategorie „Ausbildung/ Transfer“ hervorgehoben werden, dass es dem Flugpersonal schlichtweg an einer gezielten Ausbildung oder Schulung fehlt, um eine sichere Unterstützung beim Transfer anbieten zu können. Experimentelle Entwicklung unumgänglich Wie sich gezeigt hat, gibt es bei dem Thema Mobilität in und um das Flugzeug bei bewegungseingeschränkten Menschen noch viele offene Punkte. Erste Ansätze, wie die derzeit zur Verfügung stehenden Bordrollstühle verbessert werden können, wurden zwar schon entwickelt, sind aber bei weitem noch nicht optimal einsetzbar. So gibt es einerseits organisatorische Herausforderungen (z. B. dass der Bordrollstuhl gar nicht an Bord bleibt, da er Eigentum des Flughafens ist) und andererseits geben die Menschen in Rollstühlen diverse Punkte im Transfervorgang und der Gestaltung des Rollstuhls an, die Verbesserungspotential aufweisen. Ein großes Anliegen dieser Zielgruppe ist es daher unter anderem, im eigenen Rollstuhl befördert werden zu können, um Umsetzvorgänge zu vermeiden und insbesondere während des Fluges weiterhin den angepassten Sitzbereich vorzufinden. Aktuell besteht jedoch bei keiner Airline die Möglichkeit, den eigenen Rollstuhl mit in die Kabine zu nehmen und während des Fluges zu nutzen. Neben der technischen Umsetzung zeigt sich vor allem auch, dass es einen Bedarf an einer adäquaten Schulung des Bordpersonals gibt. Ein korrekter Einsatz der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel ermöglicht zum einen den sicheren Transfer für die betroffenen Personen und gewährleistet zum anderen, dass das Personal ergonomisch und ressourcenschonend arbeiten kann. Um die Entwicklungstendenzen klarer darstellen zu können, müssen zukünftig noch einige Punkte geklärt werden. Das betrifft vor allem die Materialbeschaffenheit und die Ausstattungselemente eines Bordrollstuhls, um Komfort für die betroffenen Personen und die Handhabbarkeit zu optimieren. Ein weiterer Punkt wäre eine Analyse der Bewegungsabläufe von Rollstuhlnutzerinnen und -nutzern, um zu evaluieren, welche entsprechenden verhaltensbasierten Maßnahmen in die Systemkonzeption übernommen werden müssen. Die Evaluierung der Anforderungen und Bedürfnisse aus Sicht potentieller Nutzerinnen und Nutzer eines Bordrollstuhles stellt eine Basis für weitere Entwicklungsschritte dar. Sie zeigt, dass das Individuum, die Umgebung und die Aufgabe nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. So ist es wichtig, nicht nur in der Planung und Konzeptionierung, sondern auch während der Erarbeitung von Gestaltlösungen potentielle Nutzerinnen und Nutzer sowie Expertinnen und Experten in den Entwicklungsprozess miteinzubinden und laufend aufgabenorientierte und kontextbezogene Evaluierungen durchzuführen. Konkret wurde der erste Schritt in den hier präsentierten Ergebnissen geliefert. Diese zeigen die hohe Relevanz der Weiterentwicklung der derzeit vorhandenen Bordrollstühle. Eine spätere Evaluierungsschleife wird zeigen, ob die Anliegen der betroffenen Personen in ihrem Sinne mitaufgenommen werden konnten. ■ Katharina Werner, Dipl. Ing. Mag. Senior Researcher, raltec, Wien k.werner@raltec.at Heidelinde Jelinek-Nigitz, Mag.rer.soc.oec Aviation Management, Institut Luftfahrt/ Aviation, Department of Engineering, FH Joanneum Graz heidelinde.jelinek-nigitz@ fh-joanneum.at Birgit Jocham, B.Sc., M.Sc. Lecturer, Institut Physiotherapie, FH Joanneum Graz birgit.jocham@fh-joanneum.at Bernhard Guggenberger, B.Sc., M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut Physiotherapie, FH Joanneum Graz bernhard.guggenberger2@ fh-joanneum.at Marcel Weber, Dipl.-Ing., B.Sc. Projektassistent, Institut für Verkehrswissenschaften, Technische Universität Wien marcel.weber@tuwien.ac.at HINTERGRUND Forschungskonsortium widmete sich seit zwei Jahren diesem Thema Die hier dargestellten inhaltlich interpretierten empirischen Datenerhebungsergebnisse stammen aus Forschungstätigkeiten der Institutionen netwiss OG, Technische Universität Wien, FH Joanneum sowie raltec - research group for assisted living technologies und wurden im Förderprogramm „Take Off“ durch das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Innovation und Technologie sowie der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) gefördert. QUELLEN [1] Commission, Directorate - General for Mobility and Transport (Hg.) 2021: Study on the EU Regulatory Framework for Passenger Rights - Part A, Evaluation of Regulation (EC) No 1107/ 2006 on the rights of persons with disabilities and with reduced mobility when travelling by air. https: / / data.europa.eu/ doi/ 10.2832/ 388432 (Zugriff: 2022- 07-06). [2] European Union (Hg.) 2014: Functional and activity limitations. http s : / / e c . e u ro p a . e u / e u ro s t a t/ s t a t i s t i c s e x p l a i n e d / i n d e x . p h p ? t i t l e = F u n c t i o n a l _ a n d _ a c t i v i t y _ l i m i t a t i o n s _ statistics#Functional_and_activity_limitations (Zugriff: 2022-07- 06). [3] Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hrsg.) 2016: Bericht der Bundesregierung über die Lage der Menschen mit Behinderungen in Österreich 2016, S. 239ff., Wien. [4] Department of Transportation (Hrsg.) 2014: Nondiscrimination on the basis of disability in air travel, accessibility of aircraft and stowage of wheelchairs, Part 382-Nondiscrimination on the basis of disability in air travel, §382.67 - What is the requirement for priority space in the cabin store passengers’ wheelchairs? , 13.01.2014. [5] INNOVINT Aircraft Interior GmbH (Hg.): Passenger Service On-Board Wheelchair. https: / / innovint.jimdo.com/ app/ download/ 11291450928/ IAI_OBW-2218_Rev.1.3.pdf (Zugriff: 2022-07-06). Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 27 Luftverkehr INFRASTRUKTUR Neuartiges Konzept der Sicherheitsarchitektur eines Flughafens Ganzheitliche Interpretation der Sicherheitsinfrastruktur am-Flughafen mithilfe von KI Luftverkehr, Flughäfen, Security, Digitalisierung, Automatisierung, Künstliche Intelligenz Sicherheit am Flughafen berührt einen wesentlichen Wert unserer Gesellschaft: sich angstfrei bewegen zu können. Um diesen Wert zu verteidigen, ist es unerlässlich, die Security am Flughafen weiterzuentwickeln. Digitalisierung und Automatisierung stellen eine Möglichkeit der Weiterentwicklung dar. Im vorliegenden Beitrag wird aufbauend auf dieser Entwicklung ein neuartiges Konzept der Sicherheitsarchitektur eines Flughafens vorgestellt. Das Konzept besteht aus einem zentralen KI-System, das alle verfügbaren Informationen, die durch alle Arten von Sensoren geliefert werden, interpretiert und adäquate Aktionen ausführt. Olaf Milbredt, Andrei Popa, Friederike-Chantal Doenitz, Martin Hellman D ie kommerzielle Luftfahrt ist seit Beginn Ziel krimineller und terroristischer Operationen. Betroffen sind dabei sowohl Flugzeuge, die als Waffe eingesetzt werden, als auch Flughäfen. Dabei wandelten sich die Herangehensweisen und technologischen Mittel der Angreifer ebenso wie die der Luftsicherheit als Reaktion auf Angriffe. Zunehmend genutzte Methoden im Bereich Luftsicherheit sind Videoerkennung und -analyse sowie Profiling. Darüber hinaus ist gegenwärtig eine zunehmende Erweiterung dieser Methoden durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) zu beobachten, die potentiell einen Mehrwert zur Steigerung der Sicherheit im Flughafen bietet. Aktuell werden nicht alle Informationen der Luftsicherheit am Flughafen zentral gebündelt und interpretiert. Dies führt zu einer zeitverzögerten Reaktion im Falle eines sicherheitsrelevanten Vorfalles wie z. B. das Identifizieren eines nicht zuzuordnenden Gegenstands (NzG) und dessen Verursachers. Welche gravierenden Folgen ein NzG haben kann, zeigt das durch M. Mücke beschriebene Beispiel am Flughafen Düsseldorf. [1] Dieser war aufgrund eines NzG über mehrere Stunden gesperrt, 10.000 Personen mussten den Flughafen verlassen und insgesamt 140 Flüge fielen aus. Der entstandene Schaden wurde auf einen einstelligen Millionenbereich geschätzt. [1] In diesem Beitrag wird ein Konzept beschrieben, das sicherheitsrelevante Informationen mithilfe einer KI zentral interpretiert und adäquat agiert. Eine solche KI wertet die von Sensoren im Flughafen gelieferten Informationen aus und führt Aktionen mittels Aktuatoren, wie automatische Türen, aus. Beteiligte Aktuatoren und Sensoren werden in einem Überblick über aktuelle Prozessarten beschrieben. Im Überblick erfolgen eine Einschätzung des Automatisierungsgrades sowie bereits verfügbare Anwendungen von KI. Die verfügbaren Anwendungen von KI sind Insellösungen, da ein Austausch der Informationen und den Ergebnissen nicht vorgesehen ist. Evolution der Security-Prozesse am Flughafen Bis in die 1970er Jahre gab es keinen Grund, besondere Maßnahmen im Bereich der Sicherheit auf Flughäfen zu ergreifen. Seitdem haben zahlreiche Anschläge dazu geführt, dass heute an keinen Verkehrsträger höhere Sicherheitsanforderungen gestellt werden als an den Luftverkehr. Im Rahmen dessen wurden und werden die Empfehlungen und Verordnungen stetig weiterentwickelt. [2, 3] Im ICAO (International Civil Aviation Organization) Annex 17 werden Richtlinien vorgegeben, die für die Mitgliedsstaaten verbindliche, nationalstaatlich umzusetzende Regelungen enthalten. Für die Staaten der Europäischen Gemeinschaft wurden insbesondere auf Basis dieser Dokumente sowie einer Reihe von sicherheitsrelevanten Ereignissen mit der EU-Verordnung 300/ 2008 der aktuell geltende, verbindliche und einheitliche Gesetzesrahmen verabschiedet. [4] In Deutschland mündet die Verordnung im Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG). [5] Bild 1 zeigt die Entwicklung dieser nationalen und internationalen Luftsicherheitsregelungen als Folge zahlreicher Anschläge und betont dadurch die Wichtigkeit der Sicherheitskontrollen. Die Einführung einer neuen, verschärfenden Regelung stellt stets die Konsequenz eines Angriffs dar, greift dessen Angriffsmuster auf und zielt darauf ab, genau dieses abzuwehren. In diesem Rahmen sind die im Folgenden beschriebenen Sicherheitsmaßnahmen entstanden. Sicherheitssysteme, ihre Sensoren und Aktuatoren In diesem Abschnitt werden die üblichen Security-Stationen innerhalb des Flughafens betrachtet, mit denen der Passagier sowie das Gepäck in Berührung kommen (s.-Bild 2). [7, 8] Dabei werden die Prozessarten, die Einschätzung des Automatisierungsgrades (s. Bild 3), die identifizierten Sensoren und Aktuatoren sowie bereits verfügbare Anwendungen von KI behandelt. Bei der Beschreibung aller Sicherheitsprozesse wurde berücksichtigt, dass falls eine Störung, Auf- Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 28 INFRASTRUKTUR Luftverkehr fälligkeit oder Alarm auftreten, eine manuelle Kontrolle durchgeführt wird. Dies wurde bei der Einschätzung des Automatisierungsgrades berücksichtigt. Sicherheitsprozesse zur Passagierabfertigung Der Prozess für Passagiere, vom Erwerb des Tickets bis zum Abflug, ist komplex und besteht aus vielen Stationen bezüglich Sicherheit im Sinne von Security. Nach Angaben der amerikanischen TSA (Transportation Security Administration) gibt es sichtbare und unsichtbare Verfahren. Dabei beginnen die Sicherheitsmaßnahmen bereits lange vor der Ankunft am Flughafen. [9] Beim Kauf des Tickets findet die erste Sicherheitskontrolle statt, indem der Name des Passagiers mit verschiedenen Datenbanken verglichen wird. Die Übermittlung der dabei verwendeten Fluggastdaten erfolgt hochautomatisiert (s. Bild 3). [9] Voraussetzung für einen Flug ist eine gültige Bordkarte, die der Passagier durch den Check-in erhält. Dieser Prozess kann online, am Automaten oder am Schalter durchgeführt werden. Dabei wird der Ausweis des Fluggastes mit der Person verglichen, um dem Fluggast anschließend eine Bordkarte auszustellen. [9] Dafür werden Daten wie Name, Geburtsdatum und Ausweisnummer hinterlegt, welche mit Datenbanken unerwünschter Personen verglichen werden. [9, 10] Der Automatisierungsgrad beim Online-Check-in oder am Automaten ist hoch einzuschätzen, da i. d. R. kein Personal vonnöten ist. Beim Check-in am Schalter hingegen wird der Prozess mittels Personals ausgeführt. Die in Bild 3 dargestellte Einschätzung besteht aus dem Mittelwert der einzelnen Einschätzungen zum Automatisierungsgrad aller drei Ausführungsarten. Beim Online-Check-in werden eine Tastatur und eine Kamera als Sensoren eingesetzt und als Ergebnis ein elektronisches Dokument bereitgestellt. Beim Checkin per Automat werden ein Lesegerät und eine Tastatur als Sensoren verwendet und ebenso ein Dokument bereitgestellt. Durch das Scannen der Bordkarte erlangt der Passagier Zutritt zu den Sicherheitskontrollen, die sich zwischen Land- und Luftseite des Flughafens befinden. Seit 2017 haben jedoch einige US-Flughäfen von der TSA die Erlaubnis erhalten, ein Besucherprogramm anzubieten, das Besuchern auch ohne Ticket den Zugang zur Luftseite des Flughafens ermöglicht. [11] Der Sensor ist in diesem Prozess ein Lesegerät und der Aktuator eine automatische Tür. Folglich ist der Automatisierungsgrad beim Zutritt zu den Sicherheitskontrollen als sehr hoch einzuschätzen. Innerhalb der Sicherheitskontrollen besteht der nächste Schritt aus der Durchleuchtung der Passagiere und deren Handgepäck. [12] Die Sicherheitskontrollen bestehen aus einer Personenkontrolle sowohl mittels Körperscanner oder Metalldetektor und Sprengstoffspürgeräten als auch der Handgepäckkontrolle mithilfe von X-Ray- Systemen oder CT-Scannern sowie Sprengstoffspürgeräten. Diese Geräte dienen als Sensoren und das Sicherheitspersonal als Aktuatoren. Die Algorithmen der Körperscanner interpretieren mittels KI ein Abbild der Person und erkennen dabei nicht zugelassene Gegenstände sowie Plastik- und Flüssigsprengstoff. [13] Der Automatisierungsgrad der Sicherheitskontrollen mittels Metalldetektor ist geringer einzuschätzen als der mittels Körperscanner, da letzterer detaillierteren Aufschluss über verborgene Gegenstände gibt. [14, 15] Für die Handgepäckkontrolle werden konventionelle X-Ray-Systeme oder CT- Scanner verwendet. Neuartige CT-Systeme ersparen dem Passagier das Entnehmen von Gegenständen aus dem Handgepäck. [15, 16, 17] Aufgrund dessen ist der Automatisierungsgrad der CT-Scanner als hoch einzuschätzen mit dem Potential des Einsatzes von KI. [18] Zur Ausreise der Passagiere vom Abflughafen ist im Non-Schengen-Bereich (EU) und im Non-Pre-Clearance-Bereich (USA, Kanada, Irland) eine Passbzw. Grenzkon- Bild 1: Evolution der Security-Prozesse am Flughafen [6] Bild 2: Abflugprozesse von Passagier und Gepäck in Flughäfen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 29 Luftverkehr INFRASTRUKTUR trolle notwendig. Diese kann sowohl durch Personal als auch durch Automaten durchgeführt werden. Der Automatisierungsgrad kann daher als niedrig eingeschätzt werden. [19] Es werden jedoch auch KI-Systeme, wie z. B. beim System EasyPASS, eingesetzt, die zur Identitätsprüfung Gesichter und Fingerabdrücke vergleichen. [20, 21, 22, 23] Dabei werden Kameras und Lesegeräte als Sensoren und automatische Türen als Aktuatoren eingesetzt. Die letzte Kontrolle vor dem Boarding stellt die Bordkartenüberprüfung am Gate dar. Diese kann sowohl durch Personal als auch durch einen Automaten stattfinden. Der Automatisierungsgrad bei Automaten ist als hoch einzuschätzen, da dabei Lesesensoren zum Einsatz kommen, die zusätzlich biometrische Daten überprüfen können. [24] Der Aktuator besteht aus einer automatisch steuerbaren Schranke. Sicherheitsprozesse für Reisegepäckabfertigung Nach dem Einchecken durch den Passagier bringt ein Mitarbeiter des Flughafens oder der Passagier selbst ein Label an den Koffer an, das sogenannte Baggage Source Message, das Flugnummer, Flugdatum, Flugziel sowie den Passagiernamen und eine sogenannte Licence Plate Number enthält. Anschließend wird das Gepäck vollautomatisch auf einem Fördersystem transportiert. [25] Ähnlich wie beim Durchleuchten des Handgepäcks, wird das Reisegepäck ebenfalls mit CT-Scannern überprüft. [19, 26] Folglich ist der Automatisierungsgrad, analog zur Handgepäckkontrolle, als hoch einzuschätzen. Weiterhin werden Sprengstoffspürhunde eingesetzt, um das Reisegepäck auf gefährliche Substanzen zu überprüfen. Diese sind jedoch nur begrenzt einsetzbar, da sie nach jedem Einsatz eine Pause benötigen. [27] Sicherheitsprozess der Raumüberwachung Dieser Prozess behandelt die Überwachung des Terminals zum Aufspüren verdächtigen Verhaltens oder von Gegenständen (NzG). Weiterhin werden dadurch Personendichten bestimmt und Personenprozesse optimiert. [28] Dieser Prozess wird durch Polizisten auf Streife, Kameras und Ortung von Passagieren durchgeführt. [9, 29] Polizisten fungieren sowohl als Sensoren als auch als Aktuatoren, indem diese durch das Beobachten einen Alarm auslösen können. Die Polizeistreife weist nur geringe Möglichkeiten zur Automatisierung auf. [30] Kameras dienen als Sensoren der Raumüberwachung in Form von Bild und Temperatur von Passagieren. Letzteres dient dem Infektionsschutz. [31] Weiterhin kann im Rahmen dessen verdächtiges Verhalten von Personen detektiert sowie mit dem Brandmeldesystem mit intelligenten Algorithmen verbunden werden, um Rauch und Feuer zu erkennen. [31] Aktuatoren im Brandalarmfall sind, neben Fachpersonal, automatisch gesteuerte Brandtüren und Löschsysteme. Der Automatisierungsgrad ist als sehr hoch einzuschätzen, da das aufgenommene Bild durch Video Analytics behandelt wird. [29] Einsatz der Künstlichen Intelligenz in der Flughafensicherheit Die zuvor beschriebenen Prozesse sind komplex, mit Personalaufwand verbunden und müssen sich in Zukunft auf sich verändernde Bedrohungslagen anpassen können. Dabei müssen auf hohem Sicherheitsniveau Qualität, Komfort und Effizienz erhöht werden. Durch den hohen Kostendruck muss die Ausgestaltung der Prozesse ökonomisch sinnvoll erfolgen. Die Verwendung von KI bietet einen Ansatz, um diesen Herausforderungen entgegenzutreten. Im Gegensatz zu Menschen, kann KI schnellere Entscheidungen treffen, Probleme mit weniger Unsicherheit in kürzerer Zeit lösen und ständig verfügbar sein. [32] Außerdem ist die menschliche Entscheidungsfindung mit Fehlern behaftet. Diese Fehler können durch den Einsatz von KI reduziert werden. [33] Ein Nachteil besteht in der fehlenden Flexibilität bei veränderten Rahmenbedingungen. Aktuell wird KI in bestimmten Bereichen unabhängig voneinander eingesetzt. Nachfolgend werden Beispiele über die in den Prozessbeschreibungen hinausgehende Einbindung von KI am Flughafen dargestellt. Eines davon stellt die intelligente Videoüberwachung dar, die durch KI interpretiert wird. Dabei lernt das System selbstständig, Unregelmäßigkeiten im Sicherheitsbereich zu erkennen und zu melden. [34] iBorderCtrl als weiteres Beispiel stellt ein KI-basiertes System zum psychologischen Profiling dar. Dabei geht es um die automatische Erkennung von Täuschungen in Echtzeit durch die Analyse der nonverbalen Mikroausdrücke von Menschen. [35] Ein weiteres KI-basiertes System ist die Überwachung der Hochsicherheitsbereiche, die nur für befugtes Personal zugänglich sind. Dieses System verwendet elektronische Tore in Verbindung mit Bewegungssensoren und verschiedene Arten von Kameras. [36] Diese sowie die zuvor beschriebenen Beispiele agieren unabhängig voneinander und stellen somit Insellösungen dar. Zwischen den einzelnen KI-Systemen ist kein Informationsaustausch vorgesehen. Somit kann kein Gesamtbild der Sicherheitslage erstellt werden. Um diese Herausforderung zu überwinden, wird nachfolgend eine KI- Lösung vorgeschlagen, die Zugriff auf alle sicherheitsrelevanten Systeme hat. Gesamtheitliches KI-System für die Flughafensicherheit In Bild 4 ist ein Schema des Informationsflusses der KI dargestellt. Es sind verschiedene Bereiche des Flughafens mit Sensoren (blau) und Aktuatoren (grün) abgebildet. In der oberen Hälfte befinden sich die o. g. Security-Prozesse. Durch die Einbeziehung von Safety (in der unteren Hälfte) ist die KI in der Lage, gegenseitige Auswirkungen zu erkennen. Bild 3: Einschätzung des Automatisierungsgrades der Sicherheitsprozesse an Flughäfen basierend auf dem aktuellen Marktangebot und nicht nach dem Einsatz der Systeme. Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 30 INFRASTRUKTUR Luftverkehr Safety (Unfallvermeidung) und Security (Kriminalprävention) sind per Definition zwei getrennte Bereiche. Safety kann jedoch Auswirkungen auf Security haben und umgekehrt. Aus diesem Grund ist ein Gesamtkonzept nötig, das im Kontext des Managements - insbesondere von kritischen Infrastrukturen wie einem Flughafen - beide Bereiche abdeckt. Unser Vorschlag für ein solches Konzept besteht aus einem zentral zu steuernden und interpretierenden KI-System. Dieses soll durch die Auswertung der oben genannten Sensoren und deren Interpretation koordinierte Angriffsvektoren erkennen und adäquat reagieren. Dies bedeutet, dass der Angreifende an mehreren Stellen des Sicherheitssystems ansetzt. Durch die Steuerung mithilfe eines zentralen KI-Systems kann die Regelung der Aktuatoren über Bereichsgrenzen hinweg angepasst werden. Ein Beispiel für die Notwendigkeit des Einbeziehens von Safety ist das fälschliche Auslösen eines Feueralarms mit anschließender Evakuierung in einen durch Angreifer gefährdeten Bereich. Rauchmelder bieten die Möglichkeit, mittels Lasersensoren, Temperaturmessung und Kameras bzw. Videotechnik, auf Brandspuren in der Luft zu reagieren. Dadurch werden Fluchtwegtüren und Rauchabzugsöffnungen im Fall eines Brandes automatisch geöffnet, wichtige Türen geschlossen und eine Notbeleuchtung eingesetzt. [37] Die Sensoren können jedoch bspw. durch den Stand der Sonne in einem ungünstigen Winkel einen Fehlalarm auslösen. [38] Somit besteht die Möglichkeit, dass Terroristen durch die Manipulation dieser Sensoren einen Alarm auslösen und die Reaktion für einen Anschlag ausnutzen. Dieses Ausnutzen kann z. B. aus dem gezielten Platzieren eines Sprengsatzes - getarnt als NzG - entlang des Evakuierungsweges der Passagiere bestehen. Eine KI, die Zugriff auf Informationen der Rauchmelder besitzt, kann durch Abgleich von Daten verschiedener Sensoren eine mögliche Manipulation erkennen. Zusätzlich kann eine solche KI durch den Zugriff auf Informationen der Raumüberwachung eine Zeitgleichheit des Auftretens eines Feueralarms und eines NzG im Evakuierungsweg erkennen. Auf Basis dieser Erkenntnis werden die zuständigen Stellen mit Handlungsempfehlungen alarmiert. Ein weiterer Vorteil dieses Gesamtsystems ist das in Beziehungsetzen von unterschiedlichen Security-Aspekten. So kann z. B. die durch KI angereicherte Raumüberwachung ein NzG im Terminal mit dem Verhalten des Verursachers in Verbindung setzen. Der Verursacher wird durch das System mittels Raumüberwachung detektiert und zeitgleich erkennt die KI verdächtiges Verhalten des Verursachers. Das zentrale KI- System erfasst eine kritische Situation und führt eine Gesichtserkennung des Verursachers durch. Mit Hilfe der durch die Gesichtserkennung ermittelten Daten wird in zur Verfügung stehenden Datenbanken nach Ähnlichkeiten gesucht. Ein Bild des Verursachers zusammen mit den Ergebnissen dient als Basis für die Aktionsempfehlung für die Aktuatoren, in diesem Fall das Sicherheitspersonal. Ein solches Gesamtsystem muss auf jeden Flughafen zugeschnittenen sein, da jeder einzelne Flughafen, z. B. im Hinblick auf Layout und Sicherheitsarchitektur, individuell gestaltet ist. Die Verantwortlichen für die Sicherheit eines Flughafens können so ein Gesamtsystem realisieren, indem sowohl die Auswertung als auch die Steuerung zentralisiert werden. Um ein System zu erhalten, welches die Interpretation der Daten übernimmt, schlagen wir ein an die Sicherheitsarchitektur angepasstes KI-System vor. Damit dieses KI-System etwaige Bedrohungen erkennt und adäquat darauf reagiert, ist ein Lernprozess notwendig. Dieser kann z. B. mithilfe von Szenarien erfolgen. Im DLR-Projekt E 2 S 2 AI (Evaluation and Evolution of Safety and Security with Simulation Based Artificial Intelligence) wird ein anderer Ansatz verfolgt. Das KI- System lernt, indem es unterschiedliche Aktionen innerhalb der Sicherheitsarchitektur ausführt. Die Rückmeldung an das KI-System über den Erfolg oder Misserfolg der Aktion versetzt dieses in die Lage, zu lernen. Um das Potenzial dieser Lernmethode zu nutzen, ist es vorteilhaft, eine Symmetrie herzustellen, sodass das System gegen sich selbst in einen Wettbewerb treten kann. Aus diesem Grund wird ein weiteres System eingeführt, um die Schwächen der Reaktion des ersten zu testen. Beide Systeme lernen, indem sie auf die Aktion des anderen reagieren (s. Bild 5). Da beide KI-Systeme an die Sicherheitsarchitektur eines Flughafens angepasst sind, können sie wertvolle Hinweise zur Verbesserung von Safety und Security eines Flughafens geben. Fazit und Ausblick Die Abwehr von kriminellen und terroristischen Operationen gestaltet sich zunehmend komplexer. Neue Methoden der Angriffe - insbesondere durch Digitalisierung und Automatisierung - stellen eine große Herausforderung dar. Digitalisierung und Automatisierung bieten gleichzeitig eine Chance, dieser Herausforderung zu begegnen. In diesem Beitrag wird ein Konzept dargestellt, welches sicherheitsrelevante Infor- Bild 5: E²S²AI Methode, zwei KI-Systeme treten zur Verbesserung der Sicherheit am Flughafen gegeneinander an. Eigene Darstellung Bild 4: Schema zum Einsatz von KI in verschiedenen Bereichen von Security und Safety Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 31 Luftverkehr INFRASTRUKTUR mationen mithilfe einer KI zentral interpretiert und adäquat agiert. Zur Beschreibung des Konzepts werden die Sicherheitsprozesse am Flughafen, die identifizierten Sensoren und Aktuatoren sowie bereits verfügbare Anwendungen von KI dargestellt. Aus der Schilderung der Sicherheitsprozesse wird deren Automatisierungsgrad eingeschätzt. Die Analyse der Sicherheitsprozesse zeigt in vielen Bereichen einen fortgeschrittenen Automatisierungsgrad und eine verbreitete Anwendung von KI. Jedoch handelt es sich dabei um Insellösungen für spezielle Aufgaben, wie z. B. Gesichtserkennung. Die eingesetzten Systeme sehen keinen Informationsaustausch zwischen den einzelnen KI-Anwendungen vor. Im Gegensatz zu den aktuell eingesetzten KI-Systemen ist das in diesem Beitrag vorgestellte Konzept in der Lage, koordinierte Angriffsvektoren zu erkennen und adäquat zu reagieren. Durch KI erweiterte Raumüberwachung kann z. B. eine Verbindung zwischen einem NzG im Terminal und dem Verhalten des Verursachers herstellen. Die ermittelten Informationen und entsprechende Handlungsempfehlungen werden unmittelbar den Verantwortlichen zur Verfügung gestellt. Im DLR-Projekt E 2 S 2 AI werden methodische Grundlagen für dieses Konzept und dessen Machbarkeit untersucht. Dabei wird ein KI-System entwickelt, das die Sicherheit im Sinne von Safety und Security am Flughafen erhöhen soll. Dieses System besteht aus zwei Komponenten, die sich gegenseitig herausfordern. Dieses Vorgehen führt dazu, dass unvorhergesehene Angriffsarten und die passende Reaktion erlernt werden. Anschließend ist angestrebt, die in E 2 S 2 AI entwickelte Methode mit den Gegebenheiten der Sicherheitslandschaft eines Flughafens zu testen. Darüber hinaus sollen der Datenschutz und die Akzeptanz eines solchen Systems evaluiert werden. ■ LITERATUR [1] Neue Rhein/ Ruhr Zeitung (2013): Millionenschaden wegen Evakuierung des Flughafens Düsseldorf nach Kofferfund. www.nrz.de/ staedte/ duesseldorf/ millionenschaden-wegen-evakuierung-desflughafens-duesseldorf-nach-kofferfund-id8535800.html (Abruf: 04.05.2022). [2] Flughafenverband ADV (2017): Kosten der Luftsicherheit. www.adv. aero/ wp-content/ uploads/ 2017/ 05/ Luftsicherheit-im-Blick_klein. pdf (Abruf: 14.12.2020). [3] Flughafenverband ADV (2019). In: Kosten der Luftsicherheit. www. adv.aero/ fachbereiche/ flughafen-management/ luftsicherheitsgebuehren/ (Abruf: 04.05.2022). [4] Amtsblatt der Europäischen Union (2008): Verordnung (EG) Nr. 300/ 2008 des europäischen Parlaments und des Rates. https: / / eurlex.europa.eu/ legal-content/ DE/ TXT/ PDF/ ? uri=CELEX: 32008R0300& from=DE (Abruf: 30.03.2022). 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(FH), M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Design & Bewertung von Mobilitätslösungen, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Institut für Verkehrssystemtechnik, Braunschweig andrei.popa@dlr.de Olaf Milbredt, Dr. rer. nat. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Informationsgewinnung und Modellierung, Institut für Verkehrssystemtechnik, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V., Braunschweig olaf.milbredt@dlr.de Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 32 INFRASTRUKTUR Wissenschaft AT A GLANCE Infrastructure planning is a complex task that requires extensive engineering knowledge, which must be stored in a structured way in a database and should be available for the repetitive planning processes. The individual infrastructure objects of a traffic system must be retrievable according to regulations and their regulation rules. It should also be possible to model planning processes and the explicit knowledge associated with them in a machine-readable form in a database. Especially against the background of the increasing acceptance of planning and building according to the BIM methodology in infrastructure construction, which is associated with high data and the information it contains, a multifunctional knowledge database is needed. In this paper, a graph-based modeling approach to generically model the knowledge as well as the planning processes in infrastructure construction is presented. The methods and techniques used in the development for structuring and modeling data sets in the chosen graph database are shown. Graphenbasierte Wissensdatenbank zur Infrastrukturplanung Wissensdatenbank, Graphendatenbank, Knowledge-based engineering, BIM Die Planung einer Verkehrsanlage ist eine komplexe Aufgabe mit vielen Iterationsschritten und erfordert ein umfangreiches Ingenieurwissen, welches strukturiert in einer Datenbank abgelegt werden könnte und für die repetitiven Planungsprozesse wiederverwendbar sein sollte. Die einzelnen Infrastrukturobjekte einer Verkehrsanlage müssen dabei nach Vorschriften und deren Festlegungen aufrufbar sein. Auch die Möglichkeit der Abbildung von Planungsprozessen und das mit diesen verbundene explizite Wissen sollte in einer maschinenlesbaren Form in einer Datenbank modellierbar sein. Insbesondere vor dem Hintergrund der steigenden Akzeptanz der Planung und des Bauens nach der BIM-Methodik im Infrastrukturbau, das mit umfangreichen Daten und den darin enthaltenen Informationen verbunden ist, wird eine multifunktionale Wissensdatenbank benötigt. In diesem Artikel wird ein graphenbasierter Modellansatz vorgestellt, mit dem das Wissen sowie die Planungsprozesse im Infrastrukturbau generisch modelliert werden können. Es werden die zur Entwicklung verwendeten Methoden und Techniken zur Strukturierung und Modellierung von Datensätzen in der gewählten Graphendatenbank gezeigt. Vitali Schuk, Felix Belz, Tobias Weiß, Ullrich Martin D ie Planung von Verkehrsanlagen ist ein komplexer und iterativer Vorgang mit einer Vielzahl an Randbedingungen, welcher von unterschiedlichen Verfahren und Beteiligten einschließlich von Trägern öffentlicher Belange begleitet ist. Die Entscheidungen während des Planungsprozesses erfordern eine hohe Zahl an verschiedenen Informationen, welche zusammen ein großes Ingenieurwissen umfassen. Das Ziel jeder Planung ist dabei das Finden einer optimalen Entwurfslösung unter Berücksichtigung verkehrlicher, verkehrssicherheitstechnischer, ökologischer und wirtschaftlicher Aspekte. Hierbei soll der Entwurf mit anschließender Realisierung sämtlichen verbindlichen und weiteren Vorschriftenfestlegungen entsprechen, welche in Gesetzen, Rechtsnormen und Regelwerken bzw. Richtlinien festgehalten sind. Um die Planungsprozesse im Infrastrukturbau zu vereinfachen und die Möglichkeit zu schaffen, eine Verkehrsanlage über den gesamten Lebenszyklus zu betrachten, findet mit der fortschreitenden Entwicklung von Informationstechnologien seit einigen Jahren eine verstärkte Digitalisierung von Informationen statt. Realisiert wird dies insbesondere mit BIM, die die konventionelle 2,5D-Planungsmethodik ablösen soll. Zur Verbesserung der Planungsprozesse im Infrastrukturbau sieht BIM viele bestimmte Anwendungsfälle vor. Diese können nur unter Zuhilfenahme fortgeschrittener Technologien implementiert werden. Die digitalisierten Informationen aus unterschiedlichen Sachgebieten des Infrastrukturbaus geben ein enormes über viele Jahre erlangtes Wissen wieder. Eine zusätzliche Informationenansammlung ergibt sich durch die Betrachtung einer Verkehrsanlage über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Zur strukturierten Speicherung, Vernetzung untereinander und Verwaltung dieser Informationen wird eine Datenbank (DB) benötigt. Stand der Technik Zur Erfassung/ Formalisierung, Organisation und Verwaltung des Wissens sowie zum Lösen sich wiederholender Planungsaufgaben (hier: Wiederverwendung vom Wissen) gibt es viele Techniken, welche die sogenannten Wissenstechnologien bilden. Diese Wissenstechnologien können nach [12] in drei große Bereiche eingeteilt wer- Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 33 Wissenschaft INFRASTRUKTUR den: Knowledge Engineering (KE), Knowledge Management (KM), Knowledge-based Engineering (KBE). Hierbei stellt das KBE die umfangreichste Lösung dar. KBE mit den enthaltenen Knowledge Based Systems (auch als Expertensystem bezeichnet [12, 22]) können entweder ein vollintegrierendes System mit CAD-Fähigkeiten darstellen oder eine Schnittstelle mit einem CAD-Tool (in Bild 1 mit DAS bezeichnet) haben [7, 12] (vgl. Bild-1). Mit einem KBS werden im Grunde zwei große Ziele verfolgt. Zum einen soll durch das System eine langfristige Erhaltung des Ingenieurwissens sichergestellt werden. Zum anderen soll das System helfen, das organisierte Ingenieurwissen zur Lösungsfindung während einer Planungsaufgabe bereitzustellen [3]. In [7] wurde ein von den CAD-Tools entkoppeltes KBS für den Infrastrukturbau vorgestellt, welches das unstrukturierte Wissen sowie Prozessabläufe in der Bahninfrastrukturplanung mittels des Visual Programming Language (hier: BPMN (Business Process Model and Notation)- und DMN (Decision Model and Notation)-Notationen) gemäß [10] nach MOKA (Methodology and tools Oriented to Knowledge-based engineering Applications)- Methode formalisiert. Derzeit gibt es bereits viele Softwareanwendungen, welche digitale Planungsprozesse unterstützen. Diese bieten für die Planer in einem gewissen Umfang eine reichliche Unterstützung. U. a. verwenden die modernen Softwareanwendungen DB, welche Infrastrukturobjekte und logische Abhängigkeiten zwischen diesen enthalten [7, 18]. Eine eigens durchgeführte Befragung von führenden CAD-Software-Herstellern hat dies bestätigt. Die Ergebnisse der Umfrage haben auch ergeben, dass zum Beispiel die Abhängigkeiten aus den Vorschriftenfestlegungen hartkodiert sind und die Darstellungen des Überprüfungsvorgangs einer Planung auf die Vorschriftenkonformität der Black-Box-Methode entsprechen. Als Wissensdatenbank, in welcher die Vorschriftenfestlegungen abgebildet sind, wird meistens eine relationale DB verwendet. Zurzeit gibt es jedoch kein umfassendes und effizientes digitales datenbankbasiertes Wissensintegrationswerkzeug zum bereits vorhandenen Knowhow sowie zum stets neu hinzukommenden Wissen. Generell werden bis heute die fehlenden standardisierten Ansätze und Methoden (z. B. Entwicklungs- und Verwaltungsframeworks, Programmiersprachen) zur Formalisierung des Wissens bemängelt [7, 20, 23]. Ein einheitliches, standardisiertes und international anerkanntes Klassifizierungssystem im Infrastrukturbau fehlt ebenfalls bis heute (vgl. laufende Forschungsarbeiten [4, 8, 21]). Das gleiche betrifft die digitale maschinenlesbare Abbildung von Vorschriften mit deren Festlegungen und Regeln (vgl. folgende Forschungsarbeiten [7, 9, 17, 25]). Es wird eine DB benötigt, welche das Ingenieurwissen aus dem Verkehrswegebau (hier: Infrastrukturobjekte, Vorschriftenfestlegungen aus den Vorschriften in Form von Abhängigkeiten zwischen den Infrastrukturobjekten etc.) digital maschinenlesbar erfasst, abbildet und verwaltet und dieses Wissen repetitiv zum Anwenden bei Planungsprozessen im Infrastrukturbau zur Verfügung stellen kann. In diesem Beitrag wird eine multifunktionale DB mit den darin enthaltenen Wissensgraphen vorgestellt, die auf den Technologien der Graphendatenbank (GDB) von OrientDB basiert [16]. Die entwickelten (Teil-)Modelle in der GDB zum Repräsentieren des Ingenieurwissens bilden ein explizites Knoten-Kanten-Konstrukt, das durch sogenannte Modellierungsattribute ergänzt wird. Die hier vorgeschlagene Methode ist generisch und erfordert nur das Ingenieurwissen zur Planung der Infrastruktur des betrachteten Verkehrsträgers, jedoch keine Programmierkenntnisse. Der Ansatz entspricht einem mit CAD integriertem KBS, da im Rahmen der durchgeführten Forschungsarbeit zu der GDB mit den darin enthaltenen Modellkonzepten auch Planungstools (im Wesentlichen das Trassierungs- und Dimensionierungstool) entwickelt wurden, welche selbst auf der DB basieren, aus dieser abgelegte Infrastrukturobjekte dynamisch laden und anschließend mit Hilfe der dazu vorgesehenen Interpreter auswerten. Hintergrund Am Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen der Universität Stuttgart wurde ein Modellansatz namens (E) DCC (Environment, Discretization, Categorization and Characterization) für die Planung und Analyse von verkehrsträgerübergreifenden Infrastrukturen entwickelt sowie eine prototypische modulare Softwarelösung konzipiert, die Ansätze aus dem Infrastrukturbau integriert. Die anfängliche Idee des Ansatzes wurde bereits in [14] vorgestellt. Der genannte Modellansatz soll eine sinnvolle Strukturierung und Zerlegung der zugrundeliegenden Datensätze einer Infrastruktur über ein in der GDB definiertes Klassifizierungssystem mit deren Ontologien und Taxonomien ermöglichen sowie diese Infrastrukturobjekte und -gruppen diversen Planungs- und Analysetools, welche in den BIM-Anwendungsfällen eingesetzt werden, zur Verfügung stellen, aber auch die Daten aus der Planung, der Errichtung, dem Betrieb und der Instandhaltung der Infrastruktur integrativ verwalten. Das Besondere an dem entwickelten Ansatz ist, dass in der GDB auch die länderbezogenen Vorschriftenfestlegungen bzw. die sich aus den Vorschriften ergebenden Abhängigkeiten für die unterschiedlichen Verkehrsträger entsprechend der sogenannten White-Box-Methode mitabgebildet werden. Rahmenbedingungen, Methoden und Modellierung Rahmenbedingungen Die hier vorgestellte DB wurde mit dem Graphen-Modell von OrientDB entwickelt. Alle Daten(sätze), in der DB werden dementsprechend durch Knoten und Kanten realisiert. GDB eignen sich grundsätzlich gut zur digitalen Abbildung von netzartigen bzw. verketteten und heterogenen Daten(sätzen), insbesondere wenn die Datenkomplexität die Möglichkeit der Speicherung in einer relatio- Integrated approach Coupled approach * * * DAS DAS + Knowledge base Knowledge base Design authoring system Bild 1: Arten von KBS [7] Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 34 INFRASTRUKTUR Wissenschaft nalen DB übersteigt. Sie machen den Umgang mit komplexen Daten einfacher und erlauben, diese für den Nutzer sichtbar zu machen [1]. In der (E)DCC-Datenbank von OrientDB ist der Graph gerichtet, die Kantentraversierung ist aber über die Java API in beide Richtungen möglich. Allerdings wird der Graph in der Verbindung einzelner Objekte bzw. Instanzen der zugehörigen Klassen beschränkt, um dadurch einzelnen Ontologien und Taxonomien der (Teil-)Modelle abbilden zu können. Der Graph darf parallele Kanten haben, wodurch das gesamte System zu einem Multigraphen wird. Der OrientDB-Graph ist zusätzlich ein Labeled-Property-Graph (LPG-Kanten). Das bedeutet, dass die Eigenschaften sämtlicher Datentypen nicht nur in die Knoten eingetragen werden können, sondern auch in die Kanten. Die Datensätze, welche in der GDB modelliert sind, werden in den Knoten (Vertexes) gespeichert. Hierbei werden zu den Instanzen bzw. Objekten immer Klassen (Super- und Unterklassen) angelegt. Die gesamte Klassenstruktur ist als Baupläne anzusehen, nach denen die GDB mit dem darin enthaltenen Produkt- und Prozesswissen unter Einbezug von Regeln aus den Vorschriften aufgebaut ist. In der GDB wird zwischen Kanten- und Knotenklassen unterschieden. Von den Kantenklassen existieren zwei Superklassen - die sogenannte „Navigationskante“ und die „Verbindungskante“. Diese beiden Kantenklassen sind die beiden Superklassen, von denen alle weiteren in der GDB verfügbaren (Modellierungs-)Kantenklassen erben. Alle Klassen, die von „Navigationsklasse“ erben, dienen der Traversierung der GDB. Sie bilden Pfade und modellieren die Struktur der GDB. Verbindungskanten, also Kanten die Instanzen von Klassen sind, die direkt oder indirekt von der Superklasse „Verbindungskante“ erben, dienen der Modellierung von Konzepten und Strukturen jenseits der (E)DCC-Hierarchie, unter anderem zur Abbildung der Vorschriftenfestlegungen. Methoden und Modellierung Das umfangreiche Wissen im Infrastrukturbau kann anhand von formalisierten Modellen abgebildet werden. Die Modelle müssen gut strukturierbar sein und sowohl für den Modellierer der Daten(sätze) als auch für die Anwender gut visualisierbar sein. Ein Modell kann mittels objektorientierten Programmierens (hier: Klassen- und Vererbungshierarchie mit deren Ontologien und Taxonomien) gut implementiert werden. Das objektorientierte Paradigma erlaubt die Entwicklung von einfachen und benutzerfreundlichen Modellen ohne Programmierkenntnisse und ist deshalb für Ingenieure im Bauwesen von Vorteil [12]. Im Rahmen der durchgeführten Forschungsarbeiten entstanden zum (E)DCC-Modellansatz viele (Teil-)Modelle, welche teilweise durch eigene Konzepte gestützt sind. Sie werden mittels der Taxonomie- und Ontologietechnik in Verbindung mit sogenannten Modellierungsattributen