Internationales Verkehrswesen
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2023 | Heft 1 Februar Wie Automatisierung den Alltag verändert - und warum der Fokus auf Sicherheit liegen muss Digitalisierte Mobilität Heft 1 | Februar 2023 75. Jahrgang POLITIK Automatisierung - Vertrauen oder Unbehagen? INFRASTRUKTUR Mehr Künstliche Intelligenz für die Straße? MOBILITÄT Digitale Verkehrsangebote auf dem Prüfstand TECHNOLOGIE Wie Verkehr wirklich „intelligent“ werden soll INTERNATIONAL Where we stand in logistics and public transport www.internationales-verkehrswesen.de GESAMMELTES FACHWISSEN Das Archiv der Zeitschrift Internationales Verkehrswesen mit ihren Vorgänger-Titeln reicht bis Ausgabe 1|1949 zurück. Sie haben ein Jahres-Abonnement? Dann steht Ihnen auch dieses Archiv zur Verfügung. Durchsuchen Sie Fach- und Wissenschaftsbeiträge ab Jahrgang 2000 nach Stichworten. Greifen Sie direkt auf die PDFs aller Ausgaben ab Jahrgang 2010 zu. Mehr darüber auf: www.internationales-verkehrswesen.de Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 4 ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 4 11.11.2018 18: 32: 23 11.11.2018 18: 32: 23 Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 3 Eberhard Buhl EDITORIAL Digitaler Aufbruch K eine Frage: Digitalisierung und Automation eröffnen dem Mobilitätssektor völlig neue Optionen. Das beginnt bei Ticket-Automaten und Ridesharing-Apps und reicht über digitale Verkehrssteuerung bis hin zu automatisiertem Fahren nach SAE Level 4 und 5. Das bringt reale Vorteile: Beim vernetzten und automatisierten Fahren auf der Straße erhöht sich zum Beispiel die Sicherheit, wenn sich Fahrzeuge untereinander vor Straßenschäden oder Glatteis warnen. Im Schienenverkehr steuern und sichern softwarebasierte Systeme Abläufe zuverlässiger als Menschen - und intelligente Infrastrukturen erzeugen Datenströme, die für Funktionalität und Sicherheit künftig unabdingbar sind. Für Flug- und Schiffsverkehr gilt Gleiches. Die fortschreitende Digitalisierung bringt jedoch Herausforderungen mit sich, die in der öffentlichen Diskussion oft unterschätzt werden. Komplexe Software und umfassende Konnektivität, wie sie zum Beispiel für kollaboratives autonomes Fahren notwendig sind, machen diese Systeme verwundbar: Hacker können Sensorgeräte oder die Kommunikation zwischen den Fahrzeugen beeinflussen, die Kontrolle über Autos übernehmen oder Einsatzfahrzeuge lahmlegen. Sogar Ladesäulen, oft an unbewachten Stellen aufgestellt, können betroffen sein: Sie senden neben Daten zum Ladevorgang auch Kundendaten wie Vertragsnummern oder RFID-Identifier an die Abrechnungsstelle. Einfacher ausgedrückt: Wo immer Elektronik steuert und lenkt, beschleunigt, bremst und speichert, ist Schutz vor Cyber- Angriffen wichtig. Neu ist die Erkenntnis nicht. Doch die Sache wird immer dringlicher. Schon im Dezember 2016 stellte der Intel Security Threats Report der McAfee Labs nach einer Umfrage bei über 400 Sicherheitsexperten in unterschiedlichen Ländern, Industrien und Unternehmensgrößen fest, dass allein Ransomware-Angriffe, bei denen Hacker Computerdaten verschlüsseln und nur gegen Lösegeldzahlung wieder freigeben, seit Jahresbeginn um 80% zugenommen hatten. Anfang 2018 warnte 7Alliance, ein Sicherheitsverbund aus sieben etablierten IT-Unternehmen, dass auch die Zahl der Cyber-Angriffe auf Logistik-Unternehmen rasant zunimmt. Und erst kürzlich hat das Cybersicherheits-Unternehmen Group-IB seinen aktuellen Jahresbericht über die wichtigsten globalen Cyber-Bedrohungen veröffentlicht. Demnach wurden innerhalb nur eines Jahres 852 europäische Unternehmen Opfer der Offenlegung vertraulicher Daten auf speziellen „Leaksites“, etwa weil sie Lösegeldforderungen nicht erfüllten. Mit der Veröffentlichung der Daten von 147 deutschen Unternehmen, davon 18 Logistiker, war Deutschland das am stärksten betroffene Land in Europa - und auf Platz 2 weltweit. Zugegeben, es ist nicht so, als würden all die Kassandra-Rufe ungehört verhallen. Zahlreiche Hochschulen, Institute und IT-Unternehmen arbeiten an Strategien und Lösungen für unsere digitale Zukunft. Und auch die Politik scheint in die Gänge zu kommen. Ende August 2022 verabschiedete das Bundeskabinett die vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr vorgelegte Digitalstrategie für Deutschland. Ende Januar tagte erstmals der Beirat Digitalstrategie Deutschland, der Bundesministerien bei der Umsetzung ihrer Projekte und Vorhaben mit fachlicher Expertise unterstützen soll. „Zivilgesellschaft und Wirtschaft sollen den Projektverantwortlichen wichtige Impulse für die weitere Arbeit geben“, ließ Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing verlauten. Gut. Bleibt zu hoffen, dass aus all den bereits existierenden und noch kommenden Vorschlägen, Forschungsergebnissen und Leuchtturmprojekten unter dem Strich mehr erwächst als ein steuerfinanzierter Papiertiger. Eine Digitalstrategie nämlich, die auch das Thema Cyber-Sicherheit gebührend ernst nimmt. An klugen Ideen mangelt es nicht, wie die Beiträge in dieser vorliegenden Ausgabe zeigen. Ihr Eberhard Buhl Internationales Verkehrswesen Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 4 Aktuelle Themen, Termine und das umfangreiche Archiv finden Sie unter www.internationales-verkehrswesen.de POLITIK INFRASTRUKTUR 22 Automatisierte Fahrzeuge in-Europa sicher betreiben Das Testfeld Niedersachsen als Baustein der Genehmigung Lennart Asbach Michael Ortgiese 27 Wie sich die Autobahn digitalisieren will Stefan Jung 30 Reaktivierung als Regionalpolitik Der regionale Einfluss von Eisenbahninfrastruktur: Identität, politisches Vertrauen und ökonomische Perspektiven Regina Weber Stefanie Gäbler Philipp Rollin LOGISTIK Foto: DLR SEITE 22 Foto: H. D. Volz / pixelio.de SEITE 34 Foto: Joshua Woroniecki / pixabay SEITE 15 MOBILITÄT 12 The Gender Mobility Data-Gap Ein Exkurs zur geschlechterspezifischen Datenlücke im- Verkehrssektor Viviane Weinmann 15 Kritische Prozesse mit KI-optimieren Künstliche Intelligenz verbessert die Passagier-Prognose im Luftverkehr Cornelius Toussaint Robert Kaletsch WISSENSCHAFT 18 Wahrgenommene Sicherheit bei-Automatisierung Empirische Ergebnisse über die Sicherheit von automatisierten vernetzten Fahrzeugen aus Nutzersicht Viktoriya Kolarova Jan Grippenkoven 34 Trends und Entwicklungen in-Chinas Logistik Die Pandemie-Krise hat Digitalisierung und Omnichannel- Integration beschleunigt Dirk Ruppik 36 Semitrailer in Germany Ongoing success story in driving the modal shift from road-to-rail Eugen Truschkin 39 EU mobility update Selected mobility studies, guidelines, and new regulations in Europe, announced by the Directorate-General for Mobility and Transport 41 Public Transport Management - where do we stand? André Maia Pereira Josep Laborda www.international-transportation.com INTERNATIONAL 44 Mensch vs. Maschine Sind autonom fahrende Autos die „besseren Fahrer“? Jinwei Zhou Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 5 INHALT Februar 2023 TECHNOLOGIE RUBRIKEN 03 Editorial 06 Im Fokus 11 Kontrapunkt 17 Bericht aus Brüssel 75 Forum Veranstaltungen 78 Impressum | Gremien AUSGABE 2 | 2023 69 Wertvolle Daten für einen intelligenten ÖPNV Wie Netzwerktechnologie den öffentlichen Nahverkehr leistungsfähiger, sicherer und vertrauenswürdiger macht Jan Engelschalt WISSENSCHAFT 71 Künstliche Intelligenz für Bahnanwendungen Potenziale für eine starke Schiene und Herausforderungen in der Zulassung Lars Schnieder Foto: Leiver / pixabay SEITE 46 Foto: Axis Communications SEITE 69 WISSENSCHAFT 46 Nachhaltige Mobilität - Defizit im Freizeitverkehr Das Forschungsprojekt NaTour- HuKi liefert Daten zum-Freizeitverkehr im hessischen Kinzigtal Dana Stolte Petra Schäfer Kristina Epple Ralf Vogler 50 Regionale Mietradsysteme Nutzungsmuster und Verhaltensroutinen am Beispiel der Region Rhein-Neckar Volker Blees Matthias Kowald Iryna Bondarenko Lukas Raudonat 57 Multimodale Mobilitätsplattformen in öffentlicher Hand Herausforderungen auf dem Weg von der Theorie in die Praxis Christina Wolking Justus Trölsch 64 Automatisierter öffentlicher Verkehr in-Grenzregionen Erkenntnisse aus der Erprobung grenzüberschreitender Angebote für Pendler Thomas Bousonville Karim El Gharbi Raphael Frank Sabine Keinath Wilko Manz Isabelle Rösler Jonas Vogt Transport und Verkehr - Versorgungswege - Luftverkehr - Seeverkehr - Kombinierter Verkehr - Instandhaltung Erscheint am 17. Mai 2023 THEMEN, SCHLAGWORTE, AUTOREN, … Schlagen Sie einfach nach: Fach- und Wissenschafts-Artikel aus Internationales Verkehrswesen finden Sie-ab dem Jahr 2000 online in der Beitragsübersicht - auf der Archiv-Seite im Web. www.internationalesverkehrswesen.de/ archiv Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 6 IM FOKUS Seilbahn oder Mini-Shuttle? D ie Weiterentwicklung von ConnX, der neuen „Hybrid-Lösung“ aus Seilbahn und selbstfahrenden Fahrzeugen, macht gute Fortschritte, sagt Seilbahnhersteller Leitner. Gemeinsam mit den slowenischen Fahrzeugentwicklern von Elaphe testet Leitner die innovative Mobilitätslösung derzeit im Test-Lab Sterzing. Das patentierte System soll als Zukunftsmodell für den urbanen Verkehr in den kommenden zwei Jahren marktreif sein. Durch die Kombination aus Seilbahn- Transport und dem Wechsel der Fahrzeuge auf bodengeführte Trassen soll es gelingen, die unterschiedlichsten städteplanerischen Bedürfnisse zu erfüllen, bestehende infrastrukturelle Barrieren wie etwa Gebäude oder Denkmäler zu umfahren und zugleich topographische Unterschiede zu überwinden. Dabei erlaubt ConnX eine komfortable Fortbewegung zu Lande und in der Luft ohne Umstieg. Als duale Lösung bietet sich das System auch als „Missing Link“ zwischen verschiedenen Transportsystemen sowie als „Last Mile Connection“ für Personen und Güter an. Der slowenische Entwickler Elaphe als Experte für In-wheel-Motoren soll die Fahrzeuge für den terrestrischen Transport fit machen. Im Test-Lab in der Südtiroler Gemeinde Sterzing sind derzeit zwei Kabinen und zwei Fahrzeuge im Einsatz, die aufeinander abgestimmt ihre Runden ziehen, wobei die unterschiedlichen Prozesse getestet und optimiert werden. Dazu zählt zum Beispiel auch das Ein- und Aussteigen in der Station, wobei zwei Szenarien im Fokus stehen: Der komplette Stopp des Fahrzeuges in der Station sowie das Durchfahren der Haltestelle mit einer Geschwindigkeit von 0,3 Metern pro Sekunde. Beide Prozesse wie auch die Optimierung der Synchronisation der Fahrzeuge brachten bisher laut Hersteller positive Testergebnisse. Mit dem Plan, in zwei Jahren dieses neue multimodale Konzept fürs urbane Umfeld in Betrieb nehmen zu können, liege man gut in der Zeit. www.leitner.com Bild: Leitner AI-Matters - EU-Netzwerk für Künstliche Intelligenz D rei Einrichtungen aus Baden-Württemberg werden Teil des Netzwerks für Künstliche Intelligenz in der Produktion „AI-Matters“ und erhalten eine Fördersumme von rund 7,9 Millionen Euro. Das Konsortium aus Baden-Württemberg, bestehend aus dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, der Universität Stuttgart und der ARENA 2036, hat sich erfolgreich in einem von der Europäischen Kommission durchgeführten Wettbewerb durchgesetzt und bildet nun mit 22 weiteren Einrichtungen der angewandten Forschung aus acht europäischen Ländern das Netzwerk „AI-Matters“. Das Fraunhofer IPA wird das baden-württembergische Konsortium am Standort Stuttgart koordinieren. Das Netzwerk wird ab 2024 Unternehmen aus ganz Europa an voraussichtlich sieben Standorten Test- und Experimentieranlagen zur Verfügung stellen. So können Anbieter von KI-basierten Komponenten für das produzierende Gewerbe ihre Leistungen an den AI-Matters-Standorten in realistischer Umgebung testen, bewerten und gegebenenfalls zertifizieren lassen. Gerade auch kleine und mittlere Unternehmen mit Produktionsprozessen sollen ihre konkreten Einsatzszenarien für KI experimentell erproben können. Die Förderphase dauert bis Ende 2027, im Anschluss soll sich der dauerhafte Betrieb vollständig aus Kundeneinnahmen finanzieren. https: / / digital-strategy.ec.europa.eu/ de/ activities/ digital-programme Foto: Pete Linforth / pixabay Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 7 IM FOKUS Call for Papers 2023 Themen und Termine auf: www.internationales-verkehrswesen.de Ihre neuen Ergebnisse aus Forschung, Wissenschaft und Praxis in ELCH - der lokal emissionsfreie Reisebus S tadtbusse mit vollelektrischem Antrieb gehören inzwischen zum Straßenbild in vielen deutschen und europäischen Städten. Anders elektrisch angetriebene Reisebusse. Ihre Entwicklung ist ungleich schwieriger, sind doch für den Einsatz in der Praxis zahlreiche hohe Hürden zu überwinden. Unabdingbar und teils gegensätzlich sind Anforderungen an große Reichweite im Fernverkehr, Flexibilität im Einsatz, Zwischenladungen für Batterien, hohe Zuladung und der Raumbedarf für Fahrgäste und Gepäck. Hersteller Daimler Buses hat deshalb zusammen mit renommierten Partnern das Vorhaben „ELCH“ (Electrified Coach) gestartet. Ziel ist es, praxisgerechte und wirtschaftliche vollelektrisch angetriebene Reisebusse zu entwickeln und ab dem Ende dieses Jahrzehnts mit den Marken Mercedes-Benz und Setra vollelektrisch angetriebene Reisebusse anzubieten. Der ganzheitliche Ansatz bezieht alle Aspekte vom Energieverbrauch bis zur Fertigung ein. Zur Beschleunigung der Entwicklung hat sich das Unternehmen deshalb mit renommierten Forschungsinstituten und Praktikern aus der Branche zum Projekt ELCH zusammengeschlossen. Ziel ist die Entwicklung eines modular aufgebauten Antriebsstrangs einschließlich zweier emissionsfreier und praxisgerechter Demonstrations-Fahrzeuge in den kommenden vier Jahren. Sie werden im Anschluss unter realen Einsatzbedingungen erprobt. Die Eignung der einzelnen Komponenten in der Praxis wird systematisch erfasst und dient als Referenzmaß für die Auslegung der Antriebsstränge. Der Bauraum der Fahrzeuge etwa soll so weit wie möglich den heutigen Dieselbussen entsprechen. Außer deren Reichweite sind der Erhalt von Fahrgastkapazität inklusive der Zuladung für das Reisegepäck wichtige Voraussetzungen für den Erfolg von E-Reisebussen. Neben dem Antriebsstrang und der Batterietechnologie messen die Projektpartner den Themen Aerodynamik und Leichtbau eine wesentliche Rolle bei. So befasst sich die Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern- Landau (RPTU) mit zwei Projektbausteinen, die für den Energieverbrauch und damit auch die Reichweite des Fahrzeugs entscheidend sind: der aerodynamischen Optimierung der Außenhülle und der Gewichtsoptimierung durch neue Leichtbaukonzepte. Die Forschenden am Lehrstuhl für Strömungsmechanik und Strömungsmaschinen untersuchen mittels moderner Simulationsmethoden und Experimenten im Windkanal, wie sich der Luftwiderstand der Außenhülle des Busses reduzieren lässt. Parallel beschäftigt sich das Institute for Mechanical and Automotive Design mit Leichtbaukonzepten, um das zusätzliche Gewicht der Batterien und anderer elektrischer Komponenten auszugleichen. Dabei nutzen die Forschenden innovative Methoden, wie etwa die computergestützte Topologie-Optimierung, zur Ermittlung leichtbauoptimierter Strukturen in den verschiedenen Fahrzeugbaugruppen. Weitere Forschungsaufgaben betreffen beispielsweise die Wirtschaftlichkeit der resultierenden Fahrzeugkonzepte aus Sicht der Betreiber. Ziel ist es zunächst, kosteneffiziente Konzepte für einzelne Fahrzeuge und ganze Flotten elektrisch angetriebener Reisebusse für die verschiedenen Einsatzprofile zu identifizieren. In die Ergebnisse fließen im zweiten Schritt Faktoren, wie die Gesamtkosten, Umweltwirkung und die mögliche Integration in bestehende Betriebskonzepte von Busunternehmen, ein. Auf Basis der Konzeptbewertung werden sodann zwei Prototyp-Antriebsstränge entwickelt und in Demonstrator-Fahrzeuge integriert. Damit erfolgt eine Erprobung unter realen Einsatzbedingungen. Koordinator des öffentlich geförderten Projekts ist Daimler Buses. Neben der RPTU zählen zu den Projektpartnern das Karlsruher Institut für Technologie (ITIV - Institut für Technik der Informationsverarbeitung), die Universität Mannheim (MISES - Mannheim Institute for Sustainable Energy Studies) und der Betreiber Flix SE. Der enge Schulterschluss der beteiligten hochkompetenten Projektpartner sichert - unterstützt durch die öffentliche Hand - eine ebenso rasche wie praxisgerechte Entwicklung auf dem Weg zum vollelektrisch angetriebenen Reisebus. www.daimlertruck.com www.rptu.de Illustration: Daimler Truck AG Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 8 IM FOKUS Tabellen und Dashboards wider das Baustellenchaos W ill man Zugleistungen im Güterverkehr schneller und flexibler planen, muss es vor allem einfach(er) sein. Diesem Gestaltungsprinzip folgend, hat das Dortmunder Softwareunternehmen Catkin GmbH ein neues Tool entwickelt: Das Bahn Baustellen Management (BBM). Mit dem BBM-Tool erhalten Anwender die Möglichkeit, Baustellenmeldungen (FPLO und ZvF) für Eisenbahngüterverkehrsunternehmen konstant im Blick zu behalten. Sie können damit schnell und unkompliziert ihre Fahrplanung entsprechend anpassen und Zugleistungen umplanen - zeitsparend und sicher. Hilfreich sei die Weblösung vor allem vor dem Hintergrund des anhaltend hohen Baustellenaufkommens im deutschen Schienenverkehrsnetz, so das Unternehmen. Es sei dabei nicht ausschließlich um das technisch Mögliche gegangen, sagt Catkin-CEO Christian Krüger, sondern um Features, die den Geschäftsalltag erleichtern und gleichzeitig helfen, Kosten zu sparen. Daher legte man auch großen Stellenwert auf eine übersichtliche Tabellenansicht und Dashboards der Fahrplananordnungen, die den Planungsprozess vereinfachen und beschleunigen. Der Status der Fahrplananordnungen wird farblich kenntlich gemacht, ist somit eindeutig erkennbar und jederzeit transparent. Detailansichten sind über eine Schnellfilterfunktion abrufbar. Integriert ist auch ein Adressbuch, in dem relevante Ansprechpartner mit Kontaktdaten aus eingegangenen Meldungen automatisch hinterlegt werden. Das BBM-Tool steht Eisenbahnern ab sofort zur Verfügung. Es lässt sich als moderne Weblösung ohne Installation unmittelbar nutzen, kann aber auch in vorhandene Systeme integriert werden. www.catkin.eu Foto: Catkin GmbH Induktives Laden während der Fahrt N ur 20 Meter lang ist eine neue Teststrecke auf dem Campus der Universität Stuttgart - allerdings können E-Fahrzeuge dort während der Fahrt induktiv aufgeladen werden - und das mit einer Effizienz, die so bisher noch nicht erreicht wurde. Entwickelt hat die Teststrecke ein Forschungsteam des Instituts für Elektrische Energiewandlung (IEW)der Universität Stuttgart im Rahmen des MobiLab-Teilprojekts „Forschungsstraße: Dynamisches Laden und sichere Energieversorgung“. Durch dynamisches Ladens lässt sich die Reichweite batterieelektrischer Fahrzeuge vergrößern, die notwendige Batteriekapazität verringern und die Ladezeit drastisch reduzieren. Das Besondere an der Teststrecke der Universität Stuttgart sind mögliche Wirkungsgrade von mehr als 90 Prozent. Damit ist die Effizienz des induktiven, berührungsklosen Ladens konkurrenzfähig mit dem herkömmlichen konduktiven Laden per Kabel. Die Teststrecke auf dem Campus Vaihingen besteht aus 40 einzelnen Spulenelementen mit einer Grundfläche von 50 mal 48 Zentimeter. Der Abstand zwischen dem Fahrzeug und den Spulen beträgt 20 Zentimeter. Die Strecke erkennt die Position des Fahrzeugs über dem Spulensystem automatisch und versorgt nur die relevanten Primärspulen im Boden. Durch die magnetische Kopplung zur sekundärseitigen Spule im Fahrzeug wird Energie übertragen. Die übertragene Leistung ist proportional zur sekundärseitigen Spulenfläche. Bei gleicher Grundfläche von 0,24 Quadratmetern wird unabhängig von der Fahrzeuggeschwindigkeit kontinuierlich eine Leistung von 10 Kilowatt (kW) übertragen - eine herkömmliche Steckdose liefert 2,3 kW Dauerleistung zum Laden eines E-Autos. Insgesamt bietet die Teststrecke eine konstante und unterbrechungsfreie Leistungsübertragung während der Fahrt. Vorteile bringt kontinuierliches Laden für allem für autonome Fahrzeuge im Shuttle-Betrieb, die rund um die Uhr und ohne Standzeiten während des Ladevorgangs im Einsatz sein könnten. In einem nächsten Schritt will das Forschungsteam deshalb die die kurze Teststrecke zu einer Forschungsstraße auf dem Campus Vaihingen verlängern und mit dem autonom fahrenden CampusShuttle der Universität Stuttgart erproben. Im Rahmen eines Projekts der Friedrich- Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) entsteht eine erste Teststrecke für induktives Laden von Elektrofahrzeugen auch in Bayern. Hier ist das Ziel: Im Rahmen des Projekts E|MPOWER entwickelt ein Team der FAU Technologien sowie Fertigungs- und Bauprozesse, die eine Serienproduktion induktiv ladender Straßen mit der Leistung von 70 kW und mehr möglich machen sollen. Auf dem Weg dorthin soll die kabellose Electric Road System (ERS)- Technologie auf einem einen Kilometer langen Autobahnabschnitt in Nordbayern integriert werden. www.iew.uni-stuttgart.de www.fau.de Foto: Universität Stuttgart Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 9 IM FOKUS Digitalisierung und Elektromobilität als Jobkiller? D igitalisierung und Elektromobilität sorgen für einen grundlegenden Wandel im Automobilbereich. Während die gängigen Erzählungen den Arbeitnehmern oft Defizite und Ängstlichkeit angesichts der anstehenden Umbrüche unterstellen, kommt eine Studie, die auf Initiative des Volkswagen Nachhaltigkeitsbeirates entstanden ist, unter Leitung der Friedrich- Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) zu einem bemerkenswert anderen Ergebnis. Sie beleuchtet anhand der Volkswagen AG, wie sich die Transformationsprozesse für die Beschäftigten darstellen und schließt damit eine Forschungslücke. In der breit angelegten empirischen Studie mit dem Titel „Arbeit und Qualifizierung 2030“ kommt das Forschungsteam zu dem Ergebnis, dass bei den Beschäftigten eine hohe Bereitschaft zu Weiterbildung und persönlicher Veränderung besteht und sie im Transformationsprozess ein grundsätzliches Vertrauen in sich und das Unternehmen haben. Ein zweiter zentraler Fokus der Studie liegt auf den Ressourcen der Beschäftigten, die ihnen zur Verfügung stehen, um für den Umbruch gewappnet zu sein. Auch hier setzt die Untersuchung mit einem anderen Blick an. Statt ein Defizit von vornherein zu unterstellen, konzentriert sich das Forschungsteam auf übersehene, unterschätzte und im Transformationsprozess erst entstehende Ressourcen, die in diesem auch gezielt fruchtbar gemacht werden können. Die Studie eröffnet damit einen Einblick in die - möglicherweise unterschätzten - Potenziale, die im Unternehmen vorhanden sind und für einen erfolgreichen Wandel systematischer entfaltet werden können. So wird die Digitalisierung von den Beschäftigten nicht per se als „Jobkiller“ gesehen, vielmehr finden sich sogar erhoffte und willkommene Entlastungserwartungen, die sich an die Digitalisierung richten. Zugleich wird der Wechsel in eine technisch veränderte Welt nicht grundsätzlich als die große Zäsur empfunden, sondern als gewissermaßen bekannte Normalität. Die Studie klammert aber auch nicht aus, an welchen Stellen die Transformation schmerzliche Einschnitte bedeuten kann - wenn bisherige Expertise beispielsweise plötzlich entwertet, da nicht mehr gebraucht wird. Das für diese Studie erhobene empirische Material gibt einen einmaligen Einblick in den Maschinenraum der Transformation bei Volkswagen. Fast 200 Beschäftigte, Führungskräfte, Expert/ -innen und Interessenvertreter/ -innen kamen in über 100 qualitativen Interviews und zahlreichen Workshops zu Wort. Mehr als 3.520 Beschäftigte gaben über eine quantitative Befragung Auskunft. Ergänzt wurde der einmalige quantitative und qualitative Datensatz um eine Online-Erhebung mit über 600 Beschäftigten der Automobilbranche außerhalb von Volkswagen sowie einer Branchenanalyse. Die Automobilindustrie - als Schlüsselsektor der deutschen Volkswirtschaft - ist deshalb von besonderem Interesse, weil die digitale und die ökologische Transformation diese gleichzeitig und massiver als andere Bereiche trifft. Während die quantitativen Auswirkungen von Digitalisierung und Elektromobilität auf Beschäftigung und Qualifikation in der Automobilindustrie mittlerweile recht gut erforscht sind, ist bislang weniger gut beleuchtet, wie sich die Transformationsprozesse qualitativ in den Beschäftigungsverhältnissen aktuell darstellen. w w w. l a b o ura tory.d e/ fil e s/ d ownlo a d s/ AQ2030-Studie-Essentials.pdf Foto: Chuttersnap / Unsplash 3 Jetzt anmelden Fußverkehr - ohne geht nichts! 4. Deutscher Fußverkehrskongress am 18. und 19. April 2023 in Bremen fussverkehrskongress.de Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 10 IM FOKUS Infrastruktur für Vertiports -Siemens und Skyway kooperieren D urch Innovationen in den Bereichen Flugbetrieb und Flugsicherung entwickelt sich die Luftfahrtindustrie ständig weiter. Mit elektrischen, senkrecht startenden Fluggeräten (electrical Vertical Take- Off and Landing, kurz: eVTOL) erschließt sich ein neuer Mobilitätsmarkt, der sich durch die Entlastung des Verkehrs und die Anbindung von Gebieten, die vom derzeitigen Luftverkehrssystem nur unzureichend bedient werden, positiv auf Kommunen auswirken kann. Nun haben Siemens und Skyway als Provider of Services vereinbart, gemeinsam die für den Betrieb von Vertiports, also Start- und Landeplätze für VTOLs, erforderliche elektrische und digitale Infrastruktur zu bestimmen. Skyway verfügt über umfassende Kenntnisse in den Bereichen Luftraumeinsatzplanung und -management sowie Flugsicherung und Betrieb unbemannter Luftfahrzeuge, während Siemens umfangreiche Infrastrukturkompetenzen in den Bereichen Elektrifizierung, Laden von Elektrofahrzeugen und Anlagenbetrieb besitzt. Im Rahmen ihrer Zusammenarbeit untersuchen Siemens und Skyway den Energiebedarf von Vertiports und entwickeln nachhaltige Stromversorgungs-Lösungen, einheitliche Ladeverfahren und ein übergeordnetes System zur Unterstützung des Flugbetriebs. Innovationen bei der Vertiport-Infrastruktur werden für die künftige Skalierbarkeit des Betriebs elektrischer Senkrechtstarter von entscheidender Bedeutung sein. Gemeinsam wollen die beiden Unternehmen einen durchgängigen eV- TOL-Ladeprozess entwerfen und entwickeln, indem sie die Lade-, Energie- und Softwareanforderungen bewerten, um einen zuverlässigen und effizienten Betrieb zu gewährleisten. Darüber hinaus wollen Siemens und Skyway an innovativen Ideen arbeiten, um die gesamte Planung und Gestaltung von Vertiports zu standardisieren und den Energieverbrauch zu senken. Ein wesentliches Ziel der gemeinsamen Bemühungen ist die Entwicklung praxisgerechter Vertiports. www.siemens.com www.goskyway.com Sichere Drohnenflüge über deutschen Metropolen I m Projekt AKIRA entwickeln Fraunhofer-Forschende zusammen mit Industriepartnern eine bodengestützte Radarplattform für die Überwachung des unbemannten Flugverkehrs der Zukunft. So soll ein sicherer Personen- und Lieferverkehr mit automatisierten Drohnen über deutschen Großstädten Realität werden. Flugreisende im europäischen, asiatischen und amerikanischen Luftraum wissen, dass die Flugsicherung an Flughäfen jederzeit die genaue Position ihrer Maschine lokalisieren kann. Diese radargestützte Technologie gewährleistet den heutigen Personen- und Frachtflugverkehr und verhindert erfolgreich Kollisionen von bemannten Flugobjekten. Das soll bald auch im unbemannten Luftraum über deutschen Städten möglich sein. Forschende der Fraunhofer-Institute IZM und FHR erproben zu diesem Zweck in Zusammenarbeit mit den IT-Sicherheitsexperten ESC Aerospace und ESG die Eignung von kostengünstigen FMCW-Radarkomponenten für ein bodengebundenes Radarsystem zur Detektion von Drohnen und anderen unbemannten Flugobjekten im urbanen Raum. Ziel ist die zuverlässige und permanente Ortung aller kooperativen und nicht-kooperativen Flugobjekte bis zu einer Flughöhe von 100 Metern. Für die Entwicklung eines an die Höhenverhältnisse einer Großstadt angepassten und flächendeckenden Radarnetzes sollen einzelne Detektionskreise mit einer lateralen Ausdehnung von jeweils 500 Metern in einem Netzwerk zusammengeschlossen installiert werden. Diese geschlossenen Sensornetzwerke können dann miteinander kommunizieren. So lassen sich Informationen über die Position von Flugobjekten über einen theoretisch unbegrenzten Raum zuverlässig austauschen und über eine Serverarchitektur effizient überwachen. Die Forschenden am Fraunhofer IZM entwickeln eine geeignete Hardware für die integrierten Radarmodule innerhalb einer Zelle. Da konventionelle planare Antennenstrukturen hierfür nicht geeignet sind, sollen geometriepräzise Antennen auf Grundlage dreidimensional strukturierter Substrate eingesetzt werden - Formenbau und Ausrichtung der Antennen sind allerdings eine technologische Herausforderung. Gestützt von einer innovativen MIMO-Radararchitektur, bilden die 3D-Antennen das Kernstück der Boden-Radar-Stationen mit einer Reichweite von bis zu 500 Metern. Um den unbemannten Luftraum in einer Höhe von 100 Metern vollständig abzudecken, ist die Installation an öffentlichen Gebäuden oder Funkmasten vorgesehen. Als produktneutraler Systemintegrator und Produktentwickler wird ESC Aerospace in dem Projekt sämtliche Daten, die von der ESG Elektroniksystem- und Logistik-GmbH im Drohnendetektionssystem fusioniert werden, gegen Cyberangriffe absichern. Das von ESC Aerospace entwickelte Security Operation Center (SOC) basiert dabei auf den Grundprinzipien der Cybersicherheit: Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität (C-I-A). Dieses SOC wird das Gesamtsystem permanent überwachen, Alarme auslösen und Angriffe von außen effektiv abwehren. Das Projekt läuft bis Ende 2024. www.fkie.fraunhofer.de Illustration: Thanongsak Illustration: Siemens Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 11 Alexander Eisenkopf KONTRAPUNKT Elektromobilität: Des Kaisers neue Kleider? D ie Rolle der Elektromobilität in Deutschland lässt sich wahlweise mit zwei gebräuchlichen Metaphern charakterisieren. Die eine redet von des Kaisers neuen Kleidern, die andere vom Elefanten im Raum. In dem bekannten Märchen übersehen alle Honoratioren, Experten und Berater geflissentlich, dass der Kaiser eigentlich nackt ist, und preisen seine schönen neuen Kleider. Erst ein Kind spricht aus, was tatsächlich ist, denn Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit, wie der Volksmund weiß. Der nackte Kaiser im Märchen ist wie ein Elefant im Raum, den zwar jeder sehen kann, den man aber aus Gründen der Räson nicht benennen darf. Ein Problem wird vielleicht erkannt, aber einfach nicht angesprochen. Und wenn keiner vom nackten Kaiser spricht, kann man ihn auch nicht bloßstellen; die Betrüger, die ihm die neuen, teuren Kleider verkauft haben, kommen ungeschoren davon. Was aber hat das alles mit Elektromobilität zu tun? Bekanntlich ist die Antriebswende mittels Elektromobilität ein wesentlicher Bestandteil der Mobilitäts- oder Verkehrswende und auch eng verknüpft mit der Energiewende, all das eingebettet in das Jahrhundertprojekt der Großen Transformation - ein Begriff, der zuerst vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen eingeführt wurde. Bei so viel Wende wird einem zwar schwindelig, aber hier und heute soll nur die Rede sein von der Antriebswende, also der Elektromobilität zur Dekarbonisierung des Straßenverkehrs. Die diesbezüglichen Ziele der Verkehrspolitik sind bekannt. Auf europäischer Ebene ist ein Aus für neue PKW mit Verbrennungsmotor ab dem Jahr 2035 beschlossene Sache. National plant die Politik mit 15 Mio. Elektroautos im Jahre 2030. Dieses Ziel wurde jüngst durch einen Mobilitätsgipfel im Bundeskanzleramt bekräftigt. Auch für den LKW-Verkehr ist der Umstieg auf batterieelektrische Lösungen bzw. Wasserstoff-/ Brennstoffzellenantriebe geplant. Alles wunderbar: Die Politik hat also zumindest einen Plan, um die Klimaziele zu erreichen. Wo soll denn nun der Elefant sein? Wer trägt keine schönen neuen Kleider, sondern ist nackt? Tatsächlich befindet sich eine ganze Elefantenherde im Raum. Der erste geht an das Ziel, bis 2030 rund 15 Mio. Elektroautos (keine Plug-In-Hybride) auf deutschen Straßen zu haben. Nachdem der Bestand an batterieelektrischen Fahrzeugen zum Jahreswechsel endlich eine Million erreicht hat, müssten im Durchschnitt der nächsten Jahre bei jährlich insgesamt 2,7 Mio. Neuzulassungen rund 1,8 Mio. Elektroautos verkauft werden. Auch wenn die Flottenstandards die Autohersteller quasi zwingen, elektrische Fahrzeuge in den Markt zu drücken, scheint dies eine gewagte Planung - und der Kaiser ist blank bis auf die Unterhose: Das Abschmelzen der Förderkulisse wird das Interesse der Kunden spürbar reduzieren. Stark steigende Strompreise tun ein Übriges, und der Ausbau der Ladeinfrastruktur für eine solche Zahl von Fahrzeugen steht in den Sternen. Wenn dann noch die Bundesnetzagentur Überlastungen und Stromausfälle in lokalen Verteilnetzen befürchtet und temporäre Stromrationierungen für Wärmepumpen und private Elektroauto-Ladestationen ins Spiel bringt, dürfte das die Kauflaune nicht gerade anregen. Ein ausgewachsener Elefantenbulle steht jedoch mit der Klimabilanz der Elektroautos im Raum. Auch wenn die Politik nicht müde wird zu verkünden, „dass ein rascher Hochlauf der E-Mobilität erforderlich ist, um die Klimaziele im Verkehr zu erreichen“, ändert das an der schlechten Klimabilanz der Elektroautos in Deutschland nichts. Der Kaiser ist nun vollständig nackt: Emissionen finden zwar statt, werden aber einfach in andere Sektoren oder Regionen der Welt verlagert - aus den Augen, aus dem Sinn. Zwar halten sich viele Fahrer der in Milliardenhöhe vom Steuerzahler subventionierten Elektroautos für die Spitze der Klimaschutzbewegung, doch ist ihnen selten bewusst, dass die Batterien ihrer Fahrzeuge vielfach mit chinesischem Kohlestrom produziert wurden und dass der Strom aus bundesdeutschen Steckdosen im Durchschnitt des letzten Jahres 432 g/ kWh CO 2 verursachte. Prof. Dr. rer. pol. Alexander Eisenkopf zu aktuellen Themen der Verkehrsbranche POLITIK Mobilitätsdaten Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 12 The Gender Mobility Data-Gap Ein Exkurs zur geschlechterspezifischen Datenlücke im-Verkehrssektor Gender Data Gap, Geschlechtergerechtigkeit, Mobilitätsdaten Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung widmen der Gleichstellung der Geschlechter und ihrer Bedeutung für eine verbesserte Teilhabe, Sicherheit und Chancen für Frauen und Mädchen eine besondere Aufmerksamkeit. Im Verkehrssektor ist die Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit eine Frage der Zugänglichkeit und Sicherheit für Frauen und Mädchen bei der Nutzung von Mobilitätsangeboten. Eine Herausforderung im Vorantreiben der Geschlechtergerechtigkeit besteht darin, die geschlechtsspezifischen Datenlücken zu schließen. In vielen Fällen sind die Daten und Informationen zu allen Aspekten des täglichen Lebens, einschließlich Mobilität, nicht nach dem Geschlecht aufgeschlüsselt oder basieren, wie Caroline Criado-Perez schreibt, auf einer „standardmäßigen männlichen“ Erfahrung. Viviane Weinmann M änner und Frauen haben häufig unterschiedliche Mobilitätsbedürfnisse, die sich aus verschiedenen sozioökonomischen, kulturellen und persönlichen Faktoren ergeben. Einige Beispiele für solche Unterschiede sind: •• Frauen nutzen häufiger öffentliche Verkehrsmittel als Männer, da sie häufiger für die Betreuung oder Pflege von Kindern oder anderen Familienmitgliedern verantwortlich sind und deshalb einen vielseitigeren Tagesablauf haben. •• Frauen sind häufiger von sexueller Belästigung und Gewalt im öffentlichen Raum betroffen, was ihre Wahl von Verkehrsmitteln und Wegen beeinflussen kann. •• Frauen haben häufiger geringere Einkommen als Männer, was den Besitz eines PKW oder die Nutzung eines Fahrservices zu einer größeren Herausforderung macht. Was ist die geschlechtsspezifische Datenlücke? Die geschlechterspezifische Datenlücke im Verkehrssektor bezieht sich auf die Tatsache, dass Daten über Verkehrsnutzung und -bedürfnisse häufig quantitativ gesammelt und analysiert werden. Planungs- und Entscheidungskriterien orientieren sich beispielsweise primär an der Gesamtanzahl von Menschen, die sich von A nach B bewegen. Diese Daten werden i.d.R nicht nach dem Geschlecht oder demographischen Faktoren aufgeschlüsselt. Darüber hinaus berücksichtigen quantitative Datenerhebungen oftmals nicht, dass individuelle Mobilitätsentscheidungen durch persönliche Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf bestimmte Verkehrsträger sowie durch individuelle Fähigkeiten und Ressourcen (z. B. Alter, Einkommen, körperliche Fähigkeiten) massiv beeinflusst werden. Erst qualitative Erhebungsmethoden wie Nutzer*Innen-Befragungen oder Fokus- Gruppen können erweiterte Einblicke in diese Mobilitätsentscheidungen geben. Warum sollten wir die geschlechtsspezifische Datenlücke schließen? Eine geschlechterspezifische Datenlücke im Verkehrssektor kann dazu führen, dass die Verkehrsinfrastruktur und -dienstleistungen für eine Geschlechtergruppe unzureichend oder ineffizient sind, was zu sozialer Ungerechtigkeit und einer unzureichenden Nutzung der Verkehrsinfrastruktur führen kann. Hierzu einige Denkanstöße: Trip Chaining - Fahrten zur Erbringung unbezahlter Betreuungsleistungen wie Kindertransporte und Besorgungen („Mobility of Care“) werden oft durch eine Kombination mehrerer Verkehrsträger zurückgelegt, auch bekannt als Fahrtenverkettung („Trip Chaining“). In vielen Städten weltweit wird diese Verkettung durch fehlende Tarifverbünde und unabgestimmte Fahrpläne erschwert. Mobility of Care - Frauen bewegen sich oft in Begleitung kleiner Kinder; dem liegt ein komplexerer Entscheidungsprozess, was Verkehrsträger oder die Routenwahl angeht, zugrunde. Wie geeignet ist der Weg für einen Kinderwagen? Wie kann ich das Autonomiebedürfnis meines Kindes und unzureichende Verkehrssicherheit in Einklang bringen? Individuelle Sicherheit - Eine im Jahr 2021 durchgeführte IPSOS-Studie ergab, dass 80% der Frauen weltweit in irgendeiner Form Belästigung im öffentlichen Raum erlebt haben. Die Angst vor Belästigung wirkt sich direkt auf die Mobilitätsentscheidungen von Frauen und Mädchen aus und bleibt, wenn sie nicht gemeldet wird, von den Verkehrsbehörden unberücksichtigt. Aber inwiefern geben quantitative Datenerhebungen beispielsweise sinnvoll Auskunft über dysfunktionale oder fehlende Beschwerdemechanismen? Datenforschungsstudie in drei afrikanischen Städten Im vergangenen Jahr initiierte die Initiative „Women Mobilize Women“ (WMW) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) eine Datenforschungsstudie, um die geschlechtsspezifische Datenerfassung in Mobilitätsdaten POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 13 drei afrikanischen Städten (Nairobi, Lagos und Gauteng) methodisch zu pilotieren und Qualität und Verfügbarkeit der nach dem Geschlecht aufgeschlüsselten Datenlage zu verbessern. In vielen afrikanischen Ländern haben Frauen geringere Bildungs- und Beschäftigungschancen als Männer. Sie sind häufiger von Armut und sozialer Ungerechtigkeit betroffen, was ihre Mobilitätsoptionen erheblich einschränkt (auch besser bekannt unter „Transport Poverty“). Frauen in Afrika nutzen deshalb häufiger öffentliche Verkehrsmittel oder gehen zu Fuß. In vielen afrikanischen Ländern sind Frauen häufiger von sexueller Belästigung und Gewalt im öffentlichen Raum betroffen. Durchgeführt wurde die Studie über den WMW Implementierungspartner WhereIs- MyTransport. Dabei wurden insgesamt vier aufeinander aufbauende quantitative und qualitative Methoden zur geschlechtersensiblen Datenerhebung getestet: 1. Desktop-Recherche und 23 Vorab-Interviews: Die Forscher*Innen sammelten Literatur und Studien aus lokalen und internationalen Quellen zur Überprüfung. Diese Einblicke ermöglichten es ihnen, bestehende Bedingungen, frühere Datenerfassungsansätze und Ergebnisse besser zu verstehen und aufzudecken, wo Datenlücken in den derzeit verfügbaren Datensätzen bestehen. Die gewonnen Erkenntnisse flossen in die Ausgestaltung der Fragebögen für die Haupterhebung ein. 2. Umfragen: 335 In-persona- und Online- Umfragen wurden durchgeführt. Die Schwerpunkte lagen auf: Geschlecht, Alter, körperliche Einschränkungen, Arbeit und Einkommen, Haushalt und Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Wahl der Verkehrsmittel, Kosten, Schmerzpunkte und Erfahrungen mit (sexueller) Belästigung. 3. Feldforschung: Sechs „Ride Alongs“ und Hausbesuche wurden durchgeführt, bei denen Forscher*Innen die Frauen auf ihren täglichen Wegen - Tür zu Tür - begleiteten und die Hindernisse notierten, denen sie bei der Nutzung von Verkehrsmitteln begegneten (siehe Bild 1). Während der gesamten Reise wurden Frauen interviewt, um einen detaillierten Einblick in ihre Entscheidungen zu erhalten. So konnten auch Aspekte, die den Teilnehmer*Innen selbst möglicherweise nicht bewusst waren, wie z. B. die Reaktion auf Belästigungen aufgegriffen werden. 