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Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
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2022 | Heft 4 November Erkenntnisse, Strategien - und die Akzeptanz politischer Maßnahmen zur Mobilitätswende Infrastruktur und ihre Nutzer Heft 4 | November 2022 74. Jahrgang POLITIK Push oder Pull? Wirkung verkehrspolitischer Maßnahmen INFRASTRUKTUR Reaktivierung von Schienenstrecken im-ländlichen Raum LOGISTIK Wie sich Planungsmethoden im intermodalen Transport verändern MOBILITÄT Welche Rolle Afrika für die globale Verkehrswende spielt TECHNOLOGIE Digitalisierung der Infrastruktur - Chance und Risiko www.internationales-verkehrswesen.de DAS FACHMAGAZIN FÜR DIE JACKENTASCHE Lesen Sie Internationales Verkehrswesen und International Transportation lieber auf dem Bildschirm? Dann stellen Sie doch Ihr laufendes Abo einfach von der gedruckten Ausgabe auf ePaper um - eine E-Mail an service@trialog.de genügt. Oder Sie bestellen Ihr neues Abonnement gleich als E-Abo. 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Es ist uns aber auch klar, dass ihr Ausbau die Herausforderungen unserer Zeit - Reduktion des CO 2 -Beitrags des Verkehrs, Inklusion aller Bevölkerungsgruppen und Orte in die gesellschaftliche Entwicklung - nicht alleine lösen kann. Hier wirkt die allfällige Reduktion in den „generalisierten Kosten“ der Nutzung durch den Ausbau zu stark auf die Nachfrage, um nachhaltige Verbesserungen zu erreichen. Wir sind nicht mehr in den 50er-, 60er-Jahren, als wir z. B. massive Überkapazitäten bauten, nur, indem wir die ersten Autobahnen erstellten, als die Zahl der möglichen Nutzer noch relativ klein war. Die meisten Infrastrukturen sind aber auch keine Glasfaserkabel, deren Leitungskapazitäten in der Regel so groß sind, dass sie lange noch nicht erschöpft sind, wenn die anderen relevanten Elemente des Systems an Grenzen stoßen. Die bekannte Grenze in der Wirksamkeit des Ausbaus der Infrastrukturen darf uns aber nicht abhalten, die notwendigen Kapazitäten für die vorhandene, vielleicht wachsende Bevölkerung und Wirtschaft bereit zu stellen. Unterhalt und Weiterentwicklung sind zentrale Themen für alle Infrastrukturen und natürlich auch für das notwendige Personal. Wir müssen immer fragen, ob hier genug Mittel bereitgestellt werden, um das Gesamtsystem a-jour zu halten, oder ob hier gefährlich gespart und verzögert wird. Ein gutes Beispiel sind die aktuellen Probleme der Eisenbahnen, Verkehrsbetriebe und Logistikanbieter; die notwendige Weiterbildung der Mitarbeitenden für die Digitalisierung ein anderes. Wenn eine Stadt, Gebietskörperschaft, ihre Infrastrukturkapazitäten abbauen möchte, um bestimmte Ziele zu erreichen, dann sollte der Abbau geplant, offen und diskutiert erfolgen und nicht durch die Hintertür des fehlenden Unterhalts. Die Erfahrungen mit den Fussgängerzonen der 60er- und 70er-Jahre zeigen, dass solche Beschlüsse möglich sind, wenn man ein überzeugendes Programm vorlegt. Der Ausbau der Infrastrukturen für den Langsamverkehr ist das heutige Beispiel, aber hier ist die Abschätzung der Wirkungen bisher oft sehr schmal und deren weitere Beobachtung oft unterfinanziert. Diese fehlende Information macht die Umsetzung solcher Umnutzungen des Straßenraums schwierig bis unmöglich. Zum Unterhalt gehört die Modernisierung, wenn neue Technologien und Geschäftsmodelle neue Möglichkeiten schaffen. Die „smart city“ ist der Sammelbegriff hier. Man muss aber vermeiden, diese Möglichkeiten als Lösung der großen Themen zu verkaufen. Carsharing, z. B. wird so weit im Moment absehbar nicht ausreichen, um den Fahrzeugbesitz im großen Stil zu verringern, genauso wenig wie „Mobilityhubs“ alleine ausreichen werden, um den ÖV- Anteil an den Wegen auf die notwendige Größe zu erhöhen. Die Entwicklung neuer Visionen, Gesamtkonzepte für die Infrastrukturen ist notwendig und dringlich, um die oben erwähnten Fragen zu beantworten, insbesondere die Rolle und die Gestalt unserer Infrastrukturen in ihnen. Wäre zum Beispiel eine Stadt, die wie beim Projekt ebikecity.baug.ethz.ch das Fahrrad oder E-Bike in den Mittelpunkt stellt, in der Lage, die Bedürfnisse ihrer Bewohner und Nutzer zu befriedigen? Wäre das Management durch Preise und Steuerung ausreichend, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen? Wie müssten für diese Ansätze die Infrastrukturen aussehen und betrieben werden? Ihr Kay W. Axhausen Prof. Dr.-Ing., Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme, Eidgenössische Technische Hochschule ETH Zürich Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 4 POLITIK INFRASTRUKTUR 31 Aktiv mobil und vernetzt mobil - statt Auto-mobil Hartmut Topp 34 Grüne Instandhaltungsflotte für Österreichs Bahnnetz Christian Adamiczek Jakob Raffel 38 Räumliche Effekte reaktivierter Bahnstrecken Wie die Reaktivierung von Schienenstrecken den ländlichen Raum stärken kann Maximilian Rohs Mathis Lepski Gabriel Flore WISSENSCHAFT 26 Reduzierung des öffentlichen Parkraums Interviewstudie zur Maßnahmenakzeptanz in europäischen Metropolen Lukas Rapp Tim Wörle Martin Kagerbauer LOGISTIK Foto: Peter Schuck / pixabay SEITE 38 Foto: Artem Podrez / Pexels SEITE 46 Foto: traffiQ / Helmut Vogler SEITE 15 12 Klimafinanzierung für die Verkehrswende Die Internationale Klimaschutzinitiative fördert seit fast 14-Jahren nachhaltige Mobilität Hannah Eberhardt Daniel Bongardt Claudia Alvarez 15 Das 9-Euro-Ticket: Verkehrspolitik oder Sozialpolitik? Eine Bewertung aus Frankfurter Sicht Kai Dietl Tom Reinhold WISSENSCHAFT 20 Push & Pull: Aktueller Forschungsstand Ergebnisse einer Literaturanalyse der internationalen Diskussion Martina Hekler Fabian Drews Carsten Gertz Oliver Schwedes 42 Auswirkungen von Innovationen auf Planungsmethoden im intermodalen Transport Klimaziele erfordern veränderten Modal Split Ralf Elbert Raphael Hackober WISSENSCHAFT 46 Infrastrukturveränderung durch Omni-Channel-Modelle Analyse der notwendigen Distributionsinfrastruktur- Anpassungen aufgrund der zukünftigen Transformationen von B2B- und B2C-Prozessen im Zuge des wachsenden Online- Handels Boris Zimmermann Niklas Winter THEMEN, SCHLAGWORTE, AUTOREN, … Schlagen Sie einfach nach: Fach- und Wissenschafts-Artikel aus Internationales Verkehrswesen ab dem Jahr 2000 finden Sie-online in der Beitragsübersicht - auf der Archiv-Seite im Web. www.internationales-verkehrswesen.de/ archiv Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 5 INHALT November 2022 Aktuelle Themen, Termine und das umfangreiche Archiv finden Sie unter www.internationales-verkehrswesen.de TECHNOLOGIE RUBRIKEN 03 Editorial 06 Im Fokus 11 Kontrapunkt 25 Bericht aus Brüssel 74 Forum Ist meine Mobilitätsentscheidung eine Frage der Moral? 78 Impressum | Gremien AUSGABE 1 | 2023 63 Schutz digitaler Bahntechnik Neue Signal- und Kommunikationselektronik bietet Angriffsfläche für Vandalismus und Cyber-Attacken Mustafa Karabuz 66 Digitaler Streckenatlas Was die Bahn vom Bauwesen lernen kann Thomas Langkamm WISSENSCHAFT 69 Towards Vision Zero V2X Communication for Active Vulnerable Road User Protection Fabian de Ponte Müller Estefania Munoz Diaz Stephan Sand Clarissa Böker Lukas Merk Foto: Frank Walensky / pixabay SEITE 57 Foto: PSI Transcom SEITE 66 MOBILITÄT 52 Ridepooling unter Einfluss des 9-Euro-Tickets Auswirkungen auf die Nachfrage von geteilten Mobilitätsdiensten am Beispiel von Moia Christof Pfundstein Tim Sadler Nico Kuehnel Felix Zwick 57 GGG-Klassen für Fahrzeuge Klassifizierung nach Größe, Gewicht und Geschwindigkeit und die Begründung von Feinmobilität Konrad Otto-Zimmermann Sophie Elise Kahnt Jori Milbradt Carsten Sommer 60 Spurwechsel in Afrika Die globale Verkehrswende kann nur gemeinsam mit Afrika realisiert werden Verena Knöll Daniel Bongardt Digital, automatisch - sicher? - Cloud-Technologie - Cybersicherheit - Öffentlicher Verkehr - Verkehrsinfrastruktur Erscheint am 17. Februar 2023 Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 6 IM FOKUS Ausbau der Bahnstrecke Ulm - Augsburg beginnt D ie Bahnstrecke zwischen Ulm und Augsburg ist eine der meistbefahrenen Strecken im Süden Deutschlands. Um mehr Kapazitäten zu schaffen und die Reisezeit zwischen den beiden Städten zu verkürzen, soll die Strecke ausgebaut werden. Nun hat Sweco im Rahmen einer Ingenieurgemeinschaft die Vorplanung unter Anwendung der BIM-Methodik (Leistungsphasen 1 und 2) übernommen. Dazu zählen die Objektplanung der Verkehrsanlagen Bahn sowie die Objekt- und Tragwerksplanung der Eisenbahnüberführungen, Straßenüberführungen, Stützwände, Tunnel und Tröge und Schallschutzwände. Auch die Fachplanung Leit- und Sicherungstechnik sowie die Fachplanung Elektrische Energieanlagen gehören zum Leistungsspektrum. Das Bahnprojekt ABS/ NBS Ulm - Augsburg ist Bestandteil des Bundesverkehrswegeplans (BVWP) 2030 und wurde in den vordringlichen Bedarf eingeordnet. Die Strecke ist Teil der europäischen Ost-West Eisenbahn-Hauptverkehrsachse im Rhein- Donau-Korridor und somit Teil der EU-Magistrale Paris-Bratislava/ Budapest - mithin eine zentrale Verkehrsachse in Bayerisch Schwaben. Die Fernzüge sollen im Bereich der Neubaustrecke bis zu 300 km/ h fahren und die Fahrzeit zwischen Ulm und Augsburg so verkürzen, dass eine Ziel-Fahrzeit von 26 Minuten einschließlich Bau- und Regelzuschlägen erreicht wird. Das entspricht den Anforderungen aus dem Deutschlandtakt. Auch der Nahverkehr, für den künftig auf der bestehenden Strecke mehr Kapazitäten zur Verfügung stehen, soll profitieren. Allgemein wird mit einer erheblichen Zunahme der Fahrgastzahlen im umweltfreundlichen Verkehrsmittel Bahn gerechnet. Zusätzlich wird die neue Strecke auch für Güterzüge geplant, die neue Trasse darf daher nur maximal 8 Promille Längsneigung aufweisen. Voraussichtlich Anfang 2023 soll die Grundlagenermittlung abgeschlossen sein. Die Übergabe der Vorplanungen der einzelnen Trassenvarianten für die parlamentarische Befassung wird 2024 erfolgen. Die Vorzugsvariante für den Streckenausbau soll dann ebenfalls bis Ende 2024 bestimmt werden. www.sweco-gmbh.de Bild: Sweco GmbH Internationale Forschung zu nachhaltigem Flugbenzin D as internationale Forschungsprojekt CARE-O-SENE (Catalyst Research for Sustainable Kerosene) hat vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Förderbescheide in Höhe von 30- Mio. EUR erhalten. Zusätzlich steuern- die industriellen Konsortiumspartner 10- Mio. EUR bei. Ziel des Projektes ist es, neuartige Fischer-Tropsch-Katalysatoren zu entwickeln und damit die Produktion von nachhaltigem Kerosin im industriellen Maßstab zu optimieren. Nachhaltiges Kerosin - sogenanntes Sustainable Aviation Fuel (SAF) - basiert nicht auf fossilen Rohstoffen wie herkömmliches Kerosin, sondern auf grünem Wasserstoff und Kohlendioxid. Die Technologie trägt wesentlich dazu bei, Sektoren wie die Luftfahrt nachhaltig zu dekarbonisieren, da fossile Energieträger in diesem Bereich besonders schwer zu ersetzen sind. Im CARE-O- SENE Projekt forschen sieben führende südafrikanische und deutsche Projektpartner an Fischer-Tropsch-Katalysatoren der nächsten Generation. Neben Sasol Germany und Sasol Limited sowie dem Helmholtz- Zentrum Berlin für Materialien und Energie (HZB) sind weitere Partner involviert: das Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme (IKTS), das Karlsruher Institut für Technologie (KIT), die Universität Kapstadt (UCT) und die IN- ERATEC GmbH. www.helmholtz-berlin.de Foto: Y. Benz / pixabay Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 7 IM FOKUS Tunnelmündungen mit Künstlicher Intelligenz sicherer machen M ündungen von Eisenbahntunneln sind sicherheitsrelevante Orte. Wenn ein Mensch den Tunneleingang betritt, erhöht sich das Risiko eines Unglücks oder die Einschränkung des Verkehrs erheblich. Im Projekt TuNuKi wollen daher Forschende des Fachbereichs Elektrotechnik und Informatik der Hochschule Niederrhein die Tunnelüberwachung mittels Künstlicher Intelligenz verbessern. Zum Streckennetz der Deutschen Bahn gehören über 700 Tunnel. Diese sicherheitskritische Infrastruktur muss - auch im Hinblick auf Terrorismusprävention - laufend kontrolliert werden. Zwar wird ein Großteil der Alarme durch eindringende Tiere oder Umwelteinflüsse ausgelöst, doch die Strecke muss sicherheitshalber nach jedem Alarm gesperrt und begangen werden. Herkömmliche Video-Überwachungsanlagen mit automatisierter Signalauswertung stoßen wegen der stark wechselnden Lichtverhältnisse - tiefe Dunkelheit und plötzliche Beleuchtung durch einfahrende Züge - schnell an ihre Grenzen. Das Projektteam will daher statt der bisherigen Kameras Dynamic Vision Sensoren einsetzen. Sie verfügen über bessere Kontrastverarbeitung und zeitliche Auflösung und können kleinste Objekte erkennen. Da die Technik außerdem nur die Veränderungen in der bewachten Zone analysiert, entstehen deutlich weniger zu verarbeitende Bilder. Dazu soll ein maßgeschneiderter Erkennungsalgorithmus die Bilder der Kameras im Anschluss treffsicher auswerten. Ziel ist es, mit Hilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz eine sichere Klassifikation zwischen Personen und anderen sich bewegenden Objekten im Bereich des Tunneleingangs zu ermöglichen. Das Projekt TuNuKi wird im Rahmen der Innovationsinitiative mFUND durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr gefördert. Projektpartner sind neben der DB Station&Service AG auch die Bundespolizei und die Masasana GmbH. www.hs-niederrhein.de Bild: Wikimediaimages / pixabay Mittelschwerer H 2 -Brennstoffzellen-LKW mit Hakengerät vorgestellt D ie Paul Group und das österreichische Maschinenbauunternehmen Palfinger haben im Rahmen ihrer Entwicklungspartnerschaft ein Vorserienfahrzeug mit Wasserstoff-Brennstoffzellen-Technik auf Basis des PH2P mit elektro-hydraulisch betriebenem Palfinger Hakengerät vorgestellt. Das Hakengerät hat eine maximale Hubkraft von 15 t, ist universell einsetzbar und verfügt durch seine Bi-point- Geometrie über erhöhte Kippkraft. Herausfordernd ist die mechanische Integration der Hebelösung auf einem alternativ angetriebenen Fahrzeug, da unter anderem eine entsprechende Platzierung der Wasserstofftanks und Batterien erforderlich ist. Der PH2P® Truck ist der erste serienreife, förderfähige, mittelschwere Wasserstoff-Brennstoffzellen-LKW mit 16 t Gesamtgewicht und etwa 450 km Reichweite aus Deutschland. Die ersten 25 Fahrzeuge aus der Serienproduktion der Paul Group werden bis Ende 2022 ausgeliefert. Die Höchstgeschwindigkeit des PH2P® Trucks liegt bei 85 km/ h, die Dauerleistung bei 120 kW, die Spitzenleistung bei 300 kW. Er-kann innerhalb von zehn bis 15 Minuten vollgetankt werden. Der vorgestellte Prototyp reiht sich in die neue Produktlinie Paul Hydrogen Power der Paul Group ein. Das Next Mobility Konsortium, dem neben dem Fahrzeugentwickler Paul Group der Tankstellenbetreiber MaierKorduletsch und Shell Deutschland angehören, stellt zudem die passende Tankinfrastruktur bereit. Sie ermöglicht eine regionale, skalierbare Wertschöpfungskette mit der Herstellung von grünem Wasserstoff, Elektrolyseur, Logistik und Betankungsmöglichkeiten. Über Shell können Transport-Logistikunternehmen ein flexibles Pay-per-use- Modell nutzen und das System risikofrei und kostengünstig in ihren Fuhrpark integrieren. Im August 2022 hat MaierKorduletsch auf dem Firmengelände von Paul in Passau mit dem Bau einer der leistungsstärksten H 2 -Tankstellen Europas begonnen. www.paul-nutzfahrzeuge.de Foto: Paul Group Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 8 IM FOKUS Lithium-Gewinnung aus Meerwasser F orschende des INM - Leibniz-Institut für Neue Materialien in Saarbrücken haben in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Shanghai ein neues elektrochemisches Verfahren zur Gewinnung von Lithium-Ionen aus Meerwasser entwickelt. Das Verfahren soll mit wenig Energie- Input auskommen und zugleich eine kontinuierliche Abtrennung von Lithium gewährleisten. Lithium zählt derzeit zu den begehrtesten Rohstoffen, allein die Umstellung von Verbrennungsmotoren auf Elektroantriebe für Fahrzeuge macht Lithium zu einer knappen Ressource. Zwar lagern beachtliche Reserven in chilenischen Salzwüsten oder in australischen Minen, doch langfristig müssen neue Quellen erschlossen werden, um den wachsenden Bedarf zu bedienen. Ideal sind dabei regionale Lithium- Quellen, da sich durch verkürzte Transportwege auch der CO 2 -Fußabdruck von Lithium-Technologien deutlich verbessern ließe. Neben dem Recycling von Lithium- Ionen-Batterien ist die Extraktion des Alkalimetalls aus wässrigen Lösungen eine Methode, an der intensiv geforscht wird. So gibt es einige Ansätze, Lithium aus Thermalwasser oder sogar aus Grubenwasser zu gewinnen. Und nicht zuletzt stellen die Weltmeere ein schier unerschöpfliches Reservoir dar. Zwar ist die Lithiumkonzentration im Meerwasser äußerst gering, doch in Summe bringen es die 1,4 Milliarden Kubikkilometer Wasser auf einen Lithiumgehalt von 230 Milliarden Tonnen. Basis des nun vorgestellten Verfahrens ist eine Kombination aus einer Redox-Flow- Batterie, einer Polymermembran für den Austausch von Anionen und zwei lithiumselektiven keramischen Membranen (LISI- CON). Im Gegensatz zu herkömmlichen Batterien speichern Redox-Flow-Batterien Energie nicht durch eine elektrochemische Reaktion in festen Elektroden, sondern durch Oxidation und Reduktion eines flüssigen Elektrolyten. Der flüssige Zustand hat den Vorteil, dass der Redox-Elektrolyt gepumpt und so das System kontinuierlich betrieben werden kann. Je nachdem, wie groß das System sein muss, lässt sich die Größe der Elektrolyt-Tanks einfach anpassen. Die elektrochemische Zelle besteht aus zwei Kammern: eine für die elektrochemische Oxidation und eine zweite für die Reduktion. Zwischen diesen beiden Kammern befindet sich eine Ionentauschmembran. Das Neue am INM-System ist, dass sich zwischen den beiden Kammern für den Redox- Elektrolyten zwei weitere Kanäle für den Zustrom von lithiumhaltigem Wasser und zur Anreicherung von Lithium-Ionen befinden. Damit kommt das Gesamtsystem auf vier Kammern. Die enorme Selektivität von Lithium-Ionen verdankt das System den keramischen LISICON-Membranen, die andere Kationen, wie Natrium- oder Kalium- Ionen, effektiv blockieren. Das Verfahren eignet sich gleichermaßen für natürliches Wasser, beispielsweise aus den Ozeanen oder aus Hydrothermalquellen, und für Grubenwasser oder für die Extraktion von Lithium-Ionen beim hydrometallurgischen Recyclen gebrauchter Batterien. Eine solche Technologie kann perspektivisch einen wichtigen Beitrag zur Lithium-Kreislaufwirtschaft leisten. www.leibniz-inm.de Bild: INM | Volker Presser Neue Ladekrane für die Schiene Z ur Instandsetzung und Pflege von Schienennetzen hat das Cargotec-Unternehmen Hiab eine neue Baureihe von Eisenbahnladekranen mit dem Steuerungssystem SPACEevo auf den Markt gebracht. Die neue Produktreihe soll Eisenbahninfrastruktur-Unternehmen bei sämtlichen Hebearbeiten unterstützen - von der Wartung und Instandhaltung bis hin zu schweren Hebevorgängen im Rahmen von Bergungsarbeiten - und den Herstellern von Eisenbahnwaggons eine wesentlich größere Auswahl an Kranen bieten. Bekannt vor allem für LKW-Ladekrane, will das Unternehmen mit seinen neuen Eisenbahnladekranen alle Leistungsbereiche abdecken - von kleineren Geräten, die sich für die Instandhaltung und Reparatur von Gleisen, wie beispielsweise Mäh- und Greifarbeiten eignen, bis hin zu den für die Zukunft geplanten sehr schweren Modellen, die auch größte Herausforderungen bewältigen. Durch das SPACEevo-Steuerungssystem kann die RAIL-Serie hohe Sicherheit für verschiedene Arten von Schienennetz-Systemen bieten.- Die Ladekrane können nach Kundenwunsch auf die Normen EN15476, EN14033, EN 50128 und EN 13849 ausgelegt werden. Optionen wie Erdung und Potenzialausgleich, Nachbargleis und Höhenbeschränkungen gehören zu den verfügbaren, kundenspezifisch anpassbaren Funktionen. www.hiab.com Hiab XS 377 CLX Rail. Foto: Hiab Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 9 IM FOKUS Aktuelle Meldungen finden Sie im Web unter www.internationales-verkehrswesen.de Shell erweitert sein Angebot für Lösungen zur E-Mobilität S hell Deutschland GmbH will von der Schaltbau Holding AG die SBRS GmbH übernehmen. SBRS mit Hauptsitz in Dinslaken ist ein führender Anbieter von Ladeinfrastrukturlösungen für kommerzielle Elektrofahrzeuge einschließlich E-Bussen, E- LKW und E-Vans. Diese Akquisition ist für Shell ein weiterer Schritt auf dem Weg, einer der größten Anbieter von Lösungen für die E-Mobilität zu werden. Nach Genehmigung durch die Kartellbehörden wird der Abschluss des Vertrages für Ende 2022 erwartet. SBRS bietet komplette Lösungen für integrierte Ladeinfrastruktur von der Planung über die Umsetzung bis zum Betrieb und dazugehörigen Softwaretools. Zu den aktuellen Kunden des Unternehmens gehören Kommunen sowie öffentliche Verkehrsbetriebe, Fahrzeughersteller und wichtige Unternehmenspartner in den Städten wie Köln, Wien oder Brüssel. Die Übernahme von SBRS ermöglicht es Shell, seine Position im Bereich E-Bus-Ladelösungen zu stärken. Shell in Deutschland arbeitet intensiv an der Beschleunigung der Energiewende. Dazu baut das Unternehmen unter anderem sein Portfolio an CO 2 -armen Energien und Lösungen, einschließlich Ladestationen für Elektrofahrzeuge, Wasserstoff, erneuerbare Energien und Biokraftstoffen aus. Zum so genanten Shell Ökosystem für E-Mobilität gehören E-Charging-Angebote für Firmenkunden sowie Lösungen für private Autofahrer an Tankstellen, für Zuhause, an der Straße und beim Einkaufen. www.shell.de Foto: SBRS GmbH Neue Forschungskooperation zum Schutz kritischer Infrastrukturen D ie Universität der Bundeswehr München und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben einen Kooperationsvertrag über die gemeinsame Forschung und Entwicklung für den verbesserten Schutz kritischer Infrastrukturen in Deutschland geschlossen. Als Kritische Infrastrukturen werden die Lebensadern der Gesellschaft bezeichnet, also etwa Autobahn- und Eisenbahnbrücken im Verkehrsnetz, Anlagen zur Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung oder Elektrizitäts- und Telekommunikationsnetze. Akute Bedrohungslagen durch Terrorismus oder Cyberangriffe und dramatische Notsituationen, wie beispielsweise während der Flutkatastrophe 2021, rücken die Frage nach Schutzmaßnahmen ins Zentrum des nationalen Interesses. Zugleich werden immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens digitalisiert. Dies zeigt sich vor allem im verstärkten Einsatz von computergestützten Modellierungen, Simulationen sowie Technologien der künstlichen Intelligenz. Bei kritischen Systemen und Anlagen sind virtuelle Abbilder, sogenannte „Digitale Zwillinge“, besonders wertvoll, da sie über die gesamte Lebensdauer datenunterstützt simulierbar sind. Am DLR-Institut für den Schutz Terrestrischer Infrastrukturen wird diese Technologie bereits intensiv erforscht. Digitale Zwillinge lassen sich im Gegensatz zu klassischen Simulationsmodellen durch Sensordaten ständig adaptieren, aktualisieren und weiterentwickeln, sind also auch für Echtzeit-Prognosen und Monitoring einsetzbar. Bei geeigneter Ausgestaltung können Digitale Zwillinge eine Schlüsselrolle für das Resilienz-Management kritischer Infrastrukturen einnehmen. Die Forschungspartner wollen das neuartige Konzept des „hybriden“ Digitalen Zwillings aufgreifen und so weiterentwickeln, dass die Vorzüge der herkömmlichen und der innovativen digitalen Simulationsmethoden und KI-Technologien miteinander kombiniert werden. Von Seiten der Universität wird eine umfassende Forschungslandschaft in der Sicherheitsforschung in die Kooperation eingebracht, die sich in den letzten zehn Jahren zu einem deutschlandweit anerkannten Aushängeschild der Hochschule entwickelt hat - allen voran das Forschungszentrum RISK - Risiko, Infrastruktur, Sicherheit, Konflikt. Für die Forschungskooperation mit dem DLR spielt vor allem das interdisziplinäre Projekt RISK.twin eine entscheidende Rolle. www.unibw.de Foto: The Blowup / Unsplash Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 10 IM FOKUS Lieferdrohnen sollen Nahversorgung im ländlichen Raum-verbessern I n einem gemeinsamen Projekt erproben die Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) und der Lieferdrohnenhersteller und -betreiber Wingcopter, inwiefern der On-demand-Transport (auf Kundenbestellung) von Gebrauchsgütern die Nahversorgung in Gemeinden des ländlichen Raums verbessern kann. Das Projekt „DroLEx - Drohnen-Lastenrad-Express-Belieferung“ wird durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) mit knapp 500.000 EUR gefördert. Im Rahmen des Pilotprojekts sollen Güter des täglichen Bedarfs per Lastendrohne von einem Mittelzentrum in umliegende kleinere Orte geflogen und dort per Lastenrad an die Endkunden zugestellt werden. Ziel ist es, die schnelle und zuverlässige Auslieferung von Lebensmitteln und anderen Gebrauchsgütern in ländlichen Gebieten zu realisieren und so die Nahversorgung der Bürger zu verbessern. Der Anwendungsfall soll aus wirtschaftlicher und ökologischer Sicht evaluiert und im Erfolgsfall zum nachhaltigen und beliebig skalierbaren Geschäftsmodell entwickelt werden. Geplanter Start der ersten Flüge im Süden Hessens ist im Frühjahr 2023. Da in vielen ländlichen Gegenden die Versorgungsmöglichkeiten durch die Schließung kleinerer, lokaler Läden stark eingeschränkt sind, wird erwartet, dass sich mithilfe von Lieferdrohnen die Anbindung des ländlichen Raums wieder verbessern lässt. Aus sozialökonomischer Sicht kommt diese Art der Belieferung vor allem mobilitätseingeschränkten Bürgern, also älteren Menschen oder Menschen ohne eigenes Auto entgegen. Auch könnten sich wirtschaftliche und ökologische Vorteile für die beteiligten Partner ergeben, da regionale Einzelhändler im ländlichen Raum aus wirtschaftlichen Gründen häufig keinen eigenen Lieferservice anbieten können. Die Auslieferung per Drohne könnte das Kundeneinzugsgebiet dieser Händler deutlich vergrößern und aufgrund der Reichweite, Geschwindigkeit und Zuladungsmöglichkeiten der eingesetzten Drohnen auch schnelle Lieferungen in abgelegenere ländliche Räume ermöglichen. Die Zustellung per batteriebetriebenem Wingcopter und E-Lastenrad ermöglicht zudem emissionsfreie Lieferungen, die im Vergleich zum straßengebundenen Transport erhebliche ökologische Vorteile mit sich bringen. Bei verschiedenen Projekten zur Auslieferung medizinischer Güter in Afrika und anderen Teilen der Welt zeigte sich, dass „Drone Delivery as a Service“-Angebote einen echten Nutzen für viele Menschen haben. Das erhofft man sich auch für ländliche Gebiete in Deutschland. DroLEx ist das erste Projekt dieser Art in Deutschland und wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr im Rahmen der Förderrichtlinie „Innovative Luftmobilität“ gefördert. Es ist auf zwölf Monate angelegt. www.wingcopter.com Hamburg wird Test-Stadt für autonome LKW in Europa V or dem Hintergrund des gravierenden Fahrermangels und steigender Warenströme erhält das Konzept autonomes Fahren neuen Aufwind. Die Europäische Kommission hat es sich zum Ziel gesetzt, die Forschung im Bereich autonome LKW-Verkehre zu fördern und entsprechende Pilotprojekte im operativen Bereich finanziell zu unterstützen. Darunter befindet sich auch das MODI-Projekt, in dem ein Konsortium aus 29 Partnern die Umsetzung von Lösungen für autonome Straßenverkehre erprobt. Der Testlauf in Hamburg ist dabei Schauplatz der ersten Anwendung eines intelligenten LKW in einer städtischen Umgebung. Das Forschungsprogramm und die Erprobung sollen vier Jahre dauern. Dann wird die technische Infrastruktur für sowohl die Kommunikation zwischen den Fahrzeugen als auch die Kommunikation zwischen der Straßeninfrastruktur und dem Fahrzeug fertig sein. Ein wichtiger Aspekt des Projekts ist die starke Präsenz wesentlicher Akteure der europäischen Logistikindustrie. Federführender Partner des Konsortiums, das dieses Projekt vorschlägt, ist ITS Norway, ein staatliches Unternehmen, das sich mit der Digitalisierung der norwegischen Verkehrsnetze befasst. Neben Forschungsinstituten und Universitäten kann das Projekt auf Unterstützung privater Unternehmen zählen, die sich für autonomes Fahren im Frachtbereich engagieren: Neben Volvo, Einride, und Daf Trucks sind dies DFDS und Moller-Maersk sowie das Logistikunternehmen Gruber Logistics aus Südeuropa, das erst vor kurzem den deutschen Schwerlastlogistiker Universal Transport übernommen hat. Im Rahmen des MODI- Projekts werden in den vier Jahren Lösungen und Potenziale der höchsten Automatisierungsstufe getestet, ohne dass sich ein Fahrer während der Fahrt im Fahrzeug befindet. Weitere Tests werden auf dem Autobahnkorridor von Rotterdam in den Niederlanden nach Moss in Norwegen durchgeführt, wobei vier Landesgrenzen überquert werden und der Terminalbetrieb in vier verschiedenen nordeuropäischen Häfen unterstützt wird. Der automatisierte Verkehr soll einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der europäischen Logistik- und Transportketten leisten. Vorrangiges Ziel ist es, dem Fahrermangel und knappen Transportkapazitäten in Europa zu begegnen. Es geht dabei nicht darum, den Verkehr vollständig zu automatisieren, sondern darum, die Arbeit der Fahrer zu vereinfachen und sich auf die Arbeitsplätze zu konzentrieren, an denen der Mehrwert der erbrachten Verkehrsleistung am größten ist. www.gruber-logistics.com Foto: Gruber Logistics Foto: Wingcopter Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 11 Alexander Eisenkopf KONTRAPUNKT Billiger ist nicht automatisch besser M it dem 9-Euro-Ticket hat die Bundesregierung den Menschen ermöglicht, den diesjährigen wunderbaren Sommer in vollen Zügen zu genießen. 52 Mio. verkaufte Tickets in drei Monaten werden allseits als Riesenerfolg verbucht. Zwangsläufig musste das 9-Euro-Ticket ein Publikumsliebling werden, denn hierzulande greifen die Leute besonders eifrig zu, wenn es billig ist oder wenn der Staat ihnen (vermeintlich) etwas schenkt. Aus Sicht einschlägiger NGOs und der Sozialpolitiker soll das auch so billig weitergehen. Den aktuellen Vorschlag, schnellstmöglich ein bundesweit gültiges Nahverkehrsticket für 49 EUR einzuführen, halten viele für unzureichend. Greenpeace liefert dazu ein Lehrstück von „Münchhausen-Ökonomik“: Bei einem Preis von 29- EUR blieben die Kosten für den Staat im Wesentlichen gleich, aber die Zahl der Nutzer würde verdoppelt. Allerdings gibt es bisher noch nicht einmal für ein 49-Euro- Ticket einen Finanzierungskonsens. Die paritätische Finanzierungzusage von insgesamt 3 Mrd. EUR steht unter dem Junktim, dass der Bund der Forderung der Länder nach höheren Regionalisierungsmitteln nachkommt. Diese Forderung wird primär mit Covid-19-Altlasten und rasant steigenden Energiebzw. Personalkosten begründet. Faktisch bedeutet dies jedoch, dass der neue Tarif für die öffentliche Hand deutlich teurer werden wird, zumal das Angebot ausgebaut werden müsste. Aber auch diesen finanzpolitischen Kuhhandel wird man noch zustande bringen. Es ist ja nur Geld. Geld aktueller oder zukünftiger- Steuerzahler, von dem bereits jetzt schätzungsweise jährlich 20 -Mrd. EUR in den ÖPNV fließen. Geld auch, von dem der Bundesrechnungshof sagt, dass der Bund derzeit nicht wisse, mit wie viel Mitteln er den ÖPNV insgesamt finanziere, und es insbesondere nicht möglich sei, die Zielerreichung im Verkehr sowie bezüglich des Klimaschutzes ausreichend zu kontrollieren. Die desaströse wirtschaftliche Lage zeigt sich etwa darin, dass vor Corona im Durchschnitt aller ÖPNV-Unternehmen nur 41,5 Prozent der entstandenen Kosten durch Fahrscheinerlöse (Nutzerfinanzierung) gedeckt wurden. Daher wäre eine intensive Evaluierung des 9-Euro-Tickets erforderlich gewesen, die nicht nur Jubelmeldungen über die Zahl der verkauften Tickets produziert, bevor man sich auf eine bundesweite 49-Euro-Flatrate festlegt. Dabei hätte insbesondere diskutiert werden müssen, ob die Alimentierung zusätzlicher Freizeitverkehre mit dem SPNV ein verkehrspolitisches Ziel ist. Auch der Umfang erwünschter Verlagerungseffekte vom PKW zum ÖPNV wäre z. B. mittels geeigneter Revealed Preference-Ansätze genauer zu analysieren und deren klimapolitische Effizienz kritisch zu hinterfragen gewesen. Aus ökonomischer und klimapolitischer Sicht spricht derzeit wenig für eine Fortsetzung der bundesweiten ÖPNV-Flatrate mit 49 EUR. So dürften den zu erwartenden jährlichen Kosten nur begrenzte Verlagerungseffekte gegenüberstehen. Ein Umstieg wird letztlich vor allem von der überregionalen Gültigkeit des Tickets incentiviert. Dies hat in der Fläche wenig Auswirkung, macht aber z. B. die Speckgürtel der Großstädte zusätzlich attraktiv für Fernpendler. Es kann jedoch nicht Sinn eines subventionierten Tickets sein, die Zersiedlung von Ballungsräumen zu fördern, weil Menschen mit einer ÖPNV-Flatrate längere Pendeldistanzen auf sich nehmen. Auch für eine pauschale Entlastung aller bestehenden Abo-Kunden zulasten des Steuerzahlers und die Subventionierung längerer Freizeitreisen mit dem SPNV gibt es keine wirklich gute Begründung. Für das 9-Euro-Ticket sprach vor allem die von Verkehrsminister Volker Wissing zu Recht konnotierte „Überwindung des Tarifdschungels“ und der einfachere Zugang zum ÖPNV. Ausgehend davon hätte man eine Vereinfachung und Harmonisierung der regionalen Tarifstrukturen einschließlich der Mechanismen der Anschluss- und Durchtarifierung und der Rolle der Verkehrsverbünde angehen müssen. Dies wäre allerdings auf das Bohren dicker Bretter hinausgelaufen - und wird mit einer Flatrate einfach übertüncht. Von den dafür aufgewendeten Mitteln hätte im Sinne von „besser statt billiger“ auch das ÖPNV-Angebot vor Ort profitiert. So aber wird aus dem 49-Euro-Ticket kein Meilenstein der Verkehrswende, sondern vor allem ein Schritt hin zu mehr Gemeinwirtschaftlichkeit und immer größerer Abhängigkeit des ÖPNV vom Tropf öffentlicher Zuwendungen. Prof. Dr. rer. pol. Alexander Eisenkopf zu aktuellen Themen der Verkehrsbranche Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 12 Klimafinanzierung für die Verkehrswende Die Internationale Klimaschutzinitiative fördert seit fast 14-Jahren nachhaltige Mobilität Klimafinanzierung, Schwellen- und Entwicklungsländer, Klimaschutz, Verkehrswende Die Internationale Klimaschutzinitiative (IKI) der Bundesregierung unterstützt Schwellen- und Entwicklungsländer bei der Verkehrswende. Ein Projekt zur Förderung der urbanen Mobilität in Lviv (Ukraine) war 2008 der Beginn einer Reihe an Verkehrsprojekten. Das von der GIZ umgesetzte Projekt TRANSfer war ein zentraler Baustein für die Vernetzung der IKI-Projekte. Seit dem Start wurden rund 6 Mrd. EUR an internationaler Unterstützung mobilisiert. Das Thema Klimafinanzierung wird auch bei der COP27 eine große Rolle spielen. Die IKI und die GIZ werden daher auch weiterhin, über TRANSfer hinaus, Klimaschutz im Verkehrssektor fördern. Hannah Eberhardt, Daniel Bongardt, Claudia Alvarez I n COP27 it is essential that we make significant progress on the crucial issue of climate finance while moving forward on all finance related items on the agenda.” - Diese Aussage ist Teil der offiziellen Vision der ägyptischen Regierung, die in diesem Jahr den Vorsitz bei den Klimaverhandlungen führt. Die internationale Klimafinanzierung ist essenziell, um Schwellen- und Entwicklungsländer im Kampf gegen den Klimawandel zu unterstützen, den diese zum Großteil nicht verursacht haben. Bei der 27. UN-Klimakonferenz, die in diesem Jahr vom 6. bis 18. November 2022 in Sharm El-Sheik in Ägypten stattfindet, ist Klimafinanzierung daher eines der Kernthemen. Ein wichtiger Teil der internationalen Klimafinanzzusagen der Deutschen Bundesregierung ist die Internationale Klimaschutzinitiative (IKI). Mit der IKI unterstützen drei Bundesministerien - die Ministerien für Wirtschaft und Klima (BMWK) und für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) sowie das Auswärtige Amt (AA) - gemeinsam Lösungsansätze in Entwicklungs- und Schwellenländern, um die im Pariser Abkommen verankerten, national festgelegten Klimaschutzbeiträge (Nationally Determi- Transport and Climate Change Week 2022, Regionaler Veranstaltungstag in Bogotá, Kolumbien Alle Fotos: GIZ POLITIK Klimaschutz Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 13 Klimaschutz POLITIK ned Contributions, NDCs) umzusetzen und ambitioniert weiterzuentwickeln. Die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH und andere Durchführungsorganisationen setzen mit Unterstützung der IKI und der EU neben bilateralen Kooperationen derzeit globale und regionale Projekte in über 20 Ländern um. Im Rahmen dieser Vorhaben werden Partner in Verkehrs-, und Energieministerien sowie in deren nachgeordneten Behörden in den klimapolitischen Dialog eingebunden und zur Verkehrswende beraten. Im Jahr 2009 war ein Projekt zur Förderung des öffentlichen Verkehrs in Lviv in der Ukraine das erste einer Reihe an Verkehrsprojekten. Mit einem Gesamtfördervolumen von 229,6 Mio. EUR unterstützte die IKI seither 44 Projekte im Bereich „Nachhaltige Mobilität“ (Stand 2022 1 ), von denen 15 bereits erfolgreich abgeschlossen sind. So wurden bspw. Verkehrsministerien dabei unterstützt, den Sektor in ihren NDCs zu verankern. In Kenia, Marokko und Vietnam wurden dabei Emissionsinventare erstellt und Minderungsszenarien errechnet. Das TRANSfer Projekt schafft Zugang zu Finanzierung Das von der GIZ umgesetzte und von der IKI finanzierte Projekt TRANSfer startete 2010 und wurde speziell dafür aufgelegt, den Zugang zur Klimafinanzierung für nachhaltige Mobilität zu verbessern. Das Projekt unterstützt Entwicklungs- und Schwellenländern darin, Maßnahmen für klimafreundlichen Verkehr zu identifizieren und so vorzubereiten, dass Banken, Fonds, Investoren oder Regierungen Geld für die Umsetzung bereitstellen. TRANSfer war in acht Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika aktiv und hat im Laufe der Jahre insgesamt zwölf Maßnahmen vorbereitet (Bild 1). Das Spektrum reicht dabei von der Schaffung technischer Vorschriften zur Förderung von Elektrofahrzeugen bis hin zu Infrastrukturinvestitionen, die eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene ermöglichen. Auch wenn das Projekt nach zwölf Jahren Laufzeit im Dezember 2022 endet, wirkt es in den kommenden Jahren weiter. Über die Jahre mobilisierte das Projekt rund 6 Mrd. EUR öffentliche und private Gelder für die konkrete Umsetzung von Reformen und Investitionsprojekten. Diese Summe enthält 1,2 Mrd. EUR Haushaltsmittel, die die Partnerländer zur Finanzierung der Maßnahmen bereitstellen, 350 Mio. EUR aus internationaler Klimafinanzierung sowie die Hebelung privater Investitionen- von schätzungsweise 4,5 Mrd. EUR. Bis- 2030 werden mit diesen Mitteln bis zu 100-Mt CO 2 eingespart. Um das zu erreichen, waren zwei Ansätze besonders ausschlaggebend: Zum einen Bild 2: Überblick über derzeit laufende IKI-Projekte mit dem Hauptthemenschwerpunkt „Nachhaltige Mobilität“ (Stand 09/ 2022) Quelle: GIZ Ecologistics ICLEI | 3,5 Mio. € 11/ 2017-12/ 2022 Green Freight India GIZ | 3,5 Mio. € 1/ 2019-10/ 2023 Low Carbon Sea Transport GIZ | 13 Mio. € 9/ 2015 Chinese German Cooperation on Low Carbon Transport GIZ | 7,7 Mio. € 12/ 2022 Advancing Climate Transport Strategies GIZ | 8,5 Mio. € 7/ 2023 TRANSfer III GIZ | 11 Mio. € 12/ 2022 12/ 2022 Moving Chile GIZ | 2 Mio. € 9/ 2023 Moving Chile GIZ | 2 Mio. € 9/ 2023 Decarbonising Transport ITF | 4,8 Mio. € 4/ 2019-3/ 2023 Soot Free City Fleets ICCT | 1,75 Mio. € 4/ 2018-12/ 2023 Sustainable Mobility Initiative ITDP | 3,3 Mio. € -12/ 2023 NDC Transport Initiative for Asia GIZ | 20 Mio. € 2/ 2024 Sustainable Mobility Initiative ITDP | 3,3 Mio. € -12/ 2023 SPARK ICLEI | 0,8 Mio. € 2/ 2022-7/ 2024 Advancing Climate Transport Strategies GIZ | 8,5 Mio. € 7/ 2023 Chinese German Cooperation on Low Carbon Transport GIZ | 7,7 Mio. € 12/ 2022 NDC Transport Initiative NDC Transport Initiative NDC Transport Initiative for Asia GIZ | 20 Mio. € 2/ 2024 Optimizing public transport ITDP | 2,2 Mio. € 9/ 2015-8/ 2022 ICLEI | 3,5 Mio. € 11/ 2017-12/ 2022 Ecologistics Green Freight India GIZ | 3,5 Mio. € 1/ 2019-10/ 2023 Low Carbon Sea Transport GIZ | 13 Mio. € 9/ 2015 Cargo e-bikes made in Ghana Siemens Stiftung | 0,4 Mio. € 7/ 2021-6/ 2024 MHL ECU Alternative Fuels GIZ | 5,7 Mio. € 8/ 2017-2/ 2023 PtX Pathways GIZ | 20 Mio. € 11/ 2020-3-2025 MOBILITÄTSKONZEPTE IM ÖPNV GÜTERVERKEHR / LOGISTIK ALTERNATIVE KRAFTSTOFFE CHL VNM ZAF GÜTERVERKEHR / LOGISTIK Sustainable Mobility in East Africa ITDP | 5 Mio. € 9/ 2018-8/ 2023 Electric 2 & 3 Wheelers UNEP | 3,3 Mio. € 3/ 2017-12/ 2022 IDN PtX Dialog GIZ | 7,5 Mio. €3/ 2021-9/ 2024 Bild 1: Workshop zum Thema Elektrobusse in Cali, Kolumbien 2020 (TRANSfer) POLITIK Klimaschutz Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 14 wurden standardisierte Toolkits entwickelt, die Guidelines, Fallstudien und Modelle enthalten, um das technische Design einer Maßnahme, die Berechnung der Einsparpotenziale, die Finanzierungsoptionen sowie die institutionelle Verankerung zu beschreiben. Jede Maßnahme wurde in einem Mitigation Action Concept Document dokumentiert. Zum anderen beschäftigte die GIZ in jedem Partnerland (siehe Bild 2) nationale Berater*innen, die in dialogorientierter Zusammenarbeit mit den Partner-Ministerien Aktionspläne entwickeln und bei deren Umsetzung begleiten. Häufig saßen diese Expert*innen direkt in den Ministerien. Urbane Mobilität als Schwerpunkt Ein weiteres besonderes Augenmerk lag in der IKI auf dem Thema urbane Mobilität, da sich in Städten die Probleme kumulieren. Ein guter öffentlicher Nahverkehr sowie bessere Bedingungen für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen haben positive Wirkungen auf Arbeitsplätze, Zugang zu Schulen und Krankenhäusern oder verbesserte Luftqualität. Neben diverser dezidierter Verkehrsprojekte haben so auch andere IKI-finanzierte Initiativen wie der Cities Climate Gap Fund und das Projekt FELICI- TY Städte z. B. bei der Konzeption von E- Bus- oder Schnellbusprojekten unterstützt. Darüber hinaus initiierte das TRANSfer- Projekt die MobiliseYourCity-Partnerschaft mit. Diese wird derzeit von Frankreich, Deutschland (BMZ) und der Europäischen Kommission unterstützt. Die Partnerschaft hat sich zum Ziel gesetzt, dass sich 100 Städte und 20 nationale Regierungen zu ehrgeizigen Klimaschutzzielen für den Stadtverkehr verpflichten und entsprechende Maßnahmen ergreifen und Projekte vorbereiten. Ausbildung und Trainings stärken die Handlungskompetenz Damit die Dekarbonisierung gelingt, stärken die IKI und die von ihr finanzierten Projekte die Handlungskompetenz von Entscheidungsträger*innen und Multiplikatoren. Zum einen verbreiten die Vorhaben anwendungsorientiertes Wissen zur Entwicklung von Maßnahmen. Dazu gehören gut aufbereitete Wissensdokumente, Prozesshilfen und Trainingsmaterialien. Zum anderen ist der intensive Austausch von Wissen und Erfahrungen unter den progressiven Akteuren ein entscheidender Erfolgsfaktor, um die Verkehrswende zu stärken. Am Rande der Klimaverhandlungen, wie der COP27, bieten die IKI-Projekte regelmäßig Austauschformate an. Mit der jährlich von der GIZ organisierten und über die IKI finanzierten Transport and Climate Change Week (siehe Bild 3) gibt es ein erfolgreiches Trainings- und Austauschformat, zuletzt trafen sich im Mai 2022 ca. 1.400 Verkehrsexpert*innen und diskutierten „Common challenges require joint solutions“ bei der hybriden Konferenz. Seit 2017 hat sich die Veranstaltung zu einem erfolgreichen Eventformat etabliert, das den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den Schwellen- und Entwicklungsländern fördert. Die 6 th Transport and Climate Change Week ist als Präsenzveranstaltung im September 2023 geplant. Um die globale Verkehrswende weiter voranzutreiben und eine große Reichweite zu erlangen, werden in Zukunft virtuelle und Präsenzformate stärker verbunden. Es bleibt viel zu tun, das Thema Verkehr wird an Bedeutung gewinnen Der Klimawandel ist ohne eine vollständige Dekarbonisierung des Verkehrssektors nicht zu stoppen. Das Zeitfenster, um die notwendige weitreichende Dekarbonisierung einzuleiten und umzusetzen, ist klein. Während in anderen Sektoren Minderungen realisiert wurden, hat die steigende Motorisierung hier bisher alle Erfolge überkompensiert. Daher sind Klimafinanzierung und weltweit steigende Investitionen in nachhaltige Mobilität notwendig, um die globalen Klimaziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Das TRANSfer-Projekt wird Ende des Jahres auslaufen, doch die Relevanz der im Projekt behandelten Thematik bleibt weiterhin bestehen. Die IKI und die GIZ werden daher auch weiterhin Klimaschutz im Verkehrssektor fördern und neue Projektformate etablieren. ■ 1 Die Werte beziehen sich auf alle IKI-Projekte, die sowohl einen Hauptthemenschwerpunkt in der Nachhaltigen Mobilität haben als auch Nachhaltige Mobilität als einen Schwerpunkt unter weiteren haben. Daniel Bongardt Programmleiter, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Bonn daniel.bongardt@giz.de Claudia Alvarez IKI Office, Teamkoordination Team Stadtentwicklung, Infrastruktur und Mobilität, Zukunft - Umwelt - Gesellschaft (ZUG) gGmbH, Berlin claudia.alvarez@z-u-g.org Hannah Eberhardt Junior Spezialistin für Kommunikation, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Bonn hannah.eberhardt@giz.de WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN •• Internationale Klimaschutzinitiative (IKI): www.international-climate-initiative.com •• Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH: www.giz.de •• Projekt