eJournals

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
51
2023
752
2023 | Heft 2 Mai Richtungswechsel: Der neue Blick auf kommende Herausforderungen Transport und Verkehr Heft 2 | Mai 2023 75. Jahrgang POLITIK Alles machbar? Strategien für die Mobilitätswende INFRASTRUKTUR Schiene ausbauen - oder Betrieb optimieren LOGISTIK Was wird nun aus der Neuen Seidenstraße? MOBILITÄT Niedrigtarife im ÖV und ihre Wirkung TECHNOLOGIE Mehr Flughafen-Sicherheit mit Künstlicher Intelligenz www.internationales-verkehrswesen.de GESAMMELTES FACHWISSEN Das Archiv der Zeitschrift Internationales Verkehrswesen mit ihren Vorgänger-Titeln reicht bis Ausgabe 1|1949 zurück. Sie haben ein Jahres-Abonnement? Dann steht Ihnen auch dieses Archiv zur Verfügung. Durchsuchen Sie Fach- und Wissenschaftsbeiträge ab Jahrgang 2000 nach Stichworten. Greifen Sie direkt auf die PDFs aller Ausgaben ab Jahrgang 2010 zu. Mehr darüber auf: www.internationales-verkehrswesen.de Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 4 ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 4 11.11.2018 18: 32: 23 11.11.2018 18: 32: 23 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 3 Sebastian Kummer EDITORIAL Preise runter, Leistung rauf? E s ist schon ein interessantes Phänomen: Obwohl die Bahn vielen Herausforderungen gegenübersteht und das Service-Niveau der Bahn in Deutschland derzeit katastrophale Werte erreicht, diskutiert man im deutschen und österreichischen Schienenpersonenverkehr wie im Öffentlichen Verkehr insgesamt schwerpunktmäßig über tarifpolitische Themen. Trotz des ohnehin großen Unterschieds zwischen PKW-Kosten und Kosten des Öffentlichen Verkehrs stehen dabei insbesondere preissenkende Maßnahmen im Fokus. Obwohl in der Theorie die Fehlleitung der Nachfrage bekannt ist, wenn Grenzkosten - also Kosten, die durch die Bereitstellung einer zusätzlichen Produktmenge oder Dienstleistung entstehen - gleich Null sind, und obwohl es durchaus gemischte Erfahrungen mit dem schweizerischen General-Abo gibt, wurde in Österreich das so genannte Klimaticket und in Deutschland zunächst ein 9-Euro- und jetzt das 49-Euro-Ticket eingeführt. Gut - man kann sich natürlich auch neuen Diskussionsbedarf selbst schaffen, statt die Probleme in der Leistungserstellung anzugehen. Besonders aberwitzig ist, dass Vertreter*innen, die das 9-Euro-Ticket bejubelten, nun auch das 49-Euro-Ticket mit gleichem Enthusiasmus feiern. Als Ökonom muss ich feststellen, dass bei einem mehr als fünffachen Preisunterschied innerhalb eines Jahres zumindest einer der beiden Preise wohl „falsch“ ist. Vielleicht ist auch der Öffentlichkeit die dramatische Situation, in der die Pünktlichkeit des Fernverkehrs der Deutschen Bahn befindet, nicht bekannt. Im März fiel diese Pünktlichkeit auf 68,4 % - und das trotz des Tricks, ausgefallene Züge oder Zughalte nicht als unpünktlich zu werten. Aus Sicht des Fahrgastes ist der komplett ausgefallene Zug ja noch schlimmer, in der DB-Statistik zur Pünktlichkeit macht es sich jedoch besser, verspätete Züge einfach gar nicht fahren zu lassen. Vielleicht hat sich Deutschland auch einfach mit der - auch im weltweiten Vergleich - beschämenden Leistung arrangiert. Viele nehmen aus Furcht, irgendwo zu stranden, nie mehr den letzten Zug vor Betriebsschluss. Zustände, wie sie in anderen Bereichen undenkbar sind - stellen Sie sich bloß mal einen industriellen Prozess wie die Herstellung eines Autos mit nur 68,4 % Zuverlässigkeit vor. Als Wissenschaftler wissen wir, dass sich die Zuverlässigkeit eines Gesamtsystems aus der Multiplikation der Einzelzuverlässigkeit ergibt. Das ist auch der Grund, warum in der Automobilindustrie Zuverlässigkeitswerte von über 99,9 % gefordert sind. Wenn ich die Frage stelle, was das bei einer Zugreise im Fernverkehr der Deutschen Bahn mit zweimaligem Umsteigen bedeutet, schätzen selbst Experten*innen das oft falsch ein. Die richtige Antwort im März 2023 war: 68,4 % x 68,4 % x 68,4 % = 32 %. Mit anderen Worten: Von drei Fernfahrten kommt eine einzige pünktlich. In Österreich ist es zwar besser, aber der „Erfolg“ des Klimatickets führt dazu, dass sich Eltern bei mir beklagen, weil ihre Kinder einfach nur zum Spaß - und weil die Grenzkosten Null sind - von Wien nach Innsbruck und zurück fahren, während die ÖBB mithilfe der Polizei Menschen mit gültigen Fahrscheinen aus überfüllten Zügen schmeißen. Es gibt also viel zu tun, und wir hoffen, dass auch die vorliegende Ausgabe von Internationales Verkehrswesen hierzu einige Anregungen gibt. Einige Beiträge beschäftigen sich mit den mannigfaltigen Aspekten der oben angesprochenen Preis- und Tarifpolitik, die von Gerechtigkeitsfragen über Vereinfachung der Tarifstrukturen bis hin zur Medienberichterstattung reichen. Für die Erreichung eines akzeptablen Leistungsniveaus spielt die Verbesserung der Infrastruktur eine entscheidende Rolle. Deswegen hat sie auch in diesem Heft wieder einen großen Stellenwert. Wobei auch hier nicht nur auf die Herausforderung eingegangen wird, sondern auch die Zukunft der Schieneninfrastruktur in Deutschland aus wissenschaftlicher Sicht analysiert und diskutiert wird. Beiträge über Digitalisierung, Schifffahrt und die Sicherheit an Flughäfen runden eine inhaltsreiche Ausgabe ab. Ich hoffe, die Lektüre bringt Ihnen viele neue Erkenntnisse, und wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen. Ihr Sebastian Kummer Univ. Prof. Dr., Vorstand des Institutes für Transportwirtschaft und Logistik, WU Wien Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 4 Aktuelle Themen, Termine und das umfangreiche Archiv finden Sie unter www.internationales-verkehrswesen.de POLITIK INFRASTRUKTUR 20 Qualitätsmanagement im Verkehr zur Insel Sylt Flexibilisierung des Betriebs auf einem hoch belasteten Streckenabschnitt Jens Gertsen WISSENSCHAFT 24 Erfolgreiche Zukunft des-Schienenverkehrs in Deutschland? Bewältigung aktueller Herausforderungen ohne beschleunigten Infrastrukturausbau nicht möglich Fabian Stoll Bastian Kogel 32 Graphenbasierter Ansatz zur digitalen Abbildung des Regelwerks im Infrastrukturbau Vitali Schuk Ullrich Martin LOGISTIK Hindenburgdamm. Foto: Wolfgang Claussen / pixabay SEITE 20 Foto: Emslichter / pixabay SEITE 42 Foto: Oliver Güth / Kölner Verkehrs-Betriebe AG SEITE 12 10 Mobilitätswende in Stadt und-Land Klimaschutz und räumliche Gerechtigkeit als Transformationsziele des Verkehrs - Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Digitales und Verkehr 12 Tarife im ÖPNV Niedrige Preise oder einfacher Zugang: Was ist den Nutzenden wichtiger? Daniel Kistner WISSENSCHAFT 16 Emissionswirkungen der-2021 reformierten KFZ-Steuer Joschka Flintz Manuel Frondel Marco Horvath Beilagenhinweis Bitte beachten Sie die dieser Ausgabe beiliegenden Informationen der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg mbH. 39 Transkaspische Route Die Zukunft des Gütertransports zwischen Asien und Europa? Ralf Elbert Johannes Rentschler 42 Digitales Testfeld Air Cargo Open Source für die Luftfracht Lars Mehrtens Oliver Ditz Manuel Wehner THEMEN, SCHLAGWORTE, AUTOREN, … Schlagen Sie einfach nach: Fach- und Wissenschafts-Artikel aus Internationales Verkehrswesen finden Sie-ab dem Jahr 2000 online in der Beitragsübersicht - auf der Archiv-Seite im Web. www.internationalesverkehrswesen.de/ archiv Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 5 INHALT Mai 2023 TECHNOLOGIE RUBRIKEN 03 Editorial 06 Im Fokus 09 Kontrapunkt 15 Bericht aus Brüssel Forum 75 Veranstaltungen 76 Standpunkt: Game-Changer Deutschlandtakt 82 Impressum | Gremien Foto: Erge / pixabay SEITE 54 Foto: Noname13 / pixabay SEITE 66 MOBILITÄT 46 ÖV-Angebote während der Fluchtbewegungen 2015 und 2022 Antje-Mareike Dietrich Ivan Kuritsyn 49 Wie einfach wird die Tarifwelt unterhalb des Deutschlandtickets? Konzeptionelle Überlegungen und Erfahrungsberichte Andreas Krämer 54 9-Euro-Ticket: Wendepunkt in-der Verkehrspolitik Von der sozialpolitischen Entlastungsmaßnahme zur verkehrspolitischen Weichenstellung Regina Weber Jonathan Kniep 58 Mit dem Passagierschiff über-den Atlantik Niedergang (und Zukunft? ) der Passagierlinienschifffahrt Thomas N. Kirstein 63 Urban mobility in Ukraine: Eight building blocks for a green recovery What does it need to foster sustainable mobility in post-war Ukrainian cities? Marta Pastukh Mathias Merforth Viktor Zagreba Armin Wagner 66 Optimierte Instandhaltung für-Schienenfahrzeuge Digitalisierung als Grundlage von Innovationen in der Instandhaltung von Schienenfahrzeugflotten Lars Schnieder WISSENSCHAFT 70 Erhöhung der Sicherheit im Flughafen Parameterstudie zum Einsatz von KI zur Optimierung der Reaktionen auf einen nicht zuzuordnenden Gegenstand Andrei Popa Olaf Milbredt Christina Draeger AUSGABE 3 | 2023 Strategie und Technik - Digitaler Wandel - Antriebstechnologie - Rohstoffe - Ressourcen - Multimodalität Erscheint am 1. September 2023 Beilagenhinweis Bitte beachten Sie die dieser Ausgabe beiliegenden Informationen der Technischen Akademie Esslingen e.V. Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 6 IM FOKUS Bundesweites Plattformprojekt soll Produktion regenerativer Kraftstoffe beschleunigen S ynthetische Kraftstoffe aus erneuerbaren Energien, sogenannte reFuels, können in großen Mengen hergestellt und schon heute in fast allen Fahrzeugen eingesetzt werden. Das haben Forschende des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) in großangelegten Projekten wie dem vom Land Baden-Württemberg geförderten Projekt „reFuels - Kraftstoffe neu denken“ bewiesen. Die neue Plattform InnoFuels soll jetzt die vielen nationalen und europäischen Forschungsvorhaben zur Weiterentwicklung, Produktion und Anwendung von Power-to-Liquid- und Biokraftstoffen vernetzen, Synergien aufzeigen und so dabei helfen, insbesondere die Produktion größerer Mengen strombasierter Flüssigkraftstoffe zu beschleunigen. Die aus erneuerbaren Quellen hergestellten synthetischen reFuels gelten als ein Hoffnungsträger im Kampf gegen den Klimawandel. Sie versprechen nicht nur eine bis zu 90-prozentige CO 2 -Reduktion gegenüber herkömmlichen Treibstoffen, sondern erlauben auch die weitere Nutzung der gesamten Tank-Infrastruktur von der Herstellung über den Transport bis zum Vertrieb - und bestehender Fahrzeugflotten mit Verbrennungsmotor, bei historischen und heutigen Autos wie auch bei Nutzfahrzeugen oder Lokomotiven. Bislang werden strombasierte Kraftstoffe vorwiegend im Forschungsmaßstab produziert. Wenn es künftig steigende Beimischungsquoten dieser Kraftstoffe geben soll und genügend reFuels für den Luft- und Schiffsverkehr zur Verfügung stehen