4. Forschungslabor: Interaktive Gruppensitzungen mit etwa acht bis 15- Teilnehmer*Innen, bei denen alle gebeten wurden, ihre Transporterfahrungen zu diskutieren. Diese wurden von lokalen Forscher*Innen in lokaler Sprache durchgeführt. Zusammen erörterten sie Mobilitäts- und Entscheidungsmuster, die Frauen und Mädchen bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel begegneten. Die Studie bietet einen methodischen Ansatz dazu, wie Daten geschlechterspezifisch gesammelt werden können, um einen Raum für geschichten- und erfahrungsbasierte Daten zu schaffen. Das heißt: Wer nimmt teil (Befragte und fragende Personen), welche Arten von Daten werden gesammelt und wie werden diese Daten analysiert? Das übergeordnete Ergebnis der Studie ist, dass Frauen keine homogene Gruppe sind. Ihre Bedürfnisse und Schmerzpunkte sind je nach Alter, Beruf, Haushaltsstruktur und Einkommensniveau sehr unterschiedlich: •• Die Höhe des Einkommens beeinflusst die Verkehrsmittelwahl. Wohlhabendere Frauen nutzen mit größerer Wahrscheinlichkeit Fahrdienste, während Frauen mit geringerem Einkommen informelle öffentliche Verkehrsmittel nutzen, da sie in den hohen Kosten alternativer öffentlicher Verkehrsmittel „gefangen“ sind. •• Das Alter wirkt sich auf die Art der erlebten Vorfälle aus. Jüngere Frauen sprechen eher über Erfahrungen mit verbaler und sexueller Belästigung. •• Erschwinglichkeit und standardisierte Tarife haben für Frauen einen hohen Stellenwert. Während die Sicherheit für die meisten Teilnehmer ein vorrangiges Anliegen ist, können Bedenken hinsichtlich der Erschwinglichkeit oder nicht standardmäßiger/ regulierter Tarife manchmal Vorrang haben. Die detaillierten Ergebnisse und Einblicke in die diversen Mobilitätsbedürfnisse werden in der Studie umfänglich aufbereitet. Zusammenfassung Die geschlechtsspezifische Datenlücke im Verkehrswesen zu schließen, bedeutet zum einen, ihre Existenz anzuerkennen, und zum anderen, qualitative Dimensionen bei der Datenerhebung und -analyse aktiv einzubeziehen. Ziel ist es eine pluralistischere Verkehrsplanung zu etablieren und die Beschränkung auf quantitativem und geschlechtsneutralem Parameter, die sich in diversen planerischen Richtlinien oder Regelwerken wiederfinden, aufzuweichen. Die Schließung der geschlechtsspezifischen Datenlücke ist eine Grundvoraussetzung für eine inklusivere Planung und Gestaltung von Verkehrsinfrastruktur und -dienstleistungen. Es gilt sicherzustellen, dass Mobilität für alle Menschen zugänglich und sicher gestaltet ist. ■ QUELLEN UND LINKS Caroline Criado-Perez (2000): Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. btb Verlag, München. Chantal Lailvaux, Louise Ribet, Tam Lunt (2022): Decoding women’s transport experiences: A study of Nairobi, Lagos and Gauteng. WhereIsMyTransport. Studien-Report: https: / / womenmobilize.org/ wp-content/ uploads/ 2022/ 09/ WIMT_Gender-Data-Report_2022.pdf Projektwebseite mit allen Fragebögen, Datensätzen jeder Stadt und Bewegungsprofilen: https: / / genderdata.womenmobilize.org/ Poster „6 Principles to Bridge the Gender Data Gap in Mobility“ mit Leitlinien, wie eine geschlechterspezifische Datenerhebung ermöglicht wird: https: / / genderdata.womenmobilize.org/ wp-content/ uploads/ 2022/ 11/ 221124_WMW_Gender_Data_Poster_Final.pdf Viviane Weinmann Verkehrsplanerin, Sektorvorhaben Nachhaltige Mobilität, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Eschborn viviane.weinmann@giz.de Bild 1 : Ride-Along- Interview in einem Danfo mit einer Mutter aus Lagos, Nigeria Quelle: Where Is My Transport, 2022 Gegründet im Jahr 1990, liefert Trialog seit mehr als drei Jahrzehnten zielgruppenspezifische Informationen für Entscheider in technischen Branchen. Die Trialog Publishers Verlagsgesellschaft ist ein spezialisiertes Medienunternehmen mit klassischen und digitalen Publikationen für Ingenieure, technische Fach- und Führungskräfte und Experten aus Wissenschaft und Forschung. Die crossmedialen Fachmedien des Verlags sind darauf ausgerichtet, diese Zielgruppen in Beruf und Karriere professionell zu unterstützen. Bei Trialog Publishers erscheinen die technisch-wissenschaftlichen Fachmagazine »Internationales Verkehrswesen« (mit den englischsprachigen Specials »International Transportation«) sowie »Transforming Cities | Das Fachmagazin zum urbanen Wandel«. ... sind verlässliche Informationen Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | 72270 Baiersbronn | Schliffkopfstraße 22 | www.trialog.de © Gerd Altmann auf Pixabay Was zählt ... Tri-Eintel-Eigen-Anz-1.indd 1 Tri-Eintel-Eigen-Anz-1.indd 1 18.02.2021 10: 58: 49 18.02.2021 10: 58: 49 Sicherheits-Strategie POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 15 Kritische Prozesse mit KI-optimieren Künstliche Intelligenz verbessert die Passagier-Prognose im-Luftverkehr Gepäckabfertigung, Sicherheitskontrollen, Personalstand, Kontrollstellen-Planung Digitalisierung, der demographische und klimatische Wandel sowie ihre Auswirkungen auf Gesellschaften und Natur gehören zu den weltumspannenden Themen der zurückliegenden Jahre. Die Corona-Pandemie, diverse Naturkatastrophen und der Überfall auf die Ukraine rücken Security und Safety hinsichtlich der Bewegungsfreiheit, der Lieferketten und nicht zuletzt der Kritischen Infrastrukturen mehr und mehr in den Vordergrund. Beispielhaft für den Bereich der Kritischen Infrastrukturen steht der internationale Luftverkehr, der gleichzeitig durch die Faktoren Klimawandel, Demographie, Lieferketten und Digitalisierung unmittelbar beeinflusst ist. Cornelius Toussaint, Robert Kaletsch S ommer 2022, Reisezeit. Millionen emotional aufgeladener Passagiere trafen auf eine weltweit verbundene Infrastruktur mit hohen Interdependenzen. Personalbedingte Störungen der Prozesse am Flughafen haben an vielen Flughäfen zu erhöhten Wartezeiten beim Check-In, den Sicherheitskontrollen aber auch der Gepäckabfertigung geführt. Verspätete und verpasste Flüge trafen auf die Erwartungshaltung, „endlich mal wieder spontan und befreit in die schönsten Wochen des Jahres fliegen“ zu können. Nach zwei Jahren Pandemie war das „Bottleneck“ für nahezu alle personalintensiven Dienstleistungen im Luftverkehr die zeitgerechte qualitative und quantitative Beantwortung der Personalfragen. Teilweise mussten die Unternehmen in wenigen Wochen von Kurzarbeit in den Vollbetrieb durchstarten. Beschränkte Betriebszeiten der Flughäfen sowie die internationale Verzahnung des Flugbetriebs und der Reisebranche führen regelmäßig zu extremen Schwankungen der Auslastung an einem Flughafen, sowohl auf die Saison, die Wochentage als auch auf die Uhrzeit bezogen. So ist der Businessflieger am Freitagnachmittag von Düsseldorf nach München ganz anders am Ende einer Messewoche belegt als der gleiche Flieger in einer „normalen“ Woche. Und natürlich sind die Flieger in die Sonnenziele zum Start der Ferien oder über die langen Wochenenden mit möglichst großen Maschinen und Maximalauslastung unterwegs. Beeinflusst wird der Flow am Flughafen natürlich auch durch die Passagiere selbst, etwa durch den Umfang des mitgeführten und zu kontrollierenden Reisegepäcks und der Ankunftszeit am Flughafen. Die Berücksichtigung und automatische Ausbeziehungsweise Bewertung verschiedener Informationen kann dazu führen, die Abläufe am Flughafen für Passagiere und Dienstleister durch eine möglichst optimale Anpassung der verfügbaren Kräfte an die notwendige Personalstärke und Qualifikation zu optimieren. Diese Grundidee legte die Condor Gruppe zugrunde, als sie mit dem Berliner Start-Up Kineo über den Einsatz von- Künstlicher Intelligenz (KI) zur Prognose tatsächlich zu erwartender Passagiere zur Planung der Flugtage, in Bezug auf die notwendige Anzahl und Zeiträume der zu öffnenden Kontrollstellen, ins Gespräch kam. Künstliche Intelligenz führt zu genauerer Passagier-Prognose Die Condor Gruppe ist bundesweit an mehreren Flughäfen Anbieter für Sicherheitsdienstleistungen gemäß Luftsicherheitsgesetz und bildet mit einer hauseigenen Akademie Luftsicherheitskontrollkräfte aus. Rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sorgen allein an den Flughäfen Dortmund, Braunschweig und Leipzig mit Passagier- und Handgepäcksowie Frachtkontrollen für mehr Sicherheit im Luftverkehr. Obwohl es Condor in der Phase der Pandemie gelungen ist, das vorhandene Personal zu halten und an einzelnen Standorten sogar um über 20 Prozent auszubauen, wissen die Verantwortlichen um die personellen Herausforderungen im Anschluss an die Corona-Krise. Generell gilt es, die knappe Ressource Personal möglichst optimal einzusetzen, damit zum Beispiel in den Peak- Zeiten so viel Personal wie möglich für die Check-in-Schalter, die Kontrollstellen oder auch das Gepäckmanagement zur Verfügung steht, der Flughafen also quasi mit dem Passagieraufkommen synchron „atmet“. Wachstumstrend Flugverkehr vs. Personalauswuchs - Dienstleister nach Corona Entgegen des Wachstumstrends, der laut Flughafenverband ADV im Oktober 2022 um circa 40 Prozent auf 17,73 Millionen Passagiere im Vergleich zum Vorjahresmonat stieg, haben vor allem die personalintensiven Dienstleistungen rund um den Flugverkehr Schwierigkeiten bei der Rekrutierung des notwendigen Personals. Dies geht auf eine Vielzahl von Gründen zurück. Unter anderem sind die behördlichen Zulassungsverfahren (Überprüfung der Zuverlässigkeit) für Mitarbeitende im Bereich der Luftsicherheitskontrollkräfte häufig langwierig und führen dazu, dass mindestens die Hälfte der Bewerber bis zum Start der Ausbildung entweder das Interesse verlieren (und einen anderen Job ergriffen haben) oder zulassungsrelevante Erkenntnisse vorliegen und so ein Einsatz behördlich untersagt wird. POLITIK Sicherheits-Strategie Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 16 Obwohl Luftsicherheitskontrollkraft kein Ausbildungsberuf ist, sind die Verdienstmöglichkeiten mit rund 20 Euro brutto pro Stunde zzgl. Zuschlägen auch für Quereinsteiger aus anderen Berufen interessant und liegen zum Beispiel oberhalb der Vergütung für einen Dachdeckergesellen in NRW. Die Attraktivität des Jobs wird jedoch durch die Arbeitszeiten getrübt, deren Schwerpunkte natürlicherweise in den Ferienzeiten und auch an den Wochenenden liegen. An den meisten Flughäfen sind die Kontrollstellen nur wenige Stunden am Morgen und am Nachmittag erforderlich und werden entsprechend durch die Auftraggeber vergütet. Dies begründet einen hohen Anteil von Teilzeitbeschäftigten bei den Kontrollkräften, aber auch sonstigen Tätigkeitsbereichen im Flughafenbereich. KI-Planungsunterstützung erhöht Personaldienstleistungsattraktivität Um für Mitarbeitende und Auftraggeber als Unternehmen attraktiv zu sein, ist eine möglichst frühzeitige und passgenaue Dienstplanung wichtig. Für die Planung des Personalbedarfs nach Menge und Zeit sind Daten seitens der Fluglinien, des Flughafenbetreibers sowie der behördlich zuständigen Stelle (Bundespolizei oder Bezirksregierung) erforderlich. Die Planung erfolgt dabei durch die Unternehmen im Groben (Urlaubsplanung) mit einem Vorlauf von bis zu 14 Monaten und im Detail (Tageseinsatzplanung) bis zu acht Wochen und damit zu einer Zeit, in der nur ein Teil der tatsächlichen Passagiere ihren Flug gebucht haben. Und genau hier greift die KI von Kineo als vorgelagertes System ein. Aus den unterschiedlichen Daten-Quellen und den Daten der Vergangenheit wird mit Hilfe von speziell auf den Bedarf am Flughafen entwickelten Algorithmen eine Vorhersage über das zu erwartende Passagieraufkommen am Tag X mit einer durchschnittlichen Abweichung von lediglich 15 Prozent erstellt. Zugleich wird das zur Verfügung stehende Stundenpotential bestmöglich - im Sinne der optimalen Verteilung von Kontrollstellen zu Passagieren - auf den Monat aufgeteilt. Im Gegensatz zu einem (behördlichen) Durchschnittswert als allgemeine Vorgabe besteht mit der Kineo-Lösung eine detaillierte Planungsgrundlage, deren Präzision mit fortschreitender Übernahme von Ist-Zahlen und weiteren Parametern - etwa Messe- und Veranstaltungsterminen - kontinuierlich zunimmt. Vereinfacht gesagt, nutzt die KI eine menschlich nicht zu verarbeitende Anzahl von Einflussparametern und Planungsalternativen, um die bestmögliche Lösung für die Planung zu finden. Ein Schach-Computer ist gegen die Potentiale der Kineo-KI eine relativ simple Rechenmaschine. Der Kineo-Trick Das Berliner Start-Up Kineo hat sich zum Ziel gesetzt, KI vor allem dem deutschen Mittelstand näherzubringen. In der Regel liegt der Fokus von Kineo auf der internen Prozessoptimierung. Das bedeutet: konkrete Anwendungsgebiete wie beispielsweise Forecasting, Logistikoptimierung, Predictive Maintenance oder Qualitätskontrollen. Im vorliegenden Fall schienen die Wertschöpfungspotenziale auch jenseits der internen Prozessoptimierung der Condor Gruppe zu liegen. Denn eine erfolgreich umgesetzte „KI-gestützte Passagier-Prognose“ wäre auch für viele andere Unternehmen unter anderem am Flughafen sinnstiftend und wertschöpfend. Zusätzlich tangierte die Idee den Nerv der Zeit. Die Gespräche fanden im Sommer 2022 statt, als sich die Schlagzeilen der Leitmedien mit überlasteten Flughäfen und stundenlange Wartezeiten an den Sicherheitskontrollen förmlich überschlugen. Beiden Parteien nutzten die Chance, gemeinsam ein Produkt zu entwickeln. Kineo implementierte erfolgreich eine Softwarelösung, die über eine KI-gestützte Passagier- Prognose hinaus auch noch die komplette monatliche Kontrollstellen-Planung übernimmt. Dabei evaluiert die KI zu jedem Zeitpunkt, welche Öffnungskonfiguration das vorhergesagte Passagier-Aufkommen effizient und somit im Sinne einer reisefreundlichen Abwicklung bedient. Berücksichtigt werden, neben der Vorhersage, zusätzliche Parameter, wie zum Beispiel das verfügbare Stundenkontingent oder gesetzliche Vorgaben und Konformitäten. Im Ergebnis steht ein fertiger Plan, der neben der tatsächlichen Planung auch dienstlich relevante Formulare ausfüllt und dem Nutzer eine Orientierung bereitstellt. Durch die Kombination aus Branchen- Wissen der Condor Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner und Machine Learning-Expertise seitens Kineo, konnte in weniger als einem Monat ein funktionierender und testbarer Prototyp entwickelt werden. Die Genauigkeit und Stabilität der Machine Learning-Lösung beziehungsweise des Forecasts begeisterte - und mittlerweile ist ein fertiges und einsetzbares Produkt entstanden, das viele Unternehmen gewinnbringend einsetzen können. Fazit und Ausblick Aus Sicht der Condor Gruppe hat sich die Zusammenarbeit als großer Erfolg erwiesen. Nach dem knapp fünfwöchigen Kineo- Lighthouse-Prozess zeigten sich erste Erfolge. Insbesondere für den Kontrollstellen- Planungsprozess ergeben sich erhebliche Zeitvorteile, da auf der Grundlage der KI- Daten die Anzahl und Zeiträume zu besetzender Kontrollstellen bei verfügbarem Stundenvolumen mit einer Zeitersparnis von 70 Prozent und drastisch verbesserter Berücksichtigung der über alle Flüge kumulierten Passagierströme ermittelt werden kann. Für die eigentliche Personalplanung verbleibt somit mehr Zeit und die Fehlplanungen von Ressourcen werden reduziert, so dass das Personal möglichst dann vorhanden ist, wenn es für die Kontrolle der Passagiere erforderlich ist. Schließlich bietet die Condor-Kineo-Lösung auch Potential, um gemeinsam mit den übrigen Stakeholdern an einem Flughafen auch Flugplananpassungen mit belastbaren Prognosen zu diskutieren, die eine Gesamtoptimierung für alle Beteiligten erlaubt. In Zukunft werden neben der Fortschreibung der Daten der Vergangenheit auch andere Parameter die KI-gestützte Planung optimieren, zum Beispiel Besonderheiten durch Heimspiele der rund um den Flughafen vorhandenen Sportvereine, Messen und so weiter. Selbstverständlich ist die Methodik auch für andere Flughäfen und Dienstleistungen rund um einen Flughafen einsetzbar - was nutzt es schließlich, wenn die Passagiere zwar gut durch die Kontrollstellen kommen, dann aber teils tagelang auf ihr Gepäck warten müssen. Kineo und Condor haben es sich zur gemeinsamen Aufgabe gemacht, Lösungen in personalintensiven Bereichen zu entwickeln, die den besseren Einsatz der zunehmend knappen Ressource Personal fördern. ■ Cornelius Toussaint, Dipl.-Ing., Dipl.-Kfm. Geschäftsführender Gesellschafter, CONDOR Gruppe, Essen service@condor-sicherheit.de Robert Kaletsch Geschäftsführender Gesellschafter, Kineo GmbH, Berlin info@kineo.ai Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 17 F ür die europäische Verkehrsinfrastruktur schien das beispiellose Konjunkturprogramm „Next Generation EU“ (NGEU), mit dem die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise in den Mitgliedstaaten überwunden werden sollen, bisher ein Glücksfall zu sein. Vor allem Nachhaltigkeit und Digitalisierung sollen mit dem rund 800 Milliarden Euro schweren Programm, für das die EU sich auch verschuldet, gefördert werden. Projekte, die umweltfreundlichere Transporte erlauben, können diese Ziele oft erfüllen und wurden von den EU- Staaten auch schon fleißig zur Förderung durch NGEU vorgeschlagen. Fast 400 Verkehrsprojekte zählte der wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments im vergangenen Jahr in den nationalen Ausgabenplänen, die Bahn würde davon besonders stark profitieren. Geld für den Verkehr scheint in den nächsten Jahren in den EU-Kassen so reichlich vorhanden zu sein wie wohl noch nie. Doch dass auch tatsächlich alles in den Sektor fließt, ist nicht mehr so sicher, wie es noch vor einem Jahr schien. In der EU ist nämlich eine Diskussion über staatliche Fördermittel in Gang gekommen, deren Ausgang noch nicht absehbar ist. Hauptauslöser dafür ist der russische Angriff auf die Ukraine mit seinen enormen wirtschaftlichen Folgen und seinen geopolitischen Auswirkungen. Der Drang, der heimischen Wirtschaft unter die Arme zu greifen, ist noch größer geworden, als er durch die Covid-Pandemie bereits war. Herausforderungen sind dazugekommen. Wie etwa die derzeit in Brüssel besonders intensiv diskutierte europäische Antwort auf den Inflation Reduction Act (IRA) der USA, mit dem diese ihren Produktionsstandort stärken wollen. Dass Washington 369 Milliarden US-Dollar in saubere Technologien investieren will, nutzt dem globalen Klimaschutz. Die EU-Staaten sind aber besorgt, dass ihre Unternehmen, zum Beispiel Hersteller von Elektrofahrzeugen, Standorte in die USA verlagern, um von den Subventionen profitieren zu können. Rufe, dass die EU mit mehr eigenen Subventionen antworten soll, werden laut. Die EU-Kommission hat bereits signalisiert, das wegen Covid-Pandemie und Ukraine-Krieg bereits stark gelockerte EU-Beihilferecht noch weiter anzupassen. 672 Milliarden Staatshilfen hat die Kommission nach dem Krisen-Beihilferecht bislang erlaubt, 53 Prozent davon wurden von Deutschland beantragt, 24 Prozent von Frankreich und sieben Prozent von Italien. Dies zeigt die Grenzen der nationalen Subventionspolitik auf. Unter den EU-Staaten gibt es Befürchtungen, dass diejenigen mit besonders „tiefen Taschen“ - wie Deutschland - andere an den Rand drücken. Wie hässlich diese Diskussion werden kann, hat sich bei der Suche nach neuen Gaslieferanten im vergangenen Jahr bereits gezeigt. Unter einem Subventionswettlauf in der EU würde der Binnenmarkt leiden, wird gewarnt. Dieser wurde zu seinem 30-jährigen Bestehen gerade erst wieder als EU-Wirtschaftsmotor gelobt, auch für die Transportwirtschaft. Mit dem Argument, der faire Wettbewerb im Binnenmarkt müsse geschützt werden, werben manche Mitgliedstaaten und einige Kommissionsmitglieder - allen voran Binnenmarktkommissar Thierry Breton - für die Aufstockung von EU-Fördermitteln und für neue gesamteuropäische Töpfe. Selbst die dänische Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hat sich in einem Brief an die nationalen Regierungen für einen wie auch immer gearteten gemeinsamen europäischen Fonds ausgesprochen. „Europa als Ganzes“ könne nicht erfolgreich nachhaltig und digital werden, „wenn einige Länder gegenüber anderen gewinnen“, schrieb sie. Verschiedene EU-Staaten - darunter Deutschland - sträuben sich gegen eine Debatte über neue EU-Fonds, die auch mit neuen Schulden verbunden sein könnten. Sie fordern, erst zu prüfen, was aus den bestehenden Töpfen finanziert werden kann. Diese seien noch nicht ausgeschöpft. Eventuell könnte die Laufzeit für Next Generation EU über 2026 hinaus verlängert werden, um alle verfügbaren Mittel abrufen zu können. Setzt sich diese Argumentation durch, werden womöglich auch geplante Ausgaben für Verkehrsprojekte wieder in Frage gestellt. Verkehrspolitiker werden dann gute Argumente brauchen, warum zum Beispiel ein Digitalisierungsprojekt bei der Bahn eher gefördert werden sollte, als neue Produktionskapazitäten für Solaranlagen in der EU. Die Europäer werden weiter versuchen, die USA zu bewegen, sie beim IRA ähnlich zu behandeln wie Kanada und andere bevorzugte Handelspartner. Parallel läuft aber die Diskussion in der EU, wie es mit der eigenen Beihilfenpolitik weitergeht und welche Sektoren besonders viel Zuwendung brauchen. Wichtige Weichen könnten bis zum EU-Gipfel am 23. und 24. März in Brüssel gestellt werden. ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN Konkurrenzkampf um Fördermittel nimmt zu Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 18 POLITIK Wissenschaft Wahrgenommene Sicherheit bei Automatisierung Empirische Ergebnisse zur Sicherheit automatisierter und vernetzter Fahrzeuge aus Nutzersicht Automatisiertes Fahren, Vernetztes Fahren, Wahrgenommene Sicherheit, Nutzerakzeptanz Die zunehmende Automatisierung und Vernetzung von Fahrzeugen bieten Chancen für eine Verbesserung der Mobilität, birgt allerdings auch das Risiko einer Zunahme von Verkehr sowie neue sicherheitsbezogene Herausforderungen. Dieser Beitrag fasst Erkenntnisse aus qualitativen und quantitativen Untersuchungen zur Bewertung der Sicherheit von automatisierten und vernetzten Fahrzeugen aus Nutzer: innensicht zusammen. Einflussfaktoren auf die wahrgenommene Sicherheit solcher Fahrzeuge sowie Implikationen für Politik und Praxis werden diskutiert. Viktoriya Kolarova, Jan Grippenkoven D ie zunehmende Automatisierung und Vernetzung von Fahrzeugen bietet Chancen für eine Verbesserung der Mobilität, Verkehrssicherheit und - Effizienz, birgt allerdings auch Risiken, z. B. für eine Zunahme der Verkehrsleistung. Die Auswirkungen der Technik auf das Verkehrssystem, Umwelt und Gesellschaft hängen dabei stark von den Anwendungsszenarien ab, die sich auf dem Verkehrsmarkt durchsetzen werden sowie die Art und Weise, wie diese technisch und als Gesamtkonzepte umgesetzt werden (z.-B. [1]). Bisherige Studien zeigen, dass die wahrgenommene Sicherheit von automatisierten und vernetzten Fahrzeugen (AVF) entscheidend für die Akzeptanz der Technik und somit für die Geschwindigkeit ihrer Marktdurchdringung ist. Betrachtet man die Sicherheit als ein menschliches Grundbedürfnis [2], so können potenzielle Vorteile von AVF erst dann durch die Nutzer: innen wahrgenommen werden, wenn sie das System als sicher bewerten. Die Wahrnehmung der Sicherheit und die damit verbundenen Anforderungen der Nutzer: innen solcher Fahrzeuge beeinflussten auch ihre Gestaltung und technische Entwicklung. Nicht zuletzt ist es zwar zu erwarten, dass automatisierte Systeme aufgrund schnellerer Reaktionszeiten auf zum Beispiel Verkehrshindernisse sowie fehlende Ablenkung und Ermüdung insgesamt sicherer als ein menschlicher Fahrer sind. Gleichzeitig könnten selbst sehr selten vorkommende Unfälle mit automatisierten Fahrzeugen in der Gesellschaft weniger akzeptiert werden als Unfällen mit manuell gefahrenen Fahrzeugen. Dieser Beitrag analysiert die wahrgenommene Sicherheit in AVF aus Nutzersicht. Dabei gehen wir folgenden Fragen nach: Welche Rolle spielt wahrgenommene Sicherheit für die Akzeptanz von AVF und welche Arten von wahrgenommenen Risiken und Ängsten lassen sich identifizieren? Welche Faktoren beeinflussen das Sicherheitsempfinden? Anschließend werden Implikationen für Politik und Praxis sowie offene Forschungsfragen diskutiert. Datengrundlage Der Beitrag fasst Erkenntnisse aus qualitativen und quantitativen Befragungen mit potenziellen Nutzer: innen von AVF zusammen. Diese wurden am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) durch die Autoren des Beitrags in unterschiedlichen Forschungsprojekten durchgeführt. Bis auf eine der Studien basieren alle Untersuchungen auf einer kurzen Vorstellung des Konzepts vom automatisierten und vernetzten Fahren durch Text und Bilder/ Videos (s. Bild 1), die den Teilnehmern AT A GLANCE The ever-increasing automation and connectivity in transportation offer the chance for an improvement of mobility and the transport system, bears, however, also risks for increase in vehicle kilometers travelled and new safetyrelated challenges. This article summarizes insights from qualitative and quantitative studies dealing with the question of the evaluation of technical safety and cyber security of automated and connected vehicles from user point of view. Determinants of the perceived safety as well as implications for policy and praxis are discussed. Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 19 Wissenschaft POLITIK ein ähnliches mentales Modell des Zielsystems vermitteln sollten. Zusätzlich wurden Daten aus einer Begleitstudie zum Testbetrieb eines automatisierten Kleinbusses berücksichtigt, um den Vergleich des hypothetisch abgefragten Sicherheitsempfindens mit realen Erfahrungen und die Ableitung detaillierter Anforderungen an Fahrservices zu ermöglichen. Wahrgenommene Sicherheit und Arten von wahrgenommenen Risiken und Ängsten in AVF Während die Erhöhung der Sicherheit im Verkehr zu einem der wichtigsten Argumente für automatisiertes und vernetztes Fahren aus Expertensicht zählt, gehören Sicherheitsbedenken gleichzeitig zu einer der größten Akzeptanzbarrieren der Technik durch potenzielle Nutzer: innen. Safety und security, die englischsprachigen Entsprechungen des deutschen Begriffs Sicherheit bieten eine gute Ausgangslage zur Verfeinerung der Definition der wahrgenommenen Sicherheit in AVF. Safety beschreibt dabei die technische Sicherheit des AVF und security die Sicherheit gegen gefährdende äußere Eingriffe (z. B. auch Hackerangriffe oder aggressives Verhalten, z. B. Angriffe anderer Fahrgäste). Darüber hinaus kann noch die certainty ergänzt werden, die im Kontext AVF als Vorhersagesicherheit verstanden werden kann, also die Sicherheit, mit der Nutzer: innen eine räumlich-zeitliche Vorhersage zum Fahrzeug, in dem sie sich befinden, treffen können. Eine Einschränkung der wahrgenommenen Sicherheit (sowohl im Sinne safety, security als auch certainty) kann dazu führen, dass AVF-Lösungen bereits vor der ersten Nutzungserfahrung Ablehnung erfahren. Die Bewertung bzw. Einstellung in Bezug auf die Sicherheit von AVF hat dabei eine kognitive und eine affektive Komponente. Kognitiv bezieht sich dabei auf (Pseudo-)Wissen, Überzeugungen, Meinungen über AVF und affektiv auf die in Bezug auf AVF empfundenen Gefühle. So äußern Probanden in den qualitativen Untersuchungen Bedenken in Bezug darauf, dass technische Systeme insgesamt nicht fehlerfrei sind und ausfallen können. Auch Potenziale zu einer äußeren Einwirkung (Hacking) schließen manche davon nicht aus. Auf der affektiven Ebene äußern Probanden „Angst“ bzw. fehlendes Vertrauen in die Technik, die nicht nur auf potenzieller Fehleranfälligkeit des Systems fußen, sondern vor allem in einem Unwohlsein dabei, sich vollständig auf die Technik zu verlassen, der Technik „ausgeliefert zu werden“ und keine Kontrolle über die (Fahr-)Situation zu haben. Dafür sprechen auch die Ergebnisse unserer weiteren Studien: Zweifel an der safety des Systems, also ein eingeschränktes Vertrauen in die Technik zählte zu den am häufigsten genannten Entscheidungsfaktoren für die Nutzungsbereitschaft und hypothetische Wahl eines AVF (z. B. [3]). Obwohl Nutzer die Potenziale von AVF zur Erhöhung der Sicherheit im Verkehr erkennen, herrscht über alle Untersuchungen hinweg noch gewisse Skepsis gegenüber der Technik. Betrachtet man bspw. unterschiedliche (potenziell) mobilitätseingeschränkte Personengruppen, dann zeigen Ergebnisse unserer Umfragen, dass aktuell 66 % der Personen über 65-Jährige 1 und 40 % der körperlich eingeschränkten Personen 2 die Nutzung eines automatisierten Fahrzeugs aus technischer Sicht als zu risikoreich bewerten. Passend dazu berichteten Autofahrer in den qualitativen Untersuchungen, Schwierigkeiten damit zu haben, die vollständige Kontrolle an das Fahrzeug zu übergeben. In den quantitativen Befragungen zeigt sich ein ähnliches Bild: Nur 16 % der befragte Berufspendler 3 würden in einem automatisierten Fahrzeug vollständig autonom fahren. Interessanterweise gaben in einer weiteren Befragung ähnlich viele (17 %) Dienstwagenfahrer 4 an, dass sie in einem solchen Fahrzeug vollständig autonom fahren würden, obwohl die Mehrheit (58 %) der Befragten regelmäßig fortgeschrittene Assistenzsysteme (ADAS) nutzt. Nutzer: innen von ADAS berichten in den qualitativen Untersuchungen, dass sie situativ entscheiden, wann sie diese einsetzen (möchten) und daher auch bei höheren Stufen von Automatisierung die Kontrolle über das System behalten wollen würden. Auch bei individuellen Taxifahrten berichten die Befragten, dass sie, obwohl sie gefahren werden, gewisse Kontrolle über die Fahrsituation empfinden - wie etwa die Möglichkeit, dem Taxifahrer konkrete Anweisungen über die Geschwindigkeit und den Fahrstil zu geben. In individuell genutzten AVF dominieren daher vor allem Ängste in Bezug auf technische Sicherheit (safety) und Zuverlässigkeit der Fahrzeuge. In geteilten Fahrzeugen (z. B. Taxi-ähnliche automatisierte Fahrdienste, automatisierte ÖPNV-Angebote) spielt zusätzlich zu safety die security eine Rolle. Die Ergebnisse der Begleitforschung zum Testbetriebs eines automatisierten Kleinbusses zeigen, dass die Angst von einem potenziellen Systemausfall und die fehlende Transparenz in Bezug auf den Systemstatus zwar relevant sind, aber vor allem Ängste bezogen auf andere Passagiere (security) zum Tragen kommen (vgl. [4]). Zweifel an der eigenen Sicherheit in AVF zeigten sich in Fokusgruppen und Befragungen zur wahrgenommenen Sicherheit in automatisierten Kleinbusshuttles z. B. in Ängsten vor Übergriffen anderer Fahrgäste oder der Sorge vor Hilflosigkeit in Notfallsituationen [4]. Solche Ängste werden potentiell durch die Abwesenheit des Fahrpersonals verstärkt, die sich aus einer anderen (implizit wahrgenommene) Rolle des Fahrers bspw. eines Buses ergeben, nämlich u. a. als Aufsichtsperson/ Sicher- Bild 1: Beispielszenen aus den im Rahmen der Online-Befragungen eingesetzten Videos zur Vorstellung unterschiedlicher Anwendungsszenarien vom automatisierten Fahren Quelle: DLR Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 20 POLITIK Wissenschaft heitsperson. Auch die Fahrzeuggröße spielt dabei eine Rolle: In einem größeren Fahrzeug (Bus oder Bahn), in dem Fahrgäste einen größeren Abstand zu eventuellen Aggressoren einnehmen können, ist das Sicherheitsempfinden potenziell höher als in Kleinbussen mit wenigen Fahrgästen (und ohne Fahrer) auf kleinem Raum. Zusätzliche Risiken bzw. Sicherheitsbedenken sehen potenzielle Nutzer bei Vernetzung der Fahrzeuge. Geäußerte Bedenken in Bezug auf Cybersecurity beziehen sich dabei weniger auf Datenschutz, sondern vor allem auf die Befürchtung von Hackingangriffen auf das System sowie dem potenziellen Ausfall wichtiger Netzverbindung oder fehlerhafte Daten. Das Thema certainty wird insbesondere im Kontext von geteilten AVF eine verstärkte Rolle spielen. In einem automatisierten bedarfsgerechten Fahrdienst im Vergleich zum Individual- oder Linienverkehr wählt der Algorithmus oder der Disponent unter Berücksichtigung (spontaner) Zusteigewünsche anderer Fahrgäste die Route und bestimmt damit auch die Fahrzeit. Die tatsächliche Route kann sich also im Verlauf einer Fahrt kurzfristig ändern. Dementsprechend steigt die wahrgenommene Unsicherheit, wenn nicht durch eine transparente Informationsumgebung Fahrgäste gut und in Echtzeit informiert werden. Einflussfaktoren auf die wahrgenommene Sicherheit Bei der Datenanalyse lassen sich unterschiedliche Gruppen von Einflussfaktoren auf die wahrgenommene Sicherheit in AVF identifizieren. Diese lassen sich zum Teil auch durch bekannte Faktoren aus der Risikowahrnehmungsforschung (vgl. [5, 6]) diskutieren bzw. erklären. Rolle (der Abgabe) der Kontrolle Die aktuell wahrgenommene Kontrolle über die Fahrsituation hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Bewertung der Sicherheit in zukünftigen automatisierten Fahrzeugkonzepten. Wie bereits oben erwähnt, berichten Autofahrer insbesondere in individuell genutzten (privaten) automatisierten Fahrzeugen die Schwierigkeit zu haben, die Kontrolle über das Fahrzeug komplett auf das System abzugeben. Dafür spricht auch die von einigen Befragte gewünschte Lenkradbzw. Eingriffsmöglichkeit in solchen Fahrzeugen. Gefragt nach der potenziellen Zeitnutzung in einem automatisierten Fahrzeug, berichten einige der Befragten, dass sie wahrscheinlich trotz der Automatisierung den Verkehr beobachten würden. Auffallend bei den Aussagen war auch, dass potenzielle Sicherheit solcher Fahrzeuge in Zusammenhang mit der Entfernung der anderen Autofahrer als potenzielle Risikoquelle diskutiert wurde. Automatisierung würde die „Aggressivität im Verkehr“ wegnehmen. Erkenntnisse aus der Risikowahrnehmungsforschung untermauern das: Wenn eine Person das Gefühl hat, das Ergebnis bei Gefahrensituationen zu kontrollieren, dann ist die wahrgenommene Sicherheit höher [6]. Beispiele dafür sind das (vor allem schnelles) Autofahren und das Nicht-Tragen vom Helm beim Fahrradfahren. Auch ist die Betroffenheit entscheidend: Menschen nehmen das Risiko viel stärker wahr, wenn sie selbst betroffen sind im Vergleich dazu, wenn andere betroffen sind [6]. Rolle der Erfahrung mit ADAS und des Technikverständnisses Die Erfahrungen der Befragten mit ADAS spielen bei ihrer Einschätzung von AVF auch eine Rolle: Drei von fünf Interviewten beschreiben die Fahrfunktionen als sehr hilfreich und unterstützend, allerdings als noch nicht komplett reif für die vollständige Übergabe von Fahr- und Parkaufgaben. Gleichzeitig sind Nutzer: innen von ADAS offener gegenüber der neuen Technik und weisen auf die Vorteile und den schnellen Vorschritt in diesem Bereich hin. Sicherheitsempfinden hängt neben der Erfahrung mit (ähnlicher) Technik auch mit dem Verständnis potenzieller Nutzer: innen von der Funktionsweise von AVF zusammen. Beispielsweise berichteten einige Befragte über Erfahrungen mit ADAS, die meistens fehlerfrei funktioniert hätten. Trotzdem berichten sie von einem Unbehagen bei der Nutzung solcher Systeme, nicht zuletzt, da sie die Funktionalität und Grenzen des Systems nicht kennen würden. Bei der Frage an notwendige Informationen zur Technik stellten einige der Befragten die Frage, wie man in einer Fahrsituation erkennen würde, dass das Fahrzeug „das Richtige“ tut, was auf Gestaltungbedarfe für die Kommunikation des Systems mit den Nutzenden hinweist. Rolle des Fahrzeugverhaltens (Geschwindigkeit und-Fahrstil) Noch mangelndes Vertrauen in die Technik bei einigen der Befragten äußerte sich in der Erwartung, dass die Fahrzeuge anfänglich langsam und vorsichtiger fahren würden, auch in Situationen, in denen sie selber aktuell eher zügiger/ schneller fahren. Gleichzeitig wird allerdings viel zu zögerliches und übermäßig vorsichtiges Verhalten des Fahrzeugs vor Personen mit Erfahrungen mit ADAS eher als unsicher empfunden. Das autonome Fahrzeug sollte dabei in den meisten Situationen schneller als ein konventionelles Fahrzeug fahren können. Die Anforderungen bzw. Erwartungen in Bezug auf einen sicheren Fahrstil von automatisierten Fahrzeugen können sich demnach sehr stark zwischen potenziellen Nutzer unterscheiden. Neben der individuellen Bewertung der Sicherheit von AVF kamen im Rahmen der Untersuchungen auch gesamtgesellschaftliche Themen in Bezug auf Sicherheit von AVF zum Vorschein. So gehörten beispielsweise zu den ersten Assoziationen zum automatisierten Fahren im Rahmen der Fokusgruppendiskussionen eine zunehmende Abhängigkeit von Maschinen und Technik in der Gesellschaft. Dieser Aspekt wurde in einer folgenden quantitativen Befragung 5 untersucht mit folgendem Ergebnis: Mehr als die Hälfte (55 %) gaben an, dass sie (eher) besorgt darüber seien, dass wir als Gesellschaft immer abhängiger von Maschinen und Technik werden, 27 % gaben „teils/ teils“ an und nur 19 % berichteten, dass sie (eher) unbesorgt seien. In diesem Zusammenhang wurde in der qualitativen Studie auch das Thema Vertrauen in der Technik und Sicherheit angesprochen, auch im Vergleich zum Vertrauen in einen menschlichen Fahrer. So reflektierte einer der Probanden: „Wir sind nicht gewöhnt, solche Aufgaben der Technik zu überlassen. Zumindest noch nicht.“ Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 21 Wissenschaft POLITIK Negativ bewertet wurde auch der potenzielle Verlust an menschliche Fertigkeiten in Bezug auf das Autofahren und die Kontrolle über ein Fahrzeug, was laut einer der befragten Personen die Nutzung der Technik noch unsicherer machen würde, da man in Notsituationen nicht adäquat reagieren könnte. Unsicherheiten in Bezug darauf, wie das System funktioniert, bzw. die wahrgenommene Komplexität des Systems spielen bei der Bewertung der technischen Sicherheit automatisierter Fahrzeuge auch eine wichtige Rolle. In einer der Gruppendiskussionen wurde daher insgesamt der Informationsbedarf für die breite Öffentlichkeit thematisiert und wer diese Information zur Verfügung stellen sollte. Als wichtigster Informationsbedarf im Kontext automatisierter Fahrzeuge wurde die Sicherheit thematisiert. Die Befragten äußerten den Wunsch nach einer neutralen Instanz, wie bspw. Forschungsinstituten oder öffentlichen Institutionen, zur Sicherheitsprüfung (inkl. Ergebnisse von Sicherheitstests und generelle Informationen zur Sicherheit solcher Fahrzeuge) und als Informationsquelle. Ähnliche Anhaltspunkte finden sich in den Aussagen der Befragten: „Es hängt vor allem mit dem Vertrauen zusammen: in die Technik und auch in die Hersteller, da man am Ende das eigene Leben in ihre Hände legt“. Diese Ergebnisse werden auch durch Erkenntnisse aus der Risikoforschung untermauert: Risikowahrnehmung sinkt mit Vertrauen in die Institution, die uns über potenzielle Risiken bzw. Sicherheitsaspekte informiert oder uns „dem Risiko aussetzt“ (in diesem Fall bspw. Institutionen, die Sicherheitsstandards für die Zulassung automatisierter Fahrzeuge festlegen). Insgesamt haben einige der Befragten über alle Untersuchungen hinweg offene Fragen dazu, wie AVF insgesamt auf der Straße funktionieren sollte, was sich in einer neutralen oder eher zurückhaltenden Haltung gegenüber der Technik äußerte. Fazit und Ausblick Die wahrgenommene Sicherheit in AVF ist eine wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz von AVF. Dabei hat sie unterschiedliche Facetten: technische Sicherheit (safety), Gefährdung durch äußere Eingriffe (security) und weitere mit dem Betrieb verbundenen subjektiv wahrgenommene Unsicherheiten (uncertanty). Trotz Vorteilen der Technik herrscht bei potenziellen Nutzenden noch Skepsis gegenüber AVF. Wesentliche Einflussfaktoren darauf sind die wahrgenommene Kontrolle über die (Fahr-)Situation, Fahrzeugverhalten und die im Kontext der Sicherheit diskutierten gesellschaftlichen Aspekte der Techniksicherheit. Unsere Erkenntnisse weisen darauf hin, dass bei der Einführung dieser Technik noch Informationsbedarf über die Möglichkeiten und Grenzen besteht. Eine bedarfsgerechte Entwicklung der Technik, Möglichkeiten für potenzielle Nutzer: innen, Erfahrungen damit zu sammeln sowie ein breiter Dialog zu Sicherheitsaspekten und -anforderungen sind wesentlich für die Akzeptanz von AVF. Offene Forschungsfragen bleiben: Wie sicher ist im Kontext des AVF sicher genug für die Gesellschaft? Aktuell wird eine hohe Anzahl an Autounfällen, die durch menschliche Fahrer verursacht werden, in Kauf genommen bzw. akzeptiert. Inwieweit und in welchem Umfang werden auch potenziell sehr seltene Unfälle mit Beteiligung von AVF akzeptiert? Erhöht eine menschliche technische Aufsicht als Rückfallebene die Akzeptanz der Systeme? Welche Aufgaben und (Fahr-) Situationen und in welcher Form sollten noch durch Menschen überwacht oder gesteuert werden? Welche Faktoren beeinflussen die Bereitschaft für die Aufgaben- und Verantwortungsübergabe an die Technik bzw. das Fahrsystem insgesamt? In unseren Untersuchungen haben wir bereits einige relevante Aspekte identifiziert. Diese sollten in einem umfangreicheren Erklärungsrahmen weiter ausgearbeitet werden. Nicht zuletzt stellt sich auch die Frage, was ein sicheres Fahrverhalten der Fahrzeuge aus Nutzersicht ausmacht, und welche Gestaltungsanforderungen in Bezug auf das Verhalten der Fahrzeuge und ihre Kommunikation mit den Nutzenden sich dabei ergeben. Zukünftige Untersuchungen können die genannten Fragen adressieren. Dabei werden insbesondere Erkenntnisse aus der nutzerzentrierten Akzeptanzforschung im Rahmen erster Realbetriebe sehr wertvoll. ■ 1 N = 382; rekrutiert über einen Panel-Anbieter 2 N = 95, selbst-selektierte Teilnahme 3 Stichprobe mit 484 Berufspendlern, repräsentativ nach Alter und Geschlecht für Deutschland 4 Stichprobe mit 410 Dienstwagenfahrern (Fahrzeuge nicht älter als fünf Jahre) 5 Stichprobe mit 484 Berufspendlern, repräsentativ nach Alter und Geschlecht für Deutschland LITERATUR [1] Kolarova, V.; Stark, K.; Hedemann, L.; Lenz, B.; Jung, A.; Pützschler, M. (2020): Die Automatisierung des Automobils und ihre Folgen: Chancen und Risiken selbstfahrender Fahrzeuge für nachhaltige Mobilität−Analyse. [2] Maslow, A. H. (1943): A theory of human motivation. In: Psychological Review 50, pp. 370-396. [3] Kolarova, V.; Cherchi, E. (2021): Impact of trust and travel experiences on the value of travel time savings for autonomous driving. In: Transportation Research Part C: Emerging Technologies, 131, p. 103354. [4] Grippenkoven, J.; Fassina, Z.; König, A.; Dreßler, A. (2018): Perceived Safety: a necessary precondition for successful autonomous mobility services. Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society Europe Chapter 2018 Annual Conference (pp. 1-15). Berlin, Germany: Human Factors and Ergonomics Society Europe Chapter. [5] Slovic, P. (1987): Perception of risk. In: Science 236 (4799), pp. 280-285. [6] Ropeik, D. (2002): Understanding factors of risk perception. In: Nieman Reports 56 (4), p.-52. Viktoriya Kolarova, Dr. rer. nat. Gruppenleiterin „Automatisiertes und vernetztes Fahren“, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin viktoriya.kolarova@dlr.de Jan Grippenkoven, Dr. phil. Abteilungsleiter „Verkehrsmittel“, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin jan.grippenkoven@dlr.de Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 22 Automatisierte Fahrzeuge in-Europa sicher betreiben Das Testfeld Niedersachsen als Baustein der Genehmigung Automatisiertes Fahren, AFGBV, Level 4, Simulationsbasiertes Testen, Verification Validation Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für automatisiertes Fahren im Straßenverkehr sind mit der AFGBV vorhanden. Einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb durch nennenswerte Transportleistungen und annehmbare Kosten für die Umsetzung des automatisierten Systems wird eine der wesentlichen Herausforderungen des automatisierten Fahrens in der Zukunft. Mit den vorgestellten Methoden und Forschungsanlagen lässt sich ein Weg zur Genehmigung einer Fahrzeug/ Betriebsbereich-Kombination beschreiben. Validierte Simulationsumgebungen werden dabei einen Schlüsselbaustein darstellen. Lennart Asbach, Michael Ortgiese S eit Ende der 1980er Jahre existieren automatisiert fahrende Straßenfahrzeuge in Deutschland. Das prominenteste Beispiel ist die S-Klasse (W140) der UniBwM, die im Rahmen des Forschungsprogramms „Prometheus“ bereits beachtliche Fahrfunktionen auf europäischen Straßen demonstriert hat. Gut 30 Jahre später findet nach wie vor kein echter Betrieb mit automatisierten Fahrzeugen in Europa statt. Es gibt diverse Demonstratoren, die unter großen Einschränkungen und - vor allem - mit hoher finanzieller Unterstützung einen automatisierten Betrieb auf der Straße darstellen und gewissermaßen umsetzen. Dadurch werden entweder nur minimale Transportleistung erbracht, meistens durch sehr geringe Geschwindigkeiten, oder ein Sicherheitsfahrer degradiert das System auf assistiertes Fahren (SAE Level- 2), indem er die Verantwortung für das Fahrzeug übernimmt. Als erstes Serienfahrzeug, das die Verantwortung für die Fahraufgabe unter bestimmten Randbedingungen übernimmt (SAE Level 3), ist seit 2022 der Urenkel des Forschungsfahrzeugs der UniBwM, nämlich die S-Klasse der Baureihe 223 erhältlich. Damit ist automatisiertes Fahren bei gutem Wetter in Stausituationen auf Autobahnen möglich. In einem Parkhaus des Stuttgarter Flughafens können besagte Modelle sogar automatisiert, ohne Sicherheitsfahrer, vom Parkhauseingang bis in die Parklücke und zurück fahren (Bild 1). Dieser Abschnitt entspricht damit SAE Level 4. Foto: Mercedes-Benz AG INFRASTRUKTUR Automatisiertes Fahren Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 23 Automatisiertes Fahren INFRASTRUKTUR Beide Beispiele zeigen, dass viele Randbedingungen erfüllt werden müssen, damit automatisierter „Betrieb“ möglich wird. Insbesondere die Parkhaussituation erinnert dabei stark an automatisiert fahrende Servicefahrzeuge im Eurotunnel 1 , die dort seit 1994 unterwegs sind, oder an andere SAE Level 4-Systeme auf Betriebsgeländen. Aktuelle regulatorische Rahmenbedingungen für den Betrieb Ursache für die vielen Randbedingungen ist die Einschätzung der betrieblichen Sicherheit. Ohne diese Randbedingungen können praktisch unendliche viele Situationen durch die Sensoren detektiert werden und die Interpretation der Sensorinformationen durch das automatisierte Fahrzeug nicht belastbar abgeschätzt werden. Selbst die, im Vergleich zu den Anfängen, schier unendliche Rechenleistung, die in den Fahrzeugen zur Verfügung steht, und die Weiterentwicklung aller Sensoren, lässt den Betrieb automatisierter Fahrzeuge mit offenem Kontext und ohne Einschränkung der Leichtigkeit des Verkehrs auch heute nicht zu. Auf diesen Zusammenhang hat 2022 auch die Gesetzgebung reagiert und mit der Betriebsverordnung zum Gesetz zum autonomen Fahren (AFGBV) die Kombination aus Fahrzeug und Betriebsbereich als zentralen Bestandteil des Genehmigungsprozesses gesetzt. Damit wird, nach der Homologation des eigentlichen Fahrzeugs, eine spezifische Kombination aus Fahrzeug und Betriebsbereich genehmigt. Die Genehmigung erfolgt dabei für das Einzelfahrzeug (vgl. Zulassung) kann aber auf Basis von baugleichen Typen erfolgen. Auch außerhalb Europas werden ähnliche Zusammenhänge offenbar. Zwar liegt sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch in China eine andere Sicherheitskultur vor, allerdings ist der reale Betrieb automatisierter Fahrzeuge nach wie vor die Ausnahme. Zum Verfassungszeitpunkt dieses Artikels erscheint der Genehmigungsvorgang in Kalifornien als einfachstes Modell. Sogar chinesische Hersteller evaluieren ihre Fahrzeuge in Kalifornien, da die dortigen rechtlichen Randbedingungen einfacher erscheinen als auf dem heimischen Markt 2 . Bei genauerer Betrachtung finden sich allerdings nennenswerte Randbedingungen, die die Erprobungssituation erheblich besser vergleichbar mit den Randbedingungen in Europa machen. Erst Ende 2022 wurden zwei große „Robo-Taxi“-Flotten von der Pflicht befreit, einen Sicherheitsfahrer einzusetzen 3 .Damit sind dort vermutlich weltweit die ersten Level 4-Flotten unterwegs, die eine messbare Transportleistung erbringen. Aufgrund der schätzungsweise extrem hohen Entwicklungs- und Hardwarekosten für die Fahrzeuge ist allerdings nicht davon auszugehen, dass mit diesen Flotten aktuell eine positive Bilanz erwirtschaftet werden kann 4 . Mit der AFGBV wird ein solcher Betrieb auch in Deutschland möglich. Ähnliche Flotten befinden sich in Planung (bspw. Moia 5 ), sind aber noch nicht in Betrieb. Auf den ersten Blick erscheint dies als Vorsprung der USA (bzw. Kalifornien) gegenüber Europa. Betrachtet man die rechtliche Möglichkeit, einen derartigen Betrieb umzusetzen, liegen allerdings höchstens wenige Monate zwischen den notwendigen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Ländern. Bei Betrachtung der Genehmigungsprozesse für automatisierte Fahrzeuge auf den beiden Kontinenten könnte sich der aktuelle Vorsprung der USA als marginal bzw. bei Betrachtung des Gesamtsystems sogar als Strohfeuer erweisen. In den USA (Kalifornien, Arizona) basiert der Genehmigungsprozess auf der Verantwortung des Herstellers. Für den Antrag auf den Betrieb einer Flotte mit automatisierten Fahrzeugen ist ein dreiseitiges Formular des „Department of Motor Vehicles“ auszufüllen 6 . Im Wesentlichen übernimmt das Unternehmen damit jegliche Verantwortung für den Betrieb des Fahrzeugs. Eine Prüfung durch eine unabhängige Behörde, eine Art National Safety Authority (wie bspw. das KBA in Deutschland) oder nachgelagerte Sicherheitsgutachter, findet nicht notwendigerweise statt. Natürlich kann ein Unternehmen Gutachten oder Prüfberichte beauftragen, die Verantwortung für den sicheren Betrieb verbleibt schlussendlich bei dem jeweiligen Unternehmen. Mit der AFGBV ist die Genehmigung des Betriebs einer automatisierten Flotte anders geregelt. Die Verordnung sieht vor, dass mindestens ein zusätzlicher Sicherheitsgutachter das System - in Verantwortung - bewertet. Dadurch wird eine Art Vier-Augen-Prinzip sichergestellt und eine unabhängige Stelle teilt sich die Verantwortung (in gewissen Grenzen) mit dem Betreiber bzw. Hersteller des Fahrzeugs. Dieses Prinzip macht den Genehmigungsprozess natürlich erheblich komplizierter im Vergleich mit dem Verfahren in den USA. Zumindest in der Phase der Inbetriebnahme sind die Hürden dort deutlich niedriger als mit der AFGBV in Deutschland. Entsteht allerdings ein Schaden, der durch das automatisierte Fahrzeug verursacht wurde, haftet das Unternehmen und die zuvor erbrachten Maßnahmen spielen nahezu keine Rolle mehr. Dieser Schaden, sei er Sachschaden oder Schaden durch Betriebsbehinderung anderer Transportunternehmen oder gar Personenschaden, wird entstehen 7 . Auch in Europa werden derartige Schäden entstehen, sobald die Anzahl automatisierter Fahrzeuge bzw. Flotten wächst. Das Vorgehen in Europa bietet dem Betreiber bzw. Hersteller dann mutmaßlich einen größeren Schutz gegenüber Schadensersatzanforderungen. Zwar werden zunächst Einzelfallentscheidungen notwendig sein, doch zumindest die zusätzlich notwendige Haftpflichtversicherung für Personen der technischen Aufsicht zeigt eine Verlagerung der Haftung. Im Rechtssystem der USA wird erst nach Auftreten eines Schadens die Ursache bzw. der Schuldige ergründet, mit der AFGBV gibt ein Gesetz zumindest den Bild 1: Automatisches