TRANSfer: www.changing-transport.org/ project/ transfer/ •• Multi-Stakeholder-Partnerschaft MobiliseYourCity: www.mobiliseyourcity.net •• Climate Action Toolkits: www.changingtransport.org/ toolkits/ •• Transport and Climate Change Week: www.transportweek.org Bild 3: Transport and Climate Change Week 2020 in Berlin Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 15 Das 9-Euro-Ticket: Verkehrspolitik oder Sozialpolitik? Eine Bewertung aus Frankfurter Sicht Fahrgastzahlen, Fahrgastgewinne, Gelegenheitsnutzer, Nachhaltigkeit, Verlagerungseffekt Seit dem Start des Gültigkeitszeitraums für das 9-Euro-Ticket wurden in vielen Städten, Kommunen und Verkehrsverbünden Daten erhoben, die Einblicke in die Wirkung dieses begrenzten Sonderangebots geben sollten. Auch in Frankfurt am Main wurden verschiedene Marktforschungen durchgeführt sowie Fahrgast- und Verkaufszahlen erhoben. Zum Vergleich der lokalen Ergebnisse wurden ergänzend weitere Erhebungen herangezogen. Auf diese Weise ergibt sich ein detailliertes Bild der Auswirkungen auf die Mainmetropole. Kai Dietl, Tom Reinhold A ls eine von mehreren Maßnahmen des zweiten Energie-Entlastungspakets der Bundesregierung sollte das im März 2022 beschlossene 9-Euro-Ticket in erster Linie die steigenden Energiepreise abfedern [1]. Das für die Monate Juni, Juli und August bundesweit gültige ÖPNV-Ticket sollte jedoch auch darüber hinaus in Hinblick auf Fahrgastgewinne im ÖPNV und CO 2 -Reduzierungen durch Kraftstoffeinsparung politische Wirksamkeit entfalten [2]. Inwieweit das 9-Euro- Ticket zur Erreichung dieser Ziele tatsächlich beitragen konnte, beleuchtete die Frankfurter Lokale Nahverkehrsgesellschaft traffiQ aus Sicht der Mainmetropole. Mehr Fahrgäste als in „gewöhnlichen“ Sommermonaten Einen wichtigen Indikator für die Beurteilung der Wirksamkeit des 9-Euro-Tickets stellen die Fahrgastzahlen dar. Der Blick auf die Entwicklung der Fahrgastzahlen in Frankfurt am Main (Bild 1) zeigt, dass bereits im Mai, vor Einführung des 9-Euro- Tickets, deutlich höhere Fahrgastzahlen im Vergleich zum Vorjahresmonat erreicht werden konnten. Ein Erholungseffekt von den enormen Fahrgastzahlenrückgängen während der Covid-19-Pandemie. Sind jedoch in den Sommermonaten Juni bis August traditionell sinkende Fahrgastzahlen zu beobachten, wurde 2022 der Aufwärtstrend mit Beginn der Sonderaktion weiter fortgesetzt. Dadurch konnte im Juli das Vor-Pandemie-Niveau zu 98 % und im August sogar zu 100 % erreicht werden. Ähnliche Entwicklungen der Fahrgastzahlen wie in Frankfurt am Main lassen sich auch in anderen deutschen Großstädten erkennen: In Hamburg wurden im Aktionszeitraum ebenfalls Fahrgaststeigerungen bis auf das Vor-Pandemie- Niveau und im Juni sogar leicht darüber verzeichnet [3]. Auch Berlin erreichte im Juni, Juli und August durchschnittlich 94 % der Fahrgastzahlen von 2019, während diese im Mai noch bei 80 % lagen [4]. Frankfurt führend bei 9-Euro-Ticket-Besitz Für ein detailliertes Bild der Auswirkungen auf die Mainmetropole über die reinen Fahrgastzahlen hinaus führte traffiQ während des Aktionszeitraums ergänzende Marktforschungen in der Frankfurter Stadtbevölkerung durch. Zusätzlich wurden weitere Erhebungen als Referenzwerte hinzugezogen (Bild 2). Die Erhebungen unterschieden sich in den Fragestellungen sowie den dazugehörigen Antwortmöglichkeiten, bildeten jedoch dieselben Sachverhalte ab - nämlich den Besitz oder Nicht-Besitz ei- Foto: traffiQ / Helmut Vogler. ÖPNV POLITIK POLITIK ÖPNV Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 16 nes 9-Euro-Tickets. Die Kategorisierung von Antworten machte die Studienergebnisse vergleichbar. Es zeigte sich, dass die Mainmetropole in Bezug auf den Ticketbesitz deutlich herausstach. Trotz der Tatsache, dass die Befragungen in Frankfurt in der ersten Hälfte des Aktionszeitraums stattfanden, gaben mehr als drei Viertel der Befragten an, für mindestens einen Monat im Besitz eines 9-Euro-Tickets gewesen zu sein. Sei es als aktiver Käufer oder durch die Transformation eines Abonnementfahrscheins in ein 9-Euro-Ticket. Auffallend sind dabei die Unterschiede zwischen Frankfurt und Hamburg, insbesondere bezogen auf den Anteil der Ticket- Käufer. Beide Großstädte haben eine große Anziehungskraft gegenüber ihrem Umland, was die jeweils hohen Zahlen an Einpendlern belegen [8, 9]. Außerdem spielt der ÖPNV sowohl in Frankfurt am Main als auch in Hamburg eine zentrale Rolle in der innerstädtischen Mobilität. Dennoch lassen sich Unterschiede der beiden Metropolregionen erkennen, die einen Einfluss auf den Besitz und die Nutzung des 9-Euro-Tickets gehabt haben könnten: Die Metropolregion Hamburg ist monozentrisch auf die Millionenstadt Hamburg ausgerichtet. Das direkte Umland besteht aus Klein- und Mittelstädten. Je weiter man sich vom Zentrum der Hansestadt entfernt, desto ländlicher wird die Siedlungsstruktur. Das im Vergleich deutlich kleinere Frankfurt ist hingegen in der polyzentrischen Metropolregion Rhein-Main mit Offenbach, Wiesbaden, Mainz und Darmstadt gleich von vier weiteren Großstädten umgeben. Dichte Netze, schnelle Verbindungen und gute Takte machen den Öffentlichen Nahverkehr hier zu einem attraktiven Transportmittel, wodurch in der Folge grundsätzlich deutlich mehr Menschen die Öffentlichen Verkehrsmittel nutzen [10]. Weitere statistische Daten erklären die Unterschiede beim Kauf des 9-Euro-Tickets auch nur teilweise: Hamburger Haushalte verfügen mit 25.808 EUR p. a. über ein höheres Einkommen als Frankfurter mit 23.731 EUR [11], die PKW-Dichte pro 1.000- Einwohner ist in Hamburg mit 435 (Stand 2021) geringer als in Frankfurt mit 452 (Stand 2020) [12, 13]. Bei regulären Monatskarten für das Stadtgebiet ist Frankfurt mit 97,10 EUR günstiger als Hamburg mit 114,30 EUR (Hamburg AB). Im Gelegenheitsverkehr sind die Preisunterschiede noch höher, eine Tageskarte kostet beispielsweise in Hamburg 8,20 EUR (Hamburg AB), in Frankfurt 5,50 EUR [14, 15, 16, 17]. Danach stellte das 9-Euro-Ticket für die Hamburger eigentlich eine größere Vergünstigung dar als für die Frankfurter, was eine höhere Käuferzahl hätte erwarten lassen. Genauere Betrachtungen würden allerdings sehr komplex, denn bei ÖPNV-Fahrten in der Metropolregion oder zwischen den verschiedenen Städten mussten vor Einführung des 9-Euro-Tickets Tarifgrenzen beachtet werden, die die Tickets vergleichsweise teuer und die Planung kompliziert machten. Mit dem Start des 9-Euro- Tickets wurde eine Kombination aus einem einfachen Tarif und einem günstigen Preis geschaffen, wodurch die umliegenden Städte insbesondere für diese Nutzergruppe zu attraktiven Fahrtzielen wurden. Finanzielle Entlastung von Kunden Bei Betrachtung der Ticketverkäufe zeigt sich, dass in Frankfurt am Main die bislang für Gelegenheitsfahrten genutzten Tickets (Monats-, Tages- und Einzelfahrkarten) mit Abb. 1: Entwicklung der Fahrgastzahlen in Frankfurt am Main 2019 bis 2022 20.09.2022 2 22,9 22,4 21,4 18,1 11,2 11,0 10,0 9,7 11,0 12,6 11,9 9,3 18,8 20,6 21,1 18,1 0,0 5,0 10,0 15,0 20,0 25,0 Mai Juni Juli August Fahrgastzahlen Frankfurt am Main auf Basis AFZS in Mio. 2019 2020 2021 2022 Bild 1: Entwicklung der Fahrgastzahlen in Frankfurt am Main 2019 bis 2022 Quelle: traffiQ/ Automatische Fahrgastzählung AFZS Abb. 2: Regionale und nationale Erhebungen zum 9- Euro-Ticket im Vergleich 20.09.2022 3 Erhebungszeitraum Methodik Stichprobe Besitz 9-Euro-Ticket Abo Käufer** Kein Ticket traffiQ - Bürgerbefragung* Juni Telefon n=327 24% 54% 22% traffiQ - Kundenbarometer* Juli Telefon / Online n=1.500 35% 49% 16% HVV (Hamburg) Juni / Juli Online n=1.966 ca. 22% ca. 24% ca. 54% VDV (deutschlandweit) Juni / Juli / August Online n=78.000 ca. 8% ca. 40% ca. 52% OpinionTRAIN (deutschlandweit) August / September Online n=1.041 ca. 14% ca. 38% ca. 47% *Befragung der Gesamtbevölkerung inkl. ÖPNV-Nicht-Nutzern **Besitz eines 9-Euro-Tickets für mindestens einen Monat Bild 2: Regionale und nationale Erhebungen zum 9-Euro-Ticket im Vergleich Quelle: traffiQ/ Eigene Darstellung [5, 6, 7] Abb. 3: Vertriebsentwicklung durch das 9-Euro-Ticket 20.10.2022 9-Euro-Ticket in Frankfurt 4 Einnahmen nach Ticketarten* in Mio. Euro der Monate Juni, Juli, August 2021 und 2022 4,2 0,9 5,9 0,8 6,8 0,2 5,6 - 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Juni - August Juni - August** Einzelfahrkarten Tageskarten Monats- und Wochenkarten 9-€-Ticket 2021 *Ticketarten, die hauptsächlich durch das 9-Euro-Ticket ersetzt werden **Juni inkl. Vorverkauf 6% 7% 81% 6% Vertriebswege 9-Euro-Tickets Ticketcenter, auf Rechnung Private Ticketshops, Verkehrsinsel stationäre Ticketautomaten Bus 2022 Bild 3: Vertriebsentwicklung durch das 9-Euro-Ticket Quelle: traffiQ Einnahme- und Vertriebsstatistik Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 17 ÖPNV POLITIK Beginn der Sonderaktion nahezu gänzlich durch das 9-Euro-Ticket ersetzt wurden (Bild 3). An den lokalen Verkaufsstellen dominierte das 9-Euro-Ticket aufgrund des günstigen Preises die Nachfrage. Gegenüber einer regulären Monatskarte wurde der Preis durch das 9-Euro-Ticket um über 90 % gesenkt. Selbst Wochenkarten waren im regulären Tarif dreimal teurer als das Aktionsticket, das jedoch für den ganzen Monat gültig war. Für die Kunden bedeutete dies eine deutliche finanzielle Entlastung bei einem gleichzeitig größeren Geltungsbereich. Die Folge für die Verkehrsunternehmen bzw. Aufgabenträger waren die bereits im Vorfeld prognostizierten deutlichen Einnahmerückgänge in diesem Bereich. Hauptvertriebskanal für die über 600.000 9-Euro-Tickets stellten mit großem Abstand die vielen stationären Ticketautomaten dar. Etwas erstaunlich ist, dass es dennoch einige Kunden gab, die Tageskarten oder gar Wochen- und Monatskarten kauften, obwohl das 9-Euro-Ticket für sie günstiger gewesen wäre und auch auf den Automatenbildschirmen sofort als Kaufoption angeboten wurde. Analyse von Nutzungsverhalten In Frankfurt wurde neben den bereits vorgestellten Bevölkerungsbefragungen eine dritte Marktforschung durchgeführt. Bei dieser handelte es sich um eine Fahrgastbefragung in den lokalen Öffentlichen Verkehrsmitteln (U-Bahn, Straßenbahn und Bus). In persönlichen Interviews (n=2.322) wurden die Fahrgäste zu Besitz und Nutzung des 9-Euro-Tickets befragt. Deutlicher Effekt: ÖPNV statt Auto Bezogen auf den 9-Euro-Ticket-Besitz konnten die Befragten in drei Gruppen unterteilt werden (Bild 4). Während fast die Hälfte der Nutzer durch den Besitz einer Zeitkarte automatisch über ein 9-Euro-Ticket verfügte, hatte die andere Hälfte das 9-Euro-Ticket durch Kauf erworben. Diese Gruppe der 9-Euro-Ticket-Käufer ist in der Betrachtung ihres Nutzungsverhaltens von besonderem Interesse. Sie setzt sich zusammen aus Seltennutzern und bisherigen Nicht-Nutzern des ÖPNV und bietet aus Anbietersicht somit Potenzial auf dauerhafte Fahrgastgewinne. Aufschlussreich sind der Anteil des induzierten Verkehrs sowie der der Verkehrsmittelverlagerung. Für die Ermittlung dieser Werte wurde durch traffiQ ein einstufiges Fragedesign angewandt und die aktuelle Fahrt als Bezugspunkt genutzt. Die Ergebnisse zeigen, dass in Frankfurt mehr als ein Viertel aller 9-Euro-Ticket-Käufer das Auto für die Fahrt mit den emissionsärmeren Öffentlichen Verkehrsmitteln stehen ließen. Gleichzeitig ist der Anteil induzierter Fahrten, die ohne das 9-Euro-Ticket nicht stattgefunden hätten, sowohl bei allen Befragten als auch bei der Untergruppe der Käufer gering. Von diesem Blickwinkel aus scheint das politische Ziel der Emissionsreduktion durch Verkehrsmittelverlagerungen in der Mainmetropole erreicht worden zu sein. Selbst bezogen auf alle befragten Fahrgäste kommt die Erhebung von traffiQ für Frankfurt auf einen Anteil von 14 % ersetzten Autofahrten und weniger als 5 % induzierter Fahrten. Die Wahl der angewandten Methodik in Bezug auf Verkehrsmittelverlagerungen beeinflusst die Befragungsergebnisse hierbei maßgeblich [18]. Das zeigte der Methodenwechsel des VDV: Das zu Beginn der Befragungen angewandte zweistufige Fragedesign führte zu hohen Anteilen von ca. 25 % an induziertem Verkehr im Juni bei gleichzeitig sehr geringen Verlagerungseffekten von lediglich ca. 3 % vom Auto [19]. Dabei wurde zunächst nur gefragt, ob die Fahrt auch ohne das 9-Euro-Ticket unternommen worden wäre, wobei nur drei Antwortmöglichkeiten gegeben wurden („Ja“, „Nein“, Weiß nicht“). Bei der Auswahl „Nein“ wurde die Fahrt direkt als induziert gewertet. Erst danach wurde nach dem ersetzten Verkehrsmittel gefragt. Nach der Anpassung auf ein einstufiges Fragedesign kam es zu deutlichen Verschiebungen der Ergebnisse, hin zu weniger induziertem und mehr vom Auto verlagerten Verkehr [6]: Nun wurde nämlich unter Bezugnahme auf die letzte Fahrt direkt gefragt, welches Verkehrsmittel die Befragten gewählt hätten, wenn es das 9-Euro-Ticket nicht gegeben hätte. Hierbei konnte zwischen der Nutzung vieler verschiedener Verkehrsmittel gewählt werden, wobei eine der Optionen war, dass man die Fahrt gar nicht unternommen hätte [18]. Auch der HVV hat sich nach einem Pre-Test für ein einstufiges Design entschieden und kam damit auf Verlagerungen von 12 % vom Auto auf Öffentliche Verkehrsmittel bezogen auf alle Befragten [5]. Daneben gab es auch Verlagerungen vom Fahrrad- und Fußverkehr auf den ÖPNV. Unter den Käufern des 9-Euro-Tickets in Frankfurt ist der Anteil der ersetzten Fahrrad- und Fußwege fast genauso groß wie der Anteil der ersetzten Autofahrten. Auf diese Weise gewinnt der Öffentliche Verkehr zwar zusätzliche Fahrgäste, gleichzeitig jedoch verlagert sich der Verkehr von Verkehrsmitteln des Umweltverbundes in den ÖPNV, was zusätzliche Belastungen für das System bedeutet. Da der ÖPNV im Gegensatz zum Rad- und Fußverkehr bislang auch noch nicht lokal emissionsfrei ist, werden durch diese Art der Verlagerung sogar mehr Emissionen verursacht als durch die ursprünglichen lokal emissionsfreien Fortbewegungsmittel. Mobilitätsmuster nachhaltig verändern Die Verkehrsmittelverlagerung der 9-Euro- Ticket-Käufer wurde darüber hinaus in Bezug auf den hauptsächlichen Wegezweck analysiert (Bild 5). Dabei ist zu beachten, dass die Frage nach dem Wegezweck nicht fahrtspezifisch, sondern bezogen auf die generelle Nutzung des 9-Euro-Tickets gestellt wurde. Es zeigt sich, dass bei all jenen, die ein anderes Verkehrsmittel zugunsten der Öffentlichen Verkehrsmittel ersetzten, der Freizeitverkehr den häufigsten Wegezweck darstellte. Aufgrund des Erhebungsdesigns ist allerdings nicht differenzierbar, in welchem Verhältnis dieser Freizeitverkehr innerhalb oder außerhalb Frankfurts stattgefunden hat. Wie bereits erläutert, ist durch die enge Verflechtung Frankfurts mit den Abb. 4: Anteil 9-Euro-Ticket-Käufer differenziert nach Verkehrsmittelverlagerung 20.09.2022 5 51,8% 46,5% 1,8% Haben Sie bis heute ein 9-Euro-Ticket gekauft? Fahrgastbefragung (n=2.322) Ja, ich habe ein 9-Euro-Ticket gekauft Nein, aber ich habe eine Zeitkarte Nein, ich habe kein 9-Euro-Ticket 38,9% 27,7% 15,4% 10,3% 7,7% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Käufer (gesamt) auch ÖV Auto Fahrrad Fuß gar nichts * Fahrrad inkl. E-Scooter Welches Verkehrsmittel hätten Sie für diese Fahrt genutzt, wenn es das 9-Euro-Ticket nicht gäbe? Bild 4: Anteil 9-Euro-Ticket-Käufer differenziert nach Verkehrsmittelverlagerung Quelle: traffiQ Fahrgastbefragung POLITIK ÖPNV Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 18 umliegenden Städten von einem hohen Anteil städteübergreifender Fahrten auszugehen, die durch das 9-Euro-Ticket erstmals günstig und einfach möglich waren. In allen Käufergruppen (ausgenommen „vorher nichts“ = induzierter Verkehr) nutzte mehr als ein Drittel die Öffentlichen Verkehrsmittel überwiegend für den Weg von und zum Arbeitsplatz und damit für alltägliche Fahrten. Mit dem Auslaufen des 9-Euro- Tickets besteht jedoch das Risiko, dass diese Gruppen zu ihren alten Verhaltens- und Mobilitätsmustern zurückkehren und eine Rückverlagerung zu den ursprünglich genutzten Verkehrsmitteln stattfindet. In Frankfurt gab nur ein Viertel aller befragten 9-Euro-Ticket-Käufer an, den Öffentlichen Nahverkehr auch nach der Sonderaktion vermehrt zu nutzen. Bei einer gesonderten Betrachtung der Neukunden, die den ÖPNV zuvor gar nicht genutzt hatten, sinkt dieser Wert auf unter 10 %. Bestätigt werden diese Zahlen durch die Ergebnisse des Kundenbarometers in Frankfurt und der bundesweiten OpinionTRAIN-Befragung, in denen jeweils mehr als die Hälfte der Neukunden und Seltennutzer angaben, ab September seltener oder gar nicht mehr mit Öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu wollen. Eine Bindung dieser Nutzergruppen über den Aktionszeitraum hinaus ist jedoch notwendig, um die Chancen einer dauerhaften Integration des ÖPNV in das Alltagsleben zu erhöhen. Dazu beitragen soll die dauerhafte Einführung eines Nachfolgetickets, worauf sich die Verkehrsminister von Bund und Ländern geeinigt haben. Das neue Ticket soll ab Januar 2023 gelten und für 49- EUR im Monat zur bundesweiten Nutzung des Öffentlichen Nahverkehrs berechtigen. Anders als das 9-Euro-Ticket ist geplant, es nur als Abo bereitzustellen, das jedoch monatlich kündbar ist [20]. Fazit Die Ergebnisse der verschiedenen Erhebungen in Frankfurt am Main zeigen, dass sich das 9-Euro-Ticket in der Mainmetropole großer Popularität erfreute. Der Anteil an Ticketbesitzern von über drei Vierteln lag deutlich über den Ergebnissen aller Referenzerhebungen. Dabei wurde die große Nutzergruppe von Abo-Kunden durch die automatische Umwandlung ihres Abonnementfahrscheins in das 9-Euro-Ticket finanziell entlastet. Gleichzeitig wurde für die in Frankfurt besonders große Gruppe der Gelegenheitsnutzer die Möglichkeit einer attraktiveren ÖPNV-Nutzung geschaffen. Die Analyse der Fahrgastzahlen belegte eine vermehrte Nutzung der Öffentlichen Verkehrsmittel: Im Aktionszeitraum stiegen die Fahrgastzahlen entgegen dem traditionellen Sommertrend an und erreichten im letzten Monat des Aktionszeitraumes sogar wieder das Vor-Pandemie-Niveau. Die vorhandenen Kapazitäten in Frankfurt wurden dabei nicht überlastet und es wurde kaum zusätzlicher Verkehr induziert. Stattdessen konnten Verlagerungseffekte, insbesondere vom Auto hin zum ÖPNV beobachtet werden, wodurch Kraftstoff und damit klimaschädliche Emissionen eingespart werden konnten. Jedoch zeigte sich auch, dass Preissenkungen alleine nicht zu übermäßigen Fahrtverlagerungen und Fahrgastgewinnen führen. Im Aktionszeitraum konnten in Frankfurt insgesamt nur ca. 11 % Neukunden durch das 9-Euro-Ticket hinzugewonnen werden. In den bundesweiten Erhebungen des VDV (17 %) und von OpinionTRAIN (38 % inkl. der Seltennutzer) lagen diese Werte deutlich höher [6, 7]. Dem gegenüber stand eine Preissenkung von über 90 % gegenüber regulären Monatsfahrkarten. Daraus lässt sich ableiten, dass in einer Großstadt mit einem dichten und attraktiven ÖPNV-Angebot wie in Frankfurt am Main nur eine geringe Preiselastizität im Öffentlichen Verkehr herrscht und Preissenkungsmaßnahmen nur zu deutlich unterproportionalen Fahrgastzuwächsen führen. Es stellt sich die Frage, ob die Mittel, die vom Bund für das Experiment des 9-Euro-Tickets zur Verfügung gestellt wurden, nicht lieber eingesetzt worden wären, um die strukturellen Finanzierungsprobleme des ÖPNV zu lösen. Durch steigende Energie- und Personalkosten öffnet sich die Schere zwischen Kosten und Einnahmen stetig weiter; ohne Ausgleich von Bund und/ oder Ländern werden viele Kommunen in den nächsten Jahren ihr Verkehrsangebot reduzieren müssen [21]. Soll die Verkehrswende weiter vorangetrieben werden, wäre es aus Sicht der Autoren sinnvoller, mehr in den Erhalt und Ausbau des Angebots zu investieren, um den ÖPNV nachhaltig attraktiver zu machen. Gleich- AUF EINEN BLICK Neben der primären politischen Zielsetzung der finanziellen Entlastung von Bürgerinnen und Bürgern sollten mit der Einführung des 9-Euro-Tickets zusätzliche Fahrgäste für den ÖPNV gewonnen werden und insbesondere Verkehre vom Auto hin zum ÖPNV verlagert werden. Das gelang in begrenztem Ausmaß - sowohl Marktforschungen aus Frankfurt am Main als auch aus dem gesamten Bundesgebiet zeigen, dass der ÖPNV durch das 9-Euro-Ticket tatsächlich einen deutlichen Schub erhielt. Das günstige Angebot in den Monaten Juni, Juli und August 2022 machte den Nahverkehr auch für Neukunden attraktiv, und besonders in Großstädten verlor das Auto im Gültigkeitszeitraum an Bedeutung. Jedoch scheint mit dem Auslaufen der Sonderaktion eine nachhaltige Wirkung der Maßnahme gefährdet zu sein. AT A GLANCE In addition to the primary political objective of reducing the financial burden on citizens, the introduction of the 9-Euro-Ticket was intended to attract additional passengers to public transport and, in particular, to shift traffic away from cars. This has been achieved to a limited extent - market research from Frankfurt am Main as well as from all over Germany shows that the 9-Euro-Ticket has indeed given public transport a significant boost. The low-priced offer in the months of June, July and August 2022 also made local public transport attractive to new customers, and in large cities in particular, the car lost importance during the validity period. However, with the expiry of the special offer, the sustainable effect seems to be at risk. Abb. 5: Verkehrsmittelverlagerung der 9-Euro-Ticket- Käufer differenziert nach Wegezweck 20.09.2022 6 56,3% 41,4% 37,2% 32,7% 7,7% 6,6% 0,0% 10,3% 7,7% 2,6% 23,9% 43,6% 42,3% 44,2% 51,3% 1,5% 5,0% 5,1% 1,9% 23,1% 11,7% 10,0% 5,1% 13,5% 15,4% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% ÖV Auto Fahrrad * Fuß vorher nichts Sonstiges Urlaub Freizeit Schule/ Uni Arbeit * Fahrrad inkl. E-Scooter Fahrzwecke in Abhängigkeit vom ersetzten Verkehrsmittel Teilgruppe 9-Euro-Ticket-Käufer (n=1.202) (38,9%) (27,7%) (15,4%) (10,3%) (7,7%) Bild 5: Verkehrsmittelverlagerung der 9-Euro-Ticket-Käufer differenziert nach Wegezweck Quelle: traffiQ Fahrgastbefragung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 19 ÖPNV POLITIK zeitig sollten weitere Schritte zur Verdrängung des Autoverkehrs in Ballungsgebieten umgesetzt werden, damit durch die Kombination aus Push- und Pull-Maßnahmen der ÖPNV eine dauerhafte Stärkung erfährt. Das 9-Euro-Ticket ist vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zielsetzungen differenziert zu bewerten [22]: Unbestritten ist der mediale Erfolg, der ÖPNV war über Monate „in aller Munde“. Sehr beachtlich ist, wie kurzfristig das Produkt von der Branche - mit sehr hohem Einsatz vieler Mitarbeiter in Betrieb, Vertrieb, Planung und Abrechnung - umgesetzt wurde. Dagegen ist die verkehrs- und umweltpolitische Bilanz eher mäßig. Für eine geringfügige Verkehrsverlagerung vom motorisierten Verkehr zum ÖPNV wurde ein hoher Preis gezahlt, und die CO 2 -Bilanz wird durch induzierte und vom unmotorisierten Verkehr verlagerte Verkehre getrübt. De facto war es vor allem eine sozialpolitische Maßnahme - die ÖPNV-Nutzer wurden in den drei Monaten deutlich entlastet, und für viele Bürger ergab sich eine neue, kostengünstige Mobilitätsmöglichkeit. Einkommensschwache Personen profitierten hierbei überproportional. Ob es allerdings eine sozialpolitisch noch sinnvollere Maßnahme wäre, sozial schwache Personen direkt zu fördern als durch die Subvention der von ihnen mutmaßlich besonders häufig genutzten Produkte (also „Subjektförderung“ statt „Objektförderung“), ist eine Diskussion, die den Rahmen einer Fachzeitschrift des Verkehrswesens sprengen würde. ■ QUELLEN [1] Bundesregierung (2022): Entlastungspaket II. Weitere Erleichterungen auf dem Weg. www.bundesregierung.de/ breg-de/ suche/ entlastungspaket-zwei-2028052 (Abruf: 22.09.2022). [2] Bundesregierung (2022): Fragen und Antworten: 9-Euro-Ticket seit Juni 2022. www.bundesregierung.de/ breg-de/ suche/ faq-9-euroticket-2028756 (Abruf: 22.09.2022). [3] Hamburger Verkehrsverbund (2022): Nach 3 Monaten 9-Euro-Ticket: Bilanz und Ausblick. Pressemitteilung v. 29.08.2022. www.hvv. de/ resource/ blob/ 88000/ 6ed5a1ee6e6cd00279bd7f0dcb4d68f0/ PM220829_9-Euro-Ticket_Bilanz.pdf (Abruf: 29.09.2022). [4] N.N. (2022): Fahrzeuge durch 9-Euro-Ticket fast so voll wie vor Corona. Berliner Zeitung v. 27.08.2022. www.berliner-zeitung.de/ wirtschaft-verantwortung/ fahrzeuge-durch-9-euro-ticket-fast-sovoll-wie-vor-corona-li.260867 (Abruf: 29.09.2022). [5] Krämer, A.; Korbutt, A. (2022): Das 9-Euro-Ticket. Ziele, Wirkungsmechanismen und Perspektiven. In: Internationales Verkehrswesen (74) 3, S. 10-13. [6] Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (2022): Bilanz zum 9-Euro-Ticket. www.vdv.de/ bilanz-9-euro-ticket.aspx (Abruf: 22.09.2022). [7] Hercher, J; Krämer, A. (2022): OpinionTRAIN (2022). [8] Sahler, C. (2022): Frankfurt bleibt Pendler-Hauptstadt nach München - Kuriosum in Offenbach. Frankfurter Neue Presse v. 23.08.2022. www.fnp.de/ frankfurt/ frankfurt-pendler-hauptstadtnach-muenchen-berufsverkehr-statistik-kuriosum-offenbachzr-91741462.html (Abruf: 06.10.2022). [9] Pendleratlas (2022): Bundesland. Hamburg. www.pendleratlas.de/ hamburg/ (Abruf: 06.10.2022). [10] Agora Verkehrswende (2020): Städte in Bewegung. Zahlen, Daten, Fakten zur Mobilität in 35 deutschen Städten. [11] Statistisches Bundesamt (Destatis) (2022): Pkw-Dichte im Jahr 2021 auf Rekordhoch. Pressemitteilung. www.destatis.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilungen/ 2022/ 09/ PD22_N058_51.html (Abruf: 20.10.2022). [12] Süddeutsche Zeitung (2021): Analyse: Autodichte in Frankfurt steigt weiter an. www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/ auto-frankfurt-ammain-analyse-autodichte-in-frankfurt-steigt-weiter-an-dpa.urnnewsml-dpa-com-20090101-210620-99-67800 (Abruf 20.10.2022). [13] Statista (2022): Ranking zum verfügbaren Einkommen pro Einwohner in den 15 größten Städten Deutschlands im Jahr 2019. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 998971/ umfrage/ verfuegbares-einkommen-in-den-groessten-staedten-in-deutschland/ (Abruf: 20.10.2022). [14] Rhein-Main-Verkehrsverbund (2022): Monatskarte für Erwachsene. www.rmv.de/ c/ de/ fahrkarten/ sortiment-verkauf/ fahrkarten-imueberblick/ monatskarten/ monatskarte-fuer-erwachsene (Abruf: 20.10.2022). [15] Hamburger Verkehrsverbund (2022): Vollzeit-Karten. www.hvv.de/ de/ fahrkarten/ wochen-monatskarten/ vollzeit-karten (Abruf: 20.10.2022). [16] Hamburger Verkehrsverbund (2022): Übersicht Einzel- und Tageskarten. www.hvv.de/ de/ fahrkarten/ einzelkarten-tageskarten/ uebersicht (Abruf: 20.10.2022). [17] Rhein-Main-Verkehrsverbund (2022): Tageskarte. www.rmv.de/ c/ de/ fahrkarten/ sortiment-verkauf/ fahrkarten-im-ueberblick/ tageskarten/ tageskarte (Abruf: 20.10.2022). [18] Krämer, A. (2022): „Marktforschung 9-Euro-Ticket“ - Methodentest zur Bestimmung der Nachfrageverlagerungen. [19] Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (2022): 9-Euro-Ticket- Marktforschung: Jeder Fünfte hat den ÖPNV vorher normalerweise nicht genutzt. Pressemitteilung. www.vdv.de/ 220711-pm-9-euroticket-marktforschung-zu-nutzungseffekten.pdfx (Abruf: 19.10.2022). [20] Tagesschau (2022): Verkehrsminister für 49-Euro-Ticket. www.tagesschau.de/ inland/ gesellschaft/ 49-euro-ticket-103.html (Abruf: 19.10.2022). [21] Kalleicher, D.; Reinhold, T. (2022): Herausfordernde ÖPNV-Finanzierung. Kommunen benötigen Unterstützung bei der Mobilitätswende. In: Der Nahverkehr. Öffentlicher Personennahverkehr in Stadt und Region. Heft 09/ 2022. Hamburg: DVV Media Group. S. 66-68. [22] traffiQ Lokale Nahverkehrsgesellschaft Frankfurt am Main (2022): Stellungnahme zum Entwurf eines Siebten Änderungsgesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes. Öffentliche Anhörung am 16. Mai 2022. Ausschussdrucksache 20(15)50-A. www.bundestag.de/ resource/ blob/ 894284/ 330a6637587bc84c91a50ed7a539c 5a9/ Stellungnahme-Reinhold-trafficQ-data.pdf (Abruf: 20.10.2022). Tom Reinhold, Prof. Dr.-Ing. Alleingeschäftsführer, traffiQ Nahverkehrsgesellschaft, Frankfurt am Main t.reinhold@traffiq.de Kai Dietl, M. A. Projektleiter, traffiQ Nahverkehrsgesellschaft, Frankfurt am Main k.dietl@traffiq.de Die Technische Universität Braunschweig besetzt in der Fakultät Architektur, Bauingenieurwesen und Umweltwissenschaften zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine W1-Juniorprofessur (m/ w/ d) für „Planung und Betrieb öffentlicher Verkehrssysteme“ mit Tenure Track nach W2 Wir suchen eine forschungsstarke Persönlichkeit, die den Aufgabenbereich der Planung und des Betriebs öffentlicher Verkehrssysteme international sichtbar vertritt und das wissenschaftliche Profil der TU Braunschweig in diesem Bereich innovativ weiterentwickelt. Zur Bewältigung der Anforderungen, die sich aus heutiger und zukünftiger gesellschaftlicher Sicht für den Öffentlichen Verkehr ergeben, forscht die Professur unter dem Blickwinkel der übergeordneten Themen Teilhabe, Umwelt & Nachhaltigkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit, und berücksichtigt bei allen Innovationen eine Gesamtsystemsicht sowie die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie unter: https: / / www.tu-braunschweig.de/ abu/ berufungen Bewerbungen richten Sie bitte bis zum 10.01.2023 an den Dekan der Fakultät Architektur, Bauingenieurwesen und Umweltwissenschaften, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Durner, Mühlenpfordtstr. 23, 38106 Braunschweig. Bitte beachten Sie, dass lediglich Bewerbungen, die über das Online- Formular der TU Braunschweig eingehen, berücksichtigt werden können. Das Online-Formular finden Sie unter folgendem Link: https: / / www.tu-braunschweig.de/ stellenmarkt Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 20 POLITIK Wissenschaft Push & Pull: Aktueller Forschungsstand Ergebnisse einer Literaturanalyse der internationalen Diskussion Verkehrspolitik, Verkehrsplanung, Push, Pull Der Artikel zeigt eine Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Forschung zu Pushund-Pull-Maßnahmen. Es wird ein maßnahmenübergreifender Ansatz von verkehrspolitischen und -planerischen Maßnahmen aufgezeigt, um daraus Schlussfolgerungen für die-weitere Forschung abzuleiten. Die Bestandsaufnahme erfolgt im Rahmen des von der-Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts Push & Pull. Martina Hekler, Fabian Drews, Carsten Gertz, Oliver Schwedes A uf den Anstieg der Energiepreise als Folge des russischen Angriffskriegs hat die Bundesregierung mit den beiden zeitlich begrenzten Maßnahmen 9-Euro-Ticket und Tankrabatt das Ziel einer finanziellen Entlastung der Bürger: innen verfolgt. Diese sozialpolitisch motivierten Maßnahmen setzten verkehrspolitisch die seit den 1970er Jahren praktizierte Parallelförderung von öffentlichem Verkehr und privatem KFZ-Verkehr fort. Vor dem Erfahrungshintergrund der 50 Jahre währenden Parallelfinanzierung war zu erwarten, dass die sozialpolitisch motivierte Kombination von zwei Pull-Maßnahmen, die im Ergebnis sowohl den privaten KFZ-Verkehr wie auch den öffentlichen Verkehr fördern, nicht zu der verkehrspolitisch gewünschten Verlagerung im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung beitragen würde. Die Ergebnisse am Ende des ungeplanten dreimonatigen „Experiments“ haben dies mittlerweile bestätigt. Das aktuelle Beispiel ist Ausdruck einer in Deutschland seit Jahrzehnten fehlenden Kombination von Maßnahmen, die den Umweltverbund fördern (Pull) und gleichzeitig durch Restriktionen bei der privaten KFZ-Nutzung (Push) eine Verkehrsverlagerung anregen. Vielmehr bestehen in der Verkehrspolitik erhebliche Vorbehalte gegenüber Push-Maßnahmen, von denen angenommen wird, dass sie in weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt sind und womöglich eine Wiederwahl gefährden. Es ist die Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Einsicht in die Notwendigkeit Push-und- Pull-Maßnahmen zu kombinieren, um zukünftig eine nachhaltige Verkehrsentwicklung gestalten zu können einerseits und die fehlende Akzeptanz großer Teile der Bevölkerung andererseits, an der Verkehrspolitik und -planung bis heute scheitern. Das Forschungsprojekt Push & Pull, das durch die DFG von 2022 bis 2025 gefördert wird, will die Wirksamkeit von Push-und-Pull-Maßnahmen in der Verkehrspolitik und -planung erforschen. Den Ausgangspunkt bildet die erwähnte Einsicht in die Notwendigkeit der proaktiven Gestaltung einer Verkehrswende. Der Forschungsansatz beinhaltet zum einen die Erfassung unterschiedlicher Wirkungsebenen von Push-und-Pull-Maßnahmen. Zum anderen wird die Wahrnehmung von Push-und-Pull-Maßnahmen durch unterschiedliche gesellschaftliche und politische Akteure sowie die Akzeptanz in der Gesellschaft erforscht. Ziel des Forschungsprojekts ist es, Planungsempfehlungen und konkrete Handlungsansätze für einen nachhaltigen Verkehr in Deutschland zu formulieren. Begriffsklärung Push und Pull In der deutschen und internationalen Verkehrsforschung findet seit den 1990er Jahren eine Debatte zu Push und Pull als gezielte Kombination verkehrspolitischer Maßnahmen statt. In Deutschland nehmen Müller et al. (1992) [1] die undifferenzierte Parallelförderung von motorisiertem Individualverkehr (MIV) und öffentlichem Verkehr zum Anlass, zwischen Push-und-Pull- Maßnahmen zu unterscheiden und mit ihnen den öffentlichen Verkehr zu unterstützen. Push-Maßnahmen werden dabei als solche definiert, die den KFZ-Verkehr weniger attraktiv gestalten, während Pull-Maßnahmen den öffentlichen Verkehr stärken. Im US-amerikanischen Kontext finden hierfür überwiegend die Begriffe Carrots und Sticks Anwendung. Während mit Carrots (Pull) Menschen zu attraktiven Angeboten hingezogen werden sollen, dienen Sticks (Push) dazu, Menschen von bisher genutzten Verkehrsmitteln in Richtung der Alternativen zu drängen. Nach Meyer (1999) [2] werden als Carrots z. B. Verbesserungen für den öffentlichen Verkehr, Ridesharing-Angebote oder Park and Ride benannt, mit Sticks sind primär fiskalische Maßnahmen, wie z. B. Parkraummanagement oder Mautgebühren, verbunden. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 21 Wissenschaft POLITIK Holz-Rau (2018) [3] setzt sich kritisch mit dem Begriffspaar Push und Pull auseinander. Aufgezeigt wird, dass in der Verkehrspolitik und -planung ein und dieselbe Intervention gleichzeitig Push- und Pull-Effekte aufweisen können. Er argumentiert daher, dass nicht von Push-und-Pull-Maßnahmen gesprochen, sondern das jeweilige Wirkungsspektrum ganzheitlich betrachtet werden sollte. Demgegenüber wird im Forschungsprojekt Push & Pull an der begrifflichen Unterscheidung festgehalten. In der folgenden Definition wird die Planungsintention zum Kriterium dafür gewählt, ob es sich um eine Push- oder Pull-Maßnahme handelt. Bei der Anlage von z. B. Fahrradstreifen handelt es sich somit eindeutig um eine Pull-Maßnahme, weil die Intention der Planung darin besteht, den Radverkehr attraktiver zu gestalten. Dass es dazu notwendig ist, den KFZ-Verkehr weniger attraktiv zu gestalten, indem Flächen entzogen werden, ist in der Regel eine notwendige Folge des Flächenmangels. Wäre es hingegen von der Planung intendiert gewesen, den KFZ-Verkehr durch Flächenentzug weniger attraktiv zu gestalten und wäre entschieden worden, dass die neuen Flächen für den Radverkehr genutzt werden, würde es sich um ein Maßnahmenpaket aus Push-und-Pull-Maßnahmen handeln. Push-Maßnahmen werden im Forschungsprojekt vor dem Hintergrund der Fachdiskussion als restriktive Maßnahmen definiert, die direkt verhaltensbeeinflussend sind und die Wirkungsrichtungen Verkehrsverlagerung und Verkehrsvermeidung verfolgen. Push-Maßnahmen sind also jene Interventionen, die ihre Wirkung über Restriktionen entfalten und dabei unterschiedliche Wirkungsmechanismen (u. a. finanziell, ordnungsrechtlich) haben können. Pull-Maßnahmen sind hingegen Interventionen, deren Wirkung auf Angebotsverbesserung und Freiwilligkeit basiert und damit abhängig von der Akzeptanz der Nutzerinnen und Nutzer ist. Im Projektverständnis ist der Push- und Pull-Ansatz auf Maßnahmenpakete ausgerichtet, deren gezielte Kombination eine größere Wirksamkeit in Hinblick auf Verkehrsverlagerung und Verkehrsvermeidung erzielt. Eine Push- und Pull-Strategie beinhaltet damit auch den Verzicht auf Pull-Maßnahmen für den MIV. Methodisches Vorgehen der Bestandsaufnahme Die methodische Vorgehensweise der Bestandsaufnahme basiert auf einer Analyse der Fachliteratur nach van Wee & Banister (2016) [4] zur Wirkung, Wahrnehmung und Akzeptanz verkehrspolitischer und -planerischer Maßnahmen sowie politischen Strukturen. Ein Überblick über die verwendeten Datenbanken, die Kombination der Suchbegriffe und die Anzahl der Ergebnisse ist in Tabelle 1 dargestellt. Das Literatur-Screening teilte sich in drei Phasen: In einer ersten Phase wurden die insgesamt 400 Artikel anhand ihres Titels überprüft. Die zweite Phase konzentrierte sich auf die Abstracts und abschließend wurden die verbleibenden Artikel vollständig gescreent. Somit verbleiben 39 Artikel für die weitere Analyse sowie 19 Artikel, die durch das Schneeballsystem identifiziert wurden. Literaturschau im Überblick Aus der Literatur zu verkehrspolitischen und -planerischen Maßnahmen geht hervor, dass insgesamt Einigkeit über die Bedeutung von Push-und-Pull-Maßnahmen vorhanden ist, um die nachhaltige Mobilität global voranzubringen und definierte Klimaziele zu erreichen. Insgesamt konnten keine kritischen Artikel identifiziert werden, die die Bedeutung von Push und Pull in Frage stellen. Auch bei der Tatsache, dass es sich als schwierig erweist, Push-Maßnahmen einzuführen bzw. umzusetzen, zeigt die deutsche und internationale Forschung ein ähnliches Bild. Die Literaturschau zeigt auch, dass Push- Maßnahmen meist auf politischen und öffentlichen Widerstand treffen und somit tendenziell auf eine geringere (öffentliche) Akzeptanz. Es wird zudem deutlich, dass die meisten verkehrspolitischen und -planerischen Maßnahmen isoliert nur eine begrenzte Wirkung haben. In der Forschung scheint daher Einigkeit darüber zu bestehen, dass Maßnahmenpakete das Potenzial haben können, meist wirksamer zu sein, da verkehrspolitische Maßnahmen die Wirkung anderer sektoraler Maßnahmen, z. B. zur Siedlungsentwicklung, ergänzen und verstärken können. Die räumliche Einordnung der Literatur liegt vor allem auf Westeuropa, den USA sowie vereinzelt auf Asien. Im Ergebnis zeigt sich, dass unterschiedliche Planungssysteme mit ihren verschiedenen politischen Kulturen und Strukturen einen wesentlichen Einfluss auf verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen nehmen können. Es braucht also eine Anpassung an den jeweiligen räumlichen, kulturellen und strukturellen Kontext, um den Besonderheiten in Planungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen gerecht zu werden. Ergebnisse Aus den Ergebnissen der Bestandsaufnahme werden hier drei übergeordnete Thesen abgeleitet. Eine vertiefte Betrachtung unterschiedlicher Einzelmaßnahmen erfolgt hier nicht, da zunächst ein maßnahmenübergreifendes Verständnis aufgezeigt werden soll. In Bezug auf das methodische Vorgehen der analysierten Literatur lässt sich insgesamt feststellen, dass vielfältige methodische Ansätze genutzt werden, sowohl quantitative als Datenbank Treffer Begriffe Jahr Web of Science 160 TOPIC (carrot* or pull) and (stick* or push) and (transport or transportation or mobility) and (policy* or policies or planning) 2022-1994 Scopus 229 TITLE-ABS-KEY (carrot* or pull) and (stick* or push) and (transport or transportation or mobility) and (policy* or policies or planning) 2022-1973 deutschsprachige Fachzeitschriften (u. a. Internationales Verkehrswesen, Der Nahverkehr) 11 Push, Pull, Maßnahme(n), Klimaziel(e), Verkehrswende, Verkehrspolitik, Verkehrsverlagerung 2022-2010 Tabelle 1: Suchstrategie (Durchführung: Mai bis Juni 2022) Quelle: Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 22 POLITIK Wissenschaft auch qualitative und Mixed-Methods-Ansätze (siehe Tabelle 2). Nur mit Veränderungen der politischen Kultur und Strukturen ist eine Reduzierung des KFZ-Verkehrs möglich. Politische Kulturen und Strukturen in unterschiedlichen räumlichen Kontexten und deren Einfluss auf verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen wird in der Forschung durch Fallstudienanalysen, aber auch durch Mixed-Methods-Ansätze untersucht. Die Entwicklung eines Politikpakets für eine Umstellung zu nachhaltiger Mobilität zeigt für den österreichischen Kontext, dass es eine ausgewogene Kombination zwischen hoher Wirksamkeit und Effektivität von Maßnahmen und Umsetzbarkeit braucht. Für die Umsetzbarkeit ist ein hohes Maß an (öffentlicher) Akzeptanz für Maßnahmen und verfügbaren Ressourcen zu deren Finanzierung erforderlich. Insgesamt zeigt sich, dass viele Maßnahmen international bereits umgesetzt und nur wenige wirklich innovativ sind. Daher sind eher eine gut geplante Politikgestaltung und eine Kombination aus unterschiedlichen Maßnahmen für eine Reduktion der Emissionen des Personenverkehrs notwendig. Jedoch neigen politische Entscheidungsträger eher zu technischen Lösungen (Thaller et al. 2021 [13]). Auch eine vergleichende Fallstudienanalyse zur Verkehrsplanung zweier schwedischer Städte (Lund und Eskilstuna) zeigt, dass ein Aufbau veränderter Institutionen innerhalb der Stadtverwaltung erreicht werden kann, in dem sich Planungsroutinen und -normen u. a. in öffentlichen Verwaltungen allmählich ändern, so dass verkehrspolitische Maßnahmen zur Einschränkung bzw. Reduzierung des KFZ-Verkehrs zur normalen Vorgehensweise in der Verkehrsplanung gehören (Hrelja und Rye 2022-[7]). Eine weitere Fallstudienanalyse der schwedischen Städte Göteborg und Stockholm macht zudem deutlich, dass die Verwaltungsstrukturen durch Mitarbeiter: innen teilweise als zu komplex empfunden werden, da zu viele verschiedene Fachämter an der Ausgestaltung von Maßnahmen beteiligt sind. Dadurch werden Entscheidungen der Stadtverwaltung durch die Bevölkerung teilweise als widersprüchlich angesehen. Ein grundsätzliches Problem stellt in diesem Zusammenhang der Widerstand der Bevölkerung gegen umfassende Veränderungen, wie z. B. die avisierte Reduzierung des KFZ-Verkehrs, dar (Pettersson et al. 2021 [8]). Insgesamt zeigt sich, dass die politische Kultur und die politischen Strukturen eine hohe Relevanz im Kontext verkehrspolitischer und -planerischer Maßnahmen aufweisen. Mit dem Ansatz der Fallstudien wird versucht, komplexe Phänomene (viele Akteure, unterschiedliche Zielsetzungen, unterschiedliche Perspektiven usw.) gesamthaft zu untersuchen. Maßnahmenpakete sind ein wichtiger Baustein für einen nachhaltigen urbanen Verkehr. Mit einem Maßnahmenpaket werden unterschiedliche Ziele verfolgt, um die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen zu verbessern. Eine Untersuchung von Hindernissen und Erfolgsfaktoren für einen nachhaltigen urbanen Verkehr mittels eines Fallstudienansatzes von drei norwegischen Städten zeigt, dass die Umsetzung von Maßnahmenpaketen insgesamt die wichtigste Strategie ist. Die Studie zeigt auch, dass kontextuelle Faktoren, wie die Größe der Stadt, die Struktur der Politikpakete und die Aufteilung der Rollen und Zuständigkeiten in Bezug auf Flächennutzungs- und Verkehrspolitik zwischen nationalen, regionalen und lokalen Behörden, einen Einfluss darauf haben kann, welche Art von Hindernissen bei der Gestaltung und Umsetzung politischer Maßnahmen wahrscheinlich auftreten wird (Bardal et al. 2020 [5]). Eine weitere Fallstudienanalyse der Städte München, Berlin, Hamburg, Wien und Zürich im Zeitraum der letzten 25 Jahre zeigt verschiedene Strategien zur Förderung nachhaltiger Mobilität auf. München, Berlin und Hamburg haben über einen weitaus längeren Zeitraum in die Förderung des Radverkehrs investiert als Wien und Zürich. Alle fünf Städte haben ähnliche Maßnahmen zur Förderung des Zufußgehens sowie einer kompakten, gemischten Bebauung und zur Reduzierung der KFZ-Nutzung ergriffen. Die Parkraumbewirtschaftung zur Reduzierung des KFZ-Verkehrs ist hier die wichtigste Maßnahme (Buehler et a. 2017 [6]). Eine Metaanalyse vier US-amerikanischer Städte ergibt, dass Maßnahmenpakete für den Modal Shift vom MIV zu Rad- und Fußverkehr wirksamer sind, als die Umsetzung von Einzelmaßnahmen. Zudem ist die Umsetzung von Pull- Maßnahmen, u. a. für Rad- und Fußverkehr, verhältnismäßig einfach, während Push-Maßnahmen für den KFZ-Verkehr in der Bevölkerung wenig akzeptiert und daher nur schwer durchsetzbar sind (Piatkowski et al. 2019 [12]). Eine Stated-preference-Befragung der Bevölkerung Pekings zeigt auf, dass Push-Maßnahmen die Intention zur Nutzung von ÖPNV, Fahrrad, Taxi oder Carpooling signifikant erhöhen. Eine Kombination von Push-und- Pull-Maßnahmen erhöht jedoch nicht zwangsläufig die Wirksamkeit, sondern kann auch gegenteilige Effekte auslösen. Eine zu komplexe Kombination aus Push-und- Pull-Maßnahmen kann demnach zu schwer vorhersehbaren Wirkungen führen, die vor Umsetzung der Maßnahmenpakete schwierig abzuschätzen sind (Wang et al. 2022 [10]). Eine zusammenfassende Übersicht betrachteter Maßnahmen ausgewählter Autoren findet sich in Tabelle 3. Was gesellschaftlich akzeptabel ist, ist nicht zwingend wirksam. Die Akzeptanz der Bevölkerung für verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen ist ein zentraler Faktor für deren erfolgreiche Implementierung. So wird die Akzeptanz von drei verkehrspolitischen Maßnahmen einzeln und in Kombination in einer Fragebogenstudie un- Methoden (Auswahl) Autoren (Auswahl) Fallstudien Bardal et al. (2020) [5], Buehler et al. (2017) [6], Hrelja & Rye (2022) [7], Pettersson et al. (2021) [8] Stated-preference-Befragung und Fragebogenstudien Eriksson et al. (2008) [9], Wang et al. (2022) [10], Wicki et al. (2019) [11] Mixed-Methods