gebildet und abgefragt. Diese wiederum bilden bestimmte Wissensbereiche ab. Ontologien eignen sich grundsätzlich zur Bildung von expliziten Spezifikationen bestimmter Konzepte ([11] mit Verweis auf [6]). Sie beinhalten bestimmte Konzepte bzw. Klassen mit deren Instanzen, Logiken, Eigenschaften, Beziehungen und Einschränkungen [5, 24]. Sie eignen sich gut zur Abbildung von zusammenhängendem, miteinander verzahntem Wissen, welches repetitiv wiederverwendet wird. Die Beziehungen innerhalb eines Konzeptes und des Konzeptsystems können in der aufgesetzten (E)DCC- Datenbank sowohl hierarchisch als auch assoziativ sein. Zusammen bilden sie ein Klassifizierungssystem. In Bezug auf das KBS wird in [12] zwischen sogenannten RBS (Rule Based System) und FBS (Frame Based System) unterschieden. Hierbei wird in einem RBS das Wissen in Form von reinen WENN-DANN-Regeln dargestellt. In einem FBS existiert dagegen ein sogenannter Frame, in welchem das Wissen formalisiert hinterlegt wird. Der Frame stellt dabei ein Klassifizierungssystem mit dessen Instanzen bzw. Objekten, Taxonomien und Ontologien dar und entspricht somit in diesem Sinne dem objektorientierten Programmierparadigma ([12] mit Verweis auf [2, 13, 15, 19]). Solche Systeme können im Vergleich zu den reinen RBS ein deutlich umfangreicheres, komplexeres Wissen widerspiegeln [12]. Der hier vorgestellte Ansatz entspricht im Grunde einem FBS, enthält aber zwischen den Daten(sätzen) auch logische Ausdrücke. Das (E)DCC-Modell unterteilt sich in drei große Klassenebenen (hier: Umgebungsebene, Diskretisierungsebene, Kategorisierungsebene) und deren fünf Zwischenebenen, welche miteinander über Kanten verknüpft sind. Dieses Klassifizierungssystem mit der darin enthaltenen Hauptontologie und -taxonomie bildet die Basis für die weiteren Teilklassifizierungssysteme zum digitalen Formalisieren des expliziten Wissens in einem bestimmten Kontext in der GDB. Eine Infrastruktur setzt sich aus mehreren Infrastrukturobjekten zusammen. Zur Strukturierung eines Infrastruktursystems, wird dieses in einzelne Objekte dekomponiert. Diese Zerlegung erfolgt auf der Diskretisierungs- und Kategorisierungsebene mit den dazu gehörigen Zwischenebenen. Die einzelnen Klassenebenen können wie folgt beschrieben werden: •• Diskretisierungsebene: Auf der Diskretisierungsebene erfolgt die grobe Unterteilung der Infrastruktur Umgebungsebene Kategorisierungsebene Diskretisierungsebene Kategorisierungsgruppe Kategorisierungsuntergruppe Kategorisierung Diskretisierung Unterdiskretisierung Umgebung Unterunterumgebung Unterumgebung Bild 2: Hautptaxonomie der aufgesetzten GDB nach dem (E)DCC-Modell Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 35 Wissenschaft INFRASTRUKTUR eines Verkehrsträgers in die Infrastrukturobjekte. Im Falle des Verkehrsträgers Schiene z. B. in die Infrastrukturobjekte des Bahnkörpers, d. h. Schienenprofile, Schwellen etc. •• Kategorisierungsebene: Die Kategorisierungsebene unterteilt weiter in die einzelnen Typen der Infrastrukturobjekte eines Verkehrsträgers. Auf dieser Ebene werden ebenfalls die Abhängigkeiten der Infrastrukturobjekte untereinander berücksichtigt. Die Diskretisierungsebene wird zusätzlich in eine Unterdiskretisierung unterteilt. Durch die Unterdiskretisierung wird eine Infrastruktur zwecks besserer Struktur in (Teil-)Infrastrukturgruppen/ -systemen sortiert und geordnet, um so die Infrastruktur eines Verkehrsträgers feiner dekomponieren zu können. Zusätzlich zur Ebene der Kategorisierung besteht die Möglichkeit, diese weiter zu ordnen und zu unterteilen in die Kategorisierungsgruppen und -untergruppen. Diese ergänzen die Hauptebene Kategorisierung und ermöglichen z. B. eine Trennung nach bestimmten gemeinsamen Eigenschaften bestimmter Art. Z. B. das Objekt Schwelle kann zunächst in die Schwellenarten „Holz“, „Beton“, „Stahl“ und „Kunststoff“ unterteilt werden (vgl. Bild 3). Die Zwischenebenen der „Kategorisierung“ sind optional und können, falls sie nicht erforderlich sind, übersprungen werden. Die Charakterisierungsebene wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit weggelassen. Das bedeutet, dass die Eigenschaften in den Knoten der Infrastrukturobjekte als Attributfelder hinterlegt sind (vgl. Bild 4). Somit befinden sich die Eigenschaften auf der Kategorisierungsebene. Um eine verkehrsträgerübergreifende Diversifizierung zu erreichen, wurde eine zusätzliche Klassenebene eingeführt. In diesem Zusammenhang wurde über den bisher genannten Klassenebenen eine neue Klassenebene namens Umgebungsebene (Enviroment) eingeführt. Diese soll eine verkehrsträgerübergreifende Ansteuerung bzw. eine gezielte Zuordnung von Infrastrukturobjekten-Umgebungen einer bestimmten Infrastruktur zu bestimmten Verkehrsträgern ermöglichen. Die Umgebungsebene übernimmt aber auch viele andere Aufgaben. Auf die Nennung anderer Bestimmungen der Umgebungsebene wird an dieser Stelle verzichtet. Vorschriften und Globale Parameter (hier: Vorschriftenfestlegungen) sind ein unumgänglicher Bestandteil des (E)DCC-Modellansatzes. Vor diesem Hintergrund war es unabdingbar, für diese eine eigene Klassenstruktur in der GDB zu generieren. Diese bilden neben dem Klassifizierungssystem der Infrastrukturobjekte der einzelnen Verkehrsträger zwei weitere wichtige Teilklassifizierungssysteme ab. Bei der Strukturierung der Vorschriften wird in der GDB zwischen kodifizierten und nicht kodifizierten Vorschriften unterschieden. Die modellierten Vorschriften werden anschließend mit den einzelnen Infrastrukturobjekten verbunden, wodurch sich die Infrastrukturobjekte in der DB in Abhängigkeit von den entsprechenden Vorschriften aufrufen lassen. Zusätzlich werden die Vorschriften mit den modellierten Festlegungen/ Regeln (hier: Globale Parameter) verbunden. Die Vorschriften werden den zwei implementierten Entwurfsvorgängen zugewiesen - dem sogenannten „Geführten Entwurfsvorgang“ und dem „Individuellem Entwurfsvorgang“. Im „Geführten Entwurfsvorgang“ erfolgt die Modellierung strikt nach den kodifizierten Vorschriften. Im „Individuellen Entwurfsvorgang“ werden die Daten über die Schranken des gültigen Bereichs der kodifizierten Vorschriften hinaus modelliert. Das Modell der Globalen Parameter verfügt ebenfalls, wie das der Vorschriften, über eine eigene Klassenstruktur. Bei dem Modell der Globalen Parametern werden die Vorwärts-/ Rückwärtsverkettungen von Bedingungen, die die Vorschriftenfestlegungen bzw. Regeln aus den Vorschriften repräsentieren, realisiert. Diese stellen dabei logische Ausdrücke (WENN-DANN-Regeln, mathematische Regeln und Mischformen aus den beiden) dar, welche anschließend vom System als vorschriftenkonformer Inferenzmechanismus zum Finden (Matching) von z. B. passenden Typen von Infrastrukturobjekten und deren Kompatibilität zueinander genutzt werden. Die Basis bildet dabei die Logik 1. Ordnung, welche durch die Modellierungsattribute in den Knoten und Kanten ergänzt wird. Die drei zuvor beschriebenen Konzepte bilden zusammen das VPO (VorschriftenGlobaleParameterInfras trukturobjekte)-Modell (vgl. Bild 5a). Alle Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen des Modelles erfolgen dabei über die explizite Kantenmodellierung. Dies betrifft auch die Verbindung zwi- Gruppierungskante (GRK) Kategorisierungsgruppe Kategorisierungsuntergruppe Schwellenart_Holz Kategorisierungskante (KGK) Diskretisierungskante (DKK) Unterdiskretisierungskante (UDK) Diskretisierung Unterdiskretisierung Schwelle (SW) Bahnkörper Beton Stahl Kunststoff Holz DKK UDK UDK UDK UDK Holzschwelle Brücke genormt GRK GRK GRK GRK KGK KGK KGK Holzschwelle Gleis Holzschwelle Gruppe 2 Form I 2,5 m B Holzschwelle Gruppe 2 Form I 2,6 m E Holzschwelle Gruppe 2 Form I 2,4 m E Weitere Holzschwellen Holzschwellen Holzschwelle Brücke ungenormt Bild 3: Dekomponierung des Bahnkörpers am Beispiel Schwelle IO E1 E2 E3 ... E1: Attributfeld, Datentyp E2: Attributfeld, Datentyp E3: Attributfeld, Datentyp ...: ..., ... Bild 4: Schematische Darstellung des verworfenen und umgesetzten Konzeptes zur Abbildung der Eigenschaften eines einzelnen Infrastrukturobjektes Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 36 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Bild 5: Ontologie des VPO-Modells auf hohen Abstraktionsebene (a, links) sowie Darstellung der Beziehung zwischen zwei Objekten, welche zusammengehören (b, rechts) schen den einzelnen Infrastrukturobjekten, wodurch vom System die Zusammengehörigkeit beider Objekte festgestellt wird (vgl. Bild 5b), auf dem Bild Verbindung mittels der roten Kante). Das Modell wird u. a. in der Datenbankkomponente in der intelligenten Suchfunktion eingesetzt. Primär wurde bei der Modellierung von dem Grundprinzip einer GDB ausgegangen - Abbildung der netzwerkartigen Strukturen/ Beziehungen zwischen den Objekten (Knoten) mittels Kanten (hier: Knoten-Kanten- Konstrukt) bei gleichzeitigem Verzicht auf Modellierungsattribute. Dadurch lässt sich jede Verbindung und Abhängigkeit explizit modellieren. Dies trägt stark zur Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit bei. Dennoch konnte ein kompletter Verzicht auf die Modellierungsattribute nicht erreicht werden. Dementsprechend existiert eine Unterscheidung zwischen Modellierungskanten und Modellierungsattributen. Bildlich kann man sich dies so vorstellen, dass die Modellierungskanten für die Grobmodellbildung zuständig sind und das Grundgerüst des Modells bilden. Die Modellierungsattribute der Kanten und Knoten sind dagegen für die Feinmodellbildung erforderlich. Die Modellierungsattribute unterstützen die Entwicklung eines verhältnismäßig einfachen Modells (Übersichtlichkeit und Wartbarkeit). Ergebnisse und Diskussion In diesem Artikel wurde ein generisches und verkehrsträgerübergreifendes Modell zur Abbildung der Interaktion Infrastrukturobjekte - Vorschriften - Vorschriftenfestlegungen in einer multifunktionalen GDB vorgestellt, welches nach der Eingabe von Rahmenbedingungen einer Entwurfsaufgabe die Regeln anwendet und anschließend passende Infrastrukturobjekte/ -elemente für einen technischen Entwurf findet. Die Abhängigkeiten zwischen den Infrastrukturobjekten/ -elementen und den einzelnen kodifizierten/ nicht kodifizierten Vorschriftenfestlegungen können dabei dank der hohen Flexibilität des gewählten Datenbankmodells entweder frei oder streng vorschriftenkonform direkt in der GDB ohne programmiertechnische Kenntnisse modelliert werden. Das hier vorgestellte VPO-Modell bildet in der GDB die Basis des expliziten Ingenieurwissens und wird nicht nur in den entwickelten Planungstools angewandt, sondern auch bei der Suche nach Daten(sätzen) (hier: „Intelligente Datensuche“) in der Datenbankomponente. Die wesentlichen Charakteristika des hier vorgestellten Modellansatzes können Tabelle 1 entnommen werden. Der entwickelte Rahmen des (E)DCC-Modellansatzes kann multifunktional eingesetzt werden, nicht nur als Basis zur Abbildung von technischem Wissen in Form von Infrastrukturobjekten und deren vorschriftenkonformer Einsetzbarkeit bei der Infrastrukturplanung, sondern auch zur Abbildung von Planungsprozessen in den Bauabläufen zur Optimierung der Bauverfahrensweise und der Planungsbzw. Bauzeit, des Einsatzes von Baustoffen und somit der Kosten. Zusammenfassung Dieser Artikel schlägt eine multifunktionale graphenbasierte Wissensdatenbank mit den darin enthaltenen (Teil-)Modellen vor, welches u. a. Infrastrukturobjekte, Vorschriften und Vorschriftenfestlegungen in Form von Knoten enthält und die Beziehungen zwischen den genannten Elementen in Form von Kanten abbildet. Der Ansatz kann verkehrsträgerübergreifend eingesetzt werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die vorgeschlagenen Techniken und Methoden einen vielversprechenden Ansatz bieten, mit dessen Hilfe das technische Wissen sowie die technischen Planungspro- A IO 1 A V A P VOK VPK PKK A IO 1 A V P A P VOK A IO 2 VOK GP V IO Globaler Parameter Vorschrift Infrastrukturobjekt VPK Vorschriftenparameterzuordnungskante PKK Parameterkategorieverbindungskante VOK Vorschriftenobjektkante KVK Kategorieverbindungskante KVK a b Datenbankmodell Multi-Modell (Graph- und Document- API) Programmierungskonzept Objektorientierung (Klassen und Objekte) Strukturierungstechnik der Daten Dekomposition, Ontologie und Taxonomie Modellierungsprinzip Explizites Knoten-Kanten-Konstrukt und Modellierungsattribute Programmierkenntnisse erforderlich (Generizität) Nein Zweck der DB Multifunktional (Infrastrukturbau) KBS-Typ FBS Vorschriftenkonformitätsprüfung Ja Darstellungsmethode der Vorschriftenfestlegungen/ Regel (Logiken) White-Box Tabelle 1: Eigenschaften des (E)DCC-Modellansatzes Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 37 Wissenschaft INFRASTRUKTUR zesse im Infrastrukturbau abgebildet werden können. Dank der einfachen Grundgedanken der (Teil-)Modelle mit den darin enthaltenen Modellierungslogiken (hier: Kantenmodellierung des Knoten-Kanten-Konstruktes, einfache „UND“/ „ODER“-Logiken und Modellierungsattribute) und der generischen Erweiterbarkeit, besitzt der (E)DCC-Modellansatz ein hohes Potential zur Weiterentwicklung. Es hat sich gezeigt, dass auch die einfachen Modellierungstechniken zum Abbilden von komplexen entwurfstechnischen Sachverhalten aus dem Infrastrukturbau genügen. Die Modellierung der Daten erfordert keine Programmierkenntnisse, kann sehr gut komplexe Sachverhalte aus dem Infrastrukturbau abbilden und diese dem Anwender gut visualisieren. Zur Realisierung des hier vorgestellten Ansatzes wurde eine schemalose GDB von OrientDB verwendet. GDB sind auf dem Markt relativ neu und werden im Verkehrswesen nach derzeitigem Stand fast gar nicht eingesetzt, obwohl diese viele Vorteile mit sich bringen können. Im Gegensatz zu den sich bereits seit Jahren auf dem Markt etablierten relationalen DB, in denen die Modellierung von ausgeprägten Abhängigkeiten zwischen den Datensätzen nur begrenzt möglich ist, bietet eine GDB einen großen Vorteil im Hinblick auf die Abbildung von großen stark miteinander vernetzen und unstrukturierten Datensätzen. Die Datensätze können in einem Baumgraph visualisiert werden, wodurch jede komplexe Modellierung einfach erscheint und dadurch für jeden nachvollziehbar bleibt. ■ LITERATUR [1] Angles, R.; Gutierrez, C. (2008): Survey of graph database models. In: ACM Computing Surveys, Volume 40. [2] Auty, D. (1998): Object oriented programming systems and frame representations, an investigation of programming paradigms. In: NASA (Ed.), Technical Report. [3] Bermell-García, P.; Fan, I.-S. (2002): A KBE System for the design of wind tunnel models using reusable knowledge components. 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Prof. Dr.-Ing. Institutsleiter, Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Universität Stuttgart ullrich.martin@ievvwi.uni-stuttgart.de Vitali Schuk, M. Sc. Akademischer Mitarbeiter, Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Universität Stuttgart vitali.schuk@ievvwi.uni-stuttgart.de Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 38 Nachhaltiger Transportieren Mit Modal Split für Massengüter die Klimaziele besser erreichen Nachhaltigkeit, Modal Split, Emissionen, Klimaziele, Multimodal Der LKW ist in Deutschland der Hauptverkehrsträger. Dies zeigt auch der Modal Split. Mit 19 % der gesamten Treibhausgasemissionen ist der Verkehrssektor in Deutschland der größte Verursacher von Emissionen. Um die nationalen und internationalen Klimaziele zu erreichen, müssen neue umweltfreundliche Transportmöglichkeiten identifiziert werden. Anhand eines Beispiel aus dem Massengutbereich wurden, unter Berücksichtigung des Berechnungsstandards EN16258, Transportbeispiele für die Verkehrsträger Straße, Schiene und Wasserstraße kalkuliert. Die Schiene war trotz Vorlaufs mit dem LKW der umweltfreundlichste Verkehrsträger, gefolgt vom Binnenschiff. Der LKW emittierte am meisten CO 2 -Äquivalente. Birte Heinen, Jan Sebastian Donner, Peter Wengelowski I n Deutschland belaufen sich 19 % der gesamten Treibhausgasemissionen auf den Verkehrssektor. Damit ist dieser der größte Verursacher von Emissionen. Um die nationalen und internationalen Klimaziele einhalten zu können, muss auch der Verkehrssektor klimafreundlicher werden. [1] Der Modal Split in Deutschland zeigt, dass der Hauptverkehrsträger weiterhin der LKW ist und es auch laut Verkehrsprognosen in Zukunft noch bleiben wird. Dabei ist der LKW eines der umweltschädlichsten Transportmittel, mit viermal so vielen Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Binnenschiff und fast siebenmal so vielen Treibhausgasemissionen, wie ein elektrisch angetriebener Güterzug (siehe Tabelle 1). Durch die Umverteilung des Modal Split wäre also schon heute eine erhebliche Reduktion der Treibhausgasemissionen bei geringen Investitionskosten möglich. [2] Am Beispiel von Massenguttransporten wird deutlich, dass in den beiden großen Massengutsektoren Forstwirtschaft sowie Erze und Steine der LKW immer noch das Hauptverkehrsmittel ist. Massengüter werden in großen Mengen transportiert und sind daher prädestiniert für einen Transport auf Verkehrsträgern mit hohen Kapazitäten, wie die Binnenschifffahrt oder die Schiene (siehe Bild 1). [3] Berechnungsstandard EN 16258 Um das Einsparungspotenzial zu verdeutlichen, kann eine beispielhafte Berechnung mit Hilfe der EN 16258 Norm, zur Berechnung von einheitlichen und transparenten Treibhausgasemissionen für Transportwege, aufgestellt werden. Im Vergleich zu anderen Berechnungsstandards fokussiert sich die EN 16258 nur auf die Treibhausgase, die direkt und indirekt bei einem Transport emittiert werden. Direkte Emissionen sind Schadstoffe, die durch den Transport vom Verkehrsmittel entstehen, wie zum Beispiel bei der Verbrennung von Kraftstoffen. Indirekte Emissionen beinhalten Emissionen, die zum Beispiel bei der Instandhaltung von Infrastruktur, der Produktion des Verkehrsmittels oder auch bei der Herstellung des Kraftstoffes entstehen. Die direkten Emissionen werden auch Tank-to-Wheel (TTW)- Emissionen genannt. Die Summe aus den Foto: World in my Eyes / pixabay LOGISTIK Modal Split Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 39 Modal Split LOGISTIK direkten und indirekten Emissionen ergeben die Well-to-Wheel (WTW)-Emissionen. Für die Berechnungen mit der EN 16258 müssen einige Rahmenbedingen festgelegt werden. Es wird zunächst immer angenommen, dass das Verkehrsmittel vollständig beladen ist, das bedeutet Less-then-Container-Loads werden konsolidiert oder das Binnenschiff wird immer vollständig beladen. Dies ist besonders für den Transport mit größeren Verkehrsmitteln wie das Binnenschiff wichtig. Alle Treibhausgase wurden auf CO 2 -Äquivalente umgerechnet, dies bedeutet, dass Methan, der 25-mal schädlicher als Kohlenstoffdioxid ist, 25 CO 2 -Äquivalente ausmacht. [4] Im Folgenden soll anhand eines Anwendungsfalls gezeigt werden, wie die intermodalen Transporte zur Einsparung von Treibhausgasen beitragen könnten. Anwendungsfall für einen Massenguttransport Die EN 16258 unterscheidet dabei in Volumengut, Massengut und Durchschnittsgut, wodurch eine beispielhafte Berechnung für ein Massengut, die Biomasse, durchgeführt werden kann, welches das Einsparpotenzial durch den Modal Split deutlich macht. [4] Biomasse ist zudem ein landwirtschaftliches Gut, bei dem oben bereits zu erkennen war, dass dort Einsparpotenzial vorhanden ist. Das gewählte Beispiel ist hier der Transport von Biomasse aus Kirchdorf im Landkreis Diepholz in Niedersachsen zum Industriestandort Stuttgart. Niedersachsen liegt auf Platz eins der deutschen Bundesländer mit der größten Biogas- und somit Biomasseproduktion. Zudem ist Niedersachsen ein Flächenland, das sehr landwirtschaftlich geprägt ist. Stuttgart als Zielort, ist ein Industriestandort mit einer hohen Energienachfrage, im Bereich des Stroms aber auch von Wärme. [5] Für das Anwendungsbeispiel wurden 1.000 Tonnen Biomasse als Menge bestimmt. Da der Landkreis Diepholz keine direkte Binnenwasseranbindung oder ein Umschlagterminal für den Schienengüterverkehr besitzt, muss ein Vorlauf mit dem LKW erfolgen. Der LKW verwendet mit 557 km die kürzeste und damit direkte Strecke nach Stuttgart. Für den Transport mit dem Güterzug muss nach fast 68 km in Bremen umgeschlagen werden, um dann ungefähr 676 km nach Stuttgart mit der Bahn zu fahren. Der Vorlauf für den Binnenschifftransport verläuft über Minden, dort wird nach 39 km LKW-Transport umgeschlagen, um danach 781.900 km über Wasserwege zu fahren (siehe Bild 2) Um die Emissionen für den Transport mit dem LKW berechnen zu können, müssen zunächst die Tonnenkilometer bestimmt werden, hier 557.000 tkm. Der LKW verbraucht im Durchschnitt 0,018 Liter Diesel pro Tonnenkilometer, das deutet also einen Energieverbrauch von 10.026 Litern Diesel für die gesamte Strecke. Für den Tank-to-Wheel-Transport wird ein Treibhausgasemissionsfaktor von 2,67 kgCO 2 e/ l und für den Well-to-Wheel-Transport ein Treibhausgasemissionsfaktor von 3,24 kgCO 2 e/ l festgelegt.[4] Nach dem Bilden der Summen emittiert der Tank-to-Wheel- Transport also 26.769,42 kgCO 2 e und der Well-to-Wheel-Transport 32.484,24 kgCO 2 e. Für den Transport mit dem Güterzug wird zunächst der LKW-Vorlauf berechnet. Hierbei werden 67.900 tkm Mais transportiert. Analog zur vorherigen Rechnung verbraucht dieser Transport 1.086,4 Liter Diesel. Insgesamt emittiert der Vorlauf also 2.900,69 kgCO 2 e für den Tank-to-Wheel- Transport und 3.519,93 kgCO 2 e für den Wellto-Wheel-Transport. Der Bahntransport startet in Bremen, da dort ein Straße-Schiene-Terminal vorhanden ist, welches das Schüttgut vom LKW auf den Güterzug umschlagen kann. Für den Güterzugtransport wird also wieder die Strecke von Bremen nach Stuttgart berechnet. Auf dem Güterzug werden 675.900 tkm transportiert. Da der Zug kürzer als zuvor ist, verbraucht dieser 0,028 kwh pro tkm, sodass der Transport 18.925,2 kWh verbraucht.[3] Durch die Umrechnung von Kilowattstunden auf verbrauchten Diesel ergibt sich hier ein Verbrauch von 1.900,1 Liter Diesel.[4] Anschließend ergibt sich also eine Emission von 5.073,24 kgCO 2 e für den Tank-to-Wheel- Bild 2: Transportkette eines beispielhaften Transportes von Biomasse Eigene Darstellung Einheit LKW Güterbahn Binnenschiff Flugzeug Treibhausgase g/ tkm 111 17 30 713 Kohlenmonoxid g/ tkm 0,086 0,011 0,081 - Flüchtige Kohlenwasserstoffe g/ tkm 0,037 0,002 0,028 - Stickoxide g/ tkm 0,244 0,026 0,382 - Feinstaub g/ tkm 0,006 0,001 0,009 - Tabelle 1: Emissionen und Energieverbrauch der Verkehrsmittel für das Bezugsjahr 2019 in Gramm pro Tonnenkilometer Quelle: Anlehnung an [2] 3 5,5 18,9 Verkehrsaufkommen Erzeugnisse aus Land-, Forstwirtschaft und Fischerei 2020 in Mrd. Tkm Eisenbahn Binnenschiff Lastkraftwagen 12,7 9,1 29,6 Verkehrsaufkommen Erze, Steine, Bergbau und Erden 2020 in Mrd. Tkm Eisenbahn Binnenschiff Lastkraftwagen Bild 1: Modal Split in Massengutsektoren Eigene Darstellung auf Basis von [3], S. 248-263 Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 40 LOGISTIK Modal Split Transport und 6.156,29 kgCO 2 e für den Well-to-Wheel-Transport. Für den gesamten Transport von Kirchdorf nach Stuttgart, bei dem der LKW den Vorlauf und der Güterzug den Nachlauf absolviert, entstehen 7.972,93 kgCO 2 e direkte Emissionen und insgesamt 9.676,22 kgCO 2 e Treibhausgasemissionen. Für den Binnenschifftransport wird der Hafen in Minden als Umschlagterminal verwendet, sodass 39.000 tkm mit dem LKW im Vorlauf geleistet werden müssen. Der Verlauf ergibt Tank-to-Wheel-Emissionen von 1.666,08 kgCO2e und Well-to-Wheel- Emissionen von 2.021,76 kgCO2e. Der Binnenschifftransport muss 781.900 tkm Transportleistung leisten. Dabei verbraucht das Binnenschiff 0,0114 Liter Diesel pro tkm, also wird für die Strecke 8.913,66 Liter Diesel verbraucht.[4] Die Treibhausgasemissionsfaktoren sind auch hier die gleichen wie für den Diesel beim LKW-Transport., das heißt, dass Binnenschiff emittiert, 23.799,47 kgCO 2 e Tank-to-Wheel-Treibhausgase und 28.880,26 Well-to-Wheel-Treibhausgase. Zusammen mit dem Vorlauf resultiert dieser Transport in 25.465,55 Tank-to-Wheel- Treibhausgase und 30.902 kgCO 2 e Well-to- Wheel Emissionen (siehe Bild 3). Im direkten Vergleich dieses speziellen Beispiels wird deutlich, dass der Güterzug mit dem elektrischen Antrieb die geringsten Treibhausgasemissionen für den Transportweg emittiert. Darauf folgt das Binnenschiff, und das klimaschädlichste Transportmittel wäre hier der LKW. Das Binnenschiff schneidet hier schlecht ab, da die Wasserstraßen nicht so gut vernetzt sind wie die Straße und das Binnenschiff durch mehrere Kanäle bis in den Rhein einen großen Umweg zurücklegen muss. Dazu muss für den Transport mit dem Binnenschiff in Minden das Gut umgeschlagen werden, sodass ein Vorlauf mit dem klimaschädlicheren Verkehrsmittel LKW notwendig ist. Auch bei dem Transport mit dem Güterzug muss das Massengut über Bremen umgeschlagen werden, da sich dort der nächste Umschlagterminal mit der Möglichkeit zum Umschlag von Biomasse befindet. Der Vorlauf mit dem LKW trägt auch noch einmal eine große Menge an Treibhausgasen bei. Emissionen von Güterumschlägen Bei der Berechnung mit EN 16258 werden die verursachten Emissionen beim Umschlag des Gutes nicht mit einbezogen, jedoch verursacht der Betrieb eines Terminals keinen kleinen Anteil an Emissionen. Das IFEU hat hierfür eine Studie aufgestellt, wieviel Energie bei einem solchen Umschlag benötigt wird. Der Wert für trockenes Massengut wird mit einem Energieverbrauch von 1,3 kwh/ Tonnen angesetzt. Dies kann mit dem Faktor von 0,1004 Liter Diesel pro kwh umgerechnet werden. Das heißt, der Umschlag von einer Tonne verbraucht 0,13 Liter Diesel und hat somit eine Well-to- Wheel-Emission von 0,422 kgCO 2 e.-[6] Beim Umschlag der Mais-Silage vom LKW auf den Güterzug entstehen bei einer Masse von 1.000 Tonnen Emissionen von rund 422 kgCO 2 e. Daraus resultiert der Transport über den Güterzug mit Vorlauf und Umschlag Emissionen in Höhe von 10.098,22 kgCO 2 e. Beim Transport mit dem Binnenschiff entstehen so insgesamt Emissionen für den vorherigen Transport von 31.324 kgCO 2 e. Für den LKW müssen keine Emissionen für den Umschlag berechnet werden, denn auch beim Transport mit dem Güterzug und dem Binnenschiff muss das Gut ein- und ausgeladen werden, sodass dies für den Vergleich hier nicht relevant ist. Trotz Umschlag ist der Transport mit dem Güterzug weiterhin der umweltfreundlichste Weg, das Massengut Biomasse zu transportieren. Auch das Binnenschiff bleibt umweltfreundlicher als der LKW. Bei der Umverlagerung des Transportes auf den Güterzug könnten 22.386,02 kgCO 2 e gespart werden. Damit könnte ein durchschnittlicher VW-Passat mit Benzinmotor 80.000 km und der deutsche Durchschnitt ungefähr fünf Jahre fahren. Fazit Die Umverlagerung des Modal Splits in Deutschland kann erheblich dazu beitragen, die Klimaschutzziele zu erreichen und insgesamt weniger Treibhausgase in Deutschland zu emittieren. Besonders die großen Transportmengen der Massengutverkehre können einen großen Beitrag zur Reduktion der Emissionen des Verkehrssektors leisten. Im Massenguttransportsektor ist aktuell und soll laut Prognosen auch in Zukunft der LKW das Hauptverkehrsmittel sein. Ein starkes Netz aus Schienen- und Wasserwegen sowie der Straße ermöglicht es, diese multimodalen und umweltfreundlichen Transportketten umzusetzen. Wenn dort ein Modal Shift stattfinden würde, könnten, wie im Beispiel deutlich wurde, die angestrebten Klimaziele für den Transportsektor besser erreicht werden. ■ QUELLEN [1] Umweltbundesamt (2021): Treibhausgasemissionen in Deutschland nach Sektoren des Klimaschutzgesetzes in den Jahren 1990 bis 2020 und Prognosen für 2030. Über statista. Dessau-Roßlau [2] Forschungsinformationssystem (FIS) (2020): „Luft- und Klimabelastung durch Güterverkehr“. Forschungsinformationssystem (FIS), Bonn. www.forschungsinformationssystem.de/ servlet/ is/ 39787. Abruf: 20.10.21 [3] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) (2021): Verkehr in Zahlen 2021/ 2022.In: Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI), 49. Jahrgang, Flensburg [4] Deutscher Speditions- und Logistikverband e.V. (2013): Berechnung von Treibhausgasemissionen in Spedition und Logistik DIN EN 16258. 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EcoTransIT World Initiative (EWI), Heidelberg Jan Sebastian Donner Head of Projects, ShortSeaShipping Inland Waterway Promotion Center (spc), Bonn donner@shortseashipping.de Wengelowski, Prof. Dr. Fachbereich Seefahrt und Logistik, Jade Hochschule, Bremen peter.wengelowski@jade-hs.de Birte Heinen Masterstudentin Maritimes Management, Fachbereich Seefahrt und Logistik, Jade Hochschule, Bremen birte.heinen@student.jade-hs.de LKW Güterzug (Vorlauf LKW) Binnenschiff (Vorlauf LKW) 0 5.000 10.000 15.000 20.000 25.000 30.000 35.000 26.769,42 7.972,93 25.465,55 32.484,24 9.676,22 30.902,00 Treibhausgasemissionen nach Verkehrsmitteln für den Transport von 1.000 t Biomasse von Kirchdorf nach Stuttgart WTW TTW Bild 3: Treibhausgasemissionen der Verkehrsmittel Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 41 Automatisiertes Fahren LOGISTIK Fahrfremde Tätigkeiten in-schweren Güterkraftfahrzeugen Was tun Berufskraftfahrende beim Automatisierten Fahren? Eine explorative Stakeholderbefragung zur Ausübung fahrfremder Tätigkeiten Fahrfremde Tätigkeiten, FFT, Automatisiertes Fahren, SAE Level 4, Güterkraftfahrzeuge, LKW Das automatisierte Fahren bei SAE Level 4 ermöglicht zukünftig die Ausübung fahrfremder Tätigkeiten (FFT), da die Fahrenden sich vom Verkehrsgeschehen abwenden können. Die Fahrerkabine könnte in Zukunft bspw. als „mobiles Büro“ genutzt werden. Dadurch könnte sich neben Effizienz- und Kostenvorteilen auch eine Attraktivitätssteigerung des Berufs der Berufskraftfahrenden ergeben. Die Erkenntnisse aus explorativen Interviews mit verschiedenen Stakeholdern (HMI, Verkehrssicherheit, OEM, Logistikdienstleistungsunternehmen und Berufskraftfahrenden) liefern erste Einschätzungen zum potentiellen Nutzen durch die Ausübung von FFT während der automatisierten Fahrt bei SAE Level 4 in schweren Güterkraftfahrzeugen. Aus heutiger Perspektive wird der Nutzen vor allem in einer Legalisierung schon heute durchgeführter, meist privater FFT gesehen. Die Potentiale zur Verlagerung einfacher dispositiver Tätigkeiten schrumpfen durch die zunehmende Digitalisierung in der Logistik. Greta Hettich, Katharina Beck, Heike Flämig, Marie Wolter, Gina Schnücker, Lara Damer B eim automatisierten Fahren ab Automatisierungsstufe SAE Level-3 darf sich der Fahrzeugführer oder die Fahrzeugführerin gemäß §1b des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) vom Verkehrsgeschehen und der Fahrzeugsteuerung abwenden. Er oder sie muss aber derart wahrnehmungsbereit bleiben, damit er oder sie die Fahrzeugsteuerung unverzüglich wieder übernehmen kann. Durch die Abwendung wird die Möglichkeit geschaffen, dass sich der oder die Fahrende in der freigewordenen Zeit anderen, so genannten fahrfremden Tätigkeiten (FFT) zuwenden kann. Unternehmen werden automatisierte Fahrzeuge bevorzugt dann einsetzen, wenn damit ein Nutzen verbunden ist. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Nutzenpotentiale durch die Ausübung von FFT in schweren Güterkraftfahrzeugen bei dem Automatisierungslevel-4 der SAE-Norm J3016 [2] bestehen und ob sicherheitsrelevante Aspekte oder mögliche Hemmnisse zur Ausübung von FFT identifiziert werden können. Dabei wird bei der Untersuchung davon ausgegangen, dass sich noch ein Fahrer oder eine Fahrerin an Bord des Fahrzeugs befindet. Stand der Literatur In der Literatur wird die Ausübung von FFT- in unterschiedlichen Kontexten untersucht. Mehrere Autoren beschäftigten sich mit der Fragestellung, ob durch die Ausübung von FFT in der Fahrerkabine die Vigilanz (geistige Anwesenheit) über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden könnte [3, 4, 5]. Im Projekt Tango (Technologie für automatisiertes Fahren, die nutzergerecht optimiert wird) wurde untersucht, welche Auswirkungen die Ausübung von FFT auf Potentielle fahrfremde Tätigkeiten in einem automatisierten Fahrzeug [1] Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 42 LOGISTIK Automatisiertes Fahren die physiologische Aktiviertheit eines oder einer Lastkraftfahrenden hat. Ein Ergebnis war, dass die Ausübung von FFT sinnvoll sein kann, um die LKW-Fahrenden zu beschäftigen und sie wach zu halten, wobei die Unterbrechbarkeit dieser FFT wichtig für eine sichere Ausführung ist. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Art der ausgeübten FFT einen Einfluss auf die Übernahmeleistung haben kann [6]. Dass Fahrer und Fahrerinnen, die eine FFT ausüben, länger für die Reaktion auf ein Übernahmesignal benötigen, stellte auch [7] in ihrer Fahrsimulatorstudie fest. Die Ausübung von FFT könnte bei anspruchsvollen Tätigkeiten zu einer Ermüdung bei den Fahrenden führen [8]. Das Situationsbewusstsein könnte verloren gehen [6, 9] und es könnte zu einer Motion Sickness (fahrbedingte Übelkeit) kommen [10]. Als FFT werden in der Literatur bspw. entspannende [11] und gesundheitsfördernde Aktivitäten [12] aufgeführt. Häufig stehen dabei private FFT, wie bspw. das Schauen eines Films, im Fokus der Untersuchungen. In [6, 11, 13, 14, 15] wird die Ausübung arbeitsbezogener FFT diskutiert. So untersucht bspw. [16] mögliche Aufgabendefinitionen und Tätigkeiten sowie die für die Ausübung dieser FFT notwendigen Qualifikationen, Kenntnisse und Infrastruktur-Rahmenbedingungen. Die Ausübung von FFT könnte laut [16] die Produktivität des Fahrers und der Fahrerin verbessern. Dabei sollte es sich um FFT handeln, die die Berufskraftfahrenden als motivierend und sinnstiftend erachten [17] und die nötigen Anreize schaffen, um den Fahrerberuf weiterhin auszuüben [18]. Wenig bearbeitet ist in der Literatur bisher die Frage, welchen Nutzen die Ausübung von FFT durch LKW- Fahrende im gewerblichen Kontext haben könnte. Forschungsdesign Die Frage nach dem Nutzen durch die Ausübung von FFT durch Fahrende von schweren Güterkraftfahrzeugen wurde mit Hilfe der Methode des explorativen und des theoriegenerierenden Experteninterviews bearbeitet. Mithilfe der Interviews sollten mögliche (wirtschaftliche) Nutzenpotentiale analysiert, etwaige sicherheitsrelevante Aspekte bei der Ausübung von FFT festgestellt und mögliche Hemmnisse bei der Ausübung von FFT identifiziert werden. Es wurden semistrukturierte Interviewleitfäden mit jeweils zwölf bis 17 Fragen für die fünf Stakeholdergruppen, Original Equipment Manufacturer (OEM), Logistikdienstleister (LDL), Verkehrssicherheit (VS), Human Machine Interaction (HMI) und Berufskraftfahrende, entwickelt. Nach der Transkription der Interviews wurde mittels der Grounded-Theory-Methode eine Inhaltsanalyse unter Zuhilfenahme der Software MAXQDA durchgeführt. Die Inhalte der Interviews wurden durch ein dreiköpfiges Team kodiert, verglichen und anschließend zu Kategorien verknüpft sowie visualisiert. Die rund einstündigen Interviews fanden im Zeitraum April 2021 bis Juli 2021 statt und wurden mit Ausnahme der rund 15-minütigen Interviews der Berufskraftfahrenden online durchgeführt. In der Tabelle 1 sind die 21 Interviews den Stakeholdergruppen zugeordnet. Einige Interviews fanden mit mehr als einem Interviewpartner statt, insgesamt konnten damit 27 Personen befragt werden. Interviewergebnisse Angesichts der begrenzten Anzahl an Interviewpartnern, den stetigen Veränderungen der Gesetze und Normen und den technologischen Entwicklungen im automatisierten Fahren sind die im Folgenden dargestellten Ergebnisse der explorativen Analyse kaum repräsentativ. Die Aussagen der Befragten sind auch in den Stakeholdergruppen sehr heterogen und widersprechen sich teilweise. Zudem wurden in den Interviews die Automatisierungsstufen SAE Level 3 und 4 von den befragten Experten und Expertinnen unterschiedlich interpretiert. Dennoch ist eine zeitpunktbezogene (individuelle) Einschätzung verschiedener Aspekte und des möglichen Nutzens von FFT während einer automatisierten Fahrt mit schweren Güterkraftfahrzeugen aus verschiedenen Expertenperspektiven ( jeweils in Klammer angegeben) möglich. Voraussetzungen zum Einsatz der Level-4-Fahrzeuge im Straßenverkehr Voraussetzung für die Abwendung von der Fahraufgabe ist deren Erlaubnis in der StVG. Fahrzeuge auf SAE Level 4 müssen als Rückfallebene dienen und sich selbst in den risikominimalen Zustand versetzen. Damit wird gleichzeitig die Sicherheit gegeben, dass sich der Fahrer oder die Fahrerin überhaupt voll auf eine andere Aufgabe konzentrieren kann (HMI 1). Vertrauen in die Technologie Ein ausreichendes Maß an Vertrauen gegenüber dem automatisierten Fahrzeug durch den FFT ausübenden Fahrer oder die Fahrerin wird von Seiten der befragten Experten und Expertinnen der VS und der HMI-Forschung betont. Im Interview mit dem Fahrenden 2 wird Skepsis gegenüber der Ausübung FFT geäußert, die auch mit einem fehlenden Vertrauen in die automatisierte Fahrfunktion begründet wird. Sollte der oder die Fahrende dem System nicht ausreichend vertrauen, so verfügt er oder sie voraussichtlich nicht über genügend freie mentale Kapazitäten, die für die zielführende Ausübung einer FFT notwendig sind (VS 5). Die Akzeptanz und der Nutzen des Systems sind laut HMI 2 wichtig, wobei der Fahrer oder die Fahrerin nicht bevormundet werden sollte. Rechtssichere Ausübung der FFT Bei der Übernahme von FFT im beruflichen Kontext muss die Ausübung einer FFT arbeitsrechtlich erlaubt sein (LDL 5). Zum aktuellen Zeitpunkt stellt die Fahrerkabine gemäß Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) rechtlich keine Arbeitsstätte dar. Bei der Ausübung von FFT muss laut LDL 5 der Logistikdienstleistende die Arbeitssicherheit gewährleisten, und die für die Ausübung der FFT notwendigen Schnittstellen müssen abbildbar sein. Laut HMI 2 ist zu klären, ob der sich wandelnde Arbeitsplatz in der Fahrerkabine ein attraktiver und spannender Arbeitsplatz werden kann und wie dieser gestaltet werden sollte. Technische Rahmenbedingungen zur Ausübung einer FFT Sowohl der oder die Fahrende als auch das genutzte Medium sollte bei der Ausübung der FFT durchgängig gesichert sein (VS 4). Dabei muss es möglich sein, dass der Fahrer oder die Fahrerin sich vollständig der FFT widmet und sich nur im Bedarfsfall einen LDL HMI VS Fahrende OEM 1. Mittelständisches Logistikunternehmen Universität Versicherungsunternehmen Berufskraftfahrende OEM 2. Mittelständisches Logistikunternehmen Universität Versicherungsunternehmen Berufskraftfahrende OEM 3. Mittelständisches Logistikunternehmen Außeruniversitäre Forschungseinrichtung Versicherungsunternehmen Berufskraftfahrende OEM 4. Mittelständisches Logistikunternehmen - Verkehrssicherheitsverein Berufskraftfahrende ___ 5. Logistikvereinigung - Verkehrssicherheitsverband Fuhrunternehmer ___ Tabelle 1: Übersicht der interviewten Stakeholder Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 43 Automatisiertes Fahren LOGISTIK Überblick über das System und dessen Zustand verschafft. Ein kurzfristiges Abwenden von der Fahrzeugsteuerung wird als nicht zielführend erachtet, da dadurch keine ausreichenden Zeitpotentiale für die Ausübung von FFT entstehen und insgesamt das Angstlevel sowie das Stresspotential bei den Fahrenden erhöht wird (VS 5). Grundsätzliche Anforderungen an FFT Als Anforderung an die FFT werden eine möglichst geringe Komplexität und die Durchführung mit schnell verstaubaren Hilfsmitteln genannt (OEM 1). Laut LDL 2 ist es wichtig, dass die FFT nicht zeitkritisch, aber unterbrechbar (auch LDL 1) ist, um für eine Verlagerung in die Fahrerkabine geeignet zu sein. Für die Unternehmen stellt sich die Frage, ob sich durch die Ausübung von FFT Einsparungen erzielen lassen. Neben direkten monetären Nutzenpotentialen gibt es auch indirekte wirtschaftliche Nutzenpotentiale wie bspw. eine höhere Mitarbeitendenzufriedenheit. Laut OEM 1 sollte sich durch die automatisierte Fahrfunktion ein Mehrwert für das Unternehmen erzielen lassen, wenn sich der Fahrer oder die Fahrerin noch an Bord befindet. Nutzen für die Übernahmesituation Die Ausübung von FFT kann einen Nutzen für die Übernahmesituation haben. Bei der Nutzung der automatisierten Fahrfunktion könnte sich der Fahrer oder der Fahrerin ohne FFT langweilen und er oder sie könnte durch die niedrigen Anforderungen bei längeren Fahrten immer müder werden (LDL 2, HMI 3). Laut HMI 3 könnte die Gefahr bestehen, dass sich der oder die Fahrende in der Ausübung der FFT verliert und dadurch sein oder ihr Situationsbewusstsein nicht mehr vorhanden ist. Dies könnte bspw. durch eine regelmäßige Überprüfung der Aufmerksamkeit vermieden werden. Bei monotonen Aufgaben ist laut HMI 2 ein Aufgabenwechsel gut, bei nicht monotonen Aufgaben eher schlecht, da dadurch die Ressourcenkapazitäten aufgebraucht werden. Bei der Frage, welchen Einfluss die Ausübung einer spezifischen FFT auf eine Übernahmesituation hat, divergiert die Meinung der befragten Fachkundigen. Während einigen FFT teilweise ein Einfluss auf die Übernahmefähigkeit und -dauer zugeschrieben wird (z. B. bei komplexen Tätigkeiten oder Tätigkeiten mit hoher emotionaler Involviertheit), berichtet ein anderer Fachkundiger über „keinen empirisch belastbaren Zusammenhang zwischen der Ausübung von FFT und der Übernahmezeitsowie -dauer“ (HMI 3). Laut VS 5 können allerdings alle mit in der Hand gehaltenen Gegenständen ausgeübten FFT die Übernahmesituation erschweren. Hingegen wurde auch das Argument angeführt, dass bereits heute ausgeübte FFT wie bspw. telefonieren durch das automatisierte Fahren sicherer ausgeübt werden können, wodurch sich die Anzahl an potentiellen Unfällen und damit auch die Kosten reduzieren würden (OEM 3). Nutzen für dispositive Aufgaben Dispositive Aufgaben werden von den LDL 1, 2, 4 und 5 sowie OEM 3 als mögliche FFT gesehen, allerdings nicht im Interview der VS 1. Bei den dispositiven Aufgaben wäre laut LDL 4 als FFT die Kommunikation mit dem Kunden oder der Disposition z. B. bezüglich der Ankunft an der Ladestelle oder bei Problemen im Transportablauf denkbar. VS 2 sieht die Kommunikation mit den Kunden nicht, da es dabei u. U. hektisch und emotional werden kann und er oder sie bei