Parksystem von Mercedes-Benz und Bosch am Flughafen Stuttgart Foto: Mercedes-Benz AG Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 24 INFRASTRUKTUR Automatisiertes Fahren Stand der Technik wider und regelt im Schadensfall die Grundlagen - gleichberechtigt und reproduzierbar. Während für Weltkonzerne der Einstieg in das Transportgeschäft mit automatisierten Straßenfahrzeugen in dem amerikanischen Modell gut abbildbar ist und schnell zu ersten Erfolgen führt, bietet das europäische Vorgehen zwar größere Einstiegshürden, dann aber besser kalkulierbare Risiken, die den Einstieg für kleinere und mittlere Unternehmen überhaupt erst ermöglichen und somit monolithische Unternehmensstrukturen weniger fördern. Umsetzung Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) erforscht mit seinem Testfeld Niedersachsen und dem Institut für Verkehrssystemtechnik aktuell Verfahren und Prozesse für die beschleunigte Anwendung und Umsetzung der AFGBV in Deutschland. Dabei wird die vorhandene Forschungsleistung des Instituts intensiv für die Umsetzung der betrieblichen Sicherheit aufgewendet - Cyber-Sicherheit wird durch andere Institute des DLR untersucht - stets unter Berücksichtigung des Gesamtsystems - und soll in diesem Artikel nur oberflächlich betrachtet werden. Cyber-Sicherheit ist die Kehrseite der Digitalisierungsmedaille. Je mehr Vernetzung bzw. digitale Information für den Betrieb eines Systems notwendig ist, desto größer werden die Auswirkungen von Cyber-Angriffen und desto größer wird damit deren Attraktivität für Hacker. Angenommen, die absolute Sicherheit vor Hackerangriffen existiert nicht, so muss das Ziel sein, die Hürde möglichst hoch und den zu erwartenden Effekt möglichst klein zu gestalten. Ganz abgesehen von Standards in der IT-Security spielen auch funktional-betriebliche Standards dabei eine große Rolle. Sie ermöglichen im Bereich der Verkehrstechnik eine möglichst heterogene Herstellerlandschaft. Nicht nur die Netze der Kommunen werden dadurch durch unterschiedliche Hersteller umgesetzt, auch innerhalb dieser Netze können unterschiedliche Hersteller zum Einsatz kommen und damit die Zugriffsmöglichkeiten für einen Eindringling deutlich einschränken. Sicherheitslücken, die in einem bestimmten Teilsystem existieren, lassen sich dadurch nicht ohne weiteres auf das Gesamtsystem ausdehnen. Damit bleibt zumindest die Auswirkung eines Angriffs begrenzt. Damit schlussendlich nicht „Security by obscurity“ gilt, müssen die funktionalen Standards folglich klar definiert und durch unabhängige Organisationen auf Konformität und Interoperabilität geprüft werden. Im Eisenbahnsektor prüft das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt beispielsweise Produkte der Standards European Train Control System (ETCS) und Digitales Stellwerk (DSTW) auf Konformität und Interoperabilität, um diese Obskurität in den Gesamtsystemen zu vermeiden. Auch im Bereich der betrieblichen Sicherheit muss die Kombination aus Fahrzeug und Verkehrsweg bzw. -infrastruktur als zusammengehöriges System betrachtet werden. Ein aktuelles Forschungsthema ist dabei die Perspektive vom Fahrzeug auf die Infrastruktur zu wechseln. Historisch bedingt finden Betrachtungen der betrieblichen Sicherheit im Straßenverkehr nur aus Sicht des Fahrzeugs statt. Der beim automatisierten Fahren entfallene Fahrer hatte die Infrastruktur stets im Blick und wusste - mehr oder weniger - mit degradierten Umgebungen umzugehen. Viele Ansätze zum Automatisierten Fahren, beispielsweise auch die zuvor genannten Ansätze in den Vereinigten Staaten, verfolgen ein ähnliches Vorgehensmodell. Das Fahrzeug bewegt sich eigenverantwortlich, ohne Unterstützung durch die Infrastruktur. Es erkennt auch eigenverantwortlich, wenn die Infrastruktur nicht mehr intakt oder anderweitig eingeschränkt ist, so dass das Fahrzeug nicht mehr fahren kann. Diese Funktionalität mit einer gewissen Sicherheit zu implementieren ist besonders aufwändig und erfordert einen extremen Ausrüstungsgrad am Fahrzeug. Auch wenn ein Großteil der Erkennung softwarebasiert ist, so werden durch die hohe Anzahl an „sicheren“ Sensoren die Kosten für das einzelne Fahrzeug erheblich nach oben getrieben. Dazu kommt Wartung, Instandhaltung und Fehlerbeseitigung in diesem Systemteil. Alles zusammen verzögert einen wirtschaftlichen „Break Even“ maßgeblich. Daher liegt der Gedanke nahe, einen Teil der für die betriebliche Sicherheit relevanten Sensoren in die Infrastruktur zu verlagern und den Fahrzeugen die benötigten Informationen zur Verfügung zu stellen. Insbesondere, wenn ein Fahrzeug nur in einer definierten Betriebsumgebung fahren soll, ist es naheliegend, in genau dieser Betriebsumgebung die entsprechenden Informationen bereitzustellen. Ziel der Forschungsarbeiten ist nun, nicht in das andere Extrem zu rutschen. Eine Vollausstattung der Infrastruktur und möglichst wenig Intelligenz im Fahrzeug erzeugen wiederum exponentiellen Aufwand für die Infrastruktur und treiben erneut die Kosten erheblich in die Höhe. Simulationsbasiertes Testen Im Mittelpunkt der Forschung stehen hochgenaue Simulationen, die für die Ermittlung des perfekten Verhältnisses aus Infrastruktur und Fahrzeug eingesetzt werden können. Je nach Fragestellung können dabei unterschiedliche Simulationen, bspw. auch für Funkwellenausbreitung oder makroskopisches Verkehrsverhalten eingesetzt werden. Am naheliegendsten ist die Verwendung einer 3D-Simulation, um besondere Herausforderungen für ein bestimmtes Fahrzeug mit einem bestimmten Sensorsetup in der Betriebsumgebung zu identifizieren. Dazu wird von der gewünschten Betriebsumgebung ein hochgenaues 3D-Modell erstellt. Dieses 3D-Modell kann teilweise aus vorhandenen Daten (bspw. BIM) oder durch neue Messungen erstellt werden. Es muss allerdings nur nach einer maßgeblichen Änderung in der Realität angepasst werden und kann auch durchaus für andere Fragestellungen weiterverwendet werden. Im nächsten Schritt wird das 3D- Modell in eine Grafik-Engine, also eine digitale Abbildung mit physikalischen Eigenschaften überführt (Bild 2). Die Simulation der physikalischen Eigenschaften ist dabei das ausschlaggebende Element. Zusammen mit einer dynamischen Simulation des Fahrzeugs, also der Simulation des Betriebs, kann mit diesem Modell bereits in erster Näherung ermittelt werden, welche baulichen Eigenschaften der Betriebsumgebung zu einer besonderen Herausforderung für die Wahrnehmung des Fahrzeugs werden. In Kombination mit einer Verkehrssimulation kann die gleiche Erkenntnis auch in Bezug auf Verkehrsszenarien, also die Bewegung bzw. dynamische Konstellation der umgebenden Fahrzeuge, also des in der Betriebsumgebung vorliegenden Verkehrs, erlangt werden. Ein klassisches Problem für automatisierte Fahrzeuge ist die Wahrnehmung des Gegenverkehrs, wenn ein gegenüberstehender Linksabbieger die Sicht versperrt. Eine solche Situation kann bereits vor Beginn des realen Betriebs in der Simulation ermittelt werden. Mögliche Lösungsansätze, wie bspw. ein infrastrukturseitiger Sensor, der den Linksabbieger für das automatisierte Fahrzeug auf digitale Weise durchsichtig erscheinen lässt, können dann in derselben Simulation evaluiert und optimiert werden. Zum Beispiel können unterschiedliche Sensortechnologien und Anbaupositionen simuliert und der Effekt untersucht werden. Die dafür verwendeten Simulationswerkzeuge haben oftmals einen Ursprung in der Computerspielindustrie. Ein wesentliches Ziel der Computerspiele ist eine möglichst realistische visuelle Darstellung von virtuellen Welten. Dadurch wird mittlerweile der exakte Wellenverlauf von Lichtstrahlen bzw. deren Reflexion be- Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 25 Automatisiertes Fahren INFRASTRUKTUR rechnet. Diese Detaillierung erlaubt auch die Simulation von verschiedenen Wetterverhältnissen auf der jeweiligen Betriebsumgebung und die Ermittlung der Grenzen des Fahrzeugs. Es können Reflexionen auf Regenpfützen oder Veränderungen durch feuchte Oberflächen simuliert werden. Natürlich ist ein derart umfangreiches Simulationssystem nicht nur für die Ermittlung von Herausforderungen im Kontext des automatisierten Fahrens nützlich. Durch das hochgenaue Abbild der Realität kann auch der vollständige Betrieb simuliert und überprüft werden. Es ist im Stand der Wissenschaft und Technik bereits lange bekannt, dass Simulationen für die Absicherung automatisierter Fahrzeuge bzw. Systeme eine große Rolle werden spielen müssen. Herkömmliche Testverfahren, bspw. Feldtests, sind nicht praktikabel, um die verschiedenen Herausforderungen mit vertretbarem Aufwand abzutesten. Beispielsweise haben die Projekte Verification-Validation-Methods (VVM) und SETLevel gezeigt, dass es auch durchaus möglich ist, verschiedene Szenarien in der Simulation zu reproduzieren. Die größte Forschungsfrage bleibt allerdings, ob die simulierten oder irgendwie getesteten Szenarien ausreichend die Realität abbilden. Betrachtet man zum Beispiel ein Überholmanöver auf einer Autobahn - das Szenario ist dabei relativ einfach: Das automatisierte Auto schert aus, überholt ein vorwegfahrendes Fahrzeug und schert wieder ein. Doch allein dieses Szenario lässt sich mit unterschiedlichen Parametern, wie bspw. Geschwindigkeit, Abstand, Wetter, Umgebung, etc, beliebig parametrieren, und es findet sich immer eine Konstellation von Parametern, die nicht getestet wurde, aber in der Realität auftaucht. Dieser Zusammenhang lässt sich zwar mit der Einschränkung einer Betriebsumgebung verbessern, allerdings nicht gänzlich vermeiden. Ein möglicher Ansatz ist hier die Untersuchung von Grenzfällen, also Szenarien, die jeweils die Grenzen ihrer Parameterräume abtesten und die dazwischenliegenden Werte damit als abgedeckt ansehen. Die Kombination aller zuvor genannten Maßnahmen kann einen belastbaren Sicherheitsnachweis für automatisierte Systeme im Straßenverkehr entstehen lassen. Zunächst wird eine Betriebsumgebung genau analysiert, strukturiert und digitalisiert. Dazu gehört auch eine Untersuchung der dynamischen Parameter der Betriebsumgebung, bspw. Verkehr und Wetter. Natürlich kann das Wetter nicht abschließend eingegrenzt werden, allerdings sind zumindest die normalerweise vorherrschenden Wetterverhältnisse gut bekannt. Werden diese verlassen, kann bzw. muss der automatisierte Betrieb unterbrochen werden. Dies gilt im Übrigen für alle angenommen Parameter. In der Simulation können dann besonders herausfordernde Konstellation der Betriebsumgebung ermittelt werden. Durch ein hochgenaues Verkehrsmodell können ebenfalls die Effekte einzelner anderer Fahrzeuge auf das automatisierte Fahrzeug ermittelt werden. Durch eine Analyse der Trajektorien in Kombination mit den jeweiligen Lichtraumprofilen (quer wie längs) können mögliche Verdeckungen oder Einschränkungen lückenlos ermittelt werden. Daraus entsteht eine Beschreibung der Betriebsumgebung inkl. aller benötigten Manöver, Wetterbedingungen und baulichen Randbedingungen, die die benötigten Fähigkeiten des Fahrzeugs genau beschreiben. Diese Fähigkeiten lassen sich dann strukturiert testen und nachweisen. Das System aus Fahrzeug und Infrastruktur kann in der jeweiligen Betriebsumgebung sicher betrieben werden. Validierung der Simulation Nach dem zuvor genannten, intensiven Einsatz von Simulationen für den Sicherheitsnachweis eines automatisierten Systems im Straßenverkehr bleibt noch die Frage nach der Richtigkeit der Simulationsergebnisse. Natürlich ist es möglich nahezu beliebige physikalische Vorgänge zu simulieren. Dabei werden in der Regel immer vereinfachende Annahmen getätigt, um die analoge, reale Welt digital abzubilden. In vielen Fällen haben die Vereinfachungen keinen (nennenswerten) Einfluss auf die Ergebnisse der Simulation und die Rückübertragung dieser in die Realität. Für einen Sicherheitsnachweis ist die Richtigkeit dieses Zusammenhangs allerdings explizit zu zeigen, die Simulationsmodelle müssen validiert werden. Für diesen Zweck betreibt das Institut für Verkehrssystemtechnik das Testfeld Niedersachsen - eine Forschungsanlage für die automatisierte und vernetzte Mobilität. Das Testfeld Niedersachsen bietet viele Möglichkeiten der Datenerfassung und Verarbeitung rund um den Straßenverkehr und dient als Forschungsplattform für viele Fragestellungen im Bereich der Digitalisierung der Mobilität. Ein Element des Testfelds ist die hochgenaue Verkehrserfassung (Bild 3). Sowohl innerstädtisch, als auch auf der Autobahn kann der Verkehr mit einer besonders hohen Präzision erfasst werden. Auf etwa 7 km Autobahn können alle Fahrzeuge, bei allen Licht- und Wetterverhältnissen, mit einer Genauigkeit von ca. 25 cm erfasst werden. Die aufgenommenen Daten können nahtlos in das begleitende Simulationssystem übertragen werden. Durch einen direkten Vergleich können beispielsweise Modelle der Sensorsysteme eines Fahrzeugs unmittelbar validiert werden. Dazu wird ein spezifisches Fahrzeug, also ein Fahrzeug des Typs, der später auf einer Betriebsumgebung zum Einsatz kommen soll, auf dem Testfeld bei unterschiedlichen Tageszeiten und Wetterbedingungen bewegt. Je nach Konstruktion des Fahrzeugs ist auch die Übertragung eines Sensorsetups möglich, indem es an einem anderen Trägerfahrzeug in gleicher Einbauposition montiert wird. Die erfassten Objekte (oder andere physikalische Eigenschaften, abhängig vom später genutzten Modell in der Simulation) werden zusammen mit den Daten des Testfelds synchronisiert aufge- Bild 2: Blick auf die A39 (links), Pendant in der Simulation (rechts) Quellen: links Autoren, rechts Mapillary 8 Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 26 INFRASTRUKTUR Automatisiertes Fahren zeichnet. Anschließend werden die verschiedenen Szenarien in der Simulation nachgestellt und die Ergebnisse verglichen. Das eingesetzte Sensormodell für die Simulation, also die Nachbildung des Sensorsetups des zu testenden Fahrzeugs, kommt dabei i. d. R. vom Hersteller des Sensors. Falls dort kein Modell mit den richtigen Schnittstellen zur Verfügung steht, kann auch ein generisches Modell in Zusammenarbeit mit dem Sensorhersteller entsprechend konfiguriert werden. Anschließend ist das Verhalten des Modells in der Simulation validiert und kann auf andere Betriebsumgebungen übertragen werden. Dort wird dann keine umfangreiche Erfassungstechnik mehr benötigt: Solange der Betriebsbereich nicht grundsätzlich von dem abweicht, in dem das Modell validiert wurde, können die Validierungsdaten übertragen werden. Gibt es dennoch markante Unterschiede zwischen dem mit dem Testfeld Niedersachsen abbildbaren Betriebsbereich und dem geplanten Einsatzgebiet des automatisierten Systems, können mobile Einheiten des Testfelds verwendet werden, um an bestimmten Stellen des geplanten Bereichs zusätzliche Messungen durchzuführen. Mit dieser Validierungsstrategie ist es möglich, den Simulationsergebnissen zu vertrauen und diese in den Sicherheitsnachweis einfließen zu lassen. Anders als aus der Fahrzeugperspektive können dadurch genaue Anforderungen an das Fahrzeug gestellt und deren Überprüfung deutlich vereinfacht werden. Die „offene Welt“, also eine Welt, in der nahezu alles passieren kann, wird durch die Einschränkung auf eine Betriebsumgebung zu einer endlichen Menge an Herausforderungen. Natürlich hängt dies wiederum von der Größe bzw. Heterogenität der Betriebsumgebung ab. Ganze Städte als Betriebsumgebung können beispielsweise die Anzahl der zu bewältigenden Herausforderungen erheblich erhöhen. Eine genaue Analyse einer Betriebsumgebung lässt dann auch die Übertragung der Ergebnisse auf andere, vergleichbare Betriebsumgebungen zu. Zusammenfassung und Ausblick Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für automatisiertes Fahren im Straßenverkehr sind mit der AFGBV vorhanden. Einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb durch nennenswerte Transportleistungen und annehmbare Kosten für die Umsetzung des automatisierten Systems wird eine der wesentlichen Herausforderungen des automatisierten Fahrens in der Zukunft. Eine teilweise Übertragung von Technologie vom Fahrzeug in die Infrastruktur kann diese Rechnung nennenswert beeinflussen. Mit den vorgestellten Methoden und Forschungsanlagen lässt sich ein Weg zur Genehmigung einer Fahrzeug-Betriebsbereich-Kombination beschreiben und durchführen. Validierte Simulationsumgebungen können dabei einen Schlüsselbaustein darstellen. Die Anwendung und Inbetriebnahme erster profitabler Betriebe werden die notwendige Erfahrung erzeugen und den Weg für automatisiertes Fahren in Deutschland und Europa ebenen. Es bleibt spannend, welche Geschäftsmodelle sich schlussendlich als tragfähig erweisen. ■ 1 Siehe z. B. Projektbeispiele der Götting KG: www.goetting. de 2 Forbes: Baidu Unveils Ambitious Robotaxi Plan In China. www.forbes.com/ sites/ bradtempleton/ 2022/ 11/ 30/ baiduunvails-ambitious-robotaxi-plan-in-china/ 3 The Guardian: California allows driverless taxi service to operate in San Francisco | Self-driving cars. www.theguardian.com/ technology/ 2022/ jun/ 03/ california-driverlesstaxi-cars-san-francisco 4 Handelsblatt: Argo AI: VW und Ford steigen aus Robotaxi- Firma aus - Branche in der Krise. www.handelsblatt.com/ unternehmen/ industrie/ autonomes-fahren-vw-und-fordverlieren-durch-argo-ausstieg-viel-geld-robotaxi-branche-stehen-schwere-zeiten-bevor/ 28773078.html 5 Zum Beispiel Moia: Autonomes Fahren für die Stadt: Unsere Mission | MOIA. www.moia.io/ de-DE/ innovation 6 California DMV: OL 317, Autonomous Vehicle Manufacturer Surety Bond. www.dmv.ca.gov/ portal/ file/ autonomousvehicle-manufacturer-surety-bond-ol-317-pdf/ 7 Siehe California DMV: Autonomous Vehicle Collision Reports. www.dmv.ca.gov/ portal/ vehicle-industry-services/ autonomous-vehicles/ autonomous-vehicle-collision-reports/ 8 www.mapillary.com/ app/ ? pKey=1186327365176004 Lennart Asbach, Dipl.-Ing. Abteilungsleiter Verifikation und Validierung, Institut für Verkehrssystemtechnik, DLR, Braunschweig lennart.asbach@dlr.de Michael Ortgiese, Prof. Dr.-Ing. Kommissarischer Direktor, Institut für Verkehrssystemtechnik, DLR, Braunschweig michael.ortgiese@dlr.de Bild 3: Kamerakopf des Testfeldes Niedersachsen (links), Blick auf die Erfassungstechnik des Testfelds (rechts) Quelle: DLR Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 27 Wie sich die Autobahn digitalisieren will Straßenverkehr, Bundesautobahn, Bau und Instandhaltung, Geographische Informationssysteme (GIS) Effiziente Transportwege sind wichtiger denn je: Fast 3,7 Milliarden Tonnen Güter werden jedes Jahr über deutsche Straßen transportiert. Obwohl es mit Flug- und Schienenverkehr viele Alternativen gibt, ist die Autobahn als Transportweg beliebt wie nie, denn kaum ein anderes Land verfügt über ein längeres und besser ausgebautes Straßennetz. Um die Infrastruktur in bestem Zustand zu halten und ihre Leistungsfähigkeit weiter zu steigern, soll die 2018 gegründete Autobahn GmbH des Bundes den Betrieb in allen 16-Bundesländern zentral verwalten, mit den verfügbaren Ressourcen besser planen und Bau- und Instandhaltungsprojekte effizienter umsetzen. Dazu wurden GIS-basierte Technologien etabliert, mit deren Hilfe sowohl der Zustand der Autobahnen als auch der Bestand der Bäume nun dauerhaft mithilfe visueller Dashboards überblickt und verwaltet werden kann. Stefan Jung I n diesem Jahr wird die Gesamtmenge der auf deutschen Straßen transportierten Güter mehr als 3,7 Milliarden Tonnen betragen [1]. Und die Tendenz ist weiter steigend: Prognosen gehen davon aus, dass die Menge 2025 bereits gigantische 3,9 Milliarden Tonnen übersteigen könnte. Obwohl es mit Binnenschifffahrt, Flug- und Schienenverkehr zahlreiche Alternativen gibt, ist die Autobahn als Transportweg so beliebt wie nie. Und das hat einen guten Grund, denn kaum eine andere Nation verfügt über ein Straßennetz, das länger und besser ausgebaut ist als Deutschland. Auf einer Gesamtlänge von rund 13.000 Kilometern verbinden die deutschen Autobahnen Nord und Süd genauso wie Ost und West. Wie wichtig diese Achsen für den europäischen Güterverkehr sind, zeigt sich auch bei einem Blick auf die Kennzeichen der LKW, die auf deutschen Autobahnen unterwegs sind: Laut einer Analyse von Toll Collect liegt der Anteil ausländischer Fahrzeuge bei rund 42 Prozent. Ein Großteil davon stammt aus Polen, doch auch viele in Litauen oder Tschechien zugelassene LKW nutzen die Fernstraßen, um Fracht von A nach B zu transportieren. Kein Wunder also, dass die deutsche Autobahn hinsichtlich des Foto: Erich Westendarp / pixabay Digitalisierung INFRASTRUKTUR Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 28 INFRASTRUKTUR Digitalisierung Güterverkehrs auch als zentrales Nervensystem Europas bezeichnet wird. Ein Kraftakt, der sich nachhaltig bezahlt machen wird Bisher wurden die Autobahnabschnitte aller 16 Bundesländer unabhängig voneinander verwaltet. Das hatte zur Folge, dass wenig grenzübergreifender Informationsfluss bestand und Gelder nicht immer optimal eingesetzt werden konnten. Mithilfe der 2018 gegründeten Autobahn GmbH des Bundes soll sich das jetzt endlich ändern, denn durch sie kann die deutsche Autobahn erstmals zentral verwaltet werden. Ziel dabei ist es, mit den verfügbaren Ressourcen besser planen und Bau- und Instandhaltungsprojekte effizienter umsetzen zu können, um den guten Zustand des weit verzweigten Straßennetzes nicht nur dauerhaft zu gewährleisten, sondern die Leistungsfähigkeit sogar noch zusätzlich steigern zu können. Um dieses Vorhaben von der Theorie in die Praxis umsetzen zu können, braucht man auch eine zentrale Geodateninfrastruktur, die die Daten aus 16 Bundesländern und insgesamt zehn Niederlassungen in einem einheitlichen System zusammenführt. Von vielen Unternehmen wird die wichtige Rolle, die Geodaten spielen, noch immer nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. Tatsächlich weisen aber etwa 80 Prozent aller Informationen einen Raumbezug auf - auch auf der Autobahn. Um die aktuelle Situation des Straßennetzes abbilden zu können, müsste also zunächst eine Zustandserfassung und -bewertung der Straßenabschnitte durchgeführt werden. Hierfür wurden die Autobahnen in Abschnitte von jeweils hundert Metern eingeteilt und mit Sensoren abgefahren. Die hierdurch gesammelten Daten wurden in ein System überführt, den sogenannten TIM- Geo Viewer. Dieser lässt sich von den Mitarbeiter: innen der Autobahn flexibel abrufen - egal ob im Büro oder auf mobilen Endgeräten im Außendienst. Damit bietet der TIM-Geo Viewer nicht nur einen Überblick über Zustand und Bauweise der Straßenabschnitte, sondern bildet außerdem eine Grundlage für Planungstools, die es der Autobahn GmbH ermöglichen, smarter zu planen und Bau- und Instandhaltungsmaßnahmen effizienter auszuführen. Gesammelte Daten geben Auskunft über den Zustand der Autobahnen Bei der weiteren Erfassung des Datenbestandes wurden auch Daten über andere Objekte erfasst, die sich entlang des Streckennetzes befinden. Dazu gehören zum Beispiel Raststätten und Lärmschutzbauten, aber auch Versorgungskabel oder Bäume. Durch die Erfassung dieser verschiedenen Informationsebenen konnte ein digitales Abbild der Autobahn erstellt werden, das auch als „Digital Twin“ bezeichnet wird. Mit seiner Hilfe ist es nun zum Beispiel möglich, die Baumkontrolle aus der Ferne zu planen. Dank des TIM-Geo Viewers können die Mitarbeiter: innen alle Informationen über größere Pflanzen, die sich entlang der Fahrbahnen befinden, digital abrufen und erhalten dadurch zum Beispiel Einblick, um welche Baumsorte es sich handelt, welchen Umfang der Stamm aufweist. So können die Teams im Außendienst unter anderem dafür sorgen, dass sie die richtigen Werkzeuge mit sich führen, anstatt nicht zu wissen, was genau sie vor Ort erwarten wird. Während dieses Teilprozesses, der für die Digitalisierung der Autobahn essenziell ist, stellte sich allerdings heraus: Vor allem die deutschen Brücken, von denen es etwa 39.600 gibt, sind teilweise sanierungsbedürftiger als gedacht. Ein großer Teil von ihnen ist 40 und mehr Jahre alt, wobei laut Autobahn GmbH die Zahl der zu sanierenden Brücken sogar doppelt so hoch ausfallen dürfte wie zunächst angenommen [2]. Informationen wie diese sind essenziell, um besser einschätzen zu können, an welchen Stellen Investitionen getätigt werden müssen, um den Zustand der Straßen aufrechtzuerhalten und weiter zu verbessern. Die Umsetzung dieses Digitalisierungsprojekts ist ein gewaltiger Kraftakt. Angesichts der steigenden Herausforderungen ist es allerdings äußerst lohnenswert, diesen Schritt jetzt zu gehen, um in den kommenden Jahren in Echtzeit abrufen zu können, auf welchen Abschnitten eine Wartung notwendig wird, Straßenbelag ausgetauscht werden muss oder die Sträucher auf dem Mittelstreifen einen neuen Schnitt benötigen. Eine digitale Autobahn kommt Wirtschaft und Natur zugute Die digitale Transformation ist ein fortwährender Prozess - nicht nur im Zusammenhang mit Handel oder Industrie, sondern auch bei im Falle der deutschen Autobahn. Ist der notwendige Grundstein erst einmal gelegt, eröffnen sich allerdings nahezu grenzenlose Möglichkeiten, die noch weit über vorausschauende und ressourcensparende Verwaltung des Straßennetzes hinausgehen. So lässt sich mithilfe eines Digital Twin beispielsweise modellieren, wie sich der Verkehrsfluss ändert, wenn eine Brücke zur Sanierung gesperrt werden muss. Die Folgen von Disruptionen wie dieser bereits im Vorfeld abschätzen zu können, ist ausschlaggebend, um die Autobahn in ein neues, digitales Zeitalter überführen zu können, in dem nicht nur Gelder effizienter eingesetzt werden, sondern auch die Verkehrsteilnehmer: innen ihre Route möglichst smart planen können, um ebenfalls Ressourcen einzusparen. Vor allem für die Logistik sind solche Echtzeiteinblicke von unschätzbarem Wert. Stundenlang in einem Stau zu stehen, bringt nicht nur das Just-In-Time-Prinzip zum Wanken, das nur dann funktionieren kann, wenn sich Prozesse minutiös planen lassen. Auch der Kraftstoffverbrauch wird dadurch in die Höhe getrieben - angesichts der aktuellen Preise ein finanzieller Faktor, den sich kaum ein Unternehmen noch leisten kann. Einer Studie des Analyseanbieters Inrix zufolge liegt der dadurch verursachte Schaden jährlich in Milliardenhöhe [3]. Staus schaden demzufolge auch dem Wirtschaftswachstum. Kann das Wissen über bevorstehende Baustellen und Sperrungen und die dadurch zu erwartenden Verkehrsbehinderungen jedoch in Echtzeit mit Handels- und Transportbetrieben teilen, können diese ihre Routen umgehend anpassen und dadurch Wirtschaft wie Umwelt schützen. Digital Twins machen Mobilitätswende möglich Doch was kann die digitale Autobahn in Zukunft ganz konkret leisten - zum Beispiel, wenn E-Laster ihre Vorgänger mit Verbren- Foto: Daimler Truck Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 29 Digitalisierung INFRASTRUKTUR nermotor ablösen? Laut einer kürzlich von PwC veröffentlichten Studie könnte genau das bereits in naher Zukunft der Fall sein [4]. Die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft geht davon aus, dass bereits 2030 elektronisch betriebene LKW- Gesamtkosten aufweisen werden, die 30 Prozent unter den alten Dieselfahrzeugen liegen. Aus diesem Grund könnte zu diesem Zeitpunkt schon jeder dritte Lastwagen, der in Europa, Nordamerika oder China neu zugelassen wird, elektrisch fahren. Bis 2035 könnte der Anteil der Neuzulassungen dann bei stolzen 70 Prozent liegen, womit elektronisch betriebene LKW die Dieselvariante endgültig als Marktführer ablösen würden. Voraussetzung für diese Mobilitätswende ist ein flächendeckendes Netz von Ladesäulen. Laut PwC-Bericht müsste dies mindestens 1.800 Megawatt-Ladesäulen umfassen. Zusammen mit den benötigten Wasserstoff- Tankstellen würde dieser Ausbau allein in Europa rund 36 Milliarden Euro verschlingen - nicht gerade eine kleine Investition. Um die Gelder effizient einsetzen zu können, spielen Geodaten erneut eine entscheidende Rolle. Wie viele Ladestationen wo benötigt werden, hängt nämlich damit zusammen, welche Autobahnabschnitte und Raststätten am stärksten von LKW- Fahrer: innen frequentiert werden. Laut Toll Collect befinden sich die meistbefahrenen Autobahnabschnitte im Bereich der A2 um Hannover. Die Teilstrecke zwischen Hannover-Herrenhausen und Hannover Nordhafen weist im Schnitt beispielsweise täglich mehr als 11.200 Fahrten auf - verglichen mit durchschnittlichen Autobahnabschnitten handelt es sich dabei um etwa das Dreieinhalbfache [5]. Daten wie diese sind unverzichtbar, um die richtigen Standorte für LKW-Ladesäulen ermitteln zu können. Und mindestens ebenso wichtig sind sie, um das Versorgungsnetz, das unterirdisch entlang der Autobahnen verbaut ist, den neuen Bedürfnissen anzupassen. Ohne passende Anschlüsse nützen schließlich auch die neuesten Ladestationen in der Praxis nichts. Neue Chancen für den Solarausbau Eine weitere wichtige Debatte, dir durch die digitale Verwaltung deutscher Autobahnen entschieden vorangetrieben werden könnte, ist die Energiewende - eines der wohl aktuellsten Themen dieser Zeit. Da es sich bei Autobahnen um linear genutzte Flächen handelt, weisen sie ein hohes Solarpotenzial auf, das angesichts der aktuellen Energiekrise auf keinen Fall ungenutzt bleiben sollte. Noch fehlt es häufig an dem Wissen darüber, wo sich Photovoltaikanlagen gewinnbringend installieren und wie sie sich ans Stromnetz integrieren ließen, doch ein Digital Twin kann genau an dieser Stelle Licht ins Dunkel bringen. Insgesamt sind entlang deutscher Auto- und Bundesbahnen etwa 4.000 Kilometer an Lärmschutzvorrichtungen verbaut. Auch eine Überdachung von Autobahnen mit Photovoltaikanlagen ist derzeit im Gespräch. Ob und wie viel Strom sich durch solche Vorrichtungen erzeugen ließe, plant die Bundesregierung noch in diesem Jahr im Rahmen eines Pilotprojektes zu testen [6]. Hierfür soll an der baden-württembergischen Raststätte Hegau-Ost an der A 81 ein Demonstrator errichtet werden, der aus einem insgesamt 170 Quadratmeter großen Photovoltaik-Dach bestehen wird. Auf einer Stahlkonstruktion soll dies etwa fünfeinhalb Meter über der Fahrbahn montiert werden. Eine flächendeckende Nutzung solcher Anlagen sei vorerst nicht zu erwarten. Allerdings gehen Forscher: innen davon aus, dass auf technologisch sinnvollen Flächen wie Lärmschutzwänden oder Seitenstreifen ein Solar-Potenzial von mindestens 72 Gigawatt besteht - genug, um den jährlichen Bedarf von etwa 18.000 Haushalten, in denen vier Personen leben, abzudecken [7]. Das digitale Zeitalter deutscher Autobahnen startet jetzt Klimawandel, Energiekrise, Mobilitätswende: Gesellschaftlich sowie wirtschaftlich steht Deutschland derzeit vor enormen Herausforderungen. Für diese gilt es nun, neue und innovative Lösungen zu finden. Wie sich zeigt, spielt auch die deutsche Autobahn dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle - nicht nur hinsichtlich der E-Mobilität, die auch im Güterverkehr verstärkt Einzug hält, sondern auch, was den Ausbau eines flächendeckendes Solarnetzes betrifft. Die gute Nachricht ist: Die Autobahn GmbH des Bundes setzt derzeit alles daran, die Weichen für eine Zukunft zu ebnen, die nicht nur digitaler, sondern dadurch auch effizienter und nachhaltiger ist. Nachdem sie Anfang 2021 den Betrieb aufgenommen hat, ist nun der nächste Meilenstein in Sicht: Ab Ende kommenden Jahres will die Autobahn GmbH in der Lage sein, die zentrale IT-Infrastruktur, die im Verlauf der letzten Jahre errichtet wurde, selbstständig zu betreiben und zu verwalten. ■ QUELLEN [1] https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 205940/ umfrage/ prognose-zum-transportaufkommen-im-strassenverkehr-indeutschland/ (Abruf: 09.01.2023). [2] www.spiegel.de/ wirtschaft/ soziales/ deutschland-bruecken-sindnoch-maroder-als-befuerchtet-a-4ae84c75-afaf-444d-ac0add3016638def (Abruf: 09.01.2023). [3] www.dw.com/ de/ was-macht-stau-mit-unserer-umwelt-und-mituns/ g-47178066 (Abruf: 09.01.2023). [4] www.manager-magazin.de/ unternehmen/ autoindustrie/ pwc-studie-elektrolastwagen-werden-den-markt-beherrs chen-aadbdb4bf-a6e9-435f-b6d9-ab5148e80a98 (Abruf: 09.01.2023). [5] https: / / blog.toll-collect.de/ report-mautnetz-und-lkw-verkehr-fuer-das-2-halbjahr-2021-erschienen/ (Abruf: 09.01.2023). [6] www.heise.de/ news/ Solardaecher-ueber-Autobahnen-Deutschland-plant-Pilotprojekt-noch-in-diesem-Jahr-6345802.html (Abruf: 09.01.2023). [7] www.energiezukunft.eu/ erneuerbare-energien/ solar/ solardachueber-der-autobahn/ Abruf: 09.01.2023). Stefan Jung Head of Sales Transport, Telco and Utility, Esri Deutschland, Kranzberg s.jung@esri.de Foto: Daimler Truck Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 30 INFRASTRUKTUR Schienenverkehr Reaktivierung als Regionalpolitik Der regionale Einfluss von Eisenbahninfrastruktur: Identität, politisches Vertrauen und ökonomische Perspektiven Reaktivierung, Verkehrsinfrastruktur, Regionalentwicklung Veränderungen der Verkehrsinfrastruktur beeinflussen die regionale Entwicklung auf vielfältige Weise. Üblicherweise werden vor allem wirtschaftliche Faktoren betrachtet. Neue Verkehrsinfrastruktur hat aber auch soziopolitische Folgen. Dies untersuchen wir am Beispiel von reaktivierter Eisenbahninfrastruktur. Wir zeigen, dass Reaktivierungen die regionale Identifikation und politisches Vertrauen fördern können, insbesondere, wenn Bürgerinitiativen beteiligt waren. Vorhandene Schieneninfrastruktur steigert auch die Akzeptanz für zukünftige Investitionen in die Schiene und ist damit ein legitimierender Faktor für die Verkehrswende. Regina Weber, Stefanie Gäbler, Philipp Rollin D er Ausbau der Verkehrsinfrastruktur ist ein oft genutztes Mittel zur regionalen Entwicklung durch das Verbinden von Wirtschaftsräumen [1]. Für die politische Bewertung von Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen sollte aber auch berücksichtigt werden, dass solche Einschnitte ebenfalls weitreichende soziopolitische Folgen haben: Insbesondere Verkehrsmittel wie Bus und Bahn, ihre Bahnhöfe und Stationen sind öffentliche Orte, die den Zusammenhalt und die soziale Interaktion beeinflussen, positiv wie negativ. Durch zufällige Treffen in öffentlichen Räumen entstehen soziale Netze, die die Zugehörigkeitsgefühle der Nutzerinnen und Nutzer mit den jeweiligen Orten, die so genannte regionale Identifikation, verändern können [2]. Verkehrsinfrastruktur beeinflusst also die regionale Mobilität und Gesellschaft in vielerlei Hinsicht. Dass diese Aspekte bisher wenig Beachtung bei der Bewertung verkehrspolitischer Entscheidungen spielen, liegt auch daran, dass es an empirischen Daten zu den beschriebenen Zusammenhängen fehlt. Die im Folgenden beschriebene Studie leistet einen Beitrag zum Schließen dieser Forschungslücke. Reaktivierung als Beispiel für Infrastrukturveränderung Als Beispiel für veränderte Verkehrsinfrastruktur bieten sich reaktivierte Eisenbahnstrecken an. Nachdem seit den 1950er Jahren rund 15.000 Gleiskilometer in Deutschland stillgelegt wurden, ist die Reaktivierung solcher Strecken seit einigen Jahren wieder auf der politischen Agenda. Insbesondere vor dem Hintergrund der klimapolitisch motivierten Verkehrswende werden Reaktivierungen gefordert und vielerorts von Bürgerinitiativen oder der Lokalpolitik vorangetrieben [3]. Wir untersuchen daher die Auswirkungen verschiedener Formen von reaktivierten Schienenstrecken und dem Wissen über Eisenbahninfrastruktur auf regionale Identität, politische Beteiligung und wirtschaftliche Perspektiven der Befragten. Online-Experimentaldaten Da ein vergleichbares Setting zweier Regionen, die sich alleinig in dem Aspekt der Reaktivierung unterscheiden, schwer zu identifizieren ist, wurde für dieses Forschungsprojekt ein Online-Experiment durchgeführt. Dieser experimentelle Ansatz ist in der Verkehrsforschung bereits mehrfach erfolgreich angewandt worden [4]. Dabei wurden die Befragten zufällig vier unterschiedlichen Settings zugewiesen, die ihnen Informationen über einen fiktiven neuen Wohnort geben. Dieser hat entweder einen Bahnanschluss bzw. wurde durch unterschiedlich initiierte Reaktivierungen neu Bild 1: Bebilderung der Treatment-Vignetten Gruppe 1 bis 3 Quelle: pixabay Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 31 Schienenverkehr INFRASTRUKTUR angebunden (siehe Texte Tabelle 1). Um sicherzustellen, dass alle Befragten denselben Ort vor Augen haben, wurden die Geschichten (s. g. Treatment-Vignetten) mit dem Bild eines Bahnanschlusses illustriert, das auf einen kleinen Bahnhof oder S-Bahnhof hinweist (Bild 1). Auf Basis dieses Gedankenexperiments werden anschließend Fragen zur regionalen Identität sowie zur wirtschaftlichen Perspektive der Region und zu öffentlichen Investitionen gestellt. Die Daten basieren auf einer Befragung unter 878 Erwachsenen in Deutschland im Dezember 2021. Die Teilnehmenden sind auf die vier Gruppen gleichverteilt. Je ein Viertel lebt in einer Großstadt/ Stadt/ Kleinstadt/ kleinem Ort sowie 15 % in Ost- und 85 % in Westdeutschland. Außerdem wurden Geschlecht, Alter und beruflicher Status erfragt, um diese Aspekte zu kontrollieren. Die im Folgenden beschriebenen Ergebnisse basieren auf einem probit-Modell, mit dem die Antwortwahrscheinlichkeiten auf Fragen zu den Themen regionale Identität, politisches Vertrauen und Engagement sowie wirtschaftliche Entwicklung abhängig von der Treatment-Gruppe geschätzt werden. 1 Damit kann die Wahrscheinlichkeit ermittelt werden, mit der das entsprechende Wissen über die Infrastruktur am neuen Wohnort (Bahnanschluss vorhanden, Reaktivierung initiiert durch Bürgerinitiative, Reaktivierung initiiert durch Kommunalpolitik) die Antworten beeinflusst im Vergleich zu jemandem, der keine Informationen über die Verkehrsanbindung eines neuen Wohnort hat. Regionale Identität Regionale Identität wird hier als Zugehörigkeitsgefühl zu einem regionalen, physischen und sozialen Raum verstanden. Diese Zugehörigkeit entsteht durch das Gebiet, die Infrastruktur und durch soziale und politische Institutionen [5]. Soziale Kontakte und Symbole (wie etwa ein Bahnhof ) beeinflussen die Identität, indem sie typisches, „normales“ Verhalten vorgeben. Unsere Vermutung war, dass das Wissen über Verkehrsinfrastruktur an einem Ort (hier: neuer Wohnort) das beabsichtigte Verhalten beeinflusst, weil jemand mit der Infrastruktur das normale Verhalten vor Ort verbindet. Die Ergebnisse der Schätzung zeigen, dass das Wissen über einen vorhandenen Bahnanschluss allein nur sehr geringe Effekte auf die regionale Identität hat. Ist dieser Bahnanschluss allerdings reaktiviert worden durch eine lokale Bürgerinitiative, wirkt sich das in allen Bereichen positiv auf die Identifikation mit dem neuen Wohnort aus: Sowohl mit den Bewohnerinnen und Bewohnern vor Ort als auch mit der Region als solche fühlen sich die Befragten eher verbunden. Reaktivierungen, die durch die Kommunalpolitik angestoßen wurden, haben diesen Effekt nicht. Den deutlichsten Einfluss hat das Wissen über eine bürgerinitiierte Reaktivierung auf das Zugehörigkeitsgefühl zu den Menschen vor Ort. Die Identifikationswahrscheinlichkeit steigt hier um rund 15 %, aber auch die kommunale und regionale Identifikation steigt um rund 10 %. 2 Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass vor allem der Eindruck, an dem neuen Wohnort gebe es erfolgreiche Bürgerinitiativen, das lokale und regionale Zugehörigkeitsgefühl stärken kann (Bild 2). Politisches Vertrauen und Engagement Politisches Vertrauen gilt gemeinhin als Vertrauen in die politischen Institutionen (Regierung, Parlament, Polizei, etc.) und beeinflusst die Motivation, selber politisch aktiv zu werden. Aber auch fehlendes Vertrauen in die politischen Institutionen kann zum Antrieb für eigenes Aktivwerden werden, genau wie die Erfahrung, dass andere Menschen im Umfeld mit ihren politischen Aktivitäten erfolgreich sind [6]. Funktionierende Verkehrsinfrastruktur als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge trägt ebenfalls zum politischen Vertrauen bei: Die Qualität des „public service“ entscheidet mitunter darüber, für wie funktionsfähig der Staat gehalten wird [7]. Wir gingen daher davon aus, dass sich sowohl das Vorhandensein von Bahninfrastruktur als auch die Art der Reaktivierung auf das politische Vertrauen und die Einstellungen zum politischen Engagement auswirken. Die Schätzungen zeigen, dass das reine Vorhandensein von Bahninfrastruktur keine Auswirkungen auf politisches Vertrauen und Engagement hat. Allerdings zeigt sich ebenfalls, dass die Art der Reaktivierung einen Unterschied macht: Von Bürgerinitiativen initiierte Reaktivierungen steigern das Vertrauen sowohl in die Kommunalpolitik als auch in das eigene politische Engagement und die Möglichkeit, Politik als Bürgerinnen und Bürger gemeinsam zu beeinflussen. Reaktivierungen, die von der offiziellen Kommunalpolitik initiiert wurden, haben hingegen keinen Effekt auf das Vertrauen, dass sich politisches Engagement lohnt. Die Kommunalpolitik kann diese Form der Reaktivierung aber dennoch stärken - die Kommunalpolitik gewinnt sowohl bei Bürgerinitiativen als auch bei kommunalpolitisch initiierten Reaktivierungen an Ver- Kontrollgruppe Treatment Gruppe 1 Treatment Gruppe 2 Treatment Gruppe 3 Stellen Sie sich vor, Sie sind aus persönlichen und beruflichen Gründen relativ kurzfristig in einen neuen Wohnort gezogen. Sie haben Ihre Wohnung übers Internet angemietet. Sie kennen noch niemanden persönlich und wissen noch nicht viel über diesen Wohnort. Keine weitere Information. Sie wissen aber, dass er über einen Bahnanschluss verfügt. Sie wissen aber, dass er über einen Bahnanschluss verfügt. Hierzu wurde eine ehemals stillgelegte Strecke reaktiviert. Eine Bürgerinitiative hat sich über die Jahre hinweg letztlich erfolgreich für diese Reaktivierung eingesetzt. Sie wissen aber, dass er über einen Bahnanschluss verfügt. Hierzu wurde eine ehemals stillgelegte Strecke reaktiviert. Die Kommunalpolitik hat sich über die Jahre hinweg letztlich erfolgreich für diese Reaktivierung eingesetzt. Tabelle 1: Übersicht Texte für Gedankenexperiment Bild 2: Effekte auf regionale Identität 3 Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 32 INFRASTRUKTUR Schienenverkehr trauen (Bild 3). 4 Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass verschiedene Initiatoren von Streckenreaktivierungen unterschiedliche Effekte auf die Wahrnehmung des demokratischen Staates haben, aber in jedem Fall das Vertrauen in Institutionen und Partizipationsmöglichkeiten beeinflussen. Wirtschaftliche Entwicklung und öffentliche Investitionen Die klassische Vorstellung von Infrastrukturentwicklung impliziert eine Verbesserung der ökonomischen Situation durch neue Verkehrswege. Sinkende Transportkosten und kürzere und schnellere Verbindungen für Gütertransport und Personen durch öffentlich finanzierte Infrastruktur gelten als Motor für Wirtschaftswachstum [8]. Das Vorhandensein von Bahnverbindungen und das Wissen über reaktivierte Strecken ist ein gemeinhin sichtbares Zeichen für diese öffentlichen Investitionen. Wir gingen daher davon aus, dass vorhandene Schieneninfrastruktur und Wissen über Reaktivierungen sich auf die Einstellungen zur wirtschaftlichen Prosperität einer Region und auf die Einstellungen zu öffentlichen Investitionen in die Schieneninfrastruktur auswirken. Unsere Schätzungen zeigen, dass mit vorhandener Schieneninfrastruktur auch die Akzeptanz für zukünftige öffentliche Investitionen in das Schienennetz steigt. Dies gilt unabhängig von weiteren Informationen über die Art der Reaktivierung oder deren Initiatoren. Im Vergleich zu den Befragten, die keine Information über Verkehrsanbindung an ihrem neuen Wohnort haben, steigt die Unterstützung für zukünftige öffentliche Mittel um rund 10 %. Überraschend sind darüber hinaus die Einstellungen zur wirtschaftlichen Prosperität der neuen Wohnregion: Vorhandene Schieneninfrastruktur führt zu einer besseren Bewertung der wirtschaftlichen Entwicklung, es sei denn, eine Bürgerinitiative hat diese ursprünglich initiiert (Bild 4). Das deutet darauf hin, dass die maßgebliche Rolle einer Bürgerinitiative möglicherweise als Ersatz für erfolgreiche kommunale Wirtschaftspolitik verstanden wird, oder anders gesagt: Wenn eine Bürgerinitiative notwendig war, wird die wirtschaftliche Entwicklung nicht so positiv eingeschätzt. Fazit Die Experimentalstudie liefert erste Einblicke in mögliche soziopolitische Effekte von Veränderungen der Schieneninfrastruktur in Regionen. Generell bestätigen sich die vermuteten Zusammenhänge zwischen dem Wissen über Schieneninfrastruktur und Identität, politischem Vertrauen und ökonomischen Perspektiven. Die Ergebnisse liefern wertvolle Ansätze für das zukünftige kommunal- und regionalpolitische Handeln in der Verkehrspolitik. Gerade die unterschiedlichen Effekte von Reaktivierungen, die kommunalpolitisch oder durch Bürgerinitiativen angestoßen werden, zeigen, dass beide Akteure wichtige Funktionen für das Vertrauen in die Demokratie einnehmen. Es lässt sich daraus schließen, dass gemeinschaftliche Reaktivierungsprojekte positive Effekte für Regionen haben, die weit über die wirtschaftliche Entwicklung hinausreichen und die Identifikation und Zufriedenheit der regionalen Bevölkerung fördern. Aber auch die Zusammenhänge zwischen Infrastruktur und Einstellungen zu öffentlichen Investitionen sind wertvolles Wissen für zukünftige verkehrspolitische Entscheidungen. Für die angestrebte Verkehrswende sind massive Investitionen in die Schieneninfrastruktur notwendig, die unter anderem im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung angekündigt wurden. Es ist davon auszugehen, dass hier in den kommenden Jahren dauerhaft mehr öffentliche Investitionen nötig sind. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass vorhandene Infrastruktur einen legitimierenden Effekt für zukünftige Infrastrukturausgaben hat und damit langfristig dazu beiträgt, in einer Art Ketteneffekt die Investitionen für die angestrebte Verkehrswende zu legitimieren. Das gewählte methodische Vorgehen ermöglichte ein gezieltes und kontrolliertes Untersuchen spezifischer Einflussvariablen auf die genannten sozio-politischen Aspekte. Gleichzeitig stellt dies eine Schwäche bei der Beurteilung der externen Validität dar, da viele potenzielle weitere Einflussfaktoren wie das reale Umfeld, die lokale Mobilitätskultur oder persönliche Lebenssituationen nicht mit betrachtet werden können. Felduntersuchungen in Kommunen vor und nach real veränderter Verkehrsinfrastruktur stellen daher eine wichtige Folgeforschung dar. ■ 1 Hierzu wurden verschiedene Robustheitschecks durchgeführt. Neben einem probit-Modell mit und ohne Kontrollvariablen wurden außerdem ein logit-Modell und ein Ordinary least squares-Model geschätzt. Unsere Ergebnisse sind robust für diese verschiedenen Spezifikationen in der Regressionsmethodik. Bild 3: Effekte auf politisches Vertrauen und Engagement Eigene Darstellung Bild 4: Effekte auf Wirtschaftliche Entwicklung und öffentliche Investitionen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 33 Schienenverkehr INFRASTRUKTUR 2 Zur Kontrolle haben wir auch die Identifikation mit Deutschland und Europa gemessen, erwartungsgemäß hat hier die Schieneninfrastruktur keine Auswirkungen. 3 Die folgenden Abbildungen zeigen die Veränderung der Zustimmungswahrscheinlichkeit unserer drei Vignetten (Bahnanschluss; Reaktivierung durch eine Bürgerinitiative; Reaktivierung durch die lokale Politik) gegenüber der Basiskategorie (keine Informationen) zu verschiedenen Aussagen. Die Punkte zeigen den Punktschätzer der durchschnittlichen marginalen Effekte einer probit-Regression, Balken das 90 %-Konfidenzintervall. 4 Zur Kontrolle wurde ebenfalls das Vertrauen in die Landes- und Bundespolitik abgefragt. Hier gab es keine Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen. LITERATUR [1] Vgl. z. B. Hornung, E. (2015): Railroads and growth in Prussia. In: Journal of the European Economic Association, 13 (4), pp. 699-736. Donaldson, D. (2018): Railroads of the Raj: Estimating the impact of transportation infrastructure. In: American Economic Review, 108 (4-5), S. 899-934. Banerjee, A.; Duflo, E.; Qian, N. (2020): On the road: Access to transportation infrastructure and economic growth in China. In: Journal of Development Economics, 145, 102442. [2] Hague, C.; Jenkins, P. (2004): Place identity, participation and planning. Routledge. [3] Vgl. Gäbler, S.; Krause, M.; Rösel, F. (2021): 15 000 Kilometer Bahnstrecken weniger als vor 70 Jahren in Deutschland - Ost und West gleichermaßen betroffen. ifo Dresden berichtet, 28 (4), S. 3-6. VDV (2022): Auf der Agenda. Reaktivierung von Eisenbahnstrecken. 3. Auflage. www.vdv.de/ vdv-reaktivierung-von-eisenbahnstrecken-2022-3.-auflage.pdfx (Abruf: 17.01.2023). [4] Vgl. z. B. Thiel, F. (2020): Die Low-Cost-Hypothese. Ein empirischer Test am Beispiel der Befürwortung einer City-Maut. In: KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 72, S. 429-453. Brückmann, G.; Wicki, M.; Bernauer, T. (2021): Is resale anxiety an obstacle to electric vehicle adoption? Results from a survey experiment in Switzerland. In: Environmental Research Letters, 16 (12), 124027. [5] Raagmaa, G. (2002): Regional identity in regional development and planning. In: European Planning Studies, 10 (1), S. 55-76. [6] Vgl. z. B. Hooghe, M.; Marien, S. (2013): A comparative analysis of the relation between political trust and forms of political participation in Europe. In: European Societies, 15 (1), S. 131-152. Kaase, M. (1999): Interpersonal trust, political trust and non-institutionalised political participation in Western Europe. In: West European Politics, 22 (3), S. 1-21. Anderson, M. R. (2010): Community psychology, political efficacy, and trust. In: Political Psychology, 31 (1), S. 59-84. [7] Christensen, T.; Lægreid, P. (2005): Trust in government: The relative importance of service satisfaction, political factors, and demography. In: Public Performance & Management Review, 28 (4), S. 487-511. [8] Vgl. z. B. Doerr, L.; Dorn, F.; Gaebler, S.; Potrafke, N. (2020): How new airport infrastructure promotes tourism: Evidence from a synthetic control approach in German regions. In: Regional Studies, 54 (10), S.-1402-1412. Stefanie Gäbler, Dr. Wissenschaftliche Referentin, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF), Dresden gaeblerst@dzsf.bund.de Philipp Rollin Wissenschaftlicher Referent, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF), Bonn rollinp@dzsf.bund.de Regina Weber, Dr. Wissenschaftliche Referentin, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF), Bonn weberr@dzsf.bund.de Wenn multiple Krisen Städte und Gemeinden treffen Wenn multiple Krisen Städte und Gemeinden treffen Kritische Infrastrukturen | Blackouts | Krisenresilienz | Anpassungsstrategien 1 · 2023 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Krisen managen Lesen Sie in der neuen Ausgabe 1|2023 von Transforming Cities: Multiple Krisen als lokaler Stresstest Gefahrenlage Kritische Infrastrukturen und Blackouts Sicherheit und Sicherheitsgefühle in Bahnhofsvierteln Krisenmanagement im Ahrtal 2021 Hochwasserschutzmaßnahmen im Bereich der KRITIS-Versorgung Öffentliche Verwaltungen im Krisenmodus Digitale Risikotreiber in Smart Cities Erscheint am 6. März 2023. Jetzt bestellen unter: https: / / www.transforming-cities.de/ einzelheft/ Urbane Systeme im Wandel. Das Technisch-Wissenschaftliche Fachmagazin TranCit_1 2023_halbe_quer.indd 1 TranCit_1 2023_halbe_quer.indd 1 03. Feb. 2023 12: 38: 29 03. Feb. 2023 12: 38: 29 Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 34 Trends und Entwicklungen in-Chinas Logistik Die Pandemie-Krise hat Digitalisierung und Omnichannel-Integration beschleunigt Automatisierung, Omnichannel-Vertrieb, Fusionen Der chinesische Logistikmarkt erholt sich rasant von der Pandemie. Die Krise führt zu einer Beschleunigung der Digitalisierung in der Logistikbranche, Omnichannel-Integration und zu einer Zunahme von Fusionen. Dirk Ruppik N ach dem massiven Einbruch durch die strengen Corona- Lockdowns 2020 hat sich der chinesische Logistikmarkt bereits im vergangenen Jahr mit großer Geschwindigkeit wieder erholt. Neben beschleunigten Logistikprozessen führte die Pandemie zudem zu einer komplexeren Logistik und zu einer zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung von Logistikprozessen besonders im E-Commerce. Konsolidierung bei 3PL- und Express-Dienstleistern Die ungeheuer schnelle Erholung der Nachfrage führt laut McKinsey [1] auch zur Umstrukturierung des 3PL-Dienstleistungs- Bereichs. Einerseits sind mehr Fusionen und Übernahmen zu verzeichnen, anderseits fokussieren die Unternehmen zunehmend auf Digitalisierung und Omnichannel-Integration. Ein Beispiel ist die Gründung der China Logistics Group: Sie entstand im Februar 2022 durch die Fusion von fünf Staatsunternehmen, darunter die ehemalige China Railway Materials Group. Als strategische Investoren sind zudem die China Eastern Airlines, die China Cosco Shipping Group und die China Merchants Group beteiligt. Der neue Logistikriese soll internationale Handelsverbindungen und Frachtdienstleistungen entwickeln und so die globalen Lieferketten (re-)organisieren. Andere Beispiele sind der Kauf eines Anteils von 15 % in Air China Cargo durch Alibabas Logistikunternehmen Cainiao und die Akquisition eines Mehrheitsanteils von 51,8 % in Kerry Logistics durch SF Holding. Auf dem Expressmarkt hat die enorme Zunahme an Paketen (rund 30 %) zu einem extremen Preiskampf geführt, der zu einer Senkung der Preise zwischen zwölf und 27 % und zu schrumpfenden Profiten führte. Auch hier wird eine weitere Konsolidierung der Unternehmen erwartet. Kleinere Expressdienstleister werden zunehmend von den größeren gefressen. Luftfracht wird für E-Commerce bedeutender In bestimmten E-Commerce-Branchen wie der Modebranche verändert sich die Lieferstrategie. Wurden solche Güter früher massenhaft auf Containerschiffen versendet, wird jetzt der Luftweg aufgrund kundenindividueller Massenproduktion wichtiger. So sendet das chinesische Modeunternehmen Shein seine Ware in Großmengen als Air Cargo in den Zielmarkt (Direkt-Line- Modell) und versendet sie dann lokal über Postunternehmen. Viele E-Commerce- Giganten und deren Logistiker wie JD Logistics, Cainiao, SF Express und YTO Express bauen aufgrund des Direkt-Line-Modells zunehmend ihre Luftfrachtflotte aus. Omnichannel-Integration und Lagerhaus-Automatisierung im Fokus Beim Omnichannel-Vertrieb werden alle Verkaufskanäle konsistent miteinander verschmolzen - so ist ein leichter Wechsel der Kanäle möglich. Der Kunde kann also online bestellen und die Ware auch im Ladengeschäft abholen (Click & Collect). Auf allen Kanälen sind die erhobenen Kundeninformationen gleichermaßen vorhanden. Dies können beispielsweise Daten über vorhergehende Käufe, verlassene Warenkörbe, Kundendienst-Anfragen oder Verweildauer auf Produktseiten im Web sein. Alle Kanäle werden miteinander verschmolzen mit dem Ziel, kundenfreundlichere Verkäufe zu ge- Foto: Anja Bauermann / Unsplash LOGISTIK China Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 35 China LOGISTIK nerieren: Der Kunde steht im Mittelpunkt, die „Customer Experience“ soll durch ein kanalübergreifendes Markterlebnis sukzessiv optimiert werden. Diese Omnichannel- Strategie stellt allerdings große Anforderungen etwa an Intralogistik und Logistik. Neben einer Vielzahl von Produkten in geringer Losgröße ist auch die im E-Commerce übliche hohe Retourenquote zu bewältigen. Eine große Mehrheit der Konsumenten in China kauft online und offline. Daher steht auch im Land der Mitte die Omnichannel-Integration im Fokus. In der Intralogistik bedeutet das in erster Linie die Zusammenführung von Off- und Online- Bestellungen im Lager. Aufgrund steigender Arbeitskosten und Landpreise auch in China sowie der enormen Geschwindigkeit, mit der Bestellungen heutzutage bearbeitet und ausgeliefert werden müssen, muss die gesamte Supply Chain digitalisiert werden. Digitalisierung ermöglicht zusammen mit Industrie 4.0, Automatisierung und Künstlicher Intelligenz eine Optimierung der Lieferketten. So hat die chinesische Online-Handelsplattform JD.com in den vergangenen Jahren massiv auf hochautomatisierte Lagerhäuser gesetzt, um die Logistik zu beschleunigen [2]. Zudem baut das Unternehmen auch seinen eigenen Omnichannel-Service für Millionen konventioneller Händler aus, über die JD auch seine Waren vertreibt. Das eigene Omnichannel-Fulfillment wählt in Echtzeit den Einzelhändler, der die Waren der Kundenbestellung vorhält und am nächsten zum Kunden liegt. Ein Kurier bringt die Ware dann auf optimierten Routen zum Besteller. Laut der Leiterin der Finanzabteilung von JD.com, Sandy Xu, sind Kosteneffizienz und positive Kundenerfahrung entscheidende Faktoren beim Langzeiterfolg im Einzelhandel (siehe auch [3]). Diese Faktoren werden besonders von einer leistungsfähigen Logistik beeinflusst. Die Lagerhausfläche des Handelsriesen JD.com hat sich in nur fünf Jahren (2016 bis 2021) verfünffacht, und das Unternehmen betreibt nun 1.200 Lagerhäuser im gesamten Land. Es bezeichnet sich seit kurzem als führender Supply Chain-basierter Technologie- und Serviceanbieter und will diese Position zusammen mit Lieferanten und Partnern ausbauen. JD.com hat zudem damit begonnen, seine Technologie zu exportieren [4] und eröffnete schon im April 2021 zwei hochautomatisierte Lagerhäuser in Polen an der Grenze zu Deutschland und in Frankfurt am Main [5]. Durch sie kann ganz Europa extrem schnell beliefert werden. Zudem sollen sie als Vorbilder für andere State of the Art-Lagerhäuser in Europa dienen. Das Kernstück des Lagerhauses besteht aus einem Fahrerlosen Transportsystem, das den Kommissionierprozess revolutioniert und zweieinhalb Mal effizienter ist als übliche Pick-Systeme (Bild 1). Auch in anderen Bereichen wird kräftig digitalisiert Die Pandemie hat auch dazu geführt, dass digitale Frachtplattformen wie Cargowise von manchen Firmen im Land der Mitte implementiert wurden [6]. Der chinesische Spediteur Sanco International nutzt die Cloud-basierte Plattform zur Prozessintegration und Steigerung der Datenbzw. Informationstransparenz im Frachtbereich. Darüber hinaus ermöglicht sie eine bessere globale Kommunikation in Echtzeit und führt besonders in Krisenzeiten zur Aufrechterhaltung eines hohen Standards bei den Logistikdienstleistungen des Unternehmens. Während der Pandemie konnten dadurch Panik und Unsicherheit im Zaum gehalten werden. Laut Geschäftsführerin Daphne Ma hat die Einführung der Plattform zu mehr Effizienz, Steigerung des Geschäftsvolumens und Profits sowie zu einer Begrenzung der Arbeitskosten geführt. Regionale Zusammenarbeit wird wichtiger Im ersten Quartal 2020 bereits wurden die Asean-Staaten zum wichtigsten Handelspartner Chinas und überholten damit die USA und die EU. In diesem Zusammenhang ist auch die Ratifizierung des größten Freihandelsabkommens der Welt, der Regionalen Umfassenden Wirtschaftspartnerschaft (Regional Comprehensive Economic Partnership, RCEP, [7, 8]) der Asean-Staaten durch das chinesische Handelsministerium Anfang März 2021 wichtig. Durch das RCEP wird u. a. eine Steigerung des Handels zwischen den Mitgliedsstaaten und eine schnellere Erholung von der Pandemie, eine Zunahme von Investitionen und Dienstleistungen, eine höhere Rechtssicherheit und Schutz des intellektuellen Eigentums sowie eine Zunahme des E-Commerce erwartet. Im ersten Quartal 2022 wuchs der Handel zwischen dem Land der Mitte und den Asean-Staaten gegenüber dem Vorjahr um 6,9 % auf 448,6 Mrd. USD (433 Mrd. EUR). Nutznießer davon sind insbesondere der Maschinenbau und die Elektroindustrie, der E-Commerce und generell kleine und mittlere Unternehmen. ■ QUELLEN [1] McKinsey & Company (2022): Five things to know about the Chinese logistics market heading into 2022. 25.02.2022. www.mckinsey. com/ industries/ travel-logistics-and-infrastructure/ our-insights/ five-things-to-know-about-the-chinese-logistics-market-heading-into-2022 [2] SupplychainDive (2021): JD.com ramps up omnichannel approach as it looks beyond e-commerce. 31.08.2021. www.supplychaindive. com/ news/ jd-warehouse-omnichannel-retail-logistics/ 605521/ [3] JD.com (2022a): White Paper Released at CCFA Summit: How Business Thrives in On-Demand Retail. 28.07.2022. https: / / jdcorporateblog.com/ white-paper-released-at-ccfa-summit-how-business-thrives-in-on-demand-retail/ [4] JD.com (2022b): JD.com Opens First Overseas Service Centers in the US. 20.05.2022. https: / / jdcorporateblog.com/ jd-com-opens-firstoverseas-service-centers-in-the-us/ [5] JD.com (2021): JD.com Operates Automated Warehouses in Europe. 26.04.2021. https: / / jdcorporateblog.com/ jd-com-operates-automated-warehouses-in-europe/ [6] Wisetech Global (2021): Logistik-Trends in China: Die Vergangenheit würdigen - Die Zukunft gestalten. 03.05.2021. www.wisetechglobal. com/ de-de/ search/ ? q=Logistik-Trends%20in%20China: %20Die%20 Vergangenheit%20w%C3%BCrdigen [7] International Cargo Express (2022): Guide to the Regional Comprehensive Economic Partnership. 28.10.2022. https: / / icecargo.com.au/ guide-to-the-regional-comprehensive-economic-partnership/ [8] Yi Wu (2022): How the RCEP Has Benefitted China: Initial Findings from 2022. China Briefing. 18.05.2022. www.china-briefing.com/ news/ how-has-the-rcep-benefitted-china-findings-from-the-ini- Bild 1: Das hochautomatisierte Lagerhaus von JD.com in Polen nutzt ein Fahrerloses Transportsystem für die Kommissionierung. Foto: JD.com Dirk Ruppik Asien-Korrespondent und freier Fachjournalist, Phuket (TH) dirkruppik@gmx.de INTERNATIONAL Logistik Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 36 Semi-trailer in Germany Ongoing success story in driving the modal shift from road-to-rail Modal shift, Semi-trailer, Combined transport Over the last 15 years road transport has continued holding its dominant position, slowly increasing its share among other transport modes in Europe. In Germany, 71 % of road transport performance in 2021 was processed via semi-trailers - that can be considered as the dominant loading unit in the continental transportation segment. The goal of this article is to provide an update from our previous survey published in 2020. Eugen Truschkin O ver the last 15 years road transport has continued holding its dominant position, slowly increasing its share to 76.5 % in 2018 (in tkm) among other transport modes in Europe (UIC 2020). In Germany, 71 % of road transport performance in 2021 (220 billion tkm) was processed via semi-trailers (Federal Motor Transport Authority 2021) that can be considered as the dominant loading unit in the continental transportation segment. The goal of this article is to provide an update from our previous survey published in 2020. The hypothesis expressed in the conclusion of the previous survey: “further positive development in the modal shift of semi-trailers from road to rail in the next years can be expected” shall be examined against the latest developments (Truschkin 2020). In the following section current market- developments in the field of combined- transport by loading units are presented, followed by a discussion and a conclusion. Overview of market developments The following Figure 1 represents the statistics of transport performance (tkm) by loading units in combined transport in Germany. Main takeaways can be summarized as follows: •• Overall transport performance (tkm) in combined transport in Germany has more than doubled from 25.78 b tkm to 52.08 b tkm in the period 2005-2021 •• Semi-trailers (non-accompanied transport) continue to demonstrate the strongest increase dynamics (CAGR semi-trailers non accompanied = 13 %) among all types of intermodal transport units (CAGR Containers/ Swap bodies = 2 %; CAGR ROLA = 5 %) 2005-2021 According to UIC (2020) the overall transport performance of combined transport in Europe increased by 34.3 % from 2009 to 2018 (referred to tkm), where overall rail freight transport performance increased by 17.8 % in the same period. For Germany, the share of combined transport in total rail freight has increased from 28 % in 2016 to 29 % in 2018, which is above the average indicator of 22.9 % in the European countries. Overall, the same picture as in the previous survey (Truschkin 2020) can be observed - the strongest increase in rail transport performance is generated in combined transport and specifically in the segment of non-accompanied semi-trailers in case of Germany. As indicated in Figure 2, the driver for the share increase of non-accompanied semitrailers on combined transport mainly results from import, export and transit transports. Transit routes demonstrate constant increase in transport performance in the observed period. In other words, non-accompanied semitrailers appear to continue their success story in the modal shift from road to rail specifically on international routes in Germany, thus our previously stated hypothesis can be validated. Obviously, the vast majority of these transports are executed by cranable trailers due to the prevailing conventional vertical technologies. Yet, some of the existing horizontal transshipment technologies (e. g., CargoBeamer) are compatible with conventional ones and execute their operations at intermodal terminals equipped with gantry cranes or reach stackers. Figure 1: Distribution of transport performance of loading units in the combined transport (%) in Germany 2005-2021 Source: Destatis 2022 Logistik INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 37 According to the interview executed by the author of this article in December 2022 with a representative of one of the leading European semi-trailers manufacturers, no increase of the share of cranable trailers in the incoming orders (cranable vs. non cranable) has been observed over the last years. At the same time the overall order volumes for trailers have demonstrated a constant increase over years. Cranable trailers are mostly ordered by large land transport freight forwarders. The overall growing number of semitrailers along with decreasing barriers for combined transport (addressed in the follow up sections) contribute to the increasing role of this loading unit. Horizontal transshipment technologies have demonstrated dynamic development over the past years Compared to the previous survey, the dynamic developments in the field of horizontal transshipment technologies can now be observed. Two technology providers Lohr and CargoBeamer steadily strengthen their market positioning establishing as market leaders in this segment. Helrom is one of the most recent developments in the field of horizontal transshipment technologies that were launched in 2019 with Megaswing-wagons (see Figure 3). In following, these technologies are briefly presented. The Leipzig-based CargoBeamer AG operates the CargoBeamer Alpin train on the route Kaldenkirchen/ Venlo (Netherlands) via Cologne (Germany) to Domossola (Italy). A total of four new intermodal trains, two for Germany and Italy each, were added to schedule in 2020, followed by additional three in 2021. In total eleven roundtrips per week are offered on this route (CargoBeamer 2021a). In 2019 the company received a financial subsidy of 7 million euros for the construction of the terminal Calais in 2019 (CargoBeamer 2019), which was put into operation in July 2021 with the domestic route to Perpignan (CargoBeamer 2021b), allowing the operation of six train pairs daily, resulting in a total of 432 semi-trailers every day. The second expansion stage is scheduled for 2023 and will double the terminal’s capacity to a total of twelve daily train pairs. In October 2021 a new connection between Calais and Domodossola was added to the network, following the goal of providing intermodal transport streams towards Central and Eastern Europe (Cargo Beamer 2021c). CargoBeamer Terminal in Calais serves as the first so called “full” terminal, where semi-trailers are transshipped horizontally in opposite to other routes, where vertical conventional technology is in use. Three additional regular routes were added in 2022 - two on the France-Germany corridor: Kaldenkirchen-Perpignan and Cologne - Sète, and one on the domestic level in Germany between Rostock and Kaldenkirchen. The Lohr company with its technology Modalohr, currently possesses six terminals (terminals Aiton, Le Boulou and Calais, in France, terminal Orbassano in Italy, terminal Bettemburg in Luxemburg, terminal Poznan in Poland); seven more are “ready to build”, further six are under “detailed studies”, further fourteen are under “preliminary studies” (Modalohr 2022). The company Helrom addresses the market segment of non-cranable trailers with Megaswing wagons. These will be used on the Vienna - Duisburg route, initially with one daily train in each direction. Further corridors are to be added in the coming years with the goal of serving 50 routes by 2026. The network would then stretch from Stockholm in the north to Rotterdam in the Figure 2: Distribution of transport performance of semi-trailers non-accompanied in the combined transport by directions in % in Germany 2005-2021 Source: Destatis 2022 Figure 3: Horizontal transshipment technologies - Helrom, CargoBeamer, Modalohr - from left to right. On the top the conventional vertical transshipment via rail-mounted gantry crane Illustration: DB Engineering & Consulting GmbH INTERNATIONAL Logistik Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 38 west, Perpignan in the south and the Bulgarian/ Turkish border in the east. Helrom intends to operate as a railway undertaking, leasing or renting the locomotives, also providing maintenance services for the wagons (DVZ 2019). Unlike the examples presented above, no terminal investments are required in case of this technology. Origins and destinations can therefore be selected in a flexible manner (DVZ 2022). Discussion Previous survey (Truschkin, 2020) assumed the undergoing market consolidation in the road transport sector as one of the reasons for the increasing role of semi-trailers in the modal shift from road to rail - the larger the company, the higher the willingness to shift from road to rail (Truschkin et al. 2014). According to the Federal Office for Goods Transport the number of transport companies in Germany in 2015 decreased by 9.3 % in the period of 2010-2015 (4.625 companies, most of them with up to 9 employees, closed their businesses). In the same period, the number of semi-trailers in ownership of transport companies with a total payload of >24,000 kg has decreased by 4.6 % (from 206,627 to 197,019) (Federal Office for Goods Transport 2016, 2012). The opposite trend however can be observed in the follow up years. In the period of 2015-2020 the number of transport companies in Germany increased from 45,051 to 46,902 (4.1 %), which is still lower than in 2010 with 49,676 transport companies in total. In 2015-2020, the number of semi-trailers in ownership of transport companies with a total payload of >24,000 kg has increased by 4.6 % (from 197,019 to 206,225) almost reaching a level of 2010 (206,627 semi-trailers in total) (Federal Office for Goods Transport 2021, 2016, 2012). Increasing efficiency of combined transport in terms of its competitiveness both for price and service level compared to road transport in longer distances (supply side) along with an increasing awareness of the ways of organizing combined transport operations among forwarding companies (demand side) can be considered as the main reasons for the observed developments. Evolving digital solutions specialized in combined transport, which also offer an easy-way of last mile transport organization include more decision makers to consider an additional transport solution in their portfolio. Additionally, strong development of horizontal transshipment technologies boosts the modal shift. Further reasons, which promote the attractiveness of combined transport are still the increasing driver-shortage, lower maintenance costs for semi-trailers in combined transport compared to road transport, exemption from certain regulatory policies (e.g., night driving ban, mandatory rest hours for drivers), as well as reduction of CO 2 emissions. Conclusion •• Summarizing the above, the following can be concluded. Overall, the desired modal shift in Europe from road to rail is currently taking place at a rather slow pace. The major dynamics in the rail transport development in Europe come from the continental combined transport with an increase of 34.3 % from 2009 to 2018 (UIC 2020). Hereby, the continental combined transport via semi-trailers demonstrates the strongest increase among other loading units (containers, swap-bodies, trucks). •• More transport companies (also smaller ones) appear to discover the benefits of combined transport its attractive economic, social and environmental conditions on longer distances - and include this transport option in the transport mode choice. •• Particularly in Germany, Deutsche Bahn’s “Strong Rail” program creates further prerequisites for developing modern, environmental-friendly and efficient railway system. The increase of competitiveness of the rail network is realized via the set of defined measures, including among others the modernization of rail infrastructure, construction and expansion of lines and nodes, technological innovation and digitization of the network, more efficient capacity management. •• Hence, we conclude this article with the same expectation as three years ago, where further positive development in the modal shift of semi-trailers from road to rail in the next years can be awaited. REFERENCES CargoBeamer, 2019. 7m € funding from the EU for the CargoBeamer “rail motorway” terminal in Calais. / www.cargobeamer.eu/ 7m-fromthe-EU-for-the-CargoBeamer-rail-motorway-terminal-in-Calais-852891.html CargoBeamer, 2021a. Six new weekly trains on Alps-route. https: / / www. cargobeamer.com/ news/ six-new-weekly-trains-on-alps-route. html. CargoBeamer, 2021b. CargoBeamer opens terminal in Calais. https: / / www.cargobeamer.com/ news/ cargobeamer-opens-terminal-incalais.html CargoBeamer, 2021c. CargoBeamer adds Calais - Domodossola lane. https: / / www.cargobeamer.com/ news/ cargobeamer-adds-calaisdomodossola-lane.html DVZ, 2019. Barrierefreier Bahnzugang. DVZ 15.10.2019 https: / / www.dvz. de/ rubriken/ land/ schiene/ detail/ news/ barrierefreier-bahnzugang. html DVZ, 2022. Was Helrom treibt. Kombinierter Vekehr. DVZ - 23 08.06.2022 Destatis, 2019. Goods transport, Transport, performance. www.destatis. de/ EN/ Themes/ Economic-Sectors-Enterprises/ Transport/ Goods- Transport/ Tables/ goods-transport-lr.html#fussnote-1-62396 Destatis, 2022. 46131-0017: Beförderte Güter, Beförderungsleistung, Ladeeinheiten, Container (Eisenbahngüterverkehr): Deutschland, Jahre, Hauptverkehrsbeziehungen, Art der Ladeeinheit, Ladezustand. Zeitraum 2005-2021. www-genesis.destatis.de/ genesis/ / online? operation=table&code=46131-0017 European Commission, 2011. White Paper on Transport. Publications Office of the European Union, Luxembourg. Federal Office for Goods Transport, 2021. Struktur der Unternehmen des gewerblichen Güterkraftverkehrs und des Werkverkehrs. Band USTAT 19 November 2020. Bundesamt für Güterverkehr, Köln. Federal Office for Goods Transport, 2016. Struktur der Unternehmen des gewerblichen Güterkraftverkehrs und des Werkverkehrs. Band USTAT 18 November 2015. Bundesamt für Güterverkehr, Köln. Federal Office for Goods Transport, 2012. Struktur der Unternehmen des gewerblichen Güterkraftverkehrs und des Werkverkehrs. Band USTAT 17 November 2010. Bundesamt für Güterverkehr, Köln. Federal Motor Transport Authority, 2018. Verkehr deutscher Lastkraftfahrzeuge (VD) Verkehrsaufkommen Jahr 2018 Federal Motor Transport Authority, 2021. Verkehr deutscher Lastkraftfahrzeuge (VD) Verkehrsaufkommen Jahr 2021 Modalohr, 2022. The LOHR System Terminals. https: / / lohr.fr/ lohr-railwaysystem/ the-lohr-system-terminals/ Truschkin, E. 2020. Semi-trailer on rail in Germany - the driver of a modal shift? International Transportation, Special Edition 1, Volume 72: 53-55 Truschkin, E., Elbert, R., Günther., A. 2014. Is transport subcontracting a barrier to modal shift? Empirical evidence from Germany in the context of horizontal transshipment technologies. Business Research, 7: 77-103 UIC 2020. 2020 Report on Combined Transport in Europe. Eugen Truschkin, Dr. Logistics Consulting, DB Engineering & Consulting GmbH, Berlin eugen.e.truschkin@deutschebahn. com Europäische Union INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 39 Photo: Alexandre Lallemand / Unsplash New Mobility Patterns Study Insights into passenger mobility and urban logistics I n December 2022 the European Commission published the results of a broad study on new mobility patterns, unveiling the mobility choices of citizens across the EU, and how the urban logistics sector is developing in 16 cities. The survey showed that, on average in 2021, EU citizens travelled 27 km per day, for an average duration of 80 minutes. The predominant means of transport was the car, which was used for almost half of all trips. Excluding trips made by car, walking is the most popular way of moving around in most of the EU, with the Netherlands as a notable exception, where cycling is more popular. New mobility forms are gaining traction: ride-hailing (23%) and ride-sharing (12%) are attracting the most users, however they are generally used on an occasional basis. The results of the survey were influenced by the Covid-19 pandemic, which affected travel behaviour and restricted travel options. Indeed, 64% of respondents found that the pandemic affected their mobility. The targeted survey on urban logistics found that companies offering urban deliveries are more likely to own light goods vehicles (57%) than heavy goods vehicles (27%), with the remaining 16% owning both types of vehicle. Diesel-powered vehicles are popular across Europe, with the exception of a few cities. In Barcelona, 8% of light goods vehicles are hybrid diesel vehicles, while 53% are fully electric in Stockholm. This shows how local policies have enabled a shift to cleaner vehicles. Electric vehicles are mostly used for last-mile deliveries and smaller freight volumes, and deliveries by bike or powered two-wheelers have a very limited market share. According to the survey, companies planning to lower their emissions in logistics rely mainly on using collaborative transport and logistic centres, purchasing newer or alternative fuel vehicles or performing night-time deliveries. https: / / transport.ec.europa.eu/ transportthemes/ sustainable-transport/ sustainabletransport-studies_en New shipping fuel standards Reduce sulphur oxides in the Mediterranean by 80% T he European Commission welcomes the agreement reached by the International Maritime Organization (IMO) to step up protection of the Mediterranean, with a considerable tightening of the rules on exhaust gases from ships. This designation of the Mediterranean Sea as an Emission Control Area for sulphur oxides (SECA) will eventually cut emissions of these gases by almost 80% and will also cut emissions of harmful fine dust (PM2.5) by almost a quarter, with large benefits for human health and the environment. Sulphur oxides are exhaust gases from ship engines that burn marine fuel containing sulphur. As well as harming human health, they also cause acidification of water and soil. The designation of the Mediterranean as an emission control area means that as of 1 May 2025, ships will be required to use marine fuel with reduced sulphur content. The permissible sulphur content of marine fuels will fall from the current limit of 0.5% to 0.1%. This drop should prevent at least 1,000 premature deaths per year and reduce new cases of child asthma by 2,000 every year. Estimates point to around 300,000 premature deaths each year that are attributable to air pollution in the EU, a situation the Commission is addressing through a major revision of its air quality legislation, as part of the Zero Pollution Action Plan. https: / / environment.ec.europa.eu/ news/ new-shipping-fuel-standards-reduce-sulp h u r a i r p o l l u t a n t s m e d i t e r r a nean-80-2022-12-16_en EU mobility update Selected mobility studies, guidelines, and new regulations in Europe INTERNATIONAL Europäische Union Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 40 New EU rules on dedicated airspace for drones enter into force E U rules establishing a dedicated airspace for drones known as the U-space became applicable, allowing operators to provide a wider range of services. The U-space creates conditions for both drones and manned aircraft to operate safely and will allow the industry to continue scaling up the market for the drone industry and services. The new rules shall notably help carry out more complex and longer-distance operations, particularly in low-level and densely operated airspace, and when out of sight of the remote pilot. Such operations can cover vital services, for instance the transport of medical samples, assistance to first responders at an emergency scene, but also remote infrastructure inspections. The Commission adopted the legal framework for this unmanned traffic management system in April 2021. It is a concept unique to Europe, having been first developed in 2016, demonstrating EU leadership in this field. The next steps will involve Member States designating their U-space areas and service providers as well as work on information exchange and navigation performance standards. These technological developments will gradually support the full implementation of the U-space by 2030, as envisioned by the Drone Strategy 2.0, and could lead to innovative air mobility services such as fully automated passenger transport services. Commissioner for Transport Adina Vălean said: “As demonstrated in our recently adopted Drone Strategy 2.0, drones are a clear part of the future transport and logistics landscape. There is vast potential when it comes to future cargo and delivery services, as well as other innovative applications, including drone flights with passengers on board.” https: / / transport.ec.europa.eu/ news/ neweu-rules-dedicated-airspace-drones-enterforce-2023-01-26_en New guidelines to assess safety of road infrastructure O n 16 January 2023, the European Commission put out guidelines on methodology for network-wide road safety assessments. Although not mandatory, these guidelines aim to help public authorities in EU Member States to carry out the safety assessments of their road networks as required under the Road Infrastructure Safety Management (RISM) directive. The guidance documents comprises a framework addressing both a reactive (accident based) and a proactive (feature based) safety assessment, covering issues such as the lane width, road curvature, design of junctions, roadside layout and potential conflicts between motorised vehicles and vulnerable road users. It also suggests a methodology for a common safety rating system for classification of the existing road network which should allow to rate each road section according to a 5-level scale. This would enable authorities to identify priorities for future actions and investment to address road safety concerns. In accordance with the RISM directive, Member States must carry out the first network-wide road safety assessment of Motorways and Primary roads by 2024, and regularly thereafter. https: / / road-safety.transport.ec.europa.eu/ document/ download/ 93e39cd2-9e71-4ee0- 8a8e-4de4fddaf068_en? filename=NWA- Handbook7.pdf Trans-European transport network Council paves way for greener, smarter and more resilient transport in Europe T he European Council agreed to enable the EU to push ahead with building a sustainable and smart trans-European transport network (TEN-T) that connects 430 major cities with ports, airports and railway terminals. The proposal will also strengthen transport connections with Ukraine and the Republic of Moldova to increase the capacity of the ‘Solidarity LanesSearch for available translations of the preceding’, used for imports and exports between both countries and the EU. The Commission’s proposal to revise the current TEN-T Regulation strengthens infrastructure requirements in view of achieving more efficient and sustainable transport services and of shifting passengers and freight towards more sustainable modes of transports. To this end, the revised Regulation requires, for example, that TEN-T passenger lines allow trains to travel at 160 km/ h or faster by 2040. It calls for more transhipment terminals, improved handling capacity at freight terminals, reduced waiting times at rail border crossings, and longer trains to shift more freight onto cleaner transport modes. All 430 major cities along the TEN-T network will have to develop Sustainable Urban Mobility Plans to promote zeroemission mobility, and to increase and improve public transport. Provisions to make the TEN-T more resilient to the effects of climate change are also included. And the Commission proposal reinforces the governance of TEN-T to assure the timely completion of the network - by 2030 for the core network, 2040 for the extended core network, and 2050 for the wider, comprehensive network. The agreement will form the basis of discussions between the Commission, the Council and the European Parliament. The Parliament is set to finalise its position at the beginning of next year, clearing the way to conclude the co-decision process and adopt the new TEN-T Regulation at the end of 2023. The new Regulation should be operational from 2024. https: / / transport.ec.europa.eu/ news/ transe urope a n-tra n s port-networkc ouncilagreement-paves-way-greener-smarterand-more-resilient-2022-12-05_en Mobilität INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 41 Public Transport Management - where do we stand? Public transport, PTM, Mobility data, Data standards The key function of Public Transport Management (PTM) is to merge behavioural science and systems engineering to determine how to improve the flow of passengers on mass public transport. The efficiency of a transport system depends on several elements, such as available technology, governmental policies, the planning process, and control strategies. The key element lies in the digitalisation approach of all public transport services as well as real-time information, thus standardization is necessary for a consistent and comprehensive definition of how data is to be reported. André Maia Pereira, Josep Laborda P ublic Transport Management (PTM) represents a set of various solutions and tools that aim at making public transport services more efficient and sustainable for operators and drivers while putting the end-users at the centre of the approach. Its key elements comprise fleet and terminal management as well as real-time passenger and driver information. Nowadays PTM encompasses various electronic systems such as automatic fare collection system (AFCS), security and surveillance systems (passenger, driver, transport, payment, etc.) and collection of solutions to increase cost-efficiency and minimise the environmental impact. Public transport as well as its management systems become more and more cooperative, integrated and automated which can provide various intelligent transport solutions. Furthermore, digitalisation policy creates a level playing field for various companies to offer their services and creates favourable conditions for new companies to enter the market with new services. There are more than 50 PTM-systems installed across the globe, 15,000 connected vehicles, 5.5 million passengers per day and 500 million monitored kilometres per year [1]. Each PTM system includes a number of smaller sub-systems that allows the management authority at any time to analyse the required data to make certain decisions. These systems include everything from fleet management tools, traffic management and planning, parking and road safety, realtime vehicle tracking to journey planning applications for end users [2]. In Figure 1, important stakeholders, their activities and added value to the business model can be found, in which the focal point of a PTM system is the end-user of the public transport. In this business model, the information on growing public transport users’ demand is detected by the system, which is based on the travelling patterns of users, infrastructure, availability of public transport, low emission zone, park & ride, etc. The solution is offered by the system for more reliable arrival times based on trip time advice and floating traffic data. Therefore, less waiting for the arrival of the transport, short travel time, comfort, safety, as well as efficiency of public transport use, which implies lower costs, fewer accidents, congestions, and efficient use of Mobility as a Service (MaaS) services. A value-in-use of this business model is the optimal public transport system for a traveller. For more information on this, see [3]. As PTM is based on congregating and analysing all received data that streams from various sub-systems that are working together and in a harmonious way, standardization (related to representation and exchange of data about public transportation systems) can aid to the interoperability of different systems, as many interoperability problems arise from the use of old information systems to manage operational data such as schedules and tariffs. Each PTM system operates with mobility data. Mobility data is information about travel that is collected using digitally ena- Figure 1: Business model radar for Public Transport Management [3] INTERNATIONAL Mobilität Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 42 bled mobility devices or services. The mobility data is typically recorded as series of latitude/ longitude coordinates and collected at regular intervals by smartphones, on-board computers, or app-based navigation systems. The mobility data may include information about trips, for instance: •• origins, •• destinations, •• trip length, •• trip route, •• start and end times •• and information about the vehicles used, such as: •• vehicle location, •• average speed, •• direction, •• sudden breaking, •• emissions. All mobility data can contain static and dynamic/ real-time information. Static information includes: •• routes and schedules; while dynamic information includes: •• traffic conditions, •• real-time public transport schedules (expected time of arrival), •• information pertaining to bus stops, •• incidents. The data is physically stored on a server that provides access to the client applications of different types and roles, based on access permissions [2]. Wireless broadband provides the high-speed connectivity needed and a proven solution that can be deployed at a fraction of the cost and time of fibre or wired connectivity. Therefore, it is of paramount importance to have a comprehensive, consistent, and agreed set of parameters for data to be easily communicated and used. GTFS stands for “General Transit Feed Specification” which defines a common format for public transportation schedules and associated geographic information. GTFS feeds can be used for trip planning, ridesharing, timetable creation, mobile data, visualisation, accessibility, analysis tools for planning, real-time information, and interactive voice response (IVR) systems [5]. Additionally, other extensions were proposed, as follows: •• GTFS-Flex [6] is an extension to enable trip planning for various types of demand-responsive or special transport services for people with disabilities. As an example, the trip planning software OpenTripPlanner [7] generate trips combining demand-responsive and fixed route service. Figure2 presents a comparison between the original GTFS and the proposed extension GTFS-Flex model. •• GTFS-Realtime [8] allows maps to convey dynamic information about when public transport is actually arriving and departing, rather than relying on static, preset schedules. It