Piatkowski et al. (2019) [12], Thaller et al. (2021) [13] Tabelle 2: Übersicht verwendeter Methoden Quelle: Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 23 Wissenschaft POLITIK tersucht, an der schwedische KFZ-Fahrer teilnahmen. Die Ergebnisse zeigen, dass Pull-Maßnahmen im Vergleich zu Push-Maßnahmen als wirksamer, gerechter und akzeptabler empfunden werden. Hingegen werden Maßnahmenpakete, die Push-und-Pull-Maßnahmen kombinieren, als ungerecht und inakzeptabel empfunden. Insgesamt zeigt sich aber, dass die Akzeptanz für Maßnahmenpakete höher ist als für einzelne Push-Maßnahmen (Eriksson et al 2008 [9]). Die Stated-preference-Befragung aus dem Jahr 2018 in Deutschland, den USA und China zeigt, dass die Akzeptanz von Push-und-Pull-Maßnahmen deutliche räumliche Unterschiede aufweist. So werden bei den Befragten in China höhere Zustimmungswerte für strengere Maßnahmenpakete erreicht als bei denen in den USA oder Deutschland, was insbesondere auf einen Einfluss der jeweiligen politischen Kultur hindeutet. Insgesamt zeigt sich auch hier, dass Push-Maßnahmen in der Öffentlichkeit weniger Akzeptanz erfahren als Pull-Maßnahmen und infolgedessen einen negativen Einfluss auf die Unterstützung von Maßnahmenpaketen haben. Die öffentliche Akzeptanz von Push-Maßnahmen wird dabei jedoch hauptsächlich durch deren Härte bestimmt. So erhalten Push-Maßnahmen wie temporäre Zufahrtsbeschränkungen an maximal drei Tagen in der Woche für private KFZ ähnlich hohe Zustimmungswerte bei den Befragten wie Pull-Maßnahmen und sogar höhere Zustimmungswerte als Informationskampagnen (Wicki et al. 2019 [11]). Es zeigt sich insgesamt, dass die weniger wirksamen Pull-Maßnahmen von der Bevölkerung eher akzeptiert werden als die verhältnismäßig wirksameren Push-Maßnahmen. Maßnahmenpakete können so auch für die (öffentliche) Akzeptanz förderlich sein. Schlussfolgerungen und Möglichkeiten für weitere Forschung Ganzheitlicher Ansatz im Sinne eines Policy-Cycle Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme zeigen, dass ein ganzheitlicher Ansatz im Sinne eines Policy-Cycle bestehend aus Agenda Setting, Implementation, Impact und Akzeptanz in der Literatur nicht zu finden ist. Der ganzheitliche Ansatz des Policy-Cycle ist jedoch notwendig, da auf diese Weise vor allem kulturelle und politische Besonderheiten und die damit verbundenen Entscheidungsabläufe differenzierter analysiert werden können. Insgesamt erscheint es notwendig, verkehrspolitische Prozesse in allen Phasen zu verstehen. Mit dem Ansatz des Policy-Cycle soll im Forschungsprojekt Push & Pull der ganzheitliche prozessuale Charakter verkehrspolitischer und -planerischer Maßnahmen mit Fokus auf Deutschland untersucht werden, auch hinsichtlich der Wirkungszusammenhänge auf unterschiedlichen Ebenen (national, regional, lokal). Verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen differenziert in Abhängigkeit der spezifisch kontextbedingten Situation zu denken, planen und umzusetzen sind. Somit zeigt sich, dass es keine Einheitslösung gibt. Das Forschungsprojekt Push & Pull will untersuchen, wie ein sinnvolles Zusammenspiel von Push-und-Pull-Maßnahmen für Deutschland aussehen kann. Dabei werden vor allem die Aspekte Wirksamkeit, Wahrnehmung und Akzeptanz von Push-und-Pull-Maßnahmen vertieft analysiert. Im Sinne der integrierten Verkehrsplanung und -politik ist es zudem notwendig, benachbarte Disziplinen mit ihren Maßnahmen in die Analyse einzubeziehen. Politische Kulturen und Strukturen in der Verkehrsplanung Es lässt sich feststellen, dass die jeweils unterschiedlichen Planungssysteme und die dazugehörigen unterschiedlichen politischen Kulturen und Strukturen einen wesentlichen Einfluss auf verkehrspolitische und -planerische Prozesse haben und somit von Bedeutung für eine erfolgreiche Erarbeitung und Umsetzung von Push-und- Pull-Maßnahmen sind. Im Forschungsprojekt Push & Pull soll daher u. a. für Deutschland berücksichtigt werden, welchen Einfluss die jeweilige politische Kultur und die entsprechenden politischen Strukturen in der Verkehrsplanung sowie der Aufbau von Verwaltungen und Institutionen auf die Erarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen haben und welche Hindernisse dabei bestehen können. Methodisches Vorgehen In Bezug auf das methodische Vorgehen der analysierten Literatur lässt sich insgesamt feststellen, dass vielfältige methodische Ansätze genutzt werden. Das Forschungsprojekt Push & Pull greift den Mixed-Methods- Ansatz auf. Mit einer qualitativen Meta-Analyse sollen unterschiedliche Wirkungsebenen erfasst werden, die Maßnahmen Autoren u. a. autofreie Fußgängerzonen, Verkehrsberuhigung (u. a. Geschwindigkeitsbegrenzung auf 10 km/ h, Verbreiterung der Gehwege, kürzere Wartezeiten an Fußgängerampeln, Parkraumbewirtschaftung Buehler et al. (2017) [6] Steuererhöhung auf fossile Brennstoffe, Verbesserung öffentlicher Verkehrsmittel, Subvention von erneuerbaren Brennstoffen Eriksson et al. (2008) [9] Integrierte Verkehrs- und Flächennutzungsplanung, Parkraumbewirtschaftung, Umwandlung von Straßenraum für nachhaltige Verkehrsträger, Angebotsausweitung öffentlicher Verkehrsmittel Hrelja & Rye (2022) [7] Echtzeitinformationen im ÖPNV, neue Park & Ride-Angebote, Verbesserung der Verknüpfung verschiedener ÖPNV-Angebote, City-Maut, Zufahrtsbeschränkungen, Parkgebühren Wang et al. (2022) [10] Steuer auf fossile Brennstoffe, Reduzierung der Subventionen für Autoindustrie, Emissionsgrenzwerte für Neuwagen, Umweltzonen in der, finanzielle Unterstützung für den ÖPNV, öffentliche Informationskampagnen Wicki et al. (2019) [11] Tabelle 3: Übersicht betrachteter Maßnahmen ausgewählter Autoren Quelle: Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 24 POLITIK Wissenschaft von Push-und-Pull-Maßnahmen ausgehen. Für die Erfassung der Wahrnehmung von Push-und-Pull-Maßnahmen aus Sicht der drei zentralen gesellschaftlichen Akteure Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft werden Experteninterviews, Fokusgruppen und Bürgerwerkstätten durchgeführt. Um Aussagen zur Akzeptanz treffen zu können, wird auch eine Stated-preference-Befragung (Conjoint) durchgeführt. Fazit Generell wird in Deutschland weiterhin an Parallelfinanzierungen (MIV und ÖV) festgehalten, wie die aktuellen Beispiele 9-Euro-Ticket und Tankrabatt zeigen. Aber für die notwendige Verkehrswende braucht es seitens der Politik eine Abkehr, davon lediglich in Wahlperioden zu denken. Ganzheitliche Lösungsansätze für komplexe Fragestellungen im Verkehrsbereich sind demnach notwendig. Anknüpfend daran wird im Forschungsprojekt Push & Pull versucht, umfassende Erkenntnisse zur Wirksamkeit, Wahrnehmung und Akzeptanz von Pushund-Pull-Maßnahmen zu erlangen und daraus abgeleitete Planungsempfehlungen und konkrete Handlungsansätze für die Erarbeitung und Umsetzung von Push-und- Pull-Maßnahmen(paketen) zu entwickeln. ■ QUELLEN [1] Müller, P.; Schleicher-Jester, F.; Schmidt, M.-P.; Topp, H. (1992): Konzepte flächenhafter Verkehrsberuhigung in 16 Städten. Grüne Reihe 24 des Fachgebietes Verkehrswesen der Universität Kaiserslautern zusammen mit dem Umweltbundesamt, Fachgebiet II 3,4. [2] Meyer, M. D. (1999): Demand management as an element of transportation policy: using carrots and sticks to influence travel behavior. In: Transportation Research Part A, Vol. 33, S. 575-599. DOI: 10.1016/ S0965-8564(99)00008-7 [3] Holz-Rau, C.; Scheiner, J. (2018): Raum und Verkehr - Welche Interventionen können zur Reduzierung klimawirksamer Verkehrsemissionen beitragen? In: Straßenverkehrstechnik, Nr. 1, S. 19-28. [4] Van Wee, B.; Banister, D. (2016): How to Write a Literature Review Paper? In: Transport Reviews, Vol. 36, Nr. 2, S. 278-288. DOI: 10.1080/ 01441647.2015.1065456 [5] Bardal, K. G.; Gjertsen, A.; Reinar, M. B. (2020): Sustainable mobility: Policy design and implementation in three Norwegian cities. In: Transportation Research Part D, Vol. 82, S. 1-15. DOI: 10.1016/ j.trd.2020.102330 [6] Buehler, R.; Pucher, J.; Gerike, R.; Götschi, T. (2017): Reducing car dependence in the heart of Europe: lessons from Germany, Austria and Switzerland. In: Transport Reviews, Vol. 37, Nr. 1, S. 4-28. DOI: 10.1080/ 01441647.2016.1177799 [7] Hrelja, R.; Rye, T. (2022): Decreasing the share of travel by car. Strategies for implementing ‚push‘ or ‚pull‘ measures in a traditionally car-centric transport and land use planning. In: International Journal of Sustainable Transportation, S. 1-13. DOI: 10.1080/ 15568318.2022.2051098 [8] Pettersson, F.; Stjernborg, V.; Curtis, C. (2021): Critical challenges in implementing sustainable transport policy in Stockholm and Gothenburg. In: Cities, Vol. 113, S. 1-10. DOI: 10.1016/ j.cities.2021.103153 [9] Eriksson, L.; Garvill, J.; Nordlund, A. M. (2008): Acceptability of single and combined transport policy measures: The importance of environmental and policy specific beliefs. In: Transportation Research Part A, Vol. 42, S. 1117-1128. [10] Wang, Y.; Geng, K.; May, A. D.; Zhou, H. (2022): The impact of traffic demand management policy mix on commuter travel choices. In: Transport Policy, Vol. 117, S. 74-87. DOI: 10.1016/ j.tranpol.2022.01.002 [11] Wicki, M.; Fesenfeld, L. P.; Bernauer, T. (2019): In search of politically feasible policy-packages for sustainable passenger transport: insights from choice experiments in China, Germany, and the USA. In: Environmental Research Letters, Vol. 14, Nr. 8, S. 1-17. DOI: 10.1088/ 1748-9326/ ab30a2 [12] Piatkowski, D. P.; Marshall, W. E.; Krizek, K. J. (2019): Carrots versus Sticks: Assessing Intervention Effectiveness and Implementation Challenges for Active Transport. In: Journal of Planning Education and Research, Vol. 39, Nr. 1, S. 50-64. DOI: 10.1177/ 0739456X17715306 [13] Thaller, A.; Posch, A.; Dugan, A.; Steininger, K. (2021): How to design policy packages for sustainable transport: Balancing disruptiveness and implementability. In: Transportation Research Part D, Vol. 91, S. 1-12. DOI: 10.1016/ j.trd.2021.102714 Carsten Gertz, Prof. Dr.-Ing. Professor für Verkehrsplanung, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technische Universität Hamburg gertz@tuhh.de Oliver Schwedes, Prof. Dr. Professor für Verkehrspolitik, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, Institut für Land- und Seeverkehr, Fakultät Verkehrs- und Maschinensysteme, Technische Universität Berlin oliver.schwedes@tu-berlin.de Fabian Drews, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, Institut für Land- und Seeverkehr, Fakultät Verkehrs- und Maschinensysteme, Technische Universität Berlin fabian.drews@tu-berlin.de Martina Hekler, Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technische Universität Hamburg martina.hekler@tuhh.de Brief und Siegel für Wissenschafts-Beiträge Peer Review - sichtbares Qualitätsinstrument für Autoren und Leserschaft P eer-Review-Verfahren sind weltweit anerkannt als Instrument zur Qualitätssicherung: Sie dienen einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen, wissenschaftlichen Argumentationen und technischen Entwicklungen des Faches und sollen sicherstellen, dass die Wissenschaftsbeiträge unserer Zeitschrift hohen Standards genügen. Herausgeber und Redaktion laden daher Forscher und Entwickler im Verkehrswesen, Wissenschaftler, Ingenieure und Studierende sehr herzlich dazu ein, geeignete Manuskripte für die Rubrik Wissenschaft mit entsprechendem Vermerk bei der Redaktion einzureichen. Interessierte Autoren finden die Verfahrensregeln, die Autorenhinweise sowie das Formblatt für die Einreichung des Beitrages auf www.internationales-verkehrswesen.de/ autoren-service/ Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 25 W ie sich die Elektromobilität in Europa weiterentwickelt, hängt maßgeblich davon ab, ob die Nutzer genügend Vertrauen haben, ausreichend Lademöglichkeiten für ihre Elektrofahrzeuge zu finden. Darin sind sich Akteure aus Politik, Automobilbranche und Transportwirtschaft weitgehend einig. Ein Grundvertrauen soll die geplante EU-Verordnung für die Tank- und Ladeinfrastruktur für alternative Kraftstoffe (AFIR) schaffen. EU-Verkehrsminister und Europäisches Parlament haben inzwischen ihre Positionen dazu festgelegt und verhandeln jetzt über den endgültigen Gesetzestext. Die gute Nachricht für die Branche: Egal wie die Kompromisssuche ausgeht, es wird verbindliche Vorgaben zum Aufbau eines Mindestnetzes von Ladesäulen und Wasserstofftankstellen für LKW entlang des transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN-V) geben. Die schlechte Nachricht ist: Das Mindestnetz wird den Transportunternehmen viel zu löchrig erscheinen, um Wasserstoff- und E-LKW mit ruhigem Gewissen auf Tour zu schicken. Das ist verständlich. Die Gewissheit, dass es spätestens alle 100 Kilometer auf dem EU-Autobahnnetz Lademöglichkeiten gibt, reicht einem Disponenten noch nicht, wenn er fürchten muss, dass sich an besonders frequentierten Orten dann Dutzende Fernverkehr-LKW vor zwei Ladesäulen stauen. Wo die voraussichtlich gefragtesten Ladeorte für LKW in Europa liegen werden, hat der europäischen Kfz-Herstellerverband ACEA schon einmal untersuchen lassen. Die EU-Staaten sollen die Hotspots bis 2025 massiv mit Ladesäulen aufrüsten, auch mit Hochleistungsstationen für besonders schnelles Aufladen, fordert der Verband. Er hält insgesamt deutlich mehr Ladesäulen für nötig, als die EU-Kommission in AFIR vorgeschlagen hat mit der zweibis dreifachen Leistung. Man darf aber nicht vergessen: Bei dem Tank- und Ladenetz, auf das sich die Mitgliedstaaten verpflichten sollen, handelt es sich um ein Mindest-Sicherheitsnetz, hauptsächlich für Langstrecken. Der Staat kann dadurch Unternehmen ermutigen und einen Anstoß geben, damit sich LKW mit alternativen Antrieben am Markt durchsetzen. Die vollständige Versorgungs-Infrastruktur, auch für Nebenstrecken und Kommunen, kann er nicht bauen. Da müssen private Unternehmen und Investoren ran. Es geht auch nicht nur um den Fernverkehr. Je vorhersehbarer Touren sind, desto besser lassen sich günstige Orte und Zeiten für das Aufladen von Batterien planen, wahrscheinlich besonders im Regional- und Lieferverkehr. Die Anforderungen der Transportunternehmen unterscheiden sich erheblich, je nachdem, auf welchen Strecken sie unterwegs sind, ob es eher flach oder gebirgig ist und welche Güter sie transportieren. Ohne Frage wird die Tourenplanung deutlich komplexer werden. Reservierungssysteme für öffentliche Ladestationen werden nötig sein. Aber noch wichtiger als das öffentliche LKW-Ladenetz wird die Ausstattung von Betriebshöfen für ein planbares Aufladen und Auftanken werden. Das Fraunhofer IAO kam in einer Simulation des typischen Regionalverkehrs einer Spedition und eines KEP-Unternehmens zu dem Ergebnis, dass beide ihre Fahrzeugflotten über Nacht auf dem Betriebshof gut laden können. Sie könnten auch fremden Fahrzeugen Strom zum Nachladen verkaufen, während diese an der Rampe stehen. Der Solarstrom dafür könnte vom Dach des Lagers kommen. Der Vorschlag der EU-Kommission, dass öffentliche und kommerzielle Gebäude bis 2027 Solardächer bekommen sollen, zeigt, wohin es gehen könnte. Um das alternative Kraftstoffnetz schnell hochzuziehen, sind regionale Bedarfsanalysen in der Logistikbranche nötig. Transportunternehmer, die ohne eigene Betriebshöfe operieren, brauchen vielleicht Tank- und Ladestationen in Gewerbegebieten. Die Netzplanung ist allerdings alles andere als trivial, schließlich darf der Strom nicht ausfallen, wenn viele LKW gleichzeitig laden. Hier sind die Energieversorger und -netzbetreiber gefragt. Die sollten viel stärker mit ins Boot geholt werden. Sie wollen Strom und Wasserstoff verkaufen, sie müssen deshalb auch mit dafür sorgen, dass der Betrieb von entsprechenden Tank- und Ladestationen zu einem tragfähigen Geschäftsmodell wird. Zunächst werden die EU-Staaten den Infrastrukturaufbau zwar mit viel Fördergeld anschieben, aber das kann auf Dauer nicht so bleiben. Die EU-Gesetzgeber können durch entsprechende Gesetzgebung Investoren die Sicherheit geben, dass zunehmend mehr LKW mit alternativen Antrieben auf den Markt kommen und für eine verlässliche Nachfrage nach Strom, Wasserstoff oder anderen alternativen Treibstoffen sorgen. Dass die Nachfrage gedeckt wird, dafür muss mittelfristig der Markt sorgen. ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN Geschäftsmodelle für Stromtankstellen gesucht Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 26 Reduzierung des öffentlichen Parkraums Interviewstudie zur Maßnahmenakzeptanz in europäischen Metropolen Parken, ruhender Verkehr, Nutzendenakzeptanz, Parkraumreduzierung Die Planung von Anlagen des ruhenden Verkehrs erhält aufgrund dessen Flächenrelevanz und seiner steuernden Wirkung auf das Verkehrsverhalten eine größere Bedeutung in urbanen Räumen. Nach der Umsetzung von Maßnahmen zur Reduzierung des öffentlichen Parkraums konnten in der Vergangenheit unterschiedliche Reaktionen von Betroffenen beobachtet werden. Dieser Beitrag untersucht Wirkungen mehrerer Maßnahmen in verschiedenen Metropolen mithilfe von Experteninterviews, um die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung zu erfassen. Lukas Rapp, Tim Wörle, Martin Kagerbauer D ie Urbanisierung verursacht einen steigenden Flächenbedarf und Flächenkonkurrenz im innerstädtischen Kontext. Hiervon ist insbesondere auch die Verkehrsinfrastruktur betroffen. Da zusätzliche Flächen meist nicht verfügbar sind, ist eine effiziente Nutzung des zur Verfügung stehenden Raumes notwendig. Der Konflikt wird durch das steigende Bedürfnis der städtischen Bevölkerung nach Aufenthaltsqualität und einer verbesserten Lebensqualität hinsichtlich Hitzeresilienz, Luftschadstoff- und Lärmreduzierung verstärkt. Sowohl ruhender als auch fließender motorisierter Individualverkehr (MIV) benötigen viel Fläche. Durch eine zunehmende Motorisierung der Bevölkerung in allen sozialen Gruppen und durch eine lange Standzeit der PKW über den Tag trägt der ruhende Verkehr deutlich zum Flächenverbrauch in den Städten bei. Dieser Raum fehlt für Aufenthaltsnutzungen oder für Verkehrsinfrastrukturen anderer Verkehrsmittel. Viele Städte streben daher nach einer Reduzierung des innerstädtischen Parkraumes. Dies trifft aber sowohl in der betroffenen Bevölkerung als auch bei Einzelhandel und Gewerbe oftmals auf Widerstand. Dieser Beitrag untersucht, welche Aktivitäten geeignet sind, um die öffentliche Akzeptanz einer Reduzie- Foto: Florian Pircher / pixabay INFRASTRUKTUR Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 27 Wissenschaft INFRASTRUKTUR rung des Parkraumangebots und Umgestaltung des Straßenraums zu erhöhen. Aus dem Vergleich verschiedener baulicher Maßnahmen, der jeweiligen Rahmenbedingungen, der begleitenden akzeptanzsteigernden Aktivitäten und der öffentlichen Reaktionen auf das Projekt werden Elemente identifiziert, die die Akzeptanz positiv beeinflussen. Alle untersuchten Beispielmaßnahmen haben Bestandsparkplätze reduziert. Der ehemalige Parkraum wurde baulich umgestaltet und z. B. in Grün- und Aufenthaltsflächen überführt. Damit stehen den Nachteilen (weniger Stellplätze) durchgängig auch konkrete Vorteile (mehr Aufenthaltsqualität) gegenüber. Das Ziel der Parkraumreduzierung ist u. a. eine Veränderung des Verkehrsverhaltens. Bewohnerparkregelungen werden daher nicht betrachtet, da deren Ziel das Verbessern der Parkraumverfügbarkeit für Anwohnende ist. Die untersuchten Maßnahmen finden sich in Räumen, die dicht bebaut und durch den öffentlichen Nahverkehr gut erschlossen sind. In diesem Umfeld ist es wegen gut ausgebauter Alternativen auch heute schon möglich, ohne einen privaten PKW mobil zu sein. Zudem ist in diesen Räumen der beschriebene Flächenmangel besonders ausgeprägt, so dass die negativen Auswirkungen des ruhenden Verkehrs hier am deutlichsten sichtbar sind. Für die Untersuchung wurde zunächst eine Literaturrecherche durchgeführt. Auf den theoretischen Erkenntnissen aufbauend wurde ein qualitatives Akzeptanzmodell entwickelt, welches Wechselwirkungen der baulichen Maßnahme, der akzeptanzsteigernden Aktivitäten und den Einstellungen der Bevölkerung beschreibt. Aus diesem Akzeptanzmodell wurde ein Leitfaden für Expertinnen- und Experteninterviews abgeleitet. Die Interviews wurden mit Personen aus den jeweiligen städtischen Planungsbehörden geführt, die in die Durchführung der Maßnahme involviert waren. Dieser Personenkreis verfügt über Wissen zu Details der Umgestaltungsmaßnahme und kann zudem die Einstellungen der Betroffenen einschätzen. Aus den Erkenntnissen der Experteninterviews erfolgte eine vergleichende Gegenüberstellung der vier betrachteten Maßnahmen. Bisherige Erkenntnisse zur Akzeptanz von Infrastrukturmaßnahmen Die Akzeptanz von Parkraumreduzierungsmaßnahmen ist ein bislang wenig beforschtes Feld. Es werden daher übertragbare Erkenntnisse aus benachbarten Forschungsfeldern herangezogen. Besonders die Technikakzeptanzforschung und die Begleitforschung zu Infrastrukturgroßprojekten haben sich hierzu etabliert. Auch wenn Projekte wie Windpark- oder Stromtrassenbau andere inhaltliche Schwerpunkte haben, so lassen sich viele Parallelen zum Thema der Parkraumreduzierung ziehen. Die Akzeptanzforschung unterscheidet oft nach den Faktorengruppen Akzeptanzsubjekt, -objekt und -kontext. Das Akzeptanzsubjekt ist diejenige Person oder Personengruppe, von welcher die Akzeptanz ausgeht. Wichtige Faktoren sind hier, neben soziodemografischen Merkmalen, das Wissen und das Problembewusstsein der Personen. Als Akzeptanzobjekt wird die akzeptierte oder nicht akzeptierte Planung, Entscheidung oder ein physisches Objekt bezeichnet. Das empfundene Nutzen-Kosten-Verhältnis und die Komplexität des Vorhabens sind dabei zentral. Der Akzeptanzkontext ergibt sich vor allem aus kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen. Akzeptanzsteigernde Aktivitäten zählen ebenfalls in den Bereich des Akzeptanzkontextes. Die Akzeptanz selbst ergibt sich aus dem Zusammenspiel dieser drei Faktorengruppen. Die Faktoren können nicht isoliert betrachtet werden, da Reaktionen auf eine Maßnahme stets in den Kontext eingeordnet werden müssen, wie beispielsweise bestimmte Wertevorstellungen oder Erfahrungen einer Personengruppe. [1, 2, 3] Generell zu berücksichtigen ist der Status-quo-Bias, ein bekannter psychologischer Effekt, der regelmäßig bei Maßnahmen beobachtbar ist, die bestehende Verhaltensmuster beschränken. Dieser auch als Veränderungsaversion bezeichnete Effekt beschreibt, dass viele Menschen tendenziell die derzeitige Situation beibehalten möchten und Veränderungen gegenüber eher skeptisch eingestellt sind. [4, 5] Die einschlägige Forschung befasst sich u. a. mit der Frage, wie das Entstehen von Akzeptanz unterstützt werden kann. Ein wichtiger Ansatz akzeptanzsteigernder Aktivitäten ist die Vermittlung von Inhalten der geplanten Maßnahme. Betroffene können sich nur ein fundiertes Urteil bilden, wenn sie über die Hintergründe der Maßnahme und über die Funktion und Vorteile des neuen Straßenraumes informiert sind. Andernfalls ist der öffentliche Diskurs mitunter von Halbwissen und Unverständnis geprägt. Insbesondere bieten sich Erklärungen zur Auswahl bestimmter Gestaltungselemente an, etwa die Pflanzung neuer Bäume zur gezielten Reduktion sommerlicher Hitze. Dies verdeutlicht, dass die Planenden die Gestaltungselemente des Straßenraumes konzeptionell durchdacht haben. Es ist über die klassische Information hinaus vorteilhaft, die Maßnahme in einen größeren Gesamtkontext einzubinden und diesen greifbar auszuformulieren. Die neu geschaffenen Qualitäten können so in lebensnahen, plastischen Bildern nähergebracht werden (Storytelling). Auch die Bedeutung für übergeordnete gesellschaftliche Ziele kann so hervorgehoben werden [6] - etwa „wir schaffen eine lebenswerte Innenstadt mit mehr Platz für Menschen und weniger Autos“. Diese Herangehensweise ist gerade bei restriktiven Maßnahmen im Bereich des MIV hilfreich. So kann betont werden, dass die Menschen nicht nur einen Verlust von Parkplätzen erfahren, sondern sie im Gegenzug konkrete Mehrwerte wie z. B. verbesserte Aufenthaltsqualität gewinnen. Eine wichtige Rolle spielt auch die konkrete Beteiligung der Bevölkerung am Planungsprozess. Der Begriff der Prozessqualität drückt dabei aus, inwiefern die Betroffenen die Beteiligungs- und Öffentlichkeitsarbeit als transparent und professionell wahrnehmen. Die Prozessqualität hat wesentlichen Einfluss auf das Entstehen von Akzeptanz [3]. Nur gelungene Beteiligungsverfahren schaffen Vertrauen und fördern die positive Wahrnehmung der planenden Stelle [7]. Da öffentliche Verwaltungen für Öffentlichkeitsarbeit oft nur begrenzte Ressourcen und Knowhow zur Verfügung haben, ist der Einsatz externer Dienstleister ratsam [6]. Akzeptanzsteigernde Aktivitäten können Akzeptanz stets nur in einem bestimmten Rahmen beeinflussen. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 28 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Eine Maßnahme kann abhängig von den Rahmenbedingungen trotz professioneller und umfangreicher Informations- und Beteiligungsarbeit auf heftigen Gegenwind stoßen. Es ist zudem festzuhalten, dass gerade bei Parkraumreduzierung immer ein gewisses Maß an Widerstand zu erwarten ist, da es sich hierbei schlicht um eine konfliktträchtige Maßnahme handelt [6, 8]. Methode Die Entwicklung eines qualitativen Akzeptanzmodells diente dem Zweck, die untersuchten Maßnahmen trotz ihrer unterschiedlichen Ausprägungen und Rahmenbedingungen miteinander vergleichen zu können. Es ist vornehmlich aus theoretischen Erkenntnissen und Modellen der Technikakzeptanzforschung abgeleitet [3]. Aus dem erstellten Modell wurde ein Interviewleitfaden entwickelt, welcher Informationen zu den einzelnen Bestandteilen des Modells erhebt. Das Modell, dargestellt in Bild 1, unterscheidet grundsätzlich zwei parallel verlaufende Prozesse: Der Bestandsstraßenraum wird durch die Umgestaltungsmaßnahme verändert. Analog hierzu wird die Wahrnehmung des Vorhabens durch die Betroffenen mit den akzeptanzsteigernden Aktivitäten verändert und führt zu neuen persönlichen Einstellungen. Unter dem Begriff der persönlichen Einstellungen werden neben Einstellungen im eigentlichen Sinne auch Werte, Fakten- und Erfahrungswissen sowie Gewohnheiten zusammengefasst. Ebenso ist der Einfluss von Mobilitätsbedürfnissen (z. B. Notwendigkeit eines PKW zur Anlieferung oder für Handwerkdienstleistungen) auf diese persönlichen Einstellungen zu berücksichtigen. Die Betroffenen können über die Bürgerbeteiligung, als Teil der akzeptanzsteigernden Aktivitäten, Einfluss auf die Gestaltung des neuen Straßenraums nehmen. Die Akzeptanz ergibt sich aus den persönlichen Einstellungen der Betroffenen in Relation zur Straßenraumgestaltung und der dortigen Berücksichtigung von Vorschlägen aus der Bürgerbeteiligung. Die Modellbestandteile und -zusammenhänge wurden in den Expertinnen- und Experteninterviews erfasst. Die Einstellungen der Bevölkerung wurden u. a. durch Fragen nach Reaktionen auf frühere Infrastrukturmaßnahmen erhoben. Details zu den jeweiligen Umgestaltungsmaßnahmen wurden überwiegend aus übermittelten Unterlagen und Plänen entnommen. Zur Erfassung der Vorbereitung der akzeptanzsteigernden Aktivitäten wurde gefragt, für wie konfliktträchtig die Maßnahme im Voraus eingeschätzt wurde und inwiefern die akzeptanzsteigernden Aktivitäten an die individuellen Voraussetzungen vor Ort angepasst wurden. Zuletzt wurden kurz- und langfristige Reaktionen der Öffentlichkeit auf das Projekt beleuchtet. Die Interviews wurden online geführt, transkribiert und systematisiert ausgewertet. Ergänzt um Daten wie beispielsweise des bestehenden Mobilitätsverhaltens im jeweiligen Projektumfeld konnte so herausgearbeitet werden, •• welche Akzeptanz bereits vor dem Projekt gegeben war, •• welches Maß an Veränderung das Projekt mit sich brachte, •• wie diese Veränderung durch akzeptanzsteigernde Aktivitäten begleitet, moderiert und gestaltet wurde, sowie •• welches Maß an Akzeptanz tatsächlich entstand. Die Umgestaltungsmaßnahmen und akzeptanzsteigernden Aktivitäten wurden mit Hilfe des Akzeptanzmodells analysiert. Im Anschluss wurden die betrachteten Projekte vergleichend gegenübergestellt. Dabei wurde untersucht, ob ähnliche Maßnahmen in unterschiedlichen Umfeldern unterschiedlich gut angenommen werden. Somit wurde der Einfluss von Teilaspekten und Rahmenbedingungen auf die Akzeptanzentstehung sichtbar. Analyse der Maßnahmen Zwei der betrachteten Maßnahmen wurden in Hamburg sowie jeweils eine in Wien und in Amsterdam durchgeführt. Alle Städte weisen einen im Vergleich zum Durch- Bild 1: Qualitatives Akzeptanzmodell Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 29 Wissenschaft INFRASTRUKTUR schnitt der deutschen Metropolen niedrigen MIV-Anteil am Verkehrsaufkommen der Bewohnenden auf (Amsterdam z. B. nur 23 %). Hervorzuheben ist der hohe Anteil des öffentlichen Personenverkehrs in Wien (38 %) und der hohe Radverkehrsanteil in Amsterdam (38 %). Der Motorisierungsgrad liegt mit Ausnahme Wiens unter dem Durchschnitt der deutschen Metropolen. Diese guten Voraussetzungen für den Verzicht auf einen privaten PKW im Umfeld der betrachteten Maßnahmen erleichtern die Durchführung restriktiver Parkraummaßnahmen. [9, 10, 11] Die Maßnahmen wurden von Beginn an überwiegend positiv wahrgenommen. Die Wohnbevölkerung zeigte sich offen für die Umgestaltung und forderte sie teils aktiv ein. Dieser Effekt war unter den Gewerbetreibenden meist schwächer ausgeprägt, wobei teils auch Widerstände aus dieser Gruppe kamen. Die Maßnahmen beinhalteten in allen Fällen eine Reduktion des Parkraums und eine Erhöhung der Aufenthaltsqualität, unterschieden sich aber im Umfang der Veränderung. Das Parken wurde bei einigen Maßnahmen vollständig unterbunden und durch Einfahrbeschränkungen ergänzt. Die akzeptanzsteigernden Aktivitäten waren daher ebenfalls unterschiedlich intensiv. Es wurde gerade bei baulich weniger umfangreichen Maßnahmen auf direkte Beteiligungsangebote weitgehend verzichtet. Das persönliche Gespräch zwischen Betroffenen und Planenden war aber durchgängig Bestandteil der Aktivitäten und wurde häufig in Anspruch genommen. Die Planenden wurden bei allen Maßnahmen durch externe Dienstleister bei der Öffentlichkeitsarbeit unterstützt. Die Maßnahmen wurden überwiegend gut akzeptiert. Lediglich eine Maßnahme konnte aufgrund von Widerständen nicht wie ursprünglich geplant realisiert werden. Diese Widerstände kamen vor allem von Gewerbetreibenden, während sich die Wohnbevölkerung deutlich positiver äußerte. Die Analyse zeigt insgesamt, dass ein Zusammenhang zwischen Umfang der akzeptanzsteigernden Aktivitäten und der Akzeptanz der Umgestaltungsmaßnahme besteht. Dieser wird in der Praxis aber deutlich von weiteren Effekten überlagert: Das Maß an Vorerfahrung spielt eine zentrale Rolle. Bestand schon vorher eine große Offenheit für entsprechende Umgestaltungsmaßnahmen, konnten sogar umfangreichende Umgestaltungsmaßnahmen in kurzer Zeit mit wenig akzeptanzsteigernden Begleitaktivitäten erfolgreich umgesetzt werden. Dies trat meist in Städten auf, in denen vergleichbare Maßnahmen schon zuvor umgesetzt wurden - selbst, wenn die Reaktionen auf diese früheren Maßnahmen zunächst negativ waren. Die Vertretung der Gewerbetreibenden zählte bei einer der untersuchten Maßnahmen zu den Befürwortern, wenngleich dieselbe Gruppe einer ähnlichen Maßnahme in der Nähe noch sehr kritisch gegenüberstand. Persönliche Erfahrungen mit entsprechenden Maßnahmen haben nach diesen Beobachtungen den größten Einfluss auf die Akzeptanz. Die persönlichen Erfahrungen sind auch durch intensive akzeptanzsteigernde Aktivitäten nicht ersetzbar und können andere Effekte wie z. B. politische Einstellung überdecken. Der Status-quo-Bias ist für den Widerstand gegen die Maßnahmen ein Erklärungsansatz. Die kontinuierliche Gewöhnung an die Präsenz des PKW im öffentlichen Straßenraum erschwert Maßnahmen der Parkraumreduzierung. Betroffene verzichten auf die Chance einer Verbesserung und scheuen das Risiko der Verschlechterung. Positive Erfahrungen mit entsprechend umgestalteten Straßenräumen können diesen Effekt abschwächen und sogar umkehren, weil dann eine auf Aufenthaltsqualität und nicht-motorisierte Verkehrsträger ausgerichtete Straßenraumgestaltung als Normalzustand angesehen wird. Trotz der hierbei unterschiedlichen Ausgangslagen und Maßnahmen konnten mehrere Einflüsse der akzeptanzsteigernden Aktivitäten festgestellt werden: Ein wichtiger Einfluss ist das Maß der Beteiligung und die Berücksichtigung von individuellen Bedürfnissen. Die Aktivitäten umfassten in allen Maßnahmen Gestaltungsmöglichkeiten für die Betroffenen. Dabei wurden teils individuelle Formate für Anwohnende und Gewerbetreibende gefunden, teilweise auch direkt vor Ort und unter Einbeziehung lokaler Akteure. Wenige kritische Stimmen kamen in den betrachteten Maßnahmen dennoch meist von Gewerbetreibenden. Diese hatten heterogenere Ansprüche an die Maßnahme und waren nach eigener Wahrnehmung stark von der Erreichbarkeit mit dem PKW für Kunden und Lieferanten abhängig. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Planungen durch die Beteiligung wurde darüber hinaus unterschiedlich stark kommuniziert. In einzelnen Fällen wurden durch starke Beteiligung in der Planung der Maßnahme Hoffnungen geweckt, dass Maßnahmen auch entsprechend umgesetzt werden. Ein weiterer Einfluss ist die Prozessqualität der Aktivitäten. Sowohl die Qualität der eigentlichen Planung als auch der Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation sind dabei von Relevanz. Eine umfangreiche Datenerhebung und -analyse ist Grundlage für die Erklärung der Maßnahme. Die Beteiligungsprozesse wurden in den betrachteten Maßnahmen von Dienstleistern unterschiedlich stark unterstützt. Verzögerungen und fehlende Beachtung der Rückmeldungen aus der Bevölkerung auf Grund von fehlenden Kapazitäten führten stellenweise zu Kritik. Empfehlungen und Ausblick Mit dieser Studie konnte gezeigt werden, dass die gewonnenen Ergebnisse im Verkehrsbereich vergleichbar mit denen aus anderen Forschungsfeldern sind. Die Foto: Kai / pixabay Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 30 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus anderen Forschungsfeldern wird daher als sinnvoll angesehen. Akzeptanzsteigernde Aktivitäten erhöhen die Akzeptanz, deren Ausmaß hängt jedoch stark von Erfahrungen und Einstellungen sowie die vorhandenen Umfeldbedingungen ab. Es stehen vielfältige Möglichkeiten zu Verfügung, die Durchführung von Parkraumreduzierung zu unterstützen. Um den häufig beobachtbaren Status-quo-Effekt zu begegnen, sollte möglichst auf bereits durchgeführte Projekte in der Umgebung und deren enge Verwandtschaft zur geplanten Maßnahme verwiesen werden. Es können auch lokale, temporäre Umgestaltungsmaßnahmen zum Einsatz kommen, um persönliche Erfahrungen mit dem neuen Straßenraum zu ermöglichen. Zweckmäßig sind sogenannte Parklets, welche einen Parkstand temporär in Grün- oder Aufenthaltsflächen umwandeln. Erste Maßnahmen ihrer Art können aber dennoch unvermeidbar auf Widerstände stoßen. Ein Teil der Skepsis richtet sich aber nicht gegen die konkrete Umgestaltung selbst, sondern gegen die Veränderung an sich. Oft schwächt sich eine solche Ablehnungshaltung im Projektverlauf ab, so dass die Maßnahme damit den Weg für zukünftige Projekte ähnlicher Art ebnet. Das individuelle Eingehen auf die Betroffenen ist von besonderer Bedeutung. Durch eine differenzierte Ansprache und Beteiligung, einer klaren Kommunikation der Rahmenbedingungen und eine Interaktion vor Ort mit persönlichen Ansprechpartnern kann dies gelingen. Im Falle der Gewerbetreibenden sollte betont werden, dass das Gewerbe von einer gesteigerten Aufenthaltsqualität profitiert. Die besondere Berücksichtigung der Gewerbetreibenden ist wichtig, da selbst wenige, aber energisch auftretende Gegner eine Maßnahme empfindlich verzögern bzw. stoppen können. Es sollte des Weiteren stets Wert auf einen professionellen Auftritt gelegt werden. Dies ist eine Voraussetzung, dass akzeptanzsteigernde Aktivitäten ihre Wirkung entfalten. Ein empfundener Kompetenzmangel der Planenden kann selbst Gegenstand von Kritik werden. Die Unterstützung durch externe Dienstleister mit notwendigen Ressourcen und Knowhow ist zu empfehlen. Ebenso hilft der persönliche Kontakt zwischen Betroffenen und Planenden, Vorbehalte gegenüber Planenden und Planung abzubauen. Die Reduzierung von innerstädtischem Parkraum ist eine wirksame Maßnahme zur Förderung des Umweltbundes und der Attraktivität urbaner Räume. In Anbetracht der Vorteile scheint es angemessen, das Potenzial der Parkraumreduzierung auch gegen Widerstände aus Teilen der Betroffenen zu nutzen. Vielerorts wünschen sich große Teile der Bevölkerung umfangreiche Veränderungen im Straßenraum, sprechen aber mit leiserer Stimme als mancher Kritiker solcher Vorhaben. In Anbetracht der erkennbaren Veränderungen in den kommenden Jahrzehnten ist eine stetige Neueinordnung des Instruments der Parkraumreduzierung notwendig. Zusammenfassung Durch die Reduzierung des innerstädtischen Parkraumes kann Raum für andere Nutzungen geschaffen und der Umweltbund gestärkt werden. Entsprechende Projekte treffen jedoch oft auf Widerstände. Akzeptanzsteigernde Aktivitäten unterstützen Parkraumreduzierungsmaßnahmen. Hierzu wurden vier Beispielprojekte aus europäischen Metropolen untersucht und miteinander verglichen. Es zeigt sich, dass Menschen besonders dann skeptisch auf solche Projekte reagieren, wenn sie sich die konkreten Auswirkungen der Veränderung nicht vorstellen können. Akzeptanzsteigernde Aktivitäten sollten daher vor allem die Unsicherheiten bezüglich der neuen Straßenraumgestaltung mindern. Dazu können temporäre, punktuelle Umgestaltungsmaßnahmen ebenso wie der Verweis auf bereits erfolgreich durchgeführte Projekte verwendet werden. Ebenso sind klar umgrenzte Beteiligungsmöglichkeiten und Kapazitäten für professionelles Auftreten der Planenden von Bedeutung. ■ LITERATUR [1] Hüsing, B.; Bierhals, R.; Bührlen, B.; Friedewald, M.; Kimpeler, S.; Menrad, K. (2002): Technikakzeptanz und Nachfragemuster als Standortvorteil. [2] Schweizer-Ries, P.; Rau, I.; Nolting, K.; Rupp, J.; Keppler, D.; Zoellner, J. (2010): Aktivität und Teilhabe - Akzeptanz erneuerbarer Energien durch Beteiligung steigern. [3] Schäfer, M.; Keppler, D. (2013): Modelle der technikorientierten Akzeptanzforschung. [4] Samuelson, W.; Zeckhauser, R. (1988): Status quo bias in decision making. In: Journal of Risk and Uncertainty, 1. Jg., H. 1, S. 7-59. [5] Eidelman, S.; Crandall, C. 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Österreich unterwegs 2013/ 2014: Ergebnisbericht zur österreichweiten Mobilitätserhebung „Österreich unterwegs 2013/ 2014 “. [11] Amsterdam, G. (2021). Amsterdamse thermometer van de Bereikbaarheid. Tim Wörle, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Verkehrswesen, Karlsruher Institut für-Technologie (KIT) tim.woerle@kit.edu Martin Kagerbauer, PD Dr.-Ing. Mitglied der Institutsleitung, Institut für Verkehrswesen, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) martin.kagerbauer@kit.edu Lukas Rapp, M.Sc. Referent Angebotsplanung, Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein (NAH.SH), Kiel lukas.rapp@nah.sh Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 31 Verkehrsplanung INFRASTRUKTUR Aktiv mobil und vernetzt mobil - statt Auto-mobil Mobilitätsplanung, Siedlungsstrukturen, Raumplanung, Verkehrsmittelwahl In der autogerechten Stadt bekamen Zufußgehende das, was der Autoverkehr übrigließ, und Radfahrende gingen ganz leer aus. Nun sollen Straßen und Plätze (wieder) zu multifunktionalen Stadträumen werden - mit breiten Wegen für Fußverkehr, Aufenthalt, Erschließung und Bepflanzung sowie als Pufferzonen zur Fahrbahn. Plädoyer für ein Umdenken bei der Verkehrsplanung. Hartmut Topp M obilitätsplanung ist gleichzeitig Raumplanung und Stadtplanung - oder räumliche Strukturen determinieren über Dichte und Nutzungsmischung Mobilität und Verkehr. So bieten dichte, nutzungsgemischte Stadtquartiere hohe Mobilität mit wenig Autoverkehr. Die Autoanteile an allen Wegen der dort Wohnenden variierten 2017 in Münchener Stadtbezirken zwischen 19 % (dicht, gemischt) und 50 % (locker, entmischt) - also Faktor 2,5 % - bei 34 % in der Gesamtstadt; die Anteile aktiver Mobilität zu Fuß und mit dem Fahrrad lagen zwischen 53 % und 31 % bei 42 % in der Gesamtstadt und 24 % mit Bahn und Bus-[1]. In ländlichen Räumen und im Stadtumland ist die Dominanz des Autos noch höher als in den Auto-affinen Münchner Stadtbezirken am Rande der Stadt und schwieriger zu reduzieren. Auch auf dem Land brauchen wir kompaktere Siedlungsstrukturen in der Nähe des ÖV und attraktive Klein- und Mittelzentren mit Ankerfunktion. Verkehrsplanerische Ansätze sind Zubringer zu ÖV-Haltestellen per Rad und künftig auch mit automatischen Shuttles sowie Radschnellwege zu entfernteren Zielen. Der klassische Modal Split mit Fußverkehr, Radverkehr, ÖV und Autoverkehr ist eine Vereinfachung der tatsächlichen Verkehrsmittelwahl, denn immer öfter werden Verkehrsmittel vernetzt: zu Fuß von und zur Haltestelle oder Parkhaus, Bike-and-Ride, Fahrradmitnahme im ÖV, Park-and-Ride, Ride-Sharing, Mobility-on-Demand etc. - mindestens eine Fußetappe gehört zu fast jedem Weg. So wird die Vernetzung der Mobilitätsangebote über digitale Plattformen und analog in Mobilstationen immer wichtiger. Der Modal Split bezieht sich regelmäßig auf die Verkehrsmittelwahl der Bevölkerung einer Stadt, maßgeblich für die Beurteilung der Verkehrssituation ist aber auch der Ziel-, Binnen- und Quellverkehr der auswärtigen Besuchenden und Pendelnden - also nicht an der Stadtgrenze halt machen. Die Zusammenhänge zwischen räumlichen Strukturen und Mobilität mit mehr oder weniger Verkehr führen zu der von Carlos Moreno 2016 entwickelten und 2021 präzisierten Vision der „15-Minuten-Stadt“ bzw. “La ville du quart d`heure“ [2]. Damit hat die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, 2020 Wahlkampf gemacht, und seitdem ist es weltweit ein Thema: in 15 Minuten ohne Auto zu Arbeit, Schule, Einkauf, Sport, Kultur etc. Wie weit kommt man aktiv mobil in 15 Minuten? Zu Fuß 1 bis 1,5 km, mit Fahrrad 4 bis 5 km, mit Pedelec ca. 8 km; auf der Basis von 4,5 km mit dem Fahrrad ergibt sich mit Umwegfaktor 1,5 und Verzögerungen an Ampeln etc. eine in 15 Minuten erreichbare Fläche von ca. 2.500 ha, das 10-fache der Wiener Innenstadt. Eine Vision gibt die Richtung vor: Aktiv mobil statt automobil, und für längere Wege gibt es noch den ÖPNV. Nicht erst in Pandemie-Zeiten mit Home-Office und Video-Konferenzen haben Immobilien- und Mietpreise zu einer neuen Stadt-Umland-Wanderung und damit zu größerer Abhängigkeit vom Auto geführt. Die Erhöhung der Pendlerpauschale als „sozialer“ Ausgleich für steigende Kraftstoffpreise infolge der CO 2 -Steuer fördert die Zersiedlung weiter. Und sozial ist das nicht, denn Gutverdienende profitieren davon mehr als Geringverdienende. Das „Dienstwagenprivileg“ für etwa 60 % neuzugelassener PKW kommt noch hinzu. Für die Mobilitätswende ist beides kontraproduktiv. Verkehr trägt heute immer noch zu 20 % der Treibhausgase bei und das ohne jede Reduzierung seit 1990. Die Mobilitätswende ist dringender denn je, und das schaffen wir nur als Raumplanung, Stadtplanung und Mobilitätsplanung zusammen und gemeinsam mit der Politik. In der Pandemie haben wir erfahren, was hybride Mobilität - physische und virtuelle zusammen - leisten kann, gerade auch in der Verkehrsvermeidung. Ein Rebound-Effekt ist der Umzug ins Umland. Auch Co- Working-Spaces an Orten, die ohne Auto gut erreichbar sind in der Nähe von Bahnhöfen oder ÖPNV-Stationen, vermeiden Autoverkehr. Natürlich ist nicht jeder Job für Telearbeit geeignet, aber wenn die dazu geeigneten zwei oder drei Tage pro Woche von Ferne aus arbeiten, ergeben sich große Verkehrsentlastungen - auch im ÖPNV - gerade in den Spitzenzeiten. Eine Anmerkung zu autonomem Fahren: Das ist kein Patentrezept, wie oft vermutet oder propagiert - aber da muss man genauer hinschauen. Chancen liegen in ländlichen Räumen in der Erweiterung der Einzugsbereiche von ÖV-Haltestellen durch automatische, fahrerlose Kleinbusse. Auf Autobahnen, Schnellstraßen und städtischen Hochleistungsstraßen ist automatisches Fahren künftig realistisch. Kritisch dagegen ist es im quirligen Stadtverkehr mit Zufußgehenden und Radfahrenden, die selbstfahrende Fahrzeuge jederzeit ausbremsen können. Und eine digitale oder physische „Einzäunung“ von Stadtstraßen oder Gesichtskontrollen entsprechen nicht unserem Verständnis von Stadtraum. Ein Kompromiss könnten vielleicht ferngesteuerte Autos sein, wie sie seit zwei Jahren in Berlin erprobt werden [3]. Damit sind wir bei Stadtraum und Städtebau - Straßenplanung ist auch Städtebau. Straßen und Plätze konstituieren Stadt. Kevin Lynch zeigt uns in seinem Buch „The Image of the City“, wie Hauptverkehrsstraßen und große Plätze den mentalen Stadtplan prägen [4]. Straßen und Plätze sind Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 32 INFRASTRUKTUR Verkehrsplanung Stadtraum für Orientierung, Identifikation, städtebauliche Qualität, Baukultur und Architektur; sie sind Lebensraum für Wohnen, Arbeiten, urbanen Aufenthalt, Begegnung und Bewegung. Diese eigentlich selbstverständlichen Ansprüche kollidieren massiv mit der autogerechten Stadt. „Wir brauchen ohne Zweifel eine Umwelt, die nicht nur gut geordnet, sondern auch mit Poesie und Symbolgehalt gefüllt ist.