sollen, müssen viel größere Mengen auf industrieller Ebene produziert werden. Neben technischen Fragen sollen innerhalb der Plattform InnoFuels deshalb auch die optimale Gestaltung von Regeln und ökonomischen Rahmenbedingungen für die flächendeckende Massenproduktion von re- Fuels erörtert werden. Denn für einen schnellen Markthochlauf bräuchten mögliche Produzenten Klarheit und langfristige Sicherheit, ob erneuerbare strombasierte Kraftstoffe auf die Treibhausgasminderungsquoten zum Erreichen der Klimaschutzziele der Europäischen Union angerechnet würden. www.kit.edu Bild: Markus Breig, Amadeus Bramsiepe / KIT Lagerung und Umschlag flüssiger Energieträger im-Duisburger Hafen geplant D er Duisburger Hafenbetreiber duisport setzt die Standortentwicklung zur zentralen Drehscheibe für erneuerbare Energien fort: Die Duisburger Hafen AG und Koole Terminals B. V., niederländischer Entwickler und Betreiber von Flüssigmassengut- Terminals, wollen gemeinsam ein Tanklager für flüssige erneuerbare Brennstoffe und Rohstoffe wie Ammoniak im Gebiet des Rheinkai Nord in Duisburg-Hochfeld entwickeln. Ammoniak ist ein wichtiger Energieträger für Wasserstoff. Als künftiger Standort wurde ein Grundstück am Rheinkai Nord in Duisburg-Hochfeld gewählt. Die Partnerschaft zwischen duisport und Koole schafft Voraussetzungen und setzt Synergien frei, welche die gesamte Industrieregion Rhein-Ruhr langfristig stärken und Duisburg als zentralen Wasserstoff-Hub kontinuierlich weiter ausbauen und stärken sollen. Das Thema Wasserstoff spielt schon lange eine zentrale Rolle für Duisburg und ist zugleich der Schlüssel für eine nachhaltige Zukunft der Logistik. Am Rheinkai Nord wurde ehemals Kohle gelagert und umgeschlagen, nun sollen künftig grüne Produkte bewegt werden. www.duisport.de Bild: Hans Blossey / duisport Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 7 IM FOKUS Emissionen senken durch nachhaltige Flugkraftstoffe E uropäisches Parlament und Rat haben sich über den Vorschlag „ReFuelEU Aviation“ geeinigt. Sobald die neuen Vorschriften in Kraft sind, werden sie dazu beitragen, den Luftfahrtsektor zu dekarbonisieren, indem die Kraftstoffanbieter verpflichtet werden, Kerosin ab 2025 nachhaltige Flugkraftstoffe (Sustainable Aviation Fuels, SAF) in immer größeren Mengen beizumischen. So sollen sich die jährlichen CO 2 -Emissionen von Luftfahrzeugen bis 2050 um etwa zwei Drittel senken lassen. Die neuen ReFuelEU Aviation-Vorschriften sehen vor, dass Flugkraftstoffanbieter an EU-Flughäfen einen Mindestanteil nachhaltiger Flugkraftstoffe bereitstellen müssen. Der soll von 2 % an den Gesamtkraftstofflieferungen bis 2025 auf 70 % bis 2050 steigen. In der EU muss das neue Gemisch auch einen im Laufe der Zeit steigenden Mindestanteil synthetischer Kraftstoffe enthalten. Luftfahrzeugbetreiber dürfen bei Abflug von EU-Flughäfen nur so viel Kraftstoff tanken wie für den Flug notwendig, unter anderem damit keine durch zusätzliches Gewicht bedingten Emissionen entstehen. Und Flughäfen müssen sicherstellen, dass ihre Betankungsinfrastruktur für den Vertrieb nachhaltiger Flugkraftstoffe bereitsteht und hierfür geeignet ist. Die Vorgaben für die Beimischung nachhaltiger Flugkraftstoffe beziehen sich auf Biokraftstoffe, wiederverwertete kohlenstoffhaltige Brennbzw. Kraftstoffe und synthetische Flugkraftstoffe entsprechend der Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Im Sinne der Nachhaltigkeitsziele wird die Produktion aus Nahrungs- und Futtermittelpflanzen ausgeschlossen. Da die neuen Vorgaben in der gesamten EU gelten werden, gewährleisten sie gleiche Wettbewerbsbedingungen - jedenfalls im EU-Binnenmarkt - sowie Rechtssicherheit für die Kraftstoffproduzenten und tragen dazu bei, die großindustrielle Produktion auf dem gesamten Kontinent anzukurbeln. Die Mengen nachhaltiger Flugkraftstoffe, die EU-Luftfahrtunternehmen unionsweit zur Verfügung stehen, werden damit stetig zunehmen. https: / / commission.europa.eu Bild: Martin Winkler / pixabay HoLa-Projekt: Potenzielle Ladestandorte für E-LKW D er Aufbau von öffentlicher Ladeinfrastruktur für batterieelektrische LKW ist ein wichtiger Baustein zur Elektrifizierung des Straßengüterverkehrs und spielt eine Schlüsselrolle bei der Erreichung der deutschen und europäischen Klimaziele. Im Hinblick auf die Attraktivität von konkreten Standorten besteht jedoch noch Unklarheit. Eine neue Studie des Fraunhofer ISI, die im Rahmen des vom BMDV geförderten Projekts „HoLa - Hochleistungsladen LKW- Fernverkehr“ realisiert wurde, setzt hier an und befasst sich mit der Attraktivität von öffentlichen LKW-Parkflächen und deren potenzieller Eignung für die Ladeinfrastruktur. Als Ausgangspunkt für die Analyse zur Standortattraktivität und künftiger Ladeinfrastruktur-Eignung dienten öffentlich zugängliche Daten zu gegenwärtigen LKW- Parkflächen sowie eine vorherige Studie zu LKW-Halteorten in Europa. Diese Daten wurden mit Informationen zu Standortmerkmalen wie der Anbindung an Autobahnen, dem Vorhandensein von Tankstellen und Autohöfen sowie Industrie- und Geschäftsinformationen aus dem Umfeld kombiniert, aggregiert und anhand einer multikriteriellen Entscheidungssowie Archetypenanalyse untersucht. Die Auswertung von gut 1.700 öffentlichen Standorten verdeutlicht, dass weniger einzelne, sondern die Kombination mehrerer Merkmale entscheidend ist für die Attraktivität eines Standortes: Über 70 Prozent aller Stopps liegt an einem von drei Clustern bestehend aus einer Kombination von Gewerbe- und Industriegebieten, Parkplätzen mit Service-Arealen sowie Rastanlagen. Folglich lautet eine Empfehlung, sich beim Aufbau von öffentlicher Ladeinfrastruktur für E-LKW an Orten zu orientieren, die genau diese Merkmale aufweisen: Hier verweilen schon heute viele LKW für eine gewisse Zeit, und die Fahrer künftiger E-LKW könnten während ihres Ladevorganges vorhandene Serviceangebote nutzen und danach ihre Fahrt zügig fortsetzen. Wo sich die attraktivsten und am besten geeigneten Ladeorte für E-LKW genau befinden könnten, zeigt eine interaktive Karte, die auf Basis von OpenStreetMaps.org (OSM) erstellt wurde. Durch einen Klick auf einzelne Standorte werden deren Geokoordinaten und Attraktivität auf einer Skala von eins „unattraktiv“ bis 100 „hochattraktiv“ angezeigt. Je höher der Wert, desto größer die Eignung für den potentiellen Aufbau einer Ladeinfrastruktur. Die Attraktivität wird zusätzlich durch die Farbskala verdeutlicht. Sollten sich in einem kleinen Umkreis mehrere mögliche Standorte befinden, zum Beispiel auf unterschiedlichen Seiten der Autobahn, so ist lediglich der Mittelpunkt auf der Karte abgebildet. www.hochleistungsladen-lkw.de/ hola-de/ interaktive-standortkarte-ladeinfrastruktur. php Bild: eActros / Daimler Truck AG Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 8 IM FOKUS Smart Window - Augmented Reality für Schiffsführer M it dem Verbundprojekt „Smart Window“ hat das Fraunhofer ISIT gemeinsam mit Partnern aus Industrie und dem Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) an einer intelligenten Lösung zur Implementierung eines Augmented-Reality-Displays auf einer Schiffsbrücke gearbeitet, um zukünftig alle relevanten Daten für den Schiffsbetrieb zu verarbeiten, zu filtern und darzustellen. Wie der Versuchsaufbau (siehe Bild) zeigt, bietet das Einbetten des AR-Displays in ein Fenster der Schiffsbrücke die Möglichkeit, eine Vielzahl von Informationen direkt im Blickfeld des Schiffsführers darzustellen, und so den Schiffsführern ihre Arbeit zu erleichtern. Das Fraunhofer ISIT hat für das neuartige AR-Display als zentrales Element ein scannendes Vollfarben-Laserprojektionssystem entwickelt. Kernstück des Systems ist ein Mikrospiegel aus Silizium. Er ist an zwei senkrecht zueinanderstehenden Achsen aufgehängt. Um diese Achsen kann der Spiegel schwingen, angeregt durch elektrostatische Kräfte. Wird Laserlicht auf den Spiegel geworfen, kann mit einem solchen Spiegel ein beliebiges, für die Anwendung hinreichend großes und gut ausgeleuchtetes Bild auf das Schiffsfenster projiziert werden. Das Vorhaben insgesamt ist sehr anspruchsvoll. Eine Augmented Reality-Ansicht entsteht durch das komplexe Zusammenspiel von Datenaufbereitung, Sensorik und Visualisierung, welche meist speziell für einen Blickwinkel erstellt wird. Um dem Benutzer Informationen so in sein Sichtfeld einzuspielen, dass diese die Realität gezielt anreichern, muss das digitale Modell der Welt mit der Realität in Deckung gebracht werden. So sind globale Daten, wie etwa Positionsdaten aus dem elektronischen Seekartendarstellungssystem, und lokale Daten aus schiffseigenen Sensoren, etwa Radar, zu fusionieren und relativ zum Betrachter wiederzugeben. Das erfordert neben einer enormen Rechenleistung insbesondere Informationen über das Blickfeld des Nutzers, so dass die eingeblendeten Daten aus dessen Sicht klar den realen Objekten zugeordnet werden können. Bewegt sich der Nutzer, muss dies in Echtzeit nachvollzogen und das virtuelle Bild entsprechend nachgeführt werden. Diese Tracking-Funktion übernimmt eine 3D- Kamera, die auch bei den schwachen Lichtverhältnissen auf einer nächtlichen Schiffsbrücke robust und exakt funktionieren muss. Das Projekt Smart Window hat große Bedeutung für die steigenden Anforderungen an die aktuelle Transport- und Versorgungsinfrastruktur angesichts der zunehmenden Globalisierung. Die Schifffahrt spielt hier eine besondere Rolle. Denn während Lastwagenfahrer und Lokführer an die Infrastruktur des Straßen- und Schienennetzes gebunden sind und Piloten sich weltweit auf eine elektronische Überwachung und Steuerung verlassen können, sind Schiffe vielerorts häufig noch auf sich allein gestellt. Mit Smart Window wären aktuelle umfangreiche Informationen zur Navigation, dem Wetter und kreuzenden Schiffen in Echtzeit verfügbar, genauso wie Informationen zum technischen Status des Schiffes und der Funktionsfähigkeit vieler Subsysteme. www.isit.fraunhofer.de Bild: Fraunhofer ISIT Intelligente kooperative Verkehrssysteme sollen Radfahrer besser schützen V ernetzung und Automatisierung von Fahrzeugen bieten eine große Chance, auch die Sicherheit von Radfahrenden zu erhöhen. In Salzburg wurden erstmals drahtlose Kommunikationskanäle zwischen unterschiedlichen Fahrzeugen, Fahrrädern und der Infrastruktur unter realen Bedingungen validiert. Forschende aus Österreich und Deutschland haben eine Methode für die kooperative Erkennung von Kollisionsrisiken erprobt und Warnkonzepte für Radfahrende entwickelt. Verkehrsunfälle mit Fahrrädern nehmen seit Jahren stetig zu. 2015 verzeichnete die