also allows PT agencies to provide real-time updates about their fleet to application developers. Alternatives to GTFS and its extensions include the standards GOFS (General Ondemand Feed Specification) developed by MobilityData and the REST API/ XML. GOFS aims to integrate on-demand services with other mobility options in common platforms for travellers. REST API/ XML acts as an alternative to GTFS-Realtime. Moreover, the following standards will be mandatory for all MaaS actors in Europe in 2023: •• NeTEx (Network Timetable Exchange) [9] is a public transport data standard developed under the aegis of CEN (Comité Européen de Normalisation). It provides a means to exchange data for passenger information such as stops, routes timetables and fares, among different computer systems, together with related operational data. •• SIRI (Service Interface for Real-Time Information) [10] is a protocol that allows exchange of dynamic information about public transport services and vehicles. Just as NeTEx, SIRI is based on Transmodel for public transport information. SIRI has mainly seen uptake in Europe, but some US agencies, offer real-time information about their services through SIRI. The main benefit of SIRI is that it may convey more details about public transport than GTFS-RealTime. There are several examples of solved challenges that are related to standardizing shared data: •• Trip planning: enables trip planning for various types of demand-responsive or paratransit service. •• Dynamic information about on PT: conveys information on real-time arrival and departing prediction of public transport. •• Fleet information: allows PT agencies to provide real-time updates about their fleet to application developers. •• Information on a specific segment of a trip: allows user to request information on a single stop without having to download data on the whole public transport system. •• Vehicle information: Information report the real-time information about available vehicles location of a vehicle, vehicle type, and current battery charge. •• Exchange/ integration of information between various systems: exchanges data for passenger information such as stops, Figure 2: GFTS and GFTS Flex Diagram [4] Mobilität INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 43 routes timetables and fares, among different computer systems, which can be collected from various stakeholders. •• Cost reduction: reduces administrative burdens related to data sharing. •• Data analysis: timetable creation, visualisation, analysis tools for planning, realtime information, and interactive voice response (IVR) systems. Depending on the collected data and the PT services that need to be supported by the PTM system, different outputs are obtained and they can be used as the main KPIs. Here we focus on selected outputs since different PTM systems have different purposes to achieve: •• location of origin and destination information for riders, •• waiting times at the location, •• information on average boarding per PT line, •• information on boarding time at each stop, including specific times throughout the day, •• data on load-factor and estimation of vehicle crowding, •• identification of first/ last-mile barriers to ridership, •• information on fleet availability, •• information on transportation means availability (vehicle, bikes, scooter, etc.), •• breakdown of common line transfers. As an equivalent to the levels of MaaS integration topology, an evolution of the levels of Mobility Management is briefly shown in Figure 3. This presentation focuses on penetration and contribution of mobility data in each level that corresponds to Maas Integration levels. In total, there are 5 levels, yet since the Level-0 represents no integration or no information, it is not discussed here. In the past years, many cities have achieved Level 1 of Mobility Management, securing access to mobility data from private fleet operators. With this data, public agencies can make more informed decisions about where to place new infrastructure (e.g., kerb loading, scooter parking), ensure that services are equitable (i.e., that they are accessible in historically underserved communities), and determine how new mobility services can be leveraged to reduce congestion and climate impacts. Level 2 of mobility management is achieved when cities are able to leverage the data that they receive from mobility operators to set more effective policies. Level 3 mobility management is achieved when cities effectively leverage pricing strategies, including subsidies, to influence how travellers decide whether to walk, drive, use micromobility, or use public transport. With Level 4 mobility management, public agencies will be able to influence how travellers make transportation decisions across modes to promote societal goals: reducing transportation climate impacts, limiting congestion, and expanding equitable access to mobility. In order to reach Level 4 mobility management, cities will need an access to data from the various transportation services delivered on their public right-of-way in order to make data driven decisions, including the implementation of pricing and subsidies. Level 4 mobility management can more easily be achieved together with Level 4 MaaS solutions. That is, the mechanism through which real-time information about transportation options, and specifically new pricing and subsidies, could be more easily delivered to a large population of travellers through one, or more likely, multiple, MaaS consumer-facing applications. ■ REFERENCES [1] Public Transport | SWARCO. www.swarco.com/ solutions/ publictransport [2] Ambrož, M.; Korinšek, J.; Blaž, J.; Prebil, I. (2016): Integral management of public transport. Transportation Research Procedia, vol. 14, pp. 382-391. [3] Pribyl, O.; et al. (2021): State-of-the-art assessment. Deliverable 2.1 of the nuMIDAS project (H2020). https: / / numidas.eu/ index.php/ project-deliverables [4] MobilityData/ gtfs-flex - githubmemory. https: / / githubmemory. com/ repo/ MobilityData/ gtfs-flex [5] General Transit Feed Specification - TransitWiki. www.transitwiki. org/ TransitWiki/ index.php/ General_Transit_Feed_Specification [6] MobilityData/ gtfs-flex: A data format that models flexible public transportation services as an extension to GTFS. https: / / github.com/ MobilityData/ gtfs-flex [7] OpenTripPlanner - TransitWiki. www.transitwiki.org/ TransitWiki/ index.php/ OpenTripPlanner [8] GTFS Realtime Overview | Realtime Transit | Google Developers. https: / / developers.google.com/ transit/ gtfs-realtime [9] NeTEx | Network Timetable Exchange. https: / / netex-cen.eu/ [10] SIRI standard - Transmodel. www.transmodel-cen.eu/ siri-standard/ [11] Populus. www.populus.ai/ ACKNOWLEDGEMENT This article was the result of the joint efforts and contributions of all the nuMIDAS project partners involved: Sven Maerivoet, Bart Ons and Kristof Carlier (TML), Steven Boerma, Rick Overvoorde, Anton Wijbenga, Tessel van Ballegooijen, Dennis Hofman, Levi Broeksma, Martijn Harmenzon, Luc van der Lecq, and Jaap Vreeswijk (MAPtm), Evangelos Mitsakis, Dimitris Tzanis, Chrysostomos Mylonas, and Maria Stavara (The Centre for Research & Technology - Hellenic Institute of Transport, CERTH-HIT), Carola Vega, and Eglantina Dani (Factual Consulting), Ondřej Přibyl, Magdalena Hykšová, Jana Kuklová, Pavla Pecherková, and Jan Přikryl (Czech Technical University in Prague, CTU), Valerio Mazzeschi, Alessandro Lue, Gabriella Atzeni, Fabio Vellata, Valerio Paruscio, and Roberta Falsina (Poliedra Polytechnic Milano), Pablo Recolons, Ramon Pruneda, and Xavier Conill Espinàs (Àrea Metropolitana de Barcelona, AMB Informació), Valentino Sevino, Alessandro Giovannini, Cristina Covelli, Paolo Campus, and Adriano Loporcaro (Agenzia Mobilità Ambiente Territorio, AMAT), and Eli Nomes, Tim Asperges, and Fatma Gözet (City of Leuven). André Maia Pereira, Ing. Ph.D. candidate and researcher, Czech Technical University, Prague (CZ) maiapand@fd.cvut.cz Josep Laborda CEO & Managing Partner, FACTUAL, Sant Cugat Del Valles (ES) josep@factual-consulting.com Figure 3: Levels of MaaS integration and data-led mobility management [11] Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 44 MOBILITÄT Autonomes Fahren Mensch vs. Maschine Sind autonom fahrende Autos die „besseren Fahrer“? Autonomes Fahren, Straßenverkehrsordnung, Rules of the Road (ROTR), Fahrverhalten, Haftbarkeit Im Bereich des autonomen Fahrens hat die Technik sowohl die politische Umsetzung als auch den gesellschaftlichen Diskurs überholt. Während Automobilhersteller bereits in der Lage sind, autonome Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, fehlt es an einer einheitlichen Vision, welchen Richtlinien selbstfahrende Autos folgen sollten. Auf Seiten der Technik besteht eine große Expertise, und die Forderungen nach gesetzlichen Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene werden immer lauter. Ein Versuch, Verkehrsregeln in maschinenlesbare Sprache zu übersetzen, zeigt, welche Herausforderungen zu bewältigen sind. Doch zuvor müssen wir als Gesellschaft klären, was einen guten Verkehrsteilnehmer ausmacht. Jinwei Zhou D er Markt für Autonome Fahrzeuge hat weltweit großes Potenzial. Teilautomatisierungen wie Einparkhilfen und Abstandshalter sind schon weit verbreitet, die Zukunftsvision der smarten Stadt scheint zum Greifen nah. Doch immer wieder stehen neue Entwicklungen kritisch im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit - sei es die Zulassung von Level 4 für deutsche Straßen oder das Fehlverhalten von Robotaxis in Kalifornien. Der Diskurs zeigt, dass die Menschen ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit im Straßenverkehr haben und voll autonomen Fahrzeugen skeptisch gegenüberstehen. Das liegt unter anderem daran, dass immer wieder dieselben Fragen aufkommen und bisher unzureichend beantwortet wurden: Welche Parameter legen das Verhalten selbstfahrender Autos fest? Wessen Sicherheit hat im Einzelfall Priorität - die des (passiven) Fahrers oder die der anderen Verkehrsteilnehmer? Und wer trifft diese Entscheidungen? Autonome Fahrzeuge haben das Potenzial, der Gesellschaft erhebliche Vorteile zu bringen, darunter verbesserte Sicherheit, Zugänglichkeit, Energieeffizienz, Flächennutzung und Erschwinglichkeit. Doch der Weg zur gesellschaftlichen Akzeptanz ist noch weit. Daher sollten die Fragen und Herausforderungen transparent offengelegt und in einem gesellschaftlichen Diskurs beantwortet werden. Sind autonome Fahrzeuge wirklich die besseren Fahrer? Straßenverkehr basiert auf vielen kleinen individuellen Entscheidungen und Reaktionen, ist also ein Raum komplexer menschlicher Interaktion. Auch wenn die Verkehrsregeln den Rahmen vorgeben, bleibt Handlungsspielraum für den Fahrer. Laut einer Studie von Yagil 2005 sind impulsives und egoistisches Verhalten die häufigsten Beweggründe für Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung (StVO) und folglich auch Unfälle 1 : Wer es eilig hat, fährt schneller als erlaubt. Wer sich über einen Drängler ärgert, lässt das nächste Fahrzeug nicht ordnungsgemäß einfädeln. Das heißt: Trifft ein Mensch die Entscheidung, eine Verkehrsregel zu brechen, wird er durch eine Kosten-Nutzen-Bewertung angetrieben und weiß, dass er erwischt und bestraft werden kann. Selbstfahrende Systeme dagegen lassen sich nicht von Emotionen beeinflussen. Menschliche Beweggründe sind der Technologie unbekannt und ihr Verhalten ist dadurch vorhersehbar. In dieser Vorhersehbarkeit liegt großes Potential zur Verbesserung der Verkehrssicherheit. Was ist ein guter Fahrer? Was also ist ein guter Fahrer? Es wird eine allgemeingültige Definition benötigt, doch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft antworten unterschiedlich auf diese Frage. Sie diskutieren im Spannungsverhältnis zwischen sicherem, gesetzeskonformem und effizientem Fahren. Auch stellt sich die Frage, ob der Mensch der geeignete Standard ist, an dem sich selbstfahrende Autos messen sollten. Die hohe Anzahl von Verletzten, Unfalltoten und Staus, ausgelöst durch individualisiertes und kurzsichtiges Fahrverhalten, zeichnen kein schmeichelhaftes Bild. All das sind Gründe für eine Mobilitätswende, aber auch eine Gelegenheit, eine neue Verkehrskultur mit höheren (Sicherheits-) Standards zu etablieren? Es gibt überraschend viele Situationen, in denen Verkehrsregeln nicht eindeutig sind oder sich gar widersprechen. In solch komplexen Fahrsituationen verlassen sich menschliche Fahrer auf ihre Erfahrung und ihren gesunden Menschenverstand - das ist bei autonomen Fahrzeugen anders. Selbstfahrende Autos können solche Szenarien nur auf der Grundlage von Fahrprinzipien bewältigen, die zum Zeitpunkt der Systementwicklung festgelegt wurden. Daraus ergeben sich gleich zwei Herausforderungen: Einmal muss der Entwickler jedes erdenkliche Szenario vorhersehen und Anweisungen implementieren. Außerdem muss bei der Programmierung des Systems bereits entschieden werden, was das angemessene Fahrverhalten in diesem komplexen Szenario darstellt. Auch wenn das in den USA derzeit gängige Praxis ist, ist man sich in Europa einig, dass die Entwicklungsabteilungen von Automobilherstellern nicht als angemessene Instanz für diese Entscheidung in Frage kommen. Digitalisierte Verkehrsregeln können als Maßstab dienen Verkehrsregeln bilden die Basis für Verkehrsteilnehmer und ihr Fahrverhalten. Sie klären juristisch, was in einzelnen Situationen zu tun ist und was als Fehlverhalten gilt. Verstöße gegen die Verkehrsregeln sind häufiger mit Unfällen verbunden als ein Fahrfehler 2 und sollten damit zumindest in Hinsicht auf Sicherheit und Verkehrsfluss eine gute Bezugsgröße sein. Doch Verkehrsregeln sind nicht einheitlich, sondern variieren von Land zu Land: So stellen etwa die Vorfahrtsregeln in Deutschland - rechts vor links - in Kanada einen klaren Verstoß dar. Dort hat Vorfahrt, wer zuerst an die Kreuzung heranfährt. Daraus folgt, dass selbstfahrende Fahrzeuge je nach verfügbarer Software nur lokal zugelassen werden. Bei einer Auslandsreise müsste das System dann Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 45 Autonomes Fahren MOBILITÄT durch eine Software-Erweiterung mit den nationalen Verkehrsregeln des Ziellandes bespielt werden. Wenn Behörden und Zulassungsinstanzen also weiter nur auf nationaler Ebene agieren, bleibt eine weltweite Einigung auf einheitliche Parameter aus. Dann droht ein Flickenteppich aus Regeln und Gesetzen und damit auch eine komplizierte Rechtslage mit Blick auf die Haftbarkeit bei Unfällen. Wie übersetzt man Verkehrsregeln in maschinenlesbare Sprache? Verkehrsregeln sind in Gebrauchssprache verfasste Rechtsdokumente. Die Übersetzung dieser Regeln in computerlesbare Sprache ist eine anspruchsvolle Aufgabe, denn die Technologie in selbstfahrenden Fahrzeugen braucht eindeutig programmierte Befehle und eine präzise Formalisierung von Bedingungen. Da viele Verkehrsregeln indirekt Appelle an das Urteilsvermögen des Fahrers enthalten, können Entwicklerteams diese nur bedingt übersetzen. Zu diesem Zweck haben das Deep-Tech- SaaS-Unternehmen Kontrol und die Firma Motional, ein Joint Venture zwischen der Hyundai Motor Group und Aptiv PLC, einen Versuch 3 durchgeführt: Zwei Teams haben parallel und unabhängig voneinander dieselbe Verkehrsregel des US-Bundesstaates Nevada in maschinenlesbare Sprache übersetzt und die Ergebnisse verglichen. Ziel war es, Einblicke in mögliche Prozesse und Methoden zur Ableitung solcher formalen Regeln zu gewinnen. Konkret wurde die Vorfahrtsregelung an einer T-Kreuzung analysiert und übersetzt (Bild 1). Die Ergebnisse der beiden Teams wiesen starke Abweichungen in der Herangehensweise auf: So konzentrierte sich das Team von Kontrol auf die Übersetzung der konkreten Anweisungen und setzt voraus, dass die Schwach- und Leerstellen dieses Paragrafen durch andere Paragrafen ergänzt werden. Das Team von Motional versuchte diese Lücken zu schließen. Eklatant fällt auf, dass der Rechtstext für einen menschlichen Leser verfasst ist. So entstehen immer wieder semantische Sackgassen, aus denen die Maschine nicht ohne weitere Ergänzungen durch das Programmierungsteam herausfinden kann. Ein Beispiel ist das Setzen des Blinkers vor dem Abbiegen: Es ist gesetzlich genau geregelt wie lange vor dem Erreichen der Kreuzung und dem Einleiten des Abbiegemanövers der Blinker aktiviert werden muss. Was aber geschieht, wenn die Straße zu kurz ist, um diese Mindestlänge einzuhalten? Das selbstfahrende Auto würde in diesem Fall erkennen, dass Abbiegen nicht möglich ist und geradeaus weiterfahren. Der menschliche Fahrer würde eine individuelle Lösung finden und könnte seinen Weg wie geplant fortsetzen. Dies ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Schwierigkeiten beim Dolmetschen zwischen Mensch und Maschine - und wieder stellt sich die Frage, wer die Entscheidungshoheit hat, die bestehenden Regelwerke zu interpretieren und zu ergänzen. Wer entscheidet, wer ein guter Fahrer ist? Kulturelle und regionale Normen und Auffassungen können die Auslegung von Regeln beeinflussen. Daher sind mehrere Auslegungen ein und derselben Verkehrsregel möglich, und es gibt derzeit kein klares Verfahren, um a priori zu entscheiden, welches Verhalten legal ist. Die traditionelle Rolle des Fahrzeugherstellers verschmilzt mit der Rolle des menschlichen Fahrers. Entwickler entwerfen und konstruieren nicht nur das Fahrzeug und die Systeme zur Ausführung des gewünschten Fahrverhaltens (z. B. Lenken, Bremsen), sie entwickeln auch die Systeme, die Fahrentscheidungen treffen. Damit ist derzeit lediglich eine Interessensgruppe involviert, die wirtschaftliche Interessen verfolgt. Deshalb ist es notwendig, angemessenes Fahrverhalten zu definieren und durch verschiedene Interessensgruppen wie Verbänden, Unternehmen und Politik zu stützen. Der technische Fortschritt hat den politischen Prozess ebenso überholt wie den gesellschaftlichen Diskurs - um eine zukunftsträchtige und sichere Mobilität zu gestalten, bedarf es einer Mediation zwischen Technik und Gesellschaft. Diese Mediation muss politisch gelenkt und so global wie möglich diskutiert werden. ■ 1 Yagil, D. (2005): Drivers and traffic laws: a review of psychological theories and empirical research. In: Traffic and Transport Psychology. Oxford: Elsevier, pp. 487-503 2 Parker, D.; Reason, J. T. Manstead Antony, S. R.; Stradling, S. G. (1995): Driving errors, driving violations and accident involvement. In: Ergonomics 38 (5), pp.1036-1048. www. tandfonline.com/ doi/ abs/ 10.1080/ 00140139508925170 3 Bin-Nun, A.; Derler, P.; Mehdipour, N.; Duintjer Tebbens, R. (2022): How should autonomous vehicles drive? Policy, methodological, and social considerations for designing a driver. www.nature.com/ articles/ s41599-022-01286- 2#Abs1 Jinwei Zhou, Dr. Technical Director, Kontrol GmbH, Linz (AT) info@kontrol.tech Bild 1: Illustration des Verkehrsszenarios. Die Abbildung zeigt die Trajektorien von zwei Fahrzeugen, die sich einer Kreuzung nähern, wobei ein Fahrzeug dem anderen Vorfahrt gewähren muss. Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 46 MOBILITÄT Wissenschaft Freizeitverkehr, Nachhaltige Mobilität, Metropolregion, Verkehrswende, Tagesausflugsverkehr Der Nutzungsdruck und die Verkehrsbelastung im Rhein-Main-Gebiet nehmen zu. Davon betroffen ist neben dem Alltagsauch der Freizeitverkehr. Gründe dafür sind u. a. die Bevölkerungsentwicklung und die Covid-19-Pandemie, welche auch für einen phasenweisen Anstieg der Tagesausflüge sorgten. Das Forschungsprojekt NaTourHuKi nimmt sich den Problemen der zunehmenden Nachfrage nach Erholungsmöglichkeiten und fehlender nachhaltiger Mobilitätsangebote an. Durch die Untersuchung des Freizeitverkehrs im hessischen Kinzigtal am Rande des Ballungsraums Frankfurt/ Rhein-Main werden bisher nicht vorhandene Daten generiert und Impulse für den Freizeitverkehr gesetzt. Dana Stolte, Petra Schäfer, Kristina Epple, Ralf Vogler D as hessische Kinzigtal am östlichen Rand des Rhein-Main-Gebiets hat eine wichtige Bedeutung als Infrastrukturkorridor. Parallel zum Fluss Kinzig verlaufen die Bundesautobahn A66 sowie die Bahntrasse zwischen Frankfurt a. M. und Fulda (siehe Bild 1). Dieser Infrastrukturkorridor erfährt, insbesondere durch kommunal steigende Bevölkerungszahlen in der Metropolregion Frankfurt/ Rhein-Main, einen erhöhten verkehrlichen Nutzungsdruck [1,- 2]. Diese Auswirkungen betreffen nicht nur den Alltagsverkehr - auch der Freizeitverkehr übt einen starken Druck auf die Verkehrsinfrastruktur des Kinzigtals aus. Ein Treiber hierfür war auch die Covid-19-Pandemie. Die deutsche Bevölkerung unternahm in vielfältiger Weise Tagesausflüge, um in diesem Zeitraum nicht mögliche touristische Reisen mit Übernachtung zu kompensieren. Daher war der Einbruch im Tagestourismus geringer als im Übernachtungstourismus [3]. Im Rahmen von Tagesausflügen wurde in Deutschland, gemäß einer Studie des Deutsches Wirtschaftswissenschaftliches Institut für Fremdenverkehr (DWIF), für die An- und Abreise größtenteils der private PKW genutzt [4]. Derartige Verhaltensweisen wurden auch im hessischen Kinzigtal durch Erhebungen im Rahmen des Forschungsprojekts NaTourHuKi 1 erfasst. Nachfolgend möchte der Beitrag daher ausgewählte Erkenntnisse zum Tagesausflugsverhalten und der damit verbundenen Verkehrsmittelwahl im Untersuchungsraum des hessischen Kinzigtals vorstellen und diskutieren. Darauf aufbauend werden möglichen Impulse für eine Verkehrswende im Stadt-Land-Kontext formuliert. Stand der Forschung Der Freizeitverkehr ist bislang ein - im Vergleich zum Alltagsverkehr - wenig erforschter Bereich. Umfangreiche Studien im Bereich Mobilität wie SrV „Mobilität in Städten“, Mobilität in Deutschland (MiD) oder das Deutsche Mobilitätspanel (MOP) betrachten vornehmlich den Alltagsverkehr. Die Studie SrV „Mobilität in Städten“ betrachtet keine unterschiedlichen Wegezwecke und somit auch nicht den Freizeitverkehr [5]. Laut der Studie Mobilität in Deutschland (MiD) für das Jahr 2017, entfallen 28 % des Wegeaufkommens auf Freizeitwege. Der Wegezweck Freizeit liegt damit auf dem dritten Platz hinter Ausbildungs- und berufsbedingten Wegen (34 %) sowie Einkaufs- und private Erledigungswege (30 %). Wird die Verkehrsleistung (gemessen in Personenkilometern) betrachtet, entfallen 34 % auf den Wegezweck Freizeit [6]. Im Rahmen der MiD-Studie ist Freizeit eine von sieben Wegezwecken (Arbeit, Dienstweg, Ausbildung, Einkauf, Erledigung, Freizeit, Begleitung), die bei der deutschlandweiten Untersuchung abgefragt werden. Im Gegensatz zu den anderen Wegezwecken ist die Wegelänge bei Freizeitwegen in allen Raumtypen - sowohl in Stadtregionen als auch in ländlichen Regionen - sehr ähnlich [6]. Darüber hinaus weist die MiD jedoch keine Untersuchungen zum Freizeitverkehr, z. B. zur Verkehrsmittelwahl, Reisezeit oder Reiseentfernung, auf. Im Deutschen Mobilitätspanel (MOP) bildet die Freizeit ebenfalls einen von sechs Wegezwecken. In der Studie werden für diese Wegezwecke Verkehrsaufkommen, Verkehrsleistung und Mobilitätszeit ermittelt. Weitere Daten zum Freizeitverkehr werden hier nicht aufgezeigt-[7]. Nachhaltige Mobilität - Defizit im Freizeitverkehr Das Forschungsprojekt NaTourHuKi liefert Daten zum-Freizeitverkehr im hessischen Kinzigtal Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 47 Wissenschaft MOBILITÄT Ähnliches gilt für Untersuchungen zum Tagesausflugsverhalten. Allgemeine Studien oder Daten für Hessen, das Rhein-Main-Gebiet oder den Untersuchungsraum des Forschungsprojekts sind bisher nur in beschränktem Umfang vorhanden. Eine der wenigen öffentlich verfügbaren Studien ist die Publikation „Wirtschaftsfaktor Tourismus in der Region FrankfurtRheinMain“ des DWIF [8]. Auch für andere Regionen Deutschlands liegen solche Studien nur vereinzelt vor. Beispielhaft kann die Studie des IFT Freizeit- und Tourismusberatung GmbH zum Tagesverhalten der Bewohner der Metropolregion Hamburg genannt werden. In dieser 2010 durchgeführten Erhebung wurden 5.000 Menschen, die in der Metropolregion Hamburg leben und Tagesausflüge durchführen, interviewt [9]. Neben dem allgemeinen Reiseverhalten sowie dem Informations-, Ausgabe- oder Buchungsverhalten lag ein Untersuchungsschwerpunkt auf dem Thema Verkehrsmittelwahl. Bei den genutzten Verkehrsmitteln erwies sich hier der eigene PKW mit 65 % als das am häufigsten genutzte Verkehrsmittel. Bewohner: innen der Stadt Hamburg nutzen zu 25 % den ÖPNV. In den ländlicheren Gebieten (z. B. Uelzen oder Dithmarschen) lag dieser Anteil bei unter 5 %. Die drei Hauptgründe für das verwendete Verkehrsmittel waren „Bequemlichkeit, ist angenehmer“, „schnellerer Transport, gute Verbindung“ und „auf andere Weise nicht bzw. schlechter hinzukommen“ [9]. Eine aktuellere Untersuchung ist die Studie des Bayerischen Zentrums für Tourismus (BZT) zum Tagesausflugsverhalten der bayerischen Bevölkerung. Dazu wurde eine repräsentative Online-Befragung mit etwa 2.000 Einwohner: innen Bayerns im Mai 2021 durchgeführt. Auch hier wurde die Verkehrsmittelwahl abgefragt. 84 % der Befragten gaben dabei an, dass sie überwiegend den eigenen PKW für Tagesausflüge nutzen, gefolgt von den Verkehrsmitteln Bahn (19 %), Fahrrad (17 %) und Bus (10 %). In allen Altersgruppen ist der PKW mit 76 % bis 90 % das beliebteste Verkehrsmittel. Bus und Bahn wurden in der Altersgruppe 18 bis 29 Jahre etwas häufiger als im Durchschnitt genutzt. In den Altersgruppen 30 bis 39 Jahre sowie 70 bis 74 Jahre wurde das Fahrrad überdurchschnittlich häufig genutzt [10]. Vorgehensweise Um der Frage nachzugehen, wie das Ausflugsverhalten im Untersuchungsgebiet aussieht, führten die Projektpartnerinnen der Hochschule Heilbronn (tourismuswissenschaftliches Teilprojekt) und der Frankfurt University of Applied Sciences (verkehrswissenschaftliches Teilprojekt) eine quantitative Befragung von Mai 2021 bis Oktober 2021 durch. Aufgrund der Restriktionen der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2021 wurde die Befragung weitestgehend kontaktlos gestaltet. Dafür wurde eine Online-Befragung konzipiert, an welcher über QR- Code oder Weblink-Adresse auf Aufklebern und Plakaten teilgenommen werden konnte. Letztere vermittelten außerdem Informationen über das Forschungsprojekt und den Hintergrund der Befragung. Die Kommunikationsmittel wurden an 18 ausgewählten Points of Interests (POI) und Routes of Interest (ROI) in der Region angebracht, darunter waren Ausflugsziele wie Burgen und Schlösser, Tier- und Wildparks, Naherholungsgebiete sowie Wander- und Radrouten. Vorstellung der Projekt-Ergebnisse Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse zum Mobilitätsverhalten der Teilnehmenden vorgestellt. Mit 73 % ist der PKW das meistgenutzte Verkehrsmittel für die Anreise zu dem jeweiligen Ausflugsziel, gefolgt von etwa 10 % Fußverkehr, 10 % ÖPNV- und 9 % Fahrradbzw. Pedelec- und E-Bike-Nutzenden. Alle weiteren Verkehrsmittel wurden von unter 1 % der Teilnehmenden ausgewählt und genutzt. Es waren Mehrfachantworten möglich, weshalb die Prozentzahlen insgesamt mehr als 100 % ergeben. Wird diese Verkehrsmittelwahl dem Alter gegenübergestellt, lässt sich erkennen, dass das Zu- Bild 1: Infrastrukturkorridor Kinzigtal und Bevölkerungsentwicklung der angrenzenden Kommunen 1 Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 48 MOBILITÄT Wissenschaft fußgehen und die ÖPNV-Nutzung in den Altersgruppen 18 bis 25 Jahren ( je 20,5 %) und 66 bis 75 Jahren ( je 20 %) am höchsten ist. Der PKW-Anteil ist in den Altersgruppen 36 bis 45 Jahren (82 %) und 46 bis 55 Jahren (77 %) am höchsten und liegt gleichzeitig über dem Durchschnitt aller Befragungsteilnehmenden. Für die Verkehrsmittelwahl spielt Begleitung (z. B. Familie, Freund: innen oder Hunde) nur eine untergeordnete Rolle. In allen Fällen war der PKW das am häufigsten genutzte Verkehrsmittel. Hierbei ließen sich lediglich bei der Begleitung durch Kinder, Enkelkinder oder andere Verwandte überdurchschnittlich hohe Werte (82 - 90 %) bei der Wahl des PKW feststellen. Teilnehmende, die alleine den Ausflug durchführten, hatten mit 36 % den geringsten PKW-Anteil. Im Gegenzug konnten hier die höchsten ÖPNV- (20 %) sowie Fuß- (28 %) und Radverkehrsanteile (17 %) festgestellt werden. Die drei meistgenannten Gründe für die Verkehrsmittelwahl sowie gleichermaßen für die Wahl des PKW sind „einfachste/ bequemste Lösung“, „Reisezeit“ sowie „Mangel an Alternativen“ (siehe Bild 2). Diese Gründe weisen eine große Ähnlichkeit zu der im Jahr 2010 durchgeführten Studie in der Metropolregion Hamburg auf, bei welcher die Wahl des PKW für die Anreise ebenfalls vorrangig auf diese Gründe zurückgeführt wurde. Die Wahl des ÖPNV wurde durch die Angaben Zeitkartenbesitz und Umweltgründe ergänzt. Für das Fahrrad oder Pedelec kamen die Motive Gesundheit und Umweltgründe hinzu. Ein weiterer Grund für die Wahl des PKW ist die schlechte Erreichbarkeit vieler POI im Untersuchungsgebiet mit dem ÖPNV. Das, im Vergleich zum deutschen Durchschnitt (ca. 3.600 EUR), hohe Nettohaushaltseinkommen bei etwa der Hälfte der Teilnehmenden an der Befragung könnte ebenfalls die Wahl des Verkehrsmittels beeinflussen. Zwar ist in allen Einkommensklassen der PKW das meistgenutzte Verkehrsmittel für die Anreise, der ÖPNV-Anteil ist jedoch mit 30 % und 23 % in den zwei untersten Einkommenskategorien (bis 1.000 EUR und 1.001 bis 1.500 EUR) am höchsten. Bei allen angegebenen Ausflugsmotiven war die Nutzung des PKW - mit einem Anteil von 50 bis über 80 % der befragten Personen - das am häufigsten genutzte Verkehrsmittel. Das Motiv „Kunst und Kultur erleben“ weist mit 24,5 % den höchsten ÖPNV-Anteil auf. Allerdings reisten auch hier über 60 % der Befragten mit dem PKW an. Das Ausflugsmotiv des Veranstaltungsbesuchs weist mit jeweils 12,5 % die höchsten Anteile der Verkehrsmittel Taxi und Fahrrad auf. Ein Großteil der Besuchenden ist in der näheren Umgebung der POI bzw. ROI, an denen befragt wurde, wohnhaft. Dies spiegelt sich in den angegebenen Anreisezeiten wider. 90 % der Befragten hatten eine Anreisezeit von maximal 60 Minuten (siehe Bild 3). Unter die beiden kürzesten Anreisezeit-Kategorien „unter 15 Minuten“ und „15 bis 30 Minuten“ fallen 64 % aller befragten Teilnehmenden. Weitere 17 % benötigten gemäß ihrer Angaben 31 bis 45 Minuten sowie 9 % zwischen 46 und 60 Minuten. Diese Erkenntnisse stehen im Einklang mit den Angaben zum generellen Tagesausflugsverhalten der befragten Personen. Hier gaben 64 % an, dass sie i. d. R. maximal 50 km für einen Tagesausflug zurücklegen. Lediglich 6,5 % der Befragten legen über 100 km für Tagesausflüge zurück. Die zeitlichen Angaben verdeutlichen dies ebenfalls. 77 % der Teilnehmenden nehmen maximal 60-Minuten Anfahrtszeit für einen Tagesausflug in Kauf. Mehr als zwei Stunden Anfahrtszeit wurden von nur 1,5 % der Befragten angegeben. Die Ergebnisse der bereits erwähnten BZT-Studie zeichnen ein davon etwas abweichendes Bild: Die Teilnehmenden dieser Studie sind bereit, weitere Strecken für Tagesausflüge zurückzulegen. Bei 28% liegen die Ziele in einem Umkreis von bis zu 50 km. 42 % gaben an, dass sie 51 bis 100 km zurücklegen und für 23 % der Befragten darf das Ziel über 100 km weit entfernt liegen. Auch hier zeigen sich die ausbaufähige Anbindung durch den ÖPNV sowie die fehlende Infrastruktur für den Radverkehr. Trotz der geringen Distanzen und Anreisezeiten wurde in den meisten Fällen weder der ÖPNV noch ein Fahrrad oder Pedelec für die Fahrt zum Ausflugsziel genutzt. Im Rahmen der durchgeführten Befragung hatten die Teilnehmenden die Aufgabe, sich einem von sieben Mobilitätstypen zuzuordnen. Diese Typen stellen „keine festen Gruppen [dar], in denen alle Personen die gleichen 484 252 198 64 51 63 50 30 5 79 47 52 17 0 100 200 300 400 500 einfachste/ bequemste Lösung Reisezeit Mangel an Alternativen Gepäcktransport/ sperrige Sachen Reisekosten Reisegenuss/ Reisekomfort Wetter Abobesitz (z.B. Job- oder Semesterticket) kein Parkplatz am Zielort / Parkplatz schwer zu finden aus Umweltgründen Spaziergang aus Gesundheitsgründen Sonstiges Anzahl an Nennungen Gründe für die Wahl des Verkehrsmittels (bis zu 3 Nennungen möglich) (n = 611) Bild 2: Gründe für die Wahl des Verkehrsmittels Eigene Erhebung 21% 43% 17% 9% 10% Anreisezeit (in Minuten) zum Ausflugsziel (n = 606) unter 15 Minuten 15 - 30 Minuten 31 - 45 Minuten 46 - 60 Minuten über 60 Minuten Bild 3: Anreisezeit (in Minuten) zum Ausflugsziel Eigene Erhebung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 49 Wissenschaft MOBILITÄT Charakteristika vorweisen“[11]. Sie besitzen Gemeinsamkeiten in Bezug auf „mobilitätsrelevante Eigenschaften wie Mobilitätsverhalten und Mobilitätseinstellungen“ [11]. Interessant ist hierbei, dass nur 32 % der Befragten sich dem PKW-affinen Mobilitätstypen zuordneten. Während etwa die Hälfte der Teilnehmenden angab, überwiegend Verkehrsmittel des Umweltverbundes (umweltbewusster, Rad-affiner und ÖV-orientierter Mobilitätstyp) oder unterschiedliche Verkehrsmittel (multioptionaler Mobilitätstyp) für die täglichen Wege zu nutzen (siehe Bild 4). Hier zeigt sich eine Diskrepanz zwischen der Verkehrsmittelwahl für die Anreise zum POI (ein Großteil wählte den PKW) sowie der Zuordnung zu einem Mobilitätstyp. Dies könnte ebenso bedeuten, dass hier eigentlich ein Potenzial für die Anreise mit Verkehrsmitteln des Umweltverbunds vorzufinden ist, sofern eine zielnahe Anbindung bzw. eine hinnehmbare Anreisezeit vorhanden ist. Dabei sollte jedoch nicht unbeachtet bleiben, dass die Zuordnung zu einem der Mobilitätstypen aufgrund von sozialer Erwünschtheit beeinflusst sein könnte. Fazit und weiterer Forschungsbedarf Welche Implikationen haben die vorgestellten Daten nun? Für die Anreise zu einem POI oder einer ROI wird überwiegend der eigene PKW genutzt. Die Gründe für die Verkehrsmittelwahl machen deutlich, dass im Untersuchungsgebiet des Forschungsprojekts NaTourHuKi viele Orte gut mit dem PKW, hingegen schlecht mit dem ÖPNV zu erreichen sind. Viele der befragten Personen hatten eine kurze Anreise von max. 60 Minuten, da sie in der Nähe der Ausflugsziele wohnen. Auch die Verteilung der Mobilitätstypen zeigen ein Potenzial für die Nutzung von ÖPNV und Fahrrad. Trotz dieser Gründe wurden diese Verkehrsmittel nur von einem kleinen Teil der Teilnehmenden für die Anreise genutzt. Dies wirft die Frage auf, ob die verkehrliche Anbindung alleine relevant für die Entscheidung gegen den ÖPNV ist. Die hier vorgestellten Ergebnisse indizieren einen gewissen Gewohnheitseffekt bei der Verkehrsmittelwahl, können jedoch nicht eindeutig belegt werden. Es bleiben Fragen offen, z. B. wie können nachhaltige Mobilität bzw. der Umweltverbund weiter gefördert werden? Reicht es aus, Anreize für nachhaltige Verkehrsmittel zu setzen oder muss auch die Nutzung von PKW und motorisiertem Individualverkehr unattraktiver gemacht werden? Somit ist vor allem für das Nachfrageverhalten weiterer Forschungsbedarf gegeben, der über reine verkehrswissenschaftliche Analysen hinausgeht und insbesondere motivationale und psychologische Fragestellungen adressiert. ■ 1 Das Verbundforschungsprojekt „Nachhaltiges Tourismuskonzept für Hanau und den westlichen Teil des Main-Kinzig-Kreises im Kontext des Regionalparks RheinMain“ (NaTourHuKi) ist ein Projekt in der Fördermaßnahme „Stadt- Land-Plus“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), angesiedelt im Cluster „Regionale Gerechtigkeit“. Partner: innen in dem Projekt sind die Technische Universität Darmstadt (Verbundleitung), Hochschule Heilbronn, Frankfurt University of Applied Sciences, Stadt Hanau, Spessart Tourismus und Marketing GmbH und Regionalpark Ballungsraum RheinMain gGmbH; weitere Informationen verfügbar unter www.natourhuki.de. LITERATUR [1] Wegweiser Kommune (2022): . www.wegweiser-kommune.de/ (Zugriff vom 13.10.2022). [2] Mobilitätsleitbild Hanau (2021): https: / / zukunft-hanau.de/ wp-content/ uploads/ 2021/ 12/ 20210427_Mobilita%CC%88tsleitbild_Handlungsfeld-Z-iele-final-Internetseite.pdf (Zugriff vom 16.12.2021). [3] DWIF Corona-Kompass (2022): (). https: / / www.dwif.de/ corona-kompass.html (Zugriff vom 19.12.2022). [4] DWIF (2013): Tagesreisen der Deutschen 2013. München. [5] Gerike, R.; Hubrich, S.; Ließke, F,; Wittig, S.; Wittwer, R.: (2020) Was sich zeigt. Präsentation und Diskussion des Ergebnisses des SrV 2018. Ergebnisdarstellung zum 11. Erhebungsdurchgang „Mobilität in Städten - SrV 2018“. Dresden. [6] Nobis. C.; Kuhnimhof, T. (2018): Mobilität in Deutschland − MiD: Ergebnisbericht. [7] Ecke, L.; Chlond, B.; Magdolen, M.; Vallée, J.; Vortisch, P. (2021): Deutsches Mobilitätspanel (MOP) - Wissenschaftliche Begleitung und Auswertungen Bericht 2020/ 2021: Alltagsmobilität und Fahrleistung. Karlsruher Institut für Technologie (KIT). [8] Arbeitskreis Tourismus FrankfurtRheinMain (2018): Wirtschaftsfaktor Tourismus in der Region FrankfurtRheinMain. [9] ift Freizeit- und Tourismusberatung GmbH (2011): Tagesreisen der Bewohner der Metropolregion Hamburg. Endbericht mit Handlungsempfehlungen. Köln. [10] Bayerisches Zentrum für Tourismus e.V. (2021): Tagesausflugsverhalten der bayerischen Bevölkerung. [11] Schäfer, P. K.; Quitta, A.: Nutzergruppen und Standortfaktoren: Empfehlungen zur Entwicklung von elektromobilen Dienstleistungen in der Region FrankfurtRheinMain. 3- Frankfurt RheinMain vernetzt - Frankfurt RheinMain vernetzt - Dienstleistungen fördern elektrische Mobilität (DieMoRheinMain). (1) Steht der Verkehrsmittelwahl eher gleichgültig gegenüber. (2) Legt die Wege bevorzugt mit dem Pkw zurück. (3) Nutzt für die täglichen Wege unterschiedliche Verkehrsmittel. (4) Ist meist gezwungen ein bestimmtes Verkehrsmittel zu nutzen (aufgrund mangelnder Alternativen). (5) Ist meistens mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs. (6) Benutzt überwiegend den Umweltverbund. (7) Nutzt überwiegend und gerne das Fahrrad. 8% 13% 6% 12% 25% 32% 4% 0% 10% 20% 30% 40% Rad-affiner Mobilitätstyp (7) Umweltbewusster Mobilitätstyp (6) ÖV-orientierter Mobilitätstyp (5) Zwangsmobiler Mobilitätstyp (4) Multioptionaler Mobilitätstyp (3) Pkw-affiner Mobilitätstyp (2) Wenig mobiler Mobilitätstyp (1) Anteil der Teilnehmenden Verteilung der Mobilitätstypen (n=594) Bild 4: Verteilung der Mobilitätstypen Eigene Erhebung Petra K. Schäfer, Prof. Dr.-Ing. Professorin für Verkehrsplanung, Research Lab for Urban Transport, Frankfurt University of Applied Sciences petra.schaefer@fb1.fra-uas.de Kristina Epple, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fakultät International Business, Hochschule Heilbronn; Doktorandin, Fachbereich Architektur, Technische Universität Darmstadt kristina.epple@hs-heilbronn.de Dana Stolte, M.Eng. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Research Lab for Urban Transport, Frankfurt University of Applied Sciences; Doktorandin, hochschulübergreifendes Promotionszentrum Mobilität und Logistik dana.stolte@fb1.fra-uas.de Ralf Vogler, Prof. Dr. Studiendekan Tourismusmanagement, Forschungsprofessur für Tourismuspolitik und -entwicklung, Fakultät International Business, Hochschule Heilbronn ralf.vogler@hs-heilbronn.de Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 50 MOBILITÄT Wissenschaft Regionale Mietradsysteme Nutzungsmuster und Verhaltensroutinen am Beispiel der Region Rhein-Neckar Multimodalität, Radvermietsystem, Verkehrsmittelwahl, Routenwahl, Mobilitätsverhalten, Covid-19 Das Öffentliche Mietradsystem VRNnextbike wird seit 2015 in Groß-, Mittel- und Kleinstädten der Metropolregion Rhein-Neckar angeboten und ist seitdem kontinuierlich gewachsen. Die systemimmanente automatische Erfassung von Informationen zu Mietvorgängen (bspw. Ausleihzeiten, Quell-Ziel-Beziehungen) ermöglicht verkehrsplanerisch relevante Analysen der Mietradnutzung. Eine zusätzliche Nutzendenbefragung vermittelt zudem Erkenntnisse zu den soziodemographischen Merkmalen der Nutzenden und zu ihren Nutzungsmustern. Der Beitrag beschreibt als wesentliche Erkenntnisse der Analysen u. a. Indizien, dass Mietradsysteme als Ergänzung des ÖPNV genutzt werden, und führt diese zu verkehrsplanerischen Empfehlungen in Bezug auf Mietradsysteme wie etwa eine hohe Stationsdichte zusammen. Volker Blees, Matthias Kowald, Iryna Bondarenko, Lukas Raudonat M it zunehmender Verbreitung digitaler Medien ist seit Beginn der 2000er Jahre auch das Angebot digital basierter Mobilitätsdienste rasch angewachsen. Zu diesen Diensten zählen auch Mietradsysteme (verbreitet auch als Bikesharing bezeichnet), bei denen Fahrräder (Mieträder) gegen Entgelt öffentlich zur Nutzung bereitgestellt werden und die mittlerweile in nahezu allen deutschen Großstädten und auch in etlichen kleineren Kommunen angeboten werden. Mit Sharing-Angeboten im Allgemeinen und mit Mietradsystemen im Besonderen wird vielfach die Erwartung verknüpft, eine nachhaltigkeits- und klimaschutzorientierte Verkehrswende zu fördern: Die Verfügbarkeit kollektiv zugänglicher und individuell nutzbarer Fahrzeuge soll dazu beitragen, multimodales Mobilitätsverhalten zu erleichtern und so die Nutzung privater PKW zu reduzieren oder gar ganz überflüssig zu machen (vgl. 1-5]). Zu den Akteuren, die mit dieser Intention ein Mietradsystem initiiert haben, gehört bereits seit 2015 der Verkehrsverbund Rhein Neckar (VRN). Der VRN ist um eine stetige Verbesserung und den Ausbau seines Verkehrsangebots bemüht und möchte die Nutzenden des Mietradsystems und ihre Motive und Anliegen besser kennenlernen und das Angebot so zielgerichtet erweitern und verbessern. Hierzu dient das Projekt „Wissenschaftliche Begleitung sowie Wirksamkeits- und Nutzungsuntersuchung zur zielgerichteten Verbesserung des Mietradsystems VRNnextbike“, dessen aktueller Erkenntnisstand zum Juni 2022 dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegt. Als Besonderheit fällt die Covid-19-Pandemie in den Analysezeitraum. Das Projekt läuft von 2020 bis 2024 und wird durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) gefördert (Förderkennzeichen 16DKV30150 und 16DKV42038). Der Beitrag beschreibt wesentliche Fakten des regionalen Mietradsystems, erläutert den methodischen Ansatz der Untersuchung, gibt Kernergebnisse aus der Analyse von Vermietungsdaten sowie aus Befragungen von Nutzenden wieder und zieht Schlüsse für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung und die zugehörigen Planungsprozesse. Regionales Mietradsystem VRNnextbike Der VRN ist Teil des im Jahre 1989 gegründeten Zweckverbandes Rhein-Neckar. Der Zweckverband ist ein Zusammenschluss aus 24 Landkreisen, Stadtkreisen und kreisfreien Städten und der drei Bundesländer Baden- Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen. Ziele sind eine gemeinsame und abgestimmte Durchführung des öffentlichen Personennahverkehrs und die Gestaltung und Aufrechterhaltung eines attraktiven Verkehrsangebotes in der Region. Mehr als 50 Verkehrsunternehmen sind im VRN-Gebiet an der Bereitstellung des Verkehrsangebotes beteiligt. Die Aufgaben des VRN erstrecken sich von Verkehrsforschung und Verkehrsplanung über den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur bis hin zu Marke- PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 12.07.2022 Endfassung: 20.01.2023 Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 51 Wissenschaft MOBILITÄT tingmaßnahmen. Die Betreuung des Mietradsystems VRNnextbike zählt im Sinne eines umfassenden und integrativen Verständnisses öffentlicher Mobilität ebenfalls dazu. Den Kern des VRN bildet die Metropolregion Rhein- Neckar mit ihren rund 2,4 Millionen EinwohnerInnen rund um die drei Großstädte Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg. Insgesamt leben zwischen Westpfalz und Main-Tauber-Kreis etwa 3 Millionen Menschen im Gebiet des VRN. Im Auftrag der Städte Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen hat der VRN im Jahr 2013 die Einrichtung und den Betrieb eines öffentlichen, regionalen Mietradsystems ausgeschrieben. Aus dieser Ausschreibung ging das deutsche Unternehmen nextbike als Gewinner hervor. Das Mietradsystem VRNnextbike ist schließlich mit der Einweihung der ersten Stationen in Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen im März 2015 gestartet. Schnell folgten weitere Gemeinden. Heute umfasst das Angebotsgebiet 21 Städte mit über 360 Stationen und mehr als 2.200 Fahrrädern. VRNnextbike ist ein stationsgebundenes Mietradsystem im Ganzjahresbetrieb mit konventionellen Fahrrädern und seit Dezember 2020 auch mit eCargobikes. Der Prozess, bis eine neue Stadt an das System angeschlossen wird, gliedert sich in folgende Schritte: 1. Kontaktaufnahme und Interessensbekundung durch Kommune an VRN 2. Systemvorstellung durch VRN und Nennen von Mindestausstattung hinsichtlich Stations- und Radanzahl durch den Betreiber nextbike 3. Vorplanung in der Kommune, Projektkalkulation durch VRN, Vorbereitung zum Gremienentscheid 4. Beauftragung bis 1. Oktober eines Jahres nach positivem Gremienbeschluss 5. Detailplanungen aller Abteilungen und Festlegen der Stationsstandorte 6. Produktion, Aufbau und Systemstart zum 1. April des darauffolgenden Jahres Am Ende dieses Prozesses agiert der VRN als Auftraggeber und bestellt die von der Kommune beschlossene Leistung. Gleichzeitig schließen die Kommune und der VRN eine Finanzierungsvereinbarung für die zu leistenden Zuschussbeträge. Im Basistarif kostet die Nutzung 1 EUR je 15 Minuten. Monats- und - für ÖV-Zeitkartenkunden ermäßigte - Jahrestarife ermöglichen gegen eine Grundgebühr eine 30-minütige kostenlose Nutzung je Ausleihe. Der VRN und nextbike kooperieren zudem mit Unternehmen (BusinessBike). Die Kooperationspartner finanzieren zum Beispiel Stationen vor ihren Unternehmenssitzen oder stellen ihren MitarbeiterInnen ein Kontingent an vergünstigten Accounts zur Verfügung. Kooperationen mit Hochschulen laufen unter dem Label „CampusBike“. Dank eines solidarischen Grundbeitrags aller Studierenden sind die ersten 30 Minuten einer jeden Fahrt kostenlos. Methodik der Analysen Das Projekt „Wissenschaftliche Begleitung sowie Wirksamkeits- und Nutzungsuntersuchung zur zielgerichteten Verbesserung des Mietradsystems VRNnextbike“ besteht aus drei zentralen Bausteinen, welche durch die Fachgruppe Mobilitätsmanagement der Hochschule RheinMain bearbeitet werden: 1. Monitoring und Analyse der automatisch erfassten Mietvorgänge seit 2015. Die Analysen umfassen alle durch nextbike erfassten Informationen zu den Mietvorgängen. Im Wesentlichen sind dies Informationen zu den Quell- und Zielstation, zu Mietbeginn und Mietende und zum genutzten Tarif. Die Daten werden genutzt, um analyserelevante Zielgrößen (Distanzen zwischen Quell- und Zielstationen oder Ausleihdauern) zu berechnen. Anschließend werden die Informationen plausibilisiert (beispielsweise auf der Basis von Distanzen, Reisezeiten und den darauf basierenden Reisegeschwindigkeiten) sowie ggf. bereinigt. Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf den Datenstand 2015 bis März 2022 und bezieht damit auch die Covid- 19-Pandemie und die verschiedenen damit verbundenen Lockdownphasen ein. 2. Quantitative Nutzendenbefragung zu den Motiven und Zielen der Mietradnutzung, den durch diese Fahrt substituierten Verkehrsmitteln und den kognitiven Wahrnehmungen des Mietradsystems. Der letzte Punkt richtet sich an mietradbezogenen Einstellungen, ob die Nutzung im Alltag beispielsweise als günstig, bequem, sozial angemessen, risikolos oder das jeweilige Gegenteil eingeschätzt wird. In drei Wellen wird dazu in den Jahren 2021, 2022 und 2023 eine Befragung mit jeweils 500 Teilnehmenden durchgeführt, welche die raumstrukturelle Heterogenität des Angebotsgebiets von VRNnextbike berücksichtigt. Die in diesem Beitrag enthaltenen Angaben stammen aus der ersten Befragungswelle 2021. 3. Qualitative Tiefeninterviews mit Nichtnutzenden zu Nutzungshindernissen: Zu den als Fokusgruppengesprächen geplanten Tiefeninterviews wurde ein Gesprächsleitfaden entwickelt. Die Gespräche werden voraussichtlich im August 2023 starten und sind daher nicht Gegenstand dieses Beitrags. Der beschriebene Methodenmix verspricht ein umfassendes und facettenreiches Bild der Mietradnutzung zu vermitteln. Entwicklung und räumliche Muster der Mietrad-Nachfrage Als automatisch erfasste Datengrundlage stehen Raum- Zeit-Informationen in Form von Geokoordinaten und sekundenfeinen Datumsstempeln zum Mietstart und Mietende zur Verfügung. Die erfassten Daten enthalten keine Angaben zu den Nutzenden, beispielsweise Geschlecht oder Alter, und erlauben damit keine Analysen zu personenbezogenen Informationen. Insgesamt wurden 2.343.217 Beobachtungen für den Zeitraum 2015 bis Ende März 2022 übergeben. Nach Ausschluss nicht vollständiger Beobachtungen und umfangreichen Plausibilisierungen, z. B. zu Mietdauern und realisierten Geschwindigkeiten, werden 1.856.188 Mietvorgänge (79,2 %) in den nachfolgenden Analysen berücksichtigt (für Details zur Datenaufbereitung siehe [6]). Für eine grundlegende Annäherung an die Entwicklung des Mietradsystems VRNnextbike hilft eine Betrachtung der quartalsweisen Mietvorgänge seit 2015 bis Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 52 MOBILITÄT Wissenschaft inkl. des ersten Quartals 2022 (Bild 1). Erkennbar ist, dass die Zahlen beinahe kontinuierlich gestiegen sind. Im Jahr 2020 fällt die Wachstumsdynamik der Mietzahlen deutlich anders aus als in den Jahren zuvor. So sind in der Lockdownphase des zweiten Quartals deutlich weniger Mieträder entliehen worden, als in den vorhergehenden Jahren. Auch sind die Mietzahlen 2020 im Vergleich zum Vorjahr erstmals seit Bestehen des Systems nicht gestiegen. Für 2021 zeigen das dritte und vierte Quartal dagegen neue Höchstwerte an Mietvorgängen. Neben der absoluten Zahl der Mietvorgänge (in schwarz) zeigen in Bild 1 die rote Linie eine lineare und die grüne Linie eine lokal angepasste, polynomiale Wachstumsfunktion. Es ist zu erkennen, dass die Ausleihzahlen in den Jahren 2016 und 2017 leicht über dem linearen Wachstumstrend lagen. Danach wird die polynomiale Funktion durch die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie beeinflusst und liegt für 2019 und 2020 deutlich unter dem linearen Wachstumstrend. Ab dem dritten Quartal 2021 erholt sich das System von den Covid-19-Einflüssen und die Mietzahlen liegen deutlich über dem linearen Trend. Aufgrund der geringen Anzahl an Mietvorgängen wird das Jahr 2015 in den nachfolgenden Analysen nicht mehr berücksichtigt. Die relativen Wochenganglinien der Jahre 2016 bis 2021 zeigen, dass in den ersten vier Jahren der Anteil der Mietvorgänge zum Wochenende hin deutlich abfällt (siehe Bild 2). Innerhalb der Werktage (Montag bis Freitag) gehen dabei die Montage und Freitage mit den geringsten Mietfahrten einher, der Mittwoch weist die meisten Mietvorgänge auf. In 2020 und 2021 verschiebt sich dieses Muster zugunsten einer deutlich stärkeren Nachfrage am Wochenende. Der Freitag wird der mietstärkste Wochentag und der Samstag weist leicht höhere Mietanteile als der Montag auf. Im Vergleich mit der Wochenganglinie des Wegeaufkommens insgesamt [7] fallen für die letzten Jahre ein überproportionaler Anteil des Sonntags und ein unterproportionaler Anteil zu Wochenbeginn auf. Die relative Tagesganglinie der Mietvorgänge zeigt demgegenüber über alle Erhebungsjahre ein homogenes Erscheinungsbild. Deutlich erkennbar sind in Bild 3 am Beispiel des Jahres 2019 drei Tagesspitzen zwischen 7- Uhr bis 8 Uhr, bei 13 Uhr und schließlich mit den höchsten Ausleihzahlen in der Nachmittags-/ Abendspitze zwischen 16 Uhr und 18 Uhr. Am Wochenende starten die Mietradfahrten zu einer späteren Uhrzeit. Hier erreichen die Mietvorgänge ihre Spitzenwerte erst zwischen 15 Uhr und 18 Uhr. Auffällig ist an allen Wochentagen der vergleichsweise hohe Anteil der Nachtstunden von 22-Uhr bis vor 5 Uhr: während dieser beim bundesweiten Wegeaufkommen auch am Wochenende einen Anteil von rund 4 % des Tages-Wegeaufkommens nicht übersteigt [7], liegt er bei den Mieträdern durchweg über 10 %. Die Miethäufigkeiten liegt in Kleinstädten im Vergleich zu Großstädten auf einem deutlich niedrigeren Niveau. So finden 94,8 % der Mieten in Großstädten statt, während die Mittelstädte für 4,3 % und die Kleinstädte für nur 0,9 % der untersuchten Mietvorgänge verantwortlich sind. In Bezug auf die Mietdauern zeigt Bild-4 in den Kleinstädten eine längere Dauer als in den andern Stadtgrößenklassen. Während der Median der Mietdau- Bild 1: Quartalsweise absolute Mietvorgänge (n = 1.856.188 Mietvorgänge) Alle Abbildungen: Eigene Darstellung Bild 2: Wochenganglinie nach Betriebsjahren (n = 1.856.188 Mietvorgänge). Bild 3: Tagesganglinie 2019 (n = 311.642 Mietvorgänge) Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 53 Wissenschaft MOBILITÄT ern in den Großstädten bei knapp zehn Minuten liegt, beträgt dieser Wert für Kleinstädte etwa 16 Minuten. Äquivalent zu den Mietdauern sind die mit den Mieträdern zurückgelegten Distanzen - hergeleitet auf Basis der Luftlinien zwischen Start- und Zielort - in Kleinstädten am längsten. Eine mögliche Ursache für diese Unterschiede liegt in einer geringeren Stationsdichte in Kleinstädten im Vergleich zu größeren Städten. Lediglich 8,9 % der Mietvorgänge sind Rundfahrten, die an der gleichen Mietradstation enden, an der sie auch begonnen wurden. Die übrigen 91,1 % der Mieten resultieren in gerichteten Fahrten. Es ist zu erkennen, dass der Median für Rundfahren bei ca. 17 Minuten liegt. Bei gerichteten Fahrten hingegen sind 50 % der Fahrten kürzer als etwa zehn Minuten. Werden alle Fahrten, Rundfahrten und gerichtete Fahrten gemeinsam betrachtet, liegt der Median bei etwa zehn Minuten (siehe Bild 5). Parameter der Mietrad-Nutzung aus Sicht der Kundinnen und Kunden Um Hintergrundwissen über die Mietradnutzenden, ihren Nutzungsmotive, mögliche Verhaltensalternativen in der Verkehrsmittelwahl und die kognitive Wahrnehmung des Mietradsystems zu sammeln, wurde eine Nutzendenbefragung erarbeitet und im Jahr 2021 erstmalig ins Feld geführt. Weitere Feldphasen sind mit leichten Variationen in den thematischen Fokussierungen geplant. Die Befragung des Jahres 2021 fokussierte insbesondere auf Informationen zu den folgenden Themen: •• Mobilitätswerkzeugbesitz und Verkehrsmittelverfügbarkeit •• Etappenbasierte Informationen zur Mietradnutzung, Verkehrszwecke und verkehrsmittelbezogene Alternativen zur Mietradnutzung •• Kognitive Wahrnehmungen des Mietradsystems und allgemeine Umwelteinstellungen Die Teilnehmenden wurden während einer nextbike- Nutzung über die nextbike-App oder durch eine persönlich-mündliche Ansprache an den Ausleihstationen rekrutiert. Die Teilnahme an dem etwa 30-minütigen computergestützten Telefoninterview (CATI) wurde dann mit einem Incentive von 20 EUR honoriert. Weitere Details zum Befragungsablauf und den Befragungsinhalten finden sich in [8]. Die Zahlen zum Rücklauf und der Stichprobenzusammensetzung sind in Tabelle 1 dargestellt. Mit lediglich 211 rekrutierten Personen anstelle der angestrebten 500 Teilnehmenden wurde die Feldphase beendet. Die insgesamt geringe Teilnahmebereitschaft ist im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie und der Unsicherheit in der Bevölkerung zu sehen. In der zweiten Befragungswelle, die sich Mitte 2022 im Feld befindet, läuft die Rekrutierung aufgrund einer vermehrt persönlichmündlichen Ansprache an den Mietradstationen deutlich besser. Inhaltlich fällt in Bezug auf die Mietradnutzenden zunächst auf, dass die mit Abstand meisten interviewten Personen (89 %) ihre Mietradfahrt in Großstädten durchführten, während Mieten in Mittelstädten mit 9,5 % und insbesondere in Kleinstädte mit 1,4 % nur gering vertreten sind. Diese Zahlen treffen die Beobachtungen aus den automatisch gespeicherten Daten zu den Mietvorgängen gut. Die Befragten sind zu 69,8 % männlich und zu 30,2 % weiblich. Eine ähnliche Überrepräsentation der männlichen Teilnehmer bei der Mietradnutzung wurde auch in anderen Städten festgestellt (siehe bspw. [8]). Der Altersdurchschnitt liegt bei rund 29 Jahren (Standardabweichung 10,5 Jahre, Median 25 Jahre). Die Gruppe der 18bis 24-Jährigen ist deutlich überrepräsentiert (48 %). Auch die 25bis 29-Jähringen sind überproportional vertreten (24 %), während höhere Altersgruppen deutlich darunter liegen. Aus dem Datenmonitoring sind keine soziodemographischen Rückschlüsse möglich, die einen Vergleich der Altersverteilung der Mietradnutzenden mit der der Mietradkunden insgesamt erlauben; diese junge Struktur der Mietradnutzenden wird jedoch auch in früheren Befragungen berichtet (vgl. [9, 10]). Zu erwähnen ist zudem ein hohes Bildungsniveau in der Stichprobe, da 52,4 % der Befragten Abitur und Bild 4: Kumulative Darstellung der Mietdauern nach Stadtgrößenklassen (n = 1.856.188 Mietvorgänge). Bild 5: Kumulative Darstellung der Mietdauern für Rund- und gerichtete Fahrten (n-= 1.856.188 Mietvorgänge) Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 54 MOBILITÄT Wissenschaft 43,4- % einen (Fach-) Hochschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss angegeben haben. Auch dieser überdurchschnittlich hohe Bildungsgrad deckt sich mit früheren Untersuchungen (siehe [10, 11 12]). In Bezug auf die Nutzungsfrequenz des Mietradsystems konnten die Teilnehmenden wählen, ob sie die Anzahl Mietvorgänge pro Tag, Woche, Monat oder Jahr angeben. Die entsprechenden Angaben wurden auf die jährliche Nutzungshäufigkeit hochgerechnet. Bild 6 zeigt die resultierende Verteilung; zu beachten ist die logarithmierte x-Achse, um die hohe Spannweite der Mietfrequenzen darstellen zu können. Zu erkennen ist eine große Spanne zwischen hochfrequenten und gelegentlich bzw. selten Nutzenden. So wurde die Hälfte aller Fahrten von den aktivsten rund 12 % der Nutzenden durchgeführt, während 10 % der Fahrten von den inaktivsten 47 % der Nutzenden durchgeführt wurde. Der Mittelwert lag bei 241 Radmieten pro Jahr (Standardabweichung: 322 Mieten, erstes Quartil: 36 Mieten, Median: 104 Mieten und drittes Quartil: 360 Mieten). Für Erkenntnisse zu den gewählten Fahrtrouten wurden die Entnahme- und die Rückgabestation sowie markante Wegpunkte in den Interviews erfragt und mithilfe des Online-Routenplaners Komoot 1 während des Telefoninterviews nachgeroutet. Aus diesem elektronischen RoutingwurdenInformationenzuVerkehrsinfrastruktur, Straßenbelag und Straßentyp und der zurückgelegten Distanz ermittelt. In Bezug auf die Distanzen weisen 80 % der Fahrten eine Länge zwischen 1,0 und 4,8 km auf, wobei der Durchschnitt bei 3,2 km und der Median bei 2,3 km liegt. Das deckt sich gut mit dem Evaluationsbericht von [9], in welchem die durchschnittlichen Fahrtdistanzen je nach Stadt ebenfalls zwischen 2,3 km und 3,2 km liegen. In Bezug auf den Wegezweck, dessen Bestandteil die erfasste Mietradetappe ist, wurde die Aktivität „Wohnen“ (d. h. der Zweck der Mietradfahrt war die Rückkehr zur eigenen Wohnung) am häufigsten genannt, gefolgt von Wegen zu den Zwecken „Freizeit“, „Studium“ und „Arbeiten“ (Bild 7). Auch „private Erledigungen“ und „Einkaufen“ wurden vereinzelt als Wegezwecke genannt, während „dienstliche Erledigungen“ sowie „Schule- und Ausbildungswege“ kaum bzw. gar nicht vorkamen. Diese Zahlen decken sich erneut gut mit [9]. Es fällt auf, dass die Wegezwecke vor und nach der Mietradfahrt ähnlich oft genannt wurden. Dies ist ein Hinweis auf reziproke Quell-Zielbeziehungen. Dieser Befund konnte durch eine vertiefende Analyse der Quell- Ziel-Beziehungen bestätigt werden (siehe [13]). Die Teilnehmenden der Untersuchung wurden im Anschluss an das Nachrouting ihrer Mietradfahrt gefragt, welche verkehrliche Alternative sie genutzt hätten, falls es das Mietradsystem nicht gäbe. Diese Frage erlaubt in Kombination mit weiteren Merkmalen der verkehrlichen Alternativen eine Berechnung der unmittelbaren Schadstoffreduktionen durch die Nutzung des Mietradsystems. Von den Teilnehmenden antworteten 93,3 %, dass sie ein anderes Verkehrsmittel genutzt hätten, während 1,9 % bzw. 3,8 % antworteten, dass sie ihren Tagesablauf anders geplant bzw. den Weg nicht durchgeführt hätten. Die rund 93 % der Teilnehmenden mit einer veränderten Verkehrsmittelwahl gaben die in Bild 8 gezeigten Verkehrsmittel als Ersatz für die Mietradnutzung an. Die meisten Mietradfahrten substituieren demnach Fußetappe (26,5 %), gefolgt Etappen mit der Straßenbahn (23,2 %), der Nutzung eines privaten Fahrrads (15,2 %) und den Bus (15,2 %). Zusammengerechnet substituieren rund 41 % der Mietradfahrten damit Etappen, die andernfalls mit dem ÖPNV durchgeführt worden wären. Für die 5,7 % substituierte MIV-Fahrten wurden die PKW-Fahrtdistanz per kürzestem Wegealgorithmus in Google-Maps ermittelt und mit den erfragten Werten zu Antriebsart und Emissionsklasse des substituierten PKW und den auf Basis dieser Angaben ermittelten durchschnittlich zu erwarteten Emissionsmengen von CO 2 und NO x aus dem Handbuch für Emissionsfaktoren [14] kombiniert. Die sich ergebenden Einsparpotenziale wurden auf die etwa 570.000 Fahrten hochgerechnet werden, die im Jahr 2021 insgesamt mit Mieträdern von VRNnextbike zurückgelegt wurden. Daraus ergibt sich Bild 6: Logarithmierte Nutzungshäufigkeit (n = 211 Befragungsteilnehmende) n % Rekrutierung Besuche der Rekrutierungsbefragung 718 100 % Teilnahmeabsicht (Telefonnummer angegeben) 296 41 % Teilnehmende CATI 211 29 % Gemeindegrößenklasse des Ortes der Radausleihe Großstädte 187 89 % Mittelstädte 20 9,5 % Kleinstädte 3 1,4 % Außerhalb des VRN-Gebiets 1 0,5 % Geschlecht Weiblich 63 30,2 % Männlich 148 69,8 % Lebensalter Median 25,0 Arithmetisches Mittel 28,6 Tabelle 1: Rücklauf und Zusammensetzung der Stichprobe Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 55 Wissenschaft MOBILITÄT eine Emissionsreduktionsmenge von etwa 13,8 t CO 2 und 22,4 kg NO x im Jahr 2021. Neben diesen direkten und nur gering ausfallenden Emissionsreduktionspotenzialen kann jedoch vermutet werden, dass Mietradnutzende häufiger auf eine PKW- Nutzung am Tag der Mietradfahrt verzichten. Die laufende zweite Befragungswelle zielt daher auf eine umfassendere Betrachtung der Wegeketten und des Mobilitätsverhaltens der Befragten ab. Schlussfolgerungen für eine nachhaltige Verkehrsplanung und Verkehrsentwicklung Die vorgestellten Analysen liefern facettenreiche Erkenntnisse und tragen zu einem tieferen Verständnis der Mietradnutzung bei. Bemerkenswert erscheint zunächst die anhaltende Wachstumsdynamik, die auch von den verschiedenen Lockdownphasen 2020/ 21 nur in überschaubarem Ausmaß berührt wurde. Zusammen mit dem auffallend geringen Alter der Mietradnutzenden einerseits und dem stark habituellen Charakter von Mobilitätsverhalten andererseits drängt sich die - durch Längsschnittuntersuchungen zu überprüfende - These auf, dass eine „Generation Sharing“ heranwächst, die Mietrad- und andere digital basierte Angebote in ihr selbstverständliches Handlungsportfolio aufgenommen hat und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung generational wächst. Zusammenhänge mit Faktoren wie der PKW-Verfügbarkeit, des Führerscheinbesitzes und dem Einkommen sind Gegenstand der kommenden, zweiten Befragungswelle. Die hohe Substitutionsrate öffentlicher Verkehrsmittel deutet vordergründig auf eine Konkurrenz der Mietfahrräder zu Bussen und Bahnen hin. Jedoch sprechen die zeitlichen Nutzungsmuster dafür, dass die Mietfahrräder überproportional dann gewählt werden, wenn das ÖV-Angebot ausgedünnt oder gar nicht vorhanden ist. Aus Sicht der Nutzenden bilden Mietfahrräder und ÖV naheliegender Weise ein Gesamtsystem, das als Ganzes ihre Mobilität erleichtert und sichert. Auch die große Bandbreite der personenbezogenen Nutzungsintensitäten spricht dafür, dass viele Nutzenden das Mietradsystem - ganz im Sinne des Ideals der Multimodalität - situativ flexibel nutzen. Aus der zweiten Befragungswelle werden hierzu differenziertere Ergebnisse erwartet. Für die Angebotsgestaltung im Zuge der kommunalen Verkehrsplanung erscheint besonders der hohe Anteil an gerichteten Fahrten bedeutsam: Er kann als starkes Indiz dafür verstanden werden, dass Mietradsysteme ihre Potenziale vor allem bei einem dichten Stationsnetz entfalten. Dies erscheint aktuell u. a. im Hinblick auf die Diskussion um die Einrichtung solitärer Mobilitätsstationen in möglichst vielen Orten bedeutsam. Im Umfeld des Projektes finden sich weitere Arbeiten, welche die Daten des Mietradsystems VRNnextbike als Grundlage für die statistische Modellierung kausaler und multidimensionaler Zusammenhänge nutzen. Hervorzuheben sind dabei die Arbeiten zu den Einflussfaktoren der mietradbezogenen Verkehrsmittel- und Routenwahl, welche die Integration von Mietradsystemen in Verkehrsnachfragemodellen ermöglichen [15]. Des Weiteren wurde ein grundlegendes Zeitreihenmodell (unobserved component model) zur Analyse und Prognose der Mietvorgänge entwickelt, das derzeit verfeinert wird [16]. Schließlich ist jüngst ein hierarchisches Regressionsmodell zur Analyse und Prognose der Anzahl an Mietvorgängen an ausgewählten Stationen in Abhängigkeit von ihrer sozialräumlichen und baulichen Umgebung entstanden [17]. Diese Arbeiten ermöglichen ein tieferes Verständnis der Dynamik von Mietradsytemen und erlauben eine verbesserte Planung des Auf- und Ausbaus derartiger Angebote. Hinzuweisen ist schließlich noch auf die Potenziale, die sich aus den von Mietrad- und anderen Sharingsystemen generierten Daten für eine zielorientierte strategische Verkehrsplanung ergeben (vgl. auch [18]). Bislang werden diese Massendaten meist nur für die operative Betriebssteuerung genutzt, und die ihnen innewohnenden Chancen für eine integrierte Verkehrsplanung ist Bild 7: Aktivitäten vor und nach der Mietradnutzung (n = 211 Befragungsteilnehmende) Bild 8: Durch die Mietradfahrt substituierte Verkehrsmittel (n = 211 Befragungsteilnehmende) Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 56 MOBILITÄT Wissenschaft vor allem auf Seiten der öffentlichen Hand noch weitgehend unerkannt. ■ 1 www.komoot.de QUELLEN [1] Sommer, C.; Mucha, E. (2013): Integrierte multimodale Mobilitätsdienstleistungen. In: Proff H. (Hrsg.): Radikale Innovationen in der Mobilität. Wiesbaden. [2] Klinger, T.; Deffner, J.; Kemen, J.; Stein, M.; Lanzendorf, M. (2016): Sharing-Konzepte für ein multioptionales Mobilitätssystem in FrankfurtRheinMain. Analyse neuerer Entwicklungen und Ableitung von Handlungsoptionen für kommunale und regionale Akteure. Im Auftrag des HMWEVL. Schlussbericht. Arbeitspapiere zur Mobilitätsforschung Nr. 9. Frankfurt a.M.. [3] Zug, S.; et al. (2019). BikeSharing-System der 5. Generation. In: Marx Gómez, J.; Solsbach, A.; Klenke, T.; Wohlgemuth, V. (Hrsg.): Smart Cities/ Smart Regions - Technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationen. Wiesbaden: Springer VS. [4] Wolking C. (2021): Öffentliche Mobilität und neue Mobilitätsdienstleistungen - Rahmenbedingungen und Gestaltungsperspektiven. In: Schwedes O. (Hrsg.): Öffentliche Mobilität. Wiesbaden; Springer VS. [5] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2020): Multi- und Intermodalität: Hinweise zur Umsetzung und Wirkung von Maßnahmen im Personenverkehr. Teilpapier 3: Multi- und intermodale Mobilitätsdienstleistungen und intermodale Verknüpfungspunkte. Köln. [6] Pautzke, C.; Kowald, M.; Dannewald, T.; Blees, V. (2021): Die Entwicklung des Fahrradvermietsystems VRNnextbike 2015-2021. Monitoringbericht Q1/ 2021, Hochschule RheinMain, Wiesbaden. www.hs-rm.de/ fileadmin/ Home/ Fachbereiche/ Architektur_und_Bauingenieurwesen/ Studiengaenge/ Mobilitaetsmanagement__B.Eng._/ Publikationen/ Arbeitsbericht_Q1_2021_VRNnextbike.pdf [7] infas, DLR, IVT und infas 360 (2018): Mobilität in Deutschland - Tabellarische Grundauswertung (im Auftrag des BMVI). [8] Röth, K.; Grüner, S. L.; Kowald, M.; Blees, V. (2022): Die Ergebnisse der Nutzendenbefragung zum Fahrradvermietsystem VRNnextbike 2021 Monitoringbericht Q1/ 2022, Hochschule RheinMain, Wiesbaden. www.hs-rm.de/ fileadmin/ Home/ Fachbereiche/ Architektur_und_Bauingenieurwesen/ Studiengaenge/ Mobilitaetsmanagement__B.Eng._/ Publikationen/ Arbeitsbericht_Q1_2022_VRNnextbike_FINAL.pdf [9] Koska, T.; Friedrich, M.; Rabenstein, B.; Jansen, U.; Pawlik, S. (2015): Evaluation der Modellprojekte „Öffentliche Fahrradverleihsysteme - innovative Mobilität in Städten“, Abschlussbericht, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie; Univ. Stuttgart, Lehrstuhl Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik, Wuppertal und Stuttgart. [10] Reck, D.J.; Axhausen, K. W. (2021): Who uses shared micro-mobility services? Empirical evidence from Zurich, Switzerland. In: Transportation Research Part D: Transport and Environment 94, 102803. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.trd.2021.102803 [11] Fishman, E. (2016): Bikeshare: A Review of Recent Literature. In: Transport Reviews 36 (1), S. 92-113. https: / / doi.org/ 10.1080/ 01441647.2015.1033036 [12] Fishman, E.; Washington, S.; Haworth, N. (2013): Bike Share: A Synthesis of the Literature. In: Transport Reviews 33 (2), S. 148-165. https: / / doi.org/ 10.1080/ 01441647.2013.775612 [13] Röth, K.; Gutjar, M.; Kowald, M. (2022): Die Nutzendenbefragung zum Fahrradvermietsystem VRNnextbike, Monitoringbericht Q4/ 2021, Hochschule RheinMain, Wiesbaden. www.hs-rm.de/ fileadmin/ Home/ Fachbereiche/ Architektur_und_Bauingenieurwesen/ Studiengaenge/ Mobilitaetsmanagement__B.Eng._/ Publikationen/ Arbeitsbericht_ Q4_2021_VRNnextbike.pdf [14] HBEFA (2019): Hintergrundinformationen zum Handbuch für Emissionsfaktoren für Straßenverkehr 4.1., INFRAS. [15] Kowald, M.; Gutjar, M.; Röth, K.; Schiller, C.; Dannewald, T. (2022): Mode choice effects on bike sharing systems. In: Applied Sciences 12, 4391. www.mdpi.com/ 2076-3417/ 12/ 9/ 4391/ htm [16] Kowald, M.; Dannewald, T.; Röth, K. (2021): Zeitreihenmodell zur Entwicklung des Fahrradvermietsystems VRNnextbike 2015-2021. Monitoringbericht Q3/ 2021, Hochschule RheinMain, Wiesbaden. www.hs-rm.de/ fileadmin/ Home/ Fachbereiche/ Architektur_ und_Bauingenieurwesen/ Studiengaenge/ Mobilitaetsmanagement__B.Eng._/ Publikationen/ Arbeitsbericht_Q3_Unobserved_Components_Model.pdf [17] Reckermann, H.; Kowald, M.; Rautka, C. (2022): Prognose der Auslastung von Fahrradvermietsystemen mit kostenlos verfügbaren Geodaten. Quartalsbericht Q3/ 2022. Hochschule RheinMain, Wiesbaden. www.hs-rm.de/ fileadmin/ Home/ Fachbereiche/ Architektur_und_Bauingenieurwesen/ Studiengaenge/ Mobilitaetsmanagement__B.Eng._/ Publikationen/ 202212_VRNnextbike_Q3_Bericht_POI-Regression.pdf [18] Kagerbauer, M (2022): Integration von neuen Mobilitätsformen in Verkehrserhebungen und Verkehrsmodellierung. Schriftenreihe des Instituts für Verkehrswesen am KIT, 77. Karlsruhe. Matthias Kowald, Prof. Dr. Mobilitätsverhalten, Fachgruppe Mobilitätsmanagement, Hochschule RheinMain, Wiesbaden matthias.kowald@hs-rm.de Iryna Bondarenko, Dipl.-Ing. Fachgruppe Mobilitätsmanagement, Hochschule RheinMain, Wiesbaden iryna.bondarenko@hs-rm.de Volker Blees, Prof. Dr.-Ing. Verkehrswesen, Fachgruppe Mobilitätsmanagement, Hochschule RheinMain, Wiesbaden volker.blees@hs-rm.de Lukas Raudonat Verkehrsverbund Rhein Neckar, Mannheim l.raudonat@vrn.de Brief und Siegel für Wissenschafts-Beiträge Peer Review - sichtbares Qualitätsinstrument für Autoren und Leserschaft P eer-Review-Verfahren sind weltweit anerkannt als Instrument zur Qualitätssicherung: Sie dienen einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen, wissenschaftlichen Argumentationen und technischen Entwicklungen des Faches und sollen sicherstellen, dass die Wissenschaftsbeiträge unserer Zeitschrift hohen Standards genügen. Herausgeber und Redaktion laden daher Forscher und Entwickler im Verkehrswesen, Wissenschaftler, Ingenieure und Studierende sehr herzlich dazu ein, geeignete Manuskripte für die Rubrik Wissenschaft mit entsprechendem Vermerk bei der Redaktion einzureichen. Interessierte Autoren finden die Verfahrensregeln, die Autorenhinweise sowie das Formblatt für die Einreichung des Beitrages auf www.internationales-verkehrswesen.de/ autoren-service/ Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 57 Wissenschaft MOBILITÄT Multimodale Mobilitätsplattformen in öffentlicher Hand Herausforderungen auf dem Weg von der Theorie in die Praxis Multimodale Mobilitätsplattform, MaaS-Plattform, Shared Mobility, Öffentliche Mobilität, Multimodalität, ÖV-Unternehmen Multimodale Mobilitätsplattformen gelten als Chance, einen Beitrag zur Mobilitätswende zu leisten, indem sie durch die digitale und physische Verknüpfung des Öffentlichen Verkehrs (ÖV) mit ergänzenden Mobilitätsdienstleistungen eine Alternative zum privaten PKW schaffen. Doch zeigt ein Blick in die Praxis, dass Theorie und Umsetzung weit voneinander entfernt liegen. Für ein umfassendes und integriertes Angebot ist nicht nur die Kooperation von öffentlichen und privaten Akteuren nötig, es müssen auch attraktive, zeitlich und räumlich verfügbare Verkehrsangebote existieren. Entscheidend ist dabei zudem die politische Unterstützung durch begleitende Push- und Pull-Maßnahmen. Basierend auf Expert: inneninterviews mit Betreibern öffentlicher Mobilitätsplattformen wird in diesem Beitrag das komplexe Gefüge unterschiedlicher Herausforderungen, mit denen ÖV-Unternehmen bei der Planung und dem Betrieb von Mobility-as-a-Service (MaaS)-Plattformen konfrontiert werden, beleuchtet. Christina Wolking, Justus Trölsch D er Öffentliche Verkehr (ÖV) spielt im Rahmen der anvisierten Mobilitätswende eine essenzielle Rolle. Er bildet nicht nur das Rückgrat des Umweltverbundes, sondern muss auch den Zweck der Daseinsvorsorge erfüllen [1]. Seine entscheidende Rolle rückt, nicht zuletzt verstärkt durch die Debatte um das 9-Euro-Ticket, gesellschaftlich und verkehrspolitisch zunehmend in den Fokus. Gleichzeitig werden Leistungsgrenzen im bestehenden ÖV-System sichtbar, sodass Nutzer: innen bereits häufig kritisierte Eigenschaften, wie die beschränkte zeitliche und räumliche Verfügbarkeit, mangelnde Flexibilität und geringen Komfort beklagen [1, 2]. Diversifizierung des öffentlichen Angebots - Notwendigkeit eines integrierten Ansatzes Mit dem Aufkommen neuer Mobilitätsdienstleistungen, die sich zwischen Kollektiv- und Individualverkehr sowie öffentlichem und privatem Verkehr verorten lassen [3], wird ein flexibleres Mobilitätsverhalten verbunden, indem u. a. Sharing-Angebote und On-Demand-Fahrdienste das „quasi-öffentliche“ [4] Angebot an Verkehrsmitteln erweitern [5]. Ein Großteil der Mobilitätsdienstleister agiert jedoch entlang wirtschaftlicher Ziele, sodass sich die Bereitstellung des Verkehrsangebots primär an potenziellen Umsätzen und weniger am eigentlichen Bedarf orientiert. Dies zeigt sich anhand des Fokus auf nachfragestarke urbane Räume mit einer hohen Bevölkerungsdichte, wo Konzepte erprobt und weiterentwickelt werden. Daraus resultiert eine ungleiche Verfügbarkeit an innovativen Mobilitätsdiensten, die alternativ zum privaten PKW genutzt werden können. Die Profitorientierung steht somit verkehrspolitischen Zielen, wie der Förderung einer nachhaltigen und bedarfsgerechten Mobilität gegenüber [6]. Auch wenn die Vielfalt an Fortbewegungsmöglichkeiten im urbanen Raum positiv zu bewerten ist, kann dies für die Nutzer: innen zu einer gewissen Unübersichtlichkeit führen und den öffentlichen Raum durch die zunehmende Flächeninanspruchnahme belasten [4]. Nutzungskonditionen, wie Kosten und Abrechnung, räumliche Verfügbarkeit sowie die Zugangsform können, je nach Anbieter, variieren [3]. Werden die Dienste ausschließlich bezüglich ihrer Einsatzmöglichkeiten betrachtet, bieten sie großes Potenzial, die vielfach geforderte Flexibilisierung des öffentlichen Verkehrsangebots umzusetzen und den ÖV zu ergänzen. Im Sinne von „Nutzen statt Be- PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 28.09.2022 Endfassung: 17.01.2023 Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 58 MOBILITÄT Wissenschaft sitzen“ [7] könnten Mikromobilität, Carsharing und On- Demand Fahrdienste je nach Bedarf und Situation primär als Zubringer für den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) fungieren und für nachfrageschwache Zeiten und Räume eine Alternative zum Linienverkehr sein. Entsprechend gilt es, das Verständnis, dass der ÖV ausschließlich für kollektiven Verkehr steht und der Motorisierte Individualverkehr die individuelle Mobilität liefert, zu korrigieren. Ziel muss es sein, eine Transformation zu gestalten - von konkurrierenden hin zu kooperierenden Systemen [3, 8]. Um aufkommende Ineffizienzen und funktionale Überschneidungen zu minimieren, ist es notwendig, einen ganzheitlichen Planungsansatz zu verfolgen. Potenzial Multimodaler Mobilitätsplattformen in öffentlicher Hand An diesem Punkt setzen Multimodale Mobilitätsplattformen an, mit dem Ziel, möglichst viele der verfügbaren Mobilitätsangebote - von ÖV, über verschiedene Sharing-Angebote bis hin zu Fahrdiensten - in ein gemeinsames Angebot zu überführen. Die Integration erfolgt dabei digital über eine App, in der die Nutzer: innen im Idealfall angebots- und anbieterübergreifend ihren Weg planen, sich informieren, buchen und bezahlen können. Die digitale Plattform soll den Zugang erleichtern und zu Übersichtlichkeit verhelfen [3]. Komplementär kann die Integration auch über die physische Infrastruktur erfolgen, z. B. in Form von Mobilitätspunkten und -stationen, welche Abstellflächen bereithalten und Umstiege erleichtern [5, 9]. Die sogenannten Mobility-as-a-Service (MaaS)-Plattformen gelten als Chance, situations- und bedarfsgerechte Mobilität zu ermöglichen und werden im Kontext einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung häufig als Alternative zum privaten PKW diskutiert [10, 11]. Durch die Bündelung sollen nicht nur die Multimodalität, sondern auch intermodale Wegeketten gefördert werden [12, 13]. Die innovativen Ansätze von MaaS- Plattformen beruhen somit primär auf der Koordination und Umorganisation bereits bestehender Angebote und sind entsprechend als Nutzungsinnovation zu verstehen [3]. Was die Ziele für die Ausgestaltung der Plattform sind, ist auch davon abhängig, welcher Akteur (privatwirtschaftlich oder öffentlich) in der Verantwortung für Betrieb und Steuerung steht. So richten privatwirtschaftlich betriebene MaaS-Plattformen ihren Fokus bei der Integration von Mobilitätsdienstleistern vorrangig auf ökonomisch und strategisch relevante Angebote. Das eigentliche Rückgrat - der ÖV - fehlt dabei zumeist als Buchungsoption (z. B. sind in der FreeNow-App i. d. R. private Fahrdienste, Mikromobilität und Carsharing buchbar, jedoch keine/ kaum Angebote für den ÖV 1 [14, 15]). Da das Verkaufsrecht von ÖV-Tickets primär bei den ÖV-Unternehmen selbst liegt, sind die Möglichkeiten privater Akteure selbst bei hohem Integrationswillen beschränkt [16]. Multimodale Mobilitätsplattformen in öffentlicher Hand haben hingegen den Anspruch, möglichst alle Mobilitätsangebote im Bezugsraum diskriminierungsfrei zu integrieren [17]. Sie scheinen vor allem deshalb erstrebenswert, da die öffentliche Hand die Gestaltungshoheit behält, normative Ziele implementiert werden können und sie sich am Anspruch der Daseinsvorsorge orientieren [3]. Forschungsdesign: Ziel und Vorgehen Mit dem Ziel, ein Verständnis für die Umsetzungshürden von MaaS-Plattformen in öffentlicher Hand zu erlangen, erfolgte in einem ersten Schritt mittels Literaturrecherche und Sekundärdatenanalyse eine Bestandsaufnahme der im operativen Betrieb befindlichen öffentlichen MaaS-Plattformen in Deutschland und Österreich. Berücksichtigt wurden nur die Plattformen, die neben dem Öffentlichen Verkehr mindestens noch ein weiteres Verkehrsmittel integriert haben (z. B. ÖPNV plus Carsharing). Die identifizierten Projekte wurden anhand der Kriterien Integrationsstufe (funktionale Integration), Diversität der integrierten Verkehrsmittel (modale Integration) und Raumbezug eingeordnet. Die Diversität bezieht sich ausschließlich auf die Anzahl verschiedener buchbarer Mobilitätsformen und nicht auf die Anzahl der Anbieter an sich. Basierend auf dieser Übersicht wurden sieben MaaS-Plattformen mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen ausgewählt, um mittels leitfadengestützter Expert: inneninterviews tiefergehende Einblicke in die Umsetzungspraxis zu bekommen. Maßgeblich für die Fallauswahl war die „maximale strukturelle Variation“ [18] entlang der genannten Variablen, um den Informationsgehalt der Ergebnisse zu steigern. Als Expert: innen wurden Personen definiert, die in einer leitenden oder strategischen Funktion bei der Entwicklung und Integration öffentlicher MaaS-Plattformen involviert sind. Ergänzend wurde ein: e Expert: in aus der ÖV-Branche mit umfassendem Kontext- und Betriebswissen interviewt, wodurch sich die Ergebnisse auf insgesamt acht qualitative Interviews beziehen [19]. Nach der Transkription der 60 bis 90-minütigen Interviews, die im Zeitraum von Mai bis Oktober 2021 durchgeführt wurden, erfolgte die Datenauswertung, angelehnt an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring. Die Auswertungskategorien wurden anhand einer systematischen Literaturanalyse deduktiv festgelegt und entlang des Interviewmaterials induktiv genährt [20]. Eine Übersicht und Einordnung der 18 identifizierten öffentlichen Mobilitätsplattformen ist Bild 1 zu entneh- Normative Integration Angebot von Mobilitätspaketen Integration von Buchung- und Bezahlung Integration von Informationen 0 1 2 3 4 0 1 2 3 4 5 6 7 8 Bundesebene Große Großstadt** Kleinere Großstadt** interviewte öffentliche MaaS-Plattform [Diversität der integrierten Angebote] [Integrationsstufe*] * Integrationsstufen n. Sochor et. al 2018 ** Nach Stadtu.- Gemeindetypen des BBSR je eine interviewte und eine nicht interviewte öffentliche MaaS-Plattform 3 X nicht interviewte öffentliche MaaS-Plattform Bild 1: Einordnung öffentlicher Multimodaler Mobilitätsplattformen im operativen Betrieb (Stand 09/ 2022) Eigene Darstellung auf Basis von [21-39] Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 59 Wissenschaft MOBILITÄT men, wobei jeder der Kreise für eine MaaS-Plattform steht und die Kreisgröße den Bezugsraum angibt. Die interviewten MaaS-Projekte sind orangefarben markiert. Öffentliche Multimodale Mobilitätsplattformen - Status Quo Öffentliche MaaS-Plattformen liegen in der Verantwortung staatlicher oder kommunaler Akteure [4]. Der überwiegende Anteil wird durch die kommunalen Verkehrsbetriebe umgesetzt und ist somit auf die lokale Ebene begrenzt. Vereinzelt existieren auch Ansätze für überregionale Plattformen (z. B. Mobility Inside, DB-Navigator). Allerdings weisen diese aufgrund der Komplexität eine geringe Integrationsstufe auf und bieten primär Informationsdienste. Dem ganzheitlichen Ansatz von MaaS-Plattformen, der in der Theorie beschrieben wird, können die bereits bestehenden Mobilitätsplattformen nur bedingt entsprechen. Auch beim Vergleich der Projekte untereinander sind enorme Varianzen festzustellen. Während es zwar einige „Leuchtturmprojekte“ gibt, die eine hohe funktionale Integration (Tiefenintegration; Level 2 n. Sochor et al. [22]) aufweisen und Buchungssowie Bezahloptionen implementieren, verharrt die Mehrheit der Anwendungen auf einer rein informationellen Ebene (Level 1 n. Sochor et al. [22]) und ist via „Deep-Link“ mit den Mobilitätsdienstleistern verbunden. Für die Buchung werden die Nutzer: innen auf die native App des Dienstleisters umgeleitet. Hierdurch können jedoch keine intermodalen Reiseketten innerhalb einer zentralen Plattform realisiert werden. Lediglich eine der 18 identifizierten Plattformen bietet die Möglichkeit, sogenannte Mobilitätspakete im Abo-Modell zu buchen und weist damit im Vergleich die höchste Integrationsstufe auf. Auffällig ist zudem, dass keine der Plattformen eine normative Integration (Level 4 n. Sochor et al. [22]) erreicht, bei der z. B. mit Hilfe von Anreizen und Ansätzen des Mobilitätsmanagements verkehrs- und gesellschaftspolitische Ziele implementiert werden. Während die Integrationsstufe unabhängig von den Faktoren der Verfügbarkeit und des Raumbezugs ist, besteht zwischen den Variablen Raumbezug und Diversität der integrierten Mobilitätsangebote ein Zusammenhang. Mit zunehmender Größe des Bezugsraums geht in der Regel eine höhere Anzahl aktiver Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen einher. Während also vor allem in (großen) Großstädten die Grundlage für eine hohe Angebotsdiversität innerhalb der Plattform gegeben wäre, zeigt die Bestandsaufnahme, dass ein größerer Bezugsraum keine Garantie dafür ist. Es wird deutlich, dass neben der Verfügbarkeit von Angeboten und dem Raumbezug noch viele weitere Faktoren Einfluss auf die Umsetzung haben. Die zu überwindenden Hürden einer integrierten öffentlichen Mobilitätsplattform in der Praxis werden im weiteren Verlauf dargestellt. Herausforderungen in der Umsetzung öffentlicher Multimodaler Mobilitätsplattformen - Einblicke in die Praxis Im Rahmen der Interviews konnten insgesamt sechs Kategorien von Herausforderungen bei der Umsetzung von MaaS-Angeboten identifiziert werden. Hierzu gehören strategische, organisatorische, finanzielle, technische sowie rechtliche und gesellschaftliche Herausforderungen. Dabei ist es nicht möglich, die Felder klar voneinander abzugrenzen; viele Faktoren bedingen und beeinflussen sich gegenseitig, sodass eine Betrachtung der Herausforderungen im Gesamtsystem erforderlich ist. Die Ergebnisse der Interviews werden in zusammengefasster Form dargelegt und punktuell durch weiterführende Literatur unterstützt. Aus datenschutzrechtlichen Gründen werden Aussagen in anonymisierter Form wiedergegeben. Strategische Herausforderungen - Interessen und Ziele bei-Kooperationen Eine der wesentlichen Herausforderungen bei der Umsetzung eines ganzheitlichen integrierten und anbieterübergreifenden Angebots ist, dass Kooperationen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren unterschiedlicher Ebenen (globale und lokale) erforderlich sind. Berichte aus der Praxis zeigen, dass eine gemeinsame Vision und ein Verständnis davon, welche Ziele der Zusammenarbeit bestehen, essenziell für eine erfolgreiche und langfristige Kooperation sind. Der öffentliche Plattformbetreiber ist dafür verantwortlich, einen Kompromiss zu finden, zwischen verkehrspolitischen Zielen der Kommunen einerseits und den wirtschaftlichen Zielen der Mobilitätsdienstleister andererseits. So besteht ein schmaler Grat zwischen funktionierenden Geschäftsmodellen und der notwendigen Steuerung der Mobilitätsangebote. Konsens mit den lokalen Behörden herzustellen ist unerlässlich, um den Betrieb von öffentlichen MaaS- Plattformen auch langfristig sicherstellen zu können. Häufig liegen die Hürden jedoch bereits bei der Einigung auf einem gemeinsamen Ziel und der grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft zentraler Akteure. Die Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen stehen zunehmend unter wirtschaftlichem Druck, sodass eine Integration auf lokaler Ebene auch in die gesamte Unternehmensstrategie passen muss. Da für die Implementierung in MaaS-Plattformen auch seitens der Mobilitätsdienstleister personelle Ressourcen aufgewendet werden müssen, wird jeweils abgewogen, ob eine Beteiligung mit dem Erreichen der eigenen unternehmerischen Ziele verbunden werden kann. Die Kooperationsbereitschaft mindern können darüber hinaus Befürchtungen eines Kontrollverlusts über die eigenen Kund: innendaten oder eines potenziellen Datenraubs durch andere Wettbewerber. Auch die Sorge, die eigene Identität zu verlieren und als reiner Zulieferer zu agieren, kann gegen eine Kooperation sprechen. Den Dienstleistern ist es wichtig, ihre eigene Marke und App zu erhalten, um sich gegenüber anderen Wettbewerbern zu behaupten und Kund: innenbindung herzustellen. Gründe, sich bei MaaS- Plattformen zu integrieren, sind vor allem erhoffte strategische Vorteile, wie ein positives Image und Beziehungsaufbau mit öffentlichen Akteuren, um sich langfristig in den Kommunen zu positionieren. Eine reine Abwicklung über die MaaS-Plattform kommt somit allein aus kommerziellen Gründen nicht in Frage, da zudem nur ein geringer Anteil der Buchungen über die Multimodalen Mobilitätsplattformen getätigt wird. Beispielsweise ist der Anbieter Tier bereits in über 30 Mul- Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 60 MOBILITÄT Wissenschaft timodale Plattformen integriert, dennoch werden lediglich 2 % aller getätigten Fahrten über diese Plattformen gebucht, der Rest über die eigene App [40]. Im Kooperationsgefüge entsteht zudem eine große wechselseitige Abhängigkeit. Für die Zusammenarbeit sind ein vertrauensvolles Verhältnis und die Gewissheit erforderlich, dass die jeweiligen Partner zuverlässig agieren. Beispielsweise können technische Probleme oder defizitäre Fahrzeuge eines einzelnen Anbieters auf die Bewertung des MaaS-Angebots als Ganzes zurückfallen. Organisatorische Herausforderungen - Prozesse und Strukturen Die Entwicklungen im Bereich multimodaler und neuer Mobilität sind sehr dynamisch und erfordern, gerade mit dem Ziel einer stärkeren Nutzer: innenorientierung, kurzfristiges und situationsbedingtes Handeln. Aufgrund der Organisationsstruktur öffentlicher Verkehrsunternehmen, erweist sich der Umgang mit innovativen und agilen Projekten mit stetigem Anpassungsbedarf als herausfordernd. Formalisierte Prozesse, wie z. B. Ausschreibungs- und Beschaffungsprozesse, führen zu geringeren Geschwindigkeiten in der Umsetzung. Vereinzelt wird seitens der Interviewpartner: innen bemängelt, dass durch Anforderungen, die der öffentliche Verkehr erfüllen muss, weniger Innovationspotenzial und Handlungsspielraum besteht. Gleichzeitig stoßen die starren Arbeitsprozesse auf die agile Arbeitsweise der Privatwirtschaft. Durch die Umsetzung von MaaS-Plattformen wird ein neues Tätigkeitsfeld innerhalb der ÖV-Unternehmen erschlossen. In vielen Bereichen liegen noch keine oder nur geringe Erfahrungswerte vor, sodass das richtige Vorgehen zunächst erprobt und Strukturen etabliert werden müssen. Durch die zunehmende Integration externer Mobilitätsdienstleister wird ein strategisches Partnermanagement erforderlich, welches die Koordinierung der Kooperationen beinhaltet. Der betriebliche Aufwand wächst mit dem Ziel einer Tiefenintegration (Integrationsstufe 2) und mit der Diversität der integrierten Dienstleister steigen die operativen Tätigkeiten. Herausfordernd wird von allen Interviewten die hohe Inflexibilität beschrieben, die durch das Kooperationsgefüge entsteht. Je höher also die Integrationsstufe ist, desto größer ist auch die Abhängigkeit. Veränderungen in einem Baustein wirken sich auf alle integrierten Akteure aus und erfordern Gespräche und technische Anpassungen, die mit Arbeitsaufwand einhergehen. Zurückzuführen sind Verzögerungen und Limitierungen in der Umsetzung oft auf mangelnde Ressourcen, die von nahezu allen öffentlichen MaaS-Plattformen beklagt werden. Es fehlt an finanziellen Mitteln, doch auch die mangelnde Verfügbarkeit an Personal und Knowhow sind limitierende Faktoren. Zur Unterstützung bei der technischen Umsetzung werden aufgrund des fehlenden Fachwissens häufig externe IT- und Software-Dienstleister beauftragt. Um Ineffizienzen in der Zusammenarbeit zu vermeiden, ist Voraussetzung, dass die beauftragenden ÖV-Unternehmen eine klare Zielvorstellung von der Umsetzung der Plattform haben und zumindest über ein Grundwissen zur technischen Machbarkeit verfügen. Erschwerend ist zudem, dass die IT-Dienstleister meist in verschiedene Projekte involviert sind und nicht kontinuierlich verfügbar sind. Mobilitätsdienstleister können durch Insolvenz oder Zusammenführung mit einem anderen Unternehmen als Vertragspartner kurzfristig abspringen. So besteht von den internen Ressourcen, aber auch von den Ressourcen und Prioritäten externer Akteure eine Abhängigkeit. Finanzielle Herausforderungen Neben dem Aufbau der digitalen Infrastruktur für eine MaaS-Plattform fallen für den Betrieb, den Ausbau und die Instandhaltung der physischen Infrastruktur (z. B. Mobilitätsstationen) wesentliche Kosten an. Investitionskosten werden auch für die Vermarktung und die Sichtbarkeit der MaaS-Plattform benötigt. Eine Herausforderung besteht darin, dass öffentliche