“ [4] Es geht auch bei Hauptverkehrsstraßen und Verkehrsplätzen um weit mehr als nur um Funktionales. Und Funktion und „gute Ordnung“ müssen nicht in Widerspruch zu „Poesie und Symbolgehalt“ stehen. Dafür gibt es mittlerweile viele gute Beispiele: Speyer Domplatz (ältestes Shared Space in Deutschland, 1990), Ulm Neue Mitte [5], Duisburg Hamborner Altmarkt, Drachten (Niederlande) Torenstraat/ Kaden, Graz Sonnenfelsplatz, Biel (Schweiz) Zentralplatz, Aachen Templergraben, London Exhibition Road, Dublin O’Connell Street, Freiburg Rotteckring/ Platz der Alten Synagoge, Kassel Brüder-Grimm-Platz (1. Preis Wettbewerb 2020, siehe Bild 1), Kreuzau (bei Düren) Hauptstraße (1. Preis Wettbewerb 2021) und viele mehr (siehe auch [6]). In vorgenannten Beispielen sind die Automengen nach dem Umbau - mehr oder weniger - geringer als vorher, so dass die Frage im Raum steht, wo die Differenz bleibt. Wir wissen seit langem aus vielen Erfahrungen [7], dass die Differenz-Belastungen nicht eins zu eins in benachbarten Straßen auftauchen, sondern auch großräumig, tageszeitlich oder modal verlagert werden oder gar nicht mehr stattfinden. Verlagerungen in benachbarte Straßen waren in keinem der genannten Beispiele ein ernsthaftes Problem. Unsere städtischen Hauptstraßen waren jahrzehntelang zu fast hundert Prozent Verkehrsbänder - ganz überwiegend für das Auto, fahrend und parkend. In der autogerechten Stadt bekamen Zufußgehende das, was der Autoverkehr übrig ließ, und Radfahrende gingen leer aus. Ein (extremes) Beispiel ist die - nach dem Krieg durchgeschlagene - vierspurige Berliner Straße in der Frankfurter Innenstadt mit stellenweise nur 1,50 m breitem Gehweg (Bild 2, links). Die Stadt diskutiert seit langem den Umbau zu einem Stadtboulevard mit zwei KFZ- Fahrspuren, kommt aber nicht voran. Die von Harald Heinz [8] entwickelte Städtebauliche Bemessung (Bild 2, rechts) hat den alten Ansatz ersetzt; sie ist - vom Rand her denkend - die Umkehrung des verkehrstechnischen Entwurfs. Breite Seitenräume für Fußverkehr, Aufenthalt, Erschließung, Bepflanzung und als Pufferzonen zur Fahrbahn sind das A und O für die Stadtverträglichkeit von Hauptverkehrsstraßen. Straßen und Plätze müssen wieder multifunktionale Stadträume werden, mit Grün und Wasser, Grünverbindungen, Frisch- und Kaltluftschneisen neben ihrer Verkehrs- und Aufenthaltsfunktion. Straßenbäume, Wasserflächen und helle Beläge, nicht die dunklen Asphaltbeläge, entsiegelte Flächen (Stichwort Schwammstadt) dienen dem Mikroklima und dem Schutz vor Hitzeinseln im Sommer und vor Überflutungen. Parkierungsstreifen werden entsiegelte Mehrzweckstreifen mit Bänken (Parklets) für den „ruhenden Fußverkehr“, mit Geschäftsauslagen, Gastronomie etc. und für Kurzparken und Liefern. Auch Straßenplanung ist interdisziplinär mit Städtebau, Architektur, Freiraumplanung und Verkehrsplanung. Autogerecht und fahrdynamisch nach altem Ansatz hieß auch, Kreuzungen für den Autoverkehr zu kanalisieren - wie zum Beispiel in Weimar unmittelbar an der Rückseite des Deutschen Nationaltheaters, am Eingang zur Altstadt (Bild 3, links). Warum wird hier nicht ein „roter Teppich ausgerollt“, wie am Zentralplatz in Biel, Schweiz (Bild 3, Bild 1: Kassel, Entwurf Brüder-Grimm-Platz - Natur in der Stadt Eigene Darstellung Bild 2: Verkehrstechnischer Entwurf nach altem Ansatz (links) und Städtebauliche Bemessung nach neuem Ansatz (rechts) Eigene Darstellung rechts), wo eine ähnlich Auto-kanalisierte Kreuzung mit ähnlich hoher Verkehrsbelastung durch das Miteinander einer Begegnungszone ersetzt wurde. Das führt zu einer interessanten Hypothese: Wie die Gestaltqualität unserer Umgebung unser Verhalten beeinflusst, so färben Verkehrsanlagen ab auf das Verkehrsverhalten: Nicht integrierte, funktionalistische - wie in Weimar - fördern Stress und Aggression, städtebaulich integrierte, gut gestaltete - wie in Biel - entspannen. So hat die gestalterische Qualität der Verkehrsanlagen - zumindest indirekt - auch etwas mit Verkehrssicherheit zu tun. Für ein sicheres Miteinander von aktiv Mobilen und Automobilen sowie der dort Wohnenden sind Geschwindigkeiten wichtiger als Automengen. Tempo 30 als Regellimit innerorts mit Tempo 50-Ausnahmen fordert der Deutsche Städtetag seit 30 Jahren - in Graz 1992, in Helsinki 2018 und seit Kurzem in Spanien auf allen zweispurigen Stadtstraßen umgesetzt. Im Autoland Deutschland ist das schwieriger, was sich auch beim Tempolimit auf Autobahnen zeigt. Tempo 120 würde die CO 2 -Emissionen aus Verkehr um ca. 2 % bis 3 % reduzieren - nicht sehr viel, aber sofort und kostenlos. Bei Tempo 30 geht es um Lärmminderung von 2 bis 3 dB (was einer Halbierung der Verkehrsstärke entspricht) und um verträgliches Miteinander - so können Radfahrende und Autos auf der Fahrbahn im Mischverkehr geführt werden, wo die Straßenbreite eine separate Führung nicht zulässt. In letzter Zeit kam Bewegung in die Diskussion [9]: Sieben deutsche Großstädte wollen Tempo 30 als Regellimit einführen. Bei immer noch ca. 3.000 Verkehrstoten pro Jahr dienen Tempolimits der Sicherheit, wozu sich neben den Regelgeschwindigkeiten 120 km/ h und 30 km/ h auch Tempo 80 auf zweispurigen Landstraßen empfiehlt. Bei allem Engagement für „aktiv mobil & vernetzt mobil statt automobil“ darf der notwendige KFZ-Verkehr nicht vergessen werden, wie Liefern und Laden, Taxis, Rettungsdienste, Müllabfuhr etc. und der ÖPNV mit Bussen und Bahnen. ■ QUELLEN [1] infas (2019): Mobilität in Deutschland. Kurzreport: Stadt München, Münchner Umland und MVV-Verbundraum. [2] Moreno, C., et al (2021): Introducing the ‚15-Minute City‘: Sustainability, Resilience and Place Identity in Future Post-Pandemic Cities. In: Smart Cities vol. 4, number 1. [3] Brors, P.; Holzki, L. (2021): Berliner Start-up fährt seit zwei Jahren Autos per Fernsteuerung durch Berlin. www.handelsblatt.com/ technik/ it-internet (abgerufen am 09.10.2022). [4] Lynch, K. (1960): The Image of the City. MIT Press Cambridge, Massachusetts, USA. [5] Wetzig, A. (Hrsg.) (2012): Neue Mitte Ulm - Die Rückeroberung des Stadtraumes in der Europäischen Stadt. Stadt Ulm, Klemm+Oelschläger. [6] Topp, H. (2020): Die Stadt und das Auto. In: Wege zur schönen Stadt - Akteure, Erfahrungen, Handlungsstrategien (Hrsg. Altrock, Huning) Reihe Planungsrundschau, Ausgabe 25, Berlin. [7] Cairns, S.; Hass-Klau, C.; Goodwin, P. (1998): Traffic Impact of Highway Reductions: Assessment of the Evidence. London: Landor Publishing. [8] Heinz, H. (2000): Städtebauliche Bemessung nach Kriterien der Sozialverträglichkeit. Tagungsband Deutscher Straßen- und Verkehrskongress 1999 in Leipzig. FGSV, Köln. [9] Deutscher Städtetag (2021): Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten - eine neue kommunale Initiative für stadtverträglichen Verkehr. www.staedtetag.de/ themen/ 2021 (abgerufen am 10.10.2022). Hartmut Topp, Prof. Dr. topp.plan: Stadt.Verkehr.Moderation, Kaiserslautern topp.plan@t-online.de Bild 3: Verkehrsanlagen beeinflussen das Verkehrsverhalten: hässliche nicht integrierte fördern Stress und Aggression (links) - gut gestaltete integrierte entspannen (rechts). Eigene Darstellung IDEEN FÜR DIE STADT VON MORGEN www.transforming-cities.de/ einzelheft-bestellen www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Digitalisierung versus Lebensqualität Big Data | Green Digital Charter | Kritische Infrastrukturen | Privatheit | Sharing-Systeme 1 · 2016 Was macht Städte smart? URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Mit veränderten Bedingungen leben Hochwasserschutz und Hitzevorsorge | Gewässer in der Stadt | Gründach als urbane Klimaanlage |Baubotanik 1 · 2017 Stadtklima URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Lebensmittel und Naturelement Daseinsvorsorge | Hochwasserschutz | Smarte Infrastrukturen | Regenwassermanagement 2 · 2016 Wasser in der Stadt URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Verbrauchen · Sparen · Erzeugen · Verteilen Energiewende = Wärmewende | Speicher | Geothermie | Tarifmodelle | Flexible Netze | Elektromobilität 2 · 2017 2 · 2017 Stadt und Energie URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Erlebnisraum - oder Ort zum Anbau von Obst und Gemüse Urban Farming | Dach- und Fassadenbegrünung | Grüne Gleise | Parkgewässer im Klimawandel 3 · 2016 Urbanes Grün URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Die Lebensadern der Stadt - t für die Zukunft? Rohrnetze: von Bestandserhaltung bis Digitalisierung | Funktionen von Bahnhöfen | Kritische Infrastrukturen 4 · 2016 Städtische Infrastrukturen URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Die Vielschichtigkeit von Informationsströmen Smart Cities | Automatisierung | Mobilfunk | Urbane Mobilität | Datenmanagement | Krisenkommunikation 3 · 2017 Urbane Kommunikation URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Angri ssicherheit · Betriebssicherheit · gefühlte Sicherheit IT-Security | Kritische Infrastrukturen | Notfallkommunikation | Kaskadene ekte | Vulnerabilität | Resilienz 4 · 2017 4 · 2017 Sicherheit im Stadtraum URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Was macht Städte smart? Soft Data | IT-Security | Klimaresilienz | Energieplanung | Emotionen | Human Smart City | Megatrends 1 · 2018 Die intelligente Stadt URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Energie, Wasser und Mobilität für urbane Regionen Mieterstrom | Solarkataster | Wärmewende | Regenwassermanagement | Abwasserbehandlung | Mobility as a Service 2 · 2018 Versorgung von Städten URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Zunehmende Verdichtung und konkurrierende Nutzungen Straßenraumgestaltung | Spielraum in Städten | Grüne Infrastruktur | Dach- und Fassadenbegrünung | Stadtnatur 3 · 2018 Urbane Räume und Flächen URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Daseinsvorsorge für ein funktionierendes Stadtleben Urbane Sicherheit | Mobilität im Stadtraum | Zuverlässige Wasser- und Energieversorgung | Städtische Infrastruktur 4 · 2018 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Gesund und sicher leben in der Stadt Gesund und sicher leben in der Stadt Innovativer und nachhaltiger Umgang mit knappem Stadtraum Stadtgrün | Gewerbegebiete | Nachkriegsmoderne | Stadt auf Probe | Reverse Innovation | Stadtverkehr 1 · 2019 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Leben und arbeiten in der Stadt Mit der Größe der Städte wachsen auch Risiken und Belastungen Vulnerabilität | Risikowahrnehmung | Prävention | Bürgerbeteiligung | Freiwilliges Engagement | Resilienz 2 · 2019 2 · 2019 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Städte im Krisenmodus? Anpassungsstrategien an die Auswirkungen des Klimawandels Stadtklima | Grüne und blaue Infrastruktur | Schwammstadt | Stadtgrün | Urbane Wälder | Klimaresilienz 3 · 2019 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Städtisches Grün - städtisches Blau TranCit drittel hoch.indd 1 TranCit drittel hoch.indd 1 26.04.2021 14: 53: 46 26.04.2021 14: 53: 46 Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 34 Grüne Instandhaltungsflotte für Österreichs Bahnnetz Infrastrukturausbau, Instandhaltung, Modernisierung, Antriebskonzept, ModularCustomizing Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Sicherheit sind für Eisenbahnverkehrsunternehmen von größter Bedeutung, sowohl im Güterverkehr als auch im Personenverkehr. Infrastrukturbetreiber: innen haben den Auftrag, einen leistungsfähigen und zuverlässigen Personenverkehr und Güterverkehr auf der Schiene zu-gewährleisten. Sie müssen daher auf Störungen schnell und effizient reagieren. Die ÖBB-Infrastruktur-AG investiert neben dem Ausbau und Neubau der Schieneninfrastruktur auch in einen komplett neuen Instandhaltungsfuhrpark: Hybrides Antriebskonzept, vollelektrischer Betrieb auf der Baustelle und modularer Aufbau optimieren die Instandhaltung und setzen neue Maßstäbe in Sachen Effizienz und Nachhaltigkeit. Christian Adamiczek, Jakob Raffel D ie Instandhaltung und schnelle Reaktion auf technische Gebrechen sowie Störungen sind für eine Schieneninfrastrukturbetreiberin wie die ÖBB-Infrastruktur AG von großer Bedeutung. Zudem können Unwetter, wie Sturm oder starker Schneefall, schnell zu einer Belastung werden und den Bahnverkehr behindern. Hier muss schnellstmöglich reagiert werden, oft zählt jede Minute. Neben erfahrenen und gut ausgebildeten Mitarbeiter: innen braucht es auch das Equipment auf höchstem Niveau, wobei es vor allem auf hohe Verfügbarkeit und gute Usability ankommt. Durch eine komplette Modernisierung des- Fuhrparks gelingt es, die Instandhaltung effizienter und nachhaltiger zu gestalten. Bahnland Österreich In Österreich werden Investitionen in Milliardenhöhe in den Infrastrukturausbau getätigt. Auch in den kommenden Jahren setzt sich dieser Trend fort. Schon jetzt ist Österreich das Bahnland Nummer 1 in der Europäischen Union. Pünktlichkeit der Züge und die Zufriedenheit der Bahnkund: innen sind auf einem Top-Niveau, so weist Österreich im Eisenbahnverkehr die meisten Personenkilometer auf. In und durch Österreich fahren jeden Tag über 6.500 Züge. Das entspricht heute schon über 100 Millionen Tonnen Gütern und über 270 Millionen Fahrgästen jährlich [1]. Und das, obwohl Österreich in Europa ein verhältnismäßig kleines Land ist. Großprojekte wie die Koralmbahn oder der Semmering-Basistunnel ermöglichen in Zukunft kürzere Fahrzeiten im Süden Österreichs und steigern die Kapazitäten im Personenverkehr wie auch im Güterverkehr. Da diese Neubaustrecken Teil internationaler Eisenbahnkorridore sind, kommt ihnen auch eine hohe europäische Bedeutung zu, denn von elf Schienenkorridoren in der EU verlaufen fünf durch Österreich [2]. Für den Güterverkehr stellt Österreich vor allem die Verbindung zwischen den Adriahäfen, wie Triest oder Koper, und der Industrie im Norden dar. Im Personenverkehr spielt Österreich als EU-Binnenland ebenso eine besondere Rolle. Über 160 internationale Fernzüge fahren täglich von und nach Österreich. Die Kapazitäten und die Verfügbarkeit des österreichischen Bahnnetzes sind für den europäischen Bahnbetrieb ein entscheidender Fak- Foto: Plasser & Theurer INFRASTRUKTUR Schienenverkehr Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 35 Schienenverkehr INFRASTRUKTUR tor. Damit also - vor allem auf den Hauptstrecken - eine störungsfreie Instandhaltung gewährleistet ist, investiert die ÖBB-Infrastruktur AG in 56 Instandhaltungsmaschinen von Plasser & Theurer. Anforderungen an die neue Flotte Einige Fahrzeuge der aktuellen Instandhaltungsflotte sind bereits 40 Jahre bei der ÖBB-Infrastruktur AG in Betrieb. Seither hat sich das Anforderungsprofil für die Maschinen stark verändert. Neben mehr Effizienz und mehr Leistung muss die Arbeitssicherheit für die Mitarbeiter: innen optimiert und gewährleistet sein. Darüber hinaus wird auch das Netz der ÖBB-Infrastruktur AG stets vielfältiger und entwickelt sich weiter. Neben alten Strecken wie am Semmering mit engen Kurvenradien und vielen Brücken gibt es auch viele Neubaustrecken mit kilometerlangen Tunnelanlagen. Die Bahn in Österreich ist schneller und leistungsstärker geworden, gleichzeitig fein verästelt im ganzen Land. Die ÖBB-Infrastruktur AG ist mit hohen Anforderungen in das Projekt gestartet. Neben der Sicherung von Instandhaltung auf Neubaustrecken gibt es vor allem zahlreiche wirtschaftliche und technische Anforderungen für den Ganzjahresbetrieb. Zunächst war es für die ÖBB-Infrastruktur AG wichtig, die Verschiedenartigkeit der Flotte stark zu reduzieren. Es soll nur wenige Fahrzeugtypen geben, die in der Grundstruktur gleich sind, um Instandhaltungs- und Ersatzteilkosten niedrig zu halten. Dadurch soll auch der Ausbildungsbedarf gesenkt werden. Gleichzeitig müssen trotz steigender Funktionalitäten Wirtschaftlichkeit und Effizienzsteigerung gegeben sein. Weiters sollen Emissionen reduziert werden und die- neuen Fahrzeuge mit der Klimaschutzstrategie der ÖBB-Infrastruktur AG im Einklang stehen. Da in Österreich der ETCS-Ausbau flächendeckend geplant ist, müssen auch alle Fahrzeuge ETCS-tauglich-sein. Plasser & Theurer hat sich beim Lastenheft sehr stark an Erfahrungen und Arbeitsabläufen der ÖBB-Infrastruktur AG orientiert. Zu diesem Zweck wurden auch die Mannschaften aus dem Außendienst, Praktiker: innen und Bediener: innen, die zukünftig mit der neuen Flotte arbeiten werden, bei der Erstellung mit einbezogen. Die Anschaffung einer neuen Instandhaltungsflotte ist eine langfristige Entscheidung, die jeden Tag Einfluss auf den Bahnbetrieb hat. Dementsprechend ist es für die ÖBB-Infrastruktur AG wichtig, dass die Mitarbeiter: innen schon bei der Konzeptionierung mit an Bord geholt wurden. Das soll nicht nur die Effizienz steigern, sondern auch die Sicherheit im Betrieb. Um im gesamten Netz der ÖBB-Infrastruktur AG schnell vor Ort zu sein und die Transportzeiten so gering wie möglich zu halten, sind die Fahrzeuge regional stationiert. Durch die Höchstgeschwindigkeit von bis zu 120 km/ h können die Maschinen schnell den Einsatzort erreichen - und das im vollelektrischen Oberleitungsbetrieb. Im Zuge der Projektierung und der Definition der Anforderungen hat sich die ÖBB- Infrastruktur AG auch mit anderen Bahnen ausgetauscht, und die funktionalen Anforderungen wurden abgeglichen. Modularer Aufbau für drei Anwendungsschwerpunkte Instandhaltungsmaschinen wurden früher in Planung und Produktion als Einzelstücke betrachtet. Für die ÖBB-Infrastruktur AG war es jedoch wichtig, dass trotz unterschiedlicher Funktionen und Aufgaben die Grundstruktur des Fahrzeuges gleich bleibt und die Typenvielfalt in der Flotte reduziert wird. Durch das ModularCustomizing von Plasser & Theurer werden für die Gesamtflotte eine einheitliche Basis und ein gemeinsames Antriebskonzept geschaffen, doch der Aufbau wird an das Anforderungsprofil angepasst. Dieses einheitliche Trägerfahrzeug mit 15,4 m Drehzapfenabstand reduziert die Ersatzteil- und Instandhaltungskosten im Betrieb deutlich. Darüber hinaus wird die Instandhaltungsflotte der ÖBB-Infrastruktur AG von zwölf auf drei Fahrzeugtypen reduziert. Der einheitliche Bedienstandard der Fahrzeuge spart zudem Ausbildungs- und Personalkosten. Der Plasser CatenaryCrafter 15.4 E 3 vom Typ 1 ist optimal für Montageleistungen rund um Oberleitungen. Zu diesem Zweck wird dieses Fahrzeug mit einer dreiteiligen Hubarbeitsbühne ausgestattet, die für gleichzeitiges Arbeiten in unterschiedlichen Höhen unabhängig nach oben wie auch zur Seite beweglich ist (Bild-1). Für Inspektions- und Wartungsarbeiten an Oberleitungen wurde der Plasser CatenaryCrafter 15.4 E 3 vom Typ 2 konzipiert, auf Bild 1: Der Plasser CatenaryCrafter 15.4 E³ (Typ 1) für Montageleistungen rund um Oberleitungen Bild: Plasser & Theurer Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 36 INFRASTRUKTUR Schienenverkehr dessen Dach eine Arbeitsbühne montiert ist. Diese erlaubt einen großen Radius des Arbeitsbereiches, um möglichst flexibel zu sein. Darüber hinaus ist das Fahrzeug mit einer geräumigen Werkstatt und einem Lager ausgestattet. Die beiden Fahrzeugtypen 1 und 2 werden somit vor allem für den Schwerpunkt Oberleitungsbau und -instandhaltung eingesetzt. Ein wichtiges Anwendungsszenario sind Störungsfälle aufgrund von Naturkatastrophen, z. B. Sturmschäden, die technische Gebrechen an der Oberleitung auslösen. Der Einsatz als Messfahrzeug für die Oberleitung ist ebenso vorgesehen, um Fahrdrahthöhe und Fahrdrahtseitenlage zu ermitteln. Der Plasser MultiCrafter 15.4 E 3 ist das modulare Fahrzeug vom Typ 3, mit dem Aufgabenfelder im Bereich des Oberbaus abgedeckt werden. Dementsprechend wurde dieses Fahrzeug mit einem Kran und einer Ladefläche ausgestattet, die eine Nutzlast von bis zu 10 t ermöglicht. Im Vordergrund steht der Transport von kleinerem Gerät und Material für die Baustellen, beispielsweise zur Manipulation von Schwellen und Schienen. Außerdem dient er als Zugfahrzeug für den Schotterwagentransport. Das Multitalent ist auch zur Stelle, wenn das Lichtraumprofil wegen hineinragender Bäume überprüft werden muss. Ergänzt durch die Plasser TransportUnit kann weiteres Equipment wie ein Tunnelspülgerät mitgeführt werden. Jedes Fahrzeug der Flotte ist auch mit einem Sozialraum - inklusive Sanitäranlagen - und einem Technikcontainer ausgestattet. Speziell für den Wintereinsatz können an allen Fahrzeugtypen Schneebürsten oder Schneefräsen sowie andere Anbaugeräte für die Montage, Instandhaltung und Wartung montiert werden. Alle Unterflurmodule sind durch neue standardisierte Modullager im Fahrgestellrahmen verschraubt. Neben der Variabilität in der Anordnung sorgt die entkoppelte Bauweise dafür, dass Vibrationen und Schwingungen abgefangen werden. Die Nutzung vormontierter und geprüfter Module ist auch die Basis für eine schnellere sowie einfachere Wartung. Um den Komfort vor allem während des gesamten Transportes zu erhöhen, werden alle Fahrzeuge mit einer Sekundärfederung versehen. Der modulare Aufbau steigert die Verfügbarkeit, da man einzelne Module mit standardisierten Schnittstellen einfacher austauschen kann. Komplett vormontierte und geprüfte Einheiten ermöglichen einen raschen Ersatz und können zum Teil auch am Standort montiert werden. Mit der neuen Fahrzeugflotte wird so ein neuartiges Service-Konzept vor Ort implementiert werden. Das Fahrzeug ist binnen kurzer Zeit wieder im Einsatz. Währenddessen werden ausgebaute Module, wie z. B. ein komplettes Powerpack mit allen Komponenten des Motors, gewartet und wieder flott gemacht. So ist auch in der Wartung und Instandhaltung der Fahrzeuge für die nötige Effizienz gesorgt. Strom aus der Oberleitung und Batteriebetrieb auf der Baustelle für-mehr Nachhaltigkeit Die Bahn versucht den nachhaltigen Charakter stets hochzuhalten. Durch die Verkehrsdienstleistungen für die Fahrgäste und Kund: innen ersparen die ÖBB mit Bahn und Bus der Umwelt in Österreich jährlich rund 4 Mio. t CO 2 (ausgenommen sind pandemiebedingte Leistungsrückgänge). Im Vergleich mit anderen Verkehrsträgern schneidet die Bahn im Hinblick auf die Nachhaltigkeit deutlich besser ab. Das Auto hat beispielsweise einen 30-mal höheren CO 2 -Ausstoß als die Bahn, das Flugzeug sogar 50-mal so viel.- So spielt die Bahn auch im Zuge des European Green Deal eine wichtige Rolle und soll das Rückgrat des europäischen Warenverkehrs und Personenverkehrs werden. Für die ÖBB ist Nachhaltigkeit ein wesentlicher Teil der Unternehmensphilosophie und tief in der Identität verankert. So versteht sich das Unternehmen nicht nur als größter Mobilitätsdienstleister des Landes, sondern auch als eines der größten Klimaschutzunternehmen Österreichs. Deshalb wird seit Jahren in allen Unternehmensbereichen auf Klimafreundlichkeit geachtet. Beispielsweise beziehen die ÖBB für ihre Züge nur grünen Bahnstrom aus erneuerbarer Energie, und durch alternative Antriebe sowie laufende Elektrifizierung sollen Dieselloks künftig der Vergangenheit angehören. Dementsprechend wurde auch bei dieser Fahrzeugbeschaffung ein besonderes Augenmerk auf Klimafreundlichkeit gelegt. Das neue Antriebskonzept E 3 von Plasser & Theurer ermöglicht vollelektrisches Fahren im Oberleitungsbetrieb. Da gerade bei Störungen oder im Zuge von Instandhaltungsmaßnahmen nicht immer eine Oberleitung zur Verfügung steht, sind die Fahrzeuge zusätzlich mit leistungsstarker Akkutechnik ausgestattet. Zum Fahren auf nichtelektrischen Strecken sowie als Backup ist ein dieselelektrisches Powerpack mit an Bord. Das Herzstück für den emissionsarmen Einsatz der Maschinen ist die Traktionsbatterie, die sicherstellt, dass der gesamte Baustellenbetrieb emissionsfrei abgewickelt werden kann. Plasser & Theurer sammelte bereits 2017 Erfahrungen im Batteriebetrieb mit dem HTW 100 E 3 . Mit dem neuen Plasser CatenaryCrafter 15.4 E 3 ist es möglich, eine ganze Arbeitsschicht über Batteriebetrieb zu arbeiten, ohne zu laden. Die Fahrt zum Einsatzort erfolgt über die Oberleitung mit bis zu 120 km/ h, gleichzeitig wird die durch Rekuperation gewonnene Energie in die Akkus gespeichert. Steht am Einsatzort kein Oberleitungsstrom zur Verfügung, wird unterbrechungsfrei in den Batteriemodus geschaltet. Der emissions- und lärmarme Betrieb schützt nicht nur die Umwelt, sondern verbessert auch die Arbeitsbedingungen am und um das Fahrzeug deutlich. Instandhaltungsmaßnahmen in urbanem oder bebautem Gebiet können vorgenommen werden, ohne Anrainer: innen mit Lärm oder Abgasen zu belästigen. Das E 3 -Konzept verringert den Dieselverbrauch und spart enorm CO 2 ein. ÖBB profitiert von konsequenter Weiterentwicklung Von der ÖBB-Infrastruktur AG erhielt Plasser & Theurer nach einem EU-weiten Vergabeverfahren den Auftrag über die neue Flotte von 56 Fahrzeugen. Sie setzt sich zusammen aus 29 Plasser Catenary- Crafter für die Oberleitung, 21 Plasser MultiCrafter für Oberbauinstandhaltung sowie sechs Plasser TransportUnit als Steuerwagen, die als Erweiterung für zusätzliches Equipment der Bautechnik dienen. Für weitere 46 Fahrzeuge wurde eine Kaufoption vereinbart. Die Firma Plasser & Theurer unterstützt so als Partner mit innovativen Fahrzeugen den modernen und nachhaltigen Bahnbetrieb in Österreich. ■ QUELLEN [1] Die ÖBB in Zahlen 2020/ 2021: https: / / konzern.oebb.at/ de/ ueberden-konzern/ die-oebb-in-zahlen [2] Europäische Güterverkehrskorridore: https: / / infrastruktur.oebb.at/ de/ geschaeftspartner/ schienennetz/ zugang-zum-oebb-netz/ europaeische-gueterverkehrskorridore Christian Adamiczek, Ing. Rail Equipment GmbH & Co KG, ÖBB-Infrastruktur AG, Wien (AT) christian.adamiczek@oebb.at Jakob Raffel, Ing. Instandhaltungsmanagement, ÖBB-Infrastruktur AG Wien (AT) jakob.raffel@oebb.at Gegründet im Jahr 1990, liefert Trialog seit mehr als drei Jahrzehnten zielgruppenspezifische Informationen für Entscheider in technischen Branchen. Die Trialog Publishers Verlagsgesellschaft ist ein spezialisiertes Medienunternehmen mit klassischen und digitalen Publikationen für Ingenieure, technische Fach- und Führungskräfte und Experten aus Wissenschaft und Forschung. Die crossmedialen Fachmedien des Verlags sind darauf ausgerichtet, diese Zielgruppen in Beruf und Karriere professionell zu unterstützen. Bei Trialog Publishers erscheinen die technisch-wissenschaftlichen Fachmagazine »Internationales Verkehrswesen« (mit den englischsprachigen Specials »International Transportation«) sowie »Transforming Cities | Das Fachmagazin zum urbanen Wandel«. ... sind verlässliche Informationen Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | 72270 Baiersbronn | Schliffkopfstraße 22 | www.trialog.de © Gerd Altmann auf Pixabay Was zählt ... Tri-Eintel-Eigen-Anz-1.indd 1 Tri-Eintel-Eigen-Anz-1.indd 1 18.02.2021 10: 58: 49 18.02.2021 10: 58: 49 Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 38 Räumliche Effekte reaktivierter Bahnstrecken Wie die Reaktivierung von Schienenstrecken den ländlichen Raum stärken kann Reaktivierung, Schienenverkehr, Mobilitätswende, Bahn, Ländlicher Raum Die Reaktivierung von Schienenstrecken leistet einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele und der hierzu erforderlichen Mobilitätswende. Im Rahmen der in diesem Artikel vorgestellten Studie wurden die möglichen raumstrukturellen, wirtschaftlichen, verkehrlichen, umwelttechnischen und gesellschaftlichen Effekte von Streckenreaktivierungen identifiziert und empirisch untersucht. Die Ergebnisse verdeutlichen das große Potenzial von Reaktivierungsprojekten. Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen zeigen zudem Wege zu einer erfolgreichen Umsetzung entsprechender Projekte auf. Maximilian Rohs, Mathis Lepski, Gabriel Flore I m Rahmen der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland ist der Anschluss ländlicher Räume an den Schienenpersonen- und Schienengüterverkehr ein wichtiger Einflussfaktor hinsichtlich der Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger sowie der Standortattraktivität für Unternehmen [1, 2, 3]. Über drei Millionen Menschen könnten durch die Reaktivierung von Schienenstrecken eine Anbindung an den Schienenverkehr und so eine bessere Verbindung in die nächstgelegenen regionalen Zentren erhalten (siehe Bild 1 [4]). Gleichzeitig leistet der Schienenverkehr als umweltfreundlicher Verkehrsträger einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele von Paris und der damit erforderlichen Mobilitätswende. Seit dem Jahr 1994 wurden in Deutschland mehr als 5.000 Streckenkilometer stillgelegt und gleichzeitig nur etwas mehr als 1.000 Streckenkilometer reaktiviert [5, 6]. In den letzten Jahren hat aber ein Umdenken eingesetzt. So hat die Deutsche Bahn AG als mit Abstand größter Schieneninfrastrukturbetreiber in Deutschland im Jahr 2019 bekannt gegeben, keine Strecken mehr stillzulegen und eine Taskforce zur Streckenreaktivierung einzusetzen [7]. Wesentliche Voraussetzung für die Förderungsfähigkeit von Schienenreaktivierungsprojekten ist der nach der Methode der Standardisierten Bewertung erbrachte Foto: Peter Schuck / pixabay INFRASTRUKTUR Schienenverkehr Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 39 Schienenverkehr INFRASTRUKTUR Nachweis eines die Kosten übersteigenden volkswirtschaftlichen Nutzens. Im Rahmen der Bewertung werden aber nicht alle Effekte der Schienenreaktivierungsprojekte berücksichtigt [8, 9]. Vor diesem Hintergrund sollte das durch PwC Deutschland im Auftrag des Bundesinstituts für Bau-, Stadt und Raumforschung (BBSR) bearbeitete Forschungsprojekt „Räumliche Effekte reaktivierter Schienenstrecken im ländlichen Raum“ die räumliche Bedeutung der Reaktivierung von Schienenstrecken und die damit verbundenen positiven Effekte für den ländlichen Raum in Form einer Ex-post-Analyse untersuchen. Die ausführliche Publikation finden Sie auf der Internetseite des BBSR [10]. Effekte von Schienenreaktivierungen Zunächst wurden in einer sekundärdatenbasierten Bestandsaufnahme insgesamt 80 mögliche Einzeleffekte von Reaktivierungsprojekten identifiziert (siehe Bild 2). Dazu gehören zwölf raumstrukturelle Effekte (Effekte auf die Raumentwicklung und die Nutzung räumlicher Strukturen), 28 wirtschaftliche Effekte (Effekte auf die regionale und lokale Wirtschaft sowie wirtschaftliche Effekte auf die privaten Haushalte), 28 verkehrliche Effekte, sieben Umwelteffekte sowie fünf gesellschaftliche Effekte. Auf Ebene der Betroffenengruppen sind von den 80 Einzeleffekte 27 Effekte den Bürgerinnen und Bürgern bzw. der Gesellschaft als Ganzes, 31 Effekte der jeweiligen Gemeinde oder Region, sieben Effekte den Einzelunternehmen sowie 15 Effekte den Verkehrsunternehmen, Aufgabenträgern und Mittelgebern zuzuordnen. Für die Untersuchungen wurden diesen Einzeleffekten insgesamt 153 Indikatoren zugeordnet, anhand derer sich der jeweilige Effekt empirisch messen lässt. Grundlage der Untersuchung bildeten exemplarisch drei erfolgreich reaktivierte Schienenstrecken in Deutschland: Das Seehäsle in der Bodenseeregion zwischen Radolfzell-Stahringen und Stockach, die grenzüberschreitende sächsische Nationalparkbahn zwischen Sebnitz und Dolni-Poustevna (CZ) sowie die Oberbergische Bahn zwischen Lüdenscheid-Brügge und Gummersbach. Alle drei Strecken werden im Schienenpersonennahverkehr durch Regionalbahnen betrieben, deren Linienweg über die reaktivierten Abschnitte hinausführt. Die unterschiedlichen Merkmale dieser Strecken verdeutlichen die grundsätzliche Übertragbarkeit der Untersuchungsergebnisse. Raumstrukturelle Effekte Effekte auf die Raumentwicklung zeigen sich unter anderem in einer verbesserten räumlichen Erschließung und Vernetzung, einer positiven Entwicklung von Bevölkerungszahlen, Wohn- und Gewerbestandorten sowie einer städtebaulichen Aufwertung. Empirisch bestätigt werden konnten im Projekt konkret ein positiver Effekt auf die Bevölkerungsentwicklung in einer Region, ein Zuwachs des Verstädterungsgrades, eine Entlastung von Wohnungsmärkten sowie ein Ausbau von neuen Wohngebieten und Siedlungsstrukturen sowie Flächeneinsparungen aufgrund von sinkendem MIV-Verkehrsaufkommen. Wirtschaftliche Effekte Effekte auf die regionale und lokale Wirtschaft sowie wirtschaftliche Effekte auf die privaten Haushalte zeigen sich insbesondere in der Reduzierung der unternehmerischen Transportkosten, in steigenden Investitionen und Auftragsvolumina im Bausektor sowie in der Einsparung von MIV-bedingten Kosten. Empirisch bestätigt wurden im Projekt konkret ein Anstieg der Immobilienpreise, eine touristische Erschließung und Attraktivierung von Freizeitangeboten, eine Stärkung des Regionalmarketings sowie eine Einsparung von MIV-Vorhalte- und Betriebskosten. Teilweise nachgewiesen werden konnten zudem eine Erhöhung der Steuereinnahmen sowie die Einsparung von Unfallkosten. Verkehrliche Effekte Verkehrliche Effekte spiegeln sich insbesondere in der Schaffung zusätzlicher Mobilitätsmöglichkeiten und intermodaler Mobilitätsverknüpfungen, in der Stärkung einer nachhaltigen Mobilität in ländlichen Räumen sowie in einer verstärkten Verkehrsberuhigung wider. Empirisch nachgewiesen werden konnten eine Entlastung von Verkehrswegen mit hohem Verkehrsaufkommen und eine Vermeidung der Überlastung von bestehenden Verkehrssystemen. Umwelteffekte Effekte auf den Menschen und seine natürliche Umwelt zeigen sich unter anderem in einer Verbesserung der Luftqualität durch Reduzierung der Luftschadstoffe sowie im Schutz der Natur und der Gesundheit der Menschen, in einer Reduktion des durch den MIV verursachten Lärms und in einer reduzierten Flächenversiegelung bzw. einem reduzierten Flächenverbrauch. Auf Grundlage der Untersuchungen konnten eine reduzierte Zerschneidung der Landschaft sowie ein reduzierter Flächen- Bild 1: Reisezeit per Schiene zum nächstgelegenen regionalen Zentrum Quelle: BBSR 2020 Bild 2: Identifizierte und bestätigte Effekte sowie zugehörige Indikatoren Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 40 INFRASTRUKTUR Schienenverkehr verbrauch bzw. eine reduzierte Flächenversiegelung empirisch bestätigt werden. Gesellschaftliche Effekte Effekte gesellschaftlicher Art zeigen sich vor allem in der Sicherung der Mobilität für alle, in der Aufrechterhaltung der kulturellen Angebote in ländlichen Räumen und der sozialen Inklusion von Einwohnenden in ländlichen Regionen. Für die empirische Untersuchung wurde hier auf eine Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung zu den jeweiligen Strecken zurückgegriffen. Bestätigt werden konnte auf diesem Weg der Effekt der sozialen Inklusion von Einwohnenden in ländlichen Regionen. Die Medienberichterstattung und weitere Veröffentlichungen zu den Strecken sowie ergänzende Experteninterviews bildeten zudem die Grundlage für die Ermittlung von Erfolgsfaktoren von Reaktivierungsprojekten. Um hier auch Erfahrungen aus gescheiterten bzw. bisher nicht erfolgreich umgesetzten Projekten mit einzubeziehen, wurden die drei oben genannten Strecken um drei weitere ergänzt: die Steigerwaldbahn zwischen Schweinfurt und Kitzingen, die Hunsrückquerbahn zwischen Langenlonsheim und Büchenbeuren sowie die Max-und-Moritz-Bahn zwischen Ernstthal und Probstzella. Erfolgsfaktoren von Reaktivierungsprojekten Auf Basis der durchgeführten Analysen und der Erkenntnisse aus den Experteninterviews konnten verschiedene Erfolgsfaktoren für Reaktivierungsprojekte abgeleitet werden. Diese wurden anhand der aufeinander aufbauenden Phasen, die ein Reaktivierungsprojekt von Bahnstrecken üblicherweise durchläuft (siehe Bild 3), kategorisiert sowie nach drei verschiedenen Dimensionen differenziert: technisch, wirtschaftlichplanerisch und politisch-partizipativ. Im Rahmen der ersten Phase „Initiierung des Reaktivierungsprozesses“ erweisen sich in technischer Hinsicht eine instandgehaltene Schieneninfrastruktur sowie Bahnhöfe und Haltestellen als Erfolgsfaktoren. Im Hinblick auf die wirtschaftlich-planerische Dimension sind die Durchführung einer Vorstudie zur Darstellung der konkreten Vorteile für die Region sowie die Orientierung der Strecke an tatsächlichen Verkehrsbeziehungen in der Region zu nennen. Politisch-partizipativ sind in dieser Phase ein Impulsgeber mit guter Vernetzung in der Region, ein starker politischer Wille sowie Durchhaltevermögen relevant für eine erfolgreiche Umsetzung von Schienenreaktivierungen. Die zweite Phase umfasst die Umsetzung vorbereitender Maßnahmen. Hierbei ist das Bestehen von Güterverkehr auf der zu betrachtenden Strecke als technischer Erfolgsfaktor zu bewerten. Dies ist damit zu begründen, dass durch den bereits vorhandenen Güterverkehr die Möglichkeit des Betriebs der Schieneninfrastruktur grundsätzlich sichergestellt ist. Auf der wirtschaftlich-planerischen Ebene stellt eine umfangreiche Informationsgrundlage über die Investitions- und Betriebskosten sowie die Fahrgastnachfrage ein entscheidendes Instrument für eine erfolgreiche Umsetzung dar. Eine frühzeitige Kommunikation und kooperative Beteiligung der Akteurinnen und Akteure sowie der Interessensgruppen ist aus politischpartizipativer Sicht nicht zu vernachlässigen. Hinsichtlich der dritten Phase „Abschluss der Genehmigung und Bewertung“ ist vor allem die Zusage eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens für den Betrieb der Infrastruktur auf technischer Ebene relevant. Als wirtschaftlich-planerischer Erfolgsfaktor ist die Einbindung in ein integriertes Mobilitätskonzept für die gesamte Region aufzuführen. Um auch die politischpartizipative Dimension zu erfüllen, wird empfohlen, den erfolgreichen Abschluss der Genehmigung und Bewertung offen zu kommunizieren. Der Abschluss der Planung bildet die vierte Phase von Reaktivierungsprojekten. Hierbei sind eine frühzeitige Anpassung der Infrastruktur und die Bestellung von geeignetem Rollmaterial ausschlaggebend für eine erfolgreiche technische Umsetzung. Aus wirtschaftlich-planerischer Sicht sind zeitlich zur Reaktivierung passende Konzessionslaufzeiten der PBefG-Liniengenehmigungen von parallelen Busverkehren zu berücksichtigen. Erfolgsfaktoren auf politisch-partizipativer Ebene sind die Erstellung von Kommunikationsbroschüren, die über die Reaktivierung aufklären sowie die Bereitstellung von engagierten Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern für die Betroffenen in der Region. Die letzte Phase von Reaktivierungsprojekten umfasst die Reaktivierung der Bahnstrecke. In technischer Hinsicht wird die Nutzung technischer Innovationen für den Betrieb sowie eine Aufwertung der Infrastruktur empfohlen. Zudem ist für die Reaktivierung von Bahnstrecken die Ausschreibung eines qualitativ hochwertigen SPNV- Angebots auf der Strecke aus wirtschaftlichplanerischer Sicht entscheidend. Um die Umsetzung der Reaktivierung auch hinsichtlich der politisch-partizipativen Dimension erfolgreich abzuschließen, sollte eine öffentlichkeitswirksame Eröffnung der Strecke sowie eine werbewirksame Kommunikation des neuen Mobilitätsangebots durchgeführt werden. Empfehlungen Zur erfolgreichen Umsetzung von Reaktivierungsprojekten ist es für verantwortliche Akteure wichtig, die Erkenntnisse in Form der Erfolgsfaktoren in konkretes Handeln zu übersetzen. Hierbei ist in technischer Hinsicht zunächst die Sicherung der vorhandenen Infrastruktur notwendig. Diese sollte vor kostenbedingtem Abbau oder Zweckentfremdungen geschützt werden, um eine spätere Reaktivierung mit vertretbarem Aufwand durchführen zu können. Gleichzeitig ist es in politischer Hinsicht von großer Wichtigkeit, das Reaktivierungsprojekt frühzeitig durch Öffentlichkeitsarbeit zu begleiten. Resultierend lassen sich langwierige Blockadehaltungen vermeiden und Unterstützung von entscheidenden Stellen gewinnen. Neben diesen beiden Grundvoraussetzungen kommt auch wirtschaftlich-planerischen Aspekten eine hohe Bedeutung zu. Hierbei ist eine frühzeitige Infrastrukturplanung ebenso wichtig wie die damit einhergehende Berücksichtigung von möglichen zukünftigen Kapazitätsausbaubedarfen. Um diese Planung in einem zeitlich vertretbaren Rahmen zu halten, sind Maß- Bild 3: Phasen von Reaktivierungsprojekten Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 41 Schienenverkehr INFRASTRUKTUR nahmen erforderlich, die den bürokratischen Verwaltungsaufwand begrenzen und vor allem gesetzliche Hürden senken. In diesem Zusammenhang steht auch die Empfehlung einer weiteren Anpassung der Standardisierten Bewertung, die als Entscheidungsgrundlage für die Umsetzung von Reaktivierungsprojekten dient, beziehungsweise deren Ergänzung um eine nutzwertanalytische Betrachtung. Durch den Einbezug der im Rahmen des Forschungsprojekts nachgewiesenen Effekte würde sich das Nutzenverständnis von Reaktivierungen um neue Komponenten erweitern, womit sich die Wahrscheinlichkeit einer positiven Bewertung und einer sich entsprechend anschließenden Genehmigung erheblich verbessern würde. Die Anpassungen der Standardisierten Bewertung im Juli 2022 in der Version 2016+ sind hier ein erster Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus spielt die Ausgestaltung des zukünftigen Angebots auf den reaktivierten Bahnstrecken eine relevante Rolle für den nachhaltigen Erfolg der Projekte. Vor diesem Hintergrund sollten im Rahmen der SPNV-Wettbewerbsvergabe möglichst hochwertige Verkehrsleistungen ausgeschrieben werden. Die hier genannten Handlungsempfehlungen helfen Akteurinnen und Akteuren bei der Planung und erfolgreichen Umsetzung von Reaktivierungsprojekten und liefern Hinweise für die Politik, wie sie das Thema Schienenreaktivierungen in Deutschland als ein wichtiges Element auf dem Weg zur angestrebten Mobilitätswende besser unterstützen können. Fazit und Ausblick Die Ergebnisse des Forschungsprojekts verdeutlichen, dass die Reaktivierung von Bahnstrecken in Deutschland ein großes Potenzial für die positive Entwicklung ländlicher Räume aufweist. Durch die verschiedenen Effektkategorien lassen sich die weitreichenden Dimensionen der Effekte von Reaktivierungen aufzeigen. Darüber hinaus bietet die umfassende Identifikation von Effekten umgesetzter Reaktivierungsprojekte Akteurinnen und Akteuren, die ein Projekt initiieren oder umsetzen wollen, eine geeignete Argumentationsgrundlage für die Belegung der Vorteilhaftigkeit dieser Vorhaben. Ergänzend können die auf den zusätzlich identifizierten Erfolgsfaktoren von Reaktivierungsprojekten basierenden Handlungsempfehlungen einen Leitfaden für die erfolgreiche Umsetzung entsprechender Projekte bilden. Für die Forschung ergeben sich anschließende Fragestellungen, deren Beantwortung weitere Impulse für eine zielgerichtete Planung und Umsetzung von Schienenreaktivierungen in Deutschland liefern kann. Beispielhaft zu nennen wäre hier die Frage, inwiefern die Einbindung einer reaktivierten Strecke in das Gesamtnetz eine Rolle spielt. Eine daraus abgeleitete These könnte hier lauten, dass der Erfolg des Reaktivierungsprojekts bei einer beidseitigen Verknüpfung bereits bestehender Strecken deutlich höher ausfällt als bei einer Ergänzung des Netzes durch einen einzelnen Ast. Eine weitere Thematik betrifft die Fragestellung, inwiefern das konkrete Angebot auf der reaktivierten Strecke eine Rolle bei der Entwicklung der im Forschungsprojekt ermittelten Effekte spielt. Beispielsweise könnte angenommen werden, dass ein bestimmter Takt, ein ausreichender Bedienungszeitraum und eine entsprechende Geschwindigkeit notwendig sind, um den Modal Split zugunsten des SPNV zu verändern. Eine dahin gehende Untersuchung würde die Ergebnisse des Forschungsprojekts zielgerichtet erweitern und zur Entwicklung eines Bundesmobilitätsplans als Rahmensetzung für eine erfolgreiche Mobilitäts- und Klimawende beitragen. ■ QUELLEN [1] CDU, CSU und SPD (2018): Koalitionsvertrag 19. Legislaturperiode. https: / / archiv.cdu.de/ system/ tdf/ media/ dokumente/ koalitionsvertrag_2018.pdf? file=1 (Abruf: 20.09.2022). [2] BMI - Bundesministerium des Innern und für Heimat (2019): Unser Plan für Deutschland - Gleichwertige Lebensverhältnisse überall. www.bmi.bund.de/ SharedDocs/ downloads/ DE/ veroeffentlichungen/ themen/ heimat-integration/ gleichwertige-lebensverhaeltnisse/ unser-plan-fuer-deutschland-langversion-kom-gl.pdf; jsessioni d = 0 D 2 0 D F 6 B 2 6 5 C D 6 3 F F A 3 2 F C 4 5 9 E C 8 F 1 7 7. 2 _ c i d 2 9 5 ? _ _ blob=publicationFile&v=4 (Abruf: 17.11.2021). [3] Bertelsmann Stiftung (2021): Kommunaler Finanzreport 2021. www.bertelsmann-stiftung.de/ de/ publikationen/ publikation/ did/ kommunaler-finanzreport-2021-all-1 (Abruf: 12.10.2022). [4] BBSR - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2020): Erreichbarkeit von Oberzentren. In: Räumliche Effekte reaktivierter Schienenstrecken im ländlichen Raum (2022), S. 6. www. bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ veroeffentlichungen/ bbsr-online/ 2022/ bbsr-online-27-2022.html (Abruf: 20.09.2022). [5] EBA - Eisenbahn-Bundesamt (2018): Stillgelegte Strecken in Deutschland. www.eba.bund.de/ DE/ Themen/ Stilllegung/ Listen- Statistiken/ listenstatistiken_node.html (Abruf: 17.11.2021). [6] Allianz pro Schiene (2020): Das Comeback der Schiene geht in die nächste Runde. www.allianz-pro-schiene.de/ presse/ pressemitteilungen/ das-comeback-der-schiene-geht-in-die-naechste-runde/ (Abruf: 17.11.2021). [7] Deutscher Bundestag (2020a): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Christian Jung, Frank Sitta, Torsten Herbst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zur Reaktivierung von Schienenwegen in Deutschland - Drucksache 19/ 23459. https: / / dserver.bundestag.de/ btd/ 19/ 234/ 1923459.pdf (Abruf: 20.09.2022). [8] Deutscher Bundestag (2020b): Kleine Anfrage der Abgeordneten Stefan Gelbhaar, Matthias Gastel, Oliver Krischer, Markus Tressel, Daniela Wagner und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zum aktuellen Stand der Neuauflage der Standardisierten Bewertung - Drucksache 19/ 24796. https: / / dserver.bundestag.de/ btd/ 19/ 247/ 1924796.pdf (Abruf: 20.09.2022). [9] ZSPNV Süd - Zweckverband SPNV Rheinland-Pfalz Süd (2020): Kriterien des Bundes für die Reaktivierung von Bahnstrecken müssen überarbeitet werden. www.pfalz-express.de/ zspnv-sued-kriteriendes-bundes-fuer-reaktivierung-von-bahnstrecken-muessen-ueberarbeitet-werden-resolution-einstimmig-beschlossen/ (Abruf: 17.11.2021). [10] www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ veroeffentlichungen/ bbsr-online/ 2022/ bbsr-online-27-2022.html Mathis Lepski, M.Sc. Associate ÖPNV und Eisenbahn, PwC GmbH WPG, Düsseldorf mathis.lepski@pwc.com Gabriel Flore, M.Sc. M.Sc. Manager ÖPNV und Eisenbahn, PwC GmbH WPG, Düsseldorf gabriel.flore@pwc.com Maximilian Rohs, Dipl.