Verkehrsunfallstatistik der Statistik Austria 6.901 Verkehrsunfälle mit Fahrrädern, 2021 waren es bereits 9.578. Die Anzahl der Getöteten betrug in diesem Zeitraum bis zu 50 Radfahrende pro Jahr. Die Unfälle mit anderen beteiligten Fahrzeugen ereigneten sich dabei meist bei einer Abbiegesituation in einem Kreuzungsbereich, wobei das Fahrrad im überwiegenden Fall geradeaus fuhr. Neueste technologische Entwicklungen im Bereich der Fahrzeugkommunikation mittels ITS-G5, der Fahrradlokalisierung, der Umfeldwahrnehmung des vernetzen und automatisierten Fahrzeugs mittels Kamera und LiDAR-Sensorik sowie bei straßenseitiger Sensorik mit Kameras schafften die Grundlagen für kooperative Lösungsansätze zur Detektion und Vermeidung von Kollisionsrisiken. Verletzliche Verkehrsteilnehmende wie Fahrradfahrende sollen dabei nicht nur erkannt, sondern aktiv in die Kollisionsvermeidung mit einbezogen werden. Das bringt einen Mehrwert auf mehreren Ebenen: Radfahrende werden frühzeitig vor Kollisionen gewarnt, um gefährliche Situationen zu erkennen und Unfälle zu vermeiden. Vernetzte Fahrzeuge und Fahrassistenzsysteme können Radfahrende durch eine verbesserte Detektionsqualität sowie aktive Kommunikation zuverlässiger erkennen und frühzeitig reagieren. Kommunen und Infrastrukturbetreiber erhalten objektive Bewertungen von Risikozonen an Verkehrsknotenpunkten und können diese durch gezielte Maßnahmen vorbeugend entschärfen. Im Forschungsprojekt wurden unterschiedliche Lösungsansätze analysiert, um geeignete und sichere Methoden auswählen zu können. Die vielversprechendsten Methoden wurden in einem kontrollierten Experiment getestet und jeweils in drei Szenarien an zwei Testkreuzungen im ländlichen und urbanen Bereich erprobt. In allen sechs getesteten Szenarien konnten riskante Situationen mit Kollisionsrisiko nachgestellt und Kollisionswarnungen erzeugt werden. www.bike2cav.at Bild: Salzburg Research / wildbild Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 9 Alexander Eisenkopf KONTRAPUNKT Gemeinwohlorientierung der-Schieneninfrastruktur als semantische Innovation D ie deutsche Finanzpolitik hat den Reiz von Sondervermögen wiederentdeckt: Es gibt mittlerweile einen Finanzmarktstabilisierungsfonds, den Wirtschaftsstabilisierungsfonds als Schutzschild gegen die Folgen der Covid 19-Pandemie, einen Klima- und Transformationsfonds und nicht zuletzt das Sondervermögen Bundeswehr. Sondervermögen sind politökonomisch attraktive Konstruktionen. Ausgaben und Schulden werden in Schattenhaushalte überführt und dem Publikum mit dem Begriff „Vermögen“ das Gegenteil von dem suggeriert, was tatsächlich passiert: Es werden vor allem Schulden gemacht, die zukünftige Haushalte belasten. Auch das ehemalige Sondervermögen Deutsche Bundesbahn sorgte zuverlässig für Wertvernichtung, die am Ende zu einem Schuldenstand von rd. 34 Mrd. EUR führte. Im Zuge der Gründung der Deutschen Bahn AG wurden diese Altschulden im „Bundeseisenbahnvermögen“ geparkt, dem auch die Altlasten in Form ehemaliger Bundesbahnbeamten und Versorgungsempfänger zugewiesen wurden. Dieses „Sondervermögen“ beansprucht bis heute jährlich Haushaltsmittel in Milliardenhöhe - von 2023 bis 2026 rund 5,5-Mrd. EUR p.a. - zur Defizitdeckung. Aus der 1994 weitgehend schuldenfreien DB AG ist fast 30 Jahre später ein komplexer, stark diversifizierter Konzern geworden, dessen Nettofinanzschulden wieder die Größenordnung von 30 Mrd. EUR erreichen - und dies, obwohl Investitionen in Aus- und Neubau der Schieneninfrastruktur seit der Jahrtausendwende im Wesentlichen über verlorene Zuschüsse des Bundes finanziert wurden und mittlerweile auch die Erhaltung des Bestandsnetzes über die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen massiv bezuschusst wird. Zu allem Überfluss fordert die DB AG bis zum Jahr 2030 bis zu 80 Mrd. EUR zusätzliche Mittel für eine Generalsanierung der Infrastruktur - ein Fass ohne Boden. Vor diesem Hintergrund mahnt der Bundesrechnungshof ein grundlegendes Umsteuern in der Bahnpolitik an, damit der Sanierungsfall DB AG nicht das System Eisenbahn insgesamt torpediert. Hierzu gehöre es laut Rechnungshof, nachvollziehbare Ziele für das System Eisenbahn zu entwickeln, deren Kosten vollumfänglich zu ermitteln und einen realistischen Umsetzungszeitraum dafür abzuschätzen. Insbesondere sollten Management- und Finanzressourcen der DB AG endlich auf die Probleme des Schienennetzes und Schienenverkehrs in Deutschland fokussiert werden, statt mehr oder weniger erfolgreich Nahverkehr im Ausland und internationale Logistik zu betreiben. Da der integrierte Konzern die Dauerkrise der DB AG nicht verhindert habe, sei auch die Konzernstruktur neu auszurichten. Die Forderung des Rechnungshofs nach einer Ausgliederung der bundeseigenen Infrastruktur aus dem Bahnkonzern verhallte in der Bundesregierung selbstverständlich ungehört. Stattdessen wird dort vor allem semantische Innovation betrieben und das fehlende Geld beim Straßengüterverkehr eingesammelt. Das Konstrukt einer gemeinwohlorientierten Infrastruktur innerhalb eines aktienrechtlich verfassten Konzerns DB AG muss zwangsläufig eine Totgeburt bleiben. Trotz millionenschwerer externer Gutachten werden seine umfänglichen Anreiz- und Governance-Probleme weder abschließend erkannt noch gelöst werden können. Selbstverständlich hat die Konzernführung der DB AG in einem solchen Konstrukt immer ein Interesse, Regelungen durchzusetzen, welche die Infrastruktur weiterhin als finanzpolitischen Verschiebebahnhof nutzbar und die Politik erpressbar machen. Im Reformprozess wird sie ihre Vorstellungen einer gemeinwohlorientierten Infrastruktur gnadenlos durchsetzen. Dass man bereit ist, alle Wünsche der Konzernführung zu befriedigen, zeigen die aktuellen Beschlüsse der Koalition, 45 Mrd. EUR für Infrastrukturmaßnahmen bis zum Jahr 2027 bereitzustellen. Die Gegenfinanzierung dieses „Sondervermögens“ soll über eine neue CO 2 -Komponente der LKW-Maut ermöglicht werden, die rechnerisch einer Verdopplung der bisherigen Mautsätze entspricht. Politökonomisch und kommunikativ ist dies ein Volltreffer, da eine inflationstreibende Abgabenerhöhung durch ein klimapolitisches Heilsversprechen kaschiert wird. Mit vernünftiger Klimapolitik hat das aber genauso wenig zu tun wie die gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft mit guter Bahnpolitik. ■ Prof. Dr. rer. pol. Alexander Eisenkopf zu aktuellen Themen der Verkehrsbranche POLITIK Standpunkt Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 10 Mobilitätswende in Stadt und-Land Klimaschutz und räumliche Gerechtigkeit als Transformationsziele des Verkehrs - Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Digitales und Verkehr Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Digitales und Verkehr mahnt eine stärker integrierte Perspektive auf die Transformation von Mobilität und Verkehr in städtisch und ländlich geprägten Regionen an. Lesen Sie hier eine kurze Einführung. Den vollständigen Text der Stellungnahme finden Sie im Web. M obilität und Verkehr stehen in den kommenden Jahren vor einer radikalen Transformation. Die sich zuspitzende Klima- und Ressourcenkrise, die zunehmende Alterung der Gesellschaft und technologischer Wandel - allen voran die Digitalisierung und die Entwicklung neuer Antriebstechnologien - werden sowohl auf der Seite der Nachfrage nach Mobilität und Mobilitätsdienstleistungen als auch auf der Seite des Verkehrsangebots zu gravierenden Veränderungen führen, die einer rahmensetzenden verkehrspolitischen Gestaltung bedürfen. Die Erreichung der Klimaschutzziele im Verkehrssektor setzt eine weitreichende Mobilitätswende voraus, die sich nicht allein in einer Antriebswende erschöpfen darf, sondern die auch darauf abzielt, die Mobilitäts- und Versorgungsansprüche der Bevölkerung mit weniger motorisiertem Verkehrsaufwand - insbesondere solchem mit fossilem Energieeinsatz - sicherzustellen. Bislang offenbart sich die Mobilitätswende sowohl in diskursiver wie auch materieller Hinsicht als großstadtzentriert. Zentrale Leitvorstellungen wie die „Stadt der kurzen Wege“, „15-Minuten-Nachbarschaften“ oder die „Smart City“ beziehen sich meistens auf Herausforderungen, Gegebenheiten und Lebenswirklichkeiten in städtisch geprägten Gebieten. Gleiches gilt für viele verkehrspolitische Programme und Maßnahmen zur Reduzierung des motorisierten Verkehrs und seiner negativen Externalitäten. Beispielhaft zu nennen sind die Diskussionen um PKW-Einfahrbeschränkungen in bestimmten Stadtgebieten („autoarme Innenstädte“ und „autoreduzierte Quartiere“), Initiativen zur Ausweitung von Sharing-Angeboten, Investitionen in die Fahrradinfrastruktur oder Maßnahmen für eine emissionsarme City-Logistik. Während somit die Konturen einer Neuausrichtung der Verkehrspolitik wie auch der Veränderung von Mobilitätspraktiken in urban geprägten Räumen bereits sichtbar werden, erscheint das Verkehrsgeschehen in ländlichen Räumen von „Wendedebatten“ weitgehend unberührt. Abseits der verdichteten Regionen versprechen viele der o.g. Handlungsansätze nur eingeschränkte Wirksamkeit, entweder weil die raumstrukturellen und raumökonomischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung in gering verdichteten Regionen nicht gegeben sind oder weil Maßnahmen bislang nicht hinreichend an die dortigen spezifischen Gegebenheiten angepasst wurden. Auch ignoriert eine großstadtzentrierte Debatte über die Mobilitätswende das Innovationspotenzial in ländlichen Räumen sowie die spezifischen Bedürfnisse der hier lebenden Menschen und hier tätigen Unternehmen. Wenig überraschend offenbaren sich die Mobilitätskulturen in städtischen und ländlichen Räumen als extrem polarisiert. Kommt der Umweltverbund nach der letzten MiD-Erhebung (2017) in Metropolen auf über 60 % aller Wege, sind es in ländlichen Räumen nur 30 %.[1] Mit Blick auf die hohe Bevölkerungszahl und Verkehrsleistung in nicht-urbanen Räumen gefährdet die tatsächliche oder wahrgenommene Autoabhängigkeit die Mobilitätswende und damit auch die Erreichung der gesetzlich festgelegten Klimaschutzziele. Plakativ gesprochen: Das Gelingen der Mobilitätswende entscheidet sich nicht nur in Berlin oder München, sondern auch in den Vororten und auf dem Land. Es gilt, die Dichotomie einer Fußgänger-, Fahrrad- und ÖPNV-freundlichen Stadt und eines autoaffinen ländlichen Raumes zu überwinden. Ein sich im Zuge einer transformativen - an der Dekarbonisierung ausgerichteten - Verkehrspolitik einstellender „Stadt contra Land“-Diskurs wäre in hohem Maße unproduktiv und gesellschaftlich wie politisch schädlich. In Deutschland hat sich seit einigen Jahren eine neue Diskussion über gleichwertige Lebensverhältnisse und räumliche Gerechtigkeit entzündet, die sich in einem breiteren europäischen und internationalen Diskurs über vermeintlich „abgehängte“ ländliche Regionen einordnen lässt.