einem Telefonat sich gegebenenfalls weitere Punkte notieren oder in Unterlagen blättern müsste. Wenn der Fahrer oder die Fahrerin Sprachkenntnisse hat, die in der Disposition nützlich sein könnten, so könnte der Fahrer oder die Fahrerin als sprachlicher Vermittler oder sprachliche Vermittlerin in der Kommunikation mit anderen Fahrenden unterstützen und bspw. Probleme der Kollegen sammeln und mit der Disposition besprechen (LDL 2). Darüber hinaus könnte der Fahrer oder die Fahrerin bei der Transportabwicklung und der Schnittstellenkontrolle (LDL 1) oder bei Formalitäten unterstützen und bspw. Dokumente ausfüllen oder einscannen (OEM 1). Nutzen für administrative Aufgaben Der Fahrer oder die Fahrerin kann auch bei administrativen Aufgaben unterstützen (LDL 1, LDL 5 OEM 2). Er oder sie könnte bspw. Zeitfensterbuchungen vornehmen oder prüfen, wann die nächste Fahrzeugwartung notwendig ist (LDL 5) oder Papiere (zeitnah) aufbereiten, um damit die Versandabwicklung sowie die Vorbereitung der Abrechnung und Fakturierung des Transports zu unterstützen (LDL 1). Ebenso könnten Verwaltungstätigkeiten wie die Rückmeldung von Stati (LDL 1) oder das Einholen eines Feedbacks zur durchgeführten Arbeit beim Kunden (LDL 5) eine potentielle FFT sein. Darüber hinaus sei auch die Dokumentation eigener Tätigkeiten wie das Erstellen der Spesenabrechnung möglich (LDL 1). Wirkungen der Digitalisierung Sowohl Vertretende der OEM, der LDL als auch der Fahrenden sahen allerdings Einschränkungen hinsichtlich des wirtschaftlichen Nutzens und des Feldes möglicher FFT aufgrund der voranschreitenden Digitalisierung und Automatisierung der Abläufe im Transportunternehmen. Laut OEM 1 ist bspw. die händische Durchführung von Tätigkeiten immer seltener erforderlich (OEM 3). Ebenso werden Touren automatisch geplant, disponiert und optimiert (LDL 4). Insgesamt nimmt die Zahl an kaufmännischen Tätigkeiten aufgrund der Digitalisierung ab (LDL 4 und Fahrende 3). Gleichzeitig ermöglicht die Digitalisierung der Daten und Dokumente erst die Ausübung mancher Tätigkeiten in der Fahrerkabine (LDL 1). Dies setzt jedoch eine entsprechende technische Ausstattung der Fahrerkabine voraus (Fahrende 3). Qualifikation der Berufskraftfahrenden als begrenzender Faktor Als weiterer, die wirtschaftlichen Nutzenpotentiale begrenzender Faktor wird eine unzureichende Qualifikation der Berufskraftfahrenden genannt. Dispositive Tätigkeiten wurden zunächst nicht ausgeschlossen, sind aber aus Sicht der Interviewten aus mehreren Gründen aktuell eher schwer vorstellbar: Zunächst seien Berufskraftfahrende für die Ausübung von Bürotätigkeiten derzeit nicht ausreichend qualifiziert und verfügten häufig nicht über ausreichende Sprachkenntnisse (LDL 1, 2, 4 und 5, OEM 3, Fahrende 3). Eine Weiterqualifizierung der Fahrer und Fahrerinnen zur Erhöhung der Qualifikation kann bei einigen die Lücke zwischen vorhandener und erforderlicher Qualifikation schließen (LDL 5 und Fahrende 3). Die anzunehmende geringe „Weiterbildungsbereitschaft“ könnte allerdings hier einen hemmenden Faktor darstellen (Fahrende 3). Um die Bereitschaft zu erhöhen könnten gegebenenfalls finanzielle Anreize für die Weiterbildung geschaffen werden. LDL 4 schlägt bspw. vor, dass für einzelne Tätigkeiten eine Nachschulung erfolgen kann und es unterschiedliche Level von Qualifikation gibt. Die Weiterbildung bzw. Weiterqualifizierung (wirtschaftlich oder privat) könnte ebenfalls als FFT in der Fahrerkabine durchgeführt werden (OEM 3). Bereits vorhandene Weiterbildungsmöglichkeiten könnten laut LDL 5 angepasst und erweitert werden. Ein anderer Vertreter der LDL (LDL 2) sieht allerdings weniger Bedarf bei Weiterbildungen, da der Fahrer oder die Fahrerin vorrangig als sprachlich Vermittelnder gesehen wird. Neben der Weiterqualifizierung wurden in den Interviews auch eine Weiterentwicklung der Berufsausbildung und eine Definition notwendiger Qualifikationen von Berufskraftfahrenden genannt. Das sich verändernde Berufsbild eines Berufskraftfahrenden könnte Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 44 LOGISTIK Automatisiertes Fahren die Tätigkeit aufgrund eines höheren Abwechslungsreichtums attraktiver werden lassen, wodurch neue Mitarbeitende gewonnen werden könnten (LDL 5, HMI 2). Das Übertragen unternehmensbezogener Tätigkeiten könne jedoch, zu „Stress seitens der Fahrenden“ führen und damit die „Attraktivität des Berufs“ mindern (OEM 1). Ausübung von privaten FFT Einen Mehrwert und persönlichen Anreiz sahen die Befragten insbesondere in der Ausübung von privaten FFT (Fahrende 2). Laut Expertenaussage eines LDL könne mit der Möglichkeit, privaten FFT während der Fahrt nachzugehen, die Berufsattraktivität gesteigert und damit dem aktuell herrschenden Fahrermangel entgegengewirkt werden (LDL 4, 5). Hier ergibt sich schnell eine Grauzone zwischen privaten und wirtschaftlichen FFT, wenn Videos aus den Bereichen Gesundheitsmanagement, Umwelt oder Arbeitssicherheit geschaut oder an einem Sprachkurs teilgenommen wird. Die Durchführung von privaten FFT wie bspw. ausruhen wird von OEM 1 als Komfortgewinn sowie Reduzierung von Stress für die Fahrenden genannt. Dass Fahrer oder Fahrerinnen durch die Ausübung von privaten FFT weniger gestresst, ausgeglichener und gesünder sind und sich daher seltener krank melden, wird auch von LDL 2 als Nutzen genannt. Die Übernahme der (privaten) FFT muss allerdings arbeitsrechtlich und versicherungsrechtlich erlaubt sein (LDL 5). Nebentätigkeiten Der Fahrer oder die Fahrerin könnte laut Einschätzung von OEM 3 auch einen Nebenjob bspw. auf 450-EUR-Basis übernehmen, was die Attraktivität des Berufsbilds ebenfalls steigern könnte. Ein höheres Einkommen könnte auch durch ein zusätzliches Gehalt für die Übernahme von FFT erzielt werden (LDL 2 und Fahrende 3). Die Ausübung von FFT wird nicht das grundlegende Problem des Fahrermangels beheben (OEM 3), könnte jedoch den Anreiz für den Beruf erhöhen, damit der Fahrer oder die Fahrerin nicht nur im Fahrzeug sitzt und „nichts“ tut (LDL 4). SAE Level 4 mit oder ohne Fahrer oder Fahrerin Da der Fahrer oder die Fahrerin für Tätigkeiten wie das Be- und Entladen oder den Zoll weiterhin notwendig ist, wird eine Verlagerung von Bürotätigkeiten ins Cockpit als nützlich erachtet. Allerdings sollte dabei berücksichtigt werden, dass Dispositionstätigkeiten durch wenige, aber sehr erfahrene Disponenten durchgeführt werden (OEM 1, OEM 3, LDL 4). Sollten dispositive Aufgaben vom Fahrer oder der Fahrerin übernommen werden, so stellt sich vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Nutzens die Frage, ob sich ein Fahrer oder eine Fahrerin selbst genauso auslasten würde wie ein Disponent und ob damit die betriebswirtschaftliche Rechnung weiterhin stimmt (LDL 5). Eine dezentrale Verarbeitung von Daten und Dokumenten wird von den meisten LDL (LDL 1, 2, 4, und 5) als nicht praktikabel eingeschätzt. Zusammenfassung und Ausblick Mithilfe der Interviews konnten mögliche (wirtschaftliche) Nutzenpotentiale identifiziert werden und sicherheitsrelevante Aspekte und mögliche Hemmnisse bei der Ausübung von FFT festgestellt werden. Die vorliegende Untersuchung hat deutlich gemacht, dass sich bisher kein eindeutiges Bild zum potentiellen Nutzen von FFT beim automatisierten Fahren von schweren Güterkraftfahrzeugen bei SAE Level 4 ergibt. Sollte sich der Fahrer oder die Fahrerin noch an Bord befinden, so sind Aufgaben wie bspw. die Abstimmung unter den Fahrenden, einfache administrative Aufgaben, Spesenabrechnung oder die Bearbeitung von Belegen als mögliche wirtschaftliche FFT denkbar. Dem stehen jedoch die mangelnde Qualifikation und die fehlenden Sprachkenntnisse der Fahrenden entgegen. Insgesamt sehen gerade die befragten LDL vor allem dann einen wirtschaftlichen Mehrwert, wenn das Fahrzeug ohne Fahrenden auskommt. Hingegen generiert die Ausführung privater FFT (z. B. Handy und Apps nutzen) nicht nur einen Komfortgewinn für Fahrende, sondern schafft auch einen nötigen Anreiz, Berufskraftfahrende zu gewinnen. Die zur Verfügung stehende Zeit kann genutzt werden, um Kontakt zu der Familie und Bekannten zu halten, um mediale Inhalte mit persönlicher Relevanz zu konsumieren oder um sich auszuruhen. Die Durchführung gezielter Weiterbildungsmaßnahmen kann einen Mehrwert für die Berufskraftfahrenden und auch für das Unternehmen schaffen. Eine sinnstiftende FFT könnte die Mitarbeitendenzufriedenheit positiv beeinflussen. Überhaupt könnte die Attraktivität des Berufsbilds gesteigert werden, wodurch ein indirekter Nutzen für die Unternehmen erzielt wird. Die Durchsetzung weiterer Automatisierungsfunktionen wird aber zukünftig wesentlich davon abhängen, welche direkten oder indirekten Nutzenpotentiale durch die Ausübung von FFT generiert werden. Bei den Überlegungen zu verlagerungsfähigen FFT in die Fahrerkabine ist die zunehmende Digitalisierung in der Transportbranche zu berücksichtigen. ■ Diesem Artikel liegen Teile der im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr, vertreten durch die Bundesanstalt für Straßenwesen, unter FE-Nr. 82.0737/ 2019 durchgeführten Forschungsarbeiten zugrunde. Die Verantwortung für den Inhalt liegt ausschließlich bei den Autorinnen. Besonderer Dank gilt Dr.-Ing. habil. Stephan Müller, der mit seiner fachlichen und wissenschaftlichen Unterstützung einen wesentlichen Beitrag zur empirischen Erarbeitung beigetragen hat. Ebenso danken wir Prof. Dr. Rainer Höger (LUL) und Sandra Tjaden (TUHH) für die gemeinsame Erarbeitung der Projektinhalte. QUELLEN [1] DLR (2020): Forschung zum vollautomatisierten Fahren am Institut für Verkehrssystemtechnik. [2] SAE International (2021): Taxonomy and Definitions for Terms Related to Driving Automation Systems for On-Road Motor Vehicles. [3] Shi, E.; Frey, A. T. (2021): Non-Driving-Related Tasks During Level 3 Automated Driving Phases—Measuring What Users Will Be Likely to Do. In: Technology, Mind, and Behavior, 2 (2). https: / / doi.org/ 10.1037/ tmb0000006 [4] Hohm, A.; Klejnowski, L.; Skibinski, S.: Bengler, K.; Berger, S.; Vetter, J.; Stürmer, T. (2018): KO-HAF - Kooperatives Hochautomatisiertes Fahren: (Projektübergreifender Schlussbericht). www.ko-haf.de/ f i l e a d m i n / u s e r _ u p l o a d / p r o j e k t / 1 9 S 1 4 0 0 2 _ K o - H A F _ p a r t n e r % C 3 % B C b e rg re i f e n d e r- S c h l u s s b e r i c h t _ f i n a l . p d f (09.02.2022). [5] Neubauer, C.; Matthews, G.; Langheim, L.; Saxby, D. (2012): Fatigue and voluntary utilization of automation in simulated driving. In: Human factors, 54 (5), S. 734-746. [6] Reichelt, F.; Laßmann, P.; Maier, T. (2021): TANGO Guideline-Design Guidance und Methoden Review. [7] Othersen, I.; Petermann-Stock, I.; Schömig, N.; Fuest, T. (2018): Method development and interaction cognitive driver take-over ability after piloted driving. In: ATZelektronik worldwide 13 (2), S. 28-33. [8] Frey, A. T. (2021): Zum Fahrerzustand beim automatisierten Fahren: Objektive Messung von Müdigkeit und ihre Einflussfaktoren. Dissertation, Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig. https: / / doi.org/ 10.24355/ dbbs.084-202103171057-0 [9] Petermann-Stock, I.; Hackenberg, L.; Muhr, T.; Mergl, C. (2013): Wie lange braucht der Fahrer? Eine Analyse zu Übernahmezeiten aus verschiedenen Nebentätigkeiten während einer hochautomatisierten Staufahrt. 6. Tagung Fahrerassistenzsysteme. Der Weg zum automatischen Fahren. [10] Smyth, J.; Birrell, S.; Mouzakitis, A.; Jennings, P. (2018): Motion sickness and human performance-exploring the impact of driving simulator user trials. In: International Conference on Applied Human Factors and Ergonomics (S. 445-457). Springer, Cham. [11] Flämig, H. (2015): Autonome Fahrzeuge und autonomes Fahren im Bereich des Gütertransportes. In: Autonomes Fahren technische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte. Springer Vieweg, Berlin (u.a.), S. 377-398. [12] Greenfield, R.; Busink, E.; Wong, C. P.; Riboli-Sasco, E.; Greenfield, G.; Majeed, A.; Car, J.; A Wark, P. 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In: 6th International Munich Chassis Symposium, Springer, S. 5-15. [16] Pagenkopf, A.; Engeln, A; Othersen, I. (2018): Tätigkeiten während automatisierter LKW-Fahrphasen - Produktivität und Akzeptanz. In: VDI Wissensforum GmbH (ed.) 34. VDI/ VW-Gemeinschaftstagung Fahrerassistenzsysteme und Automatisiertes Fahren 2018: Wolfsburg, 07. und 08. November 2018. VDI Verlag GmbH, Düsseldorf, S. 361-370. [17] Pollmann, K.; Stefani, O.; Bengsch, A.; Peissner, M.; Vukelić, M. (2019): How to work in the car of the future? A neuroergonomical study assessing concentration, performance and workload based on subjective, behavioral and neurophysiological insights. In: Proceedings of the 2019 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems (S. 1-14). https: / / doi.org/ 10.1145/ 3290605.3300284 [18] Schömig, N. (2015): Simulatorstudien zur Ablenkungswirkung fahrfremder Tätigkeiten: Bericht zum Forschungsprojekt FE 82.0551/ 12. Fachverl. NW, Bremen. Katharina Beck Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technische Universität Hamburg katharina.beck@tuhh.de Heike Flämig, Prof.-Dr.-Ing Professur für Transportketten und Logistik, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technische Universität Hamburg flaemig@tuhh.de Greta Hettich Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Berlin greta.hettich@dlr.de Gina Schnücker Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Berlin gina.schnuecker@dlr.de Lara Damer Studentische Hilfskraft, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Berlin lara.damer@dlr.de Marie Wolter Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Leuphana Universität Lüneburg marie.wolter@leuphana.de Professur Wirtschaftsingenieurwesen, insbesondere Güterverkehr und Logistik (W2) Zum nächstmöglichen Zeitpunkt · Vollzeit · Campus Recklinghausen Sie sind Expertin/ Experte im Themenfeld der integrierten Güterverkehrs- und Logistikplanung. Sie haben Erfahrung in mehreren der folgenden Bereiche: Transportprodukte, internationale Transportketten und -systeme, Einsatz neuer Technologien, Digitalisierung der Prozesse und Nachhaltigkeit in Güterverkehr und Logistik (Klimaschutz, Lärmschutz, Luftreinhaltung, Verkehrsverlagerung etc.). Sie verfügen über eine in der Regel durch Promotion nachgewiesene Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit. Aus Ihrer fünfjährigen Berufspraxis, davon mindestens drei außerhalb des Hochschulbereichs, bringen Sie fachbezogene Erfahrungen mit, zur Anwendung oder Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden. Vor dem Hintergrund Ihres Studiums des (Wirtschafts-)Ingenieurwesens, der Informatik oder der Logistik wirken Sie mit an der Weiterentwicklung der Studiengänge der Lehreinheit Wirtschaftsingenieurwesen mit Blick auf zukunftsfähige Güterverkehrskonzepte, Digitalisierung und nachhaltige Entwicklung. Was wir erwarten • Sie leiten Lehrveranstaltungen auf Deutsch und Englisch. • Sie beteiligen sich an der Akquise, Initiierung und Umsetzung von Drittmittelprojekten. • Sie vermitteln auch Grundlagenfächer in der Lehreinheit Wirtschaftsingenieurwesen, insb. mathematische und/ oder ingenieurwissenschaftliche Grundlagen. • Sie übernehmen Aufgaben der Studiengangsentwicklung, -koordination und -administration. Worauf Sie sich freuen können • Ein spannendes und abwechslungslungsreiches Aufgabengebiet im Fachbereich Ingenieur- und Naturwissenschaften • Entwicklungsmöglichkeiten dank regelmäßiger Fort- und Weiterbildungsangebote Haben wir Sie neugierig gemacht? Dann freuen wir uns auf Ihre Bewerbung samt der üblichen Unterlagen bis zum 14.10.2022 auf unserem Online-Bewerberportal (https: / / www.w-hs.de/ stellenangebote-der-hochschule/ ). Bitte beachten Sie auch die Einstellungsvoraussetzungen des Hochschulgesetzes NRW, § 36. Wir wünschen uns mehr Frauen in Lehre und Forschung und freuen uns deshalb auf qualifizierte Bewerberinnen. Bewerbungen von Menschen mit einer Schwerbehinderung berücksichtigen wir bei gleicher Eignung bevorzugt. Noch Fragen? Melden Sie sich dazu einfach beim Fachbereich Ingenieur- und Naturwissenschaften dekanat.fb8@w-hs.de. Wissen.Was praktisch zählt. Mit diesem Grundsatz setzen wir an der Westfälischen Hochschule seit über 25 Jahren regional und international Zeichen: von gezielter Talentförderung hinein in die praxisnahe Ausbildung von Fach- und Führungskräften. An unseren drei Standorten machen sich rund 9.000 Studierende in knapp 60, vor allem technischökonomisch ausgerichteten Studiengängen fit für den Fortschritt. Gemeinsam mit über 700 Beschäftigten werden mit anwendungsorientierter Forschung Impulse für Verfahren, Produkte und Dienstleistungen von morgen gesetzt. Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 46 Logistikkonzept für-Gütertransporte per-Straßenbahn Analyse logistischer Anforderungen an ein Güterstraßenbahnkonzept Cargo Tram, Güterstraßenbahn, nachhaltiger Transport, Multimodal, Anforderungen, Stadtlogistik Der zunehmende Güterverkehr auf Stadtstraßen belastet die Anwohner, Verkehrsteilnehmer und die Umwelt. Die Nutzung von Straßenbahnen zur Bewältigung des regionalen Güterverkehrs kann dazu beitragen, eine Entlastung zu erzielen, indem eine bereits vorhandene Schieneninfrastruktur genutzt wird. In dieser Studie wird untersucht, welche Anforderungen an die Transportdienstleitung einer Güterstraßenbahn bestehen und wie diese in das logistische Konzept integriert werden können. Die Forschungsfrage wird mit einem qualitativen Studiendesign in Form einer multiplen Fallstudie beantwortet. Lisa Fäßler, Ingo Dittrich, Theo Lutz, Jonas Ziegler, Roland Frindik, Günter Koch D er Verkehrssektor beeinflusst in wesentlichem Maße die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen [1]. Im Kontrast zur steigenden Bedeutung nachhaltiger Stadtentwicklung steigt auch die Nachfrage nach logistischen Dienstleistungen in urbanen und suburbanen Regionen, z. B. im Jahresdurchschnitt um 12 % im KEP-Bereich von 2017 bis 2021 in Deutschland [2-4]. Der Großteil der Transporte in urbanen Regionen wird mit straßengebundenen Fahrzeugen durchgeführt, welche konventionell betrieben werden [3]. Dies ist mit Emissionen, Lärm, Flächenverdichtung und einem stockenden Verkehrsfluss verbunden [5, 6]. Das führt zu einer Belastung der Anwohner, Nutzer der Verkehrsinfrastruktur und der Umwelt [7, 8]. PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 28.06.2022 Endfassung: 10.08.2022 LOGISTIK Wissenschaft „CarGo Tram“ Dresden Foto: Andy Leung / pixabay Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 47 Wissenschaft LOGISTIK Ein Ansatz zur Entlastung der Straßeninfrastruktur von Güterverkehr ist die Nutzung bestehender Verkehrsinfrastruktur für den Gütertransport. Insbesondere die bestehende Schieneninfrastruktur scheint geeignet, um die Warenströme in urbanen Regionen abzuwickeln [9-14]. Regionen mit einer Zweisystem-Stadtbahn bieten optimale Voraussetzungen, um Transporte zwischen Stadt und Region via Schienenverkehr zu verbinden [15]. Eine Zweisystem-Stadtbahn (z. B. Karlsruher Modell) ist dafür ausgelegt, sowohl auf dem Schienennetz der DB Netz AG, als auch auf dem Straßenbahnnetz zu verkehren. Damit entfällt ein Umstieg (der Fahrgäste) bzw. Umschlag (der Güter) zwischen Eisenbahn- und Straßenbahnfahrzeug [16]. Damit eine Güterstraßenbahn realisiert werden kann,- müssen zahlreiche Stakeholder eingebunden werden. Die wesentlichen Herausforderungen ergeben sich hierbei durch die Heterogenität der Kundenbedarfe-[13]. Fokus in bestehenden Güterstraßenbahnkonzepten Bislang existieren keine Güterstraßenbahnsysteme, die in einem Realbetrieb für den urbanen Warentransport eingesetzt werden. Bestehende Güterstraßenbahnkonzepte sind auf die Erfüllung der Anforderungen einzelner Branchen, ausgewählter Transportgüter bzw. einzelner Verlader ausgerichtet [17]. In Statistiken tauchen Güterstraßenbahnen bislang nicht gesondert auf und werden unter Eisenbahnverkehr gelistet [21, 22]. Sie agieren in einer Nische bezogen auf Transportvolumina und Marktanteile im Verkehrssektor. Dies bietet den Vorteil, dass spezifische Szenarien adressiert werden können, kann jedoch keine echte Alternative für die Gesamtheit städtischer Gütertransporte darstellen. Bisherige Untersuchungen fokussieren sich auf die Anforderungen individueller Kunden. Beispielhaft zu nennen ist das Projekt „CarGo Tram“ Dresden [23], das sich auf die Zulieferung von Automobilbaugruppen und Rohmaterialien an den Kunden Volkswagen fokussierte (Betrieb wurde im Jahr 2020 eingestellt). Weiterhin die „Cargo & E- Tram“ Zürich [24, 25], welche von der Kommune zur Abfallentsorgung eingesetzt wird, sowie die Projekte „Last-Mile Tram“ Frankfurt [11] und „Cargo Tram“ Berlin [26, 27] mit dem Fokus auf Paketdienstleister (bislang noch nicht im Realbetrieb). Die Realisierung einer Güterstraßenbahn ist im Vergleich zum konventionellen Transport mit einer Steigerung der Anzahl von Stakeholdern am Warentransport verbunden [11, 28]. Eine Berücksichtigung der Kundenbedarfe ist daher umso bedeutender, um ein funktionierendes System zu schaffen, und mit einer Steigerung der Attraktivität für potenzielle Kunden positiv korreliert. Die Anforderungen der potenziellen Kunden wurden bislang nicht ausreichend beschrieben, um diese in die Systemkonzeptionierung einzubinden. Außerdem sind Ergebnisse sind bislang lediglich im lokalen Kontext und bei spezifischen Kundenanforderungen anzuwenden und nur bedingt auf andere Projekte übertragbar [29]. Methode Ziel dieser Studie ist es, die identifizierte Forschungslücke bezüglich der qualitativen Anforderungen an eine Güterstraßenbahn zu schließen. Es wird den Forschungsfragen nachgegangen: Welche logistischen Anforderungen an eine Güterstraßenbahn bestehen aus der Perspektive potenzieller Nutzer? Wie können die Anforderungen in ein Logistikkonzept integriert werden? Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird ein qualitatives Studiendesign in Form einer multiplen Fallstudie gewählt. Die Fallstudie wurde im Rahmen von Expertengesprächen in drei Beispielunternehmen der Branchen Paktdienstleitungen, Lebensmittelhandel und Stückgutspedition durchgeführt. Es wurden jeweils Experten aus den Unternehmensbereichen Distributionslogistik befragt. Stakeholder in Güterstraßenbahnprojekten Bild 1 stellt die relevanten identifizierten Stakeholderdomänen (als Oval hervorgehoben) sowie die darin enthaltenen Rollen dar. Jede Domäne umfasst eine Gruppe von Prozessbeteiligten, die an der Durchführung des Transportauftrages direkt oder mittelbar beteiligt sind. Die Domänen der Transportdienstleister und Transportkunden (in Grün) umfassen diejenigen Stakeholder, welche als interne Stakeholder klassifiziert werden. Diese sind am physischen Transportvorgang einer Güterstraßenbahn aktiv beteiligt. Die Domänen der Zulieferer, Infrastrukturbetreiber und die Regulierer (in Rot) fassen weitere Stakeholder zusammen, die als extern klassifiziert werden. Diese sind nicht direkt am physischen Trans- Bild 1: Stakeholder einer Güterstraßenbahn Eigene Darstellung unter Nutzung von KVV/ Paul Gärtner - Froschbahn AT A GLANCE Increasing urban and regional road-based freight traffic is a source of stress for residents, road users and the environment. The use of cargo trams to handle regional freight traffic can help to relieve the burden while at the same time making use of an already existing rail infrastructure. This study investigates the requirements for the transport service of a cargo tram and how they can be integrated into the logistic concept. The research question is answered with a qualitative study design in the form of a multiple case study. Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 48 LOGISTIK Wissenschaft portprozess beteiligt. Mit einer Rolle sind bestimmte Aufgaben und Verantwortlichkeiten für den zuständigen und entsprechend qualifizierten Stakeholder verbunden. Ein am Güterstraßenbahntransport beteiligtes Unternehmen, ist jedoch nicht zwangsweise auf nur eine Rolle festgelegt. Es kann mehrere Rollen in verschiedenen Domänen ausüben. Die Domänen kennzeichnen sich durch eine starke Vernetzung untereinander. Der Fokus dieser Veröffentlichung liegt auf der Domäne der Transportkunden und dabei insbesondere auf den Verladern und Empfängern. Ziele und Herausforderungen der Stakeholder Die Stakeholder in einem Projekt verfolgen nicht in jedem Fall ein kollektives Interesse. Im Gegenteil sind die verfolgten Ziele teilweise konträr [30]. Um ein System entsprechend zu gestalten, ist es daher notwendig, sich den Zielen und Konflikten innerhalb und zwischen den einzelnen Domänen bewusst zu sein. Tabelle 1 erhebt in Spalte zwei die primären Ziele der internen Stakeholder bezogen auf im System Güterstraßenbahn stattfindende Transportvorgänge. Die aufgeführten Erkenntnisse sind aus Gesprächen mit den aufgeführten Stakeholdern im Kontext des Projekt LogIKTram, sowie aus Sekundärliteratur abgeleitet [31-34]. Aus den Zielen abgeleitet sind in Spalte drei mögliche Konflikte aufgeführt, die aus konträren Zielsetzungen der Stakeholder resultieren. Geringes Nutzungsinteresse wurde unter den Stakeholdern Spediteur, Verlader und Empfänger als potenzieller Konflikt identifiziert. Dies kann verschiedene Ursachen haben, wie beispielsweise das Auffassen des Angebots einer Güterstraßenbahn als Konkurrenz zum eigenen Angebot oder fehlende Anreize. Eine Güterstraßenbahn kann also nicht nur mit dem Argument einer höheren ökologischen Nachhaltigkeit existieren, sondern muss bei rein ökonomischer Betrachtung für die logistischen Stakeholder einen echten Mehrwert bieten, der auch die Risiken und Kosten eines Modalwechsels übersteigt. Eine Maßnahme sollte deshalb darin resultieren, die Stakeholdergruppen konstant in die Konzipierung mit einzubeziehen. Dies wirkt einer Distanzierung vom Nutzer entgegen und trägt dazu bei, Anpassungsbedarfe in den Prozessen der jeweiligen Stakeholder frühzeitig zu identifizieren. Eine weitere Ursache für die fehlende Motivation zum Wechsel stellt die Komptabilität zu bestehenden technischen Systemen und Prozessen der Transportkunden dar. Alle potenziellen Transportkunden nutzen bereits jetzt IT-Systeme und Geschäftsprozesse, um ihrem Geschäftszweck nach- Domäne Stakeholder Ziele Mögliche Konflikte Transportdienstleister Bahnverkehrsunternehmen Fahrplaneinhaltung, stabiler Verkehrsfluss, Sicherheit und Unfallvermeidung, hohe wirtschaftliche Effizienz, keine Beeinträchtigung des Personenverkers, Anschlusssicherung, planmäßiger Fahrzeugumlauf, zuverlässige Nutzbarkeit der Fahrzeuge Zusätzlicher Güterverkehr auf dem Streckennetz wird als Sicherheitsrisiko eingeschätzt, Wechselwirkung zwischen Güterund Personenverkehr wird als Beeinträchtigung aufgefasst, Investitionen in Infrstruktur notwendig, Unsicherheit ob Angebot nachgefragt wird Spediteur Sicherheit, Qualität des Angebots steigern, hohe wirtschaftliche Effizienz, Marktanteile und Transportvolumen ausbauen, Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen, Reduktion des Fahrermangels Neuer Transportmodus wird als Konkurrenz zum eigenen Angebot wahrgenommen (wenn eigener Fuhrpark vorhanden), zusätzlicher Aufwand um eigene Systeme güterstraßenbahnkompatibel zu machen, Prozessänderungen notwendig (Fokus bislang auf Straßenverkehr), Befürchtung von Mehrkosten, Unsicherheit ob Angebot nachgefragt wird Fuhr unternehmer Kosteneffizienter Transport, sicherer Transport der Waren, zeitorientierte Einhaltung der Fahrpläne, konstante Prozessabläufe, stabiler Verkehrsfluss Neuer Transportmodus wird als Gefährdung des eignen Arbeitsplatzes aufgefasst, Akzeptanzhemnise durch veränderte Prozessabläufe Lastenradbetreiber Stabiler Verkehrsfluss, Sicherheit und Unfallvermeidung, zuverlässige Nutzbarkeit der Fahrzeuge, hohe wirtschaftliche Effizienz, Fahrzeugflotte auslasten, Emissionen durch innerstädtischen Verkehr reduzieren Waren nicht lastenradkompatibel Transportkunden Verlader Einhaltung von Lieferterminzusagen,Transpo rtkosten reduzieren, Emissionsbilanz verbessern, unkomplizierte Nutzung der Dienstleistung, flexibles Abholzeitfenster einfache Datenübermitlung, Standards einhalten, Komptabilität der Dienstleistung zu den eigenen ERP Systemen, Planungsprozesse automatisieren Änderungen an den unternehmensinternen Prozessen notwendig, Erwartung höherer Kosten im Vergleich zu konventionellen Transporten Empfänger Verlässliche Lieferterminzusage, Transportkosten reduzieren, Emissionsbilanz verbessern, transparente Informationslage über den aktuellen Status, Standards einhalten, Komptabilität der Dienstleistung zu den eigenen ERP Systemen, Planungsprozesse automatisieren Bedenken, dass eine Änderung der Transportmodalität zu längeren Lieferzeiten führt, fehlende Motivation zum Wechsel Ladungseigentümer Warenwert beibehalten, unkomplizierte Nutzung der Dienstleistung Bedenken, dass erhöhte Anzahl an Schnittstellen zu Mehraufwand bei der Schadensregulierung führt Tabelle 1: Ziele und Konfliktpotenziale der Stakeholder einer Güterstraßenbahn Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 49 Wissenschaft LOGISTIK zugehen. Die Einbindung dieser Systeme und Prozesse stellt eine Herausforderung für die Gestaltung eines Güterstraßenbahnsystems dar. Anforderungen der Transportkunden Die drei untersuchten Unternehmen - aus den Branchen Kurier-Express und Paketdienstleistung, Stückgutspedition sowie Lebensmittelhandel - sind in die Domäne der Transportkunden einzuordnen. Die Branchen wurden aufgrund der heterogenen Ausprägung ihrer Anforderungen und deren Bedeutung für die Transporte in der Modellregion ausgewählt. Der Transportkunde beauftragt die Transportleistung an den Transportdienstleister. Nachfolgend werden die Begriffe Quelle und Senke für Startort und Destination einer Warensendung verwendet. Im Rahmen dieser Betrachtung wird, ähnlich wie beim Kombinierten Verkehr, die Anlieferung einer Warensendung an die Güterstraßenbahn als Vorlauf bezeichnet. Die Zustellung von der Güterstraßenbahn an den Empfänger wird als Nachlauf bezeichnet. Kurier-, Express und Paketdienstleistung (mit Fokus Paketdienstleistung) Die Besonderheit der Paketdienstleistung liegt in der extrem flächigen Verteilung der Senken mit wechselnden Empfängeradressen. Schwerpunkte bilden sich mit der Besiedlungsdichte der Flächen, sowie bei hohem Gewerbeaufkommen, wie beispielsweise in Einkaufszentren oder in Gewerbegebieten. Die Transportquellen hingegen sind in der Regel punktuell, seien es die Verteilzentren der Paketdienstleister oder in Gegenrichtung die Sammelpunkte wie Paketshops oder gewerbliche Versender. Die verwendeten Ladeeinheiten sind ausschließlich Pakete mit einem maximalen Gurtmaß von 300 cm sowie einem aus ergonomischen Gründen maximalen Gewicht von 31,5 kg pro Stück. Es handelt sich um Kartonagen, welche nicht gegenüber Witterungseinflüssen resistent sind. Ein geringer Anteil der Paketsendungen entfällt auf Gefahrgüter und Lebensmittel. Diese werden gesondert in dafür geeigneten Verpackungen transportiert, zum Beispiel mit passiver Kühlung. Eine Bündelung der Pakete zum Transport zur Quelle oder zur Senke erfolgt in Rollgitterboxen, sogenannten Corletten, oder lose in Wechselbrücken. Das untersuchte Unternehmen verfügt derzeit über keinen Gleisanschluss. Diese Situation ist auf einen Großteil der Paketzentren übertragbar und erfordert somit einen Vorlauf von der Quelle (Paketumschlagzentrum) zu einem Umschlagspunkt auf die Güterstraßenbahn. Zeitlich besteht die Anforderung, das Paketdepot nach der morgendlichen Sortierung schnellstmöglich zu räumen, in der Regel bis spätestens 10: 00 Uhr. Ein kontinuierlicher Abtransport der Pakete über den Tag hinweg ist mit den aktuell vorherrschenden Prozessen nicht vereinbar. Eine geringe Anzahl an Paketen entfällt außerdem auf Expresslieferungen, welche bis 10: 00 bzw. 12: 00-Uhr beim Empfänger angeliefert werden müssen. Stückgutspedition Die Verteilung der Senken des untersuchten Unternehmens aus dem Bereich Stückgutspedition ist flächig. Es besteht somit eine Vergleichbarkeit zur Paketdienstleistung, wobei die Anzahl an Versendern und Empfängern geringer ist und die Menge pro Stopp in der Regel größer ist. Der Fokus der Senken typischerweise Gewerbegebieten und weniger im Innenstadtbereich. Die Versender und Empfängeradressen sind weitestgehend gleichbleibend. Die Ladeeinheiten sind sehr heterogen in Form und Eigenschaft. Dies sind zum Beispiel Paletten in unterschiedlichen Abmessungen, Langgut, Rollen und Fässer. Die Ladeeinheiten sind in der Regel nicht wettergeschützt verpackt nicht durchgängig stapelbar und nicht durchgängig auf standardisierte Ladungsmaße im Verteilverkehr zu reduzieren. Ein geringer Anteil der Sendungen entfällt auf Gefahrgüter. Die Ladetechnik zum Handling der Waren (meist Gabelstapler) wird bei Transport mitgeführt, da die Empfänger häufig nicht über entsprechende Ladetechnik verfügen. Das untersuchte Unternehmen verfügt über einen Gleisanschluss. Diese Voraussetzung ist nicht als Standard auf weitere Stückgutspediteure übertragbar. Es ist deshalb davon auszugehen, dass ein Vorlauf zur Güterstraßenbahn notwendig ist. Zeitlich ist eine Auslieferung der Sendungen aus dem Logistikzentrum aufgrund der Nachtsprungsperre nicht vor 6: 30 Uhr möglich. Es besteht außerdem eine Expressbuchungsoption mit garantierter Zustellung bis 10: 00 bzw. 12: 00 Uhr. Lebensmittelhandel Die Senken des untersuchten Unternehmens verteilen sich in der gesamten Region. Es handelt sich um gleichbleibende Versender- und Empfängeradressen. Die Quelle der Warensendungen ist das Logistikzentrum des entsprechenden Unternehmens, die Senke besteht in den Filialen in der zugeordneten Region. Die Lebensmittel sind in Corletten, auf Europaletten oder auf Düsseldorfer Paletten gebündelt und in der Regel gestretcht. Die Waren sind Trockenware, Kühlware (7 Grad) und Tiefkühlware (-24 Grad) sowie offenes Obst und Gemüse in Kartonagen. Der Anteil der Kühl- und Tiefkühlware beträgt 55 % bis 60 %. Es bestehen hohe Anforderungen an den Transport, beispielsweise aus IFS, HACCP und allgemein der Lebensmittelgesetzgebung. Kühlketten müssen strikt eingehalten werden, der Eintrag fremder Stoffe muss ausgeschlossen sein. Menge pro Empfänger Kleinstmenge pro Empfänger Geringe Menge pro Empfänger Große Menge pro Empfänger Zeitlicher Anforderungen Expressbelieferung Räumung Depot zu bestimmten Zeitpunkt Nachtsprungsperre Tabelle 2: Morphologischer Kasten der Transportanforderungen Eigene Darstellung Kategorie Ausprägungen Anbindung Versender Ohne Gleisanschluss Mit Gleisanschluss Verteilung Empfänger Flächig veteilt mit wechselnden Adressen Flächig veteilt mit gleichbleibenden Adressen Art der Ladeeinheit Paketge Europoolpaletten Corletten Sondergrößen Eigenschaft des Ladeguts Wetterbeständigkeit Gefahrgüter Tiefkühlwaren Kühlwaren Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 50 LOGISTIK Wissenschaft Das untersuchte Unternehmen verfügt nicht über einen Gleisanschluss. Es besteht jedoch ein Umschlagpunkt in der Nähe. Diese Situation ist auf andere Händler zu übertragen, impliziert jedoch die Notwendigkeit eines Vorlaufes. Zeitlich besteht die Anforderung, die Filialen einmal täglich (vorzugsweise in der Nacht oder am Morgen) mit einer größeren Menge an Waren zu beliefern. Die Filialen werden bei großer Absatzmenge oder aufgrund von speziellen Produktanforderungen maximal zweimal täglich beliefert. Übertragung auf das logistische Konzept einer Güterstraßenbahn Das Logistikkonzept einer Güterstraßenbahn soll sich stark an den aus den Transportszenarien erhobenen Anforderungen orientieren. Die Anforderungen können in sechs Einflusskategorien zusammengefasst werden. Die Einflusskategorien sind in einem morphologischen Kasten in Tabelle 2 (Spalte 1) aufgeführt. Die Szenarien Entsorgung und Leergutrückführung weisen andere Eigenschaften auf und werden in dieser Ausarbeitung nicht betrachtet. Ein möglichst breites Angebot, um die in Tabelle 2 dargestellten Ausprägungen abzudecken, entsteht durch einen modularen Aufbau des logistischen Konzepts. Zunächst werden Anforderungen des potenziellen Kunden anhand des in Tabelle aufgeführten morphologischen Kastens eingeordnet. Daraufhin werden die Transportspezifikationen eines repräsentativen Transportvorgangs erhoben. Basierend auf den Anforderungen und Transportspezifikationen wird nun aus dem Lösungsraum des Güterstraßenbahntransports eine Transportdienstleistung konfiguriert. Der Lösungsraum einer Güterstraßenbahn besteht aus sechs Modulen. Bild 2 stellt die Struktur des Logistikkonzeptes dar, wobei links die Transportspezifikationen eines Kundenauftrages dargestellt werden. Diese gehen mit den ermittelten Transportanforderungen einher. Auf der rechten Seite werden in Bild 2 die sechs Module zur Konfiguration einer Transportleistung dargestellt. Jedes Modul enthält verschiedene Detaillierungsstufen. Die Module beschreiben alle Parameter einer Güterstraßenbahndienstleistung und sind aus einer Analyse der bestehenden ÖPNV Dienstleistungen sowie bestehender Transportdienstleistungen hervorgegangen. Beispielhaft für die Module des Logistikkonzeptes zeigt Bild 3 die Module Transportmodus und Prozess mit deren jeweiligen Ausprägungen. Der Transportmodus beschreibt, in welcher Form Güter über das Personennetz transportiert werden. In diesem Modul sind drei Varianten denkbar. Die erste Variante ist eine reine Güterstraßenbahn, welche eigenständig und unabhängig von Personenverkehrslinien auf dem Straßenbahnnetz agiert. Die zweite Variante stellt einen gekoppelten Verband zweier Waggons aus Personenstraßenbahn und Güterstraßenbahn dar, welcher gemeinsam anhand der Personenverkehrslinien durch das Netz navigiert. Die dritte Variante besteht aus einer gemischten Güter- und Personenstraßenbahn, in der Fahrgäste und Transportgut in getrennten Abteilungen in einem Fahrzeug befördert werden. Das Modul Prozess gliedert sich nach der Art der Verkehre (Direktverkehr und gebrochener Verkehr) sowie die Art der Beladung (kundenindividuelle Beladung und gemischte Beladung). Der Direktverkehr stellt eine direkte Fahrt zwischen Be- und Entladeort der Güterstraßenbahn dar, wogegen der gebrochene Verkehr über mehrere Umschlagspunkte in einem verknüpften Netz von Güterstraßenbahnfahrten erfolgt. Bei einer gemischten Beladung werden die Waren verschiedener Kunden in einer Güterstraßenbahn transportiert. Die kundenindividuelle Beladung hingegen setzt ausreichende Mengen eines einzelnen Kunden für die Transportkapazität mindestens einer dedizierten Güterstraßenbahn voraus. Für die weiteren Module des Logistikkonzeptes wurden jeweils Varianten definiert. Je nach gegebenen Kundenanforderungen und Transportspezifikationen aus dem entsprechenden Anwendungsfall kann aus den in den Modulen verfügbaren Varianten eine Kombination und somit eine Transportleistung gebildet werden. Zwischen den Ausprägungen der Modulen bestehen technische Abhängigkeiten, sie können also nicht völlig frei gewählt werden. Zum Beispiel erfordert die Ladeeinheit Palette als Belademethode ein passendes Flurförderge- Bild 2: Modulares Logistikkonzept einer Güterstraßenbahn Eigene Darstellung Bild 3: Detaillierung der Logistikmodule Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 51 Wissenschaft LOGISTIK rät (meist ein Gabelstapler) sowie Fahrzeuge und Umschlagplätze, die einen barrierefreien Umschlag über mit dem stufenfreien Fahrzeugboden höhengleichen Rampen erlauben. Diskussion Die Logistikkonzepte bisheriger Güterstraßenbahnvorhaben sind auf die Erfüllung eines einzelnen, gleichbleibenden Transportbedarfes ausgelegt. Sie sind auf diesen einzelnen Fall sehr gut angepasst, können jedoch darüber hinaus gehende Kundenanforderungen und andere Transportszenarien nur schwer in das logistische Konzept integrieren. Eine modular konfigurierbare Transportleistung bietet gegenüber einem starren Transportsystem den Vorteil, dass der Kundennutzen maximiert werden kann, indem verschiedene Transportszenarien in einem Güterstraßenbahnsystem abgedeckt werden können. Durch die modulare Struktur des Konzeptes kann ein differenziertes Leistungsangebot geschaffen werden, welches dank eines Baukastenprinzips wirtschaftlicher als Einzellösungen umsetzbar ist. Dies mindert die Wechselhemmnis für potenzielle Kunden. Es wird zudem erleichtert, fortlaufend neue Nutzer an das System anzuschließen. Des Weiteren kann die Auslastung der Güterstraßenbahn über die Mischung verschiedener Transportszenarien optimiert werden und somit ein dauerhaft wirtschaftlicher Betrieb eher sichergestellt werden. In der Studie wurden die Transportanforderungen innerhalb einer Fallstudie mit drei Fällen aus verschiedenen Branchen erhoben. Die Methode der Fallstudie zeigt eine detaillierte, jedoch eingeschränkte Sicht auf einzelne Fälle. Um die Erkenntnisse dieser Studie zu validieren, ist eine empirische Datenerhebung notwendig. Eine Ausweitung in andere transportintensive Sektoren erscheint zudem sinnvoll. Daraus kann eine Ergänzung der Anforderungen im morphologischen Kasten hervorgehen. Insbesondere die Transportbedarfe produzierender Unternehmen (Zulieferung von Rohstoffen und Abtransport von Halbfertig- und Fertigwaren) sollten fokussiert werden. Die Umsetzung eines modularen Logistikkonzeptes ist aufwändiger als ein Logistikkonzept, welches sich lediglich auf einen Anwendungsfall fokussiert. Um die Möglichkeit der Umsetzung durch einen Transportdienstleister zu prüfen, sollten weitere Erkenntnisse durch Interviews gesammelt werden. Zudem muss ein tragfähiges Betreibermodell entwickelt werden, welches die vielfältigen Schnittstellen berücksichtigt. Zusammenfassung Die vorliegende Studie geht der Frage nach, welche logistischen Anforderungen an eine Güterstraßenbahn aus Perspektive der Kunden bestehen und wie diese in ein logistisches Konzept integriert werden können. Die Literaturrecherche brachte das Ergebnis hervor, dass bestehende Güterstraßenbahnkonzepte auf einen einzelnen Nutzer fokussiert sind und somit konventionell betriebene Fahrzeuge nicht großflächig substituieren können. Um verschiedene Nutzer in ein System einzubinden, müssen deren Anforderungen bereits während der Konzeption einer Güterstraßenbahn berücksichtigt werden. Die Betrachtung der an einer Güterstraßenbahn beteiligten Stakeholdergruppen hat fünf Stakeholder-Domänen aufgezeigt, von welchen die Domäne der Transportkunden (Empfänger, Verlader und Ladungseigentümer) in dieser Studie fokussiert wurde. Geringes Nutzungsinteresse wurde als wesentliches Hindernis in der Domäne der Transportkunden identifiziert. Die mangelnde Flexibilität bestehender Systeme sowie die Komptabilität zu eigenen IT-Systemen und Prozessen ist die Ursache hierfür. Dies bestärkt die Bedeutung einer Anforderungsanalyse aus logistischer Perspektive, um ein werthaltiges Angebot für die potenziellen Kunden zu schaffen und somit die Attraktivität einer Güterstraßenbahnlösung zu steigern. In einer multiplen Fallstudie wurden drei Unternehmen aus den Branchen Paketdienstleistung, Stückgut und Lebensmittelhandel analysiert. Dabei konnten sechs Einflusskategorien auf die Gestaltung der Transportdienstleistung mit jeweils zwei bis vier Ausprägungen identifiziert werden. Aufgrund der Heterogenität der Anforderungen wurde ein modulares Logistikkonzept bestehend aus sechs Modulen vorgeschlagen. Anhand der Transportanforderungen sowie der Transportspezifikationen der Empfänger kann eine kundenindividuelle Transportdienstleistung gebildet werden. Die Möglichkeit zur Konfiguration bietet den Vorteil, dass anhand weniger Variablen eine Vielzahl an Kombinationen nach dem Baukastenprinzip gebildet werden kann. Zukünftige Forschung sollte sich auf die tiefergehende Analyse von Transportanforderungen in den drei untersuchten Branchen sowie auf die Untersuchung weiterer Branchen und insbesondere produzierender Unternehmen fokussieren. Im weiteren Projektverlauf werden die gewonnenen Ergebnisse aus den Fallstudien validiert. Anhand der Praxiserkenntnisse kann daraufhin das modulare Logistikkonzept weiter verfeinert werden. ■ Die vorliegende Veröffentlichung wurde im Rahmen des Projektes LogIKTram - Logistikkonzept und IKT-Plattform für stadtbahnbasierten Gütertransport angefertigt. Das diesem Bericht zu Grunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) unter dem Förderkennzeichen 01ME20008D gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. 