-Wirt.-Ing. Senior Manager ÖPNV und Eisenbahn, PwC GmbH WPG, Düsseldorf maximilian.rohs@pwc.com Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 42 Auswirkungen von Innovationen auf Planungsmethoden im intermodalen Transport Klimaziele erfordern veränderten Modal Split Innovation, Intermodaler Transport, Güterwagen, Schienengüterverkehr Innovationen im Schienengüterverkehr können die Wettbewerbsfähigkeit des intermodalen Transports verbessern, allerdings müssen diese Potenziale im Betrieb ausgeschöpft werden. Für modulare Güterwagen, wie der m²-Güterwagen von DB Cargo, werden die Auswirkungen von Innovationen auf die Planungsmethoden und die Notwendigkeit für angepasste Planungsmethoden aufgezeigt. Die Forschung kann dabei helfen, diese angepassten Planungsmethoden zu entwickeln. Ralf Elbert, Raphael Hackober F ür das Erreichen der gesetzten Klimaziele in Deutschland sollen die Treibhausgasemissionen im gesamten Verkehrssektor bis zum Jahr 2030 um 48 % sinken (ggü. 2019) [1]. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, muss auch der Güterverkehr dazu beitragen und seine Treibhausgasemissionen trotz der hohen und weiter steigenden Transportleistungen reduzieren. So werden die Transportleistungen in Deutschland voraussichtlich von heute ca. 700 Mio. tkm jährlich bis zum Jahr 2030 auf 840 Mio. tkm steigen [2]. Um die gesetzten Emissionsziele dennoch zu erreichen, reicht es daher nicht aus, nur die spezifischen Treibhausgasemissionen der einzelnen Transportmodi zu verringern, sondern es muss eine nachhaltige Veränderung im Modal Split erfolgen, um eine nennenswerte Veränderung der Treibhausgasemission im Transportsektor zu erreichen. Durch seine vorteilhafte Klimabilanz und die geringen externen Kosten soll daher der Schienengüterverkehr eine verstärkte Rolle im Transportsektor einnehmen. Im Vergleich zum Straßengüterverkehr können so bei gleicher Transportleistung 85 % an Treibhausgasemission eingespart werden [3]. Deshalb setzte auch schon die Bundesregierung im Jahr 2019 das Ziel, den Anteil des Schienengüterverkehrs am Modal Split in Deutschland von 19 % im Jahr 2019 auf 25 % im Jahr 2030 zu erhöhen [4]. Unter Berücksichtigung der Transportmengenprognosen müsste damit der Schienengüterverkehr insgesamt 63 % tkm mehr leisten als im Jahr 2019. Um dieses Ziel zu erreichen und generell mehr Güter auf die Schiene zu bringen, muss die Kapazität und die Attraktivität des Schienengüterverkehrs gesteigert Foto: George Manas / Pexels LOGISTIK Transportplanung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 43 Transportplanung LOGISTIK werden. Verschiedene Studien zeigen auf, dass die geplanten staatlichen Investitionen in das Schienennetz und die Infrastruktur nicht ausreichen, um die gesetzten Ziele zu erreichen [5]. Ein wichtiger Punkt hierbei ist, dass die benötigten Transportmengen aufgrund von Kapazitätsengpässen bisher nicht über das Schienennetz transportiert werden können. Hierfür sind vor allem Investitionen in das Schienennetz notwendig, um die erforderliche Kapazität der Infrastruktur bereitzustellen und somit die nachhaltige Verlagerung der Transportgüter auf die Schiene zu ermöglichen. Für die Veränderung des Modal Splits reicht es allerdings nicht aus, nur die notwendigen Voraussetzungen zur Verlagerung zu schaffen, sondern es müssen tatsächlich mehr Gütertransporte auf die Schiene verlagert werden. Hierzu müssen die Attraktivität und die Wettbewerbsfähigkeit des Schienengüterverkehrs gegenüber dem Straßengüterverkehrs verbessert werden. Hierfür werden unter anderem Investitionen und daraus resultierende Innovationen der Eisenbahnunternehmen und der Privatwirtschaft benötigt, um den Schienengüterverkehr effizienter und flexibler zu gestalten. Vor allem im Bereich des intermodalen Verkehrs bzw. des Kombinierten Verkehrs besteht dabei ein großes Verlagerungspotenzial, das bisher nicht ausgeschöpft wurde. Ein Großteil der Unternehmen besitzt keinen Gleisanschluss, weshalb sie auf den intermodalen Transport angewiesen sind, wenn sie den Schienengüterverkehr für ihre Güter nutzen wollen. Innovationen können hier helfen, die Unternehmen leichter in die intermodale Transportkette einzubinden und so die Zugangsbarrieren in den Schienengüterverkehr zu verringern. Innovationen können die Wettbewerbsfähigkeit des SGV erhöhen Ein Beispiel für Innovationen im Bereich des Schienengüterverkehrs und des intermodalen Transports ist der neue m 2 -Güterwagen der DB Cargo AG. Das m 2 -Güterwagenkonzept (modular × multifunktional) zeichnet sich durch die Trennbarkeit von modularem Tragwagen und multifunktionalen Behältern aus. Die Modularität des Tragwagens ergibt sich u. a. durch einen hohen Standardisierungsgrad, wodurch die Wagenlänge über den Lebenszyklus des Güterwagens flexibel konfigurierbar ist. Dadurch können die Güterwagen flexibel an längerfristige Kundenbedürfnisse angepasst und verschiedene Behälterarten auf dem gleichen Tragwagen transportiert werden-[6]. Durch die Trennbarkeit der Behälter und Tragwagen können die m 2 -Güterwagen einfacher in intermodale Transportketten eingebunden werden, indem die Behälter auch per LKW transportiert werden können. Somit können verschiedene Behälterarten über die gesamte intermodale Transportkette eingesetzt werden, was zu einem effizienteren Transportprozess führt. Anders als Container müssen die Behälter keine geschlossenen, standardisierten Behälter sein, sondern können güterspezifische Konfigurationen (z. B. Coil Behälter) aufweisen. Durch die Trennbarkeit und die Transportfähigkeit der Behälter per LKW können auch Verlader ohne eigenen Gleisanschluss in die intermodalen Transportketten integriert werden. Hierbei kommt wieder das Verlagerungspotenzial des Kombinierten Verkehrs zum Tragen, wodurch große Teile der Transportkette auf die Schiene verlagert werden können. Damit werden durch den trennbaren und modularen Güterwagen die Zugangsbarrieren zur intermodalen Transportkette verringert und gleichzeitig wird die Flexibilität des Schienengüterverkehrs verbessert. Innovationen beeinflussen verschiedene Akteure im intermodalen Transport Die beispielhafte Innovation des m 2 -Güterwagen von DB Cargo zeigt, dass Innovationen das Potenzial besitzen, die Wettbewerbsfähigkeit des Schienengüterverkehrs zu verbessern und bei der Verlagerung der Gütertransporte auf die Schiene helfen können, allerdings müssen diese Potenziale auch dementsprechend im Betrieb eingeplant und genutzt werden. So können etwa durch eine reine Substituierung der konventionellen Güterwagen durch modulare Güterwagen diese Potenziale nicht ausgeschöpft werden. Intermodale Transportketten haben viele verschiedene Akteure (z. B. Verlader, Terminalbetreiber, Operateure), die alle zu einem effizienten Transport beitragen [7]. Aufgrund der hohen Vernetzung in intermodalen Transportketten beeinflusst daher der Einsatz von Innovationen viele verschiedene Akteure. Gerade im Bereich der Planung von intermodalen Transportketten lassen sich diese Auswirkungen aufzeigen. Im intermodalen Transport ist eine Zusammenarbeit zwischen den Akteuren bei der Planung von Vorteil, da so die Verfügbarkeit und Flexibilität verbessert werden kann [8, 9]. Aufgrund dieser notwendigen Zusammenarbeit und durch die damit resultierenden wechselseitigen Abhängigkeiten können sich die Auswirkungen von Innovation auf verschiedene Akteure in der Transportkette auswirken. So können auf den ersten Blick technische Innovationen aus dem Schienengüterverkehr ebenfalls Auswirkungen auf die Planungsverfahren von Akteuren außerhalb des Schienengüterverkehrs haben. Daher müssen für einen effizienten Einsatz der Innovationen auch die Planungen und Planungsmethoden in den intermodalen Transportketten angepasst werden. Dabei müssen die Auswirkungen und Spezifikationen der Innovationen auf verschiedenen betrieblichen Ebenen und Planungsebenen adäquat berücksichtigt werden, andernfalls können die Transporte nicht optimal betrieben werden, und die Potenziale der Innovationen werden nicht vollständig ausgenutzt. Um bei der beispielhaften Innovation des m 2 -Güterwagens zu bleiben, haben sowohl die Spezifikation der Trennbarkeit als auch die Modularität des Tragwagens einen Einfluss auf verschiedene Planungsebenen und -methoden unterschiedlicher Akteure. Die Trennbarkeit der Tragwagen und Behälter hat unter anderem einen Einfluss Bild 1: Umlaufplanung für konventionelle und trennbare Güterwagen Eigene Darstellungen Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 44 LOGISTIK Transportplanung auf die Umlaufplanung der Güterwagen. Bei einem klassischen, nicht-trennbaren Güterwagen muss die Umlaufplanung nur für den Güterwagen selbst geplant werden. Dieses Planungsproblem wurde für klassische Güterwagen umfassend erforscht [10, 11], jedoch können die bisherigen Modelle nicht bei trennbaren Güterwagen ohne Anpassung angewendet werden. Durch die Trennbarkeit der neuen Güterwagen können die Güterwagen in der Umlaufplanung nicht mehr als ein einzelnes Fahrzeug betrachtet werden, sondern müssen als trennbare Behälter und Tragwagen berücksichtigt werden, da diese an unterschiedlichen Standorten positioniert werden können. Dabei ist nicht nur zu bestimmen, wo der Tragwagen hinfahren soll, sondern gleichzeitig auch, wo welcher Behälter benötigt wird (siehe- Bild 1). Gleichzeitig muss das Planungsmodell berücksichtigen, dass die Behälter nicht ohne Tragwagen transportiert werden können, wodurch die Umlaufplanungen von Tragwagen und Behälter synchronisiert und abgestimmt werden müssen. Dies führt zu einer erhöhten Komplexität in der Planung und Steuerung in der gesamten intermodalen Transportkette. Die Anpassung der Umlaufplanung wirkt sich dabei auch auf Akteure außerhalb des Schienengüterverkehrs aus, da diese durch die Verfügbarkeit und Umlaufplanung der Behälter, die über die gesamte intermodale Transportkette eingesetzt werden können, beeinflusst werden. Die Modularität der Tragwagen wirkt sich durch die Umrüstbarkeit des Tragwagens auf den Betrieb der Güterwagen aus. Durch die Umrüstbarkeit der Tragwagen können verschiedene Behälterarten aufgenommen und transportiert werden, womit unterschiedliche Güterwagenarten durch ein Güterwagenkonzept ersetzt werden können. Damit erhöht sich der Anteil der Gleichteile für die Güterwagen, was bei steigenden Stückzahlen der modularen Güterwagen durch Skaleneffekte zu geringeren Bestandskosten führen kann. Durch die sinkenden Kosten wird wiederum die Wettbewerbsfähigkeit des Schienengüterverkehrs verbessert. Gleichzeitig können durch die Umrüstbarkeit und das Tauschen der Behälterarten die Auswirkungen von Nachfrageschwankungen abgeschwächt werden, was bei einer mittelbis langfristigen Änderung der Nachfrage die Anzahl der notwendigen Güterwagen reduziert. Integration der Innovationen in Planungsmethoden Für die Erläuterung der Auswirkungen auf die Planungsmethoden wird die Umrüstung des m 2 -Güterwagens im nachfolgenden Teil vereinfacht dargestellt. Die Modularität der Tragwagen erlaubt, dass Behälterarten mithilfe einer Umrüstung getauscht werden können. Hierfür wird der Tragwagen je nach Behälterart in einer Werkstatt umgerüstet, um anschließend andere Behälterarten aufzunehmen, womit unterschiedliche Güterarten mit dem gleichen Tragwagen transportiert werden können. Dies ermöglicht bei einer mittelbis langfristigen Änderungen der Kundennachfragen, bspw. durch saisonale oder konjunkturelle Schwankungen, die Auswirkungen der Nachfrageschwankungen auszugleichen, was zu einer verringerten Anzahl an notwendigen Güterwagen bei gleichbleibender Transportleistung führt. Damit dies erreicht werden kann, muss allerdings das Umrüsten möglichst optimal geplant werden. In Bild 2 ist eine beispielhafte saisonale Schwankung der Nachfrage und die Anzahl der notwendigen Güterwagen, um die Nachfragen in der jeweiligen Saison bedienen zu können, abgebildet. Für die nicht-umrüstbaren Güterwagen gibt es eine Anzahl an ungenutzten Güterwagen (grau gestrichelt) aufgrund der Nachfrageschwankungen. Für die Behälterart A muss in der Saison A eine bestimmte Menge an Güterwagen bereitgestellt werden, um die Nachfrage zu decken. In der Saison B sinkt jedoch die Nachfrage nach Behälterart A, und es werden nicht mehr alle bereitgestellten Güterwagen benötigt. Dies führt zu einem Anteil ungenutzter Güterwagen, die keine Transportleistung erbringen, jedoch Bestandskosten verursachen. Mit den modularen, umrüstbaren Güterwagen kann dieser Anteil an nicht genutzten Güterwagen reduziert werden, was zu geringeren Kosten führt. So können nicht genutzte Tragwagen des Typs A in Saison B umgerüstet werden und somit die Behälterart B transportieren. Dadurch sinkt der Anteil der nicht genutzten Tragwagen, und die Gesamtanzahl an Tragwagen kann reduziert werden, was zu einer Effizienzsteigerung im Transportsystem führt. Hier ist klarzustellen, dass nur die Anzahl der Tragwagen reduziert werden kann und nicht die Anzahl der Behälter, da die Behälter nicht modular aufgebaut sind und nicht umgerüstet werden können. Dem Umrüsten der Tragwagen stehen allerdings auch Kosten gegenüber, die bei jeder Umrüstung entstehen. Dadurch entsteht ein Trade-Off zwischen Anzahl der Umrüstungen und damit Reduzierung der notwendigen Anzahl an Güterwagen und den Kosten für die Umrüstungen. Schienenverkehrsunternehmen müssen daher taktisch entscheiden, wann eine Umrüstung eines Güterwagens erfolgen soll, damit kostenminimale Transporte durchgeführt werden können. Ein optimales Umrüstverhalten führt zu verringerten Kosten und damit zu geringeren Produktionskosten. Die modularen Güterwagen eröffnen somit eine zusätzliche taktische Fragestellung, die mit Hilfe von Planungsmethoden beantwortet werden kann. Die Beantwortung der Frage nach dem optimalen Umrüstverhalten kann durch Optimierungsmodelle beantwortet werden. Ein beispielhaftes Optimierungs- und Planungsmodell, um die Anzahl der notwendigen Güterwagen zu bestimmen, ist das Service Network Design with Asset Management [12, 13]. Hierbei wird anhand der Kundennachfrage ein optimaler Fahrplan der Züge generiert und gleichzeitig die optimale Anzahl der Güterwagen im Transportnetz bestimmt. Durch die optimale Anzahl der Güterwagen kann somit das optimale Umrüstverhalten bestimmt werden. Allerdings gibt es in der Forschungsliteratur bisher Bild 2: Anzahl notwendiger Güterwagen bei mittelbis langfristigen Nachfrageschwankungen durch umrüstbare, modulare Güterwagen kein Planungsmodell, das modulare Güterwagen oder modulare Transportfahrzeuge berücksichtigt. Es sollte daher auch in der Forschungsliteratur verstärkt der Fokus auf die Auswirkungen von Innovationen auf Planungsmethoden gelegt werden und wie die Spezifikationen von Innovationen in bestehende Planungsmodelle integriert werden können. Forschung kann dazu beitragen, angepasste Planungsmethoden zu entwickeln Wie die beispielhafte Innovation des m 2 - Güterwagens zeigt, wirken sich die Einführung und die Nutzung von Innovationen im intermodalen Transport auf verschiedene Bereiche und Akteure in der Transportkette aus. Um die Potenziale der Innovationen in der gesamten intermodalen Transportkette ausnutzen zu können, sollten daher alle Akteure in der Transportkette die Auswirkungen der Innovationen berücksichtigen. Die Auswirkungen sollten dabei zudem interdisziplinär und über verschiedene Planungs- und Betriebsbereiche analysiert werden, da auch vermeintlich technische Innovationen Einfluss auf die Planung und den Betrieb in der intermodalen Transportkette haben können. Vor allem im Hinblick auf Innovationen angepasste Planungsmethoden sollte hier ein verstärkter Fokus gesetzt werden, damit die Innovation effizient eingesetzt werden können. Bisher gibt es allerdings nur wenige Veröffentlichungen in der Forschungsliteratur, in denen die Einflüsse von Innovationen im intermodalen Transport auf die Planungsmethoden und wie diese berücksichtigt werden können, untersucht werden. Durch die vernetzten intermodalen Transportketten wirken sich diese Einflüsse eben nicht nur auf die Planungsmethoden einzelner Akteure aus, sondern es kommt zu Einflüssen auf der gesamten Transportkette. Diese weitreichenden Einflüsse und die damit verstärkte Komplexität in der Planung sollte durch angepasste, akteursübergreifende Planungsmethoden aufgegriffen werden. Die Forschung kann dabei helfen, diese angepassten Planungsmethoden zu entwickeln, um die Komplexität der Einflüsse adäquat abbilden zu können. Vor allem durch datengetriebene Planungs-und Optimierungsmethoden können die Auswirkungen in intermodalen Transportketten analysiert werden. So können bspw. historische Nachfragedaten genutzt werden, um ein optimales Umrüstverhalten der modularen Güterwagen zu bestimmen und damit die Anzahl der notwendigen Güterwagen so gering wie möglich zu halten. ■ Wie Innovationen im Schienengüterverkehr, speziell der m 2 - Güterwagen, sinnvoll in Planungsmethoden und -modellen berücksichtigt werden können, wird in verschiedenen Forschungsprojekten des Fachgebiets Unternehmensführung & Logistik an der TU Darmstadt untersucht. Hierbei werden die Auswirkungen der Innovationen im Schienengüterverkehr auf den Betrieb und die Planung und durch Simulations- und Optimierungsmodelle analysiert, um strategische und taktische Fragestellung im intermodalen Transport zu beantworten. QUELLEN [1] Bundesministerium der Justiz (2019): Klimaschutzgesetz. [2] Schubert, M.; Kluth, T.; Nebauer, G.; Ratzenberger, R. (2014): Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur: Verkehrsverflechtungsprognose 2030. [3] Umweltbundesamt (2021): Aktualisierung der Modelle TREMOD/ TREMOD-MM für die Emissionsberichterstattung 2020. [4] Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur: Masterplan Schienenverkehr, 2019. [5] Roland Berger im Auftrag des VDV (2021): Schienengüterverkehr als Garant des Klimaschutzes im Verkehr - Qualität, Innovation und Kunden im Fokus. Gutachten zum Schienengüterverkehr in Deutschland bis 2030. [6] DB Cargo AG: Der Güterwagen der Zukunft: multifunktional und modular. www.dbcargo.com/ rail-de-de/ leistungen/ innovationen/ m2-wagen# (Zugriff: 10.10.2022). [7] Di Febbraro, A.; Sacco, N.; Saeednia, M. (2016): An Agent-Based Framework for Cooperative Planning of Intermodal Freight Transport Chains, Transportation Research Part C: In: Emerging Technologies, Vol. 64, pp. 72-85. [8] Saeed, N. (2013): Cooperation Among Freight Forwarders: Mode Choice and Intermodal Freight Transport. In: Research in Transportation Economics, Vol. 42, No. 1, pp. 77-86. [9] Agamez-Arias, A.-M.; Moyano-Fuentes, J. (2017): Intermodal Transport in Freight Distribution: A Literature Review. In: Transport Reviews, Vol. 37, No. 6, pp. 782-807. [10] Zhu, E.; Crainic, T.; Gendreau, M. (2014): Scheduled Service Network Design for Freight Rail Transportation. In: Operations Research, Vol. 62, No. 2, pp. 383-400. [11] Elbert, R.; Rentschler, J.; Schwarz, J. (2022): . Combined Hub Location and Service Network Design Problem: A Case Study for an Intermodal Rail Operator and Structural Analysis. In: Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board. [12] Andersen, J.; Crainic, T. G.; Christiansen, M. (2009): Service Network Design with Asset Management: Formulations and Comparative Analyses. Transportation Research Part C: In: Emerging Technologies, Vol. 17, No. 2, pp. 197-207. [13] Wang, Z.; Qi, M.; Cheng, C.; Zhang, C. (2019): A Hybrid Algorithm for Large-Scale Service Network Design Considering a Heterogeneous Fleet. In: European Journal of Operational Research, Vol. 276, No. 2, pp. 483-494. Ralf Elbert, Prof. Dr. Fachgebiet Unternehmensführung und Logistik, TU Darmstadt elbert@log.tu-darmstadt.de Raphael Hackober, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachgebiet Unternehmensführung & Logistik, TU Darmstadt hackober@log.tu-darmstadt.de Ausgabe 1 | Februar 2023 Digital, automatisch - und sicher? Verkehrsinfrastruktur Öffentlicher Verkehr Cloud-Technologie Cybersicherheit Ausgabe 2 | Mai 2023 Transport und Verkehr Versorgungswege Luftverkehr | Seeverkehr Kombinierter Verkehr Instandhaltung Ausgabe 3 | September 2023 Strategie und Technik Digitaler Wandel Antriebstechnologie Rohstoffe | Ressourcen Multimodalität Ausgabe 4 | November 2023 Infrastruktur im Fokus Kommunikationswege Stadt- und Verkehrsplanung Sicherheitstechnik Energieversorgung www.internationales-verkehrswesen.de Blick voraus Themen-Schwerpunkte des Jahres 2023 IV Themen 2023.indd 1 IV Themen 2023.indd 1 02. Nov. 2022 17: 45: 14 02. Nov. 2022 17: 45: 14 Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 46 Infrastrukturveränderung durch Omni- Channel-Modelle Analyse der notwendigen Distributionsinfrastruktur-Anpassungen aufgrund der zukünftigen Transformationen von B2B- und B2C-Prozessen im Zuge des wachsenden Online-Handels Distributionsnetzwerke, Omnichannel, B2B- und B2C-Netzwerke, Logistikinfrastruktur, Intralogistik, Separations- und Integrationsstrategie Der wachsende Onlinehandel stellt neue Anforderungen an Omnichannel Strukturen. Entscheidend ist dabei die Optimierung von B2B- und B2C-Netzwerken, um die Gesamteffizienz zu erhöhen und weniger die Verfolgung einer Integrations- oder Separationsstrategie. Die Effizienzerhöhung kann durch Verbesserung der Infrastruktur wesentlich beeinflusst werden. Der Digitalisierungsgrad einer Region beispielsweise ist ein wesentlicher Faktor für die Umsetzung effizienter Omnichannel Strategien. Diese und andere Erkenntnisse wurden durch Experteninterviews gewonnen. Boris Zimmermann, Niklas Winter D as Mengenwachstum des Online-Handels führt zu Anpassungsdruck in den Netzwerken und somit zu der Notwendigkeit einer isolierten Betrachtung von B2C- und B2B-Prozessen [1, 2]. Dieser Aufsatz soll die notwendigen Anpassungen der Distributionsinfrastruktur untersuchen, die durch den wachsenden Onlinehandel entstehen. Dazu gehört das Verständnis für die notwendigen Logistiksysteme, die sich aus den unterschiedlichen Auftragsstrukturen und kundenseitigen Serviceanforderungen entwickelt haben. Foto: Artem Podrez/ Pexels LOGISTIK Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 47 Wissenschaft LOGISTIK Wachstum des Online-Handels als Ausgangspunkt von veränderten Netzwerkstrukturen Untersuchungsmethodik Die hier angewandte Methodik zur Beantwortung der Fragestellung basiert auf zwei Schritten: Im ersten Schritt wurde eine umfangreiche Literaturrecherche durchgeführt, wobei die Literaturübersicht den Leitlinien einer systematischen Überprüfung folgt [3]. Das Ziel der Literaturrecherche ist, die Unterschiede der Distributionsnetzwerke des stationären Einzelhandels und des Onlinehandels zu identifizieren, welche einerseits durch unterschiedlichen Auftragsstrukturen und andererseits durch die unterschiedlichen Serviceanforderungen der Empfänger verursacht wurden, dabei liegt der Analysefocus auf dem Onlinehandel. Weiterhin sollen die Probleme der infrastrukturellen Ausgestaltung und Optimierung der beiden Netzwerktypen (Einzel- und Onlinehandel) im Rahmen einer Omnichannel- (OC-)Strategie untersucht werden. Zusätzlich werden die Vor- und Nachteile einer Integrationsbzw. Separationsstrategie eruiert. Dabei wird gezeigt, dass diese Sichtweise eingeschränkt ist, da die Unterscheidung zwischen Geschäfts- und Privatkunden wesentlich ist, um die Effizienz in den Distributionssystemen zu erhöhen. Es wird ein Transfer aus der bisherigen Theorie versucht, um die Differenzen der beiden Strategien zu minimieren. Der zweite Schritt ist der Abgleich der Ergebnisse mit Erkenntnissen aus der Praxis. Zu diesem Zweck werden halbstandardisierte Interviews mit Experten und Führungskräften aus verschiedenen Bereichen der Dienstleistungslogistik (Kontraktlogistik, Intralogistik, Speditionslogistik, KEP-Dienstleister) sowie Beratungs- und Planungsunternehmen für Supply Chain Konzepte. Die Experteninterviews basieren auf direkter und persönlicher Kommunikation und können als ein geeignetes Instrument zur Datenerhebung betrachtet werden, da das Wissen der Experten über die Auswirkungen der Mengenverschiebungen innerhalb der Vertriebskanäle und den daraus resultierenden Herausforderungen sowie Lösungen aus ihrer Unternehmensposition heraus resultiert. Wissen wurde gewonnen in einem rekursiven Dialog zwischen Forschern und reflektierenden Praktikern. Die Fragebögen und die Schwerpunkte des Interviews wurden an die jeweiligen Fachgebiete der Interviewenden ausgerichtet und angepasst. Fragen konnten jederzeit gestellt werden, damit das Gespräch natürlich verlaufen konnte. Die Gespräche dauerten zwischen 45 und 120 Minuten. Die Antworten auf die Fragen wurden während des Interviews protokolliert. Da sich die Interviews auf mehrere Informanten aus verschiedenen Unternehmen stützen, wird die Untersuchung nicht von der Interpretation eines Informanten dominiert. Insgesamt wurden acht Experten aus Logistikunternehmen befragt, von denen sechs als Manager für namhafte Logistikdienstleister und zwei als geschäftsführende Inhaber eines führenden Beratungs- und Planungsunternehmens für Produktions- und Logistikstandorte tätig sind. Forschungsstand Unterschiede der Distributionsnetzwerke des stationären Einzelhandels und des Onlinehandels Die Gestaltungsoptionen eines Distributionsnetzwerkes unterliegen hinsichtlich der Zielsetzung interdependenten Beziehungen [4]. Die Unterschiede zwischen Einzelhandel und Onlinehandel bei der Bildung eines effizienten Distributionsnetzwerkes werden auf Basis ausgewählter Primärquellen im Folgenden skizziert. Die optimale Stufigkeit ist bei der Ausgestaltung eines Distributionssystems von zentraler Bedeutung. Diese Stufigkeit ist abhängig von der Größe des Ausliefergebietes, der Artikeleigenschaften (Wertdichte, Volumen, Haltbarkeit, Internationalisierungsgrad) und der Absatzmengen sowie den erwarteten Lieferzeiten aus einer oder zwei Lagerstufen sowie Umschlagspunkten (Transshipment, Cross-Docking) aufgebaut [2, 5]. Die Größe des Ausliefergebietes, die Absatzmengendimensionierung, die Artikeleigenschaften (Wertdichte, Haltbarkeit, Maße) und die Lieferzeit sind somit die wesentlichen Kennzahlen zur Bestimmung des Lieferservicegrades im Omnichannel. Die Herausforderung bei der Einführung eines OC- Konzepts ist die Distributionskomplexität, die sich aus der Belieferung von End- und Kleinkunden ergibt [6-8]. Maßgeblich sind hierfür die unterschiedlichen Auftragsstrukturen. Zunächst werden die Unterschiede zwischen Einzelhandel und Onlinehandel dargestellt. Dies ist die Basis für das Verständnis möglicher Optimierungsstrategien für die Implementierung einer Mehrkanalstrategie. In der Filialversorgung des Einzelhandels herrscht aufgrund von Kooperationsansätzen, wie z. B. Efficient Consumer Response (ECR) eine hohe Informationsverfügbarkeit vor, weswegen ein hoher Lieferservicegrad primär durch kurze Bestellzykluszeiten und hohe Liefertermintreue erreicht wird [9, 10]. Zudem ist der klassische Einzelhandel von großvolumigen Aufträgen mit vielen Positionen je Auftragszeile gekennzeichnet [11]. Die Einzelhandelslogistik ist daher von einer mehrstufigen Distributionsstruktur geprägt, deren wesentlicher Treiber die regionale Nähe der Lager zu den beliefernden Filialen und die verkürzten Lieferzeiten darstellt [8, 12]. Ein hoher Lieferservicegrad wird definiert durch die Versorgung eines definierten Perzentils an Filialen innerhalb einer gewünschten Lieferzeit. Der Onlinehandel ist deswegen vornehmlich von einer Zentrallagerstruktur geprägt [13]. Der Onlinehandel hingegen ist von wenig Auftragspositionen und hoher Versandfrequenz geprägt. Bedingt durch die Artikelzunahme und dem Versprechen immer AT A GLANCE This article examines the adaptations of distribution systems in the course of omnichannel concepts. The study shows that in practice there is no consensus regarding an integration or separation strategy, but that primarily an understanding of the order structures, logistical requirements and recipient expectations of both channels is necessary. The wall-to-wall concept can be mentioned as a best practice of multi-channel distribution. For an optimization of the logistical processes in omnichannel, an expansion of the broadband network is indispensable. In addition, the relevance of online trade means that previously predominantly B2B unit load carriers must increasingly orient themselves towards the customer service of CEP service providers in order to remain competitive. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 48 LOGISTIK Wissenschaft kürzerer Lieferzeiten werden zunehmend die Lagervorhaltung übersprungen und die herstellerseitige Direktbelieferung durch Paketdienste vorgezogen [14]. Im Gegensatz zum stationären Einzelhandel kann die Vorlaufzeit für die Lieferung am nächsten Tag innerhalb eines Landes nicht durch einen höheren Dezentralisierungsgrad verbessert werden, stattdessen ist die Nähe zu einem KEP-Hub für eine spätere Realisierung von Cut- Off Zeiten für Bestellungen für eine zeitnahe Kundenbelieferung von Bedeutung [15]. Kunden verlangen vorwiegend kurze Lieferzeiten von 1 bis 2 Tagen, wobei OC- Konzepte sich im Rahmen von Same Day oder sogar Same Hour auf kürzere Lieferzeiten ausrichten [14]. Für ein positives Shoppingerlebenis sorgen vor allem die kundenseitige Möglichkeit, Ort und Zeitpunkt der Zustellung mitzugestalten sowie eine Einhaltung des Lieferversprechens [1]. Durch die hohe Dynamik des Onlinehandels in Hinblick auf die Mengenerwartungen in Verbindung mit starken Nachfragespitzen zeichnet sich mit Blick auf die Logistik Trends in Richtung von Hochleistungslogistik und Distributionszentren ab. Shuttlesysteme, automatische Behälterlager, kollaborative Kommissioniersysteme und fahrerlose Transportsysteme kommen zunehmend zum Einsatz, wobei die Skalierbarkeit und flexible Anpassung der anlagenseitigen Kapazitäten infolge der Dynamik eines schnell wachsenden Onlinehandels immer wichtiger werden [16, 17, 18]. Hinsichtlich der Retourenabwicklung können infrastrukturell verschiedene Konzepte definiert werden. Das erste ist die Rückgabe des Artikels an das versendende Distributionszentrum, das zweite ist die Abwicklung von Retouren an einem eigens dafür vorgesehenen Retourenzentrum, während das dritte eine Retourenbearbeitung in der Filiale beschreibt. Aus operativer Sicht bieten In-Store-Retouren die Möglichkeit, zurückgegebene Artikel schnell wieder in den verkaufsfähigen Ladenbestand zu integrieren [19, 20]. Dies erfordert jedoch einerseits Platz innerhalb der Filialen, bindet zusätzliches Personal und die Synchronisierung der ERP-Systeme von Filiale und Verteilzentrum. Dies wird jedoch bislang nur in begrenztem Maße angeboten, obwohl das Integrieren schlanker Retourenprozesse als die schnellste und effizienteste Lösung im Umgang mit Retouren wahrgenommen wird. Gängiger ist ein vom Händler betriebenes separates Retourenzentrum, das sich nur auf die Abwicklung von Retouren spezialisiert hat. Dieses System bietet sich vor allem für Branchen mit einer hohen Retourenquote an [15, 21, 22]. Probleme der infrastrukturellen Ausgestaltung und Optimierung der beiden Netzwerktypen Einzel- und Onlinehandel Omnichannel-Filialen sind Showrooms und Distributionszentren zugleich. Sie ermöglichen die schnelle Belieferung von Endkunden (Ship-from-Store) [15]. Die Weiterverteilung aus den Filialen erhöht jedoch den Bearbeitungsaufwand und macht es notwendig, Prozesse zu etablieren, um die Bestellungen effizient abzuwickeln. Dies bleibt jedoch weniger effizient als die Kommissionierung und Verteilung aus dem Distributionszentrum, da deren Prozesse auf die effiziente Bearbeitung von Paketen spezialisiert sind. [23, 24] So gilt die „In-Store“- Kommissionierung als wesentlicher Kostentreiber, da die Infrastruktur von Filialen primär für die Präsentation von Artikeln ausgelegt ist und nicht für die effiziente Kommissionierung von Online-Bestellungen. Zudem erfordern die Sendungen der Filialen einen Echtzeit-Zugriff auf den Filialbestand und ein integriertes ERP-System sowie zusätzlichen Raum für die Sendungsvorbereitung, der wiederum nicht für die Ausstellung von Waren genutzt werden kann [22]. Lösung durch die Separations- und Integrationsideen im Omnichannel Aus unternehmerischer Sicht stellt sich im Zuge der Mengenverschiebungen vom stationären Handel zum stark servicegetriebenen Onlinehandel die Frage, wie die Grundstrukturen von Distributionsnetzwerken kostenoptimal auf die damit verbundenen Anforderungen ausgerichtet werden können [25]. Aus logistischer Sicht können durch einen integrierten Ansatz Synergien durch Bündelungseffekte in Bezug auf Bestände und Transporte erzielt sowie standortfixe Kosten durch eine integrierte Nutzung von Lagerflächen reduziert werden [2]. Da sich jedoch die lagerinternen Prozesse des Onlinehandels durch die unterschiedlichen Auftragsstrukturen stark von den intralogistischen Anforderungen einer filialbezogenen Versorgung unterscheiden, finden sich in der Logistik zunehmend separate Distributionssysteme [1]. Nach Tripp kann die vorwärts ausgerichtete Distribution infrastrukturell in drei Modelltypen unterteilt werden, die jeweils mittels einer integrierten oder separaten Strategie ausgerichtet werden können. In einem Zentrallager werden Online- und Offlineabwicklungen gemeinsam oder getrennt abgewickelt, dies kann auch auf der Regionalebene (Dark Stores vs. Umschlagspunkte zur Bündelung von Onlineaufträgen) oder auf der Filialebene (Click and Collect vs. Lieferung durch die Filiale direkt zu den Kunden) geschehen [1]. Während die Zentrallagerstruktur im Rahmen einer Separationsstrategie insbesondere bei großen Unterschieden der Auftragsgrößen zwischen den einzelnen Kanälen zu heterogenen Kommissionierungsprozessen begünstigt wird, kann eine Integration Bündelungseffek- Foto: Tiger Lily/ Pexels Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 49 Wissenschaft LOGISTIK te der Inbound-Logistik und eine Verringerung der Sicherheitsbestände mit sich bringen. Die Voraussetzung hierfür sind ähnliche Auftragsgrößen, homogene Kommissionier-Eigenschaften und für den Paketversand geeignete Artikel [15]. Es zeigt sich, dass sich die Systeme des Einzelhandels und des Onlinehandels auf Basis unterschiedlicher Kundenwünsche verschieden entwickelt haben und für die jeweiligen Anforderungen effizient gestalten worden sind. Während in der Theorie eine Integration aufgrund von Bündelungseffekten zu bevorzugen wäre, werden in der Praxis vorwiegend Separationskonzepte umgesetzt [1, 4, 12, 14, 15, 20, 26-30]. Im Folgenden werden die Anforderung von B2C- und B2B-Prozessen unabhängig ob Einzelhandel oder Onlinehandel dargestellt. Dieser Transfer soll zeigen, dass sich die bisherigen Analysen zu stark auf die Untersuchung von Integration oder Separationsmodell konzentrieren. Jedoch unterscheiden sich Kundenanforderung wesentlich in Bezug auf Geschäftskunden oder Privatkunden. Damit kann hier die Basis geschaffen werden, um beide Ansätze (Integration- und Separationsmodell) zusammenzuführen. Tabelle 1 zeigt, dass die Prozesse von B2B und B2C deutliche Unterschiede aufweisen. Durch intensive Gespräche mit Anwendern in der Logistik wurde versucht, Lösungen für diese Problem zu finden oder mögliche Best Practice-Ansätze zu finden. Lösungsansätze für die Entwicklung optimaler Distributionsinfrastrukturen gemäß Expertenmeinung Die befragten Experten haben die Fokussierung auf die Unterscheidung zwischen B2B- und B2C-Prozessen begrüßt. Für alle Befragten war klar, dass der B2C-Onlinehandel neue Strukturen in den Distributionskanälen erfordert. Die Umsetzung einer reinen Separationsstrategie wird durch den Mangel an den zur Verfügung stehenden Logistikflächen sehr herausfordernd. Eine Konsequenz des wachsenden Onlinehandels im B2C-Bereich ist eine Verknappung der Logistikimmobilien. Aufgrund der unterschiedlichen Auftragsstrukturen und kundenseitigen Lieferanforderungen der beiden Vertriebskanäle müssen vor allem die intralogistischen Prozesse angepasst werden. Das Stückgutnetz steht durch den B2C-Onlinehandel vor neuen Herausforderungen. Es werden vermehrt Stückguttransporte durch B2C- Kunden initiiert, deren Prozesse sich von denen des B2B-Segments unterscheiden. Die Experten kamen in den Gesprächen zu folgenden Lösungsideen für die Optimierung der Distributionsinfrastruktur, welche in Tabelle 2 dargestellt sind. Schlussfolgerung In der Praxis sind in gleichen Branchen und ähnlich strukturierten Unternehmen sowohl Integrationsals auch Separationsansätze zu finden, weswegen hier keine B2B - Effiziente Supply Chain B2C - Reaktive Supply Chain Auftragsstrukturen • Große Bestellmengen, hohes Liefergewicht, viele Positionen je Auftrag, Versand von Paletten (Single SKU Paletten oder Mixpaletten) • Lagerung und Versand als Collo oder Gebinde • Gute Planbarkeit der Liefermengen • Kundenanforderungen: Zuverlässigkeit, Transparenz, Einhaltung der Lieferzeitfenster, Vermeidung von Lieferengpässen • Vorwiegend Stückgut / Sperrgut als Ganz- / Teilladungen • Vorwiegend kleinteilige Sendungen, mit wenigen Positionen je Auftrag, hohe Versandfrequenz • Breites Sortiment mit großer Artikelvielfalt, heterogene Artikeleigenschaften • Unregelmäßige Auftragslage, große Nachfrageschwankungen durch oft emotionale Kaufentscheidungen der Kunden und Promotionen, schwer prognostizierbar • Kundenanforderungen: Hohe Lieferbereitschaft, Transparenz, schnelle und flexible Anpassung der Zustellung an Kundenwünsche Distributionsstruktur • Dezentrale Lagerstrukturen aufgrund der erforderlichen regionalen Nähe zu Filialen • Dezentrale Vorhaltung von Schnelldrehern und hoher Sortimentsbreite • Tendenz zur Mehrstufigkeit aufgrund steigender Transportkosten • Zentrallagerstrukturen erlauben Pooling-effekte in Bestandsmanagement und im Transport bei eigener Einspeisung • Hohe Relevanz von effizienten Lösungen für rückwärts gerichteten Distributionsprozesse (Retourenabwicklung) Transport • Vorwiegend Stückguttransporte • Vorwiegend planbare Liefertouren durch eigene Fahrzeugflotte oder durch Stückgutspediteure (FTL, LTL) • Transportkosten geprägt von degressivem Verlauf mit zunehmender Entfernung und Auslastung • Herkömmliche Belieferungsformen: (Hersteller-seitige) Direktbelieferung, bestandslose Filialbelieferung mit voriger Bündelung in Transit-Terminals (Crossdocking) • Milkrun-basierte Last-Mile-Belieferung (zentral / dezentral) • Transport mittels offener Dienstleisternetze, vorwiegend Paketversand (KEP) • KEP-Tarife reagieren wenig empfindlich auf zurückgelegte Entfernungen, Kostentreiber primär Gewicht und Maße sowie Tarifsprünge durch grenzüberschreitende Transporte • Herkömmliche Belieferungsformen: (Hersteller-seitige) Direktbelieferung mittels KEP-Dienstleister, Belieferung aus Zentrallager • Lösungen für die letzte Meile in Form von Paketstationen, Mikro-Depots, Cargo-Bikes, Paketstationen, Antizyklische Tourenplanung Intralogistik • Vorwiegend Nutzung standardisierter Ladehilfsmittel • Wenige Picks je Auftrag, Lagerung von Produkten in Trays • Viele Pickeinheiten je Entnahme durch Sammelverpackungen möglich • Durchlauf ist gut prognostizierbar • Vorwiegend einstufige, Person-zu-Ware-Kommissionierungsprozesse • Vorwiegend Palettenregale und Blocklager • Frühzeitige Avisierung der Sendungen möglich • Etikettierung der Sendungen ist komplexer und umfangreicher • Statische Prozesse erlauben hohen Automatisierungsgrad bei sukzessiver Ablösung menschlicher Arbeit („Dark Stores“) • Personalkosten als maßgeblicher Treiber variabler Betriebskosten • Kommissionierungsprozesse aufgrund der heterogenen Artikeleigenschaften als Kernherausforderung • Mehrstufige / Multi-Order Kommissionierung; Ware-zu-Person, Person-zu-Ware • Kollaborative Kommissioniersysteme ermöglichen Steigerung der Produktivität (Reduzierung der Laufwege, höhere Pick-Rate) • Hohe Auslastungsschwankungen erfordern flexibel skalierbare und modular erweiterbare Logistiklösungen (Shuttlesysteme, automatische Behälterlager, FTS) • Allokation und Avisierung von Beständen kurzfristig nach Eingang der Bestellung (Kleinladungsträger) Tabelle 1: Transfer aus der Analyse der bisherigen Theorie durch Anpassung der Sichtweise in B2B- und B2C-Anforderungen Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 50 LOGISTIK Wissenschaft Best Practice definiert werden kann. Mehrere Experten berichteten jedoch von einem „Wall-to-Wall“-Konzept, das die Vorteile beider Ansätze vereint, indem beide Kanäle an einem Standort, aber organisatorisch und logistisch getrennt abgewickelt werden, um die Prozesse auf die Auftragsstrukturen des Filial- und Onlinehandels optimal auszurichten. Die Digitalisierung spielt nicht nur bei den Aufträgen, sondern auch bei der Distributionsinfrastruktur eine wesentliche Rolle. 5G und Glasfasernetze sind entscheidend bei der Standortwahl bzw. dem Aufbau neuer Lagerstrukturen, ob zentral oder dezentral. So gelingt auch die Integration von heterogenen IT-Strukturen besser im Sinne des „Best-of-Greed“, ähnliches gilt für „Wall-to- Wall Konzepte“, die bei einer flexiblen und schnellen Infrastruktur optimal angewendet werden können. Im Hinblick auf die Mengenverschiebungen des B2C auf die Stückguttransporte wäre beim B2C Onlinehandel der Informationsaustausch zwischen Logistikdienstleister und Kunde durch eine einheitliche Kommunikationsplattform zu verbessern. Dies hilft auch bei der Homogenisierung der Informationssysteme entlang der Supply Chain, was durch den Einsatz von RFID-Systemen unterstützt wird. Der starken Diversität der Kundenaufträge kann so optimal begegnet werden und es können B2C-Prozesse leichter in bestehende B2B Strukturen integriert werden. Die notwendigen Zeitpuffer in der gesamten Supply Chain können durch eine Verschiebung von Auslieferungsterminen gewonnen werden. Dies gelingt jedoch nur wenn bereits bei Bestellung Zeitpuffer entlang der gesamten Supply Chain geplant werden, in Berücksichtigung der vorhandenen Kapazität der gesamten Kette. Dadurch werden teure Greenfield Distributionsstrukturen vermieden und die bestehenden Kanäle optimal genutzt. Modulare Transportkon- Lösungsidee Inhaltliche Beschreibung Auftragsstrukturen Wall-to-Wall Konzept als Alternative zu Separations- und Integrationsstrategie B2B und B2C Kanäle werden innerhalb eines Standortes, jedoch IT-seitig getrennt abgewickelt. Bei einer getrennten Bestandsführung werden Auftragsstrukturen beider Kanäle, mit homogenen Eigenschaften (Größe, Verpackung, Gewicht) separat und die jeweiligen intralogistischen Prozesse für die jeweiligen Auftragsstrukturen optimiert. Weiterhin können im Rahmen des OC-Konzeptes „Ship-to-Store“ in der Outbound-Logistik durch die Zusammenführung der Bestellmengen beider Kanäle Bündelungseffekte erzielt werden. Distributionsstruktur 5G, Digitale Behörden und Glasfaser als wesentliches Standortkriterium Das Breitbandnetzes (5G, LTE) muss in den kommenden 5 bis 10 Jahren für eine langfristige Konkurrenzfähigkeit der deutschen Logistikbranche deutlich verbessert werden. Um den künftig auf Europa zukommenden Fachkräftemangel auszugleichen, sei ein Netzausbau unabdingbar. Die Nutzung von AMR, kollaborativen Kommissionierungssystemen und automatischen Shuttletransporten werde nur ermöglicht durch einen entsprechenden Ausbau der digitalen Infrastruktur. Länder wie Polen, die in ihren Digitalisierungsbestrebungen deutlich weiter fortgeschritten sind, können nicht nur effizientere Prozesse der Behörden, wie z.B. eine schnellere Zollabwicklung vermelden, sondern ermöglichen auch Logistikdienstleistern (z.B. KEP) einen höheren Automatisierungsgrad im operativen Geschäft und dadurch erheblich günstigere Tarife. Best of Greed zur Lösung der Datenheterogenität aufgrund fehlender Standardisierung Die Heterogenität der Daten macht es schwer, standardisierte IT-Lösungen (SAP, Oracle etc.) zu nutzen, da die Datenstrukturen nicht homogen sind. Aufgrund des geringen Standardisierungsgrades gilt bei der Implementierung einer OC-Strategie die Philosophie des „Best of Greed“, sodass aus jedem Anwendungsbereich die Lösung identifiziert und in die eigene IT-Infrastruktur integriert wird. Dies erfordert gleichzeitig eine Vielzahl von Experten, die koordiniert werden müssen. Transport Transport-as-a-Service zur Zusammenführung von B2C und B2B Anforderungen Modulare Gestaltung von Transportfahrzeugen auf die Sendungsanforderungen. Zuverlässigkeit wichtiger als schnelle Lieferung, so kann der Zeithorizont bei der Zustellung erweitert werden. OC-Konzepte streben die Erfüllung des vermeintlichen Kundenwunsches einer „Same-Day-Delivery“. Jedoch ist die Zuverlässigkeit in der Praxis wichtiger als die Geschwindigkeit. Viele Händler und Logistikdienstleister gehen jedoch implizit von dem Kundenwunsch einer schnellen Lieferung aus und nehmen für deren Erfüllung oft hohe Kosten auf sich. Viel wichtiger jedoch sei die Planbarkeit der Zustellung innerhalb eines engen Zeitfensters, im besten Falle einer Stunde. Da jedoch die Verkehrsbelastung der Innenstädte eine solch genaue Planbarkeit nicht zulässt, wurde im Rahmen von Best-Practice-Ansätzen von „antizyklischen Zustelltouren“ der urbanen Räume berichtet. Hierbei werden die Touren auf Zeiträume vor und nach Zeiten einer hohen Verkehrsbelastung verlegt, um den Kunden die gewünschte Planbarkeit zu bieten. Dieser Ansatz wird zunehmend auch von KEP-Dienstleistern genutzt und führt laut den Experten zu einer höheren Kundenzufriedenheit. Plattform für den Informationsaustausch zwischen Logistikunternehmen und Endkunde im B2C Segment Bereitstellung einer Plattform, in der Kunden den gewünschten Lieferzeitraum ihrerseits angeben. Der interaktive Austausch mit dem Kunden kann zudem die Retourenquote sowie die Annahmeverweigerung deutlich verringern, da der Informationsfluss deutlich ausgeprägter ist und eine Abstimmung zwischen Versender, Transporteur und Empfänger effizienter abgewickelt wird. Dies gilt insbesondere für Stückgutlieferungen. Die Plattform sollte bereits beim Auftragseingang genutzt werden. Homogenisierung der Informationssysteme entlang der Supply Chain, insbesondere der Endkundenaufträge. RFID-Technologie zur Verknüpfung mit dem ERP-System des Händlers, sodass eine Bereitstellung von Aufenthaltsinformationen und voraussichtlichen Ankunftszeiten als Echtzeitinformationen an den Kunden vermittelt werden können. Dies ist bereits beim Auftragseingang des Händlers zu beachten. Intralogistik „Hardware-as-a-Service“ Modelle für AMR / FTS zur Steigerung der Produktivität und als Reaktion auf die Personalknappheit Kommissionierungs- und Transportsysteme sollten modular erweiterbar und flexibel skalierbaren sein. Die benötigten Kapazitäten sollten im Rahmen von „Hardware-as-a-Service“ Modellen an die Bedarfe anpassbar sein. Hier wurden vor allem teilautomatische Lösungen und kollaborative Kommissionierungssysteme zwischen Menschen und Maschine als Best Practice beschrieben. Tabelle 2: Lösungsideen zur Optimierung der Distributionsinfrastruktur mit dem Fokus auf B2C Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 51 Wissenschaft LOGISTIK zepte und flexible sowie automatisierte Lagersysteme runden das Bild ab. Die Analyse zeigt, dass die Integration von B2C-Onlinehandel in bestehende Strukturen gut gelingen kann, wenn die IT-Kompetenzen ausgebaut und gemeinschaftlich solidarisch in der Supply Chain genutzt werden können. ■ LITERATUR [1] Tripp, C. 