MaaS-Projekte bislang nicht kostendeckend betrieben werden können und von externen Finanzierungen abhängig sind. So ist der ÖPNV selbst auf Subventionierungen angewiesen, genauso haben die meisten Sharing-Anbieter aufgrund hoher Fixkosten und Wettbewerbsdruck bislang keine profitablen Geschäftsmodelle erreicht [45]. Die Herangehensweisen seitens der öffentlichen Plattformbetreiber variieren stark und reichen von provisionsbasierten Geschäftsmodellen bis hin zu einer Integration ohne zusätzliche Kosten für die Mobilitätsdienstleister. Weiterhin testen die ÖV-Unternehmen unterschiedliche Ansätze, um langfristig kostendeckend agieren zu können. Vor allem MaaS-Plattformen, die bereits ein tiefenintegriertes Angebot vorweisen, eröffnen für sich mit dem betrieblichen Mobilitätsmanagement ein neues Tätigkeitsfeld. Neben der Ausrichtung des Angebots auf Endkund: innen mit situationsbedingten Nachfragen (B2C) können über die Zusammenarbeit mit Akteuren, wie Wohnungsbaugesellschaften, Bildungseinrichtungen oder Großunternehmen (B2B) neue Kund: innengruppen erschlossen werden. Durch das Verkaufen von Mobilitätsbudgets, welche als Alternative zum Dienstwagen oder dem klassischen Jobticket beworben werden, sind Absätze besser kalkulierbar. Ein Beispiel ist die Mobilitätsplattform Jelbi der BVG in Berlin mit ihrem B2B-Konzept „Jelbi4Business“ [41]. Hier werden an die Geschäftskund: innen monatlich Mobilitätsgutscheine verteilt, welche die Mitarbeitenden für alle in Jelbi verfügbaren Mobilitätsdienste nutzen können. Daneben gibt es Ansätze, externe Unternehmen an den anfallenden Kosten für die physische Infrastruktur zu beteiligen. Durch das Errichten von Mobilitätsstationen auf privatem Grund entsteht in diesem Sinne eine Win-Win-Situation. Die Unternehmen erhalten eine unmittelbare Zugangsmöglichkeit zu verschiedenen Mobilitätsdiensten, während die Plattformbetreiber die Flächennutzungskosten reduzieren können [5, 41]. Auch wenn die Mobilitätsstationen auf privatem Grund errichtet werden, besteht kein alleiniges Recht zur Nutzung für beispielsweise die Mitarbeitenden des Unternehmens oder Kund: innen des Einkaufszentrums, das die Fläche bereitstellt. Die Mobilitätsstation muss weiterhin für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Interviewpartner: innen berichten, dass es diesbezüglich häufig zu Missverständnissen kommt. Das Bundling aller Mobilitätsdienste in ein Mobilitätsbudget/ -abo, welches für alle Nutzer: innen Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 61 Wissenschaft MOBILITÄT buchbar ist, ist das Ziel vieler MaaS-Plattformbetreiber. Berichtet wird in den Interviews, dass vor allem diese Integrationsstufe 3 [22] als Abomodell mit umfassenderen Finanzierungshürden verbunden ist. So ist es nötig, bei den integrierten Koppelprodukten ein gewisses Kostenrisiko zu tragen, da primär durch Vergünstigungen und „Mengenrabatt“ Vorteile im Mobilitätsabo für Endkund: innen gesehen werden. Gleichzeitig dürfen ÖV- Unternehmen strukturell jedoch kein Risiko eingehen und können beispielsweise in der Ausgestaltung auch keine Rabatte anbieten. Aus den Interviews geht hervor, dass eine langfristige Finanzierung für die Weiterentwicklung des Konzepts und für die Planbarkeit entscheidend ist und den öffentlichen Mobilitätsplattformen dadurch eine Legitimation geben kann. Häufig werden die MaaS-Projekte der ÖV- Unternehmen derzeit durch befristete Forschungsprojekte im Rahmen staatlicher Digitalisierungsvorhaben finanziert, wodurch keine Planungssicherheit gegeben werden kann. Vor diesem Hintergrund wird von den Expert: innen auch angemerkt, dass die Frage geklärt werden muss, was unter den Aspekt der Daseinsvorsorge fällt. Sofern neue und flexible Mobilitätsdienste Teil der kommunalen Verkehrspolitik und Stadtentwicklungspläne sind, müsse auch die finanzielle Unterstützung gesichert sein. Positiv berichtet ein: e Expert: in von der Berücksichtigung der MaaS-Plattform im Nahverkehrsplan, wodurch eine langfristige Planungsperspektive hergestellt werden konnte. Zwar ist die Finanzierung des Teams, der Produktion, Planung und technischen Integration erneut an einen Erprobungszeitraum gekoppelt, allerdings wird in dieser Hinsicht ein deutliches Zeichen gesetzt, was als öffentliches Angebot gefasst wird. So werden Handlungsspielräume gegeben, die das Agieren entlang der Zieldimensionen des öffentlichen Verkehrs, anstatt einer reinen Ausrichtung an betriebswirtschaftlichen Maßgaben zulassen. Technische Herausforderungen Laut den Interviewpartner: innen bestehen aus technischer Sicht nur geringe Limitationen. Die Probleme, die sich bei der technischen Umsetzung ergeben, sind primär auf die anderen Bereiche zurückzuführen. Das Fehlen einheitlicher Schnittstellen zieht einen großen Mehraufwand für die Betreibenden nach sich oder setzt die Bereitschaft der Mobilitätsdienstleister voraus, die eigenen Schnittstellen zu adaptieren. Technisch herausfordernd ist in diesem Zusammenhang vor allem das Abstimmen der Backend- und Frontend-Systeme. So können bei der Tiefenintegration oft nicht alle Funktionen abgebildet werden, die ein Dienstleister in der eigenen App zur Verfügung stellt. Dazu gehört u. a. eine begrenzte Auswahlmöglichkeit (z. B die Beschränkung auf E- Fahrzeuge ist nicht möglich) oder die Abbildung von Monats- und Jahrespässen und Rabatt-Aktionen. Grundsätzlich ist für die technische Umsetzung das Zusammenführen sehr unterschiedlicher Systeme mit unterschiedlichen Anforderungen zu bedenken. Je nach Art des zu integrierenden Mobilitätsangebots unterscheidet sich das Vorgehen, wodurch die Komplexität zusätzlich erhöht wird (z. B. stationäres Carsharing mit Vorausbuchungen und Führerscheinüberprüfung vs. Free- Floating Bikesharing). Nahezu alle Plattform-Betreiber sind auf externe Dienstleister für die technische Umsetzung angewiesen, oft kann dabei auf eine White-Label- App Lösung zurückgegriffen werden. Rechtliche Herausforderungen Für die Umsetzung öffentlicher MaaS-Projekte bedarf es als grundlegende Voraussetzung politischer Unterstützung und damit einhergehend die bereits zuvor erwähnte Planungssicherheit. Herausfordernd ist auf rechtlicher Ebene vordergründig der Umgang mit Daten, welcher immer wieder Thema in Verhandlungen ist. Zentrale Diskussionspunkte sind dabei, wer Zugriff und Rechte auf die Kund: innendaten hat und wie diese rechtskonform gespeichert werden. Durch den innovativen Charakter ist es herausfordernd, Sicherheitsstandards festzulegen, die den Missbrauch und Diebstahl verhindern. Auch hier bestimmt erneut die Anzahl der integrierten Anbieter die Komplexität, da mit jedem einzelnen Mobilitätsdienstleister die Konditionen in einem eigenen Vertrag abgestimmt werden müssen und zum Teil unterschiedliche Bedürfnisse vorliegen. Für die korrekte Datensicherung sind Abstimmungen unterschiedlicher Interessensgruppen nötig, weshalb viele personelle Ressourcen gebunden werden. Da ÖV-Unternehmen als öffentliche Unternehmen besondere Anforderungen bei der Ausgestaltung des Angebots berücksichtigen und die Mobilitätsdienstleister diskriminierungsfrei integrieren müssen, sehen einige für sich im Vergleich zu privaten MaaS-Plattformen einen wettbewerbsrechtlichen Nachteil. Darüber hinaus beeinflussen öffentliche Institutionen durch die Reglementierung der Zulassung von Sharing-Angeboten maßgeblich, in welcher Art und Weise sich MaaS-Plattformen innerhalb einer Stadt entwickeln können. Nicht zuletzt bestimmt die Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit der Mobilitätsdienstleistungen die Qualität des MaaS- Angebots insgesamt. In den Interviews wird zudem der Wunsch geäußert, dass das Anbieten von Mobilitätsdienstleistungen und der entsprechenden Nutzung des öffentlichen Raums einer Stadt an die Integration in die lokale öffentliche Mobilitätsplattform gekoppelt ist. Sobald also beispielsweise ein Carsharing- oder E-Scooter- Anbieter sein Angebot in einer Stadt etablieren möchte, müsste er auch über die öffentliche MaaS-App buchbar sein. Gesellschaftliche Herausforderungen Neben den Herausforderungen auf planerischer Ebene, sind auch gesellschaftliche Aspekte nicht zu vernachlässigen. Zu nennen ist grundsätzlich die Akzeptanz und die Sichtbarkeit der integrierten MaaS-Plattformen. Dementsprechend ist es nicht nur notwendig ein gutes Angebot zu schaffen, sondern auch darauf aufmerksam zu machen (u. a. durch Marketing-Kampagnen). Gleichzeitig gilt es, die sogenannte „Usability“ ins Zentrum zu rücken und Zugang sowie Nutzung möglichst einfach zu gestalten. Noch ist das Potenzial für die Verkehrsverlagerung durch MaaS-Plattformen nicht erwiesen. So wird die Befürchtung durch die Interviewten genannt, primär die bereits bestehenden ÖPNV-Kund: innen zu erreichen, während monomodale Autonutzer: innen unerreicht bleiben. Als eine der größten Herausforderungen beschreiben die Betreibenden somit den hohen Komfort Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 62 MOBILITÄT Wissenschaft und die Vorteile des privaten PKW. Häufig basiert das Mobilitätsverhalten auf bereits etablierten Routinen, sodass Veränderungen nur schwer und langfristig herbeizuführen sind. Vor diesem Hintergrund wird die Notwendigkeit betont, dass begleitend zu der Gestaltung einer guten integrierten Mobilitätsplattform, mit physischen und digitalen Komponenten, Push-Maßnahmen ergriffen werden, welche die Attraktivität des PKW reduzieren. Vom Verständnis her sehen alle Interviewpartner: innen Multimodale Mobilitätsplattformen als einen Baustein, der in eine Gesamtstrategie zu implementieren ist [42]. Fazit Die Idee integrierter MaaS-Plattformen birgt viel Potenzial, doch trifft sie in der Praxis auf vielfältige Hürden, die es zu bewältigen gilt. Zwar können zahlreiche der Herausforderungen auf die Eigenschaften von MaaS- Plattformen, mit einer komplexen Akteursstruktur an sich, zurückgeführt werden, allerdings weisen viele Hemmnisse in der Umsetzung auch direkten Bezug zu den Eigenschaften von ÖV-Unternehmen auf. Die über lange Zeit gewachsenen Strukturen werden mit dynamischen Entwicklungen und einem sich wandelnden Verständnis davon, was öffentliche Mobilität bieten soll, konfrontiert. Die ÖV-Unternehmen befinden sich somit in einer Umbruchphase; erforderlich sind neue Strukturen, die Adaption von Prozessen sowie die Entwicklung neuer Kompetenzen. Nicht zuletzt bedarf es zusätzlicher angepasster und langfristig gesicherter Ressourcen, personell wie finanziell. Um eine Ausrichtung an Maßgaben öffentlicher Mobilität [3, 43] sowie an verkehrs- und stadtplanerischen Zielen zu gewährleisten, ist die aktive Steuerung und Koordination der öffentlichen Mobilitätsangebote durch die Kommunen essenziell. Entsprechend ist also auch die politische Unterstützung und Entwicklung eines Gesamtkonzepts mit klaren Zielen wichtig. So muss das Angebot u. a. gesellschaftliche Teilhabe für Alle ermöglichen und soziale Aspekte berücksichtigen. Dies bedeutet in der Umsetzung eine bezahlbare sowie barrierefreie Ausgestaltung sowie grundsätzliche Verfügbarkeit, auch außerhalb der Stadtzentren [3]. Die Integration der verschiedenen Angebote in eine Plattform kann jedoch nur ein Element sein, das auf einem bereits qualitativen Angebot im ÖV und zuverlässigen Mobilitätsdienstleistungen aufbaut. Um Potenziale von integrierten öffentlichen MaaS- Plattformen ausschöpfen zu können, bedarf es ferner der Anpassung der Gesetzgebung, wobei ein Kompromiss zwischen Regulierung und Spielraum für Innovationen zu finden ist [44]. Der Fokus der Politik sollte nicht nur auf der Ausgestaltung eines attraktiven Mobilitätsangebots liegen, sondern vor allem durch ein Zusammenspiel von Push- und Pull-Maßnahmen Veränderungen bewirken. Ohne begleitende restriktive Maßnahmen für Nutzer: innen des privaten PKW kann die angestrebte Mobilitätswende, auch mit Hilfe öffentlicher Multimodaler Mobilitätsplattformen, nicht gelingen. ■ 1 Ausnahme stellt der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr dar, für den seit November 2022 auch über die FreeNow-App ÖV-Tickets gebucht werden können [11]. LITERATUR [1] Dziekan, K.; Zistel, M. (2018): Öffentlicher Verkehr. Schwedes, O. (Hrsg.): . Verkehrspolitik. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 347-372. [2] Karl, A. (2008): Öffentlicher Verkehr im Gewährleistungsstaat. 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Der wissenschaftliche Herausgeberkreis und ein Beirat aus Professoren, Vorständen, Geschäftsführern und Managern der ganzen Verkehrsbranche verankern das Magazin gleichermaßen in Wissenschaft und Praxis. Das technisch-wissenschaftliche Fachmagazin ist zudem Wissens-Partner des VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld. INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN - DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN »Internationales Verkehrswesen« und »International Transportation« erscheinen bei der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, www.trialog-publishers.de IV_Image_halb_quer.indd 1 IV_Image_halb_quer.indd 1 04.04.2018 12: 03: 35 04.04.2018 12: 03: 35 Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 64 MOBILITÄT Wissenschaft Automatisierter öffentlicher Verkehr in-Grenzregionen Erkenntnisse aus der Erprobung grenzüberschreitender Angebote für Pendler ÖPNV, Digitalisierung, Automatisiertes Fahren, Grenzüberschreitender Verkehr, Pendlerverkehr Großstädte sind im öffentlichen, internationalen Fernverkehr häufig gut miteinander verbunden. Gleiches gilt selten für grenzüberschreitende Verkehre auf lokaler und regionaler Ebene. Diese finden vielerorts in ländlichen Räumen statt, wobei die Verkehrsnachfrage infolge der europäischen Integration kontinuierlich steigt. So pendeln in der Großregion rund um Luxemburg täglich über 250.000 Arbeitnehmer über nationale Grenzen. Anhand zweier Einsatzszenarien werden im Folgenden Erkenntnisse im Hinblick auf zukunftsträchtige Verkehrskonzepte wie Mobility-on-Demand und automatisierte Verkehre in grenzüberschreitenden Kontexten dargestellt. Thomas Bousonville, Karim El Gharbi, Raphael Frank, Sabine Keinath, Wilko Manz, Isabelle Rösler, Jonas Vogt D ie grenzüberschreitende Mobilität ist innerhalb der EU von großer Bedeutung. Ein Beispiel hierfür ist der stark vernetzte Arbeitsmarkt der Großregion im luxemburgischbelgisch-deutsch-französischen Grenzgebiet. Im Jahr 2019 waren dort täglich über 250.000 Grenzpendlerinnen und Grenzpendler zu verzeichnen, mit einer großen Konzentration auf Luxemburg. In den kommenden Jahren ist mit weiteren Zunahmen der Grenzpendlerzahlen zu rechnen (Bild 1). Die abgeleitete Verkehrsnachfrage trifft in den maßgeblich ländlich geprägten Grenzregionen jedoch auf ein unzureichendes öffentliches Verkehrsangebot. Im Gegensatz zu den Wegen der Pendler enden viele der öffentlichen Verkehrsdienstleistungen an den Ländergrenzen, wodurch grenznahe Gewerbe- und Siedlungsgebiete häufig nicht oder nur über Umwege durch öffentliche Verkehrsmittel erschlossen werden. Lückenhafte Liniennetze und unzureichende Fahrangebote, führen zur verstärkten Nutzung des privaten PKW. Zudem finden nur bedingt Abstimmungen zwischen den Aufgabenträgern der unterschiedlichen Länder bezüglich grenzüberschreitender Verbindungen statt. Innovative öffentliche Angebotskonzepte, welche die Themenfelder der Digitalisierung, Elektrifizierung und Automatisierung weiterentwickeln und verknüpfen, verfügen insbesondere für den grenzüberschreitenden Pendlerverkehr über Potenzial für eine nachhaltigere, wirtschaftlichere und stärker an den Nutzerbedürfnissen orientierte Mobilität. Durch die Integration von automatisierten und vernetzten Fahrzeugen in existierende ÖPNV-Angebote, in Form von Zubringerdiensten oder On-Demand-Mobilitätservices, eröffnen sich Chancen zur Angebotsverbesserung sowie Flexibilisierung, die zu einer Stärkung des ÖPNV, Erhöhung der Verkehrssicherheit und zur Reduzierung der mobilitätsbedingten Emissionen beitragen können. Um das Potenzial, aber auch die Hemmnisse für die Digitalisierung und Automatisierung der Verkehre speziell für den grenzüberschreitenden Einsatz zu untersuchen, wurde von 2019 bis 2022 das Projekt TERMINAL mit Verkehrsakteuren und Hochschulinstituten der Großregion durchgeführt [1]. Betrachtet wurden infrastrukturelle, rechtliche, nutzerbezogene sowie betrieblichen Rahmenbedingungen und Anforderungen. Projektziele Anders als bei zahlreichen nationalen Pilotprojekten mit automatisierten Shuttlebussen, ist TERMINAL der erste grenzüberschreitende Feldversuch mit automatisierten Fahrzeugen (SAE-Level 3) im Regelverkehr im ländlichen Gebiet. Konkret sollte in zwei unterschiedlichen Pilotvorhaben der Einsatz automatisierter, straßengebundener Transportmittel vorbereitet werden. Inhalt des Anwendungsfalls 1 war ein teilautomatisierter Shuttleservice zwischen Frankreich und Deutschland. Im Anwendungsfall 2 wurde an einem automatisierten Mobility-ondemand-Dienst zwischen Frankreich und Luxemburg gearbeitet. Es galt insgesamt genehmigungsrechtliche Fragen zu klären, technische Anforderungen hinsichtlich der Infrastruktur und des einzusetzenden Fahrzeugs zu Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 65 Wissenschaft MOBILITÄT analysieren sowie die Nutzerakzeptanz und Kostenstruktur der Dienstleistung zu untersuchen. Das seit 2019 existierende digitale Testfeld Deutschland-Frankreich-Luxemburg für automatisiertes und vernetztes Fahren wurde als Gebiet für die Feldversuche genutzt. Stand der Technik Derzeit in Europa auf dem Markt verfügbare automatisierte Shuttles bewegen sich üblicherweise auf einem zuvor definierten und programmierten Fahrweg. Dabei fahren die hochautomatisierten Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen meist mit einer maximalen Geschwindigkeit von ca. 20 km/ h. Aus diesen Gründen wurden in den vergangenen Jahren vorwiegend Feldversuche im städtischen Bereich zur Bedienung der Letzten Meile durchgeführt, in welchen die Fahrgeschwindigkeit eine untergeordnete Rolle spielt [2]. Anders im Projekt TERMINAL, das die Beförderung von Berufspendlern zwischen Frankreich und Deutschland beziehungsweise Frankreich und Luxemburg anstrebte. In diesem Umfeld waren sowohl die zurückzulegenden Distanzen zum Erreichen des Zieles deutlich größer als auch die gewünschte Fahrgeschwindigkeit im außerörtlichen Straßennetz höher, damit diese Form der Mobilität eine ernsthafte Alternative zum privaten individuellen Verkehr darstellen kann. Eine zusätzliche Herausforderung bestand darin, ein prototypisches Fahrzeug in zwei Ländern zuzulassen. Dieses ambitionierte Vorhaben erforderte eine multidimensionale Umfeldanalyse, um eine Entscheidung bezüglich der Versuchsstrecken, des Fahrzeugs und der Zulassungsvoraussetzungen treffen zu können. Anwendungsfall 1: Teilautomatisierter Shuttleservice Frankreich-Deutschland Zunächst wurde eine sozio-ökomische Betrachtung durchgeführt, um ein Gebiet mit hohem Pendleraufkommen zu identifizieren. Ein hinreichendes Nutzerpotential war von Bedeutung, da kein reiner Showcase im Vordergrund stand, sondern eine verkehrliche Wirkung angestrebt war [3]. Das Ergebnis dieser Analyse war die Auswahl einer Verbindung zwischen der französischen Grenzstadt Creutzwald und einem Gewerbegebiet in Deutschland („Im Häsfeld“, Gemeinde Überherrn). Es galt im nächsten Schritt mögliche Strecken im Untersuchungsgebiet zu bestimmen und diese im Anschluss auf ihre Eignung für eine automatisierte Fahrt hin zu analysieren. Die dabei berücksichtigten Dimensionen umfassten die Infrastrukturebene, zum Beispiel Kreuzungspunkte oder sensible Einrichtungen entlang der Strecke, da diese für die sichere Funktionsweise des automatisierten Fahrzeugs eine Herausforderung sein können. Darüber hinaus wurde auch überprüft, inwiefern eine digitale Infrastruktur in Form eines flächendeckenden und schnellen Mobilfunknetzes oder aktueller digitaler Karten im Testgebiet vorhanden sind, um die Navigation des automatisierten Fahrzeugs zu gewährleisten. Letztlich fiel die Wahl auf zwei alternative, ca. 16 km lange Strecken, von denen eine einen signifikanten Innerortsanteil besitzt, die andere größtenteils aus einer kreuzungsfreien Überlandbundesstraße besteht (Bild 2). Die zu überwindende Distanz stellte eine Herausforderung für die Auswahl eines geeigneten automatisierten Fahrzeugs dar. Ursprünglich angedacht war ein automatisierter Shuttle-Bus, der Platz für ca. 15 Fahrgäste bietet. Dabei handelt es sich um Fahrzeuge, die in Kleinserien produziert werden und über keine allgemeine Straßenzulassung verfügen. In einem grenzüberschreitenden Kontext bedeutet dies, dass das automatisierte Fahrzeug in beiden Ländern einen Sondergenehmigungsprozess durchlaufen muss, um eine Fahrerlaubnis für eine fest- Bild 1: Grenzpendlerprognose für das Jahr 2050; Berechnung: INFO-Institut e.V. Quellen: BA; INAMI; Informations- und Presseamt der Regierung Luxemburg; Insee Bild 2: Teststrecke über Landstraße (links) sowie alternativ über Bundestraße (rechts) Quelle: openstreetmap.org contributors Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 66 MOBILITÄT Wissenschaft gelegte Strecke erhalten zu können. Der Genehmigungsprozess ist komplex und zeitintensiv und die angestrebte gegenseitige Anerkennung der Zulassungen ist derzeit rechtlich noch nicht geregelt [4]. Im Rahmen mehrerer öffentlicher Ausschreibungen wurde deutlich, dass der technische Reifegrad solcher Fahrzeuge aktuell nicht ausreichend ist, um die zu überbrückende Entfernung in einer angemessenen Geschwindigkeit bedienen zu können. In der Konsequenz wurde der Feldversuch mit einem Tesla Model X (Platz für bis zu sechs Passagiere plus Fahrer) verbunden mit dem Ziel eines möglichst hohen Anteils an automatisiert gefahrenen Strecken durchgeführt. Als Fahrzeug mit einer allgemeinen Typen-Zulassung entfiel für diesen Anwendungsfall die Zulassungsproblematik. Das Vorhandensein zweier alternativer Fahrstrecken erlaubte zudem eine Evaluierung der Auswirkung unterschiedlicher verkehrlicher Rahmenbedingungen auf den Automatisierungsanteil (Nutzungsgrad Autopilot). Die Testphase fand im Sommer 2021 statt und war noch von der Pandemie geprägt. Professionelle Busfahrer eines regionalen Verkehrsbetreibers übernahmen nach einer Schulung die Rolle der Sicherheitsfahrer. Tabelle 1 zeigt die Eckdaten des Feldtests. Mit einem durchschnittlichen Automatisierungsanteil von 63 % (für die Strecke über die Bundesstraße sogar 78-%) an der gesamten Kilometerleistung hat der Feldversuch die Möglichkeit des partiellen, autonomen Fahrens auf öffentlichen Straßen für Überlandfahrten demonstriert und gezeigt, dass der Autopilot sowohl bei Tag als auch bei Nacht gleichermaßen gut funktioniert. Die größten Herausforderungen stellen Kreisverkehre und am Straßenrand parkende Fahrzeuge dar, die vielfach einen Wechsel in den manuellen Modus erforderten [5]. Die Auswertung der direkt in dem genutzten Fahrzeug aufgezeichneten Daten ergab fahrerabhängige Anteile der Autopilot-Nutzung sowie unterschiedliche Verhaltensweisen bei der Rückübernahme der manuellen Kontrolle (durch Bremsen oder vorgesehene Schaltelemente). Dies geschah unter weitgehend gleichen Rahmenbedingungen und zeugt von einem individuellen Umgang der Sicherheitsfahrer mit dem technischen System, was auf ein unterschiedliches Maß an Erfahrung und Vertrauen zurückgeführt werden könnte [6]. Seitens der Passagiere zeigte sich eine hohe Akzeptanz des angebotenen Transportdienstes, die mit wiederholter Nutzung tendenziell zunimmt (Bild 3). Die Ergebnisse der Nutzerakzeptanzanalyse unterscheiden sich in einigen Aspekten von der in anderen Pilotvorhaben [7,- 8]. Eine wichtige Erkenntnis für künftige Projekte liegt beispielsweise in der Tatsache, dass die zufriedenstellende Fahrgeschwindigkeit (98 %) des Shuttles, die die eines konventionellen Fahrzeugs erreichte, sowie der Komfort und die dabei empfundene Sicherheit (93 %) stark zu der positiven Bewertung des Feldtests beigetragen haben und die künftige Nutzungsintention positiv beeinflussen können. Auch die zunächst verhaltene Wahrnehmung des Ride-Sharing-Konzepts überzeugte mit wiederholter Nutzung (Bild 3). Eine Ex-ante- und Ex-post-Befragung von Einmalnutzern des Shuttles (Stichprobengröße vorher 60, nachher: 17) hat den positiven Effekt des Fahrerlebnisses auf eine potenzielle zukünftige Nutzung bestätigt. Beispielhaft seien zwei Konstrukte aus der Befragung wiedergegeben: 1. „Automatisierte Shuttles können ein wichtiger Bestandteil des bestehenden ÖPNV-Systems werden“ (Mittelwert der Antworten vor der Fahrt: 4,27, nach der Fahrt: 4,47) 2. „Ich könnte mir vorstellen, ein automatisiertes Shuttle für alle Arten von Strecken, die sonst mit dem Bus zurückzulegen sind, zu benutzen“ (Mittelwert der Antworten vor der Fahrt: 4,02, nach der Fahrt: 4,12) Anwendungsfall 2: Achse Luxemburg - Frankreich Für die zweite grenzüberschreitende Strecke zwischen Luxemburg und Frankreich bestand das Hauptziel darin, ein von der Universität Luxemburg entwickeltes autonomes Versuchsfahrzeug unter realen Verkehrsbedingungen zu erproben. Des Weiteren sollte ein von der Universität Lothringen entwickelter Mobility-on-Demand (MoD)-Dienst in Verbindung mit dem automatisierten Fahrzeug getestet werden. Die Untersuchung bestand aus zwei Arbeitsschritten. Im ersten Arbeitsschritt wurde ein kommerzieller Bus, der auf der ausgewählten grenzüberschreitenden Strecke zwischen Luxemburg-Stadt (LU) und Thionville (FR) pendelt [9], mit einem Datenlogger ausgestattet. Der gesammelte Datensatz enthält ungefähr acht Stunden Fahrdaten, aufgeteilt in 15 Fahrten, die über vier Tage aufgezeichnet wurden. Er umfasst etwa 1,7 Millionen anonymisierte Bilder, die von zwei auf die Straße gerichteten Kameras aufgenommen wurden. Ebenfalls aufgezeichnet wurden Positions- Einsatztage 61 Involvierte Sicherheitsfahrer 5 Nutzer 10 regelmäßige Berufspendler 60 einmalige Nutzer Fahrleistung 6.025 km Zeitpunkt der Fahrten 75 % tagsüber; 25 % nachts Fahrstrecke 60 % über B269; 40 % über L167 Gesamtanteil Fahrten im automatisiertem Modus nach Strecke 78 % über B269; 66 % über L167; 52 % innerorts Begleitforschung 214 Fahrtenprotokolle; 424 Passagierbewertungen Tabelle 1: Eckdaten des Feldversuchs TERMINAL *Basis: n=9 für die erste Fahrt; n=361 alle Fahrten Angaben in % 66,7 88,9 88,9 88,9 100 93,6 98,1 93,4 93,4 97,8 50 60 70 80 90 100 Erste Fahrt Alle Fahrten Anteil der zufriedenen bis sehr zufriedenen Passagiere (Skalenwerte 4 und 5 auf einer Skala von 1 bis 5) Bild 3: Zufriedenheit der Passagiere mit dem Shuttleservice Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 67 Wissenschaft MOBILITÄT informationen, Daten von einem Beschleunigungsmesser und Fahrzeuginformationen, einschließlich Geschwindigkeit, Lenkwinkel und Position der Gas-/ Bremspedale. Der Zweck dieses Datensatzes war es, die Besonderheiten der grenzüberschreitenden Route zu erfassen, mit dem Ziel, eine künstliche Intelligenz (KI) auf Basis einer Imitationslerntechnik zu trainieren, um das automatisierte Fahrsystem auf einer bestimmten Strecke zu unterstützen. Die Details wurden in einer wissenschaftlichen Abhandlung veröffentlicht [10]. Der zweite Arbeitsschritt bestand darin, das entwickelte automatisierte Fahrsystem unter realen Verkehrsbedingungen zu testen. Dazu benötigte das Versuchsfahrzeug eine von den Behörden der jeweiligen Länder ausgestellte Testgenehmigung. Das Testfahrzeug ist ein modifizierter KIA Soul EV (Modell 2018), der mit einem Drive-by-Wire-System, einer Recheneinheit und einem Sensorträger auf dem Dach ausgestattet wurde. Dieser Hardwareaufbau musste zunächst vom TÜV Rheinland abgenommen werden. Neben der technischen Untersuchung wurde ebenfalls ein Fahrsicherheitstraining absolviert. Ziel dieses Trainings war es, Übernahmemanöver zu üben und sich mit dem Protokoll für automatisierte Fahrversuche unter realen Fahrbedingungen vertraut zu machen. Der daraus resultierende technische Bericht des TÜV Rheinland ermöglichte es, einen aktualisierten Fahrzeugschein zu erhalten, in dem die experimentellen Eigenschaften des Fahrzeugs aufgeführt sind. Diese Dokumente wurden verwendet, um beim luxemburgischen Verkehrsministerium eine zeitlich begrenzte Testgenehmigung zur Durchführung von Selbstfahrversuchen auf ausgewiesenen öffentlichen Straßen zu beantragen. Leider wurde diese Genehmigung von den französischen Behörden nicht anerkannt, wie ursprünglich von der digitalen grenzüberschreitenden Testfeld-Initiative zwischen Frankreich, Deutschland und Luxemburg vorgesehen. Ein gemeinsames Antragsverfahren zwischen diesen drei Ländern ist weiterhin geplant, aber es bleibt unklar, wann dieses verfügbar sein wird und welche Anforderungen gelten [11]. Da der Test nicht auf der grenzüberschreitenden Strecke zwischen Luxemburg und Frankreich durchgeführt werden konnte, wurde das im Rahmen des Projekts entwickelte, automatisierte Fahrsystem im Kirchberg- Viertel von Luxemburg-Stadt erprobt. Vor der Durchführung von Tests auf öffentlichen Straßen wurde das Fahrzeug zuerst auf einer nicht-öffentlichen Teststrecke getestet, um sicherzustellen, dass alle Systeme ordnungsgemäß funktionieren. Am 20. und 21. Juni 2022 wurde das automatisierte Fahrexperiment auf öffentlichen Straßen durchgeführt. Parallel dazu wurde die von der Universität Lothringen entwickelte MoD- Anwendung getestet. Der MoD-Dienst besteht aus einer mobilen Anwendung mit zwei Betriebsmodi, einem für das Fahrzeug und einem für den Benutzer. Für die Demonstration wurden zwei Pick-up- und zwei Drop-off- Orte definiert. Ein typisches Szenario ist, dass ein Benutzer, der sich an einem Pick-up-Ort befindet, das automatisierte Fahrzeug mit der MoD-Mobilanwendung bucht und einen Zielort (Drop-off) angibt. Diese Informationen werden dann an die mobile Anwendung weitergeleitet, die sich im autonomen Fahrzeug befindet. Der Sicherheitsfahrer, der das Fahrzeug überwacht, kann dann die Route festlegen und die automatisierte Navigation auf der gewünschten Route starten. Bild 4 zeigt die 3 km lange Teststrecke im Kirchberg-Gebiet der Stadt Luxemburg mit den Pick-up- und Drop-off-Stellen. Mehrere Tests wurden erfolgreich durchgeführt, um den MoD-Dienst und die automatisierten Fahrsysteme mit Geschwindigkeiten von bis zu 30 km/ h zu demonstrieren. Lessons learned und Ausblick Die gemachten Erfahrungen können in rechtliche, technische, ökonomische sowie nutzerbezogene Dimensionen eingeteilt werden. Auf allen Ebenen bestehen derzeit noch Herausforderungen für einen regulären Einsatz automatisierter Shuttles im grenzüberschreitenden öffentlichen Verkehr. Die automatisierte und grenzüberschreitende Fahrt hat sich in der Projektlaufzeit insbesondere im Anwendungsfall 2 als eine unlösbare Aufgabe erwiesen, da eine gegenseitige, ländergrenzen-überschreitende Anerkennung der Fahrzeugzulassung nicht möglich ist. Dieser gegenseitige Anerkennungsprozess in der EU sollte dringend angestoßen werden und dies am besten digital und multilingual. Der Fähigkeit zum grenzüberschreitenden Denken und Arbeiten müsste eine höhere Bedeutung beigemessen werden. Auch die Beschaffung eines Fahrzeugs zur Bedienung des Anwendungsfalls 1 hat sich als ein komplexes Unterfangen erwiesen. Der derzeitige Markt verspricht zwar perspektivisch SAE-Level 4-Fahrzeuge im Bereich der Personenbeförderung. Gegenwärtig werden jedoch vorrangig Fahrzeuge mit SAE-Level 3 angeboten. Dies wahrscheinlich auch vor dem Hintergrund, dass ein großer zeitlicher und monetärer Aufwand erforderlich ist, um die Technik so weit zu entwickeln, dass dies nicht nur auf einer virtuellen Schiene und mit einer vergleichsweise niedrigen Geschwindigkeit erfolgt. Die über das Fahrzeug hinaus entstehenden Zusatzkosten wie beispielsweise die Kosten für Gutachten über die Strecke (Betriebsbereich) und Fahrzeugzulassung, Software sowie Schulung von Personal sind nicht zu unterschätzen und bewegen sich im sechsstelligen Euro-Bereich. Ein wirtschaftlicher Betrieb der erprobten Transportdienstleistung kann vor diesem Hintergrund nur bei einem zukünftigen Verzicht auf den Sicherheitsfahrer Bild 4: Testgelände für automatisiertes Fahrsystem und MoD-Service Quelle: Universität Luxemburg Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 68 MOBILITÄT Wissenschaft erreicht werden (Level 4). Berechnungen aus dem Projektvorhaben weisen darauf hin, dass selbst in diesem Falle die Anzahl der durch die in Deutschland vorgeschriebene Technische Aufsicht überwachten Fahrzeuge den entscheidenden Parameter für die potenzielle Wirtschaftlichkeit des Angebotes darstellt [12]. Dennoch hat der Feldversuch gezeigt, dass die Zufriedenheit der Passagiere mit wiederholter Nutzungserfahrung zunimmt und dass eine hohe Fahrgeschwindigkeit nicht im Widerspruch zum Sicherheitsempfinden steht. Somit können die Anwendungsbereiche von automatisierten Shuttles perspektivisch auf überörtliche Fahrten erweitert werden. Darüber hinaus zeigt die Begleitforschung, dass ein komfortablerer Fahrzeuginnenraum die Fahrt angenehm macht und sowohl zur Zufriedenheit der Fahrgäste als auch zur wachsenden Bereitschaft zum Sharing beiträgt. Hinsichtlich der Planung des Mobilitätsdienstes und der Anzahl der Sammelstellen hat der Feldversuch auch gezeigt, dass die geringere räumliche Flexibilität des Shuttles im Vergleich zum eigenen privaten Fahrzeug weiterhin eine Nutzungsbarriere darstellt. Somit sollte die Entfernung bis zur nächsten Sammelstelle für potenzielle Nutzer zehn Minuten Fußweg nicht überschreiten mit dem Ziel, zeitlich besser mit dem MIV konkurrieren zu können. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Angebotsmodelle mit hoher räumlicher und zeitlicher Flexibilität über einen geringeren Bündelungsgrad (Verknüpfbarkeit mehrerer Fahrtenwünsche) verfügen. Ein geringer Bündelungsgrad verbunden mit Leerfahrten im peripheren Raum wirkt sich dabei negativ auf die Wirtschaftlichkeit sowie die energetische Bilanz des Verkehrsangebots aus. Trotz der im Projekt zutage getretenen, noch unzureichend gelösten Herausforderungen können automatisierte Fahrzeuge künftig einen Beitrag zur Sicherung der Daseinsvorsorge in ländlichen Grenzregionen leisten. Ein weiterer Treiber dafür ist der schon heute bestehende und sich in den kommenden Jahren voraussichtlich erheblich verstärkende Fahrermangel. Daher ist die neue Verordnung, die unter Einführung von technischen Aufsichten für die Verbreitung von Level 4-Shuttles sorgen soll, eine Chance für den ÖPNV, insbesondere in Kombination mit On-Demand-Mobilitätsangeboten. ■ Das Projekt TERMINAL wurde kofinanziert durch das Programm INTERREG V A GR sowie das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Transport des Saarlandes QUELLEN [1] Projekt TERMINAL, https/ / terminal-interreg.eu [2] Verband deutscher Verkehrsunternehmen. www.vdv.de/ liste-autonome-shuttle-busprojekte.aspx [3] Rentschler, C. (2022): Bedürfnisse an und Umweltwirkungen von automatisierten und individualisierten Mobilitätsdienstleistungen. In: Grüne Reihe - Veröffentlichungsreihe des Instituts für Mobilität und Verkehr. Dissertation. TU Kaiserslautern, Kaiserslautern. Institut für Mobilität und Verkehr [4] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (2018): Testfeld Deutschland-Frankreich- Luxemburg: Konzept für das grenzüberschreitende Digitale Testfeld. https: / / bmdv.bund. de/ SharedDocs/ DE/ Anlage/ DG/ testfeld-deutschland-frankreich-luxemburg-konzeptfuer-das-grenzueberschreitende-digitale-testfeld.html [5] Bousonville, T.; Rösler, I.; Wolniak, N.; Vogt, J.; Wieker, H. (2022): Evaluating a rural cross-border automated shuttle service operated by a Tesla Model X”. May 2022, Conference Paper: 14th ITS European Congress, Toulouse, May 2022, France [6] Bousonville, T.; Rösler, I. ; Vogt, J.; Wolniak, N. (2022): Performance and acceptance of a partially automated shuttle service for commuters using a Tesla Model X. In: Transportation Research Procedia 64 (2022), pp. 98-106 [7] Nordhoff; de Winter; Payre, van Arem; Happee (2020): Passenger opinions of the perceived safety and interaction with automated shuttles: A test ride study with ‘hidden’ safety steward. In: Transportation Research Part A 138 (2020), pp. 508-524 [8] Salonen; Haavisto (2019): Towards Autonomous Transportation. Passengers’ Experiences, Perceptions and Feelings in a Driverless Shuttle Bus in Finland. In: Journal Sustainability 2019, 11 (3), p. 588. Special Issue Smart Mobility for Future Cities [9] Weber, E.: www.emile-weber.lu/ de/ rgtr-bus-linie/ i/ thionville-f-manom-f-cattenom-fkirchberg/ n/ 501-new.html [10] Varisteas, G.; Frank, R.; Robinet, F. (2021): RoboBus: A Diverse and Cross-Border Public Transport Dataset. 2021 IEEE International Conference on Pervasive Computing and Communications Workshops and other Affiliated Events (PerCom Workshops), pp. 269-274, doi: 10.1109/ PerComWorkshops51409.2021.9431129, Kassel, Germany [11] Antrag auf Genehmigung von Erprobungen in Frankreich - Erlass vom 26. Mai 2021 unter www.legifrance.gouv.fr/ eli/ arrete/ 2021/ 5/ 26/ TRER2108356A/ jo/ texteJORF n°0143 du 22 juin 2021 [12] Verordnung zur Genehmigung und zum Betrieb von Kraftfahrzeugen mit autonomer Fahrfunktion in festgelegten Betriebsbereichen (Autonome-Fahrzeuge-Genehmigungsund-Betriebs-Verordnung - AFGBV) vom 24.06.2022 Karim El Gharbi, M. Sc. Institut für Mobilität und Verkehr, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU), Kaiserslautern karim.elgharbi@rptu.de Isabelle Rösler, Dipl. Betriebswirtin (FH) Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Saarbrücken isabelle.roesler@htwsaar.de Jonas Vogt, M.Sc. Stellvertretender Leiter Forschungsgruppe Verkehrstelematik (FGVT), Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Saarbrücken jonas.vogt@htwsaar.de Raphael Frank, Prof. Dr. Fachgebiet Intelligente und Verteilte Systeme, Interdisciplinary Centre for Security, Reliability and Trust, Universität Luxemburg raphael.frank@uni.lu Sabine Keinath, Dipl.-Ing. Grundsatzfragen der Mobilität, Verkehrspolitik, Verkehrsrecht, Saarland - Ministerium für Umwelt, Klima, Mobilität, Agrar und Verbraucherschutz, Saarbrücken s.keinath@umwelt.saarland.de Wilko Manz, Prof. Dr. Fachbereich Bauingenieurwesen, Lehrstuhl für Mobilität und Verkehr, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU), Kaiserslautern wilko.manz@rptu.de Thomas Bousonville, Prof. Dr. Fachgebiet Logistik und Wirtschaftsinformatik, Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Saarbrücken thomas.bousonville@htwsaar.de Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 69 Wertvolle Daten für einen intelligenten ÖPNV Wie Netzwerktechnologie den öffentlichen Nahverkehr leistungsfähiger, sicherer und vertrauenswürdiger macht Öffentlicher Personenverkehr, Echtzeit-Information, Netzwerkkamera, Videoanalyse Wie viele Menschen halten sich an einem Ort auf, wann ist das Personenaufkommen besonders hoch, wo entstehen Wartezeiten? Intelligente Lösungen, die Echtzeit-Informationen zu diesen Fragen liefern, sind in stationären Installationen, wie etwa im Einzelhandel, bereits seit Jahren im Einsatz. Die Anwendungen basieren auf Netzwerkkameras mit integrierter Videoanalyse. Auch im öffentlichen Personenverkehr wird es immer wichtiger, einen Überblick über die Zahl der anwesenden Personen zu bekommen. Betreiber rüsten daher sukzessive auf, entwickeln Strategien zur Generierung von Echtzeit-Daten und schaffen so mehr Effizienz und Sicherheit im ÖPNV. Jan Engelschalt M it Ausbruch des Corona-Virus erlebte der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in Deutschland einen signifikanten Einbruch beim Verkauf von Fahrscheinen und Monatskarten: Laut dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sanken die Einnahmen ab diesem Zeitpunkt um ganze 70 bis 90 Prozent. 1 Mit dem Rückgang der Infektionszahlen entspannte sich die Lage wieder und öffentliche Verkehrsmittel, wie Busse und Bahnen, wurden wieder vermehrt genutzt. Im Sommer dieses Jahres sorgte das 9-Euro-Ticket im öffentlichen Personennahverkehr schließlich sogar für großen Andrang an Bahnhöfen, teils überfüllte Züge und Verspätungen im Bahnverkehr. Der schnelle Wiederanstieg der Passagierzahlen nach der kritischen Corona-Phase und die große Nachfrage nach dem 9-Euro-Ticket zeigen: Der ÖPNV ist aus unserer urbanen Mobilität nicht wegzudenken - er muss aber speziell auch in Krisenzeiten, etwa während der Covid-19-Pandemie, sowie in Spitzenzeiten, wie sie beispielsweise durch kurzzeitige Sonderangebote entstehen, anpassungsfähig sein und den aktuellen Anforderungen von Fahrgästen an das öffentliche Verkehrssystem gerecht werden. Passagiere müssen wieder Vertrauen gewinnen. Vertrauen in die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Umgebung, in der sie sich bewegen und in die Verkehrsunternehmen, die diese Umgebung maßgeblich mitgestalten. Für die verantwortlichen Betriebe setzt das voraus, dass sie in der Lage sind, Ausbeziehungsweise Vorhersagen über Fahrgast- und Fahrzeugbewegungen zu treffen. Diese Informationen wiederum sind relevant, um die Anzahl der Personen auf engem Raum zu begrenzen. Foto: Axis Communications Öffentlicher Verkehr TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 70 TECHNOLOGIE Öffentlicher Verkehr Mit Netzwerk-Kameras in die Zukunft Auf dem Weg hin zu einer neuen Normalität im ÖPNV kommt Technologien eine entscheidende Bedeutung zu. In der Regel kommen hier Netzwerk-Videolösungen in Kombination mit fortschrittlichen Analysemethoden zum Einsatz, zum Beispiel in Form von Onboard-Kameras in Bahnwaggons und Bussen. Sie liefern automatisiert einen Echtzeit-Überblick über die Gesamtanzahl der anwesenden Personen. Um den Einsatz solcher Technologien unter realen Bedingungen für zukünftige Serienfahrzeuge zu testen, brachte die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) 2018 den „Zukunftsbus“ auf die Straße. An Bord: zehn Netzwerk-Kameras für die Aufnahme von Videobildern, teilweise ausgestattet mit speziellen Sensoren zur Personenzählung. Mithilfe dieser Kameras werden dem Fahrgast bereits an der Tür über einen TFT-Monitor die freien Sitzplätze im Obergeschoss des Doppeldeckers angezeigt. Die Personenverteilung wird dadurch optimiert und die Sicherheit erhöht (Bild 1). Der Zukunftsbus der BVG ist nur ein Beispiel, wie Netzwerktechnologie den ÖPNV sicherer und attraktiver macht. Auch andere Mobilitäts- und Transportunternehmen, etwa die Deutsche Bahn, kommunizieren Benachrichtigungen in Echtzeit an ihre Fahrgäste - bislang häufig noch lediglich die Gesamtauslastung betreffend. Doch die Leistungsfähigkeit der technologischen Lösungen entwickelt sich kontinuierlich weiter und Unternehmen arbeiten mit Hochdruck an Wegen, mittels modernster Anwendungen, wie KI und Deep Learning, präzise Informationen etwa über Platzbelegung, Personenzahlen und Fahrgastbewegungen zu erhalten. Dies ist im Übrigen vor allem für Züge sinnvoll und notwendig, da genaue Angaben hier aufgrund der mehreren vorhandenen Wagons und Eingänge wesentlich schwerer zu machen sind als im Falle eines Busses. Kompakt, maximal leistungs- und widerstandsfähig Parallel nimmt auch die Leistungsfähigkeit von Onboard-Netzwerk-Kameras hinsichtlich Rechenleistung und Bildqualität sowie Robustheit der mechanischen Komponenten stetig zu. Schwankende Temperatur- oder Lichtverhältnisse bis hin zu völliger Dunkelheit stellen für die neueste Generation von Onboard-Kameras dank Infrarot- LEDs kein Problem mehr dar, moderne Videokompressionsverfahren sparen zudem Speicherplatz ein. Mit steigender Rechenleistung eröffnen sich außerdem vielfältige neue Möglichkeiten im Bereich der Videoanalytik: Da sich mittlerweile recht leicht Edge-basierte Analysesoftware-Applikationen direkt auf den Kameras installieren lassen, wird zusätzliche Hardware obsolet. Das vereinfacht für die Verkehrsunternehmen auch den Zugriff auf die erforderlichen Daten. Ein weiterer Vorteil solcher Systeme: Sie lassen sich problemlos skalieren. Für den Fall, dass mehr Daten benötigt werden, muss pro Eingang jeweils nur eine neue Kamera installiert werden. Die dadurch gewonnenen Daten verhelfen nicht nur zu genereller Erkenntnis über die Nutzung des ÖPNV anhand der Fahrgastzahlen, darüber hinaus lassen sich Dienstleistungen auf dieser Basis optimieren, der Einsatz von Personal effizienter gestalten und das Infektionsrisiko senken. Cybersicherheit in der gesamten Wertschöpfungskette Neben diesen positiven Effekten entstehen mit dem steigenden Potenzial von Technologien sowie dem vermehrten Einsatz von KI- und Deep Learning-Methoden allerdings auch neue Angriffsflächen. Wo relevante Daten generiert werden, besteht immer auch die Gefahr, dass diese in die Hände von Cyberkriminellen geraten und die Privatsphäre von Passagieren verletzt wird. Es gilt, diese Gefahren möglichst gering zu halten - und das beginnt bereits bei der Entwicklung von Systemen, wie beispielweise Netzwerk-Kameras. Anbieter sollten dafür Sorge tragen, dass ihre Produkte keine Risikofaktoren darstellen. Sicherheit als fester Bestandteil im Prozess der Technologieentstehung, Stichwort „secure by design“: Auch das ist ein Qualitätsmerkmal. Die konkreten Cybersicherheitsbedürfnisse und Anforderungen an entsprechende Sicherheitskonzepte sind von Transportunternehmen zu Transportunternehmen unterschiedlich. Eine einheitliche Lösung, die für alle passt, gibt es nicht und muss es auch nicht geben. Entscheidend ist, dass Informationssicherheits-Strategien klar definiert sind, dass die Verantwortung für deren Umsetzung nicht auf den Schultern einzelner Personen liegt und dass sich innerhalb einer Organisation alle relevanten Projektbeteiligten an die herrschenden Vorgaben halten. Mit dem vermehrten Einsatz von Videokameras wächst bei Passagieren das Bedürfnis nach Transparenz darüber, was mit ihren Daten passiert. Datenschutz-Konformität und Datenverschlüsselung sind im ÖPNV deshalb besonders wichtig und auch Axis Communications legt bei seinen Technologien großen Wert auf diese Themen. So werden Netzwerk-Kameras und Videostreams auf verschiedene Arten gesichert und unter anderem mithilfe HTTPS (SSL/ TLS) verschlüsselt. Darüber hinaus sorgen beispielsweise IP-Adressfilter oder die Authentifizierung mithilfe von IEEE 802.1X - eine Methode, mit der ein Netzwerk vor dem Zugriff durch nicht autorisierte Geräte geschützt wird - für Datensicherheit. Um personenbezogene Daten von Passagieren zu schützen, kann darüber hinaus die Analysesoftware AXIS Live Privacy Shield eingesetzt werden. Diese wendet standardmäßig eine dynamische Maskierung auf zuvor der Zweckbindung entsprechende definierte Bereiche des Sichtfelds der Kamera an. Auf diese Weise können Passagiere, beispielsweise an Bushaltestellen, grundsätzlich maskiert werden. Daten und Analysen in Echtzeit Netzwerk-Kameras liefern in Echtzeit wertvolle Daten und Analysen zu Fahrgastzahlen, Fahrzeugbelegungen, Personenströmen in Verkehrsmitteln und auf Bahnsteigen. Sie können helfen, Überbelegungen zu vermeiden und Kapazitäten anzupassen, verbessern den Verkehrsfluss und den Service für Kunden. Das steigert das Vertrauen von Passagieren in den öffentlichen Personennahverkehr - das war und ist sowohl im Fall von Nachfrage-Peaks als auch während Pandemiezeiten, in der die Einhaltung von Social-Distancing-Regeln in den Fokus rückt, essenziell. Doch auch unabhängig von solchen außergewöhnlichen Anlässen tragen Netzwerk-Kameras erfolgreich zu Kundenzufriedenheit, Fahrgastsicherheit und damit letztlich zu einem intelligenten und funktionierenden ÖPNV bei. ■ 1 Quelle: www.zeit.de/ mobilitaet/ 2020-04/ verkehrsunternehmen-coronavirus-existenzangst-finanzierung Bild 1: Sitzplatzanzeige im BVG Zukunftsbus Foto: LAT Jan Engelschalt EMEA Transportation Segment Expert, Axis Communications, Berlin jan.engelschalt@axis.com Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 71 Wissenschaft TECHNOLOGIE Künstliche Intelligenz für Bahnanwendungen Potenziale für eine starke Schiene und Herausforderungen in der Zulassung Digitalisierung, Big Data Analytics, Künstliche Intelligenz, Sicherheit, Konformitätsbewertung Betriebsprozesse im Bahnbetrieb werden zunehmend digitalisiert. Hierbei entstehende Massendaten können einer gezielten Analyse zugeführt werden. Algorithmen der Künstlichen Intelligenz werden zukünftig einen Beitrag zu einem sicheren und leistungsfähigen Schienenverkehr leisten. Um Vertrauen in sichere KI-Anwendungen zu rechtfertigen, sind neue Ansätze erforderlich. Dieser Beitrag beschreibt anhand exemplarischer Anwendungsfelder die Potenziale von KI-Anwendungen für den Verkehrsträger Schiene. Darüber hinaus werden die Randbedingungen der Entwicklung und Zulassung vertrauenswürdiger KI diskutiert. Lars Schnieder D igitale Technologien dringen immer weiter in alle Bereiche des Eisenbahnsystems vor. Dies schließt perspektivisch auch sicherheitsrelevante Funktionen mit ein. Eingesetzte Technologien müssen vertrauenswürdig sein. Vertrauenswürdige Systeme der Künstlichen Intelligenz (kurz: KI) sind zukünftig eine Grundlage für eine höhere Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrsträgers Schiene. Dieser Beitrag stellt verschiedene Anwendungsbereiche von Algorithmen der Künstlichen Intelligenz für Bahnanwendungen vor. Vorbedingungen für den Einsatz von Systemen der Künstlichen Intelligenz Digitalisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz sind eng miteinander verflochten. Genaugenommen ist die Digitalisierung die Vorbedingung für die Erfassung großer Datenmengen (Big Data). Große Datenmengen wiederum sind eine Vorbedingung für den effektiven Einsatz von Algorithmen der Künstlichen Intelligenz (Bild-1): Digitalisierung bedeutet, das System Bahn für informationsverarbeitende Systeme lesbar zu machen. Ohne die Digitalisierung der Anlagegüter der Eisenbahninfrastruktur bzw. der Schienenfahrzeugflotten kann keine digitale Datenverarbeitung, ob nun durch lernende Verfahren oder andere, stattfinden. Technisch geht es dabei um die Aufzeichnung und die Umwandlung von analogen in digitale Signale, mit denen Computersysteme arbeiten können. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass bestehende Bahnanwendungen bei nachträglichen Ergänzungen und Modifikationen ihre bestehende Zulassung Vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz für Bahnanwendungen 2 Vorbedingungen für KI Digitalisierung und Big Data als Basis (1/ 2) die Welt für informationsverarbeitende Systeme lesbar machen Aufzeichnung und Umwandlung von analogen in digitale Signale Verknüpfung von Sensoren und Prozessoren zu Netzwerken (Internet of Things, IoT) Digitalisierung große, komplexe und unübersichtliche Datenmengen immer mehr Daten werden gesammelt und generiert maschinelle Hilfe (Algorithmen) erforderlich, um Chancen zu nutzen Big Data Beherrschung der Herausforderung der Überfülle an Informationen Offenbarung von für den Menschen nicht erkennbarer Muster Erlangen eines tieferen Verständnisses der Welt Künstliche Intelligenz Bild 1: Vorbedingungen für den Einsatz von Systemen der Künstlichen Intelligenz Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 72 TECHNOLOGIE Wissenschaft nicht verwirken dürfen. Dies erfordert im Einzelfall spezifische Nachweise zur Rückwirkungsfreiheit der durchgeführten Änderungen. Big Data steht für die große Fülle von im Eisenbahnbetrieb erhobener Daten. Big Data ist zum einen eine Herausforderung: Wir generieren und sammeln immer mehr Daten und benötigen Algorithmen, wenn wir diese nutzen wollen. Zum anderen bieten diese Daten eine Chance, denn die lernenden Verfahren der Künstlichen Intelligenz benötigen für ihre Lernprozesse möglichst große Mengen an Daten. Die Speicherung großer Datenbestände erfolgt mittlerweile über IT-Infrastrukturen, die beispielsweise über das Internet (in der Cloud) verfügbar gemacht werden. Sie beinhalten in der Regel Speicherplatz, Rechenleistung oder Anwendungssoftware. Hierbei werden auch unterschiedliche Geschäftsmodelle als Dienstleistung (software as a service) angeboten. Künstliche Intelligenz bezeichnet die Anwendung von Prinzipien oder Regeln, die es erlauben, kognitive Prozesse des Menschen durch Berechnungsprozesse nachzubilden, die ein Computer ausführen kann. Ein großes Potenzial liegt vor allem in der Fähigkeit, in einer großen Menge von Daten Regelmäßigkeiten, Wiederholungen, Ähnlichkeiten oder Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die einer menschlichen Informationsverarbeitung wegen der schieren Menge an Daten nicht zugänglich sind. Über die Mustererkennung hinaus sind KI-Systeme perspektivisch in der Lage, im Hinblick auf eine Reihe vom Menschen festgelegter Ziele Ergebnisse hervorzubringen, die das Umfeld beeinflussen, mit dem sie interagieren. Stärken und Schwächen menschlicher und künstlicher Intelligenz Bereits zuvor ist angeklungen, dass KI-Systeme versuchen, kognitive Prozesse des Menschen durch Berechnungsprozesse nachzubilden. Hierbei offenbaren sie im Vergleich zur menschlichen Intelligenz spezifische Stärken und Schwächen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen (Bild 2): Kognitive Fähigkeiten - In diesem Bereich verfügt die Künstliche Intelligenz im Vergleich zur menschlichen Intelligenz über klare Vorteile. Zum einen sind die Gedächtnisleistungen und die Verarbeitungsgeschwindigkeit technischer Systeme höher als beim Menschen. Zum anderen sind KI-Systeme in ihrer Beurteilung - im Gegensatz zu Menschen - unabhängig von Emotionen und daher in ihrer Informationsverarbeitung zuverlässiger. Generalisierungsfähigkeit - Menschen können Erlerntes leicht auf andere Bereiche übertragen. Die menschliche Intelligenz ist diesbezüglich der Künstlichen Intelligenz deutlich überlegen. Wird beispielsweise ein KI- System mit neuen Daten konfrontiert, verändern diese Trainingsläufe die Gesamtarchitektur des KI-Systems. Dieser Zusammenhang wird auch plakativ als „katastrophales Vergessen“ bezeichnet. Abstraktionsfähigkeit - Menschen lernen aus vergleichsweise wenigen Daten effizient. Auch hier ist der Mensch der KI klar überlegen. Im Vergleich zum Menschen erfordert das Lernen bei KI-basierten Systemen viele Trainingsdaten und Probeläufe. Anpassungsfähigkeit - Menschen können sich immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen. Sie sind der KI auch in dieser Hinsicht überlegen. Die KI hingegen ist extrem spezialisiert auf einen eng abgesteckten Anwendungsbereich. In diesem jedoch ist sie dem Menschen bezüglich der kognitiven Fähigkeiten überlegen (siehe oben). Beispiele für die Anwendung von KI-Systemen in Bahnanwendungen Für die Anwendung künstlicher Intelligenz können verschiedene Anwendungsbeispiele identifiziert werden. Diese werden nachfolgend vorgestellt. KI-basierte Digitalisierung rastergrafischer Bestandspläne Eine Voraussetzung für die digitale Planung der Leit- und Sicherungstechnik (LST) sind digitale Planungsgrundlagen. Bei Neubauten können diese im Planungsprozess erstellt werden. Die meisten Planungen basieren jedoch auf Bestandsplanunterlagen, deren Formate für die digitale LST-Planung nicht geeignet sind: Oftmals liegen diese Bestandspläne nur als Rastergrafiken vor. Hierfür ist eine weitgehend automatisierte Bestandsplandigitalisierung inklusive möglicher Bestandskorrek- Vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz für Bahnanwendungen 1 Einführung Definition: Künstliche Intelligenz (2/ 3) 1 Lenzen, Manuela: Künstliche Intelligenz - Fakten, Chancen und Risiken. C.H. Beck (München) 2020. menschliche Intelligenz künstliche Intelligenz Einschränkungen in Gedächtnisleistung und Verarbeitungsgeschwindigkeit höhere Gedächtnisleistungen und Verarbeitungsgeschwindigkeit als Menschen Emotionen von Menschen beeinflussen deren kognitive Leistungsfähigkeit KI-Systeme sind in Ihrer Beurteilung unabhängig von Emotionen „katastrophales Vergessen“: neue Trainingsläufe mit neuen Daten verändern die Gesamtarchitektur der KI Transferlernen: Menschen können Erlerntes auf andere Bereiche übertragen + + + Das Lernen erfordert viele Trainingsdaten und Probeläufe Menschen lernen aus vergleichsweise wenigen Daten effizient + Flexible Intelligenz: Menschen können sich immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen + extreme Spezialisierung auf einen eng abgesteckten Anwendungsbereich kognitive Fähigkeiten Generalisierungsfähigkeit Abstraktionsfähigkeit Anpassungsfähigkeit Bild 2: Stärken und Schwächen menschlicher und künstlicher Intelligenz im Vergleich Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 73 Wissenschaft TECHNOLOGIE turen vorzunehmen [1]. Das vorliegende rastergrafische Bestandsplanwerk muss also für datenbasierte LST-Planung transformiert werden. Würden die vorhandenen Planunterlagen manuell aufbereitet werden, würde dies einen großen zeitlichen Aufwand bedeuten. Der Lösungsansatz ist eine KI-gestützte Objekterkennung in rastergrafischen Lageplanunterlagen. Hierbei werden in den rastergrafischen Bestandsplänen zunächst die Signalmasten über eine Objekterkennung lokalisiert. Anschließend werden anhand der eingelernten Planzeichen die unterschiedlichen Signaltypen erkannt und dem Signalmast zugeordnet. Über eine optische Zeichenerkennung (optical character recognition, OCR) können die in den rastergrafischen Plänen annotierten Angaben zur Streckenkilometrierung ausgelesen und den jeweiligen Signalmasten als Attribut zugeordnet werden. Anschließend wird die Liste der extrahierten Signale in eine CAD-Umgebung importiert und die einzelnen Elemente dort einer Gleisachse zugeordnet. Um die erforderliche hohe Qualität sicherzustellen, erfolgt eine Prüfung der Gleisfeldelemente durch Planer: innen zur Sicherstellung der Datenqualität. Durch den Bearbeitenden erkannte Fehler werden unmittelbar korrigiert und fehlende Angaben manuell ergänzt. Anschließend kann ein automatisierter Import von Gleisfeldelementen in georeferenzierte Datenbankprojekte zur weiteren Bearbeitung erfolgen. KI-basierte Erkennung von Gleisfeldelementen in 3D-Punktwolken Umbauten bestehender Stellwerke erfordern eine aktuelle Darstellung des Ist-Zustandes der Gleisfeldelemente. In der Regel kommt es hier durch die lange Lebensdauer dieser Anlagen zu Abweichungen der Unterlagen zur Inbetriebnahme (as built) vom aktuellen Zustand (as maintained). Eine manuelle Erfassung der Gleisfeldelemente zur Offenbarung möglicher Abweichungen ist zeitaufwändig und teuer. Ein möglicher Lösungsansatz hierfür ist die Bilderfassung durch Befliegen mit Multikoptern. Hierfür werden Prozesse und Softwarelösungen zur Erhebung, Aufbereitung und Nutzung von Multikopter- und Scandaten entwickelt [2]. Durch die Einnahme einer anderen Perspektive eröffnen sich neue Maßstäbe des Überblicks über Gleisanlagen sowie neue Möglichkeiten der Qualitätssicherung. Perspektivisch wird der Einsatz dieser Technologie u. a. die Teilautomatisierung von Prüf- und Planungsprozessen durch den digitalen Abgleich von IST- Infrastruktur und Planstand sowie ortsunabhängige Gleisfeldbegehungen unterstützen. Multikopter kommen immer häufiger zur Luftbilderfassung bei großen, schwer zugänglichen und unübersichtlichen Baustellen zur Anwendung. Die erfassten Sensordaten werden einer automatisierten Nachbearbeitung zugeführt. Hier können Gleisachsen identifiziert und erkannte Gleisfeldelemente über ihre geografischen Koordinaten (Global Positioning System, GPS) entlang bekannter Gleisachsen verortet werden. Die aus den 3D- Punktwolken abgeleiteten Daten können für die Weiterbearbeitung in BIM-Modellen (Building Information Modelling) bereitgestellt werden. Bei dieser Vorgehensweise sind auch datenschutzrechtliche Belange zu berücksichtigen, d. h. Personenbezüge in den Bilddaten gemäß datenschutzrechtlichen Vorgaben (Datenschutz- Grundverordnung, DSGVO) zu anonymisieren. KI-basierte Schadenserkennung von Güterwagen- Bremssohlen Die Überwachung der Bremssohlen an Güterwagen ist in der Regel aufwändig. Hierbei kann es im Betrieb zu unterschiedlichen Schadensbildern kommen. Mögliche Schäden sind radiale Risse der Bremssohle von der Reibfläche bis zum Trägerblech. Auch kann es zu sichtbaren Ausbröckelungen des Sohlenmaterials oder zu Metalleinschlüssen kommen. Darüber hinaus muss eine nicht mehr ausreichende Dicke der Bremssohle erkannt werden (< 10 mm). Lösungsansatz ist zunächst eine Erfassung des Güterwagens mittels hochauflösender Bilder. Anschließend wird der für die Untersuchung relevante Bildausschnitt über eine Objekterkennung näher eingegrenzt. Dieser Bildausschnitt wird einer vertiefenden Bildanalyse unterzogen. Im Vordergrund steht hierbei eine Abgrenzung der verschiedenen Schichten der Bremssohle. Über die KI-Algorithmen können verschiedene Kurvenverläufe der unterschiedlichen Bestandteile des Bremssystems angenähert werden. Auf diese Weise können Kurvenverläufe von Trägerblech, Sohle und Lauffläche des Rades bestimmt werden. Aus dem Vergleich der Kurven kann die Schichtdicke der Sohle abgeleitet werden. Erkannte Abweichungen von Sollzu Ist- Parametern lösen eine entsprechende Warnmeldung aus. Als schadhaft identifizierte Güterwagen werden - in Abhängigkeit des Verschleiß- oder Schadenszustandes - kurz- oder mittelfristig der Instandhaltung zugeführt. KI-basierte Erkennung und Lokalisierung von Anschriften an Güterwagen Fahrgäste fühlen sich von Graffiti belästigt. Ihr Sicherheitsgefühl ist beeinträchtigt. Auch ist die Beseitigung von Graffiti aufwändig und kostet die Eisenbahnverkehrsunternehmen jährlich mehrere Millionen Euro. Um Graffitis möglichst schnell beseitigen zu können und den Gesamteindruck des Wagens zu verbessern, besteht der Lösungsansatz in der Detektion und Lokalisierung von Graffitis auf Güterwagen. Hier kann bereits frühzeitig eine Befundung des Wagens vorgenommen werden, so dass das Personal bei Einfahrt des Zuges über die Größe und Position der Graffitis informiert ist und die Aktivitäten zu ihrer Entfernung entsprechend disponieren kann. Eine große Bedeutung für den Bahnbetrieb haben auch Anschriften, Maße, Symbole und Piktogramme auf Wagen. Sie geben Aufschluss über lade- und lauftechnische Eigenschaften, Bedienung und mögliche Gefahren. Über optische Systeme kann die Sichtbarkeit der Wagenanschriften (die Sichtbarkeit von Warnhinweisen dient der Sicherheit des Betriebs) überprüft werden. Auch hier kommen Systeme zur Bilderkennung und Bildverarbeitung zum Einsatz. Predictive Maintenance von Türsteuerungen mit Machine Learning Vorausbestimmte Instandhaltung von Schienenfahrzeugen ist nicht immer wirtschaftlich. Auch haben ungeplante Ausfälle von Fahrzeugen oder Wagen massive Auswirkungen auf den Bahnbetrieb. Ziel ist daher eine Ableitung einer optimalen Instandhaltungsstrategie auf Basis gemessener und prädizierter Zustandsgrößen. Ausgangsbasis sind hierbei erfasste Daten der Türsteuerung (Digitalisierung). Auf dieser Grundlage werden relevante Datenausschnitte mit dem Fencing-Verfahren identifiziert, Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 74 TECHNOLOGIE Wissenschaft welches die Ergebnisse auf Ereignisse wie beispielsweise Türblockaden in Stationsbereichen beschränkt, die für den Anwender mit hoher Wahrscheinlichkeit von Relevanz sind [3]. Über die Verknüpfung mit Daten weiterer externer Datenquellen (Wetterdaten) können die erfassten Messdaten mit weiteren Kontextinformationen angereichert werden. Diese Daten können mit nicht-überwachten Lernverfahren näher analysiert werden. Anomalien in den Datenreihen können mit dem DBSCAN- Algorithmus (Density-Based Spatial Clustering of Applications with Noise) identifiziert werden. Auf diese Weise kann beispielsweise aus einer konstanten Erhöhung der aufgenommenen Energie einer Tür über mehrere Schließzyklen im Zeitverlauf und unter Einbeziehung von Wetterdaten auf die Notwendigkeit einer Instandhaltung geschlossen werden. Im Idealfall kann die Instandhaltung erfolgen, bevor es im Betrieb zu einem Ausfall kommt. Auf diese Weise kann die Verfügbarkeit der Fahrzeugflotten im Eisenbahnbetrieb erhöht werden. Vertrauen in KI schaffen Die Einführung von KI-Systemen für sicherheitsrelevante Bahnanwendungen ist eine disruptive Innovation. Gemäß einer Verbraucherstudie des Verbandes der Technischen Überwachungsvereine (VDTÜV) besteht in der Bevölkerung eine grundsätzlich positive Grundeinstellung zu Künstlicher Intelligenz [4]. Allerdings stellt diese Studie auch Sorgen und Ängste fest. Wenn KI in immer mehr Lebensbereiche vordringt, muss also Vertrauen geschaffen werden: Risikoakzeptanz - Je höher das Risiko einer Anwendung, desto strenger müssen die Regeln hierfür sein. 58 Prozent der Deutschen begrüßen den risikobasierter Ansatz des Richtlinienentwurfs der Kommission der Europäischen Union [5]. Erfordernis harmonisierter Normen - Produkt- und Prozessprüfungen müssen auf einheitlichen Standards beruhen. Mit der Normungsroadmap Künstliche Intelligenz liegt eine umfassende Analyse des Bestands und des Bedarfs an internationalen Normen und Standards für KI vor [6]. Aktuell fehlt mit einer harmonisierten Norm das Rückgrat für die wirksame Umsetzung des von der Kommission der Europäischen Union skizzierten Konzepts. In Bezug auf KI-Systeme stößt die Normung an verschiedene Grenzen [7]. So sind aktuell der Entwicklung von Software für Bahnanwendungen zugrunde liegende Normen aus Sicht von KI-Systemen unvollständig bzw. veraltet. Es liegt jetzt an der Bahnbranche, die bestehenden Unschärfen durch die aktive Mitwirkung in der Normung mit konkreten Vorgaben zu schließen. Durch die Beteiligung aller interessierten Kreise und das Konsensverfahren genießen Normen nicht nur im gewerblichen und staatlichen Bereich Akzeptanz und Vertrauen, sondern auch bei Verbrauchern. Stärkere Unabhängigkeit in der Prüfung - Zwei Drittel der Befragten haben eher großes bis sehr großes Vertrauen in unabhängige, akkreditierte Konformitätsbewertungsstellen. Damit liegt das Vertrauen in diese privatrechtlich organisierten Stellen klar vor den Herstellern (55 Prozent) oder staatlichen Einrichtungen (49 Prozent). Es gelten auch in Bezug auf KI-Systeme die an Konformitätsbewertungsstellen gerichteten Anforderungen zur Unabhängigkeit, Objektivität und Unparteilichkeit [8]. Die eigentliche Konformitätsbewertung umfasst hierbei sowohl die Algorithmen als auch die in der Entwicklungsphase verwendeten Datensätze. Wichtig ist die Durchführung einer erneuten Konformitätsbewertung bei wesentlichen Änderungen der KI-Systeme. Stärkere Rolle der Produktbeobachtung - Gut vier von fünf Befragten (81 Prozent) sprechen sich dafür aus, dass die Sicherheit von Produkten und Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz vor der Markteinführung von herstellerunabhängigen Stellen geprüft werden sollte. Und fast ebenso viele (79 Prozent) sind der Meinung, dass solche Prüfungen auch nach Inverkehrbringen erforderlich sind [9]. Der Richtlinienentwurf der Kommission der Europäischen Union Demnach sieht für Hersteller von KI-Systemen weitreichende Aufzeichnungspflichten vor. So müssen KI-Systeme mit Funktionsmerkmalen konzipiert und entwickelt werden, die eine automatische Aufzeichnung von Vorgängen und Ereignissen (Protokollierung) während des Betriebs der KI- Systeme ermöglichen. Diese Protokollierung ermöglicht die Überwachung des Betriebs des KI-Systems im Hinblick auf das Auftreten von Situationen, die dazu führen können, dass das KI-System ein Risiko birgt. Dies erleichtert die Beobachtung nach dem Inverkehrbringen. Zusammenfassend ermöglicht Künstliche Intelligenz die prädiktive Instandhaltung und erhöht die Effizienz des Eisenbahnbetriebs. Auch bilden zukünftig leistungsfähige Algorithmen zur Umfeldwahrnehmung die Grundlage der Automatisierung des Eisenbahnbetriebs. Allerdings erfordert die Anwendung nicht-deterministischer Algorithmen und für den Menschen undurchsichtiger Entscheidungsprozesse einen Paradigmenwechsel in der Zulassung technischer Systeme. ■ LITERATUR [1] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz. Brüssel, 21.04.2021; COM(2021) 206 final. [2] Maschek, U. (2022): Ein Weg zur Bestandsplandigitalisierung für die Digitale LST-Planung. In: Eisenbahningenieur, H. 1, S. 16-18. [3] Brandt, H.; Bock, U. (2018): Predictive Maintenance - IT gestützte Ermittlung flexibler Wartungszyklen für Fahrzeuge im Personenverkehr. In: Eisenbahntechnische Rundschau, H. 1-2, S. 58-62. [4] TÜV-Verband e.V: Sicherheit und Künstliche Intelligenz - Erwartungen, Hoffnungen, Risiken. Repräsentative Befragung der Bevölkerung in Deutschland im Auftrag des TÜV- Verbands (August 2021). [5] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union; 2021/ 0106 (COD). [6] Deutsches Institut für Normung: Deutsche Normungsroadmap Künstliche Intelligenz. Berlin, November 2020. [7] Wilrich, T. (2017): Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab. 1. Auflage, Berlin: Beuth Verlag. [8] Schnieder, L. (2017): Öffentliche Kontrolle der Qualitätssicherungskette für einen sicheren und interoperablen Schienenverkehr. In: ETR-Eisenbahntechnische Rundschau 66, H. 4, S. 38-41. [9] Schnieder, L.; Hosse, R. (2019): Typgenehmigungsmaßstäbe für automatisierte Fahrzeugsysteme des Level 3. In: Zeitschrift für Verkehrssicherheit 65, H. 4, S. 246-252. Lars Schnieder, PD Dr.-Ing. habil. Chief Executive Officer, ESE Engineering und Software-Entwicklung GmbH, Braunschweig; Lehrbeauftragter Verkehrswissenschaftliches Institut, RWTH Aachen lars.schnieder@ese.de Veranstaltungen FORUM Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 75 ÖPNV digital Rückblick: 4. November 2022, 8. Jenaer Gespräche zum Recht des ÖPNV - Herbsttagung der Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht, Friedrich-Schiller-Universität Jena D ie fortschreitende Digitalisierung erfasst zunehmend auch den Verkehrssektor und damit den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Mit dem Ziel, diese technische Entwicklung insbesondere rechtswissenschaftlich, aber auch unter interdisziplinären Gesichtspunkten einzuordnen, lud die Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Leitung von Prof. Dr. Matthias Knauff, LL.M. Eur., in Kooperation mit Prof. Dr. Juana Vasella (Ernst-Abbe- Hochschule Jena) sowie der Kompetenzstelle für Logistik- und Transportrecht der Universität Luzern, am 4. November 2022 zu den 8. Jenaer Gesprächen zum Recht des ÖPNV unter dem Titel „ÖPNV digital“ ein. Dabei wurden der gegenwärtige Status der Digitalisierung auf dem Gebiet des ÖPNV sowie die sich im Zuge dessen stellenden Probleme und Herausforderungen ebenso wie die Chancen, die die Digitalisierung für einen zeitgemäßen, bedarfsgerechten und barrierefreien ÖPNV bietet, dargestellt und diskutiert. Nach einer Begrüßung und thematischen Einführung der beiden Gastgeber gab Eric Meyer (Ernst & Young Law GmbH Rechtsanwaltsgesellschaft Steuerberatungsgesellschaft, München) einen Einblick in die praktischen und datenschutzrechtlichen Herausforderungen bei der Umsetzung eines verbundübergreifenden Transformationsprojektes. Konkret ging es hierbei um eine „Check In, Check Out“-Ticketlösung im Rahmen eines eTarifs für die Nahverkehrslandschaft in Nordrhein-Westfalen. Eine digitale Ticketlösung solle u. a. die Attraktivität des ÖPNV und den vereinfachten Zugang hierzu steigern sowie Preissprünge reduzieren und die Verkehrslandschaft vereinheitlichen. Meyer wies dabei insbesondere auf die datenschutzrechtliche Problematik digitaler Ticketlösungen, die heterogene Verkehrslandschaft sowie die unterschiedliche Risikobereitschaft der involvierten Akteure hin, welche sich als zentrale Herausforderungen darstellten. Insgesamt betonte Meyer, dass ein Ausschluss sämtlicher Compliance-Risiken in der Praxis kaum möglich sei. Der Datenschutz könne jedoch durch eine umfassende Rechtmäßigkeitsbewertung sowie eine Datenschutzfolgenabschätzung sichergestellt werden und habe das Projekt daher nicht verhindert. Als nächster Referent erörterte Dr.-Ing. Dirk Boenke (Stuva e. V., Köln) die Anforderungen an einen barrierefreien digitalen ÖPNV. Hierbei könnten digitale Lösungen die spezifischen Bedürfnisse verschiedener heterogener Gruppen, insbesondere durchgängige Mobilitätsketten, im ÖPNV zielgerichtet unterstützen. Ferner wies Boenke auf den Ausbaubedarf individualisierter digitaler Auskunftssysteme hin, wobei auch die unterschiedlichen Voraussetzungen des ÖPNV in urbanen und ländlichen Gebieten zu beachten seien. Eine entscheidende Rolle bei der Barrierefreiheit komme vor allem mobilen Endgeräten zu. Insgesamt bestünden bereits gute digitale Ansätze bei Informationsangeboten sowie einige Forschungsprojekte. Gleichwohl wies Boenke darauf hin, dass als Grundlage guter digitaler Arbeit auch die analogen Faktoren, so etwa hohe Standards bezüglich der Barrierefreiheit bei Fahrzeugen und Haltestellen, nicht vernachlässigt werden dürften. Im Zuge seines Fachvortrages zum Thema Nahverkehrsplanung stellte Dr. Jan Werner (KCW GmbH, Berlin) den Rechtsrahmen der Nahverkehrsplanung vor dem Hintergrund des Mehrebenen-Rechtssystems ausgehend vom Europarecht dar. Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Frage, wie sich die Digitalisierung einerseits für die Fahrgäste auswirke; zentral ging es dabei um digitale Tarife und Vertriebsmöglichkeiten sowie die Nutzung entsprechender Apps. Andererseits zeigte der Vortrag auf, inwiefern ein digitalisierter Verkehr sich auf den ÖPNV-Betrieb auswirke. Schlagworte waren unter anderem die digitale Erfassung der Angebots- und Nachfragedaten, digitale Infrastrukturwartung und Zugsicherung sowie digitales Bauen und Planen. Schließlich ging Werner darauf ein, welchen Beitrag die Digitalisierung zur Erreichung des auch im ÖPNV vorgegebenen Ziels des Klimaschutzes leisten könne. Im Anschluss daran beschäftigte sich Dr. Corina Jürschik, LL.M. (Oppenländer Rechtsanwälte, Stuttgart) mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf eigenwirtschaftliche Verkehre. Vor dem Hintergrund von Verbundzwang und Tarifbindung identifizierte Jürschik fehlende unternehmerische Freiheit als Digitalisierungshemmnis. Ferner ging Jürschik auf die Chancen ein, die eine fortschreitende Digitalisierung für den ÖPNV biete, von der Vernetzung über den Markteintritt neuer Teilnehmer bis hin zum On-demand-Verkehr. Die zentrale Chance der Digitalisierung eigenwirtschaftlicher Verkehre liege in der Ergänzung des bestehenden ÖPNV-Angebots, nicht in deren versuchter Verdrängung durch Konkurrenzdruck. Abschließend ging die Referentin auf die mit der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen in Bezug auf die Barrierefreiheit für Nutzergruppen ohne Smartphone ein. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf bestellte Verkehre stellte Prof. Dr. Matthias Knauff, LL.M. Eur. (Friedrich-Schiller- Universität Jena) dar. Neben der Einführung des Linienbedarfsverkehrs wirke sich die Digitalisierung insbesondere auf die Fahrzeugausstattung in Form autonomer Fahrgastzählung, des Digitalfunks, eines WLAN-Angebotes im Bus sowie im Bereich der IT-Sicherheitstechnik aus. Insofern könnten öffentliche Dienstleistungsaufträge auch digitale Inhalte aufweisen. Im Hinblick auf den Bestellungsprozess sei zudem zu beachten, dass die Verpflichtung zur elektronischen Durchführung eines Vergabeverfahrens abhängig sei von der Ausgestaltung des öffentlichen Dienstleistungsauftrages als Auftrag im Sinne des Vergaberechts oder als Konzession. Knauff regte schließlich an, den stetigen technischen Fortschritt der Digitalisierungsinhalte insbesondere bei langen Laufzeiten der öffentlichen Dienstleistungsaufträge einzuplanen. Mit den Fragen der finanziellen Förderung beschäftigte sich anschließend Jörg Niemann (Rödl & Partner, Hamburg). Als zentrales Problem wurden insbesondere die bestehenden ÖPNV-Organisationsstrukturen ausgemacht. Nur ein Zusammenwachsen dieser vielschichtigen Strukturen könne der Digitalisierung effektiv Vorschub leisten. Der Bund könne hierbei als einheitliche Steuerungseinheit in einem administrativen Markt Impulsgeber sein. Das nach wie vor verbleibende Problem sei dabei aber die Förderstruktur, da der Bund nur einzelne Projekte fördere und die Förderrichtlinien der Länder inhaltlich zu stark divergierten. Durch die Förderstruktur und divergierende Landes-Förderrichtlinien hervorgerufene Probleme seien durch einen Wandel der Förderpraxis weg von Einzelprojekten hin zur Digitalisierung in der Fläche zu lösen. Im Ergebnis sei daher zur Erreichung des Ziels einer Digitalisierung in der Fläche und einer Erhöhung der Innovationsbereitschaft ein entsprechend geänderter Rechtsrahmen erforderlich. Abschließend gab Dr. Thomas Huber (DB Regio Bus, Ingolstadt) einen Ausblick in die Zukunft des digitalen ÖPNV. Gemäß des Tä- FORUM Veranstaltungen Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 76 tigkeitsschwerpunktes der Regio Bus im ländlichen Raum biete die Digitalisierung des ÖPNV dort insbesondere im Rahmen des vollautonomen On-demand-Verkehrs Chancen, das Personenbeförderungsangebot bedarfsgerecht zu erweitern. Die dafür erforderlichen vollautonomen SAE Level 4-Fahrzeuge (L4) befänden sich im Zuge dessen an verschiedenen Standorten bereits in der Erprobungsphase, die bisher erfolgreich verlaufe. Das Ziel, ab 2023 die ersten fahrerlosen L4-Fahrzeuge im bedarfsgerechten Regelbetrieb einzusetzen, könne demnach erreicht werden. Linda Nistler und Johannes Schlautmann, Wissenschaftliche Mitarbeitende Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht Friedrich-Schiller-Universität Jena linda.nistler@uni-jena.de johannes.schlautmann@uni-jena.de Jubiläum an der Uni Stuttgart Rückblick: Studiengang Verkehrsingenieurwesen an der Universität Stuttgart feiert zehnjähriges Bestehen I m November 2022 feierte der Studiengang Verkehrsingenieurwesen an der Universität Stuttgart sein zehnjähriges Bestehen - gemeinsam mit aktuellen und ehemaligen Studierenden, Dozierenden sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der am Studiengang beteiligten Institute. Studiendekan Prof. Dr.-Ing. Markus Friedrich und Studierendenvertreter blickten auf die vergangenen zehn Jahre zurück, Fachvorträge von Absolventinnen und Absolventen veranschaulichten die Bandbreite der beruflichen Tätigkeitsfelder des Verkehrsingenieurwesens nach Abschluss des Studiums. Die Einblicke reichten hier von der Regionalstadtbahn Neckar-Alb und Untersuchungen zu Stuttgart 21 über die Radverkehrsplanung des Landes Baden-Württemberg bis hinein in ein Abgeordnetenbüro des Deutschen Bundestages. Der Studiengang umfasst inhaltlich einen Dreiklang aus Infrastruktur, Fahrzeugen und Betrieb von Verkehrssystemen. Die Studierenden lernen, Verkehrsnachfrage zu prognostizieren und davon ausgehend Mobilitätsangebote zu entwerfen. Dazu dimensionieren sie Verkehrsanlagen, berechnen deren Kosten für Bau und Betrieb und entwickeln nachhaltige verkehrsträgerspezifische, aber auch intermodale Konzepte für den Personen- und Güterverkehr. Der Studiengang leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung von zunehmend nachgefragtem, kompetentem Fachpersonal für die Verkehrswende und zukunftsorientierte Entwicklung der Mobilität. www.ving.uni-stuttgart.de Alexander Fink, Akademischer Mitarbeiter und Studiengangsmanager Verkehrsingenieurwesen, Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Universität Stuttgart alexander.fink@ievvwi.uni-stuttgart.de Drohnen und Roboter zur Gefahrenabwehr Rückblick: 19. Januar 2023, UAV-Briefing der NBS Northern Business School, Hamburg A m 19. Januar 2023 fand an der NBS Northern Business School - University of Applied Sciences das jährliche Update zum Thema Drohnen und Roboter bei den BOS (Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben) statt. Ziel des „UAV- Briefings“ ist es, die aktuellen Entwicklungen vorzustellen und zu diskutieren. Mit einem Impulsvortrag von Christina Große-Möller, Managerin des Drohnennetzwerks Windrove, startete die Tagesordnung. Ziel von Windrove und dem dazugehörigen Netzwerk ist es, automatisiertes Fliegen sicher und akzeptiert in den urbanen Luftraum zu integrieren; der Stand dieser Entwicklungen ist auch für die Einsatzorganisationen von großem Interesse. Zu den Entwicklungen national und international berichteten Franz Petter und Carsten Paschilke von der BSG Feuerwehr Hamburg (BSG UAV). So betreibt etwa die Pariser Feuerwehr mit Blick auf die Olympischen Spiele 2024 ein Projekt mit autonom fliegenden Drohnen, die einen Defibrillator zum Einsatzort bringen. So könnten pro Jahr 750 Leben zusätzlich gerettet werden, so die Prognose. Auch weitere Länder, darunter Spanien und Rumänien, verbessern die „Rettungskette“ durch die Nutzung von Drohnen. Über die automatisierte Indoor-Erkundung mit Drohnen berichtete Helge Hackbarth (BSG UAV). Hier ging es um den Einsatz kleiner Drohnen und Roboter in Innenbereichen, z. B. in Tiefgaragen, Lagerhallen oder U-Bahnen. Insbesondere wird damit eine Gefährdung des Einsatzpersonals bei der Erkundung wesentlich reduziert. Hierzu finden im Jahr 2023 auch laufend Versuche und Erprobungen statt, so Hackbarth. Im Rahmen eines von der Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (BUKEA) geförderten Projektes wird die Früherkennung von Vegetationsbränden mittels Drohnen und Künstlicher Intelligenz erforscht. Darüber berichtete Prof. Dr.-Ing. Uwe Här von der NBS Northern Business School. Hoch aktuell ist das Thema „U-Space, ausgewiesene Lufträume für unbemannte Luftfahrzeuge“. Das Regelungspaket der EU gilt seit 26. Januar 2023. Prof. Dr. Jürgen Sorgenfrei, Professur Projektmanagement an der NBS, informierte über den Sachstand und die Auswirkungen des U-Space. Luftsicherheit und Datenschutz erfordern eine umfassende rechtliche Betrachtung. Hierzu erläuterte Rechtsanwalt Timo Stellpflug wichtige Fragestellungen zum Drohnenrecht. Zum Schluss wurde eine neue Wasserrettungsdrohne vorgestellt, mit der Ertrinkende perspektivisch deutlich schneller gerettet werden könnten. In der anschließenden Bewertung und Diskussion wurde weiterer Informationsbedarf der Teilnehmer deutlich. Daher wird es kurzfristig weitere Veranstaltungen zu einzelnen Themen geben. Weitere Informationen sind auf der Website der Northern Business School zu finden. www.nbs.de Foto: Patou Ricard / pixabay Veranstaltungen FORUM Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 77 Urbaner Wirtschaftsverkehr in Zeiten der Mobilitätswende Vorschau: 27. bis 28. April 2023, Urban Supply Chain Symposium 2023, Berlin A m 27. und 28. April 2023 veranstaltet die Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin ein Symposium zum Wirtschaftsverkehr in urbanen Räumen. Das „Urban Supply Chain Symposium“ schafft die Möglichkeit, gemeinsam die Herausforderungen für die nachhaltige Belieferung von urbanen Räumen zu debattieren. In den drei Bereichen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft werden in vielfältig zusammengestellten Podiumsdiskussionen und Round Tables diskutiert, Anforderungen gestellt, Erfahrungen geteilt und Ideen angeregt. Neue Konzepte und Lösungen können nur im kooperativen Stil entwickelt werden. Deshalb liefern die Formate des Urban Supply Chain Symposiums an der HTW Berlin kollektive Impulse und Erkenntnisse, bieten gleichzeitig die Möglichkeit, Visionen zu platzieren und eröffnen die Chance, sich direkt mit den wichtigsten Stakeholdern zu vernetzen. Das Programm des Urban Supply Chain Symposiums 2023 ist in drei Themenblöcke gegliedert: •• Themenblock I: Wirtschaftsverkehr in Zeiten der Mobilitätswende: Welche Ziele sind zu erreichen? Wie kann man ihn steuern? Was sollte reguliert werden? •• Themenblock II: Nachhaltige, intermodale Belieferungskonzepte von Städten brauchen Mikrohubs - wo kommen die Flächen dafür her? •• Themenblock III: Innovationen für die Transportmittel der Zukunft - was ist alles möglich? In diesen drei Blöcken werden sich im Laufe der zwei Tage Expert*innen an der HTW Berlin versammeln und sich über nachhaltige Visionen und konkrete Lösungen der Urban Supply Chains austauschen. Um den Anforderungen der Praxis gerecht zu werden und auch über unbequeme Themen zu sprechen, sind neben Keynotes und Podiumsdiskussionen auch interaktive Formate wie Round Tables vorgesehen. So ist garantiert, dass die Teilnehmenden sich zu den Impulsen und Anforderungen positionieren und mit wichtigen Stakeholdern der urbanen Logistik diskutieren können. Damit es zu konstruktiven Ergebnissen kommt, ist die Zahl der Teilnehmenden auf 75 Personen begrenzt. Am Abend des ersten Veranstaltungstages findet das exklusive Netzwerk-Event an den Ufern der Spree statt. Die lockere Atmosphäre bietet die Möglichkeit zu entspanntem Gedankenaustausch und Vernetzung abseits des Programms. Das detaillierte Programm auf der Website der HTW: : https: / / events.htw-berlin.de/ forschung/ urban-supply-chain-symposium-2023 Resilient & Sustainable Transport Vorschau: 21. bis 22. März 2023, Interdisciplinary Conference on Production, Logistics and Traffic (ICPLT), Dortmund D ie internationale Fachkonferenz, die alle zwei Jahre im Wechsel an der TU Darmstadt bzw. an der TU Dortmund ausgerichtet wird, befasst sich mit den Schnittstellen von Produktion, Logistik und Verkehr und sucht nach Lösungen für wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Fragen rund um den Verkehr. Im Fokus steht der interdisziplinäre Austausch und als Gegenstand - nicht nur, aber vor allem - der Wirtschaftsverkehr als wesentliches Bindeglied für Produktion und Logistik. Ziel der 6. ICPLT im März 2023 ist es, Trends und Herausforderungen für den Wirtschaftsverkehr vor dem Hintergrund der globalen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und wissenschaftlicher Erkenntnisse zu diskutieren. Das aktuelle Motto lautet „Resilient & Sustainable Transport“. Denn Resilienz und Nachhaltigkeit sind vor dem aktuellen Hintergrund von Pandemie, gestörten Lieferketten, Klimawandel und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine wichtiger denn je. Folgende Keynote-Speaker konnten für die 6. ICPLT gewonnen werden: •• Dr.-Ing. Maria Tsavachidis - CEO EIT Urban Mobility: Mobility - lessons learned in European cities and the road ahead •• Dr. Joachim Weise - Senior Vice President Data Strategy and Analytics - DB Schenker: Resilient Networks - Optimizing Global Logistics at DB Schenker •• Prof. Dr. Hubertus Bardt - Managing Director / Head of Research - German Economic Institute: Supply Chains, Costs and Investments in Times of Multiple Crises Weitere nationale und internationale Vorträge werden in Sessions zu folgenden Themen präsentiert: •• Freight Transport & Public Transport •• Urban Freight Transport & Logistics Planning •• Demand Modelling & Cargo Bikes •• Simulation & Optimization in Production and Logistics •• Production, SCM & Maintenance •• Industry Specific Logistics & SCM •• Chemical Logistics & Hydrogen Supply Chains •• Electric & Hydrogen Vehicles, e-Highways •• Maritime & Rail Transport Die Konferenz richtet sich an Interessierte aus den Disziplinen Produktion, Logistik sowie Raum- und Verkehrsplanung und wird am 21. und 22.03.2023 an der TU Dortmund wissenschaftliche wie praxisorientierte Beiträge präsentieren. www.icplt.org Foto: Lichtkunst 73 / pixelio GREMIEN | IMPRESSUM Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 78 Erscheint im 75. Jahrgang Impressum Herausgeber Prof. Dr. Kay W. Axhausen Prof. Dr. Hartmut Fricke Prof. Dr. Hans Dietrich Haasis Prof. Dr. Sebastian Kummer Prof. Dr. Barbara Lenz Prof. Knut Ringat Verlag und Redaktion Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22 | D-72270 Baiersbronn Tel. +49 7449 91386.36 Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de www.trialog.de Verlagsleitung Dipl.-Ing. Christine Ziegler VDI Tel. +49 7449 91386.43 christine.ziegler@trialog.de Redaktionsleitung Eberhard Buhl, M. A. (verantwortlich) Tel. +49 7449 91386.44 eberhard.buhl@trialog.de Korrektorat: Ulla Grosch Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de dispo@trialog.de Gültig ist die Anzeigenpreisliste Nr. 60 vom 01.01.2023 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 service@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr mit International Transportation Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist vier Wochen vor Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Jahres-Bezugsgebühren Inland: Print EUR 225,00 / eJournal EUR 210,00 (inkl. MWSt.) Ausland: Print EUR 228,00 / eJournal EUR 210,00 (exkl. VAT) Einzelheft: EUR 39,00 (inkl. MWSt.) + Versand Das Abonnement-Paket enthält die jeweiligen Ausgaben als Print-Ausgabe oder eJournal mit dem Zugang zum Gesamtarchiv der Zeitschrift. Campus-/ Unternehmenslizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck Kössinger AG & Co. KG, Schierling, koessinger.de Herstellung Schmidt Media Design, München, schmidtmedia.com Titelbild Cyborg holds the world in its hand. Foto: ClipDealer Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Baiersbronn-Buhlbach ISSN 0020-9511 Herausgeberkreis Herausgeberbeirat Uta Maria Pfeiffer Abteilungsleiterin Mobilität und Logistik, Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI), Berlin Sebastian Belz Dipl.-Ing., Generalsekretär EPTS Foundation; Geschäftsführer econex verkehrsconsult GmbH, Wuppertal Gerd Aberle Dr. rer. pol. Dr. h.c., Professor emer. der Universität Gießen und Ehrenmitglied des Herausgeberbeirats Magnus Lamp Programmdirektor Verkehr Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Köln Uwe Clausen Univ.-Prof. Dr.-Ing., Institutsleiter, Institut für Transportlogistik, TU Dortmund & Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Vorsitzender, Fraunhofer Allianz Verkehr Florian Eck Dr., Geschäftsführer des Deutschen Verkehrsforums e.V., Berlin Michael Engel Dr., Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Fluggesellschaften e. V. (BDF), Berlin Alexander Eisenkopf Prof. Dr. rer. pol., ZEPPELIN-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Verkehrspolitik, Zeppelin University, Friedrichshafen Tom Reinhold Prof. Dr.-Ing., Geschäftsführer, traffiQ, Frankfurt am Main Ottmar Gast Dr., ehem. Vorsitzender des Beirats der Hamburg-Süd KG, Hamburg Barbara Lenz Prof. Dr., ehem. Direktorin Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin Knut Ringat Prof., Sprecher der Geschäftsführung der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Hofheim am Taunus Detlev K. Suchanek Publisher/ COO, GRT Global Rail Academy and Media GmbH | PMC Media, Hamburg Wolfgang Stölzle Prof. Dr., Ordinarius, Universität St. Gallen, Leiter des Lehrstuhls für Logistikmanagement, St. Gallen Ute Jasper Dr. jur., Rechtsanwältin Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek, Düsseldorf Johann Dumser Director Global Marketing and Communications, Plasser & Theurer, Wien Matthias von Randow Hauptgeschäftsführer Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), Berlin Kay W. Axhausen Prof. Dr.-Ing., Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT), Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), Zürich Hartmut Fricke Prof. Dr.-Ing. habil., Leiter Institut für Luftfahrt und Logistik, TU Dresden Hans-Dietrich Haasis Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Maritime Wirtschaft und Logistik, Universität Bremen Sebastian Kummer Prof. Dr., Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik, Wien Peer Witten Prof. Dr., Vorsitzender der Logistik- Initiative Hamburg (LIHH), Mitglied des Aufsichtsrats der Otto Group Hamburg Oliver Wolff Hauptgeschäftsführer Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Köln Oliver Kraft Geschäftsführer, VoestAlpine BWG GmbH, Butzbach Ralf Nagel Ehem. Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Verbandes Deutscher Reeder (VDR), Hamburg Jan Ninnemann Prof. Dr., Studiengangsleiter Logistics Management, Hamburg School of Business Administration; Präsident der DVWG, Hamburg Ben Möbius Dr., Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie in Deutschland (VDB), Berlin Ullrich Martin Univ.-Prof. Dr.-Ing., Leiter Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Direktor Verkehrswissenschaftliches Institut, Universität Stuttgart DAS FACHMAGAZIN FÜR DIE JACKENTASCHE Lesen Sie Internationales Verkehrswesen und International Transportation lieber auf dem Bildschirm? Dann stellen Sie doch Ihr laufendes Abo einfach von der gedruckten Ausgabe auf ePaper um - eine E-Mail an service@trialog.de genügt. Oder Sie bestellen Ihr neues Abonnement gleich als E-Abo. 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