[2] Eng verknüpft mit solchen negativen Zuschreibungen sind Befürchtungen über die Entstehung oder Verfestigung demokratie- und EU-skeptischer politischer Milieus. Insbesondere in der englischsprachigen Fachdebatte wird seit Längerem über Phänomene der „Transportarmut“ bzw. „Mobilitätsarmut“ diskutiert.[3] Als solche gilt das Fehlen von Verkehrsmitteln zur Ermöglichung täglicher Bedürfnisse und/ oder die finanzielle Belastung durch Verkehrsausgaben, die zu einem Resteinkommen (abzüglich der Verkehrsausgaben) unterhalb der Armutsgrenze führt. Mobilitätsarmut ist nicht auf ländliche Räume beschränkt, sie ist dort bei steigenden Verkehrskosten und Fehlen von Alternativen zum privaten PKW aber potenziell schwerwiegender als in Städten. Ein Verzicht auf außerhäusliche Aktivitäten kann mit einer verminderten Teilhabe am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben, mit sinkender Lebensqualität und Unzufriedenheit verbunden sein. Mit dem Befund einer polarisierten Entwicklung zwischen „Stadt“ und „Land“ korrespondiert auch, dass sich Auseinanderset- Standpunkt POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 11 zungen über die Transformation der Mobilität in Städten und ländlichen Gebieten bislang in separierten Diskursarenen von Politik und Wissenschaft vollziehen. Die Mobilitätswende wird zu wenig als integrierte Aufgabe im Stadt-Land-Kontinuum gesehen. Für den ländlichen Raum lässt sich zudem ein eher gering ausgeprägtes Problembewusstsein und eine reaktive Debattenkultur feststellen, in der Mobilitätsthemen nur dann adressiert werden, wenn - wie es derzeit der Fall ist - sprunghaft steigende Raumüberwindungskosten negative ökonomische und soziale Folgewirkungen erwarten lassen. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Digitales und Verkehr sieht hier dringenden Handlungsbedarf: Die Einführung des nationalen Emissionshandels wird die Kosten für die fossile Mobilität zukünftig nach oben treiben. Der damit einhergehende Anstieg der Raumüberwindungskosten trifft die Bevölkerung und Unternehmen aber in regional unterschiedlichem Maße. Verkehrs-, energie- und klimaschutzpolitische Maßnahmen, von denen bislang eher urbane Räume profitieren oder die in ländlichen Räumen soziale Benachteiligungen hervorrufen können - etwa durch eine Mobilitätsarmut einkommensschwächerer Bevölkerungsteile infolge hoher Verkehrskosten -, bergen erhebliche gesellschaftliche Konfliktpotenziale und widersprechen politischen Postulaten „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ und „territorialer Kohäsion.“ Nur mit einer räumlich und sektoral integrierten Handlungsperspektive kann eine Mobilitätswende gelingen, die gleichermaßen effizient in der Erreichung von Klimaschutzzielen und territorial gerecht ist. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat die Entwicklung einer integrierten verkehrspolitischen Rahmenstrategie, mit der Infrastrukturinvestitionen entlang des Stadt- Land-Kontinuums von Governance-Innovationen wie „Stadt-Land- Partnerschaften“, siedlungspolitischen Maßnahmen und diskursiven Strategien begleitet werden. Es gilt, die Erreichung der klima-, sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele im Verkehrssektor mit solchen der räumlichen Gerechtigkeit zu verbinden. Das politische Versprechen einer Mobilitätsgarantie, die unabhängig vom Wohn- und Lebensort gegeben wird, kann diesbezüglich politische und gesellschaftliche Kraft entwickeln. Eine solche Garantie sollte ergänzt werden durch Investitionen in die regionale Verkehrs- und Dienstleistungsinfrastruktur und die Ausschöpfung der Potenziale der Digitalisierung. Mehr Transparenz über die Qualität des öffentlichen Verkehrsangebots abseits der Metropolen kann helfen, die Gewährleistung einer präferenzgerechten und bezahlbaren Mobilität kritisch zu begleiten. Eine Mobilitätsgarantie im Nah- und Regionalverkehr können formal nur Länder und Kommunen aussprechen. Der Bund kann jedoch gemeinsam mit den Ländern einen langfristig orientierten strategischen Handlungsrahmen mit dem Ziel abstecken, den in ländlichen Gebieten lebenden Menschen ein verlässliches Mobilitätsangebot zuzusichern. Dieses kann sich etwa aus Angeboten des SPNV, des Busverkehrs wie auch aus flexiblen ÖPNV-Formen und autonomen Shuttles speisen. Ein akzeptables Verkehrsangebot in jeder Gemeinde in Deutschland bis 2045, wenn die „Netto-Treibhausgasneutralität“ erreicht wird, wäre dabei zu gewährleisten. Der langfristige verkehrspolitische Investitions- und Finanzierungsrahmen kann auch daran ausgerichtet werden. Eine Mobilitätsgarantie zielt ausdrücklich nur auf die Gewährleistung einer Grundversorgung, damit ökonomische und soziale Teilhabechancen in allen Regionen Deutschlands sichergestellt werden. Die Festlegung von konkreten Zielwerten muss daher zwischen verschiedenen Belangen abwägen: einer Attraktivierung des öffentlichen Verkehrsangebots in ländlichen Räumen und einer auch raumordnungspolitisch sinnvollen Entlastung der Großstadtregionen auf der einen Seite und der Vermeidung weiterer Landschaftszersiedelung auf der anderen Seite. Die Verkehrspolitik sollte in Zukunft zudem geeignete Kompensationsmechanismen bei raumbezogenen Benachteiligungen als ungewollte Begleiterscheinung der Transformation etablieren. Ansatzpunkte dafür bietet eine Rückverteilung der Einnahmen aus der CO 2 -Bepreisung auf Ebene privater Haushalte ebenso wie mit Hilfe von räumlich zugeschnittenen Fördermaßnahmen im Bereich des ländlichen ÖPNV. Mit dieser Stellungnahme unterbreitet der Wissenschaftliche Beirat Vorschläge, wie eine Strategie für eine integrierte Mobilitätswende entlang des Stadt-Land-Kontinuums aussehen könnte und welche Maßnahmen geeignet erscheinen, Ziele des Klimaschutzes und die Gewährleistung von Mobilitätsbedürfnissen im urbanen und ländlichen Raum gleichermaßen zu erreichen. ■ QUELLEN [1] Infas, DLR, IVT Research, infas 360 (2019): Mobilität in Deutschland. Ergebnisbericht. Berlin [2] Rodríguez-Pose, A. (2017): The revenge of the places that don’t matter (and what to do about it). In: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society, 11 (1), S. 189-209; Fröhlich, P.; Mannewitz, T.; Ranft, F. (2022): Die Übergangenen strukturschwach & erfahrungsstark. Zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die Große Transformation. Bonn, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung e. V. und Das Progressive Zentrum. [3] Lucas, K.; Mattioli, G.; Verlinghieri, E.; Guzman, A. (2016): Transport poverty and its adverse social consequences. In: Proceedings of the Institution of Cvil Engineers-Transport, Vol. 169, 6, S. 353-365; BMVBS/ BBSR (Hrsg.): Chancen und Risiken steigender Verkehrskosten für die Stadt- und Siedlungsentwicklung unter Beachtung der Aspekte der postfossilen Mobilität. BBSR-Online-Publikation 06/ 2009. Berlin/ Bonn. Die komplette Stellungnahme finden sie hier: https: / / bmdv.bund.de/ SharedDocs/ DE/ Anlage/ G/ wissenschaftlicher-beiratgutachten-mobilitaetswende.html Kontakt Geschäftsstelle des Wissenschaftlichen Beirats im BMVI Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Referat G 12 - Frau Ursula Clever, Robert-Schuman-Platz 1, 53175 Bonn, E-Mail: ursula.clever@bmvi.bund.de Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Digitales und Verkehr Prof. Dr.-Ing. Lutz Eckstein Aachen Prof. Dr.-Ing. Hartmut Fricke Dresden Prof. Dr. Markus Friedrich Stuttgart Prof’in Dr. Astrid Gühnemann Wien Prof. Dr. Hans-Dietrich Haasis Bremen Prof’in Dr. Meike Jipp Berlin Prof’in Dr. Natalia Kliewer Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Knorr Speyer Prof. Dr.-Ing. Ullrich Martin Stuttgart Prof. Dr. Kay Mitusch Karlsruhe Prof. Dr. Stefan Oeter Hamburg Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop Dortmund Prof. Dr. Tibor Petzoldt Dresden Prof. Dr. Gernot Sieg Münster Prof. Dr.-Ing. Peter Vortisch Karlsruhe Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 12 Tarife im ÖPNV Niedrige Preise oder einfacher Zugang: Was ist den Nutzenden wichtiger? Tarif, Ticket, ÖPNV, Befragung, Stated Preference Vor dem Hintergrund der Verkehrswende und der Komplexität der heutigen Tarifsysteme steht die Vereinfachung der Tarife des ÖPNV immer stärker im Fokus. Das aktuellste Beispiel ist das Deutschlandticket. Im Rahmen einer Masterarbeit wurde eine Stated Preference-Befragung durchgeführt, bei der die Befragten in mehreren Wahlsituationen zwischen zwei Tarifen wählen. Diese unterscheiden sich hinsichtlich des Preises, der Beschaffung und der Zugangsart. Die Ergebnisse zeigen, dass alle Tarifeigenschaften einen signifikanten Einfluss auf die Tarifwahl haben. Daniel Kistner D erzeit steht die Vereinfachung der Tarifsysteme des ÖPNV in Deutschland so stark im Fokus von Politik und Gesellschaft wie noch nie zuvor. Nach dem Angebot des 9-Euro-Tickets im Sommer vergangenen Jahres steht nun mit dem Deutschlandticket ein längerfristig ausgelegter Nachfolger fest. Durch derartige bundesweit gültige Tarifangebote entfällt für die regelmäßigen Nutzenden die teils kleinteilige Verbundlandschaft und die Nutzung des ÖPNV wird deutlich vereinfacht. Für Personen mit vereinzelter Nutzung bleibt die komplizierte Tariflandschaft jedoch weiterhin bestehen, sodass es dort weiterhin einen großen Bedarf zur Vereinfachung gibt. Eine weitere Möglichkeit zur tariflichen Vereinfachung ist die gänzlich kostenfreie Nutzung, wie es sie im Aus- und Inland bereits vereinzelt gibt. Dieser Artikel beschreibt einen ersten Versuch, die Wirkungen von Kostenfreiheit und Zugangsvereinfachungen auf die Wahl der Tarife zu quantifizieren. Als Grundlage dafür dient eine Stated Preference-Befragung. Praxisbeispiele kostenfreier und vereinfachter Tarife Neben den erwähnten deutschlandweiten Tarifen gibt es viele weitere Beispiele zur Umsetzung von kostenfreien und vereinfachten Tarifen. So gibt es unter anderem in Luxemburg und der Stadt Monheim am Attribut Ungünstigste Ausprägung (-1) Mittlere Ausprägung (0) Günstigste Ausprägung (1) Preis (x1) 20 EUR/ Monat 10 EUR/ Monat 0 EUR/ Monat Beschaffungshäufigkeit (x2) Alle 2 Wochen Monatlich Einmalig Beschaffungsdauer (x3) 60 Minuten 30 Minuten 5 Minuten Zugangsart (x4) Check-in/ Check-out Nur Check-in Kein Check-in/ Check-out Tabelle 1: Ausprägungen der Attribute Eigene Darstellung POLITIK ÖPNV Foto: Oliver Güth / Kölner Verkehrs-Betriebe AG ÖPNV POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 13 Rhein einen kostenfreien ÖPNV. Die Angebote unterscheiden sich neben ihrer räumlichen Ausdehnung primär auch hinsichtlich des Personenkreises, von dem sie genutzt werden dürfen [1, 2]. Allgemein zeigen Untersuchungen, dass die Fahrgastzahlen durch die Einführung eines kostenfreien ÖPNV ansteigen [3, 4]. Allerdings zeigt sich auch, dass viele Personen, die zuvor zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs waren, auf den ÖPNV wechseln. Eine reine Verlagerung von MIV-Wegen auf ÖPNV-Wege, wie sie aus verkehrsplanerischer Sicht wünschenswert wäre, kann nicht erwartet werden. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf die Induktion von zusätzlichen Wegen im ÖPNV, welche ohne die Kostenfreiheit gar nicht erst auftreten würden [5, 6]. Im Bereich der vereinfachten aber nicht kostenfreien Tarife können verschiedene Zugangsarten unterschieden werden. Neben dem konventionellen Ein- und Ausstieg ohne jegliche Kontrolle gibt es Check-In/ Check-Out-Systeme. Dabei müssen die Fahrgäste ihre Fahrtberechtigung beim Ein- und Ausstieg vor ein Lesegerät halten (z. B. OV-chipkaart in den Niederlanden [7]), alternativ kann auch ein Handy mit Ortungsfunktion genutzt werden (z. B. eezy. nrw [8]). Eine Vereinfachung entsteht für die Nutzenden, da die Tarife im Hintergrund automatisch berechnet werden. Weitere Vereinfachungen bieten Check-In/ Be- Out-Systeme mit automatischer Erkennung des Ausstiegs sowie eine komplett automatische Detektion des Ein- und Ausstiegs über Smartcards oder Smartphones (Walk-In/ Walk-Out bzw. Be-In/ Be-Out). Durch derartige Systeme werden die tariflichen Hürden beim Fahrscheinkauf gesenkt oder entfallen komplett. Zudem bietet sich die Möglichkeit, die in Anspruch genommene Leistung genau und ohne zusätzlichen Aufwand für den Kunden im Hintergrund abzurechnen. Oftmals besteht hier auch eine hohe Relevanz für Gelegenheitsfahrgäste [9]. Erstellung der Stated Preference- Befragung Zur Untersuchung des Einflusses der Kostenfreiheit und der Vereinfachung des Zugangs auf die Tarifwahl erfolgte der Pretest einer Stated Preference-Befragung mit anschließender Auswertung. Im Kern der Befragung sind in neun Situationen jeweils zwei Tarife zur Auswahl gegenübergestellt. Per Zufall wurden die Befragten in zwei Blöcke aufgeteilt, sodass es insgesamt 18 Wahlsituationen gab. Die Tarife unterscheiden sich hinsichtlich der Attribute Preis, Beschaffungshäufigkeit, Beschaffungsdauer und Zugangsart. Dabei simulieren die Beschaffungshäufigkeit und die Beschaffungsdauer einen Beschaffungsvorgang, der je nach Ausprägung auch regelmäßig wiederkehren kann. Die Zugangsart gibt an, ob beispielsweise ein Check-In/ Check-Out erforderlich ist. Tabelle 1 zeigt die verwendeten Ausprägungen der vier Attribute. Um den Einfluss der einzelnen Attribute auf das Wahlverhalten ermitteln zu können, unterliegen die Konstellationen in den Fragen einem orthogonalen Design. Dadurch entsteht ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Attributsausprägungen, und Korrelationen zwischen den Attributen werden verhindert [10, 11]. Neben den Stated Preference-Fragen enthält die Befragung auch Fragen zur Einschätzung von Tarifen, soziodemographischen Daten und dem aktuellen Verkehrsverhalten. Die Verbreitung erfolgte online über verschiedene Kanäle im Juni 2022, also kurz nachdem das 9-Euro-Ticket eingeführt wurde. Einfluss von Preis, Zugang und Soziodemographie Die Ergebnisse der eigenen Befragung bestätigen die zu Beginn beschriebene Notwendigkeit der Vereinfachung des heutigen Tarifsystems. Dieses wird von den meisten Befragten als kompliziert eingeschätzt (Bild- 1). Zudem steht die Mehrzahl der Befragten einem kostenfrei nutzbaren ÖPNV sehr positiv gegenüber. Bei nahezu allen Gegenüberstellungen wählt die Mehrheit der Personen den preislich günstigeren Tarif. Lediglich in einer Situation mit geringem Preisunterschied, aber einem vergleichsweise hohen Beschaffungsaufwand gewinnt der leicht teurere Tarif mehr an Zuspruch. Nach dem geringsten Preis weist nach einem großen Abstand die einfachste Zugangsart das stärkste lexikographische Wahlverhalten auf. Lexikographisches Verhalten liegt bei den Personen vor, die in allen Entscheidungssituatio- 8% 20% 34% 17% 10% 7% 2% 2% 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% sehr kompliziert 1 2 3 4 5 6 7 sehr einfach 8 Anteil an n = 143 Antworten Wie schätzen Sie das heutige Tarifsystem im öffentlichen Nahverkehr ein? Bild 1: Einschätzung des heutigen Tarifsystems im ÖPNV Eigene Darstellung Attribut Ausprägung (nur bei kategorialen Variablen) Parameter (Estimate) p-Wert Signifikanz Preis - -0,1288637 < 2,2e-16 *** Beschaffungshäufigkeit Einmalig 1,584482 < 2,2e-16 *** Monatlich 1,3047115 < 2,2e-16 *** alle 2 Wochen 0 0 (Referenzniveau) Beschaffungsdauer - -0,0188293 6,39E-11 *** Zugangsart Kein Check-in/ Check-out 1,9598986 < 2,2e-16 *** Nur Check-in 1,168213 < 2,2e-16 *** Check-in/ Check-out 0 0 (Referenzniveau) Signifikanz-Codes: 0 ‘***’ 0,001 ‘**’ 0,01 ‘*’ 0,05 ‘.’ 0,1 ‘ ’ 1 Log-Likelihood: -541,27 Tabelle 2: Ausgabe des multinomialen Logit-Modells Eigene Darstellung basierend auf [14] POLITIK ÖPNV Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 14 nen nur aufgrund von einem Attribut (z. B. geringster Preis) wählen [12, 13]. Die soziodemographischen Daten haben insgesamt nur einen geringen Einfluss auf die Einschätzung der Tarife. So schätzen Frauen die heutigen Tarife etwas leichter verständlich ein und stehen der Einführung eines kostenfreien ÖPNV etwas positiver gegenüber als Männer. Eine ähnliche Einschätzung kommt von der Gruppe der ÖPNV- Nutzenden. Personen, die in Vollzeit berufstätig sind oder sich in einer Berufsausbildung befinden, stehen dem kostenfreien ÖPNV hingegen geringfügig kritischer gegenüber. Eine tiefergehende statistische Auswertung des Wahlverhaltens mithilfe eines multinomialen Logit-Modells und des Chi- Quadrat-Tests liefert weitere Aussagen über die Signifikanz der einzelnen Variablen (Tabelle 2). Die vier Attribute der Tarife (Preis, Beschaffungshäufigkeit, Beschaffungsdauer und Zugangsart) haben demnach allesamt einen statistisch hochsignifikanten Einfluss auf die Tarifwahl. Im Gegensatz dazu haben die personenbezogenen Daten in der Untersuchung nahezu keinen Einfluss auf die Tarifwahl. Aufgrund des Wahlverhaltens lässt sich zudem der Zeitkostensatz ermitteln, der eine Monetarisierung der Beschaffungszeit angibt. Innerhalb der Stichprobe liegt der Zeitkostensatz für eine Stunde Beschaffungsdauer bei 9 EUR. Dies liegt im Bereich des Mindestlohns zum Befragungszeitpunkt und ist somit verglichen mit Arbeitslöhnen ein eher geringer Zeitwert [15]. Allerdings muss auch beachtet werden, dass die Stichprobe der Befragung nicht repräsentativ ist und der Fragebogen überwiegend von jüngeren und männlichen Personen aus dem akademischen Umfeld beantwortet wurde. Zudem sollte die Aufteilung der Fragen auf die Gruppen bei einer weiteren Untersuchung verändert werden, da eine Gruppe wesentlich entschiedenere Mehrheiten lieferte als die andere. Fazit und Ausblick Welche Schlüsse lassen sich aus der Befragung nun für die Praxis ziehen? Es zeigt sich, dass der Preis bei ÖPNV-Tarifen die größte Lenkungswirkung hat. Teurere Tarife werden von der Mehrheit nur dann gewählt, wenn die Alternative hinsichtlich anderer Aspekte deutlich schlechter ist (z. B. aufwändigere Beschaffung). Auch die Beschaffungsdauer, die Beschaffungshäufigkeit und die Zugangsart der jeweiligen Fahrtberechtigung haben einen signifikanten Einfluss auf die Tarifwahl. Grundsätzlich ist aus reiner Fahrgastsicht deshalb der Preis möglichst gering und der Zugang möglichst einfach zu halten. Die Umsetzung ist beispielsweise mithilfe von elektronischen Tarifen möglich. Auch ein kostenfreier ÖPNV ist für die Fahrgäste sehr attraktiv, hier können aber Probleme bei der Finanzierung auftreten. Während für Gelegenheitsnutzende des ÖPNV eine weitere Vereinfachung der Tariflandschaft erforderlich ist, entsteht mit der Einführung des Deutschlandtickets vor allem im Bereich der Abo-Tickets eine deutliche Vereinfachung. Hier sind die genauen Wirkungen auf Kunden- und Anbieterseite weiter zu untersuchen. Allerdings ist auch zu beachten, dass neben der Vereinfachung der Tarife auch der Ausbau des Angebots im ÖPNV erforderlich ist, um die Attraktivität zu steigern. ■ Die genannte Masterarbeit wurde betreut durch Niklas Höing, M. Sc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, ISB, RWTH Aachen. LITERATUR [1] Stadt Monheim am Rhein (2021): Hilfe-Center zum Monheim-Pass. Alle Fragen zum Thema Mein Monheim-Pass. www.monheim.de/ monheim-pass/ helpcenter/ MHP_CARD (Abruf: 11.04.2022) [2] Le Gouvernment du Grand-Duché de Luxembourg (2022): Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV). https: / / luxembourg.public.lu/ de/ leben/ mobilit%C3%A4t/ oeffentlicher-personennahverkehr.html (Abruf: 11.04.2022) [3] Andor, M. A.; Fink, L.; Frondel, M.; Gerster, A.; Horvath, M. (2021): Kostenloser ÖPNV: Akzeptanz in der Bevölkerung und mögliche Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten. In: List Forum 46 (3), S.-299-325. DOI: 10.1007/ s41025-020-00207-y [4] Inturri, G.; Fiore, S.; Ignaccolo, M.; Caprì, S.; Le Pira, M. (2020): “You study, you travel free”: when mobility manage-ment strategies meet social objectives. In: Transportation Research Proce-dia 45, S.-193-200. DOI: 10.1016/ j.trpro.2020.03.007 [5] Cats, O.; Susilo, Y., O.; Reimal, T. (2017): The prospects of fare-free public transport: evidence from Tallinn. In: Transportation 44 (5), S.-1083-1104. DOI: 10.1007/ s11116-016-9695-5 [6] Mocanu, T. (2019): Verkehrliche Auswirkungen eines deutschlandweit kostenfreien ÖPNV. Präsentation bei den Nahverkehrs-Tagen 2019. www.mowin.net/ fileadmin/ mowin/ dokumente/ Nahverkehrstage/ 2019/ 10_Herr_Mocanu_Verkehrliche_Auswirkungen_ eines_deutschlandweit_kostenfreien_OEPNV.pdf (Abruf: 08.04.2022) [7] Translink (2019): What is the OV-chipkaart? www.ov-chipkaart.nl/ purchase-an-ov-chipkaart/ what-is-the-ov-chipkaart.htm (Abruf: 20.04.2022) [8] VRS (2022): So funktioniert eezy.nrw. Verkehrsverbund Rhein-Sieg GmbH, Kompetenzcenter Marketing NRW. https: / / eezy.nrw/ de/ hilfe/ so-funktioniert-eezy-nrw (Abruf: 20.04.2022) [9] Wirtz, M. (2014): Flexible Tarife in elektronischen Fahrgeldmanagementsystemen und ihre Wirkung auf das Mobilitätsverhalten. Hrsg. v. Peter Vortisch, P. (2014): Karlsruher Institut für Technologie (KIT) (Schriftenreihe des Instituts für Verkehrswesen, 71. https: / / publikationen.bibliothek.kit.edu/ 1000040412/ 3205083 (Abruf: 07.04.2022) [10] Hensher, D. A. (1994): Stated Preference Analysis of Travel Choices: The State of Practice. In: Transportation 21, S. 107-133. DOI: 10.4324/ 9780203985359-12 [11] ChoiceMetrics (2018): Ngene 1.2 User Manual & Reference Guide. The Cutting Edge in Experimental Design [12] Hess, S.; Rose, J. M.; Polak, J. (2010): Non-trading, lexicographic and inconsistent behaviour in stated choice data. In: Transportation Research Part D: Transport and Environment 15 (7), S. 405-417. DOI: 10.1016/ j.trd.2010.04.008 [13] Spash, C. L. (2000): Ecosystems, contingent valuation and ethics: the case of wetland re-creation. In: Ecological Economics 34 (2), S.