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Boris Zimmermann, Prof. Dr. Professor für Betriebswirtschaftslehre insbesondere Logistik, Fachbereich Wirtschaft, Hochschule Fulda; Studiengangleiter Duales Studium Logistikmanagement (BA) boris.zimmermann@w.hs-fulda.de Niklas Winter Absolvent Masterstudiengang Supply Chain Management, Hochschule Fulda win.96@web.de Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 52 Ridepooling unter Einfluss des-9-Euro-Tickets Auswirkungen auf die Nachfrage von geteilten Mobilitätsdiensten am Beispiel von Moia Geteilte Mobilität, Ridesharing, ÖV, Öffentlicher Personennahverkehr, Mobilitätsverhalten Das 9-Euro-Ticket hat die ÖPNV-Nachfrage im Sommer 2022 stark gefördert, und sowohl die Nutzung als auch der Nutzen des Tickets wurden in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert. Dieser Beitrag bietet einen Blick auf die Nachfrage-Entwicklung bei privaten Mobilitätsdienstleistern während des Aktionszeitraums am Beispiel des Ridepooling-Dienstes Moia in Hamburg. Der Beitrag zeigt, dass die Moia-Nachfrage durch den günstigen ÖPNV nicht nachhaltig beeinträchtigt wurde und durch die geförderte Multimodalität als sinnvolle Ergänzung im öffentlichen Mobilitätsmix sogar profitieren könnte. Christof Pfundstein, Tim Sadler, Nico Kuehnel, Felix Zwick D as zwischen Juni und August gültige 9-Euro-Ticket wurde als Entlastungsmaßnahme von der Bundesregierung eingeführt und ermöglichte deutschlandweit eine kostengünstige Mobilität im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Für 9 EUR pro Kalendermonat konnte eine Person deutschlandweit mit dem Regional- und Nahverkehr fahren. Neben der preislichen Komponente hat das Ticket komplexe regionale Tarifsysteme, die für ÖPNV-Nutzende zuweilen eine große Hürde darstellen können (vgl. [1]), deutschlandweit stark vereinfacht. Weltweit gibt es wenige bis keine Vorbilder für ein solch großflächiges günstiges ÖPNV-Ticket (vgl. [2]), wodurch das Ticket einen Pioniercharakter hat und als Blaupause für weitere Maßnahmen zur Förderung nachhaltiger Verkehrssysteme genutzt werden kann. Die Wirkung des Tickets wurde in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert, und eine Nachfolgeregelung ist mit dem 49-Euro-Ticket ab Januar 2023 in Planung. Zahlreiche Studien haben sich mit der Wirkung des 9-Euro-Tickets auseinandergesetzt und bereits erste Ergebnisse veröffentlicht. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) hat im Auftrag von Foto: MOIA GmbH MOBILITÄT ÖPNV Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 53 ÖPNV MOBILITÄT Bund und Ländern herausgefunden, dass 52 Millionen 9-Euro-Tickets verkauft wurden, zu denen zusätzliche zehn Millionen Abonnent: innen kommen, die das Ticket automatisch erhalten haben (vgl. [3]). Dadurch hat sich die ÖPNV-Nutzung im Laufe des Sommers auf bzw. über das Vor-Corona- Niveau gesteigert und zu vielen Neukund: innen geführt (vgl. [3, 4, 5]). Die Resonanz zum Ticket wird als durchweg positiv beschrieben mit 88 % zufriedenen vom VDV befragten Nutzenden und 90 % Personen, die das Angebot im Hamburger Verkehrsverbund (HVV) als sehr attraktiv beschreiben (vgl. [3, 5]). Zur Bewertung verkehrlicher Effekte wurden die berichteten Verkehrsverlagerungen ausgewertet. In einer Befragung der TU München gaben 26 % der Befragten an, dass sie durch das Ticket weniger Auto und mehr ÖPNV fahren (vgl. [6]). Der VDV berichtet, dass 10 % der Käufer: innen auf mindestens eine ihrer täglichen Autofahrten verzichten (vgl. [3]). Der HVV berichtet, dass für 12 % der ÖPNV-Fahrten ohne das 9-Euro Ticket stattdessen der PKW genutzt worden wäre (vgl. [5]). Dieser Trend wird durch Auswertungen von Mobilfunkdaten des Statischen Bundesamts bestätigt, die einen Trend zu mehr Bahnreisen zwischen 30 und 300 km und gleichzeitig einen moderaten Rückgang im Straßenverkehr beobachten (vgl. [7]). 43 % der Befragten geben den Verzicht auf Autofahrten als Kaufgrund für das Ticket an, was als Konsequenz zu einem stärkeren multimodalen Verkehrsverhalten führte (vgl. [3, 4]). Insgesamt wird ein Trend hin zur Nutzung des umweltfreundlicheren ÖPNV deutlich, was aufgrund der Preisgestaltung erwartet wurde. Der VDV hat hochgerechnet, dass das 9-Euro-Ticket insgesamt zu rund 1,8- Mio. eingesparten Tonnen CO 2 im Aktionszeitraum geführt hat. 33 % der Befragten des VDV gaben an, das 9-Euro-Ticket aufgrund von umständlichen Verbindungen nicht gekauft zu haben, was verdeutlicht, dass der klassische öffentliche Verkehr für viele Personen noch kein passendes Angebot anbietet - eine Lücke, die von privaten Mobilitätsdiensten geschlossen werden könnte (vgl. [3]). Die Auswirkungen des 9-Euro-Tickets auf die Nutzung privater Mobilitätsdienste wie Carsharing, E-Scootersharing oder Ridepooling hat jedoch keine der genannten Studien untersucht. Diese Untersuchungslücke kann dieser Beitrag zur Wirkung des 9-Euro-Tickets auf den Ridepooling-Dienst Moia schließen. Moia ist ein privater Ridepooling-Dienst mit bis zu 500 Fahrzeugen in Hamburg und Hannover. Der Service in Hamburg ist der europaweit größte zusammenhängende Ridepooling-Service. Fahrgäste können eine Fahrt über eine Smartphone-App buchen und werden an virtuellen Haltestellen abgeholt und abgesetzt. Über einen Algorithmus werden Fahrten mit ähnlicher Route zusammengepoolt, sodass aus Kund: innensicht kleine Umwege gefahren werden, um weitere Personen mitzunehmen. Dadurch können Anzahl der Fahrzeuge und Verkehr verringert werden, was in zahlreichen wissenschaftlichen Studien bereits theoretisch (vgl. [8, 9]), aber auch auf Basis des Moia- Service belegt wurde (vgl. [10]). Moia ergänzt den ÖPNV in Hamburg und kooperiert eng mit der Stadt und ÖP- NV-Betreibern. So hat Moia im Frühjahr 2020 während der Corona-Pandemie im Auftrag der Stadt einen speziellen Nachtservice angeboten (vgl. [11]) und kooperierte dieses Jahr für einen Schienenersatzverkehr mit der Stadt und dem ÖPNV (vgl. [12]). In dieser Untersuchung beantworten wir die Frage, wie sich das 9-Euro-Ticket auf die Moia-Nachfrage in Hamburg ausgewirkt hat. Neben einer deskriptiven Analyse der Moia-Nachfrage vor und während des Aktionszeitraums bilden die Befragung von über 1.300 Moia Kund: innen und eine detaillierte Auswertung der Fahrthistorie dieser Personen die Grundlage für die Untersuchung. Dadurch ergibt sich ein umfangreiches Gesamtbild zur Entwicklung der Ridepooling-Nachfrage im Sommer 2022 und den Einfluss, den das 9-Euro-Ticket auf Moia hatte. So können Schlüsse gezogen werden, welche Wirkung ein sehr preiswerter ÖPNV auf aufstrebende Anbieter geteilter Mobilität haben und inwiefern neue Mobilitätsdienste in die zukünftige Entwicklung des Preissystems einbezogen werden sollten. Untersuchungsdesign Neben einer Auswertung der Moia-Nutzung im Zeitraum von März bis August 2022 dient eine Befragung von 1.345 Moia- Kund: innen Ende Juni als Grundlage der Untersuchung. Die für die Untersuchung hinsichtlich des 9-Euro-Tickets relevanten Fragen waren: •• Besitzen Sie ein 9-Euro-Ticket? •• Wann haben Sie Ihr 9-Euro-Ticket gekauft? (einschließlich der Option: „Ich habe es automatisch bekommen“) •• Was denken Sie, wie beeinflusst das 9-Euro-Ticket Ihr zukünftiges Moia-Verhalten? Auf der Grundlage der ersten beiden Fragen haben wir drei Nutzergruppen identifiziert: •• Gruppe A: Kund: innen, die das 9-Euro- Ticket automatisch zum 1. Juni erhalten haben, da sie bereits ein Abo besaßen. •• Gruppe P: Kund: innen, die im Laufe des Junis ein 9-Euro-Ticket proaktiv erworben haben. •• Kontrollgruppe: Kund: innen, die kein 9-Euro-Ticket erworben haben. Die Unterscheidung zwischen Gruppe A und Gruppe P ist nötig, da sich Gruppe P durch die proaktive Kaufentscheidung selbst einer Gruppe zugeordnet hat. Ein natürliches Experiment, das auf Gruppe A angewendet wird, kann auf Gruppe P nicht angewendet werden. Für Gruppe P greifen wir daher auf die Propensity Score Matching-Methode zurück. Für beide Gruppen wird die Moia-Nutzung vor und nach der Einführung des 9-Euro-Tickets am 1. Juni 2022 untersucht. Natürliches Experiment Bei einem natürlichen Experiment handelt es sich um eine Intervention von außen (d. h. ein bestehendes Ticket wird aufgrund eines Gesetzes in seiner Funktion erweitert), die, ähnlich wie ein kontrolliertes Experiment, eine Test-Gruppe betrifft und eine Kontrollgruppe ausspart. Anders als beim kontrollierten Experiment erfolgt die Gruppenzuteilung jedoch nicht zufällig, weswegen in einem natürlichen Experiment keine kausalen Effekte gemessen werden. Diese Vorgehensweise ist wissenschaftlich etabliert und wird auch im Mobilitätskontext angewandt (vgl. [13]). Für das natürliche Experiment ist es notwendig, zwei gleich lange Zeiträume zu wählen. Da unklar ist, ob Personen, die im Juni ein 9-Euro-Ticket erhalten haben, dies auch in den Folgemonaten erhalten haben, beschränken wir uns auf einen aktiven Zeitraum von einem Monat. Der Vergleichszeitraum ist auf Mai 2022 festgelegt, sodass saisonale Effekte berücksichtigt werden müssen. Als junges Unternehmen ist das Moia- Angebot im Juni 2022 nicht mit dem Angebot im Juni 2021 vergleichbar, insbesondere aufgrund Corona-bedingter Unterschiede im Mobilitätsverhalten und stetiger Serviceanpassungen. Propensity Score Matching (PSM) Für die Gruppe, die sich aktiv für den Kauf des 9-Euro-Tickets entschieden hat (Gruppe P), finden wir aufgrund des Selektionseffektes kein natürliches Experiment vor. Kund: innen wählen sich durch den 9-Euro- Ticket-Kauf selbst in Gruppe P, weswegen wir ein so genanntes PSM-Verfahren anwenden. Wir können Gruppe P nicht direkt mit der Kontrollgruppe vergleichen, da sie Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 54 MOBILITÄT ÖPNV - so die Annahme - andere Mobilitätsbedürfnisse hat, die zum Kauf des Tickets geführt haben. Die Idee des PSM-Ansatzes ist, auf Basis sozio-demographischer Daten aus der Befragung und Moia-Nutzungsverhalten nach empirischen Zwillingen zwischen Gruppe P und der Kontrollgruppe zu suchen. Je ähnlicher der daraus resultierende Propensity Score, desto ähnlicher sind sich die empirischen Zwillinge. Die Methodik ist wissenschaftlich etabliert und wird auch im Mobilitätskontext angewandt (vgl. [14]). Um eine Vergleichbarkeit des Service zwischen der Kontrollperiode und der aktiven Periode zu erhalten, wählen wir die Kontrollperiode von Dezember 2021 bis Ende Mai 2022. Die aktive Periode ist auch hier auf den Juni 2022 beschränkt. = veranschaulicht die beiden Ansätze und die jeweils verwendeten Zeiträume. Ergebnisse Deskriptive Servicestatistiken Bei der Betrachtung der monatlichen Moia-Fahrten in Bild 2 fällt auf, dass die Moia- Nutzung von Mai auf Juni erkennbar gesunken ist. Ob diese Korrelation auch kausal mit der Einführung des 9-Euro-Tickets zusammenhängt, ist aus dieser singulären Betrachtung nicht abschließend zu klären, da weitere Faktoren wie das Fahrzeugangebot (-1 % im Juni), Fahrtlängen (+4 % im Juni), Veranstaltungen, Temperaturen oder Niederschlag die Anzahl an Fahrten zusätzlich beeinflussen. Im Juli und August ist ein Anstieg der monatlichen Fahrten zu sehen, der auf Erholungseffekte hinweist. Ein - wenn auch kurzfristiger und schwacher - negativer Effekt des 9-Euro Tickets auf die Moia-Gesamtnachfrage kann nicht ausgeschlossen werden. Befragungsauswertung In der Befragung gaben 51 % der Befragten an, männlich zu sein, 49 % weiblich und sechs Befragte (0 %) gaben an, divers zu sein. Es wurden ausnahmslos volljährige Personen befragt, mit einem durchschnittlichen Alter von 45 Jahren. 74 % der Befragten gaben an, in Vollzeit zu arbeiten, 13 % in Teilzeit und 8 % der Befragten gaben an, im Ruhestand zu sein. Diese sozio-demographische Struktur deckt sich überwiegend mit einer vorherigen Befragung von über 10.000 Moia-Nutzenden (vgl. [12]), was die Annahme nahelegt, dass ein repräsentativer Ausschnitt der Moia-Kundschaft befragt wurde. 72 % aller Befragten gaben an, ein 9-Euro-Ticket zu besitzen. 298 Befragte konnten der Gruppe A, 367 Befragte der Gruppe P und 365 Befragte der Kontrollgruppe zugeordnet werden. Weitere Befragte gaben an, ihr Ticket zu einem späteren Zeitpunkt erworben zu haben oder haben keine Angabe gemacht. Von allen Befragten gaben 80 % an, dass das 9-Euro-Ticket keinen Einfluss auf ihre Moia-Nutzung hat. 20 % gaben an, dass sie Moia seltener oder deutlich seltener nutzen, während nur 1,6 % der Befragten angaben, dass sie Moia häufiger oder deutlich häufiger nutzen. Gruppe A: Ein natürliches Experiment Für die Gruppe A, die das 9-Euro-Ticket automatisch erhalten hat, betrachten wir zunächst die Vergleichs- und aktive Periode im Vergleich zur Kontrollgruppe. Bild 3 zeigt die durchschnittlichen wöchentlichen Moia-Fahrten pro Person von Dezember 2021 bis August 2022 für die Kontrollgruppe (graue Linie) und die Gruppe A (goldene Linie). Die gestrichelte Linie zeigt das Startdatum des 9-Euro-Tickets am 1. Juni. Es ist zu bedenken, dass lediglich abgefragt wurde, ob die Personen im Juni ein 9-Euro-Ticket automatisch erhalten haben. Die Moia-Nutzung von Gruppe A und der Kontrollgruppe scheint sehr ähnlich zu sein, wobei Gruppe A im Durchschnitt etwas mehr Moia-Fahrten aufweist. Dies deutet darauf hin, dass die Inhaber: innen von ÖPNV-Zeitkarten häufiger mit Moia fahren. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus vorherigen Forschungsarbeiten, dass Moia-Nutzer: innen oftmals multimodale Personen sind, die im Wochenverlauf mehrere Verkehrsmittel wählen (vgl. [12]). Das Nutzungsverhalten beider Gruppen scheint sich nach der Einführung des 9-Euro-Tickets fortzusetzen. Kurz nach Einführung des 9-Euro-Tickets steigt die Moia- Variable Koeffizient Signifikanz Standardfehler Konstante -1,2245 *** 0,247 9-EUR-Ticket-Besitz 0,1205 0,093 Zeitraum-vor-9-EUR-Ticket -0,0453 0,072 Kombinierte Variable 0,1279 0,097 Kontrollvariablen nicht dargestellt Signifikanzniveau: *: p<0,1; **: p<0,05; ***: p<0,01 Tabelle 1: Modellergebnisse des natürlichen Experiments mit der Wahrscheinlichkeit, an einem bestimmten Tag ein Moia zu buchen, als abhängiger Variable Bild 2: Anzahl monatlicher Moia-Fahrten im Jahr 2022 Bild 1: Zeitliche Darstellung des natürlichen Experiments und des Propensity Score Matchings Alle Bilder: eigene Darstellungen Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 55 ÖPNV MOBILITÄT Nutzung der Kontrollgruppe für zwei Wochen über die Nutzung der Gruppe A. Bereits Ende Juni hat sich dieses Verhältnis allerdings wieder gedreht bzw. normalisiert. Mit Hilfe eines statistischen Modells, in das wir weitere Kontrollvariablen aufnehmen, ermitteln wir im Folgenden den „bereinigten“ Effekt des Tickets. Für das natürliche Experiment betrachten wir die Wahrscheinlichkeit, an einem bestimmten Tag eine Fahrt zu buchen, als abhängige Variable und den Zeitraum von Mai bis Ende Juni als Beobachtungszeitraum. Wir betrachten 9-EUR-Ticket-Besitz (= 1, wenn die Person in Gruppe A ist, 0, wenn sie in der Kontrollgruppe ist), Zeitraum-vor-9-EUR-Ticket (= 1, wenn das Datum in der Vergleichsperiode liegt, 0, wenn es in der aktiven Periode liegt) sowie den Interaktionseffekt zwischen den beiden Variablen als unabhängige Variablen und beziehen verschiedene Kontrollvariablen aus der Umfrage und dem Verhalten in der Vergleichsperiode ein. Die Auswirkungen dieser drei Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, einen Trip zu buchen, sind in Tabelle 1 dargestellt. Der Koeffizient zeigt die Wirkung der genannten Variablen auf den Logit der logistischen Regression und damit der Wahrscheinlichkeit mit der dazugehörigen Signifikanz an. Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir die zahlreichen Kontrollvariablen weggelassen, die in das Modell aufgenommen wurden, um die Wirkung unserer wichtigsten unabhängigen Variablen zu „bereinigen“. Im Modell wurde für keine der Gruppen eine signifikante Verhaltensänderung nach dem 9-Euro-Ticket festgestellt, und es gab weder vor noch während des 9-Euro-Ticket- Zeitraums einen signifikanten Unterschied zwischen Gruppe A und der Kontrollgruppe.Mit anderen Worten: Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich die Gruppe der Kund: innen, die ein ÖPNV-Abonnement haben und damit automatisch das 9-Euro-Ticket erhalten (Gruppe A), von der Gruppe der Nicht-Abonnent: innen (Kontrollgruppe) hinsichtlich ihrer Moia-Nutzung unterscheidet. Gruppe P: Propensity Score Matching Die Idee hinter dem PSM-Ansatz ist es, empirische Zwillinge zwischen Gruppe P und der Kontrollgruppe zu finden, wodurch sichergestellt wird, dass vergleichbare Gruppen miteinander verglichen werden. Betrachtet man die durchschnittliche Moia- Nutzung der Gruppe P und der Kontrollgruppe in Bild 4, ist eine leicht höhere Moia-Nutzung der Kontrollgruppe zu erkennen. Zu Beginn der aktiven Periode ist eine geringere Moia-Nutzung in der Gruppe P zu erkennen, was dem grundsätzlichen Trend in der Kontrollperiode entspricht. Im Gegensatz zu Gruppe A haben in Gruppe P nicht alle das 9-Euro-Ticket im Voraus gekauft, was zu einem anderen Start des 9-Euro-Tickets führt. Daher wird keine gestrichelte Linie dargestellt. Um die Signifikanz der Auswirkungen des 9-Euro-Tickets zu ermitteln, wird in einem zweiten Schritt erneut ein statistisches Modell angewendet. Die abhängige Variable des Schätzungszeitraums ist als Anzahl an Fahrten pro Tag nach Aktivierung des Tickets bis zum 28. Juni, dem Ende unseres Beobachtungszeitraums, definiert. Es wird ein Zählmodell angewandt. Im Modell wird die binäre Variable (= 1, wenn die Person eine Fahrt gemacht hat, sonst 0) auf unsere neue abhängige Variable regressiert, wobei ausschließlich die Menge der Zwillingspaare berücksichtigt wird. Als Kontrollvariablen werden zusätzliche Kontrollvariablen verwendet, die bereits im Matching angewendet wurden. Der Effekt der Variable 9-EUR-Ticket-Besitz (= 1 für Personen in Gruppe P, 0 für Personen in der Kontrollgruppe) im zweiten Modell zeigt die strukturellen Unterschiede zwischen Gruppe P und der Kontrollgruppe. Die Variable 9-EUR-Ticket-Besitz-zum-Zeitpunkt (= 1 für Personen mit einem zum jeweiligen Zeitpunkt aktiven Ticket, sonst 0) gibt den Effekt des 9-Euro-Tickets an, nachdem es aktiviert worden ist. Die Ergebnisse des Modells sind in Tabelle 2 dargestellt. Beide untersuchten Variablen haben einen negativen Koeffizienten, der allerdings nicht signifikant ist. Wie bei der Gruppe A und der Kontrollgruppe ist also kein signifikanter Unterschied zwischen der Gruppe P und der Kontrollgruppe über den gesamten Zeitraum zu sehen. Signifikante Hinweise auf eine Verhaltensänderung durch das 9-Euro-Ticket sind nicht zu erkennen. Es gibt demnach keine Anhaltspunkte dafür, dass der finanzielle Anreiz zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu einer Verrin- Variable Koeffizient Signifikanz Standardfehler Konstante -1,9442 *** 0,678 9-EUR-Ticket-Besitz -0,2048 0,394 9-EUR-Ticket-Besitz-zum-Zeitpunkt -0,2068 0,390 Kontrollvariablen nicht dargestellt Signifikanzniveau: *: p<0,1; **: p<0,05; ***: p<0,01 Tabelle 2: Modellergebnisse des Propensity Score Matchings Bild 3: Durchschnittliche Anzahl wöchentlicher Moia-Fahrten vor und nach der Einführung des 9-Euro-Tickets Gruppe A und Kontrollgruppe. Für die Periode ab Juli ist der Besitz des 9-Euro- Tickets unklar. Bild 4: Durchschnittliche Anzahl wöchentlicher Moia-Fahrten vor und nach der Einführung des 9-Euro-Tickets Gruppe P und Kontrollgruppe. Für die Periode ab Juli ist der Besitz des 9-Euro- Tickets unklar. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 56 MOBILITÄT ÖPNV gerung der Moia-Nutzung in den beobachteten Gruppen geführt hat. Diskussion Das 9-Euro-Ticket hat die Mobilitätslandschaft in Deutschland substanziell beeinflusst und zu intensiven Diskussionen über den verkehrlichen Nutzen der Maßnahme geführt. Aus der Sicht privater Mobilitätsanbieter gab es neben der grundsätzlichen Unterstützung preiswerter öffentlicher Mobilität auch die Befürchtung, einen Einbruch der eigenen Nachfrage zu erleben, da sie trotz ihres Potenzials, den Verkehr zu entlasten, von der öffentlichen Förderung nicht profitiert haben. Für den Ridepooling-Dienst Moia wurde im Juni, während der Anfangseuphorie des 9-Euro-Tickets, ein moderater Nachfragerückgang beobachtet, der neben dem 9-Euro-Ticket durch weitere Faktoren wie z. B. weniger eingesetzte Fahrzeuge oder saisonale Effekte zu erklären ist. Die Nachfrage erholte sich im Juli und August. Durch eine Befragung und Fahrtenanalyse von über 1.300 Moia-Kund: innen gibt diese Studie Einblicke in die Implikationen des 9-Euro- Tickets für die Moia-Nachfrage. Die Detailuntersuchung der Befragten hat ergeben, dass Bestandskund: innen, die ein 9-Euro- Ticket hatten, in der untersuchten Periode nicht signifikant weniger Moia gefahren sind als Bestandskund: innen, die kein 9-Euro-Ticket hatten. Dies zeigt, dass der Fahrpreis nur eines von vielen Kriterien für die Verkehrsmittelwahl ist und Moia weiterhin als Ergänzung auf Relationen genutzt wird, auf denen der klassische ÖPNV keine attraktive Verbindung anbieten kann. Hinzu kommt, dass Nutzende des 9-Euro-Tickets ein etwaig bestehendes Mobilitätsbudget vermehrt für Moia-Fahrten nutzen konnten. Existierende Studien zum 9-Euro-Ticket haben festgestellt, dass Nutzende des Tickets verstärkt multimodal unterwegs sind (vgl. [3, 4]), was ebenso auf Moia-Kund: innen zutrifft, welche Moia aktuell überwiegend als Ergänzung zum ÖPNV nutzen (vgl. [12]). Daher hat Moia ein Interesse daran, dass öffentliche multimodale Mobilität gestärkt wird. Dies kann sowohl mit einem breiten Produktportfolio an öffentlichen Angeboten als auch mit attraktiven Preismodellen dieser Produkte passieren. Moia kooperiert bereits heute mit dem ÖPNV in Hamburg und wurde in der Vergangenheit mehrfach sowohl tariflich als auch verkehrlich in das ÖPNV-System integriert (vgl. [11, 15]). Als fester Bestandteil des öffentlichen Verkehrssystems wird Moia in Zukunft seinen Ridepooling-Service als Linienbedarfsverkehr nach § 44 PBefG anbieten (vgl. [16]). Das Modellprojekt „Auf dem Weg zum Hamburg-Takt” (AWHT, vgl. [17]) fördert die zunehmende Integration Moias in den ÖPNV, um diesen durch eine technische und tarifliche Integration weiter zu stärken. Eine tarifliche Integration sollte auch bei zukünftigen ÖPNV-Zeitkarten-Angeboten wie dem geplanten 49-Euro-Ticket auf Ridepooling und weitere geteilte Mobilitätsanbieter ausgeweitet werden, um die Attraktivität des öffentlichen Systems zu erhöhen und Personen zugänglich zu machen, die bislang überwiegend mit dem privaten PKW unterwegs sind. ■ LITERATUR [1] Dziekan. K.; Zistel M. (2018): Öffentlicher Verkehr. In: Verkehrspolitik, 2. Ausgabe, S. 317-340. [2] Kębłowski, W. (2020): Why (not) abolish fares? Exploring the global geography of fare-free public transport. In: Transportation, Bd. 6, Nr. 47. [3] Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (2022): Bilanz zum 9-Euro-Ticket. www.vdv.de/ bilanz-9-euro-ticket.aspx (Abruf: 08.09.2022). 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[7] Statistisches Bundesamt (Destatis) (2022): 9-Euro-Ticket: Mobilität steigt deutlich auf kurzen Distanzen im Schienenverkehr. www.destatis.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilungen/ 2022/ 07/ PD22_284_12. html (Abruf: 12.10.2022). [8] Zwick, F.; Kuehnel, N.; Moeckel, R.; Axhausen, K. W. (2021): Agentbased simulation of city-wide autonomous ride-pooling and the impact on traffic noise. Transportation Research Part D: Transport and Environment, H. 90, S.102673. [9] Alonso-Mora, J.; Samaranayake, S.; Wallar, A.; Frazzoli, E.; Rus, D. (2017): On-demand high-capacity ride-sharing via dynamic tripvehicle assignment. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, (Jg. 114), H. 3, S. 462-467. [10] Kagerbauer, M.; Kostorz, N.; Wilkes, G.; Dandl, F.; Engelhardt, R.; Glöckl, U.; Fraedrich, E.; Zwick, F. (2022): Ridepooling in der Modellierung des Gesamtverkehrs - Methodenbericht zur Moia Begleitforschung. https: / / publikationen.bibliothek.kit.edu/ 1000141282 (Abruf: 12.10.2022). [11] Zwick, F.; Fraedrich, E.; Kostorz, N.; Kagerbauer, M. (2020): Ridepooling als ÖPNV-Ergänzung. Der Moia-Nachtservice während der Corona-Pandemie. In: Internationales Verkehrswesen, (Jg. 72), H. 3, S. 84-88. [12] Kostorz, N.; Fraedrich, E.; Kagerbauer, M. (2021): Usage and User Characteristics — Insights from Moia, Europe’s Largest Ridepooling Service. In: Sustainability, (Jg. 13) H. 2, S. 958. [13] Fuller, D.; Luan, H.; Buote, R.; Auchincloss, A. (2019): Impact of a public transit strike on public bicycle share use: An interrupted time series natural experiment study. In: Journal of Transport & Health, H. 13, S. 137-142. [14] Dai, F.; Diao, M.; Sing, T. F. (2020): Effects of rail transit on individual travel mode shares: A two-dimensional propensity score matching approach. In: Transportation Research Part D: Transport and Environment, H. 89, S. 102601. [15] Behörde für Verkehr und Mobilitätswende Hamburg (2022): Taxen verstärken Schienenersatzverkehr zwischen S-Hammerbrook und S-Veddel. www.hamburg.de/ bvm/ medien/ 16461940/ 2022-09-01bvm-s-bahn-verkehr/ (Abruf: 21.09.2022). [16] Moia (2022): Moia erhält neue Genehmigung in Hamburg. www. moia.io/ de-DE/ news-center/ moia-erhaelt-neue-genehmigung-inhamburg (Abruf: 06.10.2022). [17] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (2022): Kurzdossiers - Modellprojekte zur Stärkung des ÖPNV. www.bmvi.de/ Shared- Docs/ DE/ Artikel/ G/ modellprojekte-nahverkehr.html (Abruf: 05.10.2022) Nico Kuehnel, Dr.-Ing. Transport Modelling Specialist, MOIA GmbH, Berlin nico.kuehnel@moia.io Felix Zwick, M.Sc. Product Owner Mobility Analytics, MOIA GmbH & ETH Zürich, Hamburg felix.zwick@moia.io Tim Sadler, M.Sc. Data Scientist, MOIA GmbH, Hamburg tim.sadler@moia.io Christof Pfundstein, M.Sc. Business Analyst, MOIA GmbH, Hamburg christof.pfundstein@moia.io Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 57 GGG-Klassen für Fahrzeuge Klassifizierung nach Größe, Gewicht und Geschwindigkeit und die Begründung von Feinmobilität Feinmobilität, Fahrzeug-Klassifizierung, GGG-Klassen, Bemessungsfahrzeug Werden alle Personen-Individualfahrzeuge nach Merkmalen von Größe, Gewicht und Geschwindigkeit (GGG) erfasst und nach objektiven Schwellenwerten in sieben Klassen eingeteilt, so können die S-Klassen (XXS, XS, S) als Feinmobilität bezeichnet werden. Die GGG-Klassen sind geeignet, stadträumlich relevanten Planungen, Infrastrukturbemessungen und Verkehrsregelungen zugrunde gelegt zu werden. Dies erlaubt eine sachgerechte Differenzierung, wo das gegenwärtig eine Bemessungsfahrzeug „PKW“ zur längerfristigen Festschreibung von flächen- und kostenintensiven Verkehrsanlagen führt. Konrad Otto-Zimmermann, Sophie Elise Kahnt, Jori Milbradt, Carsten Sommer I mmer mehr Kommunen möchten die Gebühren für das Abstellen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Straßenraum an den realen Kosten orientieren und nach Parklast staffeln. Unter Parklast ist die Inanspruchnahme von öffentlichem Raum und Belastung anderer Stadtfunktionen durch abgestellte Fahrzeuge zu verstehen. Indikatoren für Parklast sind insb. Länge, Breite, Höhe, Seitenprofil, Fläche, Raumnahme (Außenvolumen) und Gewicht. Es besteht örtlich auch Bedarf an größendefinierten Zufahrtsregelungen für sensible Stadtbereiche wie z. B. historische Altstädte mit schmalen Gassen, Umgebungen von Kindergärten und Schulen oder Klinikkomplexen. Geht’s nicht feiner? - Motivation Vielfach wird kritisiert, dass das Dienstwagenprivileg [1] den Trend zu großen und hoch motorisierten Fahrzeugen fördert und es daher auf eine bestimmte Obergröße beschränkt oder nach Größenordnungen gestaffelt werden sollte. Dies hat das Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssystem der Universität Kassel, das Freiburger Kreativstudio The Urban Idea, den Verkehrsclub Deutschland (VCD) e.V. und die Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e.V. dazu veranlasst, eine gestaffelte Klassifizierung von Fahrzeugen nach Größe, Gewicht und Geschwindigkeit zu entwickeln. Die heutige Gigantomanie im Fahrzeugbestand führt nicht selten zu skurrilen Anblicken, wenn beispielsweise Tür, Schaufenster und Lichtreklame eines Restaurants vom Geländewagen des Inhabers verdeckt werden, oder zu unerträglichen Belastungen, etwa wenn der Ausblick aus Erdgeschoss-Fenstern durch PKW mit enormem Seitenprofil versperrt wird. Parkende Großmobile blockieren Sichtbeziehungen im Straßenraum und zerstückeln diesen (Bild-1). Die weithin geteilte Skepsis gegenüber immer größeren Personenfahrzeugen drückt sich in einer verbreiteten SUV-Kritik aus [1]. Diese richtet sich gegen die Maßlosigkeit, die Automobilhersteller und Kunden zu einer Zeit praktizieren, die von Klimaschutz, Ressourcenschonung, Flächenschonung und „menschlichem Maß“ gekennzeichnet sein sollte. Die Kritik wendet sich aber auch gegen die vergleichsweise hohe kinetische Energie, die Respekt fordernde und sogar Angst einflößende Wuchtigkeit, die von Bordsteinen und Schrammborden nicht abzuweisenden großen Räder, die zum Teil aggressive Formensprache der Frontpartie, die Verstellung des Blicks über den Straßenraum, den stärkeren Reifen- und Straßenabrieb durch höheres Gewicht und andere Merkmale (Bild 2) [3]. Was gegen Bild 1: Vom Straßenraum bleibt die Gehschlucht. Foto: Autoren Verkehrsplanung MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 58 MOBILITÄT Verkehrsplanung SUV ins Feld geführt wird, trifft weitgehend auch auf Vans, Kleinbusse und Lieferfahrzeuge zu. Es wird daher gefordert, dass Produktions-, Kauf- und Nutzungsanreize sowie Infrastruktureinrichtungen und Verkehrsregelungen auf das ökonomische Prinzip - erweitert um das ökologische Prinzip - ausgerichtet werden sollten. Danach werden Mobilitätsbedürfnisse und Transportzwecke mit der •• kleinsten, leichtesten, energiesparendsten und kostengünstigsten sowie •• emissionsärmsten, raumsparendsten, leisesten und ressourcenschonendsten Beförderungsoption befriedigt [4]. Dies kann als Ökomobilität bezeichnet werden. Von fein bis grob - die Körnung von Fahrzeugen Zur Objektivierung der Diskussion und zur Schaffung von Verkehrsplanungs- und -Verkehrsordnungsparametern bedarf es einer nüchternen Betrachtung von Größe, Gewicht und Geschwindigkeit (GGG) von Fahrzeugen. Im Projekt „Feinmobilität“ [5] gehen wir von einer nahezu stufenlosen Körnung von Fahrzeugtypen aus (Bild 3) und vermeiden eine Vorprägung der Ergebnisse durch bestehende Einteilungen. Sowohl die Fahrzeugsegmentierung der europäischen Kommission und nach KBA als auch die Klassifizierung nach EG eignen sich nicht zur Kategorisierung des breiten Spektrums von Fahrzeugen für stadträumliche Regelungen (wie insb. Parkraumregelungen) und auch nicht als Bezugseinheiten für Geschwindigkeitsregelungen, da sie ausschließlich Kraftfahrzeuge umfassen. Noch weniger eignen sie sich als Basis für monetäre Anreize für Erwerb bzw. Nutzung von Verkehrsmitteln mit menschlichem Maß, weil sie die dafür relevanten Merkmale nicht ausreichend differenziert berücksichtigen. Daher erscheint eine neue Klassifizierung von Fahrzeugen notwendig. Benötigt wird eine Kategorisierung, auf die •• technische Regelwerke der Infrastrukturplanung, •• straßenrechtliche und straßenverkehrsrechtliche Bestimmungen sowie die •• Auslegung von baulicher Infrastruktur und •• kommunale Verkehrsflächenwidmungen aufsetzen können. Sie sollte einfach und verständlich aufgebaut sein und Größe, Gewicht und Geschwindigkeit (GGG) berücksichtigen. Wir brauchen eine Gesamtklassifizierung, die alle Fahrzeuge der Feinmobilität und nicht nur Kraftfahrzeuge in der heutigen Definition einschließt und die auf (stadt-)räumliche und ökologische Verträglichkeit ausgerichtet ist. Das bedeutet, dass nicht nur die Qualitäten für die Insassen, sondern auch die Qualitäten für die Menschen im Straßenraum und die Stadtqualität berücksichtigt werden. Dies schließt Wirkungen auf die folgenden Funktionen ein: •• Orientierung im Straßenraum, •• Sicherheitsempfinden im Straßenraum, •• Wohlbefinden und soziale Interaktionen von Menschen im Straßenraum, •• Begegnungsverkehr in schmalen Straßen, •• Flächenbedarf im Stand und im Fahrbetrieb. In einem Folgeschritt werden wir auch die Qualitäten für die Umwelt betrachten, insbesondere den Material- und Energieaufwand bei der Fahrzeugherstellung, die Recyclierbarkeit der Fahrzeuge und ihrer Komponenten, spezifische Energieverbräuche und Luftschadstoff-Emissionen beim Betrieb sowie den Straßen- und Reifenabrieb. Wir schlagen vor, Fahrzeuge des gesamten Spektrums an Bewegungsmitteln nach sieben Kategorien einzuteilen, die jedem aus der Bekleidungswirtschaft geläufig sind: XXS, XS, S, M, L, XL, XXL. Körnung operationalisieren - Merkmale, Schwellenwerte und Zuordnung zu GGG-Klassen Wir haben das Fahrzeugspektrum nach den folgenden Merkmalen untersucht: •• Größe: Länge, Breite, Höhe und Seitenprofil, Fläche (Grundfläche), Raumnahme (Außenvolumen), Wendekreis; •• Gewicht (Masse): Leergewicht (auch bei PKW ohne Fahrer), maximal zulässiges Gesamtgewicht; Nutzlast; •• Geschwindigkeit: Bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit; •• Gewicht und Geschwindigkeit (in Kombination): Kinetische Energie. Für jedes dieser Merkmale haben wir Schwellenwerte für die Einteilung in die sieben Klassen definiert. Je nach Merkmal fällt die Reihung der Fahrzeuge und daher die Zuordnung zu einer Klasse unterschiedlich aus, weil beispielsweise ein kurzes Fahrzeug recht breit oder ein leichtes Fahrzeug recht hoch sein kann. Bild 3: Körnung von Personen-Individualfahrzeugen Darstellung: Projekt Feinmobilität 2021 Bild 2: Größenvergleich am Straßenrand Foto: Frank Walensky / pixabay Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 59 Verkehrsplanung MOBILITÄT Nach dem Durchspielen und Testen verschiedener Wege zur Fusionierung der Einzelzuordnungen zu einer Gesamteinstufung hat sich die folgende, vereinfachende Berechnungsregel als praktikabel herausgestellt: Zuordnung eines Fahrzeugs zu einer GGG-Klasse = 0,50 * Klassenzuordnung beim Merkmal „Raumnahme“ + 0,25 * Klassenzuordnung beim Merkmal „Wendekreis“ + 0,25 * Klassenzuordnung beim Merkmal „Kinetische Energie“ Die GGG-Klassenzuordnung von rund 100 Referenzfahrzeugen, die das Spektrum vom Rollschuh und Einrad bis zum Geländewagen, Lieferwagen und Wohnmobil abdecken, hat zu intuitiven und plausiblen Ergebnissen geführt. Das GGG-Klassifizierungssystem erlaubt die eindeutige Zuordnung jedes Fahrzeugs, ob für den Verkehr auf öffentlichen Straßen zugelassen oder nicht. Vom Feinsten - die Feinmobilität Die GGG-Klassifizierung erlaubt es, „Feinmobilität“ zu definieren. Zur Feinmobilität zählen wir Mobilität mit Verkehrsmitteln der S-Klassen (also der GGG-Klassen XXS, XS und S) im Spektrum „zwischen Schuh und Auto“ (Bild 4). Die Vielfalt von Feinfahrzeugen des Personen-Individualverkehrs und des leichten Güterverkehrs ist beeindruckend und wird jedes Jahr durch viele neue Fahrzeugkonzepte erweitert. Das Konzept der GGG-Klassen erleichtert es, für den jeweiligen Einsatzbereich die kleinste, leichteste, feinste Option im Spektrum aller Personen-Individualfahrzeuge und leichten Wirtschaftsfahrzeuge zu wählen. Es erlaubt einen differenzierteren Blick auf die Räderwelt, als es die heute oft in den Raum gestellten Alternativen „Auto oder Fahrrad“ bzw. „Lieferwagen oder Lastenrad“ nahelegen. Wir wollen der heute vorherrschenden Grobmobilität eine feinere Alternative entgegensetzen, die für nahezu Jede und Jeden sowie für fast alle Fahrt- oder Transportzwecke im Stadt- und Regionalverkehr taugt. Um für den Umwelt- und Klimaschutz relevante Verkehrsanteile von großen und schweren auf kleine und leichte Fahrzeuge zu verlagern, blicken wir auf die Gesamtfahrleistung, also auf die zurückgelegten Fahrzeugkilometer. 75 Prozent der Jahresfahrleistung von PKW entfallen auf Fahrten unter 100 Kilometer; 25 Prozent der Jahresfahrleistung entfallen auf Fahrten, die länger als 100 Kilometer sind, dies sind nur rund ein Prozent aller Fahrten. Die Hälfte der PKW-Fahrleistung wird zum Arbeitspendeln sowie für dienstliche Aktivitäten erbracht. Ein Viertel der Fahrleistung entfällt auf Freizeitaktivitäten [6]. Auch Fahrzeuge der Feinmobilität (Klassen XXS bis S) können bis zu vier Sitzplätze und bauartbedingte Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 120 km/ h haben. Sie taugen damit grundsätzlich für Strecken bis 100 Kilometern, sind fernstraßentauglich sowie für Pendler-, Dienst- und Freizeitfahrten geeignet und könnten einen relevanten Anteil der Fahrleistung erbringen, wie es auch eine DLR-Studie zum Potential von elektrischen Klein- und Leichtfahrzeugen zeigt [7]. Fein voran - Fortführung der Arbeit am GGG-Klassifizierungssystem Das von uns mit unseren Partnern entwickelte System der GGG-Klassen stellt ein Handwerkszeug zur differenzierten Widmung von Raum, Flächen und Verkehrswegen für Zwecke des fließenden Verkehrs und zum Abstellen von Stehzeugen bereit. Es wird in einem Fachgespräch und weiteren Anwendungssimulationen validiert werden, bevor wir es im Detail veröffentlichen und zur Anwendung empfehlen werden. ■ QUELLEN [1] Agora Verkehrswende und Öko-Institut (2021): Dienstwagen auf Abwegen. Warum die aktuellen steuerlichen Regelungen einen sozial gerechten Klimaschutz im Pkw-Verkehr ausbremsen. www. oeko.de/ fileadmin/ oekodoc/ Agora-Verkehrswende-Dienstwagen_ auf_Abwegen.pdf (Abruf: 15.10.2022). [2] „SUV-Bashing“ mit Begriffen wie Dinosaurier, Stadtmonster, Blähmobil u. ä., siehe z. B. www.duh.de/ projekte/ suv-zerstoerenunsere-staedte/ [3] Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg (o. J.): Ruhender Verkehr. Hinweispapier für die Straßenverkehrsbehörden, Bußgeldbehörden und Kommune in Baden-Württemberg, S. 8. https: / / vm. baden-wuerttemberg.de/ fileadmin/ redaktion/ m-mvi/ intern/ Dateien/ Brosch%C3%BCren_Publikationen/ 210415_VM_Ruhender_ Verkehr_DinA4_ES_web.pdf (Abruf: 16.10.22). Kocher, B. (2010): Stoffeinträge in den Straßenseitenraum - Reifenabrieb. In: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Verkehrstechnik Heft V188, S. 7. https: / / bast.opus.hbz-nrw.de/ opus45bast/ frontdoor/ deliver/ index/ docId/ 60/ file/ V188.pdf (Abruf: 16.10.22). [4] Ideen zu Standards, Blatt Ökomobilität, hrsg. von The Urban Idea, Freiburg 2018. [5] Mobilität mit menschlichem Maß - Feinmobilität für Umwelt- und Klimaschutz, Stadt- und Lebensqualität. Projekt der Universität Kassel, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme (Prof. Dr. Carsten Sommer) in Zusammenarbeit mit The Urban Idea, Freiburg, gefördert durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt. Das Vorhaben hat auch die Arbeitsgruppe Feinmobilität des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) e.V. sowie den Arbeitskreis „Fahrzeugdimensionen/ Feinmobilität“ der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL) e.V. fachlich begleitet und unterstützt. [6] infas, DLR, IVT und infas 360 (2018): Mobilität in Deutschland (im Auftrag des BMVI), S. 71-72. [7] Brost, M.; Gebhardt, L.; Ehrenberger, S.; Dasgupta, I.; Hahn, R.; Seiffert, R. (2021): The Potential of Light Electric Vehicles for Climate. Protection Through Substitution for Passenger Car Trips - Germany as a case study. Projectreport. www.dlr.de/ content/ de/ downloads/ 2022/ lev-studie.pdf (Abruf: 16.10.22). Jori Milbradt, B. A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Universität Kassel jorimilbradt@uni-kassel.de Carsten Sommer, Univ.-Prof. Dr.-Ing. Fachgebietsleitung Verkehrsplanung und Verkehrssysteme , Universität Kassel c.sommer@uni-kassel.de Sophie Elise Kahnt, M.Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Universität Kassel sophie.kahnt@uni-kassel.de Konrad Otto-Zimmermann, Dipl.