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Projektmanager Forschungsprojekt LogIKTram, Hochschule Offenburg jonas.ziegler@hs-offenburg.de Urban Mobility Days 2022 20-22 September 2022: Brno (Czech Republic) & Online Moving people and goods more sustainably Register here: www.eumd.org #UMD22 #UrbanMobility Urban-Mobility-Days-AD-EUROPEAN-ENERGY-INNOVATION.indd 1 Urban-Mobility-Days-AD-EUROPEAN-ENERGY-INNOVATION.indd 1 07.06.2022 16: 06: 08 07.06.2022 16: 06: 08 INTERNATIONAL Rail technology Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 54 Lightweight design of the Extended Market Wagon An innovative freight wagon developed in Fr8Rail 4, a-Europe’s Rail project Lightweight, Freight, Europe’s Rail, Fr8Rail The Extended Market Wagon is a design concept for an advanced lightweight freight wagon and has been developed as part of the Fr8Rail 4 project in Europe’s Rail. Fr8Rail 4 is focused on improving the efficiency and capacity of rail freight through the use of modern technologies, design strategies and operational concepts. Using tools such as topology optimizations and FEM structural analysis, as well as-the incorporation of design elements focused on the use of the DAC and single wheelset running rear, a new, innovative lightweight freight wagon design has been achieved. David Krüger, Christian Gomes Alves, Nicolai Schmauder, Mathilde Laporte, Robert Winkler-Höhn, Gerhard Kopp T he Extended Market Wagon (EMW) is a design concept for an advanced lightweight freight wagon and has been developed as part of the Fr8Rail 4 project in the Shift- 2Rail IP-5 programme, now subsumed into the Europe’s Rail Joint Undertaking. Fr8Rail 4 is focused on improving the efficiency and capacity of rail freight through the use of modern technologies, design strategies and operational concepts. For the Extended Market Wagon, developed in concert with partners in the Competitive Freight Wagon (CFW) consortium, this means lightweight wagon frame and bogie structures, aerodynamic cladding, advanced onboard telematics, and a modern operating strategy designed to compete with road freight transportation [1]. Train and freight handling are designed to be highly automated, with the status of the train and its systems being electronically monitored and the securing and release of the transported containers being fully remotely operable. The EMW, as the concept was developed in the course of the previous Fr8Rail project phases, is planned to be operated as a block train of permanently coupled wagon pairs offering rapid transportation of swap bodies and containers on closed loop or point-topoint routes between intermodal terminals and other customers. The vehicle concept itself consists of a two-axle wagon with a specific container configuration, as shown in Figure 1. According to the requirements set out in the Fr8Rail project, the wagons are compatible with the G2 profile, resulting in a loading height under 1,000 mm in order to transport 2.9 m tall high cube swap bodies. The selection of the loading level influences the design of the concept significantly, since the wheelset dimension and also coupling height are also affected by this parameter. The German Aerospace Center (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, DLR) is responsible for accommodating these requirements and specifications in the course of its structural implementation of the full-scale demonstrator. A primary focus of the DLR’s Institute of Vehicle Concepts is the conceptualization, detailed design and hardware realization of the structural components of the EMW. These components include the frame of the wagon, the new type of single-wheelset bogie designed specifically for it, and the structural components required to connect these assemblies and form a fully functional freight wagon. In order to arrive at a structurally optimized lightweight design, models of the available design envelopes for the wagon and bogie frames are generated and discretized in a pre-processor before boundary conditions and the relevant masses and load cases are applied in accordance with EN 12663-2 [2]. In the course of a finite-element (FE) based topology optimization, multiple load cases are applied to the model and the stress/ strain distributions in the design volume are calculated. According to these results, the density of more highly stressed elements is increased and the density of less stressed elements is reduced. This process is repeated through several iterations until the boundary conditions set for this optimization are fulfilled and at the same time an Figure 1: Dimensioned conceptual view of the EMW All figures: Project team Rail technology INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 55 optimum mass is achieved. The optimization goal of the solver is to minimize the mass while taking local deformations and global stiffness into account (Figure 2). This process is carried out separately for the wagon and bogie frames, with the results of the topology optimizations forming a load-path adapted skeleton according to which a detailed sheet metal design is elaborated under consideration of manufacturability, cost and durability. These demands on the wagon structure, which are often at odds with one another, require an iterative methodology of designing parts, performing FE analyses and optimization runs and reworking the design, finally resulting in the car body structure shown in Figure 3 [3]. The coupling loads are transferred to the solebars on both sides of the wagon in order to achieve a continuous flow of forces with the upper and lower plates in the running gear areas. The automatic container locks are integrated into the solebars on both sides and mounting positions for integrating the necessary electronics in wagon onboard units (WOBU) are attached to the web of the solebar. Of particular note are the angled corners of the wagon frame, resulting from the lack of a traditional buffer beam. As the swap bodies overhang their corner castings by almost a metre and the wagon is designed exclusively for use with centre buffer couplers like the forthcoming European Digital Automatic Coupling (DAC), the structure of the wagon can be truncated at the corners in order to save weight. The design of the wagon frame weldment, which was calculated and detailed in collaboration with Hörmann Vehicle Engineering GmbH, uses conventional materials such as S355 J2 but optimizes the contours of the structure, material thicknesses and weight-reduction cut-outs in order to arrive at a minimal mass. Sheet metal forms the bulk of the structure, with machined parts incorporated at specific locations, for instance in order to accept the air springs and running gear linkages. For the demonstrator, it was necessary to machine these parts from solid stock. In a later series implementation, casting would likely be a more cost-effective option and potentially offer additional weight saving potential. For the bogies, the special requirements of the EMW necessitated an entirely new design compared to existing bogie frames. As previously described, the wagon’s low loading height (under 1000 mm in order to transport high-cube swap bodies in the G2 loading gauge) limits the wheel diameter to only 850 mm. This, in addition to the structural requirements of the wagon and the planned operating speed of 140 km/ h, required the incorporation of wheelmounted disc brakes along with their associated brake calipers. To meet these requirements with improved ride quality while still reducing wear and noise, the new bogie was conceived with a two-stage suspension and a kinematic design that enables large steering angles at low speeds while still remaining stable at high speeds and over a wide range of conicities. To incorporate all these features, a topology optimization was carried out in order to identify a lightweightoptimized structure for the bogie frame (Figure 4). A detailed, manufacturable design for the bogie frame was generated based on this topology optimization (Figure 5) and analyzed in cooperation with Prose Engineering. For the FE-based strength analysis, all required loads from EN 13749, the damper loads, hard stop loads as well as special situations such as lifting and failure scenarios were considered. To evaluate the running characteristics of this new type of bogie and ensure good driving stability and derailment safety, multi-body simulations were carried out under consideration of the given use case and EN 14363. The simulations of an unloaded wagon showed highly stable running behaviour at all speeds up to 200 km/ h and thus similarly good behaviour for the loaded wagon at its maximum operational speed of 140 km/ h. In order to ensure these running characteristics, the suspension decouples the wheelset from the bogie frame through rubber primary springs, minimizing unsprung mass and dynamic wheel loading. In the secondary stage, the connection between the bogie and wagon frames is established through four air springs, two traction rods and both vertical and yaw dampers. The air suspension offers the lowest possible accelerations for the goods to be transported and also allows for the ride height to be varied according to operating conditions and needs. The two traction rods, depicted in orange in the lower left of in Figure 5, transfer the Figure 2: Structural topology optimization results for the EMW wagon frame. Above, detail view of the bogie area. Below, side view of the entire frame, showing optimized bracing in the web of the solebar. Colours denote relative densities of the finite elements. Views not to scale. Figure 3: The complete finished wagon frame of the EMW INTERNATIONAL Rail technology Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 56 longitudinal and lateral forces between the wagon and the bogies, for example with longitudinal accelerations of 3g. The resulting equivalent force in the axis of the rods is approximately 56 kN. In order to reduce the mass of the rods, a topology optimization was also carried out for these components and their design carried out accordingly. The diagonal arrangement of the traction rods forms a virtual pivot point in the middle of the chassis frame and thus enables a load-independent radial steering of the wheelset in small radius curves. At high speeds, on the other hand, two yaw dampers limit this yaw movement and thus ensure safe running. The bogie frame is made of S355 J2 and has a mass of approximately 490 kg. The four air springs mounted at the corners of the frame are regulated with separate level control systems, with roll moments between wagon and bogie frame being resisted by a mechanical stabilizer mounted on the wagon frame. Moments arising from brake use are resisted purely by the air springs, as their stiffness and distance along the length of the wagon are sufficient to limit any rotation of the bogie frame about the wheelset axis to an insignificant level. With all components and systems in place, the complete bogie has a mass of approx. 2,820 kg. Using tools such as topology optimizations and FEM structural analysis, as well as the incorporation of design elements focused on the use of the DAC and single wheelset running rear, a new, innovative lightweight freight wagon design has been achieved (Figure 6). Thanks to structural optimization and a pragmatic focus on lightweight design, the EMW has a tare weight of only 12,000 kg [3]. In relation to its length of 16.84 m, the car is 19.6 % lighter than the comparable LGS 580 [3, 4] and 6.7 % lighter than the 5L next [5]. The presented lightweight mechanical design approach of the EMW is an important enabler for reductions of greenhouse gas emissions in the freight transportation sector. A low vehicle mass, high payload and high specific energy efficiency with reduced aerodynamic drag, together with technologies that enable highly flexible operation and a high degree of automation, will allow a new generation of freight wagons to complement current rail freight offerings while promoting the decarbonization of the freight sector through the displacement of fossil-fuelled road freight traffic. ■ This project has received funding from the Shift2Rail Joint Undertaking (JU) under grant agreement No 101004051. The JU receives support from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme and the Shift2Rail JU members other than the Union Figure 4: Topology optimization result for the EMW bogie frame Figure 5: Finished single-wheelset bogie design for the EMW. The bogie frame in blue connects all components and transfers forces to the two orange traction rods (lower left), which converge toward the centre of the bogie, forming a virtual pivot point. Figure 6: Finished design for the EMW in display configuration, shown with partial aerodynamic cladding installed Rail technology INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 57 REFERENCES [1] Bänsch, R., et al. (2022): CFW - Das Schienengüterverkehrskonzept von morgen. In: Eisenbahningenieur, Issue 9, September 2022. [2] EN 12663-1 Railway applications - Structural requirements of railway vehicle bodies - Part 1: Locomotives and passenger rolling stock (and alternative method for freight wagons), DIN e.V., 2010. [3] Kirkayak, L., et al. (2022): Lightweight Design Concept Methodology of the Extended Market Wagon: A Shift2Rail Project [Konferenzbeitrag]. In: World Congress on Railway Research 2022, Birmingham, UK, 06.-10. June 2022. 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Department Head, Institute of Vehicle Concepts, German Aerospace Center (DLR), Stuttgart (DE) gerhard.kopp@dlr.de Mathilde Laporte Research Associate, Institute of Vehicle Concepts, German Aerospace Center (DLR), Stuttgart (DE) mathilde.laporte@dlr.de Christian Gomes Alves Research Associate, Institute of Vehicle Concepts, German Aerospace Center (DLR), Stuttgart (DE) christian.gomesalves@dlr.de Nicolai Schmauder Research Associate, Institute of Vehicle Concepts, German Aerospace Center (DLR), Stuttgart (DE) nicolai.schmauder@dlr.de David Krüger Research Associate, Institute of Vehicle Concepts, German Aerospace Center (DLR), Stuttgart (DE) david.krueger@dlr.de FACING THE CHALLENGES OF MOBILITY Founded in 1949 - bound forward to face the challenges of tomorrow‘s mobility: With an editorial board of renowned scientists and an advisory board of directors, CEOs and managers from all transport industry areas, »Internationales Verkehrswesen« and »International Transportation« - the worldwide distributed English-language edition - rank as leading cross-system transport journals in Europe for both academic research and practical application. Rail and road, air transport and waterway traffic — »International Transportation« and »Internationales Verkehrswesen« stimulate a worldwide interdisciplinary discussion of the numerous defiances in mobility, transport, and logistics. The magazines are targeted at planners and decision makers in municipalities, communities, public authorities and transportation companies, at engineers, scientists and students. With peer-reviewed scientific articles and technical contributions the magazines keep readers abreast of background conditions, current trends and future prospects - such as digitalization, automation, and the increasing challenges of urban traffic. Read more about the magazines and the subscription conditions: www.internationales-verkehrswesen.de www.international-transportation.com INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN AND INTERNATIONAL TR ANSPORTATION »Internationales Verkehrswesen« and »International Transportation« are published by Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, D-Baiersbronn IV_Image_halb_quer.indd 1 IV_Image_halb_quer.indd 1 15.04.2018 19: 50: 55 15.04.2018 19: 50: 55 INTERNATIONAL Logistics Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 58 Bundling challenges in Hub-and-Spoke networks Focus on rail transport with a case of MegaHub in-Hannover-Lehrte Hub-and-Spoke, Intermodal transport, Rail-Rail transshipment A typical implementation of the Hub-and-Spoke (HS) structure in the rail system is the new rail-rail transshipment terminal, which facilitates the rapid and simultaneous transfer between different traffic flows. Based on literature and focus group interviews, this paper identifies the bundled tasks involved in implementing the HS structure at network and terminal levels and analyzes the potential challenges in terminal operations. Ralf Elbert, Hongjun Wu S hifting freight transport from road to rail and intermodal road-rail transport is an ambitious goal of the European Commission to reduce the greenhouse gas emissions in the transport sector [1]. In this context, Hub-and- Spoke (HS) system has been identified as an efficient way to attract low-volume demands over short distances [2], where the cargos for different origin-destination (OD) pairs could be consolidated to a large and longhaul train in a hub to realize transportation scale economies [3, 4, 5]. A sophisticated bundling between different traffic flows is required to enable the operation of such a complex system and ensure the efficient use of resources [6]. However, it is not an easy task to complete the overall bundling of all relevant traffic flows. In this paper, we will discuss the potential challenges in the bundling tasks of HS structure around a rail-rail and road-rail transshipment terminal, which enables the implementation of the HS structure in a rail system. As a result, we propose answering the following two questions: •• What bundling decisions are involved in- the implementation of the HS structure? •• What are the challenges in operating the rail transshipment terminal? To answer these two questions, this paper will systematically summarize the bundling-related decision problems based on a literature review, and will analyze the challenges in terminal operations of Mega- Hub in Hannover-Lehrte, a typical application of the rail transshipment terminal with hub function, through a focus group interview. Flow bundling around rail transshipment terminals In general, bundling refers to the process of combining traffic flows from different relations into a common train by sharing a part of the journey [7]. It usually happens in 3 basic network structures as illustrated in Figure 1: Line network, feeder/ fork network, and Hub-and-Spoke network [8]. Here in the line network and feeder network, the partly overlapped traffic flows and the traffic flows from the same origin region or to the same destination region, are bundled together in the overlapping paths [9]. In comparison, the center hub connects all directions with long-haul and large-capacity direct trains, each train loads the LU for different destinations and exchanges them with trains to other directions at the hub-[10]. The rail transshipment terminal is a critical connecting point on the rail network, it serves as a central hub connecting the traffic flows in different directions [9, 11]. Distinct from the traditional shunting systems with a hump or flat shunting yard, rail transshipment terminals consist of several parallel tracks to stop trains with loading units (i.e., containers, swap bodies, and semi-trailers) of different destinations, these loading units (LUs) could be transferred to their designated positions of next carrier by sorting facilities, i.e., gantry cranes and shuttle vehicles [6, 8]. According to the involved carriers for LU exchange, the rail transshipment terminals could be divided into rail-rail transshipment terminals and intermodal road-rail transshipment terminals [11]. The former refers to a new rapid transshipment in which the bundled traffic flows (trains) simultaneously appear at the terminal, this operation is also known as pulses or train bundles [6]. Most LUs move directly between trains without intermediate stacking (Figure 2a), so the transfer process could be sped up from one day to a few hours [10]. While most traffic flows via a road-rail transshipment terminal are bundled indirectly as shown in Figure 2b. It means that the exchange process between some traffic flows requires the participation of another subsystem such as the storage system [3] [7], this process always leads to an increasing path and time of movement [12, 13]. The direct exchange only appears when the bundled trucks are waiting at the truck lanes beside the specific container to be operated [8, 11]. Bundling planning on Hub-and- Spoke structure To identify the decision problems related to the planning process for the traffic flow bundling on the HS network and in hubs mentioned previously, a systematic literature review was conducted in the Science Direct and Scopus databases using the search strings (Hub-and-Spoke OR Transshipment) AND (rail OR railway OR intermodal transport). The review results were summarized at the network level and terminal levels. Logistics INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 59 Network-level bundling refers to the process of temporal and quantitative bundling of transportation services to ensure cargo flows arrive at their destination on time [7]. This process is always related to the topic “service network design problem (SNDP),” that is, optimally assigning transport services to bundles and optimally assigning cargo flows to services [5]. In many articles, the second step is referred to as a “multi-commodity flow problem” or a “cargo routing problem” [14]. Because there have been very few studies of the SNDP on Huband-Spoke (HS) networks focusing on railrail transshipment, while the majority have focused on liner shipping and combined transport, which could also be applied to the rail network because both have fixed schedules and capacities, the literature, including liner shipping, are also summarized in this section. Time and cost were the main decision factors in the assignment problem, so the minimization of total transit time [15] or total cost (can be transferred from maximization of profit) [2, 16] of LUs was the main optimization objective used in the literature. Some literature used a penalty and discount to describe late and early arrival [17, 18, 19], while some literature decided to cancel the order or increase carriers in the case of overcapacity [5]. The mode of transportation involved heavily influenced the decision strategy. The schedule and capacity of trains were always fixed and served as a hard constraint [15], while truck capacity has been commonly assumed to be unlimited [20], i. e., a truck is always available for an additional service due to its high flexibility, constantly a train is difficult to respond to uncertainties. At the terminal level, the trains via a railrail transshipment terminal have to be assigned to bundle slots of inbound and outbound flows to reduce split moves and revisits, it refers to another topic “transshipment yard scheduling problem” [12]. The number of the vertical and horizontal movements of sorting facilities could also be transferred to a minimization function of cranes’ total processing time [13]. This process was typically constrained by the terminal’s tracks and sorting capacity [12, 13]. Container delays were also considered, with all trains departing according to the fixed schedule and the delayed containers being required to wait at the terminal and be re-assigned to the train in the next circle [12]. Furthermore, reducing the total handling time by optimizing the movement path of LUs is also a trend in the studies for rail transshipment terminals [11]. This process refers to a series of decision problems such as: Determining the positions on outbound trains; assigning the operation area of cranes; determining the handling sequence [13]. Whereas most containers at road-rail transshipments terminal are handled in two spilt moves as shown in Figure 2b [11]. Reducing the handling time in the storage subsystem and increasing the direct move between trucks and trains were usually discussed, which in many studies related to “storage location decision” and “parking position assignment problem” for trucks and trains [11, 13]. Challenges in practical case: MegaHub in Lehrte MegaHub terminal is the first rail-rail transshipment terminal in Germany, which serves as an intermodal terminal for combined road-rail transport at the same time. It was already planned in the 1990s but officially became operational to the public in April 2021 [10]. MegaHub roles as a typical center hub in the Hub-and-Spoke network. As illustrated in Figure 3, five direct train bundles have been in operation via Mega- Hub in Lehrte until the end of 2021 [10, 21]. Each inbound direct train loaded the loading units (LUs) for different destinations and has been operated with a fixed circulation schedule and a fixed number of wagons. The trains meet at MegaHub only in a short bundle slot for LUs’ exchange [21]. A part of the LUs stays on trains and the remainder of the LUs must be transferred to other trains or trucks at MegaHub via semi-automated gantry cranes and Automated Guided Vehicles (AGVs). To identify potential challenges in the actual operations of the MegaHub, we investigated the actual and expected operational conditions of MegaHub using a focus group interview. It was held at the Mega- Hub in Lehrte on May 2021 with MegaHub’s relevant stakeholders, including the terminal operator, the intermodal operator Kombiverkehr and Kombiconsult, and the railway undertaking DB Cargo. The group interview lasted 6 hours and was attended by 3 researchers and 8 invited interview participants with expert knowledge of rail freight transport operations, handling processes, and operations data of the MegaHub. During the group interview, we gained a comprehensive understanding of operational processes and actual operations data in 2021 of the MegaHub from different participants’ perspectives. Some unclear information from the group interviews was clarified via follow-up communication with the participants. After the data collection, we analyzed and summarized the data from the perspectives of flow bundling on the HS network and in the hub and concluded the challenges in the actual operation of the MegaHub as follows. Line network Feeder network Hub-and-spoke network Flow of mixed destination Figure 1: 3 forms of traffic flow bundling on the network All figures by the authors Traffic flow A Traffic flow B TTrraaffffiicc ffllooww AA Traffic flow B Additional subsystem and transport cycle (split move) a. Direct bundling b. Indirect bundling direct move Figure 2: Direct and indirect bundling of traffic flow in hubs INTERNATIONAL Logistics Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 60 a. Rail-Road transshipment remains dominant Between 04-12/ 2021, a total of 1,855 trains drove to and from the MegaHub for LU exchanges, involving about 20,000 loading units. Approximately 40% of the LUs were shipped to the bundled terminal without transshipment. Two-thirds of transshipment flows were moved between trains and trucks, with rail-rail transshipment accounting for only one-third. Figure 4 depicts the proportional relationship between these three traffic flows. In terms of data, the MegaHub served more combined road-rail transport in 2021. The role of the central hub function in the rail network was not as significant as expected. This situation is related to the current route planning of trains via Mega- Hub. Intermodal operators stated that bundled trains would be more attractive to customers if they have a shorter transit time or a higher service frequency. However, improving the route of bundled trains remains a challenge. b. Imbalance of inbound and outbound flow Figure 5 depicts the proportionality of inbound and outbound traffic flow in the various bundles. There are apparent differences between inbound and outbound flows in different directions. In connection with Figure 3, an interesting finding about this assignment strategy is that the flow imbalance is more significant for the train bundles with distance imbalance of involved two journeys. The traffic volume between the MegaHub and Verona is more than three times the traffic volume between the MegaHub and Kiel, while the distance between the hub and Verona is about five times the distance to Kiel. Direct trains maintain near-full occupancy over the extra-long distance, lowering the average transportation cost along this section significantly. However, for the relatively short journey, much empty occupancy results in capacity waste and increased average transportation costs. The trade-off between these two parts remains a significant challenge for the flow allocation decision on a rail-based HS network. c. Relative low punctuality The delay problem in German rail freight transport is not new. In 2020, DB Cargo achieved a punctuality rate of 77.6 percent in Germany [22], whereas the punctuality of 5 train bundles via MegaHub is around 60 percent on average in 2021 and varies significantly by direction. The punctuality of direct trains between MegaHub and Rotterdam (and v.v.) is over 85 percent, but only Duisburg MegaHub in Hannover-Lehrte Lübeck Kiel München Verona Rotterdam Lovosice Ludwigshafen Scandinavia Hamburg Figure 3: Train bundles on MegaHub (up to the end of 2021) 41% 20% 39% 0 5000 10000 15000 20000 25000 Loading units Rail-Road transshipment Rail-Rail transshipment No transshipment Figure 4: Composition of loading unit flow operated on MegaHub in 2021 Duisburg DUSS Lübeck Skandinavienkai Hamburg Billwerder München Riem Kiel Verona Interterminal Ludwigshafen KTL Lübeck CTL Rotterdam Europoort Lovosice M e g a H u b 0 5000 Loading units Figure 5: Inbound and outbound flow for different train bundles via the MegaHub (04-12/ 2021) Logistics INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 61 around 30 percent between MegaHub and Lübeck Skandinavienkai (and v.v.). Delays can be caused by various factors, including technical failures, constructions, roadblocks, staff shortages, and delays caused by previous delays. Due to critical delays, simultaneous train arrivals are frequently impossible, implying that planned connections are no longer available. In such cases, arriving trains must choose between two scenarios: waiting, which causes further delays, and departing on time, which causes container backlogs at the hubs. d. Semi-automated sorting system MegaHub’s sorting system consists of semiautomated gantry cranes and AGVs between inbound and outbound tracks, with an annual transshipment capacity of 269,000 LUs [23]. Most LUs were directly handled by cranes and AGVs, and some stacking positions also stand in the crane’s operating area for temporary parking. This sorting system is supported by a special operation control system, which aims to minimize energy consumption and wear. It directs AGVs to automatically deliver LUs to the designated wagon, avoiding unnecessary crane movement, and optimizing the operation path and brake process between crane positions to achieve energy efficiency. However, the position selection decision is completed by crane drivers, this operation control system only provides suggestions of open positions for handling. Conclusion Through the literature-based and realworld case studies, we found that the bundling on a rail-based Hub-and-Spoke network revolves around two main points: synchronization and traffic imbalance. The trains on the HS network need to arrive at the hub as synchronized as possible, and the transshipment must be completed in a short time, which puts more pressure on the schedule bundling and the sorting process, as well as makes the trains being more sensitive to time delays. Nevertheless, the amount of rail freight demand varies from region to region, how to balance overloads and empty loads in bundles, and how to stimulate the switch from road to rail remains a challenge. ■ LITERATURE [1] European Commission (2020): Sustainable & smart mobility strategy. [2] Bell, M. G.H.; Liu, X.; Rioult, J.; Angeloudis, P. (2013): A cost-based maritime container assignment model. In: Transportation Research Part B: Methodological 58, pp. 58-70. [3] Alicke, K. (2005): Modeling and optimization of the intermodal terminal Mega Hub. In: Günther, H. O. (Ed.): Container terminals and automated transport systems. Logistics control issues and quantitative decision support. Berlin, Heidelberg: Springer, pp. 307-323. [4] Boysen, N.; Fliedner, M.; Kellner, M. (2010): Determining fixed crane areas in rail-rail transshipment yards. In: Transportation Research Part E: Logistics and Transportation Review 46 (6), pp. 1005-1016. [5] Lium, A.-G.; Crainic, T. G.; Wallace, S. W. 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DB. https: / / gruen.deutschebahn.com/ en/ measures/ megahub Ralf Elbert, Prof. Dr. Professor, Chair of Management and Logistics, TU Darmstadt (DE) elbert@log.tu-darmstadt.de Hongjun Wu, M.Sc. Research Associate, Chair of Management and Logistics, TU Darmstadt (DE) wu@log.tu-darmstadt.de Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Schliffkopfstrasse 22 | D-72270 Baiersbronn Tel.: +49 7449 91386.36 | Fax: +49 7449 91386.37 | office@trialog.de | www.trialog-publishers.de Let’s keep in touch editorsdesk@international-transportation.com advertising@international-transportation.com INTERNATIONAL Rail Freight Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 62 From trucks to tracks Promoting rail freight transport in emerging economies Emerging economies, Railway, Freight transport Freight rail is one of the most energy-efficient and least carbon-intensive way to transport goods. We look at the trends, goals, barriers and actions of selected emerging economies (India, China, Indonesia, Mexico) in this area. Is there government ambition and already progress for modal shifts from road? What is the role of climate protection and other policy objectives? Are barriers overcome with innovative approaches? Where does international technical cooperation come in all of this? And what common themes, patters or solutions emerge when comparing the country cases? Friedel Sehlleier, Tanya Mittal, Xuan Ling, Karen Martinez Lopez, Deepak Baindur R ailways are one of the most energy-efficient, safest, and least carbon-intensive- ways to- transport goods. As part of a balanced multimodal transport system, they support economic integration, competitiveness and trade. In most regions of the world, however, rail has either been losing market share to road freight over the past 10 to 20 years or has hardly changed, often despite government plans to shift more freight to rail. In Europe, a political renaissance for rail freight is underway, driven by the decarbonization agenda as well as by its resilient performance during the pandemic. Furthermore, shifting from road transport to rail or inland waterway is the most popular freight action in the national climate strategies submitted to the UNFCCC, according to the tracker of climate strategies for transport of the Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ) and the SLOCAT Partnership on Sustainable, Low Carbon Transport. This article illustrates key challenges and policy solutions in advancing intermodal freight transport, particularly in the context of emerging economies. The experiences of India, Mexico, China and Indonesia are reviewed in this regard. These countries cooperate with GIZ on strategies for greener freight transport and on putting their modal shift objectives into practice, with funding from the German government’s International Climate Initiative and from the Federal Ministry for Economic Cooperation and Development. The article highlights selected cooperation activities. China The Chinese government has strongly promoted the development of a multimodal freight transport system in recent years. A key element are the Multimodal Freight Transport Hubs (MFTH) that serve as connection between road, rail, rivers, sea and air. Railways are considered the backbone of the system in which other modes are integrated. They currently account for 9.5 % of all freight transport in China, compared to 74.5 % for road freight. A set of action plans provide the political foundation, including for example: the Source: GIZ Rail Freight INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 63 ‘Medium and Long-term Development Plan for the Logistics Industry (2014-2020)’, the ‘Action Plan for the Construction of Logistics Corridors (2016-2020)’, or the ‘National Logistics Hub Layout and Construction Plan’ etc. The latter was enacted in 2018 and aims to complete the construction of the multimodal transport system by the end of 2025. Advanced standardized intermodal facilities and equipment shall be widely used for mainline transport and regional distribution throughout China with a common set of rules and specifications, following the vision of “one single system” logistics. Up to 2022, over 40 MFTH have already been build (Figure 1). In addition, the railway infrastructure serving the hubs is advancing rapidly as the Ministry of Transportation along with other agencies supports over 100 port consolidation and transportation railroad projects. It is also reported that the service efficiency of the MFTH has been steadily improving through initiatives like express trains between certain hubs or double decker container trains. Moreover, multimodal transportation hubs are increasingly rich in service types and develop innovative intermodal solutions, e. g. rail-air connections for high-value goods. Multiple challenges remain however for developing the MFTH system. First, many constructions of the hubs and the transport networks are behind their planned schedule and thus the multimodal connectivity remains limited in many places. Second, there is a serious lack of multimodal transport operators who could integrate various transportation resources and assume full transportation responsibilities. Third, the exchange of information along the transport supply chain is far from seamless and efficient as a standard system could not yet be operationalised. There are many data islands. These further weaken the administration’s limited ability to evaluate the latest market dynamics and the MFTH’s service quality, or to plan further projects. To address the latter issue, the Sino-German Cooperation on ‘Low Carbon Transport’ project of GIZ China has supported the Transport Planning and Research Institute of MoT on a pilot project to “Establish & Implement an Evaluation System for MFTH Management in China”. Taking reference from international experience, it is designed to objectively evaluate the development status and service level of MFTH, to provide a scientific basis for the government’s decisions, to improve the service level of MFTH for enterprises, and eventually to promote China’s high-quality development of intermodal transport. The government is currently planning further action to establish an MFTH assessment system. Mexico Most of the Mexican rail services are freight-oriented. The network of 23,731 kilometers connects industry with ports and with the U.S. border. Less than 1 % is electrified. The main products transported by rail are corn, cement, containers and iron and steel for the automotive industry. Railways transport a significant 13.6 % share of freight in Mexico. They come third after road transport (56 %) and maritime transport (30 %), according to 2017 government figures which include international transports. Rail freight even slowly gained market share over the past three decades, yet it stagnated in recent years. The positive trend resulted from major rail reforms in the 1990s from a publicly run rail service to a rail system under private concessions, which made freight tariffs drop and boosted private investments in infrastructure and services. Mexico’s transport model, based on concessions, has