-195-215. DOI: 10.1016/ S0921-8009(00)00158-0 [14] Croissant, Y. (2017): Estimation of multinomial logit models in R: The mlogit Packages. https: / / mran.microsoft.com/ snapshot/ 2017-02-04/ web/ packages/ mlogit/ vignettes/ mlogit.pdf (Abruf: 01.08.2022) [15] Bundesregierung (2021): Der gesetzliche Mindestlohn steigt. www. b u n d e s r e g i e r u n g . d e / b r e g d e / a k t u e l l e s / m i n d e s t l o h n steigt-1804568 (Abruf: 09.05.2022) Daniel Kistner, M. Sc. Strategische Fahrwegplanung Kölner Verkehrs-Betriebe AG (KVB), Köln d-f-kistner@web.de Call for Papers 2023 Themen und Termine auf: www.internationales-verkehrswesen.de Ihre neuen Ergebnisse aus Forschung, Wissenschaft und Praxis in Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 15 S o langsam nimmt das EU-Klimaschutzpaket „Fit for 55“, mit dem die Treibhausgasemissionen in der EU bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 verringert werden sollen, Gestalt an. Ein Gesetz nach dem anderen nähert sich der Veröffentlichung im EU-Amtsblatt, nachdem sich Europäisches Parlament und die Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen Text geeinigt haben. Die Neufassung der Emissionshandelsrichtlinie gehört dazu, der zentrale Baustein des Gesetzespakets. Während etliche Verordnungen und Richtlinien aus dem Paket über die Ziellinie rollen, hat die EU-Kommission vor wenigen Wochen noch einen weiteren Klimaschutz-Legislativvorschlag ins Gesetzgebungsverfahren geschickt, der für die Transportwirtschaft wichtig ist: eine Verordnung über neue CO 2 -Grenzwerte für schwere Nutzfahrzeuge. Nach der enormen politischen und medialen Aufregung über den Versuch der deutschen FDP, die in Brüssel fertig ausgehandelten und von der Bundesregierung schon mehrfach gebilligten CO 2 -Grenzwertregeln für PKW und Vans im letzten Moment noch mit Blick auf die Anrechnung von E-Fuels abzuändern, ist wohl auch bei den schweren Nutzfahrzeugen mit spannenden Diskussionen zu rechnen. Bemerkenswert ist, dass die Kommission für LKW und Busse - anders als für Lieferwagen und PKW - kein Datum vorgeschlagen hat, ab dem nur noch neue Fahrzeuge in der EU zugelassen werden dürfen, bei denen gar kein Kohlendioxid mehr aus dem Auspuff kommt. Bekommen die Vorschläge eine Mehrheit in Europäischem Parlament und EU-Ministerrat, dürfen Nutzfahrzeughersteller auch 2040 noch jeden zehnten LKW mit Verbrennungsmotor auf den EU-Markt bringen. Einen solchen dürften auch Fahrzeuge von Feuerwehr, Militär, Katastrophenschutz et cetera haben. Der Umweltverband Transport & Environment schätzt, dass das weitere zehn Prozent der EU-Nutzfahrzeuge sein könnten. Alle diese LKW sind dann wahrscheinlich auch 2050 noch unterwegs, wenn die EU klimaneutral sein will. Trotzdem ist der Kommissionsvorschlag immer noch ein mächtiges Signal dafür, dass die EU im Straßengüterverkehr auf Fahrzeuge setzen soll, die batterieelektrisch oder mit Wasserstoff - entweder über eine Brennstoffzelle oder durch direkten Einsatz in einem für Wasserstoff geeigneten Verbrennungsmotor - angetrieben werden. Die Rolle von synthetischen E-Fuels und Biokraftstoffen in Verbrennungsmotoren bleibt auf zehn bis maximal 20 Prozent begrenzt. Im Gesetzgebungsprozess wird mit Sicherheit erneut leidenschaftlich diskutiert werden, ob das nicht mehr oder weniger sein sollte. Eigentlich täte die EU besser daran, diese Frage den Markt entscheiden zu lassen und sich auf einen Ordnungsrahmen zu konzentrieren, der klimafreundlichere Treibstoffe erzwingt - durch CO 2 -Emissionshandel, Energiesteuerrichtlinie, die Richtlinie für Erneuerbare Energie und Kraftstoffqualitätsstandards. Wenn dann E-Fuels im Straßengüterverkehr deutlich teurer bleiben als der direkte Einsatz von Strom, wie das viele prophezeien, würden sich Transportunternehmen von allein dagegen entscheiden. Zwei Argumente für eine stärkere politische Steuerung wiegen allerdings schwer. Zum einen triebe eine zunächst starke Nutzung von E-Fuels auch für LKW den Bedarf an „grünem“ Strom noch weiter nach oben. Die Erzeugung von Ökostrom ist aber die wirkliche Engstelle bei der angestrebten Energiewende. Zum anderen könnten sich die Akteure beim parallelen Aufbau von Tank- und Ladeinfrastruktur für E-Fuels, Biokraftstoffe, Wasserstoff und Strom verzetteln, was den Aufbau eines ausreichenden Netzes zur Versorgung von Wasserstoff- und E-LKW verzögern würde. Mit diesem Netz steht und fällt aber der Erfolg der ganzen Klimaschutzstrategie für den Straßenverkehr. Gelingt es nicht, die notwendige Ladeinfrastruktur rechtzeitig bereitzustellen, kann sich Strom als der mutmaßlich günstigste Antrieb im Straßenverkehr nicht durchsetzen. Noch höhere Kosten und noch größere Mühen, andere nachhaltige Kraftstoffe in ausreichender Menge zu erzeugen, wären die Folge. Die LKW-Hersteller fürchten, dass sie am Ende Strafen für verpasste CO 2 -Grenzwerte zahlen müssen, weil die Ladeinfrastruktur noch löchrig und Diesel noch zu billig ist und Transportunternehmen ihre E-LKW deshalb nicht ausreichend nachfragen. Wenn die EU daran glaubt, dass Strom der günstigste nachhaltige Treibstoff für LKW sein wird, muss sie sich vor allem um die richtigen Preissignale und den Aufbau der nötigen Infrastruktur kümmern. Die EU-Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass ausreichend Ökostrom erzeugt wird und die Stromnetze für seinen Transport da sind, dass der Aufbau von Ladesäulen zum Geschäftsmodell werden kann und dass ein ausreichend hoher CO 2 -Preis den Einsatz der nachhaltigsten Antriebe lukrativ macht. Das ist am Ende wichtiger als die Anzahl der nach 2040 noch erlaubten Verbrennungsmotoren in LKW und Bussen. ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN Klimaschutz im Straßengüterverkehr - mehr als die Quote für Verbrenner Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 16 POLITIK Wissenschaft Emissionswirkungen der-2021 reformierten KFZ-Steuer Zulassungsteuer, Automobilflotte, Spezifische CO 2 -Emissionen Im Jahr 2021 wurde die emissionsabhängige Komponente der Kfz-Steuer angepasst und progressiv gestaltet, sodass sich die Steuerbelastung für Fahrzeuge mit hoher Emissionsintensität überproportional erhöht hat. Vor diesem Hintergrund analysiert dieser Beitrag die Effektivität der reformierten KFZ-Steuer in Bezug auf ihre Lenkungswirkung und ihr Einsparpotential an Kohlendioxid (CO 2 ). Joschka Flintz, Manuel Frondel, Marco Horvath D er private Automobilverkehr ist für etwa 60 % der Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors verantwortlich (Destatis, 2020). Der Ausstoß an Kohlendioxid (CO 2 ) nahm im privaten Automobilverkehr in den vergangenen Jahrzehnten zu, zwischen 1995 und 2019 um rund 5 %. Dieser Anstieg ist mit einer der Gründe, warum die Kraftfahrzeug-Steuer in Deutschland wieder einmal reformiert wurde. So wurde die emissionsabhängige Komponente der KFZ-Steuer zu Beginn des Jahres 2021 so angepasst, dass sich die Steuerbelastung für Fahrzeuge mit hoher Emissionsintensitt überproportional erhöht. Seit 1. Januar 2021 steigt der KFZ-Steuerbetrag nun nicht mehr linear mit der CO 2 -Emissionsrate an, sondern progressiv. Bezüglich der Effektivität dieser Steuerreform äußerten sich kritische Stimmen aus der Politik und von Umweltschutzverbänden. Doch bereits zuvor gab es Kritik am deutschen KFZ-Steuersystem, denn im europäischen Vergleich liegt die durchschnittliche KFZ-Steuerbelastung bei einer annualisierten Betrachtung traditionell im unteren Drittel. Für die hohe Besteuerung von Autobesitz in anderen europäischen Ländern ist vor allem die beim Fahrzeugkauf anfallende Zulassungssteuer verantwortlich. Eine Zulassungssteuer fällt zum Beispiel in Ländern wie Dänemark, den Niederlanden und Irland an und wird einmalig beim Autokauf bezahlt. Beispielsweise musste in Dänemark im Jahr 2021 eine Zulassungssteuer von 85 % des Kaufpreises gezahlt werden, wenn der Kaufpreis inklusive Mehrwertsteuer unter 204.600 Kronen (derzeit rund 27.000 EUR), aber über 65.800 Kronen (aktuell knapp 9.000 EUR) lag (ACEA 2022). Lag der Kaufpreis über 204.600 Kronen, musste für den darüber liegenden Betrag 150 % Luxussteuer gezahlt werden, lag er unter 65.800 Kronen fielen 25 % Zulassungsteuer an. Vor diesem Hintergrund werden hier die Ergebnisse der Simulationsanalyse von Flintz, Frondel und Horvath (2022) zur Effektivität der jüngsten Reform der KFZ- Steuer in Bezug auf ihre Lenkungswirkung und ihr CO 2 - Einsparpotential präsentiert. Als Datengrundlage diente ein umfangreicher Panel-Datensatz zu den monatlichen Fahrzeugneuzulassungen in Deutschland im Zeitraum von Januar 2011 bis April 2019. KFZ-Steuerreformen Zum 1. Juli 2009 trat in Deutschland ein KFZ-Steuermodell mit einer emissionsabhängigen Komponente in Kraft. Damit folgte Deutschland den Empfehlungen der Europäischen Union und dem Beispiel vieler europäischer Mitgliedstaaten. Die Bemessungsgrundlage der KFZ-Steuer für Fahrzeuge, die nach dem 1. Juli 2009 zugelassen wurden, setzt sich seither aus dem Hubraum, dem Motorentyp und, ab einem bestimmten Grenzwert, der CO 2 -Emissionsrate eines Fahrzeuges zusammen. Mit Einführung der emissionsabhängigen KFZ-Steuer im Jahr 2009 wurde dieser Grenzwert auf 120 g/ km festgelegt. Jeweils zum 1. Januar 2012 und 1. Januar 2014 wurden die Grenzwerte auf 110 bzw. 95 g/ km reduziert. Fahrzeuge mit Emissionen unterhalb des Grenzwertes von 95 g/ km sind von der CO 2 -Komponente der KFZ- Steuer nicht betroffen. Zur Förderung der Elektromobilität entfällt für Halter von Elektroautos die jährliche KFZ-Steuer für die ersten zehn Jahre nach Kauf des Fahrzeuges gänzlich. Die Fahrzeughalter von Benzinern müssen hingegen zusätzlich zur CO 2 -Komponente für 100 Kubikzentimeter Hubraum 2-EUR pro Jahr zahlen, Besitzer eines Diesels 9,50 EUR. Die jüngste Revision der KFZ-Besteuerung, bei der die Besteuerung des Hubraums sowie der Grenzwert der Emissionen Steuersatz 96-115 g/ km CO 2 2,0€ 