-Ing., Mag. rer. publ. Kreativdirektor, The Urban Idea GmbH, Freiburg konrad@theurbanidea.com Bild 3: Abgrenzung der Feinmobilität gegenüber Mittel- und Grobmobilität Darstellung: Projekt Feinmobilität 2022 Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 60 Spurwechsel in Afrika Die globale Verkehrswende kann nur gemeinsam mit Afrika-realisiert werden Afrika, Klimawandel, COP27, Dekarbonisierung, Verkehrswende Die Länder Afrikas sind derzeit für nur 3,8 % der weltweiten CO 2 -Emissionen verantwortlich. Mit wachsenden Volkswirtschaften und Bevölkerungen nehmen die Emissionen auf dem Kontinent rapide zu - vor allem im Verkehrssektor, der bereits eine wichtige Emissionsquelle ist. Urbanisierung, hohe Investitionsbedarfe in Infrastruktur und eine steigende Mobilitätsnachfrage bedingen Wachstum und Wandel des Sektors. Globale Trends der Elektrifizierung, der Nutzung erneuerbarer Energien und der digitalen Innovation bieten zahlreiche Möglichkeiten für einen Sprung zu nachhaltigem Verkehr auf dem Kontinent. Verena Knöll, Daniel Bongardt I m ägyptischen Sharm el-Sheikh kommen dieser Tage (6. bis 18. November) erneut Vertreter*innen von fast 200 Mitgliedsländern der Klimarahmenkonvention zur 27. Vertragsstaatenkonferenz zusammen. Dass die Klimaverhandlungen nach einigen Jahren wieder auf dem afrikanischen Kontinent stattfinden, hat eine besondere Signalwirkung. Es ist höchste Zeit dafür, dass dem afrikanischen Kontinent eine bedeutendere Rolle zu Teil wird. Immerhin ist die Klimakrise in vielen afrikanischen Ländern bereits deutlich spürbar. Dabei liegt die Hauptverantwortung für den Klimawandel im Globalen Norden - auch in Deutschland. Die 54 Länder des afrikanischen Kontinents sind zusammengenommen nur für knapp 4 % der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich - und das bei einem Bevölkerungsanteil von fast 20 % der Weltbevölkerung. Mit seiner schnell wachsenden Bevölkerung und seinen wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten hat der Kontinent jedoch das Potenzial, zukünftig zu einem bedeutenden Treibhausgasemittenten zu werden. Dabei spielt der Verkehrssektor eine herausragende Rolle. In Afrika gehen 346- Millionen Tonnen (Mt) CO 2 auf sein Konto, das ist fast ein Drittel der gesamten energiebedingten CO 2 -Emissionen Afrikas. Zum Vergleich, in Deutschland sind es etwa 160 Mt CO 2 . Anders als in Deutschland steigen die Emissionen in Afrika weiterhin schnell an. Diese Dynamik droht die klimapolitischen Erfolge weltweit wettzumachen. Straßenbahn in Addis Abeba, Äthiopien Foto: GIZ, Thomas Imo / photothek.net MOBILITÄT Nachhaltigkeit Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 61 Nachhaltigkeit MOBILITÄT Keine Verkehrswende, ein Spurwechsel ist notwendig Der Begriff der Verkehrswende 1 erscheint für den afrikanischen Kontext unpassend, immerhin könnten viele afrikanische Länder bei einem Blick in die Statistik als geradezu vorbildlich gelten: Die Motorisierungsraten sind niedrig, es wird viel zu Fuß gegangen und die Verkehrsemissionen pro Kopf sind nahezu verschwindend gering. Diese Zahlen sind jedoch vor allem finanzieller Armut und mangelnden bezahlbaren, motorisierten Verkehrsangeboten geschuldet. Die verkehrsbedingte Lärm- und Luftverschmutzung, hohe Unfallzahlen und mangelnde Erreichbarkeit wichtiger Ziele stellen afrikanische Regierungen und Stadtverwaltungen auch heute vor eine große Herausforderung. Diesen Problemen gilt es zu begegnen, ohne bei der Verkehrsentwicklung in die Falle zu geraten, in die sich die Staaten des Globalen Nordens manövriert haben. Gelingt es, zukünftige Treibhausgasemissionen aus dem Verkehrssektor afrikanischer Länder zu vermeiden, ohne die wirtschaftliche Entwicklung zu beeinträchtigen, ist eine nachhaltige Entwicklung möglich. Es geht daher nicht um eine Wende im Verkehr, sondern um einen Spurwechsel beim Aus- und Aufbau von Mobilitätssystemen. Klimafreundliche, effiziente Mobilitätsangebote müssen in Verbindung mit der Nutzung des enormen Potenzials erneuerbarer Energien von vornherein priorisiert werden. Dabei können hier nur ein paar grundliegende Gedanken angerissen werden, alles andere wäre vermessen angesichts der Größe, Diversität und Komplexität des Kontinents und des Themenfeldes. Zudem muss die Diskussion in Afrika geführt werden und nicht bei uns in Deutschland, auch wenn durch die hohen Emissionen in der Vergangenheit und die Folgen von Kolonialisierung deutsche Akteure auch in der Verantwortung stehen. Die folgenden Überlegungen können daher als Einladung verstanden werden, mit den Akteuren, die sich für dessen nachhaltige Ausgestaltung der Verkehrssysteme einsetzen, zu diskutieren. Sozial gerechte Mobilitätsangebote für Stadt und Land Im Jahr 2050 könnten Prognosen zufolge 2,5 Milliarden Menschen in Afrika leben, 1,5- Milliarden davon in Städten (ca. 60 bis 61 %) und 1 Milliarde im ländlichen Raum. Die Mobilitätsnachfrage wird stark zunehmen. Wie überall auf der Welt ist soziale Gerechtigkeit eine Grundvoraussetzung für eine Transformation im Sektor. Auf dem Land ist es heute schon oft schwierig, zentrale Orte und die dort vorhandenen Märkte, Jobs, Ausbildungsstätten oder das Gesundheitswesen zu erreichen. Städte wachsen zumeist ungesteuert, in Form sogenannter informeller Siedlungen. Auch dort fehlen die erforderlichen Angebote. Sollte es gelingen das Städtewachstum entlang nachhaltiger ÖPNV-Korridore zu kanalisieren, dann wäre es möglich, dass viele Verkehrsprobleme erst gar nicht entstehen. Bisher sind informelle Busse und Taxen, bekannt in Afrika unter den verschiedensten Namen (etwa Daladalas, Matatus, Bodas, Cars Rapide, etc.) das zentrale Mobilitätsangebot (Bild 1). Zum einen bieten die informell organisierten Dienste flexible, relativ flächendeckende Mobilitätsangebote und Arbeitsplätze. Zum anderen führt die Nutzung alter Fahrzeuge aber zu Problemen hinsichtlich Verkehrssicherheit und Luftverschmutzung. Auch wenn mittlerweile in einigen Städten Schnellbussysteme oder Straßenbahnen eingeführt werden, sind diese Mobilitätsangebote notwendig. Dabei gilt es, die Qualität der Angebote zu erhöhen und die Emissionen zu reduzieren, ohne dass die Angebote für Menschen mit geringem Einkommen unerreichbar werden. Dabei kann auch die Digitalisierung einen wesentlichen Beitrag leisten. Eine junge, technikaffine Bevölkerung bietet enormes Potenzial. Bei einem Blick auf den aktuellen Modal Split in verschiedenen afrikanischen Städten (Bild 2) fällt neben dem Paratransit der hohe Anteil des Fußverkehrs auf. Dies ist insbesondere auf mangelnde, bezahlbare Alternativen und ein hohes Maß sozialer Benachteiligung zurückzuführen. Gehwege fehlen vielerorts, sind unzureichend gesichert und somit keine attraktive Wahl. Dies zeigt sich auch in der Unfallstatistik vieler afrikanischer Länder: 40 bis 60 % der Unfalltoten sind Fußgänger*innen. Eine bessere Infrastruktur für aktive Mobilität ist daher dringend notwendig. Erneuerbare Energie und Elektromobilität entwickeln Im Sinne der Vermeidung von Emissionen sind nicht motorisierte Verkehrsmittel besonders erstrebenswert. Dennoch ist Mobilität, gerade über weitere Strecken hinweg, auf motorisierte Antriebe und externe Energiequellen angewiesen. Anpassungen in Mobilitätssystemen gehen daher idealerweise Hand in Hand mit der Einführung der Elektromobilität, kurz E-Mobilität. Aufgrund des enormen Potenzials zur kostengünstigen Erzeugung erneuerbarer Energie kann diese eine besondere Rolle spielen 2 . Den Beginn dieser Transformation sieht man bereits im Bereich der Motorräder. Motorräder sind ein wichtiges Verkehrsmittel in vielen afrikanischen Ländern und dementsprechend weit verbreitet. Start-ups wie Zembo in Uganda (Bild 3) oder Senergytek in Marokko zeigen, dass E-Mobilität zugleich eine Chance bietet, lokale Wertschöpfung zu generieren. Auch erste elektrisch betriebene Busse gibt es bereits made in Africa, etwa bei Roam in Kenia. Die Batte- 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Casablanca (Marokko) Dakar (Senegal) Dire Dawa (Äthiopien) Douala (Kamerun) Maputo (Mozambik) Sonstiges Private Autos und Motorräder Paratransit ÖPNV Zu Fuß (und Fahrrad) Bild 1: Car Rapide in Dakar, Senegal - Informelle Minibusse wie dieser sichern die Mobilität in vielen afrikanischen Städten angesichts unzureichender ÖPNV-Angebote. Foto: Ariadne Baskin Bild 2: Modal Split verschiedener afrikanischer Städte Quelle: MobiliseYourCity (2022) Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 62 MOBILITÄT Nachhaltigkeit rien kommen indes nach wie vor zumeist aus China, wo sie unter Einsatz vieler auch in Afrika vorkommender Rohstoffe hergestellt werden. Auch hier besteht ein Potenzial, Teile der Wertschöpfungskette auf den Kontinent zu verlagern. Noch sind es aber vor allem Pionierprojekte, die die Elektrifizierung des Verkehrssektors vorantreiben. Ein Großteil der in vielen afrikanischen Ländern schnell voranschreitenden Motorisierung findet über den Gebrauchtwagenmarkt statt. Angesichts oft unzureichender Importregulierungen und gänzlich fehlender Exportstandards der Herkunftsländer gelangen dabei zahlreiche verkehrsunsichere und emissionsintensive Fahrzeuge auf afrikanische Straßen. Gerade Fahrzeughersteller und bedeutende Fahrzeugexportländer wie Deutschland sind hier gefordert, Verantwortung zu übernehmen. Infrastruktur nachhaltig entwickeln und finanzieren Ob ÖPNV, Fußverkehr, E-Mobilität oder ein Schienennetz für Güter und Passagiere, die nachhaltige Ausgestaltung von Verkehrssystemen auf dem afrikanischen Kontinent wird ohne die notwendigen Investitionen in den Ausbau von Infrastruktur nicht möglich sein. Laut African Economic Outlook 3 wären dafür jährlich Infrastrukturinvestitionen in Höhe von 130 bis 170 Mrd. USD nötig (Bild- 4). Tatsächlich investiert werden aber nur 100 Mrd. USD, etwa ein Drittel davon im Verkehrssektor. Die Liste der möglichen Handlungs- und Investitionsfelder ist enorm: Der Ausbau von Straßen- und Schienennetzen gehört ebenso dazu wie der schnelle Ausbau von Erzeugung und Verteilung von regenerativem Strom, damit Züge und Straßenfahrzeuge klimaverträglich unterwegs sein können. Obendrein kann die Chance wahrgenommen werden, afrikanische Städte und Megastädte so zu gestalten, dass einer rasch wachsenden Zahl von Menschen klimaverträgliche Mobilität ermöglicht wird. Hinzu kommen die Anforderungen, die aufgrund der bereits spürbaren und in Zukunft erwarteten Auswirkungen des Klimawandels an existierende und neu zu bauende Infrastruktur gestellt werden, um diese klimaresilient zu gestalten und damit auch unnötige Schäden und Folgekosten zu vermeiden. Nach Angaben der Weltbank kostet es 2 bis 3 % mehr, Infrastrukturvorhaben klimaresilient zu bauen. Es gilt also verstärkt Mittel zu mobilisieren, um die Investitionslücke zu verkleinern und gleichzeitig robuste Verkehrsinfrastrukturen zu schaffen. Mittel der Klimafinanzierungen könnten hier einen guten Rahmen bieten, um internationale Gelder für den Verkehrssektor in afrikanischen Ländern verfügbar zu machen und damit wiederum Investitionen des Privatsektors anzureizen. Dabei gilt es zu bedenken, dass Investitionen besonders dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie zwischen den verschiedenen Geldgebern abgestimmt sind. Alle Infrastrukturinvestitionen über verschiedene Herkunftsquellen und geopolitische Interessen hinweg zu koordinieren und entsprechend den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung zu priorisieren, sollte dabei zuallererst in der Hoheit afrikanischer Regierungen und der Afrikanischen Union liegen. Während das teilweise gut funktioniert, besteht noch Potenzial für eine bessere Zusammenarbeit zwischen westlichen und chinesischen Banken und Investoren. Der Diskurs muss fortgeführt und ausgeweitet werden Man kann all diese Überlegungen natürlich weiterspinnen, ergänzen, sie differenzierter betrachten, in den nationalen Kontext verschiedener afrikanischer Länder stellen oder auf regionale Fallbeispiele anwenden und gegebenenfalls auch kritisch hinterfragen. Schließlich können alle Themen hier nur angerissen werden. Wir verstehen sie als Ausgangspunkt einer Diskussion, die in engem Austausch zwischen Staaten, Institutionen, Organisationen und Personen aus afrikanischen Ländern und dem Globalen Norden geführt werden sollte. Denn es liegt im Interesse und auch in der gemeinsamen Verantwortung der afrikanischen Regierungen und der internationalen Gemeinschaft, mit Blick auf eine klimaneutrale und sozial gerechte Gestaltung des Verkehrssektors zusammenzuarbeiten und einen Spurwechsel anzustoßen. ■ 1 Der Inhalt dieses Artikels basiert auf einem von GIZ und Agora Verkehrswende gemeinsam entwickelten englischsprachigen Diskussionspapier. Neben umfangreichen Recherchen wurden die Inhalte insbesondere gemeinsam in Gruppendiskussionen mit afrikanischen Verkehrsexpert*innen entwickelt. Das Papier kann hier heruntergeladen werden: https: / / changing-transport.org/ publication/ transforming-transport-in-africa/ 2 Auch für die Dekarbonisierung des internationalen Luft- und Seeverkehrs sind synthetische Kraftstoffe im Gespräch, die auf grünem Wasserstoff basieren. Bis dies in einem größeren Maßstab möglich ist, ist es noch ein weiter Weg, insb. da es in Afrika noch zu wenig Strom gibt und dieser bis auf weiteres vor Ort gebraucht wird. 3 www.icafrica.org/ fileadmin/ documents/ Publications/ AEO_2019-EN.pdf Verena Knöll Juniorberaterin Verkehr und Klima, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Bonn verena.knoell@giz.de Daniel Bongardt Programmleiter Verkehr und Klima, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Bonn daniel.bongardt@giz.de Bild 4: Infrastrukturinvestitionen in Afrika nach Herkunft Quelle: Autoren, basierend auf Global Infrastructure Outlook 2018 Bild 3: Elektrische Motorräder des afrikanischen Start-ups Zembo werden in Uganda bereits eingesetzt. Foto: GIZ Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 63 Schutz digitaler Bahntechnik Neue Signal- und Kommunikationselektronik bietet Angriffsfläche für Vandalismus und Cyber-Attacken Digitalisierung, Telekommunikationssysteme, Vandalismus, Sicherheitssysteme, Elektromagnetische Verträglichkeit Klimawandel, Verkehrs- und Energiewende: Das Zugaufkommen steigt nicht nur in Deutschland. Moderne Bahnsignaltechnik ist notwendig, um eine effiziente Kommunikation zwischen Zügen zu gewährleisten und die Zugtaktung zu erhöhen. Dadurch kann eine erhöhte Kapazität des vorhandenen Schienennetzes ohne den Neubau von Gleisen erreicht werden. Doch elektronische Systeme sind sowohl Risiken wie Umwelteinflüssen, hoher mechanischer Belastung, Störungsfrequenzen als auch Vandalismus und Cyber- Attacken ausgesetzt. Die Lösung: Sicherheitssysteme, die die Integration der empfindlichen Elektronik schützen. Mustafa Karabuz E ine zunehmende Verlagerung auf den Güter- und Personentransport resultiert in einer noch höheren Taktung sowie Dichte des Schienenverkehrs. Dafür ist eine Eisenbahnsignalisierung und -kommunikation auf dem neusten Stand notwendig. Sind solche Systeme gestört, können beispielsweise Informationen über Geschwindigkeiten und Fahrpläne nicht übermittelt werden, wodurch der effiziente Betriebsablauf behindert wird. Das steigert das Risiko einer Verspätung bis hin zu einem vollständigen Ausfall. Die Schlagzeilen aus diesem Jahr lassen aufhorchen: „Hacker legen Güterbahnverkehr mit Italien lahm” (Deutsche Verkehrszeitung [1]), „Bahnchaos in Norddeutschland: Sabotage ist Grund für Zugausfälle” (Tagesschau [2]), „Sabotage-Akt bei der Bahn: Sicherheitsstruktur soll überprüft werden“ (NDR [3]). Spätestens der Angriff auf das GSM-R-Funknetz in Herne und Berlin im Oktober zeigt, dass materielle Komponenten wie Elektronikschränke in der Bahn und am Gleis, aber auch nicht sichtbare Elemente, wie Netzwerke der Telekommunikation, dringend geschützt werden müssen. Europäische Modernisierungsprojekte Zu den neuen Aufgaben der Bahntechnik zählen Nachrüstung, Digitalisierung, Kosten- und Platzeffizienz. In ganz Europa gibt es daher bereits Modernisierungsprojekte, die die Digitalisierung und Konnektivität von „intelligenten“ Bahnsignal- und Kommunikationssystemen ausbauen und innovative Technik nutzen. Das Stichwort lautet „Smart Rail”, also intelligente Schiene (Bild-1). Die französische Eisenbahngesellschaft SNCF investiert 1 Mrd. EUR in eine Part- Foto: Roland Steinmann/ pixabay Cyber-Sicherheit TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 64 TECHNOLOGIE Cyber-Sicherheit nerschaft namens ARGOS für die Entwicklung der nächsten Generation computergestützter Stellwerke [4]. Solche Stellwerke zeichnen sich durch digitale Technologien zur Überwachung und Steuerung der Zugpositionen auf dem gesamten Schienennetz aus. Ein computergestütztes Stellwerk stellt sowohl Anforderungen an die Fahrzeuge als auch an den Gleisbereich. Gerade die Infrastruktur im Gleisbereich ist ständig gefährdet und stellt für Bahnbetreiber eine große Herausforderung dar. Eine verbesserte physische Sicherheit sowie Cybersecurity sind hier von entscheidender Bedeutung. Moderne Schaltschränke für den Innenbereich von Zügen und modulare Gehäuse zum Schutz der Elektronik im Gleisbereich sind gefragt. Diese Schaltschränke verfügen über einen hocheffektiven Schutz und eine Zugangskontrolle, was unberechtigte Zugriffe auf die Elektronik oder auf das Signalsystem über physische Serververbindungen verhindert. In Deutschland wird Stuttgart 21 (der sogenannte Digitale Knoten Stuttgart) eines der ersten voll integrierten digitalen Bahnsysteme sein, das in das Europäische Eisenbahnverkehrsleitsystem integriert wird. Das schließt die baden-württembergische Landeshauptstadt in das gemeinsame Signalsystem der Europäischen Union ein. Und auch das Umland profitiert davon. Mit dem milliardenschweren Projekt wird der größte Teil des deutschen Schienennetzes auf Digital- Betrieb umgestellt. Mit der Digitalisierung von Fahrzeugen und Bahnhöfen geht der Zukunftstrend der Dezentralisierung einher. Der digitale Knoten Stuttgart ist das erste Signalmodernisierungsprogramm mit dezentraler Architektur. Ähnlich wie bei ARGOS in Frankreich ergibt sich daraus eine stärkere Abhängigkeit von der streckenseitigen und fahrzeugseitigen Elektronik sowie von lokalen Server-Räumen. Das Projekt Stuttgart 21 zeigt, dass es einer breiten Palette unterschiedlicher Gehäuselösungen bedarf - von Technikräumen in Innenbereichen bis hin zu Masten im Außenbereich und Schaltschränken an den Gleisen. Unternehmen wie nVent stellen Produkte her, die die Sicherheitsanforderungen der nächsten Generation von Signal- und Kommunikationsanwendungen auf und neben der Schiene erfüllen. Auch die Projekte ARGOS und Stuttgart 21 hat nVent mit notwendigen Sicherheitssystemen unterstützt. An Bord der Bahnen wurden beispielsweise Elektronikschränke verbaut, die minimalen Platz erfordern, durch Schwenkrahmen aber trotzdem einfachen Zugang zu den Panels und viel Stauraum erlauben. Die speziellen Cabinets mit Stahl- und Aluminiumrahmen erfüllen verschiedene IP/ NEMA-Schutzarten und integrieren Optionen wie perforierte Türen, Lüftereinheiten und Luft-Wasser-Wärmetauscher. Eine EMI-Abschirmungsoption für bis zu 60 dB bei 1 GHz/ 40 dB bei 3-GHz/ 30db bei 18GHz, Schock und Vibrationsfestigkeit nach EN 50155 oder Erdbebensicherheit bis zu Bellcore Zone 4 ist ebenfalls möglich. So halten sie extremen Umgebungen stand und erfüllen gleichzeitig die strengsten Sicherheitsanforderungen (Bild-2). Bei den Projekten SNFC ARGOS und Stuttgart 21 handelt es sich um große Netzprojekte im Fernbahnbereich, aber auch bei städtischen Bahnsystemen bestehen ein Modernisierungsbedarf und die Notwendigkeit für optimierte Sicherheitsbedingungen. Das Projekt London Underground Four Lines Modernization (4LM)[5] zielt darauf ab, vier wichtige Metro-Linien umzugestalten, damit mehr Züge pro Stunde verkehren und die Fahrzeiten verkürzt werden können. Nach Abschluss der Arbeiten wird die Londoner U-Bahn in der Lage sein, Züge zuverlässiger, häufiger und für Fahrgäste komfortabler zu betreiben. Das Projekt umfasst drei Hauptkomponenten: neue moderne Züge, neue Gleise und neue Signalsysteme. Mit der computergesteuerten Zugsteuerung (Computer Based Train Control, CBTC) werden die Züge schließlich autonom fahren können. Und nicht nur die Londoner Metro arbeitet mit der neuen Technologie. Metro-Systeme setzen zunehmend auf CBTC-basierte Systeme, wie Projekte in München, Kopenhagen oder Sofia zeigen. Der Vorteil von CBTC: Die Kapazität einer Bild 1: Komponenten zum Schutz in allen Bereichen der Bahntechnik Alle Bilder: nVent Schroff Bild 2: nVent Schroff Outdoor Schränke im Einsatz bei der DB und SNCF, die dem Vandalismusschutz RC4 entsprechen, einer Schutzklasse für hohe Sicherheitsanforderungen. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 65 Cyber-Sicherheit TECHNOLOGIE Strecke kann voll ausgeschöpft werden. Der Nachteil: Eine Zunahme an weltweit eingesetzten, kritischen Systemen, die vor menschengemachten Bedrohungen und Umwelteinflüssen geschützt werden müssen. Eine weitere Herausforderung sind nicht nur die bahneigene Infrastruktur, sondern auch die Netze, die sie umgeben. In modernen Städten befindet sich eine hohe Konzentration an drahtloser Kommunikation - von Bluetooth über Telefonsignale bis hin zur 5G-Infrastruktur. Diese Signale verursachen elektromagnetische Störungen bei Bahnsignalanlagen. Für den zuverlässigen Betrieb digitaler Bahnsysteme müssen Anlagen eine elektromagnetische Verträglichkeit (EMV) aufweisen. Solche Aspekte müssen bei Großprojekten rund um die Digitalisierung der Bahn beachtet und mit entsprechenden Schutzvorkehrungen abgesichert werden. Bei den verbauten Elektronikschränken von Stuttgart 21 und ARGOS schützt das eingebaute Abschirmungsprinzip sicherheitsrelevante Daten vor Störeinflüssen und Strahlung (geprüft nach IEC 61587-3 und EN 61000-5-7), damit eine EMV herrscht. Die Rahmenprofile sind von einer 45° abgewinkelten Fläche umgeben, die mit leitfähigen Textildichtungen versehen ist. Alle Verkleidungsteile sind elektrisch verbunden und induzierte Störströme fließen automatisch über die Oberflächen ab. Dieses Konstruktionsprinzip zahlt sich doppelt aus: Störungen werden effektiv abgeschirmt, aber es sind keine teuren Oberflächenbehandlungen des Rahmens erforderlich. Voraussetzungen für die Digitalisierung des Zugverkehrs Die Modernisierung der Bahn-Infrastruktur bringt also viele Chancen und Risiken mit sich. Allein die nächste Generation elektronischer Bahntelekommunikation stellt völlig neue Anforderungen an die elektromagnetische Verträglichkeit. Smartphones, Laptops und Mobilfunknetze empfangen und senden elektromagnetische Daten und erhöhen so das Risiko einer Störung und somit auch einer Verspätung oder gar eines Ausfalls. Die zunehmende Anzahl elektronischer Geräte im Fahrzeug und auf der Strecke, wie zum Beispiel moderne Zugsteuerungssysteme, drahtlose Kommunikationssysteme, eingebettete Computer, integrierte IoT-Geräte oder Serverschränke, bieten eine große Angriffsfläche. Entsprechend ist die weitere Digitalisierung des Zugverkehrs abhängig von einer ausreichenden EMV, da sich die Signaltechnik ständig in Reichweite von anderen elektromagnetischen Systemen befindet. EMV spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Cybersicherheit der Telekommunikationssysteme, da ein ausreichender Schutz erforderlich ist, um vorsätzliche externe Signalstörungen zu verhindern. Zusätzlich müssen die Systeme spezifische Anforderungen erfüllen: Die nutzbare Fläche im Fahrraum darf nicht zu große Einschnitte erfahren, dementsprechend platzsparend müssen die Schutzsysteme sein. Strenge globale Schienennormen wie AREMA und CENELEC müssen eingehalten werden, um einen internationalen Standard zu gewährleisten (Bild 3). Fazit Da die Schiene gefragter ist denn je und sich die Taktung zwangsläufig erhöhen muss, wird die Digitalisierung des Bahnverkehrs künftig zunehmen. Für die Bahntechnik heißt das: Je mehr missionskritische, elektronische Komponenten in und um den Bahnverkehr verbaut werden, desto mehr Risiken sind sie ausgesetzt, die es bei der Modernisierung zu beachten gilt. Lösungen zum Schutz von On-board-Elektronikschränken, Outdoor-Gehäusen am Gleis, Schalthäusern an der Strecke sowie Überwachungs- und Kontrollzentren sind unentbehrlich und eine zukunftsfähige Antwort auf Störungsrisiken. ■ QUELLEN 1 www.dvz.de/ rubriken/ land/ schiene/ detail/ news/ italien-nach-hackerangriff-schwer-erreichbar.html 2 www.tagesschau.de/ inland/ bahn-sabotage-101.html 3 www.ndr.de/ nachrichten/ info/ Sabotage-Akt-bei-der-Bahn-Sicherheitsstruktur-soll-ueberprueft-werden,bahn2928.html 4 www.globalrailwayreview.com/ news/ 70787/ sncf-reseau-launchesargos/ 5 https: / / tfl.gov.uk/ travel-information/ improvements-and-projects/ four-lines-modernisation Mustafa Karabuz Vice President und General Manager, nVent Schroff GmbH, Straubenhardt mustafa.karabuz@nvent.com Bild 3: nVent Schroff Varistar CP, bahnzertifiziert für On-Board-Anwendungen in der modernen Signaltechnik wie CBTC und computergestützte Stellwerke Digitalisierung - Chancen mit Risiko Abläufe automatisieren, Künstliche Intelligenz nutzen, Daten zentral in der Cloud vorhalten - das Potenzial konsequenter Digitalisierung im Verkehrsbereich erscheint unerschöpflich. Und doch birgt diese Technologie Risiken, wenn Smartphones, Assistenzsysteme in Autos oder Verkehrsleitzentralen Ziel von Cyber-Angriffen werden: Wie sicher kann Kritische Infrastruktur sein? Der Themen-Schwerpunkt in der Februar-Ausgabe Internationales Verkehrswesen 1 / 2023 soll Optionen und Herausforderungen, Strategien und Lösungen aufzeigen. Ihr Thema? - Bringen Sie Ihre Expertise ein: www.internationales-verkehrswesen.de/ autoren-service Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 66 Digitaler Streckenatlas Was die Bahn vom Bauwesen lernen kann Digitale Bahn, Train Management, Infrastrukturdaten, Digitaler Streckenatlas, Schienenverkehr Digitalisierung hat die Weiterentwicklung des Schienenverkehrs in den letzten Jahren so sehr geprägt wie-kaum ein anderes Thema. Die vielen Papierberge sind fast vollständig verschwunden. Das Ziel der „Digitalen Bahn“ ist dennoch lange nicht erreicht. Denn hierfür müssen nun sämtliche Prozesse zu einem integrierten Gesamtsystem verbunden werden. Damit dies gelingt, braucht es Übersicht. Die kann eine Art digitaler Streckenatlas liefern, der sämtliche Streckendaten detailliert und vollständig dokumentiert. Thomas Langkamm V erbesserte Pünktlichkeit, energieoptimiertes Fahren oder optimal genutzte Zugflotten: All dies sind Versprechen der Digitalisierung. Ausgeschöpft ist ihr Potenzial noch nicht. Denn hierfür bedarf es des lückenlosen Zusammenspiels zwischen den vielen verschiedenen, wenn inzwischen auch digitalisierten Prozessen. Wohin die Reise gehen kann, zeigt z. B. die Verknüpfung von modernen Stellwerken und neuer Sicherungstechnik. Sie ist die Grundlage für den Einsatz fortschrittlicher Zugbeeinflussungssysteme (ETCS), die schnell und effizient auf Ressourcenkonflikte reagieren. Das heißt, automatisiert erkennen sie technische Defekte oder Verspätungen und bewerten ihre Auswirkungen. Vorteile vernetzter Einzelsysteme Ein weiteres Beispiel aus der Praxis: die vollständige Vernetzung von Werkstattplanung, Fahrzeugdisposition und Störungsmanagement im Fahrplan. Das Train Management System PSItraffic/ TMS des Berliner Softwareherstellers PSI Transcom integriert bspw. Fahrzeug- und Werkstattdisposition mit einem Train Control System (TCS) oder Zuglenksystem, das Züge vollautomatisch lenkt und Konflikte auf (Teil-) Fahrstraßenebene ermittelt. Ihr lückenloses Zusammenspiel führt zu einer gleichmäßigeren Auslastung der Werkstatt, reduziert Aufwände bei der Fahrzeugzuführung und sorgt für eine höhere Fahrzeugverfügbarkeit in der Disposition. Erkennt das System Konflikte, z. B. bei veränderter Zugreihenfolge oder notwendiger Umfahrung von gesperrten Gleisen, errechnet das System unter Berücksichtigung aller Folgefahrten, Anschlüsse und Werkstattbestellungen Lösungsvorschläge. Für Fahrdienstleiter und Disponenten, die unter erheblichem Zeitdruck Entscheidungen treffen müssen, bedeutet dies eine erhebliche Entlastung. Matterhorn-Gotthard-Bahn Foto: PSI Transcom TECHNOLOGIE Digitalisierung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 67 Digitalisierung TECHNOLOGIE Denn im Konfliktfall müssen sie nun nur noch die gewünschte Lösung auswählen. An „BIM“ ein Beispiel nehmen Fest steht: Um alle vorhandenen Systeme auf diese Art zu vernetzen, braucht es Überblick. Die Baubranche zeigt mit Building Information Modeling (BIM), wie es geht: Mithilfe dieser Arbeitsmethode werden alle relevanten Bauwerksdaten und entsprechender Software digital modelliert, kombiniert und erfasst und somit von Anfang an das Gebäude und seine spätere Bewirtschaftung integriert geplant. Zwar sind die Anforderungen des Bahnbetriebs deutlich komplexer und heterogener als in der Baubranche, das Ziel einer vollständigen Datenerfassung und vernetzten Planung aller beteiligten Bereiche ist aber dasselbe: Indem sie angestrebte Synergien von Beginn an identifizieren, erhöhen sie die Effizienz des Gesamtsystems und schließen doppelte und fehleranfällige Datenpflege in verschiedenen Einzelprojekten kategorisch aus. Technische Modernisierung setzt also die digitale und präzise (Neu-)Erfassung der gesamten Infrastruktur voraus. Zukunftslösungen basieren auf Synergien Anders als in der Vergangenheit, genügt es bspw. bei der Planung eines neuen Stellwerks nicht mehr, lediglich Informationen zum Schienennetz und zu den Signalpositionen einzubeziehen. Gleiches gilt für die Erstellung einer digitalen Fernsteuerung, für die Modernisierung der Zuglenkung oder bei der Einführung eines automatischen Fahrbetriebs. Ihre Vernetzung hebt enorme Potenziale, setzt aber die gesamte Projektierung in elektronischer Form voraus. Dies betrifft auch Daten, die nicht selten tief in der Stellwerksprojektierung verborgen sind. Dazu zählen z. B. Informationen zu Durchrutschwegen, zum Flankenschutz und zu den sich daraus ergebenden Fahrstraßenausschlüssen. Mit einfließen müssen darüber hinaus auch sämtliche Daten aus flankierenden Fremdsystemen. Auf folgende Fragen muss ein integriertes System Antworten liefern, um sämtliche Abhängigkeiten berücksichtigen zu können: •• Wann kann eine Fahrstraße gestellt werden, ohne andere Züge zu behindern? •• Wird der gerade eingefahrene Zug rechtzeitig wieder abfahren, um die Strecke für den nächsten Zug freizugeben? •• Welche Umfahrungen sind bei verspätungsbedingten Konflikten möglich und sinnvoll? •• Unter welchen Bedingungen wird die Zugreihenfolge geändert, wenn teils verspätete Züge von verschiedenen Linien auf eine gemeinsam genutzte Strecke einfahren? •• Wo befinden sich Gefahrenstellen, an denen ggf. langsamer gefahren werden muss? •• Welche Beschleunigung ist - unter Berücksichtigung der Gleisplangeometrie wie Steigungen und Kurvenradien - optimal, um die Ankunftszeit bei minimalem Energieverbrauch einzuhalten? •• Welche Anschlüsse sollen gehalten werden, wie viel Spielraum gibt es dafür und welche Umsteigezeiten sind erforderlich? •• Wann muss ein Halt um einige Sekunden verlängert werden, um einen Anschluss bei einem leicht verspäteten Zubringer zu halten? Aufwändige Suche nach Informationen In heutigen Modernisierungsprojekten führt die Erfassung der Infrastruktur immer wieder gleich zu Beginn zu massiven Verzögerungen und Kostensteigerungen. Gibt es überhaupt aktuelle Gleispläne, in denen alle später veränderten oder modernisierten Infrastrukturelemente vermerkt sind? Sind die Daten zu Kurvenradien und Steigungen detailliert genug? Sind die Bedingungen zur Stellung von Fahrstraßen (Durchrutschwege, ggf. in verschiedenen Varianten, mit entsprechendem Flankenschutz) dokumentiert? Und sind all diese Daten fehlerfrei? Antworten zu finden, ist mit erheblichen Aufwänden verbunden. Denn die Informationen sind über etliche Quellen verteilt, z. B. Gleispläne, Stellwerkprojektierung, Projektierung der Leitsysteme, Geo-Informationssysteme, Fahrplan- und Anschlusssicherung sowie Fahrgastinformation. Nicht selten widersprechen sich die ermittelten Daten teilweise und erfordern eine Prüfung und Konsolidierung. Weitere Verzögerungen sind die Folge. Gerade bei großen Gleisnetzen braucht es schließlich Monate oder sogar Jahre, um alle Gleisplandaten zu erfassen. Strukturierte Herangehensweise macht den Unterschied Weil Verkehrsunternehmen auf dem Weg zur „Digitalen Bahn“ um diesen Schritt nicht mehr herumkommen werden, kommt es umso mehr auf eine strukturierte Herangehensweise an, die Überraschungen vermeidet und viel Zeit einsparen kann. Bewährt hat sich das folgende Vorgehen: Zunächst wird die technische Infrastruktur auf Basis der Gleisplanunterlagen erfasst. Darauf folgt die Integration und Prüfung der Stellwerksdaten (Fahrstraßen, Zeitverhalten). Die Definition der makroskopischen Netzelemente - von Bahnsteiggleisen und Haltepositionen als Basis externer Fahrplan- und Fahrgastsysteme sowie Anschlusssicherung - verknüpfen das Schienennetz mit den Softwarekomponenten, die eine weniger detaillierte Netzmodellierung verwenden. Um ein automatisches Routing auch bei Störungen zu ermöglichen, werden Regel- und Alternativfahrwege hinterlegt. Der letzte Schritt umfasst die Anreicherung durch weitere externe Daten, z. B. GPS-Koordinaten und Fangbereiche für Bahnhöfe/ Gebiete. Durch sie lassen sich Position und Geschwindigkeit von Zügen innerhalb eines Gleisabschnitts bestimmen, wodurch wiederum das TCS präzise Positionsinformationen ohne aufwendige Schnittstellen zur On-Board-Technik erhält. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Datenerfassung 1. Datenerfassung im Standardformat Für die Datenerfassung empfehlen sich verbreitete und ausgereifte Standardformate wie railML oder EULYNX. Durch sie liegen die Daten vollständig und widerspruchsfrei in einem gut dokumentierten Format vor, was ihre Wiederverwertbarkeit in Nachfolgeprojekten sicherstellt. Selbst wenn später zu integrierende Software diesen Standard nicht unterstützt, ist eine Konvertierung in das jeweils gewünschte Format kostengünstig und leicht möglich. Für die eine oder andere Konvertierung stehen zudem schon Softwarelösungen zur Verfügung. 2. Verwendung eines grafischen Editors Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: Während Excel-Tabellen oftmals vollständige Daten enthalten, z. B. Gleisabschnitte, Weichen- und Signaltabellen, lassen sich mithilfe eines grafischen Programms Inkonsistenzen zwischen den verschiedenen Datenquellen erheblich schneller und zuverlässiger identifizieren. Dabei sind eigens für Gleispläne konzipierte Editoren generischen CAD-Zeichenprogrammen deutlich überlegen. So lässt sich bspw. eine Fahrstraße in mehreren Varianten (verschiedene Durchrutschwege mit entsprechend verschiedenen Flankenschutzbedingungen) und inklusive zahlreichen Detailinformationen (Auflösegruppen oder zusätzliche Stellbedingungen) mit vernünftigem Aufwand handhaben. Empfehlenswert ist zudem ein Editor, der über Simulationswerkzeuge verfügt, mit denen sich die Stellwerksprojektierung praxisnah überprüfen lassen. Von Vorteil sind auch die unterschiedlichen Sichten auf das Netz, etwa die Aufteilung in Isolierabschnitte, Bahnhofsbereiche, Stellwerksbereiche, makroskopische Gleise oder Gleisbereiche mit Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 68 TECHNOLOGIE Digitalisierung spezialisierten Nutzungsarten. Zwar basieren diese Strukturen auf demselben Gleisnetz, lassen sich aber aufgrund der Vielfalt der Informationen nicht in einer einzelnen Darstellung integrieren. 3. Integration verschiedener Sichten Die Integration der verschiedenen Sichten und Detailstufen der verknüpften Systeme ist eine Aufgabe, die häufig unterschätzt wird. Sinnvoll ist, schon früh im Prozess zu klären, welche Datenquellen bei der Netzerfassung zu integrieren sind, welche Abnehmer es für die Daten gibt und worin sich verwendete Datenmodelle unterscheiden. Auch wenn verschiedene Abnehmer ggf. stark abweichende Sichten definieren, die das Netz in der gewünschten, meist weniger detaillierten Form darstellen, sollte das Gleisnetz immer im größtmöglichen Detailgrad erfasst werden. Ein einzelner Gleisplan muss z. B. folgende Sichten erzeugen: Verknüpfung von Fahrplan und Stellwerk Fahrplansysteme kennen oftmals nur eine „makroskopische“ Topologie des Netzes - Stationsgleise und die sich aus den Linienfahrten ergebenden Fahrmöglichkeiten. Für die Zuglenkung gilt es diese Vorgaben in eine detaillierte Gleisplantopologie zu überführen. Soll bspw. ein Zug von einem zum nächsten Bahnhof geleitet werden, muss das Zuglenksystem dieser Vorgabe (Gleis 1 im aktuellen Bahnhof nach Gleis 3 im benachbarten Bahnhof ) eine Abfolge von Fahrstraßen zuweisen, die zugleich keine Konflikte mit anderen Zügen oder Streckensperrungen erzeugt. Integration von Zuglenkung und Stellwerk Auch bei der Topologie von Zuglenksystemen, die fälschlicherweise häufig mit der Stellwerksicht gleichgesetzt wird, ist einiges zu beachten. Bei geteilten Bahnsteiggleisen oder für permissives Fahren zerfallen Gleisabschnitte, in denen sich verschiedene Züge befinden können, in mehrere Teile. Ähnliches gilt für Abstellanlagen, die nach klassischer Bauweise noch ohne Achszähler oder Isolierstöße gebaut sind. Integration funkbasierter Ortungssysteme In einen vollständigen digitalen Streckenatlas gehören zudem alle Daten funkbasierter Ortungssysteme - einschließlich GPS. Diese arbeiten mit räumlichen Koordinaten, die auf Gleisabschnitte, z. B. Bahnhofsbereiche abgebildet werden müssen. Akkurate Erfassung aller Signalpositionen Selbst Systeme, die prinzipiell mit Daten von gleicher Detailtiefe arbeiten, basieren in der Regel auf unterschiedlichen Logiken. So kennt das Stellwerk bspw. Abschnitte, die durch Isolierstöße oder Achszähler getrennt sind, und deren Grenzen davorstehende Signale sichern. Überfährt ein Zug ein Signal, dann befindet er sich aus Sicht des Stellwerks bereits in dem nächsten Abschnitt, obwohl das Signal tatsächlich einige Meter vor der Abschnittgrenze steht. Das Gleisplanmodell muss deshalb für einige Objekte neben der wirklichen Position in der Lage sein, „virtuelle“, abnehmerspezifische Positionen zu verwalten. Die „Digitale Bahn“ kann kommen Es ist angerichtet: Dank der rasanten technologischen Entwicklung der letzten Jahre stehen inzwischen alle benötigten Softwarelösungen und Standards zur Verfügung, die für einen zuverlässigen und sicheren Datenaustausch der „Digitalen Bahn“ notwendig sind. Die Basis der durchgängigen, vollintegrierten Planung schafft ein digitaler Streckenatlas. Zwar ist die vollständige Erfassung der Infrastruktur mit einigem Aufwand verbunden, eine strukturierte Herangehensweise vermeidet jedoch Überraschungen. ■ Thomas Langkamm Projektleiter, PSI Transcom GmbH, Berlin tlangkamm@psi.de Gleisplaneditor von NEAT_Trackplan editor Foto: NEAT Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 69 Wissenschaft TECHNOLOGIE Towards Vision Zero V2X Communication for Active Vulnerable Road User Protection V2X Communication, Vulnerable Road User, ITS-G5, C-V2X, LTE Almost half of the casualties on European roads can be accounted to the group of the so-called Vulnerable Road Users (VRUs). The introduction of V2X Communication makes it possible to extend the awareness horizon of automated and autonomous vehicles, in order to avoid accidents with VRUs. In this paper we learn how V2X communication will protect VRUs, what requirements have to be met, what the key performance metrics are and how different communication and localization technologies perform. The Vision Zero goal is to reduce the road traffic casualties including VRUs to zero. Fabian de Ponte Müller, Estefania Munoz Diaz, Stephan Sand, Clarissa Böker, Lukas Merk I n urban road traffic, motorized vehicles coexist and share space with lessor non-motorized road users, as for instance pedestrian and cyclists. Passenger cars and trucks have a high mass and already at low speed carry great amount of kinetic energy that can cause severe damages in an accident. Pedestrians, cyclists and motorbikes are especially exposed, since they are not surrounded by a steel cage that could protect them in case of an impact. Therefore, pedestrians, cyclists and motorbikers are also known as Vulnerable Road Users (VRU). In Europe, according to the Annual Accident Report of the European Commission 22 %, 10 % and 19 % of all road fatalities correspond to pedestrians, cyclists and motorbikers, respectively [1]. Vulnerable Road User Protection Consequently, VRU protection has gained a lot of attention over the last years. Not only the legislator has pushed towards deploying new safety measures to protect VRUs, but also the automotive industry has gradually incorporated new VRU safety features into vehicles. Passive safety systems aim at minimizing the consequences of an accident. Helmets (worn by cyclists and motorbike) drivers are a good example of a passive safety measure. Some motorbikes are equipped with airbag systems that unfold in case of an accident to absorb the energy of the biker’s body hitting the front part of the motorbike. Passenger cars have also experienced changes in their design to minimize the injuries when hitting against pedestrians and cyclists, e. g. the wipers have been hidden behind the hood. Some passenger cars also feature a system that automatically lifts the hood to absorb part of the energy when an impact with a VRU is detected. Active safety systems aim at avoiding the occurrence of accidents. There has been a strong trend in the past two decades in equipping passenger cars with advanced driver assistance systems (ADAS) and safety systems, as for instance, the electronic Stability Program (ESP), pre-collision warning and automatic emergency brakes (AEB). Since 2016, the European New Car Assessment Programme (Euro NCAP) extended the AEB test criteria to include also the detection of pedestrians. Though, car models to obtain the highest 5-star distinction require to be equipped with pedestrian detection systems. Some truck manufacturers have also put a right-turning assistant for detecting a bicycle in the driver’s dead-angle as an eligible safety system and the European Commission is considering making such systems mandatory across Europe. Active safety systems in vehicles rely on a sensor system that detects the presence of a VRU and enables the vehicle to predict a potential hazardous situation. Usually, cameras, radars or laser scanners are used to this end. These systems work well, especially when combined in a sensor fusion approach. However, they have in common that they can only detect VRUs in their unobstructed field of view. With the introduction of V2X communication, automated vehicles are able to exchange information with other road users, the road infrastructure and back-end servers. Hence, the automated vehicle evolves into a connected and cooperative vehicle, which opens new possibilities for protecting vulnerable road users. By incorporating communication capabilities, the limitations of on-board perception sensors of automated vehicles can partly be compensated. This can be accomplished in two different ways: cooperative VRU awareness and infrastructure-side awareness. Both paradigms are further explained next. Cooperative VRU Awareness In this approach, VRUs equipped with a dedicated electronic device can actively make themselves aware to approaching vehicles. Especially the smartphone or wearable devices, such as smart-watches or smart-glasses, make the possibility of exchanging information between vehicles and pedestrians practical. Today’s smartphones incorporate wireless communication technologies, such as Wi-Fi, cellular communication and Bluetooth and are equipped with multiple sensors, like global navigation satellite system (GNSS) receivers and motion sensors, that can help localizing accurately the device. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 70 TECHNOLOGIE Wissenschaft Smartphones feature a high-level of computational power, include a power supply and come along different human-machine interfaces, such as the display and the haptic and acoustic interfaces. The internal software architecture of these devices makes it relatively easy to deploy new software “Apps”, that make use of all these possibilities. The limiting factor for cooperative VRU protection is however still the size and weight of the devices, the prize and the battery consumption. Although, technological advancement will on the long run make these factors less heavy, a solution is required in the short term. In this regard, the strong increase in electric-bikes, pedelecs and e-scooters in the last years makes the option of cooperative VRU protection increasingly interesting. A relatively large power supply and the ability to transport more weight are key advantages to deploy active localization systems and communication technologies into these means of transport. Cooperative VRU Awareness requires two subsystems: high accuracy localization and reliable, lowlatency communication. VRU Localization For collision avoidance purposes it is necessary to pinpoint all road users on a common map. VRUs can compute their position using the GNSS-receiver embedded in their smartphone. However, a high positioning accuracy is required for collision avoidance purposes and it is difficult to achieve using only GNSS, especially in urban environments. Particularly, a position uncertainty (1σ) of less than half a meter is required to obtain a high detection rate keeping the false positive rate under 10 %. Figure 1 shows the receiver operating curves (ROC) in dependence of the vehicle and VRU position uncertainty at the collision instant. The position accuracy deduced with the information provided by the GNSS receiver embedded in commercial smartphones can be increased using the inertial sensors available in the smartphone as well or maps, among others. Our study shows that the position accuracy reached by GNSS aided by inertial sensors is still not enough for reaching the half a meter accuracy required for collision avoidance purposes. The blue curve in Figure 2-left shows our combined GNSS and inertial sensor solution with a 2D position accuracy of 2,7 m (1σ), while the red curve uses only the GNSS position provided by the smartphone. We have used the smartphone Samsung Galaxy S20 in suburban environment. Likewise, Figure 2-right shows the positioning results for bicycles. The blue curve represents the position accuracy for the combined GNSS and inertial sensors solution, while the red curve represents the GNSS-only position accuracy. For these experiments the Figure 1: Collision detection performance for three different positioning uncertainties (σ = [1m, 0.5m, 0.2m]) All figures by the authors unless otherwise noted Figure 2: CDF positioning error curves for pedestrian localization (left) and bicycle localization (right) using a smartphone in a suburban environment Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 71 Wissenschaft TECHNOLOGIE same smartphone was attached to the handlebar of the bicycle in semi-urban environment. For VRU protection and robust collision avoidance, not only the position is important, but also speed and direction of movement are needed. Since these parameters are not known at infinite precision, also a measure of the accuracy is required. Further, since the aim is to avoid collision that are about to happen, reliable prediction of the movement is required. For a speed of around 40- km/ h, 1.5 seconds are required to get a vehicle to standstill. Hence, this is also the prediction time for the trajectory of the vehicle and the VRU. Whereas vehicle’s future trajectory might be well predicted in this timeframe due to its high mass, it will be more challenging for the case of a bicycle or even a pedestrian. Here dedicated movement and intention models for pedestrians and cyclists are the key to success. V2X Communication Mainly two communication technologies are regarded for exchanging information between VRUs and vehicles: ad-hoc wireless communication or cellular communication. Ad-hoc communication is a broadcast communication without centralized coordination and link establishment. Example of ad-hoc wireless communication are ITS-G5 (or DSRC), which are based on IEEE 802.11p/ bd, or Cellular-V2X over the LTE-PC5 interface. In principle, also traditional cellular communication over a base-station (Uu interface in 3GPP-LTE nomenclature) can be used to transmit the information from VRUs to vehicles. This, however, requires a central server to disseminate and geographically filter the information amongst nodes. The relevant performance metrics for the communication are the update rate, the end-to-end latency, the packet error rate (PER) and the communication range. The highest update rate foreseen for V2X is 10 Hz, although an adjusted update rate in dependence of the node dynamics is used. The end-to-end latency for the ad-hoc communication technologies is usually below 50 ms, as our link-level tests with ITS-G5 and C-V2X on an apron showed [2] (see Figure 3-left). The maximum communication range is dependent on the transmit power and possible obstructions and blockage due to vehicles and buildings. Here we can expect slightly better performance for C-V2X than for ITS-G5 due to the physical layer with improved coding mechanisms and hybrid automatic repeat request (HARQ). Our direct performance tests for a V2V link showed that CV2X had indeed a better performance in terms of a lower PER compared to ITS-G5 when driving around buildings in an in an urban environment (see Figure 3-right). However, packet errors will occur not only due to low signal strength but also due to mutual interference with other nodes. Here, network simulations with different technologies will answer, which technology is mostly suited for crowded urban environments. To keep mutual interference at an adequate level, one approach is to lower the update rate or the TX power. These techniques are as well in the interest of a thrifty power consumption at the VRU’s wearable device. A vehicle driving at 50 km/ h (14 m/ s) will travel 22 m in 1.5 seconds. Hence, a 30 to 50 m transmission range seems appropriately to warn an approaching vehicle on time. We tested a bicycle-vehicle scenario in an urban canyon using ITS-G5 communication and using a TX power of 23dBm. Figure 4 shows the RX power, the range and the PER over time. It can be seen how 80 to 100 m range were achieved with a PER of less than 50 % with this setup. By extrapolation and visual inspection, it can be stated that even with a TX power between 0 to 5 dBm a coverage up to 50 m could be achieved. The line between localization and communication vanishes, when communication technologies are used for localization. This is possible with technologies as for instance IEEE 802.11bd Next Generation V2X, IEEE 802.15.4 Ultrawide Band (UWB) and IEEE 802.11az. The latter two use large radiofrequency bandwidths to per- Figure 3 left: E2E-delay for V2V link using ITS-G5 (blue) and C-V2X (red) for different message lengths. Right: PER for a V2V link in urban environment using ITS-G5 (blue) and C-V2X (red) Figure 4: Pedestrian-vehicle collision scenario in urban canyon. Distance between a pedestrian and a vehicle, PER for a direct ITS-G5 communication link and Rx power at the vehicle over time. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 72 TECHNOLOGIE Wissenschaft form precise round-trip delay measurements and estimate the distance between a moving node and several fixed anchor nodes. Out of several of these ranging measurements the position can be estimated [2]. Infrastructure-side awareness Cooperative VRU Awareness requires the VRUs to carry a dedicated electronic device and, thus, creating a hurdle to a broad system deployment and to a measurable impact to accident statistics. Infrastructure-side awareness represents a paradigm shift in VRU protection. It is not the VRU who actively makes other vehicles aware of its presence, but the road infrastructure. By using a suited perception system, as for instance a camera installed on a nearby pole, road users, including VRUs, are detected, localized and tracked. This information can be encoded into a Collaborative Perception Message (CPM) and transmitted over V2X communication. This approach has been tested at the test field for cooperative and connected driving in Düsseldorf in the frame of the KoMoDnext project. A camera system was placed above a pedestrian crossing and was able to detect crossing pedestrians and generating CPMs, which were broadcasted over ITS-G5, C-V2X and LTE [4]. Not only cameras are suited to detect VRUs at urban intersections. In the frame of the German-funded project VIDETEC, DLR and IMST have tested radio-based detection systems for VRU protection [5]. IMST develops 24 GHz and 77 GHz radar chips that enable anonymous road user classification by processing micro-Doppler signatures with the help of machine learning techniques. In this context, we evaluated a very promising technology based on processing radio signals termed Joint Communication and Sensing, which is foreseen to be a key technology for the future 6th Generation cellular communication. Every node of a distributed array of antennas around the intersection transmits periodic beacons that are received by all other nodes. By intelligent signal processing of the distorted incoming signal, the location and speed of road objects can be obtained. Independent of the perception means, the information about the presence, the movement, the direction and the type of VRU needs to be delivered into the automated vehicle to be fused with the on-board perception sensors, incorporated into its local dynamic map and considered by the vehicle’s automation [6]. To this end, three competing technologies for V2X have been tested in the Düsseldorf field test. At a roadside intersection three radio devices for ITS-G5, C-V2X and LTE were placed on a pole at a height of four meters. The coverage of all three technologies was tested by driving around the south-east block. It could be observed, that CPMs were received over the direct links before having visual connection to the intersection. Figure 5-left shows that a minimum coverage of 114 m could be measured. This represents more than 8 seconds when driving at a maximum speed of 50 km/ h and seems to be sufficient for warning the vehicle about crossing pedestrians. With LTE the highest coverage was obtained. However, a centralized approach will need to decide which information to forward to which vehicle according to distance or route. On the right Figure 5, the E2E delay for all three technologies can be compared to each other. Again, C- V2X has slightly higher delay than ITS-G5, while LTE doubles the latency reaching values above 350ms. VRUs, unlike vehicles, are not restricted to move on roads and can very suddenly change their curse. For sudden events, as for instance a pedestrian making a “last-second” turn onto the street, this timeframe might be already too large to timely react. Especially, if further time for processing and actuation has to be considered. Towards Vision Zero The Vision Zero goal is to reduce the road traffic casualties to zero. V2X enabled connectivity and cooperation will support the highly automated vehicle to drive more efficient in urban environments, while maintaining a high level of safety. We have presented in this article that ad-hoc V2X communication, either through ITS-G5 or C-V2X, is able to convey information about the presence of VRUs in less than 100 ms making it possible for a vehicle to safely maneuver or come to standstill. Therefore, the V2X communication has a great potential to contribute to the Vision Zero. However, in real environments two key aspects of V2X communication have to be guaranteed, namely the robustness of the communication against mutual interference in highly congested environments and semantic “trustworthiness”. These two aspects are key to the vehicle automation that is necessary to avoid hazardous situations between vehicles and VRUs. Furthermore, we have discussed that the VRUs can contribute to their own safety by sharing their position computed e.g. with their own smartphone. However, the Road- Side Unit Figure 5 Left: Coverage of CPM transmissions from RSU at a vehicle during in Düsseldorf. Blue with ITS-G5, Red with C-V2X and Yellow with LTE. Right: E2E delay with all three technologies. Satellite picture provided by Google Earth. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 73 Wissenschaft TECHNOLOGIE position accuracy required for this safety critical application is difficult to meet in urban environments with the current technology. Last but not least, we have seen that RF-based perception system, as for instance Joint Communication and Sensing, are promising candidates to support and enhance camera-based systems for infrastructure based VRU perception. ■ REFERENCES [1] European Commission (2020): Annual statistical report on road safety in the EU 2021, Directorate General for Transport, May 2022 [2] De Ponte Müller, F.; Rashdan, I.; Schmidhammer, M.; Sand, S. (2021): ITS-G5 and C-V2X Link Level Performance Measurements. ITS World Congress 2021, 10.-11. Okt. 2021, Hamburg, Deutschland. [3] Ponte Müller, F.; Munoz Diaz, E.; Perul, J.; Renaudin, V.(2020): Urban Vulnerable Road User Localization using GNSS, Inertial Sensors and Ultra-Wideband Ranging. In: 31st IEEE Intelligent Vehicles Symposium, IV 2020. 2020 IEEE Intelligent Vehicles Symposium, 20.- 23. Okt. 2020, Las Vegas, USA. ISBN 978-1-7281-6673-5. ISSN 2642-7214. [4] Böker, C.; Leich, A.; Andert, F.; Steuernagel, S. (2021): Investigations on Collective Perception for Left Turning Manoeuvres. ITS World Congress 2021, 11.-15. Sept. 2021, Hamburg, Deutschland. [5] Kulke, R.; Hägelen, M.; Jetten, R.; Schmidhammer, M.; De Ponte Müller, F.; Rashdan, I. (2021): Increased traffic safety by means of intelligent detection and localization technologies. EuRAD 2021 18 th European Radar Conference, 16.-18. Okt. 2021, London, UK. [6] Lapoehn, S.; Heß, D.; Böker, C.; Böhme, H.; Schindler, J. (2021): Infrastructure-aided Automated Driving in Highly Dynamic Urban Environments. ITS World Congress 2021, 11.-15. Sept. 2021, Hamburg, Deutschland. Clarissa Böker Institute of Transportation Systems, German Aerospace Center (DLR), Braunschweig clarissa.boeker@dlr.de Lukas Merk Institute of Transportation Systems, German Aerospace Center (DLR), Braunschweig lukas.merk@dlr.de Stephan Sand, Dr. Team Leader Vehicular Applications, Institute of Communications and Navigation, German Aerospace Center (DLR), Weßling stephan.sand@dlr.de Estefania Munoz Diaz, Dr. Team Leader Multimodal Personal Navigation, Institute of Communications and Navigation, German Aerospace Center (DLR), Weßling estefania.munoz@dlr.de Fabian de Ponte Müller, Dr. Senior Researcher, Institute of Communications and Navigation, German Aerospace Center (DLR), Weßling fabian.pontemueller@dlr.de FACING THE CHALLENGES OF MOBILITY Founded in 1949 - bound forward to face the challenges of tomorrow‘s mobility: With an editorial board of renowned scientists and an advisory board of directors, CEOs and managers from all transport industry areas, »Internationales Verkehrswesen« and »International Transportation« - the worldwide distributed English-language edition - rank as leading cross-system transport journals in Europe for both academic research and practical application. Rail and road, air transport and waterway traffic — »International Transportation« and »Internationales Verkehrswesen« stimulate a worldwide interdisciplinary discussion of the numerous defiances in mobility, transport, and logistics. The magazines are targeted at planners and decision makers in municipalities, communities, public authorities and transportation companies, at engineers, scientists and students. With peer-reviewed scientific articles and technical contributions the magazines keep readers abreast of background conditions, current trends and future prospects - such as digitalization, automation, and the increasing challenges of urban traffic. Read more about the magazines and the subscription conditions: www.internationales-verkehrswesen.de www.international-transportation.com INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN AND INTERNATIONAL TR ANSPORTATION »Internationales Verkehrswesen« and »International Transportation« are published by Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, D-Baiersbronn IV_Image_halb_quer.indd 1 IV_Image_halb_quer.indd 1 15.04.2018 19: 50: 55 15.04.2018 19: 50: 55 FORUM Standpunkt Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 74 Ist meine Mobilitätsentscheidung eine Frage der Moral? Ethik, Klimaschutz, Mobilitätsverhalten, Moral Inwieweit ist eine einzelne Mobilitätsentscheidung, wie die Freizeitfahrt mit einem Diesel-SUV, moralisch zu beurteilen? Nachdem Walter Sinnott-Armstrong 2005 eine entsprechende individuelle moralische Verantwortung verneint hat, hat dies in philosophischen Fachkreisen eine intensive, bis heute anhaltende Diskussion ausgelöst. Der Beitrag spiegelt diese Diskussion an Ergebnissen der ökonomischen Ethik und schlägt vor, die moralische Beurteilung des individuellen Mobilitätsverhaltens auf eine Ebene zu richten, die weder ausschließlich auf der derjenigen einzelner Wahlhandlungen, noch ausschließlich auf der ordnungsökonomischen Ebene liegt. Henning Tegner S ind meine persönlichen Mobilitätsentscheidungen eine Frage der Moral? 1 Bereits die Fragestellung stört mich - weder freue ich mich auf moralinsaure Belehrungen, noch nützt mir eine moralische Aufladung meiner alltäglichen Handlungsmuster. Dabei ist grundsätzlich nicht zu bestreiten, dass das Verkehrssystem, das ich alltäglich nutze, einen erheblichen Beitrag zum Klimawandel leistet, und dass sich Veränderungen hin zur Verkehrswende 2 langsamer einstellen als erwartet und erforderlich. Insofern ist die Frage wohl berechtigt, ob mir als Einzelnem eine (moralische) Verpflichtung zukommt, meine Mobilitätsentscheidungen nach den Anforderungen des Klimaschutzes auszurichten. Unbestritten ist sie nicht, wie sich zeigen wird. Gehen wir der Einfachheit halber zunächst von der These aus, dass eine solche Verpflichtung besteht. Beim Einstieg in die Untersuchung helfen drei Kritiker dieser These. Mit einigen ihrer Argumente soll hier die Auseinandersetzung gesucht werden, ohne dass dadurch ein abschließendes Urteil möglich wird. Die Auseinandersetzung wird ergänzt um einige wichtige Argumentationslinien aus dem Zweig der Zukunftsethik. Die Untersuchung würde vermutlich im Unentschiedenen und damit in großer Verwirrung enden, wenn sie nicht die Möglichkeiten einbezieht, die dem Einzelnen durch seine Einflussmöglichkeiten auf das kollektive Verhalten zukommen, bis hin zur Einflussnahme auf politischen Entscheidungen. 1. Moralische Überforderung des Einzelnen? Gibt es vor dem Hintergrund des ernstzunehmenden Klimawandels eine strenge moralische Pflicht, 3 auf eine einzelne Mobilitätsaktivi- 1 Der Text gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Anders als das stilistische Ich suggerieren mag, lassen die nachfolgenden Ausführungen allerdings nicht auf die realen Handlungen des Autors rückschließen. 2 In Anlehnung an Agora Verkehrswende erfordert eine Verkehrswende einerseits eine Energiewende im Verkehr bzw. Antriebswende und andererseits eine Mobilitäts- oder Modalwende. Die Frage nach dem „richtigen“ Mobilitätsverhalten, um die es in diesem Beitrag geht, betrifft den zweiten Baustein der Verkehrswende. 3 Unter strenger moralischer Pflicht verstehe ich im Sinne Birnbachers „vollkommene Pflichten“, die mit einem korrespondierenden moralischen Recht (im Sinne eines Anspruchs) Dritter einhergeht, von mir nicht geschädigt zu werden, vgl. Birnbacher (2014), S.95. Demgegenüber ist die Ausübung „unvollkommener Pflichten“ zwar verdienstlich bzw. tugendhaft, aber nicht geschuldet. Die - nicht durchgängig trennscharfe Unterscheidung zwischen perfekten (vollkommenen) und mittleren (unvollkommenen) Pflichten findet sich erstmals bei Cicero. Entsprechend unterscheidet Kant zwischen Rechts- und Tugendpflichten - erstere geschuldet, zweitere verdienstlich, vgl. Höffe (2018), S. 104 oder Trillhaas (1970), S. 85 ff., 92 tät, nehmen wir eine Fahrt mit dem Diesel-PKW, zu reinen Vergnügungszwecken zu verzichten? Unter dem Titel „It’s not my fault“ 4 geht Walter Sinnott-Armstrong dieser Frage nach und vermutet, dass die meisten Umweltschützer wohl genau dies bejahen würden. In seiner Analyse legt Sinnott-Armstrong vor allem einen konsequentialistischen sowie einen pflichtenorientieren Kriterienkatalog an. 5 Mit dem konsequentialistischen Blick auf die Wirkungen des eigenen Mobilitätshandelns käme die Vergnügungsfahrt demnach zweifellos nicht in Betracht, wenn sie anderen ernsthaft schaden würde. Dies sei jedoch zu verneinen, da eine einzelne Fahrt keinen messbaren Einfluss auf den Klimawandel hat, der nach Sinnott- Armstrongs Auffassung ohnehin bereits eingetreten ist. Des Weiteren könne die Fahrt auch nicht auf indirektem Wege zu hinreichend weiteren schädigenden Handlungen führen, indem etwa meine einzelne Vergnügungsfahrt andere dazu verführt, es ebenso zu tun. Denn einerseits sei mein Einfluss auf das Verhalten bei anderen doch sehr begrenzt, andererseits würden auch Nachahmungsaktivitäten am Ende quantitativ nicht ins Gewicht fallen. Des Weiteren, so Sinnott-Armstrong, lasse sich auch keine Pflicht zur Vermeidung der Vergnügungsfahrt aus dem Grund herleiten, dass ein entsprechender Verzicht vernünftigerweise auch von allen anderen Gesellschaftsmitgliedern zu erwarten wäre. Besteht das Risiko einer Überbeanspruchung natürlicher Ressourcen durch solche Fahrten (und andere Aktivitäten), dann bedürfe es zwingend eines übergeordneten Koordinationsmechanismus, der in ff. Diesseits des Bereichs vollkommener Pflichten liegt auch das Handeln im Adiaphoron, also in dem „freien“, nicht vom moralischen Gesetz beschatteten Raum, der keine moralischen Handlungen erfordert, jedoch die Klugheit, zwischen den Alternativen die richtigen Wertungen vornehmen zu können, vgl. z.B. Trillhaas (1970), S. 75 ff. Klugheit wäre demnach die Tugend des richtigen Bewertens von Handlungen. Für das Verständnis dieses Beitrags ist die Unterscheidung zwischen moralischem Gebot (=-Pflicht) und moralisch Wünschenswertem von wesentlicher Bedeutung. 4 Vgl. Sinnott-Armstrong (2005). 5 Der Konsequentialismus beurteilt die Sittlichkeit einer Handlung nach den Konsequenzen, wie es von der utilitaristischen Ethik gefordert wird, während die Pflichtenethik nach Maßstäben absoluter Pflichten sucht, wie sie sich in Kants kategorischem Imperativ ausdrücken, vgl. z.B. Höffe (2018), S. 61 ff., 65 ff. Geht es um die Frage einer direkten oder auch indirekten körperlichen Schädigung anderer, führen beide Modelle zum gleichen moralischen Gebot, diese zu unterlassen. Der Beitrag verfolgt nachgehend in Anlehnung an die in der sog. Zukunftsethik“ vorherrschende Methodik vor allem den konsequentialistischen Strang, vgl. z.B. Meyer (2018), S. 55 ff. Die Untersuchung aus dem Blickwinkel der Pflichtenethik verdient eine gesonderte Betrachtung. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 75 Standpunkt FORUM diesem Fall - wie der Bau einer Brücke - vom Staat darzubringen sei. Die erforderliche Koordinationsleistung dem bzw. den Einzelnen aufzubürden wäre demnach in praktisch-organisatorischer wie ökonomischer Hinsicht unangebracht und ein Verzicht auf Verschwendung wohl wünschenswert, jedoch nicht streng moralisch geboten. 6 Am Ende seien ohnehin nur die großen Staaten in der Lage, den Klimawandel zu verlangsamen, und hierzu wären sie auch entsprechend verpflichtet. In diesem Sinne sieht auch Dieter Birnbacher als ein Vertreter der Zukunftsethik die Akteure der Weltpolitik in der Hauptverantwortung, den Klimawandel zu bekämpfen. Dem Individuum komme, soweit es keine exponierte, mit Macht ausgestattete Position als Entscheiderin innehat, lediglich eine indirekte Verantwortung für den Klimaschutz zu. Um ihr überhaupt Verantwortung zuweisen zu können, müssten drei Voraussetzungen erfüllt sein: 7 •• Wissen über die Ausgangssituation - auch der Pläne anderer Akteure - und über die Folgen des eigenen Handelns; •• Freiheit zum Handeln oder Unterlassen; •• Feasibility: Möglichkeit, die Effekte auf den Klimawandel zu beeinflussen. 8 Gehen wir einmal davon aus, dass einerseits das Wissen um den Klimawandel bei mir als Mensch im Mobilitätsdilemma grundsätzlich vorhanden ist und sich der CO 2 -„Fußabdruck“ einer einzelnen Autofahrt mithilfe eines marktüblichen Klimarechners ermitteln lässt, und dass weiterhin die Pläne anderer Akteure in der akuten Dilemmasituation keine Rolle spielen. Des Weiteren bestehe die vollständige Freiheit, die Fahrt zu unternehmen oder auch zu unterlassen. Somit verbleibt zur Überprüfung der dritte Punkt - die Frage nach meiner Möglichkeit, auf „die Effekte“ (des mobilitätsbedingten Klimawandels) Einfluss zu nehmen. Verfüge ich also über die Möglichkeit, mit einer einzelnen Mobilitätsentscheidung Einfluss auf die Entwicklung des Weltklimas zu nehmen? In der Zukunftsethik wird diese Frage als „Problem der minimalen Beiträge“ behandelt - in dieser Konstellation ist meine individuelle Handlung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht diejenige, die das „Faß zum Überlaufen bringt“. 9 Ich kann zudem nicht annehmen, dass ausgerechnet mein Verhalten andere dazu animiert, gemeinsam ein Zuviel an Treibhausgas-Emissionen (THG-Emissionen) zu verursachen. Selbst die Einschätzung, dass ich mich mit meiner Fahrt zum „Komplizen“ klimaschädigender Akteure mache, 10 geht wohl fehl, weil sich von meiner einzelnen Fahrt mit dem SUV nicht auf ein generelles, aktiv bejahendes, schädliches Klimaverhalten schließen lässt, auch wenn dieser Rückschluss - so die Vermutung des Verfassers - für manchen Dritten wohl von verführerischer Einfachheit wäre. 11 Insofern ist Birnbacher wohl zuzu- 6 Hiermit kommt Sinnott-Armstrong der Argumentationslinie der nachfolgend in Abschnitt 2 eingeführten ökonomischen Ethik sehr nahe. In seiner zusammen mit Ewan Kingston 2018 verfassten Replik auf die zahlreichen Entgegnungen zu seinem Aufsatz aus 2005 spielt diese Linie allerdings keine Rolle mehr. 7 Vgl. Birnbacher (2016), S. 132 f. 8 Diesen Aspekt sieht auch Homann (2014) S. 107. 9 In der Gegenposition zu Sinnott-Armstrong reichen geringe Wahrscheinlichkeiten aus, um einen „kleinen Beitrag“ als moralisch relevant zu beurteilen, vgl. Kagan (2011), insb. S. 118 ff.: „Do I make a Difference? I might.“ (S. 141), oder in den Worten Birnbachers: „Jede einzelne unterlassene Autofahrt […] leistet einen Beitrag zur Reduzierung der Emissionen, auch wenn dieser Effekt erst in der Kumulation […] signifikant wird.“, Birnbacher (2016), S. 141 ff. Aus Sicht des Verfassers ist es im Übrigen sachgerecht, unter der Problematik des minimalen Beitrags das Beispiel einer einzelnen Autofahrt zu verhandeln, nicht jedoch das Beispiel einer Fernflugreise mit signifikant höheren Emissionen. 10 Zur moralischen Einordnung der Komplizenschaft in der Bioethik vgl. Birnbacher (2016), S. 144 ff. 11 Es könnte von Dritten eine „expressive Signifikanz“ vermutet werden: Meine SUV-Fahrt zeige doch, dass mir der Klimaschutz egal wäre. Tatsächlich läge diese Vermutung wohl dann nahe, wenn ich beispielsweise in gesonderter Handlung einen Social Media-Account anlege, den ich mit Selfies meiner luxuriösen Fahrten füttere. stimmen, dass beim Einzelnen keine moralische Verantwortung für die Klimafolgen zu suchen und zu finden ist, erst recht nicht für die Folgen einer einzigen Vergnügungsfahrt. Indes ist die Frage nach der Reichweite meines persönlichen „minimalen“ Beitrags durchaus weiterführend und daher zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufzugreifen. Eine klar ablehnende Positionierung lässt sich auch bei Karl Homann finden, der die Grenzen der Individualmoral dort zieht, wo das Können der Einzelnen (im Sinne einer wirksamen Einflussnahme) endet. Jenseits dieser Grenzen sei es Aufgabe der Rechts- und Wirtschaftsordnung, dem Einzelnen die richtigen Anreize zu setzen. Bleibt dies aus und werde vom Einzelnen gleichwohl ein bestimmtes moralisches Handeln erwartet, untergrabe dies letztlich die Bereitschaft zum moralischen Handeln überhaupt. In diesem Sinne arbeitet auch Pies aus, dass in der (moralischen) Erwartung an das Individuum, seine Motivation doch so zu ändern, dass es den gesamtwirtschaftlichen Zielen dienlich wird, ein moralistischer 12 bzw. normativistischer Fehlschluss liegen würde. Mit anderen Worten: Selbst wenn ein solcher individueller Verzicht aus übergeordneter moralischer Sicht wünschenswert wäre, wäre eine entsprechende Erwartung an den Einzelnen solange verfehlt, wie die Anreizstruktur nicht so spezifiziert ist, dass alle Mobilitätsteilnehmer einen Anreiz erhalten, auf Freizeit- (oder andere) Fahrten partiell zu verzichten. Folgen wir dieser Argumentationslinie, so deutet sich als Zwischenergebnis an, dass mir als Mensch im beschriebenen Mobilitätsdilemma keine strenge moralische Pflicht zukommt, meine geplante Vergnügungsfahrt zu unterlassen. 2. Klärung der Dilemma-Situation Es lohnt der Überprüfung, wie das eingangs beschriebene Mobilitätsdilemma methodisch überhaupt einzuordnen ist. Hierfür bieten die ökonomische Ethik und die philosophisch dominierte Zukunftsethik unterschiedliche Ansätze: das sogenannte Gefangenendilemma und das „contributors´dilemma“ bzw. Problem der kleinen Beiträge („tiny contributions“). Das aus der spieltheoretischen Literatur bekannte Gefangenendilemma beschreibt im Grundmodell die Situation zweier „Spieler“, die aufgrund einer verfehlten Anreizstruktur proaktiv den anderen „Spieler“ schädigen, um der Schädigung ihrer eigenen Position proaktiv zuvorzukommen. 13 Am Ende stehen also beide Spieler schlechter da. Abstrakt gesprochen entsteht aufgrund der Dilemmastruktur ein Ergebnis, das ursprünglich niemand beabsichtigt hat und das weder aus individueller Sicht noch aus gemeinsamer Betrachtung beider Spieler gewollt ist. Damit beschreibt das Gefangenendilemma eine spezifische Form des institutionellen Versagens. In der Literatur zur ökonomischen Ethik wird eine solche Dilemmasituation häufig u. a. dadurch charakterisiert, dass zwischen den Beteiligten eine strategische Interaktion bzw. eine Interdependenz der einzelnen Handlungen besteht, 14 zudem kennzeichnet sich die Situation durch ein Zugleich von gemeinsamen und konfligierenden Interessen der Handelnden. 15 Wie bereits oben herausgearbeitet, liegt eine echte Interdependenz individueller Handlungen im eingangs beschriebenen Mobilitäts-Dilemma indes kaum vor, und es ist im Hinblick auf die optima- 12 Vgl. Pies (2022), S. 31 f. Tatsächlich kann Moralismus als inhaltlich überzogene Moralforderung verstanden werden, vgl. Mieth/ Rosenthal (2021), S. 37 ff. Um nicht in diese Diskussion zu geraten, neigt der Verfasser zur Verwendung des Begriffs „normativistischer Fehlschluss“, vgl. Suchanek (2007), S. 31. 13 Vgl. Homann (2014), S. 67 ff., 143. 14 Vgl. Suchanek (2007), S. 55 oder Homann (2014), S. 218. 15 Vgl. Homann (2014), ebenda. FORUM Standpunkt Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 76 le Erreichung der Klimaschutzziele auch keinesfalls (im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips) erforderlich, dass ich auf jedwede Vergnügungsfahrt mit dem PKW verzichte. Am Ende ist eine einzelne Autofahrt für Dritte so belanglos, dass auch ein Zugleich von gemeinsamen und konfligierenden Interessen in dieser Hinsicht nicht erkennbar ist. Mit anderen Worten: Die einzelne Fahrt ist einfach zu unmerklich, um eine echte Interaktion auszulösen. Etwas anders nähert sich daher die Zukunftsethik der skizzierten Dilemma-Situation mit der oben skizzierten Konstellation der „kleinen Beiträge“ (tiny contribution) bzw. dem Begriff des „contributors´ dilemma“. Demnach ist der Beitrag jeder einzelnen so geringfügig, dass sie allein nichts bewirken kann, sondern nur, wenn es ihr alle anderen in hinreichendem Maße gleichtun. 16 Der Ökonomin ist dies als Problematik eines öffentlichen Gutes bzw. Kollektivguts bekannt, das vom Einzelnen zwar nur marginal genutzt bzw. verbraucht wird, dessen erstmalige Bereitstellung 17 jedoch erst dann gesichert werden kann, wenn alle Nutzer zu einem angemessenen Beitrag zu dessen Erstellung und Erhalt herangezogen werden. 18 Im Gegensatz zum Gefangenendilemma handelt es sich also um eine extrem schwache Interaktion der Nutzer; 19 gleichwohl - und nur dies hat unsere Situation mit dem Gefangenendilemma gemein - bedarf es zusätzlicher institutioneller Vorkehrungen, um das gesamtgesellschaftliche (öffentliche) Gut einer THG-Minderung im Mobilitätssektor zu erreichen. 20 Wir erhalten somit auf zwei Wegen das Ergebnis, dass meine Freizeitfahrt in moralischer Hinsicht keinem strengen Verbot unterliegt: 1. Im Ergebnis der philosophischen Analyse im Sinne von Sinnott- Armstrong, aber auch im Sinne der Vertreterinnen der Zukunftsethik, ist mein negativer Beitrag so insignifikant, dass sich kein „Sollen“ begründen lässt, die Fahrt zu unterlassen. 2. Aus Sicht der ökonomischen Ethik „kann“ ich allein mangels geeigneter institutioneller Arrangements nicht einmal ansatzweise eine Zielerreichung bewirken, und „soll“ daher folgerichtig nicht verpflichtend aufgefordert sein, die Fahrt zu unterlassen. Ungeachtet dieses Zwischenergebnisses bleibt es unbestreitbar, dass die Begrenzung der Erderwärmung auch mithilfe einer Verkehrswende ein wichtiges Kollektivgut darstellt, das für alle Menschen - zumindest der jüngeren sowie der nachfolgenden Generationen - eine bereits heute verspürbare, zunehmend lebenswichtige Bedeutung hat. Es stellt sich somit die Frage, ob das individuelle Mobilitäts-Dilemma mit dem von Sinnott-Armstrong beschriebenen Szenario hinreichend erfasst wird. Gibt es der konkreten Verkehrsmittelwahl vorgelagerte mobilitätsbezogene Entscheidungen, mit denen eine Einzelperson das Erdklima beeinflussen kann? 16 Als eine von vielen Gegenpositionen vgl. Barnett (2018), mit ähnlicher Argumentation Birnbacher (2016), S. 142. 17 Das neu bereitzustellende öffentliche Gut entspricht in unserem Fall der gesamtgesellschaftlich hinreichenden Reduktion von THG-Emissionen. 18 Vgl. Blankart (2011), S. 60 ff. 19 Wenn Homann (2018), S. 67 und auch Suchanek (2007), S. 59, die Problematik des öffentlichen Gutes als Anwendungsfall der GD-Situation subsumieren, scheinen sie diesem Unterschied weniger Bedeutung zuzumessen, stattdessen verweisen sie auf die Gemeinsamkeit der fehlgeleiteten Anreizstruktur, die optimale Lösungen sowohl in der GD-Struktur als auch in der Problematik des öffentlichen Guts verhindert. 20 Bleibt ein solches Arrangement aus, bleibt beim Einzelnen das schale Gefühl, er selbst trage Opfer, alle anderen jedoch nicht, vgl. Roser/ Seidel (2015), S. 142, Bayertz (2014), S. 22. Oder in den Worten von Hösle besteht das Gefühl der Zwecklosigkeit individueller Aktionen, „wenn es nicht gelingt, dafür zu sorgen, dass der Gute nicht mehr der Dumme ist“, vgl. Hösle (1994), S. 122. 3. Ist Individualmoral grundsätzlich Klima-irrelevant? Um es vorweg zu nehmen - aus Sicht des Verfassers kommt dem Einzelnen durchaus die Möglichkeit zu, mit seinem Mobilitätsverhalten einen wirksamen Einfluss auf das Weltklima zu nehmen. Und hierzu muss nicht der entscheidungsmächtige Mensch bemüht werden, der an den Stellhebeln der Macht sitzt, oder derjenige, der zum zivilen Ungehorsam greift, um etwa mit seinem Fahrzeug oder gleich seinem eigenen Körper Verkehrsblockaden auszuüben. 1. Der erste Schritt ist in der Literatur durchaus anerkannt, hat aber letztlich nur einen indirekten Bezug zur individuellen Mobilität: Er besteht darin, jeden Einfluss zu nutzen, den ich auf Meinungsbildung und Politik nehmen kann, damit diese wirksame Maßnahmen zum Klimaschutz ergreift. 21 In diesem Sinne argumentiert auch Birnbacher, dass der Einzelne, wenn schon nicht das Klima, dann vielleicht doch das Meinungsklima beeinflussen kann. 22 Des Weiteren geeignet erscheinen auch symbolisch wirkende Aktionsformen wie Proteste, 23 Fahrradaktionen, Einsatz für den Ausbau von Radwegen usw., um zu verdeutlichen, dass ich mich als Einzelner nicht zum Komplizen einer wirkungslosen Klimapolitik mache. 2. Hier soll es jedoch um einen anderen Aspekt gehen: Dazu muss ich mir als Individuum zunächst vergegenwärtigen, dass mein gesamter Lebensstil durchaus erhebliche negative Auswirkungen auf nachfolgend lebende Menschen hat. Um es drastisch zu formulieren: Der Lebensstil eines durchschnittlichen US-Amerikaners kostet in der Zukunft etwa zwei Menschenleben. 24 Selbst wenn ich in meiner Argumentation so weit nicht gehen mag, kann ich doch mit Birnbacher zur Annahme zu kommen, dass die Folgen des Klimawandels künftige Personen in ihren Menschenrechten erheblich verletzen. 25 Dies wäre schon Anlass genug, meinen Lebensstil zu überdenken. Nun emittiert der „Durchschnittsdeutsche“ nur etwa 60 % der THG eines Amerikaners, 26 und der Anteil der mobilitätsbedingten Emissionen daraus beträgt im Schnitt etwa ein Fünftel - gleichwohl: Mein individuelles Mobilitätsverhalten hat in Summe ein beträchtliches Potenzial, nachfolgend lebende Menschen gravierend zu schädigen, also in einem Ausmaß, das weder als moralisch irrelevant noch als moralisch unverbindlich klassifiziert werden kann. Was folgt daraus für die Individualmoral? Verantwortung besteht nach Feldhaus in der Einheit von (vollkommener) Pflicht und Klugheit. 27 Wie kann ich als Mobilitätsteilnehmender von heute also dieser Verantwortung gerecht werden? 1. Im Ergebnis dieser Analyse lässt sich aus den gravierenden Folgen meines heutigen Tuns für zukünftige Menschen eine vollkommene Pflicht zur Prüfung und Justierung meines eigenen Lebens- und damit auch meines Mobilitätsstils herleiten, um daraus - potentiell signifikant - resultierende Schädigungen 21 So auch Sinnott-Armstrong (2005), S. 304. Auch dieser Aspekt wird in seinem Aufsatz mit Kingston aus dem Jahr 2018 übrigens nicht mehr erwähnt. 22 Vgl. Birnbacher (2016), S. 147. 23 Dito, S. 146. 24 Vgl. Nolt (2011), S. 9. 25 Birnbacher (2016), S. 96. In diesem Sinne auch das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 147; hinsichtlich der Gefährdung von Leben und Gesundheit auch Rn. 148. 26 Kingston/ Sinnott-Armstrong (2018) gehen soweit zu sagen, dass schon der Ansatz „des durchschnittlichen Amerikaners“ moralisch nicht trägt, weil es ihn nicht gibt, vgl. dort S. 173 f. Nun macht es wenig Mühe, sich im Internet mithilfe eines Emissionsrechners selbst ein Bild vom eigenen Emissionsbeitrag zu machen. Mehr noch - angesichts dieser Schadensdimensionen kann es auch als moralische Pflicht angesehen werden, sich angemessen zu informieren. Andernfalls wäre ein ganz erhebliches „moralisches Schlupfloch“ eröffnet, vgl. Zoller (2015), S. 997, aber auch bereits Jonas (2020), S. 64. 27 Vgl. Feldhaus (1998), S. 281. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 77 Standpunkt FORUM nachfolgend lebender Menschen möglichst zu minimieren. 28 Diese moralische Entscheidung kann mir niemand abnehmen. Sie ist nicht nur ausschließlich Last, sondern auch ein wichtiger Baustein eines guten, gelingenden Lebens in eigener freier Entscheidung: 29 Autonomie und Rationalität sind vereinbar, „wenn die Präferenzen vom Entscheider selbst geformt werden“ 30 können. 2. In der praktischen „klugen“ Umsetzung meines angestrebten Lebensstils kann ich darüber hinaus mein Anreizsystem autonom justieren, indem ich zum Zweck der Selbstbindung 31 geeignete „investive Pflöcke“ einschlage: Verzichte ich auf den Kauf eines SUV oder eines PKW generell, wird mir das eingangs skizzierte Dilemma eines mobilen Menschen in der geschilderten Reinform schon nicht mehr begegnen. Ich kann stattdessen ein gutes, leichtgängiges Fahrrad kaufen, eine Bahncard 100 oder eine ÖPNV-Jahreskarte. Dass die Verfügbarkeit eines Verkehrsmittels die Häufigkeit seiner Nutzung durch Ständigkeit ersetzt, 32 ist ein der Verkehrswissenschaft seit Langem bekanntes Phänomen. 3. Im Sinne der Klugheit setze ich nun die mir zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel so ein, dass sie meiner Mobilitätsstilentscheidung im Sinne meiner Kosten-Nutzen-Betrachtung optimal entsprechen. Ich könnte noch einen Teilschritt weiter gehen und nach dem Gebot der Übelminimierung handeln: 33 Dann wäre die Bedienung meines Mobilitätsbedürfnisses nur gerechtfertigt, wenn ich die negativen Nebenwirkungen auf das geringstmögliche Maß bringe: Gibt es zum Beispiel eine angenehme und finanziell vertretbare ÖPNV-Alternative, ein gleich attraktives, weniger weit entferntes Ziel, kann ich meine CO 2 - Emissionen großzügig kompensieren? 34 Je weiter sich meine geplante Mobilitätsaktivität über die Bagatellgrenze eines „minimalen Beitrags“ erhebt, etwa in Gestalt eines Interkontinentalflugs, desto dringlicher greift das Gebot zur Übelabwägung und ggf. -minimierung. 4. Eine Mitverantwortlichkeit für das Gelingen des staatlichen Handelns macht meine Eigenschaft als Staatsbürger aus. 35 Bei Wahlen mit der Stimmabgabe ein Ja zum staatlichen Klimaschutz zu signalisieren und auf Veränderungen zu drängen, damit das Tempo des Klimawandels gebremst wird, 36 ist das eine. Angemessene, rechtsordnungskonforme Maßnahmen 37 der Regierung gegen den Klimawandel aktiv mitzutragen, auch wenn diese für mich im Einzelnen durchaus belastend sein können, ist 28 In diesem Sinne sieht Singer (2013), S. 447 in der Umweltethik einen Anlass, Verschwendung grundsätzlich zu überdenken, was auf einen erheblichen Verzicht auf üblich erscheinende Konsumgewohnheiten hinausläuft. 29 Vgl. auch Höffes Ausführungen zur Tugend der Besonnenheit, in der sich personale, kollektive und globale Dimensionen überlagern, vgl. ders. (2018), S. 86 f. Bayertz geht darüber hinaus und erkennt sowohl in der antiken Glücksethik als auch bei Cicero die Pflicht, tugendhafte Handlungsdispositionen einzunehmen, vgl. Bayertz, (2014), S. 91 f., 167 ff. 30 Weikard (1999), S. 52. 31 Vgl. Bayertz (2014), S. 170. 32 Vgl. Feldhaus (1998), S. 191. 33 Zum Verhältnis von Übelminimierung und Übelabwägung vgl. SRU (1994), S. 59 ff. 34 Am Ende muss mir bewusst sein, dass mein Verzicht auf gleiche minimale Weise dazu beitragen kann, dass aufgrund sozialer bzw. ökonomischer Rückkopplungseffekte an meiner Stelle ein anderes Individuum die Emissionen für sich in Anspruch nehmen kann, vgl. Roser/ Seidel (2015), S. 137. Meine einzige Möglichkeit, mich wirksam dagegen zu wehren ist so einfach wie ökonomisch radikal: Ich verzichte nicht nur auf meine Autofahrt, sondern nehme zugleich eine finanzielle CO 2 -Kompensation äquivalent zur vermiedenen Fahrt vor. Das Gebot der Klugheit erfordert diesen dritten Teilschritt nicht mehr, es steht mir gleichwohl frei, ihn zu tun. 35 Vgl. den Tugendansatz von Höffe (2018), S. 92 f. oder die ordnungsökonomische Herleitung bei von Broock (2012), insb. Kap. 4, 5, oder mit der kritischen Distanz der Ethik aus protestantischer Sicht auch Trillhaas (1970), S. 429. 36 Vgl. Roser/ Seidel (2015), S. 143; Singer (2013), S. 417. 37 Vgl. die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts (2021), Rn. 192 ff. aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Henning Tegner, Dr. Geschäftsführer, KCW GmbH, Berlin tegner@kcw-online.de das andere. Am Ende kennt niemand besser als ich die Mittel und Wege, mit denen ich mich - bei aller gegebenen Unsicherheit - möglichst effektiv für den Klimaschutz einsetzen kann - sei es privat, professionell oder politisch aktiv. Die eigenen Kräfte und Möglichkeiten dabei nicht zu überschätzen, die eigenen Stärken dagegen wirksam zur Entfaltung zu bringen, 38 entspricht dem Gebot der verantwortungsvollen Klugheit. ■ Der Autor dankt Lara Eiser für den kritischen Austausch und zahlreiche Vorarbeiten. LITERATUR Barnett, Z. (2018): No free Lunch: The Significance of Tiny Contributions, in: Analysis 18 (1), S. 3-13 Bayertz, K. (2014): Warum überhaupt moralisch sein? 2. Aufl., München Blankart, C.B. (2011): Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 8. Aufl., München Birnbacher, D. (2016): Klimaethik. Nach uns die Sintflut? , Stuttgart Bundesverfassungsgericht (2021): Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021, - 1 BvR 2656/ 18 -, Rn. 1-270 Feldhaus, S. (1998): Verantwortbare Wege in eine mobile Zukunft. Grundzüge einer Ethik des Verkehrs, Hamburg Hösle, V. (1994): Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, 2. Aufl., München Homann, K. (2014): Sollen und Können. Grenzen und Bedingungen der Individualmoral, Wien Jonas, H. (2020): Das Prinzip Verantwortung, 8. Aufl., Frankfurt/ Main Kingston, E., Sinnott-Armstrong, W. (2018): What´s Wrong with Joyguzzling, in: Ethical Theory and Moral Practise 21, S. 169-186 Meyer, K. (2018): Was schulden wir künftigen Generationen. Herausforderung Zukunftsethik, Stuttgart Mieth, C.; Rosenthal, J. (2021): Spielarten des Moralismus, in: Neuhäuser, C.; Seidel, C. (Hrsg.): Kritik des Moralismus, 2. Aufl., Berlin 2021, S. 35-60 Nolt, J. (2011): How Harmful Are the Average American´s Greenhouse Gas Emissions? , in: Ethics, Policy and Environment 14, H.1, S. 3-10 Pies, I. (2022): 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik: Ordonomik im Dialog, Berlin Psychologists for Future (2022): Postkarten „Psychische Mechanismen“, www.psychologistsforfuture.org/ wpcontent/ uploads/ 2021/ 08/ Psy4F_Postkarten-psychMechanismen.pdf, Abruf 09.09.2022 Roser, D.; Seidel, C. (2015): Ethik des Klimawandels, 2. Aufl., Darmstadt Seneca, L.A. (1971): Über die Seelenruhe, in: Ders. Philosophische Schriften, Band 2, Darmstadt, S. 101-173 Singer, P. (2013): Praktische Ethik, 3. Aufl., Stuttgart Sinnott-Armstrong, W. (2005): It´s not my Fault, in: Sinnott-Armstrong, W.; Howarth, R. (Hrsg.): Perspectives on Climate Change: Sciene, Economics, Politics, Ethics, Milford, S. 285-307 SRU - Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (1994): Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung, BT-Drs. 12/ 6995 vom 08.03.1994 Suchanek, A. (2007): Ökonomische Ethik, 2. Aufl., Tübingen Trillhaas, W. (1970): Ethik, 3. Aufl., Berlin von Broock, M. (2018): Spielzüge - Spielregeln - Spielverständnis. Eine Investitionsheuristik für die Soziale Ordnung, Marburg Weikard, H.-P. (1999): Wahlfreiheit für zukünftige Generationen. Neue Grundlagen für eine Ressourcenökonomik, Marburg Zoller, D. (2015): Moral Responsibility for Distant Collective Harms, in: Ethical Theory and Moral Practise 18, S.-995-1010 38 So auch der Rat von Seneca (1971), S. 131, oder auch der „Psychologists for Future“ (2022), Folie 12. GREMIEN | IMPRESSUM Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 78 Erscheint im 74. Jahrgang Impressum Herausgeber Prof. Dr. Kay W. Axhausen Prof. Dr. Hartmut Fricke Prof. Dr. Hans Dietrich Haasis Prof. Dr. Sebastian Kummer Prof. Dr. Barbara Lenz Prof. Knut Ringat Verlag und Redaktion Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22 | D-72270 Baiersbronn Tel. +49 7449 91386.36 Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de www.trialog.de Verlagsleitung Dipl.-Ing. Christine Ziegler VDI Tel. +49 7449 91386.43 christine.ziegler@trialog.de Redaktionsleitung Eberhard Buhl, M. A. 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(DLR), Köln Uwe Clausen Univ.-Prof. Dr.-Ing., Institutsleiter, Institut für Transportlogistik, TU Dortmund & Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Vorsitzender, Fraunhofer Allianz Verkehr Florian Eck Dr., Geschäftsführer des Deutschen Verkehrsforums e.V., Berlin Michael Engel Dr., Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Fluggesellschaften e. V. (BDF), Berlin Alexander Eisenkopf Prof. Dr. rer. pol., ZEPPELIN-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Verkehrspolitik, Zeppelin University, Friedrichshafen Tom Reinhold Dr.-Ing., Geschäftsführer, traffiQ, Frankfurt am Main Ottmar Gast Dr., ehem. Vorsitzender des Beirats der Hamburg-Süd KG, Hamburg Barbara Lenz Prof. Dr., ehem. Direktorin Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin Knut Ringat Prof., Sprecher der Geschäftsführung der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Hofheim am Taunus Detlev K. Suchanek Publisher/ COO, GRT Global Rail Academy and Media GmbH | PMC Media, Hamburg Wolfgang Stölzle Prof. Dr., Ordinarius, Universität St. Gallen, Leiter des Lehrstuhls für Logistikmanagement, St. Gallen Ute Jasper Dr. jur., Rechtsanwältin Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek, Düsseldorf Johann Dumser Director Global Marketing and Communications, Plasser & Theurer, Wien Matthias von Randow Hauptgeschäftsführer Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), Berlin Kay W. Axhausen Prof. Dr.-Ing., Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT), Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), Zürich Hartmut Fricke Prof. Dr.-Ing. habil., Leiter Institut für Luftfahrt und Logistik, TU Dresden Hans-Dietrich Haasis Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Maritime Wirtschaft und Logistik, Universität Bremen Sebastian Kummer Prof. Dr., Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik, Wien Peer Witten Prof. Dr., Vorsitzender der Logistik- Initiative Hamburg (LIHH), Mitglied des Aufsichtsrats der Otto Group Hamburg Oliver Wolff Hauptgeschäftsführer Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Köln Oliver Kraft Geschäftsführer, VoestAlpine BWG GmbH, Butzbach Ralf Nagel Ehem. Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Verbandes Deutscher Reeder (VDR), Hamburg Jan Ninnemann Prof. Dr., Studiengangsleiter Logistics Management, Hamburg School of Business Administration; Präsident der DVWG, Hamburg Ben Möbius Dr., Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie in Deutschland (VDB), Berlin Ullrich Martin Univ.-Prof. Dr.-Ing., Leiter Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Direktor Verkehrswissenschaftliches Institut, Universität Stuttgart GESAMMELTES FACHWISSEN Das Archiv der Zeitschrift Internationales Verkehrswesen mit ihren Vorgänger-Titeln reicht bis Ausgabe 1|1949 zurück. Sie haben ein Jahres-Abonnement? Dann steht Ihnen auch dieses Archiv zur Verfügung. Durchsuchen Sie Fach- und Wissenschaftsbeiträge ab Jahrgang 2000 nach Stichworten. Greifen Sie direkt auf die PDFs aller Ausgaben ab Jahrgang 2010 zu. 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