favoured infrastructure development in the regions with the highest economic growth to the detriment of less developed areas. This, together with the lack of comprehensive long-term planning and criteria for the allocation of investment based on the needs of the population, has led in recent years to a disorderly growth of transport, deterioration of infrastructure and concentration on road transport as the main means of transport. There is an oligopoly of rail concessionaires who barely compete as they operate on separate corridors that are poorly connected. In addition, investments in infrastructure need a boost - basically no new tracks were built over the past two decades. To address underinvestment, the Mexican government launched an infrastructure development strategy 2020 to 2024 which includes a sectoral programme on transport. It aims to encourage the construction of railways for freight transport in areas with economic development potential to improve network connectivity in production centres and ports. In 2021, twenty-one passenger and freight rail projects were in different stages of development worth EUR 23 billion of investments, with many projects in the less developed Southeast. The strategy explicitly recognizes rail freight as an intervention that can cut CO 2 and air pollution and thus contribute to Mexico’s international climate goals. Mexico has pledged reduce a total of 48 Mt CO 2 eq by 2030 from the transportation sector. The NDC lack further details on freight sector action yet the need for a greener freight system is evident by the fact that close to 60 % of air pollutants in Mexico are caused by freight vehicles. To generate the conditions and incentives towards a multimodal freight market, the Ministry of the Environment and Natural Resources and the Ministry of the Communications, Infrastructure and Transportation cooperate with the GIZ Sustainable Transport Program in Mexico. The Ministry Figure 1: MFTH operation in China Source: UPS Figure 2: Bulk goods transport in Mexico Source: GIZ INTERNATIONAL Rail Freight Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 64 of Economy and the Railway Transport Regulatory Agency (ARTF) are also involved, especially for the development of regulations for quality infrastructure and good practices in the railway system. To highlight the benefits associated with rail, the National Private Transport Association and GIZ jointly developed a calculation tool for GHG emissions and air pollutants for freight transport. A pilot application of the tool for companies that use two major freight transport corridors from Mexico City to La Paz and to Mexicali demonstrated that road-rail intermodal transport emits about less 50 % CO 2 and around 30 % less air pollutants than road transport. With these results, the ANTP will promote modal shift to companies across Mexico. The tool also enables companies which already go intermodal to estimate their transport emissions and use the results for reporting and marketing. Mexico has committed internationally to reduce a total of 48 Mt CO 2 eq by 2030 from the transportation sector through its NDC. The NDC doesn’t contain further details on freight sector action, but the need for mitigation is evident by the fact that close to 60 % of air pollutants in Mexico are caused by freight vehicles. India The Indian Railways (IR) operates the 4th largest network in the world with 123,542 kilometres of tracks. By 2019, it had employed 1.3 million people becoming world’s eighth largest employer. About 9,146 freight trains runs daily on its network moving at a slow average speed of 24 kmph. Though, the rail freight traffic is increasing over the years, the sector is unable to uphold surge in freight share and facing a continuous decline since 1950 falling from 89 % to below 20 % of freight volume in 2020. Bulk cargo like coal, iron ore, cement, fertilizers and food grains make up 90 % of the transported commodities. Freight transport remains the major revenue earner for IR, at 64 % during FY19. The profits are used to cross-subsidise the passenger segment. Why shippers in India increasingly prefer road over rail-based transport can be seen from figure 3. The market perceives railways as too slow, too expensive, less reliable, and not well connected to other transport systems. The Government of India (GoI) aims to reverse the trend. India’s institution for policy planning Niti Aayog targets a freight modal share of 45 % by 2030. To achieve this, the GoI has substantially increased the annual capital expenditure for increasing rail capacity and improving rail infrastructure to EUR 625 billion by 2030 (which is 4- times the level in 2014). On top of that, India wants a 100 % electrified network of broad-gauge railway by the end of 2023 - and is on track to achieve that goal. To identify priority projects, IR announced the National Rail Plan (NRP) in 2020. It aims to create capacity that would accommodate growing traffic demand, and to increase efficiency and profitability of IR. Part of the plan are dedicated freight corridors with higher carrying capacity and speed that shall be constructed with private investments with fully electrified double stack container facilities. Building on the NRP, the Ministry of Commerce and Industry launched the GatiShakti National Masterplan for Multimodal Connectivity in October 2021. The masterplan has a huge EUR 1.2 trillion budget and is designed to integrate and coordinate the infrastructure projects of 18 ministries to break departmental silos, integrate various transportation modes and address issues relating to last mile and multi-modal connectivity. More recently, in December 2021, the Ministry of Railways came out with the “GatiShakti Multi-Modal Cargo Terminal” policy, aiming to establish 100 new terminals within three years. A National Logistics Policy is also under preparation, targeting to cut logistic costs from 14 % to 10 % of GDP. The Green Freight India Project by GIZ is assisting the Ministry of Commerce and Industry and logistics actors to make these plans work. It delivers knowhow on how multimodal logistical infrastructure is governed in Germany and in Europe, and it supports government initiatives with a potential to save CO 2 emissions from freight transport in India. One specific area of cooperation is the revitalization of Roll-on Roll-off (Ro-Ro) services where whole trucks are loaded on rail wagons and thereby achieve savings in travel time, truck maintenance costs and emissions. A pre-feasibility study for potential corridors for starting Ro-Ro services found that their currently limited commercial viability could be improved with dis- 0% 20% 40% 60% 80% 100% 120% Challenges Weightage Erstellt von: Seite 5 Low level of reliability Improper location of intermodal terminals Lack of door to door facility by single party Poor connectivity by road Lots of documentation and formalities Multiple handling High waiting time for full load No schedule for train to start High freight rates Poor availability of rakes/ wagons Freight tariffs not flexible Low technological skill in loading/ unloading High stoppage time during journey High waiting time at signals Less storage space Figure 3: Challenges in Rail Freight Movement Source: Stakeholder Survey by Tanya Mittal, 2020 Figure 4: Rail loading dock in Indonesia Source: GIZ Rail Freight INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 65 counted haulage rates. Additional recommendations relate to designing Ro-Ro wagons that can handle larger trucks, to developing suitable facilities in terminals, to choosing rail link routes with spare capacity, or to involve private operators in traffic consolidation and service delivery. Another project milestone is the launch of online ‘Freight GHG Calculator’ which shippers, operators and logistic service providers can use for calculating and comparing total cost of transportation and GHG emissions between various modes of transport for a fixed Origin-Destination pair. IR is using the calculator to award its freight customers with ‘rail green points’ which they can use for PR purposes, and to raise awareness of rail’s environmental benefit. Indonesia Indonesia is another regional giant in Asia, home to more than 270 million people and a per capita GDP of USD 4,292 in 2021. Railways are used for goods transport on the main islands Java and Sumatra which are both economic production centres and geographically large enough for railways to make sense. Indonesia’s railways transported 53 million tonnes of goods in 2021, 10 % up from the previous year. Freight transportation has become a lifeline for the business of the country’s rail operator PT Kereta Api Indonesia amid the Covid-19 pandemic. Coal has historically been the dominant commodity, accounting for about 75 % of the volume and mainly on Sumatra. The rail-based transport of containers, cement and fuel products has also grown significantly, yet at a lower level and predominant on Java. The Ministry of Transportation plans to boost rail freight. Since 2018, the Ministry’s Railway Masterplan aims for a modal share 11 to 13 % of the total national freight market or 534 million tonnes by 2030. This would be a 10-fold growth from today’s volume. In addition, the National Logistics System Policy as well as Indonesia’s NDC Roadmap endorse rail freight as a strategy to strengthen logistics performance and to mitigate transport CO 2 emissions. However, the path to multiplying rail freight in Indonesia is filled with challenges. In the private sector, there is low interest to undertake rail infrastructure projects because intermodal rail freight is perceived as unattractive by logistics industry players. Rail freight transport has low demand for several reasons, including high costs and low quality of service - e.g. low frequency of trains, long transit or waiting times, and multiple handling risks (see Figure 4). There are also only very few rail freight service providers and thus a lack of business innovation and of tariffs that can compete with trucking services. The root cause of the low competitiveness of rail freight compared to trucks is the lack of adequate infrastructure. This means substantial investment is required to make rail competitive with road transport. However, for Java Island, the government’s priority programmes in the next five years will focus more on developing passenger transportation. Considerably less budget has been allocated for rail freight projects such as connections between ports and the railway system. Despite the ambitious modal shift target, strong political drive and a clear action plan are not yet in place. Because of these challenges, potential investors remain cautious. The GIZ TRANSfer project used its funding from the German government’s international climate initiative to lead a three-year dialogue with the Ministry of Transportation, the railway operator, other government agencies and the logistics industry with a view to address the challenges. In the process, the Ministry introduced simplified licensing requirement for multimodal transport operators and included several port-rail connection projects in its 2020 to 2025 Five-year-plan and in the government’s list of infrastructure projects of strategic priority. The government also issued Presidential Regulations in 2019, 2021 and 2022 to support rail port integration and rail sidings to industrial areas in various provinces of Java. Nonetheless, the various projects seem to be stuck in the pipeline, with little progress in planning or implementation. To mobilise momentum and financial resources from international development banks, GIZ has proposed to bundle the various project under the umbrella of a rail-port connectivity investment programme. The idea is to adopt a unified approach in project planning and preparation, and especially funding and financing, while still recognising the individuality of each project. The programmatic approach aims at achieving larger scale impacts and creating an opportunity for donor agencies to invest additional and focused funding. Conclusion The four case studies signal a positive outlook for rail freight in emerging economies. Governments recognise the role of rail in an integrated multimodal transport system and have set ambitious goals for rail freight. The modal shift policies are motivated by a desire to develop efficient national logistics systems that strengthen competitiveness and economic development. Furthermore, the various strategies recognise railways as a relieve for congestion, accidents, air pollution as well as growing transport CO 2 emissions. Significant public investments in rail and terminal infrastructures have been planned in all four country cases. Not least since the pandemic, freight transport has become a lifeline for the domestic railway operators. Impacts from the policies and investments will take years to materialize. The choice for rail will remain challenged by a multitude of factors such as the perception and demand by shippers, by the alignment of various policies and actions, or by the level of competition between transport modes. Infrastructure expansion is critical for success but must be complemented by an enabling environment for multimodal service providers, by investments in the monitoring of freight data and in policy evaluation, by a fair regime of taxes, incentives and subsidies for different transport modes, and by digitalisation and innovation. All this requires a sufficient set of decision-makers in each country who are committed to support the rail freight agenda. International cooperation helps to strengthen their capacity in developing effective policies and projects. ■ Xuan Ling Senior Technical Advisor, Sino-German Cooperation on Low Carbon Transport, GIZ, Beijing (CN) Xuan.Ling@giz.de Karen Martinez Lopez Technical Advisor, Sustainable Transport Programm, GIZ, Mexico City (MX) karen.martinez@giz.de Tanya Mittal Junior Transport and Infrastructure Advisor, Climate Friendly Freight Transport in India Project, GIZ, New Delhi (IN) Tanya.Mittal@giz.de Friedel Sehlleier Advisor G310 - Energie, Wasser, Verkehr, GIZ Bonn (DE) friedel.sehlleier@giz.de Deepak Baindur Deputy Project Manager, Climate Friendly Freight Transport in India Project, GIZ, New Delhi (IN) deepak.baindur@giz.de Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 66 Einbindung des Luftverkehrs in intermodale Reisen Ziele von „Flightpath 2050“: Noch deutlicher Handlungsbedarf bei der nahtlosen Reise innerhalb von Europa Intermodalität, Luftverkehr, Digitalisierung Flüge sind häufig ein isolierter Bestandteil einer intermodalen Reise. Vom Ziel, innerhalb von vier Stunden in Europa „nahtlos von Tür zu Tür“ reisen zu können, ist die Realität weit entfernt. Es fehlen Angebote für intermodale Reisen von Tür zu Tür, mit App-gestützter, selbstständiger Neuplanung der Anschlussverbindungen von Verkehrsträgern, auch und gerade bei Verspätungen und Störungen. Insbesondere über neue Digitalisierungsoptionen, den Einsatz von KI und verkehrsträgerübergreifende Regelungen könnten Puffer- und Prozesszeiten reduziert und Reisen planbarer, schneller und einfacher werden. Jörg Buxbaum E lf Jahre ist es her, dass ehrgeizige politische Ziele für die europäische Luftfahrt in einer strategischen Vision mit dem Namen „Flightpath 2050“ mündeten [1]. Ein Jahr später erfolgte die Veröffentlichung durch die Europäische Kommission. Als Bedürfnis der Gesellschaft und des Marktes formulierte das Papier: „Im Jahr 2050 können 90 % der Reisenden in Europa ihre Reise von Tür zu Tür innerhalb von vier Stunden abschließen. Passagiere und Fracht wechseln nahtlos zwischen den Verkehrsträgern, um reibungslos, vorhersehbar und pünktlich den Zielort zu erreichen.“ In den Folgejahren entsponnen sich Diskussionen darüber, wie dieses Ziel zu verstehen sei, da z. B. keinerlei Angabe enthalten war, ob ein Flugsegment in diesen Reisen enthalten ist und auf welchen exakten geografischen Raum es sich bezieht [2]. Mittlerweile scheint anerkannt, dass es sich um intermodale Reisen handelt, die ein Flugsegment (Point-to- Point) beinhalten können. 4-Stunden-Ziel: Realitätscheck Viele Fluggesellschaften und Flughäfen empfehlen Flugpassagieren, zwei bis drei Stunden vor Abflug am Flughafen zu sein [3]. Bei einer angenommenen Anreisezeit von 30 Minuten zum Flughafen und 30 Minuten Reisezeit vom Zielflughafen zum endgültigen Reiseziel verbleiben für das Segment Off-Block bis On-Block maximal 60 Minuten. Bei 20 Minuten Rollzeit und einer durchschnittlichen Fluggeschwindigkeit von 750 km/ h sind 500 km Flugdistanz erreichbar. Foto: Joshua Woroniecki / pixabay MOBILITÄT Luftverkehr Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 67 Luftverkehr MOBILITÄT Damit kann in vier Stunden maximal eine intermodale Reise Frankfurt-Paris durchgeführt werden - nicht jedoch eine „typische“ Flugreise innerhalb Europas, die eine Flugdistanz von knapp 1.000 km aufweist [4]. Bei Gepäckaufgabe dürfte die erreichbare Distanz nochmals deutlich kleiner sein, da hier Drop-Off am Startflughafen und Gepäckaufnahme am Zielort zusätzlich Zeit kosten. Ein Beispiel dafür zeigt Bild 1 - eine exemplarische Reise aus dem Rhein- Main-Gebiet nach Berlin, die rund sechs Stunden in Anspruch nahm. Von diesen vier bzw. sechs Stunden ist maximal die Hälfte tatsächliche Reisezeit mit einem Verkehrsmittel. Der Rest besteht aus Pufferzeiten: Zeit, die Reisende einplanen müssen, um einen pünktlichen Transportablauf zu gewährleisten. Die Pufferzeit lässt sich in Prozesszeit und reine Pufferzeit unterteilen, die Störungen und Unsicherheiten entgegenwirkt [5]. Einfluss von Flugverspätungen auf das Vier-Stunden-Ziel Verspätungen von Verkehrsmitteln können am Betriebstag die Reisezeit ungeplant verlängern. Dabei sind Verspätungen z.B. im Luftverkehr aufgrund der zahlreichen möglichen Ursachen starken Schwankungen unterlegen. Im delayreichen Jahr 2018 lag die durchschnittliche Abflugverspätung in Europa bei rund 15 Minuten, im teilweise chaotischen Juni 2022 bei 24 Minuten [6, 7]. Obwohl ein durchschnittlicher Delay nichts über individuelle Reiseverzögerungen aussagt, bewegt sich die Dimension dieser Verspätungen im Bereich von rund 6 % bzw. 10 % der avisierten vier Stunden. Ziel von „Flightpath 2050“ ist, dass langfristig die Delays (bei jedem Wetter) auf eine Minute gesenkt werden sollen [1]. Technische und betriebliche Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen, sind derzeit nicht bekannt. Neben der Delayreduktion bietet die Verkürzung von Flugstrecken noch Potential für eine Reiseverkürzung. Derzeit weisen Flüge in hochbelasteten Regionen wie Europa und den USA im Mittel eine Streckenlänge auf, die bezogen auf den Reiseflug rund 3 % über dem Großkreis liegt [4]. Theoretisch besteht das Potential einer durchschnittlichen Verkürzung um etwa 30 km und damit um rund 2,5 Minuten Flugzeit. Auf der anderen Seite ist messbar, dass Fluggesellschaften bei hohen Kraftstoffkosten mit reduzierten Fluggeschwindigkeiten fliegen, diese Entwicklung war beispielsweise im deutschen Luftraum zwischen 2004 und 2012 feststellbar. Solche Effekte könnten eine Verkürzung der Flugstrecken konterkarieren [8]. Die eher „politisch“ avisierte Delay-Minimierung bis 2050 auf nahezu Null und theoretische Flugwegverkürzungen summierten sich im Vergleich zum Juni 2022 auf maximal gut 26 Minuten in Europa. Eine messbare Zeitersparnis, die allerdings angesichts der deutlich größeren Pufferzeiten einer intermodalen Reise kein zentraler Bestandteil eines Maßnahmenpakets sein kann, das Vier-Stunden-Ziel zu erreichen, das derzeit schon in der Planung nicht zu 90-% erreichbar ist. Ursache für hohen Anteil an Pufferzeiten Gründe dafür, dass selbst bei pünktlichen Verkehrsmitteln das Vier-Stunden-Ziel für europäische Flugreisen selten realistisch ist, liegen vielfach auf der Anreise zum Flughafen und den Prozessen bis zum Abflug: •• Ein wesentlicher Anteil von Flugtickets gerade von Freizeitreisenden ist fluggebunden und nur gegen Gebühr oder gar nicht umbuchbar, wenn der Reisende nicht pünktlich zum Check-in, zur Gepäckaufgabe oder zum Boarding erscheint. Diese Konsequenz sorgt dafür, dass Reisende in der Erwartung von möglichen Verspätungen bei der Anreise massive Pufferzeiten einplanen, um den Flug auf jeden Fall zu erreichen. Auch flexible Flugtickets helfen nicht, wenn am Betriebstag keine weitere Verbindung zum Zielflughafen angeboten wird. Im Falle eines Verpassens des Fluges wird dann eine Übernachtung auf eigene Kosten nötig. •• Es besteht bei den meisten Verkehrsträgern keinerlei Verbindungsgarantie zum anschließenden Flug. Selbst bei kombinierten Buchungsoptionen wie dem seit 30 Jahren bestehenden „Lufthansa Rail & Fly“ oder „TuiFly Zug zum Flug“ kann eine Zugverspätung dazu führen, dass der Reisende den Flug verpasst - die Kostenübernahme für eine Umbuchung oder ein Ersatzflugticket ist regelmäßig Gegenstand von nachträglichen rechtlichen Auseinandersetzungen und hängt auch davon ab, mit wieviel Pufferzeit der Zug planmäßig den Flughafen erreichen sollte [9, 10]. •• Für Reisende ist bei Beginn der Reise unklar, mit welchen Warte- und Prozesszeiten am Flughafen zu rechnen ist. Zwar geben einige Flughäfen aktuelle Wartezeiten an den Sicherheitskontrollen an - dies allerdings unverbindlich und meist ohne eine Prognose für den Zeitraum, in der der Reisende voraussichtlich vor Ort sein wird. Die Wartezeit bei der optionalen Gepäckaufgabe ist ebenso wenig vorab verbindlich bestimmbar. Der vielfach angebotene Vorabend-Check-In kann Unsicherheiten und Zeitaufwand am Reisetag reduzieren, sorgt aber für zusätzlichen Reise- und Zeitaufwand am Vortag, der der Bruttoreisezeit zugerechnet werden könnte. Selbst Elemente erfolgter Digitalisierung können das Risiko von Reisenden erhöhen, bei verpassten Flügen aufgrund unverschuldet langer Wartezeiten, z. B. an der Sicherheitskontrolle eine Kompensation verweigert zu bekommen: Checkt der Flugpassagier von unterwegs per Internet ein und fliegt mit Handgepäck, besteht im Gegensatz zum Check-in am Flughafen oft kein Beweis, dass er zeitgerecht am Flughafen war. Ein Check-in vor Ort wiederum ist- bei einigen Airlines kostenpflichtig, Ryanair veranschlagt dafür z. B. aktuell 55-EUR [11]. Bild 1: Exemplarischer, zeitlicher Verlauf einer intermodalen Flugreise von Langen (Hessen) nach Berlin, durchgeführt vom Autor im Juni 2022 Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 68 MOBILITÄT Luftverkehr Geschwindigkeit, Nahtlosigkeit oder Nachhaltigkeit? Offen ist, welche Elemente des formulierten Ziels von „Flightpath 2050“ von den Reisenden wie hoch priorisiert werden und ob nicht die Vorteile einer nahtlosen Reise ohne überdimensionierte Puffer- und Wartezeiten wichtiger eingestuft werden als der reine Zeitaspekt „vier Stunden Tür zu Tür“. Ebenfalls kann in Zukunft bei der Entscheidung von Reisenden über intermodale Verbindungen ggf. deutlich wichtiger sein als heute, welche Umweltauswirkungen mit der Reise verbunden sind [12]. Dies könnte angesichts der aktuellen Umweltbilanz von Verkehrsträgern dazu führen, dass die Reisenden von sich aus vermehrt auf Flugsegmente verzichten und intermodale Bahnreisen bevorzugen. Es ist nicht sicher, ob Flughafenbetreiber ein ausgeprägtes Interesse an dem „Flightpath-2050“-Ziel von maximal vier Stunden Reisezeit haben, denn das wichtige Airport-Retail-Geschäftsmodell setzt voraus, dass der Fluggast eine signifikante Wartezeit vor Abflug am Flughafen verbringt [13]. Airlines wiederum stehen nicht in Konkurrenz zueinander über Reisezeiten von Tür zur Tür der Reisenden, sondern neben dem Ticketpreis über Flugbzw. Blockzeiten, so dass eine reibungslosere Intermodalität keine signifikante Marktanteilsrelevanz birgt. Rolle der Intermodalität und Elemente einer „nahtlosen“ Reise Eine intermodale Reise mit möglichst geringen Warte- und Pufferzeiten ist zusammen mit einem nahtlosen Übergang zwischen intermodalen Reiseanteilen der Schlüssel zu einer Verkürzung von Flugreisen. Es sind etliche Stoßrichtungen sichtbar, um nahtlose und schnellere intermodale (Flug-)Reisen von Tür zu Tür in Europa zu ermöglichen (siehe auch Bild 2): Intermodale Buchungen und verkehrsträgerübergreifende Navigation •• Kombiniert buchbare Transportprodukte inkl. ÖPNV mit Anschlussgarantie zwischen allen Verkehrsträgern und automatischer Anpassung von Verbindungen bei (prognostizierten oder eingetretenen) Störungen und Verspätungen •• App-gestützte, verkehrsträgerübergreifende Navigation inkl. Passagierführung an den Flughäfen / Bahnhöfen Genauere und verbindlichere Prozessprognosen •• Höhere Genauigkeit und konstante Live- Versorgung mit Prognosezeiten, bezogen auf einzelne Verbindungen und Prozesse (z. B. Check-In, Gepäckabgabe, Sicherheitskontrolle, Wegezeiten zum Gate) •• Genaue, einzelflugbezogene Prognosen von Off-Block-Zeiten, Rollzeiten, Startzeiten, Landezeiten und On-Block-Zeiten mit angemessenem Vorlauf •• Verbindlichkeit von Prognoseinformationen („Quasi-Garantie“, dass die Prognosezeiten zutreffen) Verkehrsträgerübergreifende Versicherung gegen Prozessverspätungen •• Versicherung, die im Falle einer Verspätung bei nicht kombiniert gebuchten Reiseanteilen Schutz bzw. Kompensation bei möglicherweise verpassten Verbindungen bietet (Übernahme von Mehrkosten durch Umbuchung, ggf. Übernachtung und Transport) Schneller und unkomplizierter Gepäcktransport •• Separater, sicherer und pünktlicher Transport von aufzugebenem Gepäck von Tür zu Flug oder von Tür zu Tür innerhalb Europas. Beispielhafte Lösungen In vielen dieser Felder gibt es isolierte Lösungen, die derzeit entweder in der Entwicklung oder regional beschränkt sind und vielfach aus separaten Geschäftsmodellen, Web-Portalen oder Apps bestehen: •• „Lufthansa Express Rail“ bietet eine Umsteigegarantie bei Anfahrt von derzeit 24- deutschen Städten zum Flughafen Frankfurt mit der Deutschen Bahn. Seit- dem 01.08.2022 ist die Deutsche Bahn intermodaler Partner der Star Alliance, d. h. Zubringerzüge sind auf dem Flugticket ausgewiesen. Allerdings fehlt bei dem Angebot eine entsprechende intermodale Option für die meist ebenfalls gebuchte Rückreise aus dem Ausland. •• In Heathrow, Genf und Zürich bietet die Firma „airportr“ in Zusammenarbeit u. a. mit British Airways und der Swiss einen Service an, bei dem Gepäck daheim abgeholt, eingecheckt und direkt zum gebuchten Flug gebracht wird. •• Innerhalb Deutschlands kann Gepäck bis 31,5 kg mit dem Paketdienstleister Hermes von Tür zu Tür transportiert werden Bild 2: Potentiale zur Beschleunigung und Vereinfachung intermodaler Flugreisen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 69 Luftverkehr MOBILITÄT - unabhängig von der Wahl des Reisemittels durch den Reisenden. •• Für die Flughäfen Frankfurt, München, Hamburg, Düsseldorf und Münster-Osnabrück bietet die App „Passngr“ Flug- und Navigationsinformationen sowie Informationen zu Anschlussverkehr. Die App berechnet auch die Wegezeit unter Berücksichtigung von Wartezeiten an der Sicherheitskontrolle. •• Bereits 2014 entwickelte das DLR Institut für Flughafenwesen mit der TU Hamburg-Harburg ein Navigations- und Informationssystem, das Passagiere so durch den Flughafen führt, dass kaum Wartezeiten entstehen und der Passagier verzögerungsfrei vom Betreten des Terminals bis hin zum Abfluggate die Prozesse durchläuft [14]. •• Die DFS Deutsche Flugsicherung entwickelte 2019 eine KI-gestützte Prognose der Landezeit von Anflügen auf den Flughafen München. Die Güte der Vorhersage überbot die von derzeit eingesetzten operativen Systemen deutlich [15]. •• Über das Web-Portal „Rome2Rio“ lassen sich intermodale Reisen planen und Tickets kaufen. Intermodale Reisen sind allerdings nicht als Paket buchbar. 2016 publizierte „Rome2Rio“ eine verkehrsträgerübergreifende, weltweite Isochronenkarten unter Einbezug von Luftverkehr - in Adaption der Karten von F. Galton und J. G. Bartholomew, die vor über 100 Jahren entstanden (Bild 3) [16]. •• Virtual Interlining-Anbieter wie z. B. „KIWI“ oder „dohop“ ermöglichen es Reisenden, mehrere Flüge unterschiedlicher Fluggesellschaften zu kombinieren und unter den Bedingungen zu fliegen wie bei Code-Share-Flügen. Intermodale Buchungen sind nicht möglich. Ausblick und Erwartungen Es gibt wie schon bei Publikation der Ziele von „Flightplan 2050“ ein deutliches Potential, die Planbarkeit, Nahtlosigkeit und Geschwindigkeit von intermodalen Reisen in Europa voranzutreiben. Entsprechende technische Möglichkeiten bestehen und haben sich teilweise bereits im regional begrenzten Einsatz oder im Feldversuch bewährt. Offen ist, wann und durch wen die bestehenden Möglichkeiten integriert und allen europäischen Reisenden zur Verfügung gestellt werden. Ob eine deutliche Beschleunigung von Reisen damit erreicht wird, deren Umweltverträglichkeit gesteigert werden kann oder intermodale Reisen für die Reisenden einfacher werden - wird die Zukunft zeigen, hoffentlich nicht erst 2050. ■ QUELLEN [1] Flightpath 2050 (2011): Europe’s Vision for Aviation Report of the High-Level Group on Aviation Research. [2] Grimme, W.; Maertens, S. (2019): An analysis of the 4-hour-goal using flight schedules and origin-destination passenger demand data. Deutsches Forschungszentrum für Luft- und Raumfahrt. [3] Mayer, C.: Deutsche Flughäfen im Vergleich: So viele Stunden solltet ihr vor Abflug an den Check-in-Schaltern sein.www.businessinsider. de, abgerufen 18.07.2022. [4] Comparison of air traffic management related operational performance U.S./ Europe., EUROCONTROL, FAA, 2019. [5] Nickel, F. (2020): Possibilities For Shortening Travel Times By Reducing Buffer Times In The Process Chain. Bachelorarbeit, Hochschule Worms. [6] Walker, C. (2019): CODA Digest All-causes delay and cancellations to air transport in Europe Annual report for 2018., EUROCONTROL. [7] Pressekonferenz der DFS Deutschen Flugsicherung GmbH, auf Basis von CODA-Daten, 20.07.2022. [8] Lindner, M. (2013): Entwicklung eines Algorithmus zur Anpassung der Vorhersage von Trajektorien an spezifische Flugmanöver von Luftverkehrsgesellschaften. Studienarbeit, TU Dresden. [9] “TuiFly Zug zum Flug”, „Inkludierte Leistungen“.www.tui.com/ hilfe/ zug-zum-flug-tuifly/ abgerufen 18.07.2022. [10] Amtsgericht München (Urteil vom 28.05.2019, Az.: 114 C 23274/ 18), Bundesgerichtshof (BGH) (Urteil v. 29.06.2021, Az.: X ZR 29/ 20. [11] Gebührentabelle Ryanair. www.ryanair.com/ at/ de/ nutzliche-infos/ service-center/ gebuhren, abgerufen 18.07.2022 [12] Loepp, B.; Ziegler, J.(2017): Empirische Bedarfsanalyse zur intermodalen Navigation und dem Einsatz von Informationssystemen zur Förderung ihrer Attraktivität. [13] Kiziltas, Ö. (2014): Airport Retailing an europäischen Flughäfen am Beispiel des Flughafens Hamburg. Bachelorarbeit, Hochschule Mittweida. [14] Oppermann, R. (2017) Anforderungen an die Luftverkehrsinfrastruktur an regionalen Verkehrsflughäfen und Verkehrslandeplätzen in Deutschland unter Berücksichtigung des Flightpath 2050., TH Wildau. [15] Graul, C. (2019): Analyse und Vergleich der Estimated Landing Time (ELDT) zwischen Anbietern im Internet und Air Navigation Service Providern (ANSPs). Bachelorarbeit, Hochschule Darmstadt. [16] „Zukunft Mobilität“, „Immer schneller und weiter: Reisezeiten im Jahr 1881, 1914 und 2016“. www.zukunft-mobilitaet.net/ 153730/ vergangenheit-verkehrsgeschichte/ erreichbarkeitskarten-isochronen- 1881-2014-london/ abgerufen 18.07.2022 Jörg Buxbaum, Dipl.-Ing. Leiter Invention und angewandte Forschung, DFS Deutsche Flugsicherung GmbH, Langen joerg.buxbaum@dfs.de Bild 3: Isochronenkarte intermodaler Flugreisen ab London Darstellung: rome2rio, 2016 Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 70 Weniger Pendelverkehr durch regionale Kooperation Pendelverkehr, Regionale Kooperationen, Integrierte Verkehrsplanung Die Ineffizienz unseres Verkehrssystems zeigt sich ganz besonders im Pendelverkehr: immer mehr, immer weiter und meist mit dem eigenen PKW. Eine Trendumkehr ist trotz vermehrtem Home-Office kaum erkennbar. Viele der benötigten Ansätze zur nachhaltigen Gestaltung des Pendelverkehrs wie P&R-Plätze oder Radschnellwege können nur in gemeinsamen Anstrengungen realisiert werden. Welche Kooperationsstrukturen geeignet sind, um den Pendelverkehr zu adressieren, wurde in einer kürzlich veröffentlichten Studie untersucht. Dieser Beitrag fasst die Ergebnisse zusammen. Uwe Böhme, Thomas Klinger, Andrea Dittrich-Wesbuer, Christian Holz-Rau, Joachim Scheiner D eutschland hat sich per Gesetz dazu verpflichtet, bis zum Jahr 2045 eine Netto-Treibhausgasneutralität zu erreichen. Doch im Verkehrssektor ist noch immer kein nachhaltiger und stabiler Entwicklungspfad zu erkennen. Bis zum Beginn der Corona- Pandemie sind die Emissionen weiterhin angestiegen [1] und der Pendelverkehr - hier vereinfacht definiert als Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort - trug mit 22,4- Prozent der klimarelevanten Emissionen des Personenverkehrs maßgeblich zur Steigerung bei [2] 1 . So haben sich die mittleren Distanzen im Berufsverkehr zwischen 1976 und 2017 von 8,6 km auf 16 km fast verdoppelt [ebd.]. Vor allem die längeren Pendeldistanzen von über 20 km haben zugenommen [3]. Zudem wird für Fahrten zur Arbeit überdurchschnittlich oft der eigene PKW verwendet [4]. Der Bund unterstützt diesen Trend mit klimaschädlichen Subventionen wie beispielsweise der Entfernungspauschale [5]. Da das Berufspendeln zunehmend gemeindeübergreifend stattfindet, ist es dringend geboten, dass Kommunen hier stärker zusammenarbeiten. Dennoch ist die regionale Kooperation bei der nachhaltigen Gestaltung des Pendelverkehrs ein oft noch wenig beachtetes und daher dringend auszubauendes Politikfeld, das im Rahmen der integrierten Verkehrsplanung auch als räumliche Integration bezeichnet werden kann [6]. Viele der benötigen Ansätze wie P&R- Anlagen oder Radschnellwege können nur in gemeinsamen Anstrengungen realisiert werden bzw. eine höhere Wirkung entfal- Foto: Ri Butov / pixaba MOBILITÄT Verkehrsplanung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 71 Verkehrsplanung MOBILITÄT ten. So sind P&R-Anlagen nur dann zu befürworten, wenn in der Innenstadt als Teil einer Push-Strategie eine ähnliche Anzahl an Parkständen zurückgebaut wird, da ansonsten die frei werdenden Parkmöglichkeiten meist schnell von anderen Einpendelnden genutzt werden [7]. Die Notwendigkeit einer integrierten Verkehrsplanung ergibt sich auch aus der Komplexität des Ursache-Wirkungs-Systems beim Pendelverkehr. So haben Entscheidungen in benachbarten Disziplinen und Politikfeldern wie Siedlungsentwicklung (z. B. die Ausweisung von Wohn- und Gewerbeflächen), Wirtschaftsförderung und Arbeitsmarktpolitik erheblichen Einfluss auf den Pendelverkehr. Die teils divergierenden und für die nachhaltige Gestaltung des Pendelverkehrs häufig konträren Interessenlagen (z. B. in Bezug auf die Randwanderung von Unternehmen und Wohnsiedlungen [8]) zahlreicher Akteursgruppen aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft müssen bei der Maßnahmenentwicklung ebenfalls berücksichtigt und ausgehandelt werden. Allerdings stellt sich die Frage, wie und durch welche Kooperationsstruktur diese teils aufwendige Integrationsleistung erbracht werden könnte. Diese und weitere Fragen wurden in einer von der Agora Verkehrswende beauftragten Studie behandelt. Denn klar ist auch, dass es in den Kommunen und Verwaltungen oftmals an den nötigen finanziellen und personellen Ressourcen sowie Knowhow mangelt und Ressortzuschnitte zu starr konzipiert sind [9]. Es wird deshalb eine Modernisierung verwaltungsrechtlicher Strukturen benötigt [6]. Die genaue Ausgestaltung modernerer Strukturen hängt von vielen Faktoren ab. In Abhängigkeit von der jeweiligen regionalen Akteurskonstellation unterscheiden sich entsprechende Kooperationsformate hinsichtlich Formalisierungsgrad und Aufgabenspektrum [10] und können eine große Bandbreite an Rechtsformen annehmen [11]. So kann diese Integrationsaufgabe beispielsweise durch ein Netzwerk mit eher funktionalem Aufgabenschwerpunkt erbracht werden (Zukunftsnetz Mobilität NRW). Auch können Regional- und Kommunalverbände (Region Hannover, Kommunales Nachbarschaftsforum Berlin-Brandenburg, Kommunalverbund Niedersachsen-Bremen) diese Integrationsfunktion übernehmen. Diese Verbände sind häufig breiter aufgestellt und befassen sich neben Mobilität auch beispielsweise mit Wohnen, Kulturlandschaften und Handel [12]. Drei mögliche Kooperationsstrukturen 2 wurden im Rahmen des genannten Projektes genauer untersucht. Ausschlaggebend für die Auswahl waren die Einzigartigkeit der jeweiligen Herangehensweise sowie ein integriertes und umfassendes Verständnis von Verkehr und Mobilität, das über die reine Regional- und Infrastrukturplanung hinausgeht. Das Kommunale Nachbarschaftsforum Berlin-Brandenburg (KNF) ist ein Beispiel für einen Zusammenschluss von Landkreisen, Städten und Gemeinden in Brandenburg sowie der Hauptstadt Berlin, der dazu dient, kommunale Infrastruktur- und Versorgungsdefizite frühzeitig zu erkennen. Derartige Initiativen können einen gemeinsamen Entwicklungskorridor definieren, der auch bei veränderten politischen Mehrheitsverhältnissen Bestand hat. Durch die Vereinsgründung im Jahr 2020 hat das KNF eine höhere Verbindlichkeit erlangt. Die Geschäftsstelle des Vereins mit Sitz in Potsdam wird von einer externen Beratungsgesellschaft betrieben. Der Verein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge, die sich auf 10- Cent pro Einwohner und Jahr belaufen. Das KNF befasst sich neben Verkehr und Mobilität auch mit anderen Themen wie Siedlungsentwicklung und Wohnungsbau, was sich vor allem in Bezug auf den Querschnittscharakter des Pendelverkehrs als vorteilhaft erweist. Abgestimmte und mehrheitsfähige Maßnahmen auf Basis von Planungsbedarfen in Gemeinden und Landkreisen zu entwickeln, ist auch zentrales Anliegen der IVM GmbH (Integriertes Verkehrs- und Mobilitätsmanagement Region Frankfurt RheinMain). Gesellschafter und Mittelgeber der IVM GmbH sind die Länder Hessen und Rheinland-Pfalz, die Stadt Frankfurt am Main, der Rhein-Main-Verkehrsverbund sowie die kreisfreien Städte und Landkreise in der Region Rhein-Main. Die Besonderheit des IVM verfolgten Ansatzes besteht darin, dass sie die angebotsorientierten Konzepte des Verkehrssystemmanagements mit nachfrageorientierten Konzepten des Mobilitätsmanagements kombiniert. Diese integrierte Vorgehensweise kann dazu beitragen, bedarfsgerechte Lösungen zu entwickeln und Mobilitätsentscheidungen nachhaltig zu beeinflussen. Anders als das KNF und die IVM konzentriert sich das 2015 gegründete Zukunftsnetz Mobilität NRW auf das kommunale Mobilitätsmanagement. Dabei wird an den internen Prozessen in den Kommunen Nordrhein-Westfalens (NRW) angesetzt. Durch einen „Change-Prozess“ sollen die oftmals starren Zuschnitte der einzelnen Referate so vernetzt werden, dass Abteilungen besser zusammenarbeiten und zielgruppenspezifische Maßnahmen des Mobilitätsmanagements entwickeln. Zentral hierfür ist die Qualifizierung von Personal. Dazu wurde ein Lehrgang zur Ausbildung von kommunalen Mobilitätsmanager*innen konzipiert. Damit wird sichergestellt, dass die Grundprinzipien des Mobilitätsmanagements Eingang in die kommunale Planungspraxis finden. Die Mitgliedschaft im vom Bundesland NRW finanzierten Netzwerk ist zwar kostenlos, aber die Kommunen verpflichten sich zur Zusammenarbeit. Die Arbeit des Netzwerks wird von drei Koordinierungsstellen geleistet, die über das Bundesland NRW verteilt und bei den regional zuständigen SPNV-Aufgabenträgern bzw. Verkehrsverbünden angegliedert sind. So können vorhandene Strukturen genutzt und Abstimmungen erleichtert werden. Die drei genannten Praxisbeispiele sind jeweils Teil eines regionalen und vernetzten Kooperationssystems mit ganz unterschiedlichen Strukturen. Darin spielen auch nichtkommunale Akteure wie Industrie- und Handelskammern, Arbeitgeber- und Unternehmensverbände oder Verbände der Zivilgesellschaft eine große Rolle. Die Einbeziehung von Unternehmen kann beispielsweise über die Einrichtung von IHK-Netzwerkbüros realisiert und finanziell gefördert werden [13]. Aufgrund der selektiven Auswahl der untersuchten Beispiele kann hier keine umfassende Bewertung möglicher Kooperationsformen erfolgen. Dennoch lassen sich aus den analysierten Beispielen Faktoren ableiten, die als förderlich angesehen werden, um den Herausforderungen des zunehmen- Praxisbeispiel Ausgewählte Strukturelemente Kommunales Nachbarschaftsforum Berlin-Brandenburg (KNF) Verein mit extern betriebener Geschäftsstelle und breitem Aufgabenspektrum, finanziert durch Mitgliedsbeiträge Integriertes Verkehrs- und Mobilitätsmanagement Region Frankfurt RheinMain (IVM) GmbH für Verkehrs- und Mobilitätsmanagement, zentral organisiert, finanziert durch Gesellschafter der öffentlichen Hand Zukunftsnetz Mobilität NRW (ZNM) Netzwerk ohne eigene Rechtsform mit relativ engem Aufgabenfokus, angegliedert an die Aufgabenträger des öffentlichen Verkehrs, vom Land NRW finanziert Tabelle 1: Praxisbeispiele von Kooperationsformen und ihre Strukturelemente Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 72 MOBILITÄT Verkehrsplanung den Pendelverkehrs mit Ansätzen der integrierten Verkehrsplanung zu begegnen: •• Ausreichende Finanzierung •• Personal mit langfristiger Planungsperspektive •• Plattform für Austausch- und Vernetzung •• Bedarfe frühzeitig erkennen, Sensibilität für kommunale Problemlagen •• Stakeholder-Einbindung •• Verkehrsträger- und gemeindeübergreifendes Agieren •• Nutzung vorhandener Strukturen (z. B. Verkehrsverbund, Zweckverband) •• Multiplikatoren / Kümmerer „vor Ort“, z. B. in Form von Mobilitätsmanager*innen in den Kommunalverwaltungen •• Verkehrswende und ökologische Nachhaltigkeit als Zielorientierung Bisher ist nachhaltige Verkehrspolitik zu sehr abhängig von den jeweiligen finanziellen Bedingungen, dem „Leidensdruck“ und der Motivation beziehungsweise dem Engagement der Akteure vor Ort. Zur Intensivierung der Bemühungen sind deshalb entsprechende nationale Vorgaben förderlich. In Frankreich beispielsweise dürfen Städte von Betrieben eine Nahverkehrsabgabe (Versement transport) verlangen. In Italien müssen Städte mit mehr als 150.000 Einwohnern eine Stelle für Mobilitätsmanager*innen schaffen [14]. Ebenso sind dort öffentliche und private Unternehmen mit mehr als 300 Mitarbeitenden verpflichtet, eine*n Mobilitätsmanager*in einzustellen [15]. Zwar werden auch in deutschen Städten und Kommunen zunehmend Mobilitätsmanager*innen eingestellt, aber eben auf freiwilliger Basis oder im Zusammenhang mit einer Mitgliedschaft in einem Netzwerk (siehe ZNM). Die Möglichkeiten für gesetzlich verankerte Verpflichtungen wären auch für die Erstellung von Planwerken zu prüfen. So wie ÖPNV-Aufgabenträger in den meisten Bundesländern verpflichtet sind, Nahverkehrspläne aufzustellen, könnte für besonders vom Pendelverkehr betroffene Regionen auch die Aufstellung eines Pendelverkehrskonzepts gesetzlich vorgeschrieben werden. In Deutschland wird die Bewältigung des Pendelverkehrs bislang ausschließlich den Arbeitnehmenden oder den betroffenen Kommunen überlassen. Betriebliches Mobilitätsmanagement ist eine freiwillige Aufgabe der Unternehmen. Hier sollten Unternehmen im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung viel stärker in die Pflicht genommen werden, um für eine nachhaltige Mobilität der Beschäftigten zu sorgen. Aufgrund der starken ökologischen und sozialen Auswirkungen des Pendelgeschehens muss seine nachhaltige Gestaltung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, zu der alle Beteiligten ihren Beitrag leisten sollten. ■ 1 Teile des Textes sind dieser Studie entnommen. 2 Einzelne Textteile der zusammengefassten Kurzdarstellung zu den Kooperationsformen wurden einer unveröffentlichten Kurzstudie entnommen. QUELLEN [1] Hendzlik, M.; Lange, M.; Klöckner, P.; Lambrecht, M.; Frey, K.; Schmied, M; Dziekan, K; Dross, M. (2022): Klimaschutzinstrumente im Verkehr - Bausteine für einen klimagerechten Verkehr. www. umweltbundesamt.de/ sites/ default/ files/ medien/ 366/ dokumente/ uebersicht_bausteine_klimavertraeglicher_verkehr_kliv_05- 2022.pdf (Abruf: 19.07.2022) [2] Agora Verkehrswende (2022): Wende im Pendelverkehr. 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Ansätze, Akteure, Ausblick: Franz Steiner Verlag, S. 8. www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ veroeffentlichungen/ izr/ 2019/ 1/ downloads/ einfuehrung.pdf; jse ssionid=63495A53 1 98233DE430A3262F F9EC F78.live2 1 303? __ blob=publicationFile&v=1 (Abruf: 07.07.2022) Christian Holz-Rau, Prof. Dr.-Ing. ehem. Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung, Fakultät Raumplanung, Technische Universität Dortmund christian.holz-rau@tu-dortmund.de Joachim Scheiner, Prof. Dr., Dipl.-Geogr. Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung, Fakultät Raumplanung, Technische Universität Dortmund joachim.scheiner@tu-dortmund.de Andrea Dittrich-Wesbuer, Dr.-Ing. Stellvertretende wissenschaftliche Institutsleitung und stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe „Mobilität und Raum“, ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH, Dortmund andrea.dittrich-wesbuer@ ils-forschung.de Thomas Klinger, Dr. Leiter der Forschungsgruppe „Mobilität und Raum“, ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH, Dortmund thomas.klinger@ils-forschung.de Uwe Böhme, Dr.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Forschungsgruppe „Mobilität und Raum“, ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH, Dortmund uwe.boehme@ils-forschung.de Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 73 ÖPNV MOBILITÄT Integration des Straßenpersonennahverkehrs in den Deutschlandtarif Intermodale Reisekette, Tarifintegration, Vertriebssystem, ÖSPV, SPNV, SPFV, Verkehrsverbund, 9-Euro-Ticket Das über den Sommer 2022 hinweg gültige 9-Euro-Ticket sorgte in erster Linie wegen des überdeutlichen Preissignals für breite mediale Aufmerksamkeit. Dabei bewirkte die gleichzeitig vollzogene, wenn auch nur vorübergehende deutschlandweite Tarifintegration mit dem straßengebundenen ÖPNV ebenfalls spürbare Erleichterungen auf der Nutzerseite. Eine kurz vor dessen Einführung fertiggestellte Untersuchung lotete anhand identifizierter Lücken und der Quantifizierung erzielbarer Nachfrageeffekte gestaffelter Integrationsschritte bereits die Potenziale einer dauerhaften Lösung zur umfassenden tariflichen Verknüpfung von Straße und Schiene aus. Kilian Saenger, Christian Grotemeier, Florian Heinitz Z ur Erreichung der kommunizierten Klimaschutz-, Umwelt- und Energiesparziele werden alle Umstände, die einer dauerhaft stärkeren und möglichst smart kombinierbaren Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel abträglich sind, fortwährend und systematisch in den Blick genommen. Jenseits von Anstrengungen für Angebots-, Fahrgastinformations- und Zugangsverbesserungen, Kapazitätsausbau sowie vom Bund (temporär) geförderten Fahrpreissubventionen mit ihren offenkundigen Nachfrage-, aber auch Erlöseffekten bleiben durch die selbst innerhalb des ÖPNV an gewissen Punkten noch unvollständige Tarifintegration und damit teilweise fehlende Verbindungsgarantie Potenziale ungenutzt 1 . Dies berührt auch weitere Belange, etwa in Hinblick auf die verbesserte Gestaltung von Bahnhofszubringerverkehr, welcher - von der PKW- Inanspruchnahme geprägt - auf begrenzte Kapazitäten u. a. für P+R stößt 2 . Nicht durchbuchbare bzw. unvereinbare Tarife stellen eine nicht zu unterschätzende Zugangsbarriere dar - angefangen mit der Notwendigkeit für ortsfremde Kunden, sich mit Fahrscheinautomaten (oder heutzutage Apps) und den zugrunde liegenden Tarifwerken einer Region auseinandersetzen zu müssen - bis hin zur Unattraktivität in preislicher Hinsicht. Da das Schienennetz hierzulande lediglich 38 % der Bevölkerung innerhalb eines Haltestellenradius von 1.200 Metern erreicht 3 , ist das Angebot des ÖSPV auf vielen Relationen unabdingbar. Gleichwohl sind (i) SPNV+ÖSPV in der Regel nicht außerhalb von Verkehrsverbünden bzw. Landestarifen 4 und (ii) ÖSPV+ (SPNV)+SPFV nicht außerhalb des DB- Citytickets (und auch bei diesem nicht optimal) durchtarifiert. Die in Bild 1 gezeigte Analyse identifiziert zunächst vier Fälle noch vorhandener Lücken einer Durchtarifierung zwischen Schiene und Straße im Inland. Dieses wird in Bild 2 an zwei Praxisfällen verdeutlicht. Im Beispiel zu Fall (i) schafft das 9-Euro-Ticket vorübergehend Abhilfe, während es auf der Relation im Fall (ii) auch derzeit nicht möglich ist, den U-Bahn-Abschnitt für die Anschlussmobilität in Oberursel in den Fernverkehr „durchzutarifieren“. Schwerer wiegt es gerade bei Kundschaft, die mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis ausgestattet ist, wenn allfällige Verspätung auf Seiten des ÖSPV zu einem Anschlussverlust führt, der auch noch mit der Entwertung des zuggebundenen ICE- Tickets einhergeht. Legende ÖSPV SPNV SPFV Abgedeckt durch Verbundtarif Abgedeckt durch Landestarif Abgedeckt durch Deutschlandtarif Abgedeckt durch Kooperation zwischen DB Fernverkehr und Deutschlandtarifverbund (bisher keine Kooperation mit weiteren Eisenbahnverkehrsunternehmen) Bislang keine Durchtarifierung möglich * Sofern nicht durch City-Ticket von DB Fernverkehr abgedeckt (allerdings auch hier ohne Anschlussgarantie) ** Sofern nicht durch Verbundkooperation abgedeckt *** Eine automatische Berücksichtigung von Tickets mit Gültigkeit auf einer Teilstrecke ist bisher oftmals nicht möglich V L D K X Verbund D V X* L D X** Verbund C Verbund B Verbund A Landestarif A D*** Abo K X* X* außerhalb Bild 1: Existierende und zu schaffende Durchtarifierungsoptionen Quelle: Autoren Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 74 MOBILITÄT ÖPNV Die lange bekannte Problematik kann durch eine Ausweitung des gerade eingeführten Deutschlandtarifs (DT) gelöst werden, wobei sich die Produktbündelung dann auf den ÖSPV generell und nicht nur die bereits im DT enthaltenen Busverkehre auf ehemaligen Bahnstrecken bezieht. Auch wenn mit einem solchen Eingriff im Sinne übergreifender Ziele agiert wird, sollten weder die beteiligten Verkehrsunternehmen zusätzliche Komplexität und Erlösrisiken aufgesattelt bekommen, noch größere Subventionstatbestände neu geschaffen werden. Insofern müsste eine Praxisumsetzung die nötigen Implementierungs- und Transaktionskosten minimal halten. Es ist vorab zu klären, wie die Durchtarifierung erwirtschaftet werden kann. Für eventuelle, verkehrs- oder sozialpolitisch motivierte Fahrpreissenkungen, etwa beim perspektivischen „Kilometeranstoß“ zwischen entfernungsdegressiven Tarifen von - im Jedermann-Verkehr auch subventionsbedingt 5 - verschiedener Höhe, sollte idealerweise durch eintretende Mehrerlöse bei sehr geringen Grenzkosten zur Beförderung der „intermodalen Fahrgäste“ für die erforderliche Kompensation gesorgt sein. Angesichts der Tatsache, dass das Gros der 217.000 Bushaltestellen deutschlandweit in verkehrsreichen Regionen liegt und weitgehend über Verbünde erschlossen wird, zudem „Flatrate-Tickets“ für immer mehr Zielgruppen ausgereicht werden, ist die intuitiv richtig erscheinende Idee für das Residuum mit einem Aufwand-Nutzen- Verhältnis zu belegen. Damit stellt sich für die insbesondere ländliche Räume betreffenden o. g. Fälle die Frage nach wirtschaftlich tragfähigen Realisierungsmöglichkeiten einer Durchbuchbarkeit/ Durchtarifierung - ausgehend von der Abschätzung der Größe der den Nachfragesegmente und des Ausmaßes der positiven Nachfragereaktion. Realisierungsansätze und deren Grenzen Auch unter Bedingungen einer auf unterschiedlichen institutionellen Grundlagen von SPNV, SPFV und ÖSPV und der Abgrenzung der Verkehrsverbünde untereinander fußenden Marktfragmentierung können pragmatische Lösungen wie z. B. die Gewährung einer kostenlosen Busanschlussfahrt in SPNV Niedersachsen oder die Ausschöpfung neuer technologischer Möglichkeiten wie der App-gestützten Suche und Ausstellung des Tickets nach dem besten verfügbaren Tarif zwischen Checkin- und Check-out-Punkten (z. B. nach dem Prinzip von FAIRTIQ bzw. nationale Smartcards wie in Dänemark 6 ) Abhilfe im Sinne deutlicher Vereinfachung und damit höherer Attraktivität des Gesamtsystems ÖPNV schaffen. Die ab 2023 gültige EU-Verordnung 1371 7 wie auch bereits der novellierte Artikel 13a der Direktive 2012/ 34/ EU im Rahmen des Vierten Eisenbahnpakets fordern alle Beförderer (zumindest auf der Schiene) geradezu zur Zusammenarbeit auf, um diskriminierungsfrei Durchgangsfahrkarten zu verkaufen sowie im Verspätungsfall alternative Verbindungen auf den Landweg nutzbar zu machen. Auf europäischer Ebene existieren seit Jahren Überlegungen, wie eine Tarifintegration im EU-Binnenmarkt technologisch und regulatorisch ausgestaltet werden kann. 8 Wieder einmal zeigt der Blick in die Schweiz, dass man auch in einer ähnlichen Konstellation, die ebenfalls von Föderalismus und einer Vielzahl regionaler Verkehrsverbünde - gleichwohl einem gegenüber Deutschland neunmal höheren Pro- Kopf-Aufkommen bei zugleich signifikant höheren spezifischen Staatsausgaben - geprägt ist, den ÖSPV landesweit durchaus integrieren kann (Bild 3). Im Nachbarland bestehen schon sehr langjährige Erfahrungen mit einem nationalen Gemeinschaftstarif und landesweiten Netzkarten im gesamten ÖV. Dies führt neben preislicher Attraktivität zu einer Aufwandsentlastung sowohl für Kunden als auch für das Fahrpersonal 9 . Darüber hinaus wurde im Projekt Tarifdatenbank „NOVA“ 10 eine Plattform zur Datenbereitstellung, insbesondere für alle MaaS-Apps, geschaffen, welche die Harmonisierung sowie Innovationen wie das EasyRide-Check-In-System der SBB oder gänzlich neue virtuelle Tarifmodelle (z. B. Idee der „Home Zone“ 11 ) unterstützen kann. Die Nachfrage fördernde Formen der Leistungs- und Preisbündelung einschließlich der „Verbindungsgarantie“ für zusammenhängende Leistungsbausteine finden sich außerhalb des ÖPNV traditionell bei Pauschalreisen sowie von Airline-Allianzen teils in Kooperation mit Bahngesellschaften offerierten Codeshare-Umsteigeverbindungen als virtueller Angebotserweiterung. Die Netzintegration verbreitert die Markpräsenz und generiert Passagierzahlzuwächse. 4 Schleusingen Coburg Lichtenfels ÖSPV (hier: Bus) SPNV 6,80 € (Normalpreis) 7,70 € Hohemark, Oberursel Oberursel (Ts.) Frankfurt/ M. Hbf Berlin Hbf ÖSPV (hier U-Bahn) SPNV SPFV 32,80 € (Sparpreis), Wiederbeschaffungswert: 100 € 2,20 € (i) (ii) Bild 2: Beispiele fehlender Durchtarifierung Quelle: Autoren Verordnung über die Personenbeförderung Art. 56 und 57 Personenbeförderungsgesetz Art. 16 und 17 Übereinkommen 500 Tarife und Vorschriften NDV und Verbünde PBefG §§13,39,51 Vertragswerk Deutschlandtarif Vorschriften Deutschlandtarif und Verbünde SPFV SPNV Vorschriften der eigenwirtschaftlichen EVU Vergleich der nationalen Tarife im Schienenverkehr Deutschland / Schweiz: + ÖSPV-Integration + Nationale Tarifdatenbank „NOVA“ ÖSPV Allgemeines Eisenbahngesetz § 12 Abs. 1 NVGe Länder Bild 3: Rechtsrahmen für Durchtarifierung Schweiz vs. Deutschland Quelle: Autoren Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 75 ÖPNV MOBILITÄT Bemerkenswert ist die bereits 2009 publizierte Fallstudie einer Night&Flight-Kombination für Hin- und Rückreise 12 . Die Merkmale für Kunden attraktiver intermodaler Reiseketten unter Einschluss der Bahn können in Anlehnung an die von IRG-Rail 13 definierten „Cluster“ stufenartig mit steigendem Integrationsgrad und damit Anspruch z. B. wie folgt klassifiziert werden: •• Stufe 1 - Die Reisekette wird als gesamthafte Verkehrsdienstleistung dargestellt. Voraussetzung ist der Zugriff auf die jeweiligen Echtzeit-Fahrgastinformationen der Leistungspartner. •• Stufe 2 - Vertriebliche Integration: Für die gesamte Reisekette kann ein gültiger Fahrschein erworben, umgebucht und soweit im Tarif vorgesehen storniert werden. Der Fahrpreis ergibt sich dabei als Summe der Einzelpreise (Preisanstoß). Voraussetzung ist der Zugriff auf die Vertriebs- und Reservierungssysteme der jeweils anderen Verkehrsunternehmen. •• Stufe 3 - Gemeinsames Leistungsversprechen: Aufhebung eventueller Zugbindung im Verspätungsfall/ bei Anschlussverlust (z. B. Railteams „Hop on next available train“-Service 14 selbst bei nicht durchgehenden Fahrscheinen) •• Stufe 4 - Tarifliche Integration: Eine kombinierte Nutzung von Verkehrsmitteln innerhalb der Reisekette wird begünstigt (z. B. Preisdegression per Kilometeranstoß, Hub-Prämie). Voraussetzung ist eine Vereinbarung der Verkehrsunternehmen über Aufteilung entstehender Durchtarifierungsverluste. •• Stufe 5 - Volle Integration (z. B. AirRail) mit gemeinsamer Gewährung voller Fahrgastbzw. Fluggastrechte auf jedem- Reiseabschnitt durch alle beteiligten Verkehrsunternehmen (EU-VOn 1371/ 2007 bzw. 261/ 2004) mit Ankunftsgarantie bis hin zur Kostenübernahme von Taxifahrten und einer Hotelübernachtung. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Agenda auf den verschiedenen Teilmärkten nicht von selbst und schon gar nicht im gleichen Tempo in die Tat umsetzt. Organisatorisch-technischer Mehraufwand, Verzicht auf bisherige (Höhe der) Vertriebsprovisionen, Opportunitätskosten der Sitzplatzvergabe, die nötige Vorhaltung von Reservekapazität bei der verstärkten Wahl tendenziell „risikoreicherer“ Verbindungen, zusätzliche Budgets wegen Erlösschmälerung, nationale Befindlichkeiten bei grenzüberschreitenden Angeboten und die unmittelbaren Kosten der Fahrgastrechte stellen die wesentlichsten Hemmnisse, die jedoch zum Teil überwindbar sind, dar. Forschungsstand Die Sekundärforschung 15 ergab die in Tabelle 1 zusammengestellte Auswahl aus dem Spektrum empirischer Ergebnisse. So oft wie die grundsätzliche Bedeutung einer Tarifintegration auch aktuell wieder betont wird und deren positive Wirkung auf die ÖPNV-Nachfrage unumstritten ist 16 , so überschaubar ist die Menge von (neueren) Arbeiten, welche den Versuch unternehmen, den konkreten Nachfrageeffekt von Durchbuchbarkeit und Durchtarifierung innerhalb des ÖPNV verallgemeinerbar zu beziffern. Das größte Problem hierbei ist die Gewinnung eines standardisierten Effektmaßes - einerseits raum-zeitlich, zum anderen da vom MIV gewonnene Kunden nicht immer klar abgegrenzt und sie zudem oft gar nicht über die tatsächlichen ÖPNV- Preise im Referenzfall informiert sind. Die Separation des Effekts der Tarifintegration von weiteren Nachfragedeterminanten wie einer intermodalen Fahrplanoptimierung, Parkraumverknappung sowie Veränderungen des Mobilitätsverhaltens wird umso schwieriger je längerfristiger die Beobachtung erfolgt. Ferner sind z. B. der entfallende Aufwand für mehrmaligen Ticketkauf und die Nutzung einer Verbindungsgarantie im Unterschied zu maßgeblichen Kenngrößen der Angebotsqualität wie Gesamtreisezeit und Preis nicht klassischerweise Bestandteil verwendeter Nutzenfunktionen der Modalwahlmodelle. Während sich die Auswirkungen eines Kilometeranstoßes über das zugrunde liegende Preismodell berücksichtigen lassen, handelt es sich bei der Durchbuchbarkeit um ein nur einmalig veränderndes dichotomes, selten operationalisiertes Angebotsmerkmal. Doch gerade die Verbindung zum ÖSPV verdiente tiefergehende Untersuchungen, etwa inwieweit die in der MiD 2017 differierenden Anteile (SPNV: 23 %, SPFV 13 %) mit dem Schienenverkehr kombinierter ÖSPV-Nutzung auch auf unterschiedliche Tarifintegration zurückzuführen sind (Bild 4). Potenzialabschätzung Die landesweit generierbaren Mehrverkehre pro Jahr sind überschlägig zu ermitteln. Für die definierten Stufen der Tarifintegration wird jeweils das Produkt aus dem relevanten Wegeaufkommen in beförderten Personen (befP) und prozentualem Nachfrageanstieg abgeschätzt. Eine Systematisierung hinsichtlich User/ Non-User sowie des Einflusses auf Zugangs- und Hauptverkehrsmittelwahl ist in mehrstufigen Verkehrsmodellen möglich. Angesichts der vagen Literaturbefunde und ihrer fehlenden Aktualität und Verallgemeinerbarkeit wurde eine eigenständige Herleitung der Nachfragereaktion bis Stufe 4 vorgenommen. Für die Fernverkehrsrelation Beispiel (ii) ergeben sich bis zu 11,41 EUR Rabatt auf den Fahrpreis (Tabelle 2). Das entspricht einer Ersparnis von bis zu 41 % des Sparangebots, hingegen nur 2,5 % in Bezug auf einen Normalpreis. Im SPNV ist die Zugbindung irrelevant, dafür kommt die degressive Preiskurve zum Tragen, wodurch im Beispiel (i) der durchgehende Tarif fast 20 % günstiger wäre. Autor (Jahr) Untersuchungsgebiet Ggfs. Zeitraum Methode, Anmerkungen Nachfragereaktion Matas (2004) Großraum Madrid 1987-2001 Retrospektiv, parameterbasiert, alle nicht anderweitig erklärbaren Nachfrageanstiege auf das integrierte Ticketsystem zurückgeführt Kurzfristig +3,4 % Bus +5,3 % U-Bahn Langfristig +7/ 15 % Abrate et al. (2009) 69 Transportunternehmen in Italien Retrospektiv, Paneluntersuchung Kurzfristig +2,7 % ÖPNV Langfristig +12,7 % ÖPNV NEA (2003) Rom 1995-1997 Retrospektiv, parameterlos, längere Zeitreihen betrachtet +6 % ÖPNV Manchester 1999- 2001 +4 % (nur Bus) Hamburg 1967-2002 +19 % ÖPNV Paris 1975-1993 +33 % ÖPNV Stockholm 1973-2001 +25 % ÖPNV Eisenkopf et al. (2013) EU-weit Nicht-repräsentative SP- Nutzerbefragung aus EU-Staaten, hier: vollständige Durchtarifierung unterstellt Wechselwillige Non-User ÖPNV 1,3 % (Bus) 1,6 % (Bahn) Niedersachsen Tarif GmbH (2022) Niedersachsen Schätzung +2,8 % (Bartarif) +2,1 % (Zeitkarten) Tabelle 1: Untersuchungen zu Effekten von Durchbuchbarkeit und Durchtarifierung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 76 MOBILITÄT ÖPNV Die weitere Potenzialabschätzung ist in Tabelle 3 dokumentiert. Für die Eingrenzung des Marktsegments in SPNV konnte auf Eckdaten des Deutschlandtarifverbunds zugegriffen werden. Die Hochrechnung der Ergebnisse kommt zu dem Schluss, dass jährlich rd. 29 Mio. Bahnreisen im SPNV profitieren würden und basierend darauf je 1,7 Millionen Reisende bei ÖSPV und Regionalverkehr dazugewonnen werden können. Die Ergebnisse für den SPFV deuten, ausgehend von relevanten 62 Mio. Reisen, auf einen Zuwachs von 1 Mio. Reisen jährlich hin. Der Verlagerungseffekt vom MIV erbringt zusätzlich 3,4 Mio. beförderte Personen jährlich, wobei auch hier die Auswirkungen auf die Fahrgelderlöse und Zusatzkosten für ÖSPV, SPFV und SPNV noch getrennt zu betrachten wären. Fazit Ein Fahrschein für Bus und Bahn - das ist die prägende Idee für das Erfolgsmodell „Verkehrsverbund“. Dennoch gibt es wie gezeigt noch für viele Verkehrsbeziehungen kein einfaches vertriebliches bzw. sogar tarifliches Angebot. Die Schwäche des öffentlichen Verkehrs ist, dass Verwaltungsgrenzen zum Teil mehr Einfluss auf die Angebotsgestaltung haben als der eigentliche Kundennutzen. Der Gesetzgeber hat es bisher nicht vermocht, die in § 12 Absatz 1 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) vorgegebene „direkte Abfertigung“ bzw. „durchgehende Tarifierung“ auch intermodal festzuschreiben. Soweit diesbezügliche Markteingriffe als vertretbar angesehen werden, könnte der Bund z. B. im Zuge der Verhandlungen für höhere Regionalisierungsmittel dies als eine Forderung in die Verhandlung einbringen und im Regionalisierungsgesetz verankern. Mit Blick auch auf neue, multimodale Angebote wäre es wünschenswert, wenn der Gesetzgeber alle öffentlich-finanzierten Verkehrsunternehmen verpflichten würde, Daten und technische Standards bereitzustellen, damit auch weitere Mobilitätsanbieter eine direkte Abfertigung ermöglichen können. Mit dem 2020 gegründeten Deutschlandtarifverbund besteht nun auch eine Organisation, die diese verbundbzw. länderübergreifenden Aufgaben koordinieren könnte. Die Schweiz kann hier, wie bereits angeführt, als Blaupause dienen. Entscheidungsvorbereitend wurde die Relevanz einer bundesweiten tariflichen bzw. vertrieblichen Verknüpfung im Beitrag analysiert, wobei die zugehörige Kostenbetrachtung noch aussteht. Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass rund 65 Mio. beförderte Personen jährlich von einem derartigen Angebot profitieren könnten. Gleichzeitig ergibt sich neben einem erreichbaren Nachfragepotenzial von weiteren 6,1 Mio. beförderten Personen ein schwer abzuschätzender, aber positiver kommunikativer Effekt, wenn in Deutschland Bus und Bahn immer mit einem Fahrschein nutzbar sind. Das 9-Euro-Ticket hat sehr gut gezeigt, welche Aufmerksamkeit das Themenfeld „Bus und Bahn“ in einem bundesweiten Kontext erzielen kann. Angestoßen durch das 9-Euro-Ticket gibt es aktuell eine große (fach-)öffentliche Diskussion über Tarif- und Vertriebssysteme. Gleichzeitig wächst bei vielen Unternehmen, Aufgabenträgern und der Politik eine Bereitschaft, bestehende Systeme zu verändern. Dieses „strategische Fenster“ sollte genutzt werden, um auch die Integration des ÖSPV in den Deutschlandtarif voranzubringen. In vielen Diskussionen wird derzeit auf das unterschiedliche ÖPNV-Angebotsniveau zwischen Stadt und Land hingewiesen. Hier besteht in der Tat ein großer Handlungsbedarf für attraktivere öffentliche Mobilität im ländlichen Raum. Von der Integration des ÖSPV in den Deutschlandtarif würden insbesondere Menschen außerhalb der Verbundgebiete profitieren. Es Stufe Annahmen Monetärer Wert anhand Bsp. (ii) 1 bereits weitgehend realisiert 0,00 EUR 2 Zeitaufwand bei der Ticketbuchung 1 min x Stressfaktor 17 2,5 x Value of Time 12 EUR/ h 0,50 EUR 3 Sicherheitsäquivalent bei 2 % Wahrscheinlichkeit des Anschlussverlusts (nur Wiederbeschaffung des SPFV-Fahrscheins ohne Kosten der Reisezeitverlängerung) 8,91 EUR 4 Reduktion ÖSPV-Kosten aufgrund Kilometeranstoßes 2,00 EUR Tabelle 2: Nutzerkostenersparnis am Beispiel „User“ Fall (i) Reiner SPNV, Verbund-übergreifend bzw. überregional, ohne Zeitkarten, Mehrtageskarten, pauschale QDL- und Ländertickets ≈ 59 Mio. befP/ Jahr (Quelle: DTV) Anmerkung: 67 % der Reisen haben an Startund/ oder Zielort City-Gleichstellung, rund 15 % davon sogar an beiden Enden der Reise (Quelle: DTV) Annahme: Für 50 % des Restes ist die Anschlussmobilität nicht durch den SPNV lösbar (kein Zu-/ Abgang über Nahverkehrshalte), aber ÖSPV-relevant ≈ 29 Mio. befP/ Jahr Nachfragezuwachs bei 15 % mittlerer Ersparnis bei mittelfristiger direkter Preiselastizität ε P,dir =-0,4 = + 1,7 Mio. befP/ Jahr 18 „User“ Fall (ii) SPFV 2019: 151 Mio. befP/ Jahr 19 Gemäß MiD 2017 ca. 40 % der Reisenden (60 Mio befP) auch im ÖSPV unterwegs, nur beschränkt (Annahme: 40 %) durch City-Ticket abgedeckt, da: - nur die größten 130 Städte einbezogen - erst ab 100 km Reisestrecke - keine Anschlussgarantie (Zugbindung! ) - bisher nicht voll in Fahrplan-/ Tarifauskunft integriert ≈ 36 Mio. befP/ Jahr Nachfragezuwachs + 1 Mio. befP/ Jahr bei 10 % mittlerer Ersparnis und ε P,dir = -0,33 20 „Non-User“ 820 Mio. befP/ Jahr MIV Fahrer/ Mitfahrer ab 50km Entfernung, davon 30 % relevant für ÖSPV-Verknüpfung und 1,4 % bereit aufgrund Durchtarifierung modal zu verlagern ≈ +3,4 Mio. befP/ Jahr Tabelle 3: Abschätzung der Nachfragepotenziale von Durchbuchbarkeit und Durchtarifierung zu Fuß Fahrrad Pkw Carsharing-Fahrzeug Stadtbus/ Regionalbus U-Bahn/ Stadtbahn Straßenbahn Taxi Schiff/ Fähre Fernbus im Linienverkehr Flugzeug 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% SPNV MiT 2017 SPFV MiT 2017 Anteil der Fahrgäste Bild 4: SPFVvs. SPNV-Wege in Kombination mit weiteren Verkehrsmitteln Quelle: Autoren Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 77 ÖPNV MOBILITÄT wäre daher eine geeignete Maßnahme, da sie kurzfristig und zu tendenziell eher geringen Kosten umsetzbar ist und eine sehr positive Kommunikationswirkung bietet. Worauf also noch warten? ■ 1 „Verkehrsverbund übergreifende Ticketangebote sind nach wie vor Mangelware.“ (BM Dr. Wissing, Quelle: Ntv, 2022) 2 Vgl. PTV (2022) 3 Pütz / Schönfelder (2018), S.10 4 Die Hälfte der Bundesländer verfügt bereits über einen Landestarif (im Falle Berlin-Brandenburg sogar sich über zwei Länder erstreckend). Bis auf zwei Bundesländer planen alle restlichen einen solchen. 5 Unternehmen im ÖSPV müssen ungefähr doppelt so viel (0,23EUR/ Pkm vs. 0,11 EUR/ Pkm) pro Leistungseinheit einnehmen wie im SPNV. (Saenger, 2022, S. 70) 6 REJSEKORT & REJSEPLAN A/ S (2021) 7 Rat der Europäischen Union (2021), S.48 8 Eisenkopf et al. 2013, Finger et al. 2019, Bekiaris et al. 2020 9 Weidmann et al. (2007) 10 Eidgenössische Finanzkontrolle (2019) 11 Weigele et al. (2022) 12 Sauter-Servaes & Nash (2009) 13 IRG-Rail (2021) 14 RAILTEAM B.V. (2021) 15 Saenger (2022) 16 Vgl. u.a. Maciosek / Sierpinski (2017) 17 Vgl. TfL (2013) 18 Vgl. u.a. Fearnley/ Bekken (2005) 19 DB Fernverkehr AG (2020) 20 Vgl. u.a. Bastians (2009) QUELLEN Abrate, G.; Piacenza, M.; Vannoni, D. (2009): The Impact of Integrated Tariff Systems on Public Transport Demand: Evidence from Italy, Regional Science and Urban Economics, 39(2), S. 120-127. Bastians, M. (2009): Preiselastizitäten im öffentlichen Personenverkehr - Anwendungspotenziale und ihre Übertragbarkeit im räumlichen Kontext, Kiel. Bekiaris, E.; Loukea, M.; Panou, M.; Földesi, E.; Jammes, T. (2020): Seamless Accessibility of Transportation Modes and Multimodal Transport Across Europe: Gaps, Measures and Best Practices, in: Müller B.; Meyer G.: Towards User-Centric Transport in Europe 2. Springer, S. 43-59. DB Fernverkehr AG (Hrsg.) (2020): Geschäftsbericht 2019, Berlin. DLR (Hrsg.) (2017): Mobilität in Tabellen (MiT 2017), Berlin. Eidgenössische Finanzkontrolle (2019): Prüfung der IT-Plattform NOVA für den öffentlichen Verkehr, Bern. 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Reetz-Graudenz Internationales Verkehrswesen 2022-09-01 102 x139mm i.A. rechte Seite unten rechts PSI Transcom.indd 1 Internationales Verkehrswesen 2022-09-01 102 x139mm i.A. rechte Seite unten rechts PSI Transcom.indd 1 01.08.2022 17: 24: 57 01.08.2022 17: 24: 57 Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 78 ÖPNV für alle? Erwartungen an das 9-Euro-Ticket vor Start der Maßnahme 9-Euro-Ticket, ÖPNV, Individuelles Verkehrsverhalten, Mobilitätsgewohnheiten, Infrastruktur Der Klimawandel und die gestiegenen Energiepreise erfordern neue Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen des Verkehrssektors. Die temporäre Einführung des 9-Euro-Tickets bietet die Möglichkeit zur Erforschung potenzieller Auswirkungen des Tickets auf individuelles Mobilitätsverhalten. In einer Online- Befragung im Mai 2022 nach Bekanntwerden der Maßnahme wurden Aspekte der Kaufbereitschaft sowie Erwartungen an das Ticket erfasst, um Hemmnisse und Potentiale dieser Maßnahme aus verkehrspsychologischer Perspektive zu analysieren. Marie Klosterkamp, Paul Papendieck, Angela Francke Z ur Bewältigung des fortwährenden Klimawandels und der steigenden Energiepreise steht Deutschland vor der Aufgabe, eine schnelle Mobilitätswende hin zu emissionsarmem und nachhaltigem Verkehr zu meistern. Der Verkehrssektor ist der einzige große Wirtschaftssektor in Deutschland, dessen CO 2 -Emissionen im Verlauf der letzten zehn Jahre eher stiegen als sanken [1]. Um dies zu ändern, bedarf es neben technologischen Entwicklungen auch einer entsprechenden Gewohnheitsänderung in der Bevölkerung. Mit der Einführung des 9-Euro-Tickets bietet sich die Möglichkeit, den Effekt von Preissenkungen für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und damit klimafreundlicher Mobilität als Reallabor zu untersuchen. So soll auf der Grundlage von Daten evaluiert werden, inwiefern das Angebot dieses Tickets langfristige Auswirkungen auf individuelles Mobilitätsverhalten nach sich ziehen kann. Aus bisheriger Forschung geht hervor, dass unter anderem die Art der Preisgestaltung sowie auch das konkrete Preissystem entscheidend für die Einflussnahme auf Mobilitätsverhalten sein können [2]. Seit der Einführung des 9-Euro-Tickets im Juni 2022 haben über 21 Millionen Menschen die Monatskarte für den bundesweiten ÖPNV gekauft. Darüber hinaus wurden 10-Millionen Abos im deutschen ÖPNV vorübergehend durch das 9-Euro-Ticket ersetzt [3]. Das Fachgebiet Radverkehr und Nahmobilität der Universität Kassel nutzte diese Gelegenheit und analysierte die Erwartungen an das Ticket in Form einer Online-Befragung. Insbesondere wurde untersucht, für welche Zwecke das Ticket genutzt werden würde, wie die Preisgestaltung eines Folgetickets aussehen könnte und welche Faktoren die Entscheidung zum Kauf eines Tickets beeinflussen. Die Gültigkeit des 9-Euro-Tickets ist auf die Sommermonate Juni, Juli und August 2022 begrenzt. Daher ist es von zentraler Relevanz, Erkenntnisse der Auswirkungen dieser Maßnahme für die langfristige Gestaltung des ÖPNV heranzuziehen. Methode Die Befragung wurde als Längsschnittstudie mit einer Kombination von Trend- und Panel-Design konzipiert. Mehrere zeitlich aufeinander folgende Online-Fragebögen wurden entworfen, um den Einfluss des 9-Euro- Tickets auf langfristige Änderungen des individuellen Mobilitätsverhaltens zu untersuchen. Die erste Erhebung wurde im Mai 2022 vor der Einführung des Tickets durchgeführt und erfasste Mobilitätsgewohnheiten, Kenntnisse und Einstellungen zum 9-Euro-Ticket sowie infrastrukturelle Aspekte des Wohnortes. Dabei wurden mittels fünfstufiger Likert-Skalen unter anderem Daten zur Vertrautheit mit den Ticketkonditionen, der Kaufintention, der Bewertung der ÖPNV-Infrastruktur sowie der Bewertung des ÖPNV Angebots vor Ort erhoben. Weitere Fragen wurden durch offene Antwortformate freier gestaltet und bezogen sich auf die Preisgestaltung und Erwartungen an das Ticket. Da Mobilitätsverhalten unter anderem auf Gewohnheiten basiert [4], wurde die Kaufintention für das 9-Euro-Ticket unter Einbezug bestehender Mobilitätsgewohnheiten der Teilnehmenden analysiert. Mittels der Verwendung von elf beispielhaften Mobilitätsszenarien (u. a. Arbeitsweg, Einkäufe, der Besuch von Verwandten) wurden in Anlehnung an Klöckner [5] Anteile des Modal Splits von ÖPNV und des motorisierten Individualverkehrs Foto: Ivo Zahradníček / pixabay MOBILITÄT ÖPNV Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 79 ÖPNV MOBILITÄT (MIV) berechnet. Die vorliegenden Ergebnisse beziehen sich dabei ausschließlich auf diese erste Erhebung vor dem Start des 9-Euro-Tickets. Darüber hinaus sollen in den folgenden Erhebungswellen auch Zeiträume während und nach Gültigkeitszeitraum des Tickets untersucht werden. Die Stichprobe besteht aus 2.222 Teilnehmenden, von denen sich 53 % als männlich (n = 1.191), 45 % als weiblich (n = 1.000) und 1 % als divers (n = 18) identifizierten, wobei 1 % (n = 13) keine Angabe machten. Im Durchschnitt waren die Befragten 43,3 Jahre alt (SD = 14,39) und die Spannweite reichte von 18 bis 91 Jahren. Wie in Bild 1 zu sehen ist, erreichte die Befragung Teilnehmende aus ganz Deutschland. Die örtliche Verteilung der Teilnehmenden entspricht dabei weitgehend der Bevölkerungsdichte in Deutschland. Zusammengenommen wohnen 8 % der Teilnehmenden in dörflichen Regionen, 18 % in kleinen Städten, 8 % in mittelgroßen Städten, 30 % in Großstädten und 36 % in Metropolen. Im Vergleich mit der tatsächlichen Verteilung der Bevölkerung in Deutschland (14 % dörflich, 45 % kleine Stadt, 9 % mittelgroße Stadt, 15 % Großstadt, 17 % Metropole) [6] sind demnach in der Stichprobe kleine Städte etwas unter- und Metropolen etwas überrepräsentiert. Ergebnisse Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der ersten Erhebungswelle aufgezeigt. Kaufintention 91 % der Befragten geben an, bereits vor der Gültigkeit des Tickets mit dessen Konditionen vertraut gewesen zu sein. Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten Befragten (86 %) planten, das 9-Euro-Ticket zu erwerben oder dies zum Zeitpunkt der Befragung bereits getan hatten. Bild 2 zeigt dabei die Verteilung der Kaufintention der Befragten abhängig von der Größe des Wohnortes. Teilnehmende aus dörflichen Regionen standen einem Ticketerwerb verhaltener gegenüber, dennoch plante mehr als die Hälfte dieser Gruppe (64 %), das Ticket (eher) wahrscheinlich zu erwerben. Die größte Kaufbereitschaft (87 %) zeigt sich in der Gruppe der Teilnehmenden, die in einer Metropolregion leben. Bild 3 zeigt die Kaufintention des 9-Euro- Tickets abhängig von der Bewertung der Verkehrssituation für den ÖPNV. Insbesondere in Regionen, in denen die Infrastruktur für den ÖPNV als sehr gut bewertet wird, ist eine hohe Kaufintention (88 %) zu sehen. Selbst in Gebieten mit sehr schlechter Infrastruktur berichten noch 54 % der Befragten von der Absicht, das 9-Euro-Ticket zu erwerben. Insgesamt 21 % der Befragten geben an, in Orten mit (eher bis sehr) schlechter ÖPNV-Infrastruktur zu leben (siehe Bild 4). Weitere 46 % bewerten die Infrastruktur für den ÖPNV im Wohnort als (eher bis sehr) gut. Die Gruppe der Befragten, für die ein Ticketkauf sehr unwahrscheinlich erschien, Diagramme - ÖPNV für alle? Erwartungen an das 9-Euro-Ticket vor Start der Maßnahme Bild 1 Bild 1: Bundesweite Verteilung der Stichprobe, die anhand der Postleitzahl ermittelt wurde. Eigene Darstellung Bild 2: Kaufintention nach Größe des Wohnortes. Die Kategorie „(sehr) wahrscheinlich“ enthält dabei auch Personen, die das Ticket bereits erworben haben. Bild 3: Kaufintention nach Bewertung der Infrastruktur für den ÖPNV vor Ort. Die Kategorie „(sehr) wahrscheinlich“ enthält dabei auch Personen, die das Ticket bereits erworben haben. Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 80 MOBILITÄT ÖPNV legten im Schnitt ein Viertel ihrer Wege mit dem Auto zurück und etwas mehr als jeden zehnten Weg mit dem ÖPNV (siehe Bild 5). Im Vergleich dazu legten Teilnehmende, die das Ticket bereits erworben hatten, im Durchschnitt nur jeden zehnten Weg mit dem Auto zurück und dagegen jeden fünften mit dem ÖPNV. In Bezug auf den Zusammenhang der Kaufintention des 9-Euro-Tickets mit verschiedenen Prädiktoren wurde eine multiple Regressionsanalyse durchgeführt. Sie zeigt, dass in der vorliegenden Stichprobe das Alter, die individuelle Einschätzung von Infrastruktur des ÖPNV in Bezug auf Verfügbarkeit und Fahrtzeit sowie die gewohnheitsmäßige Nutzung des ÖPNV und des MIV Einfluss auf die Absicht haben, das 9-Euro-Ticket zu erwerben (F(10,1.569) = 18,26 p <.001, n = 1.580). Das Modell erklärte dabei 10 % der auftretenden Varianz. Tabelle 1 zeigt: Während jüngere Menschen in der vorliegenden Stichprobe eher eine ausgeprägte Kaufintention als ältere Menschen haben, scheint auch die Infrastruktur des ÖPNV am Wohnort der Befragten eine wichtige Rolle zu spielen: Je besser Befragte ihren eigenen Wohnort in Bezug auf die Verfügbarkeit des ÖPNV-Angebots und die Fahrtzeit im ÖPNV im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln einschätzen, desto ausgeprägter ist die berichtete Absicht, das 9-Euro-Ticket käuflich zu erwerben. Wichtig für diesen Zusammenhang ist, dass diese Berechnung unter Einbezug der Kontrollvariable der Wohnortgröße signifikant ist. Dies legt nahe, dass der in Bild 2 dargestellte Stadt-Land-Unterschied in Bezug auf die Kaufintention auf die unterschiedlichen Gegebenheiten der Infrastruktur des ÖPNV vor Ort zurückzuführen ist. Die Einschätzung des bestehenden ÖPNV-Angebots in Bezug auf dessen Preisgestaltung ist dagegen kein signifikanter Prädiktor. Der im Vergleich zu den genannten Prädiktoren größte Zusammenhang zeigte sich dabei, wie in Tabelle 1 zu sehen, bei der gewohnheitsmäßigen Nutzung des MIV. Dies legt nahe, dass Befragte, die in ihrem Alltag häufig das eigene Auto nutzen, von einer geringeren Absicht berichten, das 9-Euro-Ticket zu erwerben als jene, die nur selten oder gar nicht mit dem Auto fahren. Menschen, die dagegen in ihrem Alltag häufig mit dem ÖPNV unterwegs sind, berichteten von einer größeren Kaufintention als jene, die nur selten oder gar nicht mit dem ÖPNV unterwegs sind. Nutzungsintention Unter der Möglichkeit mehrfacher Angaben wurden vor allem Tagesausflüge (77 %) und Besuche bei Verwandten und Befreundeten (64 %) als Zwecke der geplanten Nutzung des 9-Euro-Tickets genannt. Auch für den Weg zur Arbeit (47 %) planten die Menschen die Nutzung des Angebots. Erwartungen an das Ticket Mit Beantwortung der offenen Frage „Welche Erwartung haben Sie an das 9-Euro-Ticket? “ konnten die Teilnehmenden ihre persönlichen Erwartungen an das Ticket äußern. Dabei wurde das Konzept eines bundesweit einheitlichen Tickets und der damit einhergehenden Verkehrsverbund-unabhängigen und vereinfachten Nutzung des ÖPNV von den Umfrageteilnehmenden vermehrt als wichtiger Aspekt des Tickets genannt. Ebenso wurde bereits vor der Einführung des Tickets eine Verstetigung des Angebots gefordert. Insbesondere die Kostenersparnis durch das vergünstigte Ticket wurde positiv aufgefasst. Manche Teilnehmenden erhofften sich, dass das Ticket die Möglichkeit der Substitution von Autofahrten durch den öffentlichen Nahverkehr ermöglichen würde. Zu den erwarteten Folgen der Einführung des Tickets gehörte jedoch auch die Befürchtung überfüllter Verkehrsmittel, die den Transport größerer Gegenstände wie Fahrräder erschweren könnte. Ebenso wurde vermutet, dass das Ticket induzierten Verkehr fördern könnte, der ohne das 9-Euro-Ticket gar nicht erst stattgefunden hätte. Vereinzelt wurde geäußert, dass die Kosten für diese Maßnahme besser anderweitig, z. B. für einen Ausbau des innerdeutschen Schienennetzes, investiert worden wären. Preisvorstellung Die Preisvorstellung für einen Nachfolger des 9-Euro-Tickets wurde mit folgender Frage erfasst: „Wie viel Geld würden Sie im Monat für ein Ticket ausgeben, welches dauerhaft die gleichen Möglichkeiten wie das 9-Euro- Ticket bietet? “ Die Analyse der Preisvorstellungen der Teilnehmenden zeigt, dass ein Bild 4: Bewertung der ÖPNV-Infrastruktur vor Ort Bild 5: Gewohnheitsmäßige Nutzung von ÖPNV und MIV nach Kaufintention Kaufintention Variablen β p Alter - .12*** <.001 ÖPNV Infrastruktur vor Ort - Verfügbarkeit .09* .01 ÖPNV Infrastruktur vor Ort - Fahrtzeit .08* .01 ÖPNV Infrastruktur vor Ort - Preis - .03 .20 Gewohnheitsmäßige Nutzung von ÖPNV .08** <.01 Gewohnheitsmäßige Nutzung des MIV - .20*** <.001 a Regression kontrolliert für Geschlecht, Bildung, ökonomischen Status des Haushalts, Größe des Wohnortes: * p < .05; ** p < .01; *** p < .001 Tabelle 1: Standardisierte Regressionskoeffizienten für Prädiktoren von Kaufintention des 9-Euro-Tickets a Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 81 ÖPNV MOBILITÄT Preis von 69 EUR - wie ihn der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen im Juli 2022 vorschlug [7] - für 83 % der Befragten zu hoch wäre. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass 50 % der Befragten bereit wären, bis zu 30 EUR pro Monat für ein solches Ticket zu zahlen. Bei einem Preis von 19 EUR wären bereits 80 % bereit, ein dauerhaftes Ticket mit den Eigenschaften des 9-Euro- Tickets zu erwerben. Diskussion Wie bereits aus zahlreichen früheren Untersuchungen bekannt, zeigt sich auch im Fall der Einführung des 9-Euro-Tickets, dass bestehende Mobilitätsgewohnheiten geplantes zukünftiges Mobilitätsverhalten stark beeinflussen [5, 8, 9, 10]. Vor allem eine stark verankerte Angewohnheit, das eigene Auto für alltägliche Wege zu nutzen, verringert die Bereitschaft, in Zukunft andere Verkehrsmittel zu nutzen. Disruptive Ereignisse wie Umzüge in eine andere Stadt besitzen jedoch das Potential, die Wirkmacht routinierter Gewohnheiten zu mindern [4]. Inwiefern auch das 9-Euro-Ticket dieses Potential besitzt, wird sich erst im Verlauf der weiteren Erhebungen seriös einschätzen lassen. Die erste Befragung legt wenig überraschend vorerst nahe, dass die bloße Ankündigung eines vergünstigten ÖPNV- Tickets noch keine großflächigen Auswirkungen auf die Verkehrsmittelwahl hat. Die örtlichen Gegebenheiten der Infrastruktur des ÖPNV spielen dagegen in der Abwägung, das 9-Euro-Ticket zu kaufen oder nicht, eine wichtige Rolle. Dass Befragte in Regionen mit gut ausgebautem ÖPNV eher planten, das Ticket zu erwerben als in Regionen mit schlecht ausgebautem ÖPNV, zeigt, dass das 9-Euro-Ticket im Hinblick auf eine nachhaltige Verkehrswende weniger als alleinstehende Maßnahme zu betrachten ist. Vielmehr kann es erst als Teil vielfältiger Anstrengungen zur Förderung nachhaltiger Verkehrssysteme sein volles Potential ausschöpfen. Hierzu kann unter anderem auch der Ausbau des Nahverkehrsnetzes in Deutschland gehören. Etwas überraschend stehen regionale Bedingungen der Preisgestaltung des ÖPNV nicht im Zusammenhang mit der Absicht, das Ticket zu kaufen. Mögliche Erklärung könnte hier sein, dass der Preis des Tickets mit 9 EUR pro Monat so gering ist, dass im Vergleich zu dieser Summe deutschlandweit keines der bisherigen Preissysteme konkurrenzfähig ist und das 9-Euro-Ticket daher aus einer finanziellen Sicht potenziell für alle Befragten in gleicher Weise attraktiv ist. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage des Preises für ein vergleichbares Ticket im Anschluss an die Maßnahme des 9-Euro-Tickets zusätzlich an Bedeutung. Die Ergebnisse zeigen, dass ein Preis von 19- EUR ein dauerhaftes Nahverkehrsticket aus finanzieller Sicht ähnlich attraktiv wirken ließe wie das 9-Euro-Ticket. Aufgrund des geringen Zeitraums zwischen der Bewilligung und Einführung der Maßnahme wurde als Erhebungsdesign eine schnell umsetzbare Online-Erhebung ausgewählt. Dies kann unter Umständen zu einer Unterrepräsentierung jener Teile der Bevölkerung in der Stichprobe führen, die wenig technikaffin sind. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass am ÖPNV interessierte Personen tendenziell eher an der Befragung teilnehmen könnten als jene, die im Alltag nur wenig mit dem ÖPNV in Berührung kommen. Dieses Phänomen muss bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden. Aufgrund der Beschränkung der Maßnahme auf die Sommermonate kann nicht mit letzter Sicherheit analysiert werden, inwiefern potenziell beobachtete Verhaltensänderungen auf saisonale Effekte wie Ferien und Urlaubszeiten oder auf das 9-Euro-Ticket zurückzuführen sind. Zusammenfassung und Ausblick Die hohe Akzeptanzquote des Tickets zeigt das große Potential einer breitflächigen Nutzung des ÖPNV und die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Förderung dessen durchzuführen. Insbesondere der Preis und die Einfachheit der Nutzung unabhängig von den Geltungsbereichen der einzelnen Verkehrsverbünde zeigen sich als attraktiv für die Befragten. Der Einbezug dieser Aspekte für anschließende Maßnahmen kann demnach hilfreich sein. Die Erhebung ist noch nicht abgeschlossen und endgültige Ergebnisse werden erst nach Abschluss der dritten Befragung vorliegen. Somit handelt es sich hier vor allem um vorläufige Ergebnisse, die einen ersten Einblick in die Bewertung des Tickets und der allgemeinen Verkehrssituation vor der tatsächlichen Nutzung geben. Nachfolgende Befragungen werden Hinweise darauf geben, wie das tatsächliche Nutzungsverhalten im weiteren Verlauf der Maßnahme aussieht. Damit trägt dieses Forschungsprojekt zur gesellschaftlichen Diskussion der Frage bei, wie Menschen in Deutschland in Zukunft mobil sein werden. ■ LITERATUR [1] Umweltbundesamt. (2021): Finale Treibhausgasbilanz 2019: Emissionen sinken um 35 Prozent gegenüber 1990.www.umweltbundesamt.de/ presse/ pressemitteilungen/ finale-treibhausgasbilanz- 2019-emissionen-sinken-um (abgerufen am 10.08.2022). [2] Francke, A. 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Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachgebiet Radverkehr und Nahmobilität, Universität Kassel marie.klosterkamp@uni-kassel.de Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 82 Vom Bahnhof zum intermodalen Mobility Hub Umbau des Bahnhofs Stuttgart-Vaihingen zur-Mobilitätsstation Mobility Hub, Mikromobilität, Intermodal, ÖPNV, Digitalisierung, Mobilitätsdaten Mobility Hubs, zu Deutsch Mobilitätsstationen, gelten als ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer erfolgreichen Mobilitätswende. Hier können Menschen bequem zwischen unterschiedlichen Verkehrsmitteln wählen und so, unterstützt durch die Vorteile der Digitalisierung, flexibel unterwegs sein. Damit Mobility Hubs den an sie gestellten Anforderungen gerecht werden, bedarf es eines datenbasierten und nutzerzentrierten Konzepts. Der vorliegende Artikel zeigt anhand der Weiterentwicklung des Bahnhofs Stuttgart-Vaihingen zu einem Mobility Hub, wie datengestützte Analysen die Grundlage für eine erfolgreiche Planung und Einrichtung solcher Knotenpunkte liefern können. Andrés Vargas Diaz, Philipp Henzgen I n den vergangenen Jahren hat sich das Bild der Mobilität in Deutschland erweitert. Für die Erste und Letzte Meile zwischen der eigenen Haustür und der nächsten Haltestelle sind geteilte Mobilitätsdienste wie Bike-Sharing oder Car-Sharing immer häufiger das Verkehrsmittel der Wahl. Allen gemein ist der Wunsch nach schneller, flexibler und digitaler Mobilität. Die neuen Verkehrsmittel und ihre Nutzenden stellen neue Anforderungen an die Flächen- und Modal-Split-Verteilung im öffentlichen Raum. Mobility Hubs haben das Potenzial, intermodal affinen Nutzenden den Übergang zwischen Verkehrsmitteln zu erleichtern und neue Zielgruppen zu erschließen. Sie zeigen zudem eine mögliche Weiterentwicklung des schienenfokussierten Bahnhofs zum intermodalen, klimafreundlichen Mobility Hub. Einbindung in den ÖPNV und Definition Mobilitätsstationen sind kein neues Konzept. Neu ist jedoch, dass physische und digitale Lösungen sowie Dienstleistungen gemeinsam angeboten werden und sich nicht auf einen Anbieter konzentrieren. Der Wechsel zwischen den Verkehrsmitteln soll so attraktiv gestaltet sein, dass gemeinsam genutzte Mobilität kombiniert mit dem öf- Titelbild: Drohnenaufnahme des ersten Mobility Hubs der Deutschen Bahn am Bahnhof Stuttgart-Vaihingen Foto: Julien Arnold, Smart City DB MOBILITÄT Intermodalität Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 83 Intermodalität MOBILITÄT fentlichen Verkehr (ÖV) dem privaten PKW für die Erste und Letzte Meile vorgezogen wird. Demnach ist ein Mobility Hub im engeren Sinne ein zentraler Ort im Bahnhofsumfeld, an dem auf Sharing-Angebote umgestiegen werden kann. An diesem Knotenpunkt treffen kombinierte modulare Systeme von Mobilitätslösungen- und Dienstleistungen zusammen, die sowohl bauliche als auch digitale Elemente beinhalten. Für die Fahrgäste ergibt sich ein neues Angebotsbild, wenn umweltfreundliche Sharing- Dienste baulich eingebunden werden, so z. B. feste Abstell- und Parkmöglichkeiten für die unterschiedlichen Sharing-Angebote zusammen mit der Ladeinfrastruktur. Ein Kernelement ist das Flächenmanagement- Tool, das eine digitale Verbindung zwischen den Mobility Service Providern (MSP) und Flächeneigentümern/ -bewirtschaftern herstellt. Über das Tool können Parkzonen, Parkverbotszonen und die Positionierung der Fahrzeuge transparent für alle Stakeholder hinterlegt und geteilt werden. Eine intermodale App für die Mobilitätsstation dient als digitale Kundenschnittstelle. Per Smartphone lassen sich intermodale Reiserouten erstellen und bestenfalls kombinierte Tickets erwerben. Häufige Kombinationsvarianten sind z. B. die Nutzung eines Sharing-Angebots und der Erwerb des ÖV- Tickets oder die Stellplatzreservierung für den privaten PKW in Kombination mit einer Weiterfahrt per S-Bahn. Fasst man den Begriff des Mobility Hubs weiter, fallen zentrale Orte des Umstiegs auf die eigentumsbasierte Mobilität darunter, wie ungesichertes/ gesichertes Fahrradparken oder P+R-Stellplätze mit Reservierungsfunktion. Standortauswahl Eine Vielzahl der deutschlandweit rund 5.400 Bahnhöfe der Deutschen Bahn (DB) bieten bereits heute großes Potenzial für die Weiterentwicklung zu Mobility Hubs. In der Planungsphase wurde daher nach einem Standort gesucht, an dem sich eine sinnvolle Integration der Sharing-Dienste in das bestehende ÖPNV-Angebot erreichen lässt. Für das Pilotprojekt wurde die Region Stuttgart ausgewählt, da dort Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung gegeben waren. In der Region war zu Planungsbeginn kein vergleichbares Angebot verfügbar. Gleichzeitig fördert der verantwortliche Aufgabenträger intermodale Services und will diese weiterentwickeln. Weitere Vorteile waren eine etablierte Intermodal-App (Mobility Stuttgart App) und eine topografische Lage, die den Einsatz elektrisch betriebener Sharing-Angebote begünstigt. Methodisches Vorgehen Für die Umsetzung des ersten Mobility Hubs der DB an einem geeigneten Standort wurde mittels einer mikroskopischen Simulation der Verkehrsnachfrage das Potenzial der Sharing-Angebote (e-Scooter, Bike-Sharing und e-Moped) zur Verbesserung der Ersten und Letzten Meile untersucht. Dabei wurde ein nutzerzentrierter Ansatz gewählt, um die Bedürfnisse und die Anforderungen an geteilte Mobilität bestmöglich abzubilden. Eine möglichst nahtlose Integration in das bestehende ÖPNV-Angebot bildete die Grundlage der Planungen. Mit einer Erreichbarkeitsanalyse wurden Mobilitätslücken im heutigen ÖV-System identifiziert und anschließend bewertet, inwieweit die betrachteten mikromobilen Sharing-Angebote zur Schließung dieser Lücken beitragen können (Potenzialanalyse). Nach der Bewertung des verkehrlichen Nutzens wurden weitere Kriterien berücksichtigt, um den geeigneten Standort festzulegen (z. B. Lage, Flächenverfügbarkeit oder Verfügbarkeit der MSP). In Abhängigkeit des Pilotstandorts wurde die zu erwartende Nachfrage der Sharing-Dienste als Grundlage für die Flächendimensionierung abgeschätzt. Bestandsanalyse In der Region der Landeshauptstadt Stuttgart sowie den anliegenden Landkreisen (Ludwigsburg, Rems-Murr-Kreis, Böblingen und Esslingen) sowie rund um den Bahnhof Vaihingen ist ein großes Netzwerkpotenzial vorhanden. Die Bevölkerung steht neuen Mobilitätsformen und Antriebsarten besonders offen gegenüber. Im ersten Schritt wurde daher eine Bestandsanalyse der aktuellen Mobilitätssituation durchgeführt. Sie erfasst detailliert das Liniennetz des ÖV mit seinen Haltestellen, Buslinien und Schienenverkehr und identifiziert die Bediengebiete der Sharing-Angebote. Die Analyse zeigte, dass ein Großteil davon ausschließlich in den Innenstadtbezirken von Stuttgart zur Verfügung steht. Außerhalb der Stadtgrenzen ist die Verfügbarkeit geringer - Car- und Bike-Sharing spielen im Umland die größte Rolle; weitere Sharing-Angebote sind dort nur selten vorhanden. Die Untersuchung ergab, dass in der Region rund 120 Haltestellen des SPNV zur Verfügung stehen, 83 davon sind Haltestellen, die von der S-Bahn-Stuttgart bedient werden. Der Schienenverkehr verbindet Stuttgart mit zahlreichen Nachbarstädten und -kommunen und bildet das Rückgrat der Verkehrsbedienung in der Region. Im Gegensatz dazu übernimmt der Linienbusverkehr die Funktion der lokalen Erschließung sowie Zu- und Abbringerdienste zu bzw. von den Schienenhaltestellen (insbesondere in Stuttgart). Nachfrageanalyse Zur Abbildung der Verkehrsnachfrage wurde ein mikroskopisches Verkehrsmodell Bild 1: Für die mikroskopische Simulation der Verkehrsnachfrage im Untersuchungsraum wurden rund 7,8 Millionen Wege pro Werktag simuliert. Quelle: ioki GmbH, eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 84 MOBILITÄT Intermodalität verwendet, das u. a. auf feinräumige soziodemografische Daten, koordinatenscharfe Bebauungs- und Nutzungsdaten sowie weitere Datensätze aus Mobilitätsstudien zurückgreift (Bild 1). Die unterschiedlichen Datengrundlagen werden mit Hilfe eines simulated annealing-Verfahrens (Auffinden der besten Näherungslösung des Optimierungsproblems) kombiniert. So entsteht ein räumlich und zeitlich realistisches Abbild der Mobilitätsbedürfnisse für einen typischen Werktag im Untersuchungsraum. Aus diesen Mobilitätsbedürfnissen werden auf Basis der Aktivitäten der Bevölkerung im Tagesverlauf detaillierte Tür-zu-Tür-Wegeketten für die komplette Wohnbevölkerung erzeugt. Für den gesamten Untersuchungsraum wurden rund 7,8 Millionen Wege an einem regulären Werktag simuliert - nur zwölf Prozent werden davon im ÖV zurückgelegt. Es zeigt sich ferner ein Nutzungsgefälle zwischen der Stuttgarter Innenstadt und dem Umland; der ÖV-Anteil ist in Stuttgart höher als im Umland. Erreichbarkeitsanalyse Auf Basis der zuvor gewonnenen Daten wurden Angebotslücken identifiziert, um die Erreichbarkeit der Verkehrsmittel darzustellen. Mittels eines Attraktivitätswerts je Modus auf Basis von Reisezeiten, Frequenzen, Umstiegen und Wartezeiten werden räumliche und zeitliche Angebotslücken im ÖPNV gegenüber dem motorisierten Individualverkehr (MIV) für einen typischen Werktag aufgedeckt. Das Ergebnis ist eine Beschreibung der Verkehrsgebiete, in denen durch ein verbessertes ÖV-Angebot ein möglichst großer Verlagerungseffekt erzielt werden kann. In diesem Analyseschritt setzt sich das starke Stadt-Land-Gefälle in Bezug auf die ÖV-Attraktivität zwischen urbanen und sub-urbanem/ ländlichen Gebiet fort (Bild 2). Die Ergebnisse der bisherigen Analyseschritte decken sich mit Studien zur ÖPNV-Abdeckung in Deutschland. 1 Potenzialanalyse Für die Potenzialanalyse wurden aus der Erreichbarkeitsanalyse die Schwachstellen im ÖV-Gesamtsystem und darauf basierend potenzielle Bediengebiete für die untersuchten Sharing-Angebote abgeleitet. Die Bahnhöfe der S-Bahn-Stuttgart dienen als Verknüpfungspunkte zwischen den bestehenden ÖV-Angeboten und den zu untersuchenden Sharing-Diensten (e-Scooter, BikeSharing und e-Mopeds). Die Sharing-Angebote fungieren als Zubringerverkehre zur Schiene. Für jeden Weg aus der Nachfrageanalyse wurden verschiedene Verkehrsmittelkombinationen bewertet (z. B. e-Scooter + S-Bahn + Fußweg). Jede mögliche Kombination erhielt einen Nutzenwert auf Basis von Reisezeit, Frequenzen, Umstiegen und Wartezeiten. So wurden für jeden Weg im Untersuchungsgebiet ein Attraktivitätsbzw. ein Nutzenwert je Verkehrsmittelkombination ermittelt. Anhand des berechneten Nutzenwerts wurden anschließend alle Wege der mikroskopischen Verkehrssimulation klassifiziert und kategorisiert nach: a) ÖV-Angebot mit hoher Attraktivität (geringer Nutzen für zusätzliche Sharing- Dienste) b) ÖV-Angebot mit niedriger Attraktivität (hoher Mobilitätsnutzen durch Sharing- Dienste als Anschluss zum Schienenverkehr) Anhand dieser Einteilung können Standorte identifiziert werden, in denen Reisende in besonderem Maße zeitlich und/ oder räumlich von einem Sharing-Service profitieren (auf Basis von Attraktivitätsgewinnen/ Reisezeitersparnis). Dort ist eine Verlagerung der Verkehrsnachfrage aus dem MIV in den ÖV besonders hoch und wahrscheinlich. Die Methodik und die Integration der Sharing-Dienste in das heutige ÖV- Angebot halten das Risiko eines Kannibali- Bild 2: Die Attraktivität des ÖV zeigt ein Stadt-Land-Gefälle im Untersuchungsraum. Quelle: ioki GmbH, eigene Darstellung Bild 3: Die am Mobility Hub Stuttgart-Vaihingen vertretenen MSP Voi, TIER, Bolt, RegioRad, Flinkster und Stella verzeichnen steigende Nutzungszahlen seit Inbetriebnahme. Quelle: DB Curbside Cockpit 2021/ 2022 (Datenbasis), eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 85 Intermodalität MOBILITÄT sierungseffekts gegenüber dem heutigen ÖV-System so gering wie möglich. Am Pilotstandort wurde ein hohes Potenzial für Mikromobilitätsdienste zur Schließung vorhandener Mobilitätslücken als Zubzw. Abbringer zum SPNV festgestellt. Im potenziellen Einzugsgebiet befinden sich ein wachsendes Gewerbegebiet und Gebäude der Universität Stuttgart mit einer hohen Anzahl an mikromobilitätsaffinen Studierenden, was den Nutzen der Mobilitätsalternativen erhöht. Der Bahnhof liegt zentral, so dass MSP bereits vor Errichtung des Mobility Hubs anwesend waren. Gleichzeitig liegt er so dezentral, dass viele Schienenfahrgäste ihn als Umstiegspunkt (P+R) vom Privat-PKW auf die Schiene nutzen. Im Rahmen der Pilotierung wurde deshalb neben der Sharing-Station die Stellplatzreservierung für PKW mit insgesamt sieben reservierbaren PKW-Stellplätzen vertestet. Dimensionierung Zuletzt wurde die Größe des Standortes anhand des theoretischen Nachfragepotenzials und des realisierten Fahrtenpotenzial ermittelt. Das theoretische Nachfragepotenzial umfasst die Anzahl der potenziellen Sharing-Fahrten pro Tag mit Start- oder Zielpunkt Bahnhof. Darin ebenfalls abgebildet ist der angenommene Marktanteil der Sharing-Dienste am Verkehrsaufkommen. Das realisierte Fahrtenpotenzial beschreibt die Anzahl der Fahrten, die unter Berücksichtigung der Fahrzeugverfügbarkeit im Einzugsgebiet des Bahnhofs tatsächlich stattfinden können. Die Dichte und Verfügbarkeit der Sharing-Fahrzeuge im Einzugsgebiet ist entscheidend für das realisierte Fahrtenpotenzial: Kann der Nutzende kein Sharing-Fahrzeug fußläufig erreichen, findet keine Fahrt statt. Aus der Differenz der Fahrten, die am Bahnhof starten und enden, lassen sich Stellplatzbelegungsganglinien ableiten. Diese dienen als Grundlage zur Dimensionierung des Flächenbedarfs. Da nicht jeder potenziell Nutzende ein Fahrzeug in seiner Nähe findet, ist mit mehr Fahrtbeginnen ab Bahnhof als mit Fahrtenden am Bahnhof zu rechnen. Die Anzahl der benötigten Stellplätze/ Fahrzeuge wird iterativ ermittelt, so dass für alle potenziellen Nutzenden am Mobility Hub eine ausreichende Fahrzeugverfügbarkeit über den Tag gewährleistet ist. Für Stuttgart-Vaihingen ergibt sich ein Flächenbedarf für 25 Scooter, zehn Leihfahrräder und fünf e-Mopeds, verteilt auf die vorhandenen beiden Ausgänge (gewichtet, anhand von Reiseströmen im Bahnhof ). Schlussfolgerungen Anhand des Mobility Hubs in Stuttgart-Vaihingen sollte gezeigt werden, wie durch datengestützte Analysen eine erfolgreiche Errichtung von Mobility Hubs an DB-Bahnhöfen umgesetzt werden kann. Die Daten des Pilotstandortes in Stuttgart-Vaihingen belegen, dass seit der Inbetriebnahme im November 2021 das Angebot um Bike- und e- Moped-Sharing erweitert und sich das Mobilitätsverhalten verändert hat (Bild 3). Eine größere Fahrzeugverfügbarkeit führt zu einer verstärkten Nutzung der Sharing-Fahrzeuge auf der Ersten und Letzten Meile. Das regelmäßige Auffüllen der MSP bedient die bestehende Letzte-Meile-Nachfrage und führt zu mehr realisierten Fahrten. Vorher- Nachher-Vergleiche belegen ein verbessertes Abstellverhalten und weniger Parkverstöße (Bild 4). Die so entstandene und in das ÖV-System integrierte Anschlussmobilität dokumentiert, dass Mobility Hubs eine klimafreundliche, inter- und multimodale Mobilität durch Kombination verschiedener Verkehrsmittel fördern. Für die erfolgreiche Umsetzung bedarf es eines datenbasierten Konzepts, das ausgehend von den tatsächlichen Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung den passenden Mobilitätsmix zwischen ÖPNV, Sharing- und Pooling-Angeboten zur Verfügung stellt. Die Erkenntnisse aus den ersten Betriebsmonaten am Pilotstandort zeigen, dass eine konfliktfreie Flächenverteilung im öffentlichen Raum zwischen unterschiedlichen Verkehrsmitteln möglich ist und gleichzeitig verlässliche Mobilitätsangebote schafft. ■ 1 Siehe u. a. Deutschlandweite Analyse der ÖPNV-Abdeckung mit Fokus auf dem ländlichen Raum, ioki 2021. Andrés Vargas Díaz Verkehrsingenieur Mobility Analytics, ioki GmbH, Frankfurt am Main andres.vargas-diaz@ioki.com Philipp Henzgen, Dr. Senior Project Manager Mobility, Smart City DB, Deutsche Bahn AG, Berlin philipp.henzgen@deutschebahn.com Bild 4: Heatmaps zeigen das Abstellverhalten der e-Scooter links vor (KW28-44/ 2021) und rechts nach (KW 45/ 2021) Inbetriebnahme des Mobility Hubs. Quelle: Smart City DB/ DB Curbside Cockpit, eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 86 Neues Wohnen - neue Mobilität? Perspektiven aus der Praxis auf Mobilitätsmaßnahmen im-Wohnbau Wohnbau, Wohnquartiere, Mobilitätsmaßnahmen, Mobilitätskonzepte, Mobilitätsverhalten Bei der Planung neuer Wohnquartiere werden innovative Mobilitätskonzepte zum Standard. Neue Mobilitätsangebote wie integriertes Car- und Bikesharing sollen zu einem nachhaltigeren Mobilitätsverhalten der zukünftigen Bewohner: innen beitragen. Allerdings ist in der Praxis zu beobachten, dass nach Bezug der Wohnanlagen vielerorts die Nutzung der Angebote hinter den Erwartungen zurückbleibt. Dieser Artikel führt die wichtigsten Erkenntnisse zweier Projekte aus Wien und Berlin zusammen und gibt konkrete Empfehlungen, wie Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren zum gewünschten Erfolg führen können. Jonas Krombach, Christoph Singelmann, Benjamin Heldt, Rebekka Oostendorp, Andrea Weninger, Gerald Franz V or dem Hintergrund der angestrebten Ziele der Verkehrsverlagerung Richtung Umweltverbund, Klimaschutz, Flächen- und Energieeffizienz setzen Städte seit einigen Jahren auf die frühzeitige Verankerung von Mobilitätsmaßnahmen bei Wohnungsbauvorhaben. Im deutschsprachigen Raum steigt die Anzahl an autoreduzierten Wohnquartieren mit innovativen Mobilitätsangeboten wie Car- und Bikesharing, hochwertigen Fahrradabstellräumen und -anlagen sowie Quartiersgaragen. Allerdings ist das Potenzial für eine nachhaltige Integration der Mobilität bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Bei den umgesetzten Projekten handelt es sich bislang oft um Pilotprojekte unterschiedlicher Größe [1]. Kleinere Projekte, wie beispielsweise das „Stellwerk 60“ (Köln-Nippes), die „Autofreie Mustersiedlung Floridsdorf“ (Wien), das Projekt „Kalkbreite“ (Zürich) oder das „Hunziker Areal“ (Zürich), sind meist von engagierten Baugruppen, Vereinen oder Genossenschaften initiiert worden. Größere autoreduzierte Quartiersentwicklungen wie das „Quartier Vauban“ (Freiburg), die „Lincoln-Siedlung“ (Darmstadt), die Wohnanlage „Domagkpark“ (München), das Wohnquartier „Waterkant“ Berlin, die §Biotope City“ (Wien) oder die „Bruno-Marek-Allee“ im Nordbahnviertel (Wien) sind hingegen in viel komplexere Zusammenhänge mit einer Viel- Bild 1: Car-Sharing in der Bruno-Marek-Allee in Wien Foto: Rosinak & Partner, UIV MOBILITÄT Verkehrsplanung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 87 Verkehrsplanung MOBILITÄT zahl unterschiedlicher Akteure (Wohnungsunternehmen, Projektentwickler, Kommunen, Mobilitätsanbieter, Bürger: innen) eingebettet. Studien, die die Nutzung bzw. den Erfolg der besonderen Mobilitätsangebote der Wohnanlagen analysieren, liegen in einer geringen Anzahl vor (z. B. [2, 3, 4]). Die Evaluationen im Rahmen der Projekte MMWplus (Wien) [5] und Move Urban (Berlin) [6, 7] zeigen jedoch, dass die Nutzung der neuen Mobilitätsangebote durch die Bewohner: innen in den betrachteten Wohnbauprojekten noch lange nicht in dem Maße erfolgt, das benötigt wird, um die gesteckten Nachhaltigkeitsziele, aber auch wirtschaftlichen Ziele der Betreiber zu erreichen. Ähnliche Tendenzen sind auch bei den anderen oben erwähnten Evaluationsstudien festzustellen. Es stellt sich also die Frage, wie Mobilitätsmaßnahmen noch besser umgesetzt und kommuniziert werden können, sodass sie durch die Bewohner: innen und Anrainer: innen angenommen und die intendierten Wirkungen erzielt werden. Ziel dieses Beitrages ist es deshalb, aus den wesentlichen Erkenntnissen der Projekte MMWplus und Move Urban eine Synthese zu bilden und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Hintergrund Der Beitrag basiert auf Ergebnissen von zwei praxisorientierten Forschungsprojekten aus Deutschland und Österreich zu Mobilitätsmaßnahmen in neuen Wohnquartieren, die beide Ende 2021 abgeschlossen wurden [5, 6]. Im Projekt MMWplus wurden drei ausgewählte Neubausiedlungen in Wien untersucht, die vielfältige Mobilitätsangebote aufweisen und vor kurzem bezogen wurden: die Wohnanlage ERnteLAA (190 WE), Wohnanlagen an der Bruno-Marek-Allee (400 WE) und die Wohnanlage Biotope City (1.000 WE). Im Zuge des Projektes fanden Experteninterviews mit beteiligten Akteuren und Mobilitätsbefragungen mit Bewohner: innen statt. Ziel des Projektes war es, mit einer detaillierten Analyse und der Integration der Nutzerperspektive, Erkenntnissen aus der Verhaltensbiologie und Ansätzen der Verkehrsökonomie Maßnahmen zu identifizieren, die zur Erhöhung der Treffsicherheit von Mobilitätsangeboten im Wohnungsbau führen. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) untersuchte im Projekt Move Urban die Wirkungen flächeneffizienter integrierter Siedlungs- und Mobilitätskonzepte am Beispiel des randstädtischen Neubaugebietes Waterkant Berlin, in dem während der Projektlaufzeit bereits 361 von zukünftig über 2.000 Wohnungen entstanden und bezogen wurden. Für die Evaluation wurden u. a. eine Expertenbefragung und Stakeholder-Workshops sowie Befragungen von und Interviews mit Bewohner: innen durchgeführt. Lessons Learned Mit dem Ziel, die Diskrepanz zwischen Vision und Wirklichkeit für zukünftige Projekte zu reduzieren, wurden aufbauend auf den Erfahrungen der beiden betrachteten Projekte fünf Themenfelder für eine erfolgreiche Umsetzung von Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren identifiziert (siehe Bild-3), die im Folgenden vorgestellt werden. 1. Ein solides Grundgerüst schaffen Wie bereits in anderen Veröffentlichungen [8, 9] beschrieben, zeigt sich auch bei MMWplus und Move Urban, dass sich der Erfolg von autoreduzierten Quartieren anhand von drei übergeordneten Voraussetzungen auf Quartiersebene festmachen lässt. Die erste Grundvorrausetzung ist eine sehr gute ÖPNV-Erschließung. Die zweite ist ein sicheres und lückenloses Fuß- und Radwegenetz und die dritte ist die Nutzungsdurchmischung oder „Stadt der kurzen Wege“ (z. B. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen …). Das Vorhandensein aller drei Grundvoraussetzungen - bereits beim Einzug der ersten Bewohner: innen - ist essenziell, damit auch die übrigen mobilitätsbezogenen Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalten können. Aus den Befragungen der beiden Projekte lässt sich ableiten, dass auf der Grundstücksebene vor allem drei Maßnahmen besonders relevant sind. Zum einen ist dies die Reduktion von Pflichtstellplätzen am Areal, da das Vorhandensein wohnungsnaher Parkplätze PKW-orientiertes Verhalten begünstigt. Ein dynamischer Stellplatzschlüssel, Bild 2: Projekt Move Urban im randstädtischen Neubaugebiet Waterkant Berlin Foto: DLR Bild 3: Lessons learned: Fünf Themenfelder für eine erfolgreiche Umsetzung von Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 88 MOBILITÄT Verkehrsplanung welcher je nach räumlichen und verkehrlichen Rahmenbedingungen variiert, sollte Standard werden. Somit wird ermöglicht, dass Quartiere in zentraler Lage (z. B. mit guter ÖPNV-Erschließung) nur noch ein Mindestmaß an Pflichtstellplätzen nachzuweisen müssen. Optimalerweise sind die Stellplätze in Sammel(hoch)garagen oder Quartiersgaragen untergebracht. Eine weitere essenzielle Maßnahme ist das Vorhandensein qualitativ hochwertiger Fahrradabstellanlagen. Die Verwendung von Anlagen wie Felgenklemmen oder Hängesystemen sollte über Vorgaben in den Baugesetzen gänzlich ausgeschlossen werden. Gleiches gilt für die Sicherstellung einer guten Zugänglichkeit - das Fahrrad sollte schneller und komfortabler erreicht werden als das eigene Auto. Die dritte Maßnahme sind die sogenannten Sharing-Mobility-Angebote, darunter besonders Car- und Bikesharing. Drei Grundvoraussetzungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Nutzung: (1) die Einbindung in ein übergeordnetes städtisches Sharing-System mit einem vielfältigen Fahrzeugangebot, das auf die Bedürfnisse der Bewohner: innen abgestimmt ist, (2) eine Platzierung des Angebots an prominenter Stelle und einfache Ausleihvorgänge sowie (3) die Begleitung des Angebots durch kommunikative Maßnahmen. 2. Planung frühzeitig steuern Von der Idee der Entwicklung eines Wohnquartiers bis zu dessen Fertigstellung können oft mehrere Jahre vergehen. Akteure verfolgen unterschiedliche Planungsansätze, die sich nach diversen Rahmenbedingungen und Anforderungen richten. Folgende vier Punkte innerhalb von Planungsprozessen sollten im Hinblick auf die Umsetzung und Förderung nachhaltiger Mobilitätsformen in neuen Wohnquartieren angepasst werden: •• Gesamtstädtisch geltende Stadtentwicklungspläne, Mobilitätskonzepte (z. B. SUMP) oder Klimaschutzprogramme (mit oftmals konkreten Zielwerten bspw. zum Modal Split) werden teilweise nur in Ansätzen oder viel zu spät in Planungsprozessen beachtet. •• Konkrete Mobilitätsmaßnahmen, die öffentliche oder private Flächen benötigen, werden zu spät - nach Festsetzung von Bebauungsplänen oder Entwürfen für Gebäude - eingeplant und sollten frühzeitig reserviert werden (z. B. Flächen für Mobilitätsstationen, Rampenanlagen für Fahrradräume, Stromversorgung etc.). •• Die (Mit)Finanzierung von Maßnahmen wird häufig zu spät oder gar nicht geregelt und muss dann im Nachhinein verhandelt werden, was oftmals erfolglos ist. Sie sollte daher bereits frühzeitig geklärt werden (z. B. über Baurechte, städtebauliche Verträge, Mobilitätsfonds, etc.) [10]. •• Teile von Mobilitätskonzepten werden erst nach der Besiedelung von Gebieten umgesetzt, was dazu führt, dass gewohnte, autozentrierte Mobilitätsroutinen der Bewohner: innen nicht aufgebrochen werden können (z. B. Dulden des Abstellens von Kfz im Straßenraum in ersten Besiedlungsphasen, wenngleich ein Mobilitätskonzept das Abstellen in bereits errichteten Sammelgaragen vorsieht). 3. Mobilität ins Zentrum stellen Damit Bürger: innen Mobilitätsangebote akzeptieren und letztlich nutzen, müssen sie diese kennen und im Idealfall positive Erfahrungen gesammelt haben [11]. Daher sollte das Thema „Information“ ebenfalls frühzeitig im Planungsprozess Berücksichtigung finden und in ein übergeordnetes Mobilitätsmanagement eingebettet werden. In der Waterkant Berlin wurden Informationen zu den Mobilitätsangeboten hauptsächlich über eine Broschüre per Posteinwurf bereitgestellt. Im Ergebnis kennt weniger als die Hälfte der Befragten das Mobilitätskonzept gut, und für noch weniger Personen spielte es überhaupt eine Rolle bei der Wohnstandortentscheidung. Entsprechend bleibt auch die Nutzung der Angebote, insbesondere z. B. des stationsbasierten Carsharings, deutlich hinter den Erwartungen zurück. Der Bekanntheitsgrad der Mobilitätsangebote ist in den untersuchten Wiener Wohngebieten zum Befragungszeitpunkt deutlich höher. Allerdings kannten auch dort viele das Angebot vor Wohnungsbezug nicht und einzelne Angebote wie Car- und Bikesharing werden nur von wenigen Personen wahrgenommen und genutzt. Daran zeigt sich, dass gezielte Informationskampagnen wichtig für die Bekanntheit und Akzeptanz der Angebote sind. Das Projekt MMWplus gibt Empfehlungen für die Kommunikation von Mobilitätsmaßnahmen. Mobilitätsangebote sollten als Teil der Wohnanlage schon bei der Wohnungssuche und -vergabe bekannt gemacht werden. Möglichkeiten sind, Mieter: innen bei Einzug automatisch für Mobilitätsangebote anzumelden oder als Anreiz Gutscheine zur Verfügung zu stellen. Am wichtigsten ist jedoch die kontinuierliche Information der Bewohner: innen über verschiedene Kanäle bereits vor dem Einzug durch z. B. Informationsschreiben, Websites, Apps, persönliche und telefonische Beratung sowie betreute Aktionsstände vor Ort zum Ausprobieren der Mobilitätsangebote. Insbesondere die aktive Ansprache verschiedener Zielgruppen, beispielsweise Personen mit/ ohne eigenen PKW, ältere oder kostensensible Personen kann Verhaltensänderungen bewirken. Bei der Implementierung der Mobilitätsangebote ist die Einrichtung einer zentralen Koordinationsstelle (räumlich und personell) zu empfehlen - das sogenannte Mobilitätsmanagement. Dieses macht durch die aktive und zielgruppenorientierte Ansprache der relevanten Akteure und unter Einbindung der Bürger: innen auf die Vorzüge der Mobilitätsangebote aufmerksam. So kann Mobilitätsmanagement dazu beitragen, dass die Nutzung alternativer Angebote mit positivem Image und guten Erfahrungen verbunden und dadurch letztlich die Nutzungsbereitschaft bei den Quartiersbewohner: innen erhöht wird. Wichtig ist hierbei die Berücksichtigung zweier Ebenen: Bei Wohnungsunternehmen bzw. bei den Kommunen sollte die übergeordnete Planung und Implementierung sowie das Monitoring von Angeboten stattfinden. Auf Quartiersbzw. Objektebene kann das Management Partnerschaften mit Dienstleistern wie Concierges, Freizeiteinrichtungen oder Gastronomie eingehen, die operative Prozesse verwalten und als direkte Ansprechpartner vor Ort fungieren. Wichtig sind auch eine sichtbare Platzierung und einheitliche Gestaltung der Angebote im öffentlichen Raum. 4. Über das Gebiet hinausdenken - Insellösungen vermeiden Mobilitätskonzepte im Wohnungsbau werden zunächst für ein abgegrenztes Gebiet geplant, wirken jedoch in vielfältiger Weise Die Projekte im Überblick Das Projekt Mobilitätsmaßnahmen im Wohnbau - plus (MMWplus) wurde vom Klima- und Energiefonds Österreich im Jahr 2021 beauftragt und finanziert. Die Projektauftragnehmer waren Rosinak & Partner ZT GmbH und UIV Urban Innovation Vienna GmbH. Als Subauftragnehmerin war Dr. Elisabeth Oberzaucher (Verhaltensbiologin) ebenfalls in das Projekt involviert. Das Projekt Move Urban wurde vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Umsetzung der Leitinitiative Zukunftsstadt von 12/ 2017 bis 12/ 2021 gefördert und von der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz Berlin geleitet. Weitere Projektpartner waren die DLR-Institute für Verkehrsforschung und Verkehrssystemtechnik, das Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V. (IKEM), die Professur für Infrastrukturwirtschaft und -management der Bauhaus-Universität Weimar (BUW) und die Gewobag Wohnungsbau AG Berlin. Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 89 Verkehrsplanung MOBILITÄT darüber hinaus. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass ca. drei Viertel der Wege an der eigenen Wohnung starten oder enden [12]. Das Angebot an Dienstleistungen und Nahversorgung des täglichen Bedarfs, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie an verfügbaren Mobilitätsoptionen direkt am Wohnort ist also von zentraler Bedeutung. Gleichwohl ist die individuelle Mobilität nicht auf das Wohnquartier beschränkt, sondern die Bewohner: innen sind zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse in der gesamten Stadt oder auch darüber hinaus unterwegs. Bei der Planung der Maßnahmen und Angebote ist daher die Anbindung an das gesamte Verkehrssystem von zentraler Bedeutung. Insellösungen nur für ein Quartier (z. B. bei Sharing-Angeboten) sind nicht zielführend. In immer mehr Städten übernehmen beispielsweise ÖPNV-Anbieter (z. B. die Wiener Linien) die Rolle des Betreibers von Sharing-Angeboten und integrieren sie dadurch in den ÖPNV. Zum anderen können die in einem Quartier umgesetzten Maßnahmen das Mobilitätsangebot auch für Bewohner: innen angrenzender Wohngebiete erweitern, z. B. wenn Sharing-Angebote von allen genutzt werden können oder eine neue Buslinie oder S-Bahn-Station die ÖPNV-Anbindung in einem größeren Radius (über das Wohnbauvorhaben hinaus) erheblich verbessert. Es müssen allerdings auch mögliche unerwünschte Effekte berücksichtigt werden, beispielsweise wenn ein reduzierter Stellplatzschlüssel die Parkplatzproblematik in angrenzenden Gebieten verschärft. Außerdem sollte das Potential der Übertragbarkeit stärker ausgeschöpft werden. Lösungen, die für ein Wohnquartier erfolgreich entwickelt wurden, können unter Berücksichtigung der lokalen Rahmenbedingungen modifiziert auch in anderen Quartieren umgesetzt werden. 5. Evaluierung ist wichtig Viele aktuelle Mobilitätskonzepte zeichnen sich durch eine große Vielzahl und thematische Bandbreite unterschiedlicher Maßnahmen und anspruchsvolle Ziele aus. Erfahrungen aus der Praxis zeigen aber, dass aufgrund von bestehenden technischen, finanziellen, planungsrechtlichen oder anderen Rahmenbedingungen die Konzepte oftmals im Verlauf der Umsetzung nicht wie ursprünglich geplant implementiert werden können und Abstriche bei den tatsächlich realisierten Maßnahmen gemacht werden müssen. In der Regel sind diese Änderungen nicht öffentlich dokumentiert, so dass andere Projekte davon lernen könnten. Wichtig wäre es daher, solche Projekte und die Prozesse von Planungsbeginn bis zum Einzug der Bewohner: innen und darüber hinaus zu dokumentieren, zu evaluieren und öffentlich verfügbar zu machen, um typische Hemmnisse und Treiber für eine erfolgreiche Umsetzung zu identifizieren. Hierzu zählt beispielsweise, die Erfahrungen und Meinungen der Bewohner: innen regelmäßig einzuholen und die Projekte zu begleiten. Die Erhebung von Daten (z. B. Bewohnerstruktur, Wahrnehmung, Akzeptanz und Nutzung vorhandener und neuer Angebote, verkehrliche Wirkungen, …) ist dabei ein zentraler Punkt, um die Situation vorher und nachher miteinander vergleichen (z. B. mithilfe von Panelbefragungen) und damit die Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen bewerten zu können. Gleichzeitig können eine begleitende Evaluation und Datenerhebung notwendige Anpassungen bei den Maßnahmen und Angeboten identifizieren und argumentativ stützen - sowohl im jeweils evaluierten Projekt als auch für zukünftige Vorhaben. Fazit Durch das Zusammenführen wesentlicher Erkenntnisse der Projekte MMWplus und Move Urban konnten fünf zentrale Themenfelder für eine erfolgreiche Umsetzung von Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren identifiziert werden. Die Themenfelder zeigen, dass für den Erfolg von Mobilitätsmaßnahmen eine ganzheitliche Betrachtung wichtig ist, die bereits bei den ersten Planungsschritten beginnt und sich bis in den Betrieb einer Wohnanlage bzw. des Quartiers zieht. Mobilitätsangebote im Wohnbau sind dynamisch zu betrachten. Sie sind stets flexibel an die sich ändernden Bedürfnisse der Bewohner: innen anzupassen. Kommunikation mit den Nutzer: innen sowie regelmäßige Evaluationen sind daher essenziell. ■ LITERATUR [1] VCD (2022): Mobilitätslösungen - Beispielhafte Mobilitätskonzepte in Wohnquartieren. Berlin. https: / / intelligentmobil.de/ mobilitaetsloesungen (Abruf 18.07.2022) [2] Heuer, M.; Lange, J.; Linck, H.; Loose, W.; Nobis, C.; Schieder, A.; Sperling, C. (2003): Umsetzungsbegleitung des Verkehrskonzeptes im Stadtteil Freiburg-Vauban. Freiburg [3] Klein, M.; Klinger, T.; Lanzendorf, M. (2021): Nachhaltige Mobilität in Lincoln. Evaluation des Mobilitätskonzeptes und Veränderungen im Mobilitätsverhalten der Bewohner*innen der Lincoln-Siedlung in Darmstadt. Arbeitspapiere zur Mobilitätsforschung Nr. 25. Frankfurt a.M. [4] Grütter, M.; Bock, S., von Grünigen, S.; Ott, W. (2016): Evaluation Kalkbreite. Energieforschung Stadt Zürich, Bericht. 29, Forschungsprojekt FP-2.5.1 [5] Krombach, J.; Weninger, A.; Franz, G.; Singelmann, C.; Oberzaucher, E. (2021): Mobilitätsmaßnahmen im Wohnbau - plus. Programm des Klima- und Energiefonds: Nachhaltige Mobilität in der Praxis. Wien [6] Gehrke, M. et al. (2022): Ergebnisband „Move Urban“ (in Veröffentlichung) [7] Oostendorp, R.; Oehlert, J.; Heldt, B.; (2019): Mobilitätsangebote in Wohnquartieren. Erfahrungen und Bewertung aus Sicht von öffentlicher Verwaltung, Wohnungsunternehmen und Planungspraxis - Ergebnisse einer Expertenbefragung. In: Arbeitsberichte zur Verkehrsforschung. Berlin. ISSN: 2513-1699 [8] Krombach, J.; Gerike, R.; Koszowski, C.; Weninger, A. (2021): Mobility measures and the housing sector. Evaluation of the impact of mobility measures in newly planned residential areas. In: Internationales Verkehrswesen, 73 (3) 2021, S. 68-71 [9] Bauer, U.; Gies, J.; Schneider, S.; Bunzel, A.; Walter, J. (2022): Mobilitätskonzepte in neuen Wohnquartieren. Mobilität sichern, Flächen und Emissionen sparen, Wohnqualität schaffen. Hrsg.: Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr - Referat Öffentlichkeitsarbeit. München [10] Franz, G. (2019): Leitfaden Mobilitätsmaßnahmen im Wohnbau. Werkstattbericht 184. Hrsg.: Stadt Wien - Stadtteilplanung und Flächenwidmung (MA 21). Wien. ISBN: 978-3-903003-55-2 [11] Bamberg, S.; Farrokhikhiavi, R. (2009): Breaking habitualised car use with a ‘soft policy’ measure? - Effects of a dialogue marketing campaign on new citizens’ daily mobility. In: European Transport Conference, Leiden, Netherlands. [12] Infas; DLR; IVT; infas 360 (2018): Mobilität in Deutschland (im Auftrag des BMVI). www.mobilitaet-in-deutschland.de (Abruf: 19.07.2022) Andrea Weninger, Dipl.-Ing. Geschäftsführerin, Rosinak & Partner ZT GmbH, Dornbirn (AT) office@rosinak.at Gerald Franz, MA Stv. Leiter Stadtentwicklung und Mobilität, UIV Urban Innovation Vienna GmbH (UIV), Wien (AT) franz@urbaninnovation.at Rebekka Oostendorp, Dr. rer. nat. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin (DE) rebekka.oostendorp@dlr.de Christoph Singelmann, Dipl.-Ing. Junior Expert Stadtentwicklung und Mobilität, UIV Urban Innovation Vienna GmbH (UIV), Wien (AT) singelmann@urbaninnovation.at Benjamin Heldt, Dipl.-Geograph Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin (DE) benjamin.heldt@dlr.de Jonas Krombach, Dipl.-Ing. Projektingenieur, Rosinak & Partner ZT GmbH, Wien (AT) office@rosinak.at Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 90 Digital vorsorgen: Saubere Städte gestalten Datenmodell schafft Grundlage für die Reduktion von-Mikroplastikemissionen im öffentlichen urbanen Raum Mikroplastik, Mobilität, Verkehr, Emissionen, Hotspot, Urbane Räume, Datenmodell, Datenbedarf Ein Großteil des Mikroplastiks entsteht im Straßenverkehr, etwa durch Reifen- und Fahrbahnabrieb. Im Projekt mMEU wurde ein datenbasiertes, prototypisches Modell für die Ermittlung und Überwachung von Mikroplastikemissionen entwickelt, das Städten sowie kommunalen Dienstleistern eine belastbare Grundlage zur zukünftigen Gestaltung ihrer öffentlichen Aufgaben liefert. Die Erkenntnisse wurden auf verschiedene im Beitrag beschriebene Anwendungsfälle übertragen, um den Nutzen der Anwendung für die Anspruchsgruppen zu verdeutlichen. Clara Herkenrath, Gerrit Hoeborn M ikroplastik lässt sich zunehmend in der Umwelt nachweisen. Die Ursachen und daraus resultierenden Auswirkungen sind jedoch in vielerlei Hinsicht noch unerforscht. Bekannt ist, dass ein Großteil des Mikroplastiks im öffentlichen Raum entsteht, etwa durch den Abrieb von Reifen oder durch Besen und Kehrmaschinen. Im Forschungsprojekt mMEU - Mobilitätsbedingte Mikroplastikemissionen in der Umwelt entwickelten das FIR an der RWTH Aachen und das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH ein datenbasiertes, prototypisches Modell, mit dem Mikroplastikemissionen und deren Quellen ermittelt und überwacht werden können. Für Städte sowie kommunale Dienstleister liefert das Modell eine datenbasierte Grundlage zur Gestaltung ihrer öffentlichen Aufgaben. Um den Nutzen des Modells für die Anspruchsgruppen zu verdeutlichen, wurden im Projekt Anwendungsfälle identifiziert und hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit betrachtet. Hierbei haben sich insbesondere die Hotspotkarte für städtische Institutionen und das Modell als Grundlage für Beratungsleistungen zu unternehmerischen Nachhaltigkeitsstrategien als vielversprechend erwiesen. Mikroplastik in der Umwelt Die Entdeckung von Mikroplastik im Schnee der Antarktis, fernab menschlicher Siedlungen, unterstrich Mitte 2022 das Ausmaß der weltweiten Plastikverschmutzun- Foto: Wal172619 / pixabay TECHNOLOGIE Emissionen Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 91 Emissionen TECHNOLOGIE gen, die von uns Menschen verursacht werden [1]. Wenn die biologisch nicht abbaubaren synthetischen Polymere bereits an die entlegensten Regionen der Welt gelangen, wie gravierend beeinflusst Mikroplastik dann unsere direkten Lebensräume, etwa unsere Städte? Die hohe Aktualität dieser Frage führt national und international zu steigender Aufmerksamkeit für das Thema Mikroplastik. Forschungsprojekte nehmen dabei vorrangig eine makroökonomische Perspektive ein [2, 3, 4]. Bislang lassen sich weder auf europäischer noch auf Bundesebene gültige Rechtsvorschriften bezüglich der Regulierung von Mikroplastik finden. Laut Hochrechnungen der ECHA könnte ein EU-weiter Beschränkungsvorschlag für absichtlich zugesetzte Mikrokunststoffe die Belastung der Umwelt über einen Zeitraum von 20 Jahren um etwa 400.000 Tonnen Mikrokunststoffe verringern [5]. Ein dezidiertes Verständnis über das Auftreten von Mikroplastikemissionen fordert Detailwissen über Herkunft und Menge ebendieser. Erst wenn man weiß, warum und wieviel Mikroplastikemissionen entstehen, lassen sich angemessene Handlungsmaßnahmen zur Verminderung ableiten. Die Mobilität zählt zu den Hauptverursachern von Emissionen, das gilt auch für Mikroplastik im städtischen Raum. Das Forschungsprojekt mMEU beschäftigte sich über einen datengetriebenen Ansatz mit der Frage, wo und wie viel Mikroplastik im städtischen Raum im Mobilitätskontext anfällt. Anhand von Stakeholder-Anforderungen, Qualitätskriterien und emissionsbestimmenden Faktoren konnten Datenquellen identifiziert und bewertet werden. Eine prototypische Modellierung von Hotspotkarten ermöglichte es, lokale mobilitätsbedingte Mikroplastikemissionen zu ermitteln. Darauf aufbauend wurde im Projektverlauf die wirtschaftliche Nutzbarkeit des Modells anhand von Geschäftsmodellen beurteilt und für zentrale Akteure bezüglich ihrer Rentabilität analysiert. Mobilitätsbedingtes Mikroplastik im-städtischen Raum Das Projekt mMEU setzt bei den Emissionen an, um die negativen Umweltwirkungen von mobilitätsbedingtem Mikroplastik zu verringern. Die genaue Kenntnis der Emissionspfade ist ein elementarer Bestandteil zur Reduktion der Emissionen und ihrer Verbreitung. Der Fokus des Forschungsprojekts liegt auf den lokalen Mikroplastikemissionen in innerstädtischen Räumen, die durch den Individual-, Öffentlichen- und Güterverkehr im Straßenraum entstehen. Derzeit gibt es keine einheitliche wissenschaftliche Festlegung auf relevante Stoffgruppen oder auf eine Ober- und Untergrenze der Partikelgröße. Stöven et al. [6] beschreiben die Entstehung von Mikroplastik als Zersetzungsprodukt von hauptsächlich auf Erdöl basierenden Polymeren bzw. Kunststoff- und Plastikprodukten. Die synthetisch hergestellten Kunststoffteilchen sind kleiner als 5 mm und können sich im Wasser, in der Luft und im Boden verteilen. Mikroplastik wird als unter Standardbedingungen festes Objekt aus Kunstoffen verstanden, welches durch das menschliche Handeln auf direktem Weg als primäres Mikroplastik oder indirekt als sekundäres Mikroplastik in die Umwelt gelangt [7]. Beim primären Mikroplastik unterscheidet man zwischen Typ A und Typ B. Primäres Mikroplastik Typ A entsteht während der Herstellung eines Produkts, beispielsweise Strahlmittel oder Kunststoffpellets. Typ B hingegen bildet sich während der Nutzungsphase in Folge von Verwitterung, Degradation oder Fragmentierung großer synthetischer Kunststoffe [7]. Für alle Formen von Mikroplastik gilt: Je länger die Partikel im Ökosystem bleiben, desto stärker verbreiten sie sich und desto schwerer sind sie zu entfernen. Das Umweltbundesamt untersuchte im Rahmen einer Studie, in welchen übergeordneten Bereichen besonders viel Mikroplastik vorkommt und welche Risiken davon ausgehen [8]. Zu diesen Bereichen zählen Kläranlagen, industrielle Abwässer und Gebiete mit starkem Reifenabrieb. Letzteres wird größtenteils durch verschiedene Nutzungen im städtischen Raum hervorgerufen, wobei die größte emittierte Menge im Kontext der Mobilität entsteht, also der Bewegung von Personen und Gütern im Individualverkehr, den öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Güterverkehr [7]. Der Fokus des Projekts liegt auf den mobilitätsbedingten lokalen Mikroplastikemissionen im städtischen Raum. Mobilitätsbedingtes Mikroplastik wird durch die verschiedenen Arten von Mikroplastik und den Betrachtungsraum eingegrenzt, wie in Bild 1 dargestellt. Gemäß der Definition von Mikroplastik handelt es sich bei mobilitätsbedingtem Mikroplastik um primäres Mikroplastik Typ B. das durch Fortbewegung der entsprechenden Verkehrsmittel entsteht Im Projekt mMEU umfasst dies sechs Abriebarten: Abrieb von (1) Fahrbahnmarkierungen, (2) Besen und Kehrmaschinen, (3) Zahnrädern, Gleitlagern und Gleitschienen, (4) Schuhsohlen, (5) Bitumen und (6) Reifen. Primäres Mikroplastik Typ A und sekundäres Mikroplastik sind nicht berücksichtigt. Datenbedarfe und das Dilemma der-Datenlücken Übergeordnetes Ziel des Projekts MmEU war es, mobilitätsbedingte Emissionen zu minimieren. Dazu wurde ein datenbasiertes Modell entworfen, für das zunächst relevante Qualitätskriterien und Anforderungen an die Datengrundlage definiert werden mussten. Dabei nutzten die Forscher vorhandene Umgebungsdaten als digitale Datenquellen, um Mikroplastikemissionen zu ermitteln, die sie im nächsten Schritt anhand von spezifischen Kriterien bewerteten. In einem dritten Schritt wurde ein mathematisches Modell zur lokalen Ermittlung und Visualisierung der Mikroplastikemissionen entwickelt. Die Erarbeitung erfolgte in enger Abstimmung mit weiteren Forschungsprojekten im Themenfeld Mikroplastik [3, 4]. Welche Daten für die Ermittlung relevant waren, wurde aus den Anforderungen der zentralen Stakeholder abgeleitet, etwa Landesumweltämter, Stadtwerke oder Verkehrsbetriebe. Darauf aufbauend wurden die inhaltlichen sowie formalen Anforderungen der Stakeholdergruppen in einem Anforderungskatalog aufbereitet. Darüber hinaus identifizierte das Forschungsteam Bild 1: Identifizierte Emissionsquellen für mobilitätsbedingtes Mikroplastik im Projekt mMEU Eigene Darstellungen Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 92 TECHNOLOGIE Emissionen weitere Datenbedarfe anhand der verschiedenen, o. a. Abriebarten, und beschrieb im nächsten Schritt die Wirkungszusammenhänge. Hier zeigte sich, dass die komplexen Wirkungszusammenhänge hinsichtlich der Quantifizierung von Mikroplastikabrieb nicht hinreichend erforscht sind und es bisher nur wenige forschungsseitige Messungen gibt. Vor diesem Hintergrund wurde für die prototypische Modellierung ein Top- Down-Ansatz gewählt, für den Daten sowohl zu den Gesamtmengen als auch zu räumlich differenzierten Parametern verfügbar waren. Grundsätzlich stellt neben der Datenverfügbarkeit auch die Kompatibilität verschiedener Datenquellen, etwa in Hinblick auf ihren räumlichen und zeitlichen Bezug, einen limitierenden Faktor für die Umsetzbarkeit dar. Anhand des Anforderungskatalogs wurden anschließend Datenquellen identifiziert. Mit Hilfe der Relevanzbaumanalyse, einer Kreativtechnik zur Generierung von Problemlösungen, wurde eine Longlist aus den Möglichkeiten zur Datenerhebung erstellt [9]. Die Longlist spiegelt die Vielfalt der verschiedenen Datenerhebungen sowie die Komplexität des Themenfelds wider. Die Zusammenhänge wurden, aufbauend auf dem festgestellten Datenbedarf, retrograd erarbeitet. Als hinreichend relevant und verfügbar eingestufte Datenquellen wurden im Anschluss auf ihre Datenqualität hin analysiert. Zu den Qualitätskriterien zählen die Beurteilung der Glaubwürdigkeit und der räumlichen Abdeckung sowie die Bewertung der zeitlichen und räumlichen Auflösung. Im Fokus der Datenbeschaffung lagen offene Daten, sogenannte „Open Source Data“, die lizenzfrei verwendet werden dürfen. Entwicklung der Hotspotkarte Zur Erstellung der Hotspotkarte wurden die Datenquellen, angelehnt an das Modell von Krotova und Spiekermann [10] hinsichtlich Relevanz, Qualität, Kosten beurteilt und entsprechend ausgewählt. Beispielhafte Datenquellen sind u. a. die Art des Reinigungsfahrzugs als detaillierte Information zur Gesamtheit aller Reinigungsfahrzeuge der aktiven Flotte oder die chemischen Inhaltsstoffe von in Deutschland durchschnittlich getragenen Schuhsohlen. Benötigte Daten, die bereits durch andere Forschungsprojekte gedeckt sind, lassen sich über Datenschnittstellen in das prototypische Modell integrieren. Insgesamt wurden im Projekt MmEU neun Datenquellen als hinreichend bei der Auswahl für die Modellierung bewertet. Als Ausgangspunkt für die Hotspotkarte wurde zunächst ein Anwendungsfall definiert, in dessen Kontext das Modell eingegliedert wird. Als Betrachtungsraum wurde das Straßennetz Berlins gewählt, für das ein maschinenlesbarer und georeferenzierter Datensatz vorliegt. Der Prototyp der Hotspotkarte adressiert den Abrieb von Besen und Kehrmaschinen, da nach Kenntnis des Forscherteams bislang keine Modellierung einer räumlichen Verbreitung dieser Emissionen existiert. Diese konnte nun auf Basis vorliegender Daten zu pro-Kopf-Emissionen der vorgegebenen Mindest-Reinigungshäufigkeit auf den öffentlichen Straßen Berlins sowie der Bevölkerungszahl aus dem untersuchten Bereich bestimmt werden [7], wobei sich weitere Zusammenhänge, etwa in Verbindung mit den tatsächlichen Reinigungshäufigkeiten oder der Oberflächenbeschaffenheit der Fahrbahn, aufgrund fehlender Daten nicht bestimmen ließen. Die Modellierung wurde in Form einer prototypischen Hotspotkarte umgesetzt. Sie repräsentiert eine Abschätzung der räumlichen Verteilung der Mikroplastikemissionsmengen aus dem Abrieb von Besen und Kehrmaschinen auf Berlins Straßen (siehe Bild 2). In den Modellergebnissen ist zu erkennen, dass die Emissionsmengen im Zentrum Berlins sowie in zentralen Lagen der einzelnen Stadtteile stärker ausgeprägt sind als in den peripheren Lagen. Einsatz der prototypischen Hotspotkarte Die prototypische Hotspotkarte ermöglicht eine detaillierte Kenntnis über die Hotspots von Mikroplastikemissionen. Darauf aufbauend lassen sich gezielte Gegenmaßnahmen entwerfen, die dazu beitragen, die negativen Umweltauswirkungen von Mikroplastik zu reduzieren. Lokale Verursacher des Mikroplastiks, etwa Entsorgungsanlagen, Kunststoffindustrieunternehmen oder Baufirmen, können durch gezielte wirtschaftliche Anreize und geschaffene Transparenz einen Ausgangspunkt zur Reduktion von Mikroplastik darstellen. Der im Forschungsprojekt entwickelte Anwendungsfall veranschaulicht beispielhaft das wirtschaftliche und gesellschaftliche Potenzial der zugrunde liegenden Modellierung. Gleichzeitig belegt das Projekt sehr eindrücklich die lückenhafte bundesweite Datenlage, insbesondere hinsichtlich Open Source Data, die den Impact dieses und ähnlicher Projekte erheblich reduziert. Insgesamt wurden fünf übergreifende Themenfelder für die wirtschaftliche Anwendbarkeit des Datenmodells identifiziert: Hotspotkarte mobilitätsbedingtes Mikroplastik einsetzen, bestehende Datenmodelle erweitern, bestehende Datenmodelle bündeln, Marktscreening und Umweltschutz durch Nachhaltigkeitsworkshop. Analog zum vorab genannten Beispiel wurden in den fünf Themenfeldern zehn Daten zum Projekt Titel: mMEU - Mobilitätsbedingte Mikroplastikemissionen in der Umwelt Zuwendungsgeber: Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) Förderkontext: mFUND Projektpartner: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH; FIR e. V. an der RWTH Aachen Mehr Informationen: mfund.fir.de Bild 2: Digital vorsorgen: Saubere Städte gestalten Prototypische Hotspotkarte für den Abrieb von Besen und Kehrmaschinen anhand der Reinigungshäufigkeit in Berlin Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 93 Emissionen TECHNOLOGIE Anwendungsfälle betrachtet und hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit analysiert. Um das Modell wirtschaftlich nutzen zu können, wurden fünf der zehn Anwendungsfälle priorisiert und dafür prototypische Geschäftsmodelle in Form des Business Model Canvas beschrieben. Nachhaltiger Impact kann nur durch eine Umsetzung der Geschäftsmodelle gelingen. Die fehlende gesetzliche Grundlage für die Bewertung von Mikroplastikaufkommen ist dabei eine zentrale Hürde, da sie den wesentlichen Anreiz zur Umsetzung bietet. Eine Ausnahme bildet das Workshopformat zur Aufklärung von Mikroplastikemission im Kontext von Nachhaltigkeitsstrategien seitens der Industrie. Kommunale Fördertöpfe könnten die Bereitschaft der Industrie ebenfalls stärken, da sie einen Teil der für die Industrie entstehenden Kosten abfangen. Experten sind sogar der Meinung, dass eine langanhaltende Verhaltensänderung nur dann herbeigeführt werden kann, wenn der finanzielle Aufwand gering ist bzw. die Kosteneinsparung beziffert werden kann. Mikroplastik als zentrales Zukunftsthema Das Projekt mMEU hat eindrucksvoll gezeigt, dass vorhandene Datenquellen auch bei eingeschränkter Datenverfügbarkeit für die Modellierung von Mikroplastikemissionen nutzbar sind. Obwohl nicht für alle identifizierten Einflussfaktoren ausreichende Daten zur Verfügung stehen, der räumlichen Abdeckung sowie der Datenqualität Grenzen gesetzt sind, bestehen Potenziale zur wirtschaftlichen Anwendbarkeit. Für eine echte Transformation hin zu einer nachhaltigeren Verhaltensweise müssen die gesetzlichen Regulatorien festgelegt und Unternehmen auch finanziell in die Verantwortung genommen werden. Die aktuellen moralisch-gesellschaftlichen Verpflichtungen und Implikationen lösen keinen hinreichenden Transformationsdruck aus. Derzeit werden die Folgekosten der Mikroplastikemissionen vom Ökosystem getragen. Unternehmen sollten sich auch mit diesem Thema stärker auseinandersetzen, um der zunehmenden Notwendigkeit zur Nachhaltigkeit zu entsprechen und ihr Geschäft auch in Zukunft wettbewerbsfähig aufzustellen. ■ LITERATUR [1] GEO (2022): Erstmals Mikroplastik im Schnee der Antarktis nachgewiesen. www.geo.de/ natur/ erstmals-mikroplastik-im-schnee-derantarktis-nachgewiesen-31932128.html, zuletzt aktualisiert am 08.06.2022, zuletzt geprüft am 15.06.2022. [2] Barjenbruch, M.s; Venghaus, D. (2021): Reifenabrieb in der Umwelt. Plastik in der Umwelt, 20.04.2021. https: / / bmbf-plastik.de/ de/ publikation/ reifenabrieb-der-umwelt-rau-abschlussbericht/ , zuletzt geprüft am 18.05.2021. [3] Fraunhofer Umsicht (2021): Schlussbericht TyreWearMapping. Digitales Planungs- und Entscheidungsinstrument zur Verteilung, Ausbreitung und Quantifizierung von Reifenabrieb in Deutschland. Hrsg. v. BMVI (Schlussbericht, 19F2050A-C). [4] He, D.; Bristow, K.; Filipović, V.; Lv, J.; He, H. (2020): Microplastics in Terrestrial Ecosystems: A Scientometric Analysis. In: Sustainability 12 (20), S. 1-15. DOI: 10.3390/ su12208739. [5] UBA (2021): EU plant Beschränkung der Verwendung von Mikroplastik ab 2022. Hrsg. v. Umweltbundesamt. www.umweltbundesa m t . d e / e u p l a n t b e s c h r a e n k u n g d e r v e r w e n d u n g von#undefined, zuletzt geprüft am 14.05.2021. [6] Stöven, K.; Jacobs, F.; Schnug, E. (2015): Mikroplastik: Ein selbstverschuldetes Umweltproblem im Plastikzeitalter. In: Journal für Kulturpflanzen 67 (7), S. 241-250. [7] Bertling, J.; Bertling, R.; Hamann, L. (2018): Kunststoffe in der Umwelt. www.umsicht.fraunhofer.de/ content/ dam/ umsicht/ de/ dokumente/ publikationen/ 2018/ kunststoffe-id-umwelt-konsortialstudie-mikroplastik.pdf [6] Liebmann, B. (2015): Mikroplastik in der Umwelt. Vorkommen, Nachweis und Handlungsbedarf. https: / / www.umweltbundesamt. at/ fileadmin/ site/ publikationen/ rep0550.pdf [9] Boysen, W. (2012): Grenzgänge im Management. Quellen für neue Lösungsansätze. Hrsg. v. Springer Gabler. https: / / link.springer.com/ content/ pdf/ 10.1007%2F978-3-658-01024-9.pdf, zuletzt geprüft am 24.09.2021. [10] Krotova, A.; Spiekermann, M. (2020): Data Valuation Model. Handbuch für Bewertung von Daten in Unternehmen. Hrsg. v. Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST. Clara Herkenrath, M. Sc. Projektmanagerin Business Transformation, FIR-an der RWTH Aachen clara.herkenrath@fir.rwth-aachen.de Gerrit Hoeborn, M.Sc., M.Sc. Bereichsleiter Business Transformation, FIR an der RWTH Aachen gerrit.hoeborn@fir.rwth-aachen.de Lesen Sie Internationales Verkehrswesen und International Transportation lieber auf dem Bildschirm? Dann stellen Sie doch Ihr laufendes Abo einfach von der gedruckten Ausgabe auf ePaper um - eine E-Mail an service@trialog.de genügt. Oder Sie bestellen Ihr neues Abonnement gleich als E-Abo. Ihr Vorteil: Überall und auf jedem Tablet oder Bildschirm haben Sie Ihre Fachzeitschrift für Mobilität immer griffbereit. www.internationales-verkehrswesen.de/ abonnement DAS FACHMAGAZIN IN DER JACKENTASCHE Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de IV Drittel quer.indd 2 IV Drittel quer.indd 2 28.08.2018 16: 22: 46 28.08.2018 16: 22: 46 FORUM Veranstaltungen Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 94 Radverkehr als Element der Verkehrswende Rückblick: 5. Mai 2022, Frühjahrstagung der Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht, Friedrich-Schiller-Universität Jena D ie Verkehrswende ist in aller Munde. Nicht zuletzt der Koalitionsvertrag der Ampelregierung rückte das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit. Neben der Antriebswende und der Stärkung des ÖPNV erfordert die Verkehrswende auch die Weiterentwicklung des Radverkehrs mit Blick auf Aspekte wie Gefahrfreiheit, Attraktivität und Vernetzung. Die von der Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena ausgerichtete Tagung „Radverkehr als Element der Verkehrswende“ im Mai 2022 beschäftigte sich interdisziplinär mit den wesentlichen Herausforderungen des Komplexes. Im Rahmen des ersten Fachvortrages sprach Karola Lambeck (Radverkehrsbeauftragte des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV), Berlin) über die Herausforderungen, die mit einer Förderung des Radverkehrs einhergehen. Der Kern dieser Bemühungen sei der Nationale Radverkehrsplan 3.0 des BMDV. Dieser stelle das ehrgeizige Ziel auf, die täglich mit dem Rad gefahrene Strecke von aktuell 112 Millionen Kilometern auf 224 Millionen Kilometer zu verdoppeln. Dazu müsse zunächst die Sicherheit für Radfahrer im Straßenverkehr verbessert werden, was u.a. durch den Ausbau der bestehenden Radinfrastruktur erreicht werden könne. Im Mittelpunkt solle dabei eine Erweiterung des Streckennetzes auch im ländlichen Bereich sowie eine räumliche Trennung von Rad- und Autoverkehr stehen. Flankiert würden die infrastrukturellen Maßnahmen von rechtlichen Neuerungen wie etwa dem verpflichtenden Einbau von Abbiegeassistenten in Kraftfahrzeugen. Hieran anknüpfend beschrieb Prof. Dr. Elisabeth Badenhausen-Fähnle (Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg) den bestehenden Rechtsrahmen für den Radverkehr. Nach herkömmlicher Betrachtungsweise seien die relevanten Determinanten das Planungsrecht in Form des Raumordnungs-, Bau- und Straßenrechts sowie das Verkehrsordnungsrecht in Form der Straßenverkehrsordnung (StVO) und des Straßenverkehrsgesetzes (StVG). Zwar seien diese Normen de jure „verkehrspolitisch neutral“, de facto komme es jedoch durch Regelungen wie § 45 Abs. 9 S. 3 StVO zu einer Privilegierung des Autoverkehrs. Eine Abkehr hiervon erfolge durch Ansätze einer integrierten Verkehrsentwicklungsplanung in den „Radgesetzen“ in Berlin (Berliner Mobilitätsgesetz) und Nordrhein-Westfalen (Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz NRW). Diese Normen verfolgten sachpolitische Ziele wie den Umwelt- und Klimaschutz mit den Mitteln der Verkehrsgesetze. Abschließend wurden die für den Radverkehr besonders relevanten Instrumente skizziert. Zu nennen sind hier insbesondere die Teileinziehung, die Errichtung von Schutzstreifen sowie die Errichtung einer sog. Fahrradzone i.S.v. § 45 Abs. 1i StVO. Eine verkehrspsychologische Perspektive auf das Thema eröffnete der Vortrag von Prof. Dr. Angela Francke (Universität Kassel). Dieser beschäftigte sich mit der Frage, wie Verhaltensänderungen in der Mobilität erreicht werden können. Dabei sei das Mobilitätsverhalten von Personen abhängig von einer Vielzahl von Faktoren wie Geschlecht, Alter, Gewohnheiten, der vorhandenen Infrastruktur und Witterung. Werde die Infrastruktur in der Weise verändert, dass Radwege subjektiv und objektiv sicherer würden und dem Radverkehr mehr Platz zugestanden würde, seien auch mehr Menschen bereit, mit dem Rad zu fahren. Für das subjektive Sicherheitsgefühl relevant sei weiterhin, ob Verkehrsvergehen zu Lasten von Radfahrern konsequent pönalisiert würden. Aber auch abseits der infrastrukturellen Veränderungen gäbe es Möglichkeiten, Menschen zum Umstieg auf das Rad zu motivieren. Als besonders effektiv beschrieb Francke das „Nudging“, im Rahmen dessen den Bürgern die Vorteile des Radverkehrs mit Blick auf Gesundheit, Ökonomie und Klimaschutz nähergebracht werden sollen. Der Vortrag von Prof. Dr. Jana Kühl (Ostfalia Hochschule, Salzgitter) zeigte die Chancen einer Verknüpfung von öffentlichem Verkehr (ÖV) und Radverkehr mit Blick auf die übergeordneten Ziele der Multimodalität und Intermodalität auf. Im Fokus der Betrachtung stand die Angebotsgestaltung, die so erfolgen müsse, dass eine echte Konkurrenz zum motorisierten Individualverkehr (MIV) entstünde. Konkrete Maßnahmen für eine diesen Qualitätsanforderungen entsprechende Ausgestaltung der Bahnhöfe, Züge und Ticketsysteme, die eine Fahrradmitnahme oder den Umstieg vom Fahrrad auf den ÖV und umgekehrt befördern sollen, müssten sich einerseits an den Bedürfnissen des Pendelverkehrs, andererseits an denjenigen des Fern- und Freizeitverkehrs orientieren. Abschließend wurde die Bedeutung der Digitalisierung sowie eines emotionsorientierten Marketings hervorgehoben. Einen Perspektivwechsel leitete der sich anschließende Vortrag von Prof. Dr.-Ing. Martina Lohmeier (Hochschule RheinMain, Wiesbaden) ein. Sie warb für eine langfristige und nachhaltige Planung und Gestaltung des Straßenraums, die jedoch stets nur einen Kompromiss darstellen könne. Im Vordergrund stand die Frage nach der Bedeutung der seit dem Jahr 2020 in der StVO geregelten Fahrradzone als Mittel für mehr Flächengerechtigkeit. Überlegungen, eine Fahrradzone nur dann einzurichten, wenn bereits eine entsprechendes Radverkehrsaufkommen vorhanden ist, erteilte Lohmeier eine klare Absage und betonte, dass gerade die Erprobung neuer Ansätze Nachfrage erzeugen und Anreize setzen könne. Abschließend berichtete Maximilian Lange (Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft, Erfurt) aus der Umsetzungspraxis und präsentierte den Stand der in Thüringen ergriffenen und geplanten Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs. Insofern soll das bereits bestehende, gut ausgebaute touristische Radnetz um ein Alltagsradroutennetz ergänzt werden, dessen Planung 2023 abgeschlossen sein soll. Daneben sollen beispielsweise auch der Radroutenplaner für Thüringen inklusive Mängelmelder, Projekte wie die Aktion Stadtradeln oder der in Planung befindliche Iron Curtain Trail, ein Radweg entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs, ihren Beitrag leisten, damit Thüringen zum Fahrradland wird. Neben den erforderlichen finanziellen Mitteln hob Lange die Bedeutung der Zusammenarbeit im Arbeitskreis Thüringer Radverkehr und der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen in Thüringen (AGFK-TH) e.V. für viele der Projekte hervor. Tobias Birk und Janine Delcuvé, Wissenschaftliche Mitarbeitende Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht Friedrich-Schiller-Universität Jena janine.delcuve@uni-jena.de tobias.birk@uni-jena.de Veranstaltungen FORUM Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 95 More sustainable cities means moving differently (and less) Preview: 20-22 September 2022, Urban Mobility Days, Brno (CZ), and online M ore than 70 % of Europeans live in cities, and this share is expected to grow in the years to come. Urban areas account for some 23 % of the EU’s greenhouse gas and transport emissions. Decisive action in urban transport and mobility is thus needed for our cities to become climate neutral by 2030. Political and transport leaders from across Europe are convening on 20-22 September at the Urban Mobility Days 2022 (UMD) to push forth such action, and help pave the way towards implementing the 2021 EU Urban Mobility Framework at a local level. The event brings together political ambition and practical experiences from EUfunded projects, guiding participants to traverse the length and breadth of sustainable urban mobility, examining the latest challenges and best mobility solutions. Key to local-level implementation is the development of Sustainable Urban Mobility Plans (SUMPs) that feature measures to integrate different modes of transport, and to promote zero-emission mobility. ICLEI Europe will be on the ground at UMD largely as a partner in the Civitas Elevate project, which is responsible for the secretariat of the European Commission’s flagship Civitas Initiative. In addition, ICLEI Europe experts will share insights garnered through years of supporting cities to develop, implement, monitor and update SUMPs. SUMPs are central to EU urban mobility policy. Civitas and ICLEI Europe provide invaluable resources to support cities and regions in the roll-out of effective SUMPs, which span guidelines for developing and implementing a SUMP; and SUMP Topic Guides, including on gender equity and inclusivity in SUMPs. Ana Oregi, Deputy Mayor of Vitoria- Gasteiz (in the Basque Country) is uniquely placed to speak to the great potential of the UMD. Deputy Mayor Oregi sits on the Civitas Policy Advisory Committee and the ICLEI Regional Executive Committee; in addition, Vitoria-Gasteiz has participated in four Civitas projects, and been recognised for its excellence in sustainable mobility in Civitas publications, and at the Civitas Awards. Ana Oregi explains: “Vitoria-Gasteiz provides a great example of how coming together with leaders across Europe can help all cities to move people and goods more sustainably. In recent years, we have leveraged the knowledge and resources gained from being active members of the European mobility community and projects to increase use of sustainable transport modes, redesign our public transportation network, and refine our SUMP. Plus, we have been able to share our expertise with proven solutions like ‘superblocks’ with our community of peers to help everyone reach sustainable urban mobility.” Join ICLEI, Civitas, the European Commission, and a diversity of leading mobility minds at Urban Mobility Days 2022. Reggie Tricker, Sustainable Mobility Officer ICLEI - Local Governments for Sustainability reggie.tricker@iclei.org Adrienne Kotler, Communications and Member Relations Officer ICLEI - Local Governments for Sustainability adrienne.kotler@iclei.org eMove360° Europe 2022 6 th International trade fair for Mobility 4.0 - electric - connected - autonomous 5 - 7 October 2022, Messe Berlin www.emove360.com Bilder: ©Jule Berlin@stock.adobe.com; @RS-Studios@stock.adobe.com eMove360° trade fair goes Berlin Brno (CZ) hosts Urban Mobility Days. © Leonhard Niederwimmer / pixabay FORUM Veranstaltungen Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 96 Nachhaltige Schifffahrt: Gemeinsam, klar, sauber! Vorschau: 29. September bis 2. Oktober 2022, Deutscher Schifffahrtstag, Bremen und Bremerhaven U nter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten wird der Deutsche Schifffahrtstag 2022 vom 29. September bis 2. Oktober 2022 an zwei maritimen Standorten stattfinden, in Bremen und Bremerhaven. Dabei werden unter dem Motto „Nachhaltige Schifffahrt: Gemeinsam, klar, sauber! “ die zentralen Zukunftsfragen der Schifffahrt diskutiert. Die gesamte Veranstaltung wird dadurch zum nationalen Bestandteil des zeitgleich stattfindenden Weltschifffahrtstages der International Maritime Organization IMO, der im Jahr 2022 dem Leitmotiv „New technologies for greener shipping“ gewidmet ist. Mit einem vielfältigen Programm, zu dem die seit Jahrzehnten größte Schiffs- und Bootsparade auf der Weser zählen soll, werden die Schifffahrt und ihre Zukunftsperspektive im Spannungsfeld globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel, der Digitalisierung und dem gewachsenen Sicherheitsanspruch nicht nur für die maritime Fachwelt, sondern auch für die breite Öffentlichkeit präsentiert. Das Maritime und die Schifffahrt haben nicht nur für den Norden Deutschlands, sondern für unser gesamtes, auf den friedlichen Außenhandel fokussiertes Land eine ungebrochen hohe Bedeutung. Das Meer und seine vielfältigen Funktionen und Nutzungen wie die Schifffahrt und die Häfen waren und sind bis heute prägend für die Küste und die hier lebenden Menschen. Zugleich wird derzeit deutlich, dass in einer arbeitsteilig vernetzten Welt ohne die Schifffahrt kaum etwas geht. Ohne eine leistungsfähige Schifffahrt käme unsere Welt zum Erliegen. Mit dem Ziel, das maritime Bewusstsein in Deutschland zu stärken, werden deshalb regelmäßig die Deutschen Schifffahrtstage (DST) organisiert. Sie bieten die Möglichkeit, die Schifffahrt in all ihren Facetten und Herausforderungen, aber auch in ihrer Leistungsfähigkeit, Innovationskraft und Bedeutung zu zeigen. DST werden in der Regel durch ein „Maritimes Schaufenster“ mit Schiffsbesuchen (Open Ship), Ausstellungen, Fachveranstaltungen und weiteren Aktionen ergänzt und werden so nicht nur für die Teilnehmenden, sondern für die jeweilige Region zu einem besonderen maritimen Ereignis. Nach einem Auftakt im Jahr 1909 in Berlin waren auch Bremen und Bremerhaven jeweils bereits zweimal Austragungsorte Deutscher Schifffahrtstage (Bremen 1920 und 1959 und Bremerhaven 1971 und 1992). Für 2022 haben die Vorstände der beiden Nautischen Vereine in Bremerhaven und Bremen eine gemeinsame Bewerbung auf den Weg gebracht, die vom Deutschen Nautischen Verein angenommen wurde. So wird der 36. Deutsche Schifffahrtstag in Verbindung mit dem Weltschifffahrtstag der Vereinten Nationen, beginnend am 29. September 2022, in Bremen und Bremerhaven stattfinden. Vor allem durch eine Partnerschaft mit dem Bundesverband der Deutschen Binnenschifffahrt (BDB) und dem Deutschen Marinebund (DMB) als gleichberechtigten Partnern konnte aus dem früheren Deutschen Seeschifffahrtstag nun der noch breiter gefasste Deutsche Schifffahrtstag werden, der unter Einbindung der gesamten maritimen Branche ein umfangreiches Programm bietet - darunter Fachkongresse, Aktionen für die breite Öffentlichkeit und eine Schiffs- und Bootsparade auf der Weser von Bremen nach Bremerhaven am 30. September 2022. www.deutscher-schifffahrtstag.de Hafen von Bremerhaven. Foto: Tim Mrzyglod / pixabay Umdenken für eine erfolgreiche Verkehrswende Vorschau: 12. September 2022, 09: 30 bis 12: 55 Uhr, Digitale Fachtagung des Umweltbundesamtes (UBA) D as Umweltbundesamt hat ein Forschungsvorhaben zum Thema „Erarbeitung einer Suffizienzstrategie für den Verkehrssektor und ihre erfolgreiche Kommunikation“ durchführen lassen. Die Ergebnisse des Projekts werden am 12.09.2022 in der Online-Fachtagung „Umdenken - Verhaltensbasierte Ansätze und Kommunikationsstrategien für eine erfolgreiche Verkehrswende“ vom DLR-Institut für Verkehrsforschung und ConPolicy - Institut für Verbraucherpolitik vorgestellt. Die 1972 veröffentlichte Club-of-Rome- Studie „Grenzen des Wachstums“ hat die Gefahren des ungezügelten Ressourcenverbrauchs und die Notwendigkeit des Umdenkens für mehr Umwelt-, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit erstmals deutlich auf den Punkt gebracht. Auch 50 Jahre nach Veröffentlichung des Berichts hat das Thema nicht an Relevanz verloren. Steigende Energiepreise und die negativen Folgen der Energieabhängigkeit führen aktuell vor Augen, dass der jahrelange Fokus auf mehr Effizienz beim Ressourcen- und Energieverbrauch allein nicht ausreicht. Das Thema Suffizienz, vereinfacht verstanden als Verhaltensänderung zugunsten einer nachhaltigeren Lebensweise, hat dadurch neuen Schub erhalten. Nur im gut aufeinander abgestimmten Dreiklang von Effizienz, Konsistenz und Suffizienz kann mehr Nachhaltigkeit im Verkehr erzielt werden. Doch was genau bedeutet Suffizienz für den Verkehrsbereich? Wie suffizient sind heutige Verhaltensweisen? Und wie können verhaltensbasierte Ansätze für mehr Nachhaltigkeit forciert und vor allem einfach kommuniziert werden? Diese Fragen stehen im Zentrum der Veranstaltung, es werden Forschungsergebnisse vorgestellt und diskutiert. Die Fachtagung findet im Rahmen des Forschungsvorhabens „Erarbeitung einer Suffizienzstrategie für den Verkehrssektor und ihre erfolgreiche Kommunikation“ statt und richtet sich insbesondere an Forschende, Entscheidungs- und Praxisakteure aus den Bereichen Verkehr, Kommunikation, Suffizienz sowie nachhaltiger Konsum und Postwachstum. www.umweltbundesamt.de/ service/ termine/ fachtagung-umdenken-fuer-eineerfolgreiche Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 97 Medien FORUM Sparsamer und achtsamer Umgang mit Ressourcen Sparsamer und achtsamer Umgang mit Ressourcen Naturgefahren | Klimaresilienz | Hitzevorsorge | Regenwasserbewirtschaftung | Urbanes Grün Naturgefahren | Klimaresilienz | Hitzevorsorge | Regenwasserbewirtschaftung | Urbanes Grün 3 · 2022 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Luft Luft Boden Boden Wasser Wasser Lesen Sie in der neuen Ausgabe 3|2022 von Transforming Cities:  Kühlendes Grün in der Stadt  Baumfassaden  Minderung von Hitzefolgen in deutschen Kommunen durch Trinkbrunnen  Starkregenvorsorge für Städte  Regenwasserbewirtschaftung  Transformation von Straßenräumen  Alarm- und Warnanlagen für Naturgefahren Erscheint am 5. September 2022. Jetzt bestellen unter: https: / / www.transforming-cities.de/ einzelheft/ Urbane Systeme im Wandel. Das Technisch-Wissenschaftliche Fachmagazin TranCit_neu_3_2022_halbe_quer.indd 1 TranCit_neu_3_2022_halbe_quer.indd 1 15. Aug. 2022 16: 17: 55 15. Aug. 2022 16: 17: 55 Der lange Weg zum nächsten Laden Jonas Lamberg Autonomer und flexibler ÖPNV als Beitrag zur Sicherung der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen? 126 Seiten, 1. Auflage 2022, Göttingen ISBN (Printausgabe): 9783736975903 | EUR 39,90 ISBN (E-Book): 9783736965904 | EUR 28,50 D ie Sicherung der Daseinsvorsorge im ÖPNV ist insbesondere in strukturschwachen ländlichen Regionen eine Herausforderung. Oft ist die Erreichbarkeit von Grundzentren gefährdet, welche ein vielfältiges Angebot an Waren und Dienstleistungen für den täglichen Bedarf vorhalten. Da der Betrieb klassischer Linienverkehre hier wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist, werden zunehmend flexible Angebotsformen im ÖPNV eingesetzt. Am Beispiel der Samtgemeinde Meinersen bei Braunschweig untersucht der Autor den Status quo und Optionen für das Untersuchungsgebiet. Er gibt Anregungen für die Anwendung seiner Erhebungstools für andere Kommunen und liefert umfangreiche Literatur sowie nationale und internationale Rechtsgrundlagen mit. ae Kraftstoffe für die Mobilität von morgen (Band 33) Jürgen Bünger, Peter Eilts, Jürgen Krahl, Axel Munack (Herausgeber) Beiträge zur 5. Tagung der Fuels Joint Research Group am 30. Juni und 1. Juli 2022 in-Waischenfeld 142 Seiten (Deutsch, Englisch), 1. Auflage 2022, Göttingen ISBN (Printausgabe): 9783736976245 | EUR 39,90 ISBN (E-Book): 9783736966246 | EUR 28,50 I n Zeiten von Diskussionen über Verbote für Verbrennungsmotoren, der Suche nach neuen Energiekonzepten für die Mobilität von morgen und nicht zuletzt einer intensiveren Diskussion um die Begrenzung der CO 2 -Emissionen im Zuge des Pariser Klimaschutzabkommens setzte die diesjährige Tagung einen deutlichen Akzent auf neue und nachhaltige Kraftstoffe. Im Rahmen der Fachtagung zeigten Expertinnen und Experten Wege und Konzepte auf, wie derartige Treibstoffe nicht nur auf die Straße, sondern auch in die Luft und auf See kommen, also auch in Bereiche, in denen es heute noch an tragfähigen Lösungen mangelt. Neben der Anwendung der Kraftstoffe werden auch Herstellung, nationale und internationale politische und ökonomische Rahmenbedingungen sowie gesellschaftliche und medizinische Perspektiven thematisiert. ebl GREMIEN | IMPRESSUM Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 98 Erscheint im 74. Jahrgang Impressum Herausgeber Prof. Dr. Kay W. Axhausen Prof. Dr. Hartmut Fricke Prof. Dr. Hans Dietrich Haasis Prof. Dr. Sebastian Kummer Prof. Dr. Barbara Lenz Prof. Knut Ringat Verlag und Redaktion Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22 | D-72270 Baiersbronn Tel. +49 7449 91386.36 Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de www.trialog.de Verlagsleitung Dipl.-Ing. Christine Ziegler VDI Tel. +49 7449 91386.43 christine.ziegler@trialog.de Redaktionsleitung Eberhard Buhl, M. A. (verantwortlich) Tel. +49 7449 91386.44 eberhard.buhl@trialog.de Korrektorat: Ulla Grosch Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de dispo@trialog.de Gültig ist die Anzeigenpreisliste Nr. 59 vom 01.01.2022 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 service@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr mit International Transportation Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist vier Wochen vor Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Jahres-Bezugsgebühren Inland: Print EUR 220,00 / eJournal EUR 210,00 (inkl. MWSt.) Ausland: Print EUR 228,00 / eJournal EUR 210,00 (exkl. VAT) Einzelheft: EUR 39,00 (inkl. MWSt.) + Versand Das Abonnement-Paket enthält die jeweiligen Ausgaben als Print-Ausgabe oder eJournal mit dem Zugang zum Gesamtarchiv der Zeitschrift. Campus-/ Unternehmenslizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck Qubus Media GmbH, Hannover Herstellung Schmidt Media Design, München, schmidtmedia.com Titelbild Tramway crossing in Berlin (DE). Foto: Betexion / pixabay Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Baiersbronn-Buhlbach ISSN 0020-9511 Herausgeberkreis Herausgeberbeirat Matthias Krämer Abteilungsleiter Strategische Planung und Koordination, Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI), Berlin Sebastian Belz Dipl.-Ing., Generalsekretär EPTS Foundation; Geschäftsführer econex verkehrsconsult GmbH, Wuppertal Gerd Aberle Dr. rer. pol. Dr. h.c., Professor emer. der Universität Gießen und Ehrenmitglied des Herausgeberbeirats Magnus Lamp Programmdirektor Verkehr Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Köln Uwe Clausen Univ.-Prof. Dr.-Ing., Institutsleiter, Institut für Transportlogistik, TU Dortmund & Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Vorsitzender, Fraunhofer Allianz Verkehr Florian Eck Dr., Geschäftsführer des Deutschen Verkehrsforums e.V., Berlin Michael Engel Dr., Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Fluggesellschaften e. V. (BDF), Berlin Alexander Eisenkopf Prof. Dr. rer. pol., ZEPPELIN-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Verkehrspolitik, Zeppelin University, Friedrichshafen Tom Reinhold Dr.-Ing., Geschäftsführer, traffiQ, Frankfurt am Main Ottmar Gast Dr., ehem. Vorsitzender des Beirats der Hamburg-Süd KG, Hamburg Barbara Lenz Prof. Dr., ehem. Direktorin Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin Knut Ringat Prof., Sprecher der Geschäftsführung der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Hofheim am Taunus Detlev K. Suchanek Publisher/ COO, GRT Global Rail Academy and Media GmbH | PMC Media, Hamburg Erich Staake Dipl.-Kfm., ehem. Vorstandsvorsitzender der Duisburger Hafen AG, Duisburg Wolfgang Stölzle Prof. Dr., Ordinarius, Universität St. Gallen, Leiter des Lehrstuhls für Logistikmanagement, St. Gallen Ute Jasper Dr. jur., Rechtsanwältin Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek, Düsseldorf Johann Dumser Director Global Marketing and Communications, Plasser & Theurer, Wien Matthias von Randow Hauptgeschäftsführer Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), Berlin Kay W. Axhausen Prof. Dr.-Ing., Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT), Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), Zürich Hartmut Fricke Prof. Dr.-Ing. habil., Leiter Institut für Luftfahrt und Logistik, TU Dresden Hans-Dietrich Haasis Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Maritime Wirtschaft und Logistik, Universität Bremen Sebastian Kummer Prof. Dr., Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik, Wien Peer Witten Prof. Dr., Vorsitzender der Logistik- Initiative Hamburg (LIHH), Mitglied des Aufsichtsrats der Otto Group Hamburg Oliver Wolff Hauptgeschäftsführer Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Köln Oliver Kraft Geschäftsführer, VoestAlpine BWG GmbH, Butzbach Ralf Nagel Ehem. Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Verbandes Deutscher Reeder (VDR), Hamburg Jan Ninnemann Prof. Dr., Studiengangsleiter Logistics Management, Hamburg School of Business Administration; Präsident der DVWG, Hamburg Ben Möbius Dr., Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie in Deutschland (VDB), Berlin Ullrich Martin Univ.-Prof. Dr.-Ing., Leiter Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Direktor Verkehrswissenschaftliches Institut, Universität Stuttgart GESAMMELTES FACHWISSEN Das Archiv der Zeitschrift Internationales Verkehrswesen mit ihren Vorgänger-Titeln reicht bis Ausgabe 1|1949 zurück. Sie haben ein Jahres-Abonnement? Dann steht Ihnen auch dieses Archiv zur Verfügung. Durchsuchen Sie Fach- und Wissenschaftsbeiträge ab Jahrgang 2000 nach Stichworten. Greifen Sie direkt auf die PDFs aller Ausgaben ab Jahrgang 2010 zu. Mehr darüber auf: www.internationales-verkehrswesen.de Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 4 ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 4 11.11.2018 18: 32: 23 11.11.2018 18: 32: 23 2022 | Heft 3 September