116-135 g/ km CO 2 2,2€ 136-155 g/ km CO 2 2,5€ 156-175 g/ km CO 2 2,9€ 176-195 g/ km CO 2 3,4€ Über 195 g/ km CO 2 4,0€ Tabelle 1: Die CO 2 -abhängige Komponente der KFZ-Steuer ab dem Jahr 2021 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 17 Wissenschaft POLITIK CO 2 -Komponente von 95 g CO 2 / km unverändert blieben, trat am 1. Januar 2021 in Kraft. Für danach zugelassene Fahrzeuge steigt der zu entrichtende Steuerbetrag nicht mehr länger nur linear mit der Emissionsrate an, sondern progressiv in diskreten Sprüngen. Hierfür wurden die spezifischen CO 2 -Emissionen pro Kilometer zwischen dem Grenzwert von 95 g/ km und dem Schwellenwert von 195 g/ km in fünf gleich große Intervalle der Länge 20 g/ km unterteilt (Tabelle 1). Für die ersten 20 g/ km oberhalb des Grenzwertes von 95 g/ km zahlen Fahrzeughalter jährlich jeweils 2 EUR pro g/ km, für die übrigen Intervalle steigen die Beträge sukzessive an: von 2,20, 2,50 und 2,90 auf 3,40 EUR. Für jedes weitere Gramm über dem Schwellenwert von 195g/ km fallen jeweils 4 EUR jährlich an. Für ein Fahrzeug mit einem spezifischen Ausstoß von beispielsweise 140 g/ km berechnet sich der CO 2 -abhängige Teil der KFZ-Steuer wie folgt: 20mal 2 EUR pro g/ km für die spezifischen CO 2 - Emissionen im Intervall von 96-115 g/ km plus 20mal 2,20 EUR pro g/ km für das Intervall von 116-135 g/ km plus 5mal 2,50 EUR pro g/ km zwischen 136 und 140 g/ km. Die KFZ-Besteuerung wurde darüber hinaus durch ein neues Abgasprüfverfahren beeinflusst: die Worldwide Harmonized Light Duty Vehicles Test Procedure (WLTP). Dieses Verfahren ersetzte den veralteten Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) als Methode zur Bestimmung des Schadstoffausstoßes und ist seit dem 1. September 2017 EU-weit vorgeschrieben. Durch eine detailliertere Prüfung mit längerer Prüfungsdauer und -strecke sowie höheren Geschwindigkeiten, sowohl im Mittel als auch in der Spitze, erlaubt das WLTP-Verfahren eine realistischere Messung des Verbrauchs und Schadstoffausstoßes als die NEFZ-Methode. Die KFZ- Steuerbelastung basiert in Deutschland tatsächlich aber erst seit dem 1. September 2018 auf den Emissionswerten, die durch das WLTP berechnet werden. Aufgrund der realitätsnäheren Messung der Abgaswerte mit dem WLTP-Verfahren erhöhte sich die Steuerbelastung für die meisten Autotypen. Datenbasis Die empirische Analyse von Flintz, Frondel und Horvath (2022) basiert auf einem umfangreichen Panel-Datensatz, der die monatlichen Fahrzeugneuzulassungen in Deutschland im Zeitraum von Januar 2011 bis April 2019 für praktisch alle Automarken- und -modelle enthält. Ebenfalls enthalten sind Informationen zu Fahrzeugausstattung und -generation sowie zu zahlreichen anderen Fahrzeugeigenschaften wie Hubraum, Gewicht, CO 2 - Ausstoß und Kraftstoffverbrauch. Im Fokus der Analyse stand die monatliche Anzahl an Neuzulassungen einer Vielzahl unterschiedlicher Fahrzeugtypen bestimmt durch Marke, Modell, Variante, Ausstattung, Hubraum, PS, Karosserieform, Antriebsart (Benzin, Diesel, Hybrid, Elektro), Türenanzahl, Baujahr, Getriebe, Vorder-, Hinter- oder Allradantrieb sowie CO 2 -Ausstoß. Mittels Informationen zu Kraftstoffverbräuchen und Kraftstoffpreisen sowie Hubraum und CO 2 -Emissionswerten wurden die Summe der Kraftstoffkosten und KFZ-Steuerbelastungen sowohl pro Jahr als auch über die unterstellte Fahrzeugnutzungsdauer berechnet. Die Berechnung der Gesamtkosten über die Nutzungsdauer eines PKW basierte auf folgenden Annahmen: eine Nutzungsdauer von 13 Jahren, ein Zinssatz von 6 % zur Diskontierung und eine jährlich gefahrene Strecke von ca. 10.600 Kilometern für Benziner und knapp 20.000 Kilometern für Autos mit Dieselantrieb. In Ermangelung von Informationen über die zukünftigen Kraftstoffpreise wurde davon ausgegangen, dass sich die Kraftstoffpreise über die Nutzungsdauer von 13 Jahren nicht verändern. Vor dem Hintergrund, dass die Kalkulation künftiger Kraftstoffkosten beim Erwerb des Fahrzeuges mutmaßlich auf den aktuellen Kraftstoffpreisen basiert, erscheint diese Annahme gerechtfertigt (Anderson et al., 2013). Der Fokus der Analyse von Flintz, Frondel und Horvath (2022) lag auf Autos mit konventionellem Antrieb auf Basis von Diesel oder Benzin, regulären und Plug-in- Hybriden sowie Elektroautos. Fahrzeuge, die mit anderen Brennstoffen betrieben werden, wie beispielsweise Wasserstoff oder Erdgas, wurden aufgrund geringer Verbreitung nicht berücksichtigt. PKW-Neuzulassungen Im Zeitraum von Januar 2011 bis April 2019 war ein leichter Anstieg an PKW-Neuzulassungen zu verzeichnen: Wurden im Jahr 2011 noch deutlich unter 3 Millionen Autos verkauft, stiegen die Verkaufszahlen auf rund 3,4 Millionen Fahrzeuge in den Jahren 2017 und 2018 (Bild 1). Der Anteil an Dieselfahrzeugen lag lange Zeit stabil bei ca. 46 %, begann infolge des Diesel-Skandals Anfang 2016 aber nachhaltig zu fallen, auf einen Anteil von rund 30 % in den Jahren 2018 und 2019. Spiegelbildlich zum Rückgang des Anteils an Dieselfahrzeugen nahm der Anteil der Benziner an den Neuzulassungen ab dem Jahr 2016 zu: von 53 % auf 64 % im Jahr 2018. Die spezifischen CO 2 -Emissionen sind von durchschnittlich 143 g/ km im Jahr 2011 auf 124 g/ km im Jahr 2016 gesunken (Bild 2). In den Jahren danach kam es zu einer Stagnation, die vor allem durch die fallenden Anteile an Dieselfahrzeugen verursacht wurde. Bild 2 verdeutlicht zudem die starke Diskrepanz zwischen den auf NEFZ-Basis ermittelten CO 2 -Werten und den Werten, die sich nach dem neuen WLTP-Testverfahren ergeben. Im Durchschnitt sind die WLTP-Emissionswerte um fast 30 g/ km höher als die Werte nach dem NEFZ-Verfahren. Dieser Unterschied impliziert eine höhere Steuerbelastung um durchschnittlich rund 60 EUR pro Jahr und PKW. Bild 3 zeigt den Einfluss der beiden Steuerrevisionen der Jahre 2012 und 2014 auf die mittlere jährliche KFZ- Bild 1: Anteile der Benzin-, Diesel-, Hybrid- und Elektrofahrzeuge an den monatlichen Neuzulassungen Alle Grafiken: eigene Darstellungen Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 18 POLITIK Wissenschaft Steuerbelastung für neue Autos. So führte die Reduktion des Grenzwertes im Jahr 2012 für Fahrzeuge mit einem spezifischen CO 2 -Ausstoß von über 110 g/ km zu einem Anstieg der jährlichen KFZ-Steuer von etwa 20 EUR. Eine besonders starke durchschnittliche KFZ-Steuererhöhung ist mit Einführung des WLTP-Verfahrens als Abgasermittlungsverfahren im September 2018 zu erkennen. Insgesamt ist die durchschnittliche jährliche KFZ- Steuerbelastung für zwischen Januar 2011 und April 2019 neu zugelassene Autos trotz sinkender Motorengröße und CO 2 -Emissionen um ca. 21 % gestiegen, von 162 EUR im Jahr 2011 auf 196 EUR im Jahr 2019. Dennoch stellt die Belastung durch die KFZ-Steuer für die Autohalter in Deutschland lediglich einen kleinen Kostenfaktor dar, vor allem verglichen mit den Kraftstoffkosten. Simulationsergebnisse In Tabelle 2 sind die von Flintz, Frondel und Horvath (2022) geschätzten hypothetischen Effekte der im Jahr 2021 in Kraft getretenen KFZ-Steuerreform dargestellt. Die Simulationsergebnisse zeigen einen äußerst geringen Effekt der jüngsten Reform des KFZ-Steuersystems: Wäre die 2021 in Kraft getretene KFZ-Steuer bereits 2018 gültig gewesen (kontrafaktisches Szenario), hätte es schätzungsweise einen Rückgang der jährlichen Neuzulassungszahlen um knapp 21.000 Fahrzeuge gegeben bzw. um rund 0,7 %. Zusammen mit einer Reduktion der durchschnittlichen spezifischen CO 2 -Emissionen um 0,74 g/ km führt dies zu einer hypothetischen Minderung des jährlichen CO 2 -Ausstoßes um etwa 60.000 Tonnen pro Jahr. Einhergehend mit den höheren Steuersätzen der KFZ-Steuerreform von 2021 steigt die durchschnittliche jährliche Steuerbelastung hypothetisch um ca. 11 EUR, auf rund 154 EUR, und führt damit zu einer hypothetischen Erhöhung der jährlichen Steuereinnahmen um etwa 30 Mio. EUR bzw. um 7 %. Zur Einordnung: Die Anzahl verkaufter Autos lag im Jahr 2018 bei gut drei Millionen, die CO 2 -Intensität eines neu gekauften Autos betrug im Durschnitt 126,6 g/ km und die mittlere jährliche Steuerbelastung für den Käufer eines Neuwagens belief sich auf 143 EUR. Die 2018 verkauften Autos sind Jahr für Jahr für CO 2 -Emissionen in Höhe von rund 5,2 Mio. Tonnen verantwortlich. Fazit Summa summarum deuten die Ergebnisse von Flintz, Frondel und Horvath auf einen geringen Effekt der jüngsten KFZ-Steuer-Reform hin. Dies ist in Anbetracht einer Erhöhung der mittleren Besteuerung in Höhe von rund 11 EUR pro Jahr und PKW wenig überraschend. Eine Reihe anderer Studien schreibt den KFZ-Steuerreformen der vergangenen Jahre ebenfalls nur moderate Effekte auf die CO 2 -Emissionen zu, beispielsweise Alberini und Horvath (2021) und Klier und Linn (2015). Deutlich stärkere Wirkungen wären zu erwarten, wenn die KFZ-Steuersätze Größenordnungen annehmen würden, die über die Lebensdauer eines PKW hinweg in Summe den Zulassungssteuern von Ländern wie Dänemark entsprechen würden. Es ist allerdings kaum vorstellbar, dass eine derart hohe KFZ-Besteuerung in Deutschland politisch durchsetzbar wäre. Verglichen mit den jährlichen Emissionen der Autoflotte in Deutschland von ca. 100 Millionen Tonnen wären aber wohl selbst die Effekte einer KFZ-Besteuerung mit weitaus höheren Steuersätzen sehr begrenzt. Effektiver als mit der KFZ-Steuer können die negativen Effekte des Autoverkehrs mit anderen steuerlichen Instrumenten, die in Deutschland bereits existieren, reduziert werden: die Energiesteuer auf Kraftstoffe sowie der im Jahr 2021 eingeführte CO 2 -Preis. Während die KFZ-Steuer den Autobesitz besteuert, verteuern Verbrauchssteuern die Fahrzeugnutzung und kommen dementsprechend dem Verursacher-Prinzip der Europäischen Union am nächsten. Verbrauchssteuern sind verursachergerecht, weil der Kraftstoffverbrauch und der dazu proportionale CO 2 -Ausstoß besteuert werden. Steuern auf Kraftstoffe gelten als effektiver in Bezug auf eine Reduktion der Emissionen als die KFZ-Steuer, da durch Steuern auf den Verbrauch von Kraftstoffen ein Anreiz geschaffen wird, sowohl die Fahrleistung zu reduzieren als auch den spezifischen Kraftstoffverbrauch je Kilome- Jahr 2018 Kontrafaktum Anzahl verkaufter Autos (Mio.) 3,026 3,006 mittlere CO 2 -Intensität (g/ km) 126,6 125,9 Anteil Elektroautos (%) 1,07 1,09 Anteil Hybrid (%) 1,41 1,43 Anteil Diesel (%) 30,8 30,9 Anteil Benzin (%) 66,8 66,6 jährl. CO 2 -Emissionen (Mio. t) 5,2 5,1 jährl. Steuereinnahmen (Mio. ) 433,1 463,1 durchschnittl. jährl. Steuer (€) 143,1 154,1 Tabelle 2: Ergebnisse der Simulationsanalyse von Flintz, Frondel und Horvath (2022) für das Jahr 2018 Bild 2: Durchschnittliche spezifische CO 2 -Emissionen (in Gramm pro Kilometer) für neu zugelassene PKW im Zeitraum Januar 2011 bis April 2019 Bild 3: Durchschnittliche jährliche Steuerbelastung neu zugelassener Benzin- und Dieselfahrzeuge von Januar 2011 bis April 2019 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 19 Wissenschaft POLITIK ter. Zudem steigert die Besteuerung der Fahrzeugnutzung die Attraktivität emissionsarmer Fahrzeuge beim Autokauf (Cerrutti et al., 2017; Alberini und Bareit, 2019). ■ Die Autoren danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Kopernikus-Projekts Ariadne (FKZ 03SFK5C0). LITERATUR ACEA 2022: ACEA Tax Guide 2022. European Automobile Manufacturers Association. www. acea.be Alberini, A.; Bareit M. (2019): The effect of registration taxes on new car sales and emissions: In: Evidence from Switzerland. Resource and Energy Economics 56 (2019): S. 96-112. Alberini, A.; Horvath, M. (2021): All car taxes are not created equal: Evidence from Germany. In: Energy Economics, 105329. Anderson, S. T.; Kellogg, R.; Sallee, J.M. (2013): What do consumers believe about future gasoline prices? In: Journal of Environmental Economics and Management 66, S. 383-403. Cerruti, D.; Alberini A.; Linn J. (2017): Charging Drivers by the Pound: The Effects of the UK Vehicle Tax System. CER-ETH-Center of Economic Research at ETH Zurich, Working Paper 17: 271. Destatis (2020): Straßenverkehr: EU-weite CO 2 -Emissionen seit 1990 um 24 % gestiegen. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden. URL: www.destatis.de/ Europa/ DE/ Thema/ Umwelt-Energie/ CO2_Strassenverkehr.html Flintz, J.; Frondel, M.; Horvath, M. (2022): Emissionswirkungen der 2021 reformierten KFZ- Steuer: Eine empirische Analyse. AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv 16 (3- 4), S. 255-276. Klier, T.; Linn, J.; (2015): Using taxes to reduce carbon dioxide emissions rates of new passenger vehicles: evidence from France, Germany, and Sweden. In: American Economic Journal: Economic Policy 7, S. 212-42. Manuel Frondel, Prof. Dr. Leiter des Bereichs Umwelt und Ressourcen, RWI — Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Essen, und Ruhr Universität Bochum manuel.frondel@rwi-essen.de Marco Horvath, Dr. RWI — Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Essen marco.horvath@rwi-essen.de Joschka Flintz RWI — Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Essen, und Ruhr Universität Bochum joschka.flintz@rwi-essen.de Messe Frankfurt Group Plattform für zukunftsweisende Lösungen im ruhenden Verkehr Parken bewegt 28. - 29.06.2023 WIESBADEN Jetzt Ticket sichern! parken-messe.de/ Eintrittskarten Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 20 INFRASTRUKTUR Schienenverkehr Qualitätsmanagement im Verkehr zur Insel Sylt Flexibilisierung des Betriebs auf einem hoch belasteten Streckenabschnitt Bahn, Betriebsführung, Fahrplan, Autozug, Flexabfahrt Einziger Landweg nach Sylt ist die Bahnstrecke über den Hindenburgdamm. Die Tourismusentwicklung führte in den vergangenen Jahrzehnten zu einer stark steigenden Verkehrsnachfrage und zu Tagespendlerverkehren durch Verdrängungseffekte auf dem Immobilienmarkt. Bis zu vier Personen- und Autozüge je Stunde und Richtung lasten die teilweise eingleisige Infrastruktur maximal aus. Mittelfristig soll die Kapazität durch elektronische Stellwerkstechnik sowie durch einen durchgängig zweigleisigen Ausbau mit Elektrifizierung erhöht werden. Zur kurz- und mittelfristigen Stabilisierung der Betriebsqualität haben der SPNV-Aufgabenträger NAH.SH, DB Netz und die auf der Strecke verkehrenden Eisenbahnverkehrsunternehmen betriebliche Maßnahmen angestoßen. Jens Gertsen D ie Anbindung der Insel Sylt an das Festland erfolgte bis zum Jahr 1927 ausschließlich über Fähren. An eine Fahrzeit von mindestens 4,5 Stunden mit Schnellzügen ab Hamburg schloss sich eine 2-stündige Fährüberfahrt mit anschließendem Umstieg auf die Sylter Kleinbahn an, die tideabhängig in der Regel nur einmal täglich zu wechselnden Zeiten gefahren werden konnte. Daher war eine Reise von Hamburg nach Sylt nur unter günstigen Umständen ohne Zwischenübernachtung möglich. Zudem lag der Fährbahnhof nach der Volksabstimmung von 1920 auf dänischem Gebiet, so dass der Personenverkehr zeitweise in verplombten Waggons durchgeführt werden musste und auf Gütertransporte Zollgebühren anfielen. Der 1927 eröffnete Bahndamm verkürzte die Fahrzeit zwischen der Insel nach Niebüll und weiter nach Hamburg um 3,5 Stunden und erleichterte den Verkehr enorm. Während der Weltwirtschaftskrise und des 2. Weltkriegs blieb die Nachfrageentwicklung noch verhalten, unter anderem, da bis 1940 auf Fahrpreise über den Damm ein Zuschlag bis zur Höhe des Tarifpreises für 50-km erhoben wurde. Seit der Nachkriegszeit zeigt ein Vergleich mit der Nachbarinsel Föhr, deren Anbindung mit einer rd. 45-minütigen Fährverbindung unverändert blieb, den Beitrag der Bahnverbindung zur touristischen Entwicklung Sylts (Bild 1). Unter anderem aufgrund naturschutz- und grundstücksrechtlicher Gegebenheiten blieb der Bahndamm die einzige landseitige Anbindung der Insel. Daher wurden stets auch Autos auf der Schiene befördert - anfangs auf Güterzügen, um 1950 auf regulären Personenzügen und ab Mitte der 50er Jahre auf separaten Autozügen. Die steigende Nachfrage erfordert in der Saison eine Angebotsverdichtung bis an die Grenze der infrastrukturellen Kapazität. Nachfragetreiber sind zunächst Urlauberverkehre und in einer weiteren Phase - infolge steigender Wohn- und Lebenshaltungskosten auf der Insel - zunehmende Tagespendlerverkehre zur Insel, da Teile der Beschäftigten auf Sylt ihren Wohnort auf das preisgünstigere Festland verlagern. Eine Gegenüberstellung mit der Insel Föhr - die weiterhin nur über Schiffsverbindungen zu erreichen ist - zeigt die Wirkungen der Schienenverbindung auf die Verkehrsnachfrage zwischen Sylt und dem Festland (Bild 2). Insbesondere die Pendlerverkehre stellen hohe Anforderungen an die Kapazität und Zuverlässigkeit der Bahnverbindung, da das Erreichen der Arbeitsplätze auf Sylt von einem funktionierenden Bahnbetrieb abhängt und mangels paralleler Straßenverbindung bei Störungen keine Schienenersatzverkehre möglich sind. Die Verkehrsspitzen fallen morgens mit Nachfrage- Peaks im Versorgungsverkehr mit LKW auf Autozügen zur Insel zusammen, deren Z: \Rechner\Documents\Projekte\2021\nahsh_Syltverkehr\Bearbeitung\2305_Artikel_IV\Abbildungen.pptx 1 50 100 150 1935 1930 2010 Verbindungen/ Tag (Sommer) von / nach Sylt 1920 1940 1945 1950 1955 1960 1980 1965 1970 1975 1985 1990 2000 1995 2005 2015 2020 Autozüge Personenfernverkehr Personennahverkehr 50 zum Vergleich: Fährabfahrten von / nach Föhr Jahr v max 90 km/ h v max 60 km/ h v max 80 km/ h Kreuzungsbahnhöfe -> Kapazitätsverdoppelung Verlängerung Kreuzungsgleise von 400 auf 650 m Umbau Autoverladeanlagen Westerland Niebüll Außenbahnsteige ersetzen Reisendenquerung über Gleise v max 100 km/ h 2-gleisige Ausbauabschnitte Z: \Rechner\Documents\Projekte\2021\nahsh_Syltverkehr\Bearbeitung\2305_Artikel_IV\Abbildungen.pptx 1 50 100 150 1935 1930 2010 Verbindungen/ Tag (Sommer) von / nach Sylt 1920 1940 1945 1950 1955 1960 1980 1965 1970 1975 1985 1990 2000 1995 2005 2015 2020 Autozüge Personenfernverkehr Personennahverkehr 50 zum Vergleich: Fährabfahrten von / nach Föhr Jahr v max 90 km/ h v max 60 km/ h v max 80 km/ h Kreuzungsbahnhöfe -> Kapazitätsverdoppelung Verlängerung Kreuzungsgleise von 400 auf 650 m Umbau Autoverladeanlagen Westerland Niebüll Außenbahnsteige ersetzen Reisendenquerung über Gleise v max 100 km/ h 2-gleisige Ausbauabschnitte Z: \Rechner\Documents\Projekte\2021\nahsh_Syltverkehr\Bearbeitung\2305_Artikel_IV\Abbildungen.pptx 1 50 100 150 1935 1930 2010 Verbindungen/ Tag (Sommer) von / nach Sylt 1920 1940 1945 1950 1955 1960 1980 1965 1970 1975 1985 1990 2000 1995 2005 2015 2020 Autozüge Personenfernverkehr Personennahverkehr 50 zum Vergleich: Fährabfahrten von / nach Föhr Jahr v max 90 km/ h v max 60 km/ h v max 80 km/ h Kreuzungsbahnhöfe -> Kapazitätsverdoppelung Verlängerung Kreuzungsgleise von 400 auf 650 m Umbau Autoverladeanlagen Westerland Niebüll Außenbahnsteige ersetzen Reisendenquerung über Gleise v max 100 km/ h 2-gleisige Ausbauabschnitte Bild 1: Anzahl der Verbindungen von/ nach Sylt in der Sommersaison 1920 bis 2020 [1]; zum-Vergleich: Infrastrukturausbau und Entwicklung der Abfahrten im Verkehr zur Insel Föhr Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 21 Schienenverkehr INFRASTRUKTUR Warenlogistik ebenfalls hohe Anforderungen an eine zuverlässige Verkehrsabwicklung stellt. Die Erfüllung der hohen Zuverlässigkeitsanforderungen ist vor dem Hintergrund der starken Streckenauslastung eine Herausforderung. In der Sommersaison überlagern sich zwischen Niebüll und Westerland (Sylt) 30 Minuten-Takte im Personen- und Autozugverkehr zu einem 15 Minuten-Fahrplanraster. Dadurch sind auf der teilweise eingleisigen Strecke alle 7,5 Minuten Zugkreuzungen abzuwickeln. Dieses Fahrplanprogramm stellt höchste Ansprüche an die betriebliche Abwicklung, zumal Zuggewichte und Beschleunigungseigenschaften auf der nicht elektrifizierten Strecke zwischen leichten SPNV-Zügen und langen, schweren Autozügen stark streuen. Bereits kleine Abweichungen führen zur Übertragung von Verspätungen auf Züge der Gegenrichtung. Insbesondere wenn die Strecke im Sommer durch saisonale Auto- und Personenzüge fast ganztägig ohne „Erholungstrassen“ zum Abbau von Verspätungen ausgelastet ist, kann dies über lange Zeiträume eines Betriebstages zu Kettenreaktionen von Folgeverspätungen führen. Typische auslastungsabhängige Einbrüche der Betriebsqualität im Jahresverlauf sind für eine exemplarische Zuggattung in Bild 3 dargestellt. Ausbauplanungen Eine nachhaltige Verbesserung der Betriebsqualität erfordert eine Anpassung der- Streckenkapazität an die hohe Nachfrage. Dazu wurden mehrere Projekte angestoßen: •• Mit dem Bau elektronischer Stellwerke (ESTW) werden dichtere Zugfolgen durch kürzere Blockabschnitte ermöglicht. •• Ein durchgängig zweigleisiger Ausbau wird die Anzahl erforderlicher Zugkreuzungen reduzieren und die Leistungsfähigkeit der Strecke deutlich erhöhen. •• Eine Elektrifizierung der Strecke kann die Beschleunigung der Züge und damit die Leistungsfähigkeit der Strecke weiter steigern und schafft u. a. die Voraussetzung für eine Anbindung Sylts mit ICE- Zügen im Fernverkehr. Während die Ausrüstung der Strecke mit ESTW sukzessive bis voraussichtlich 2026 vorgesehen ist, werden der zweigleisige Ausbau und die Elektrifizierung erst mittelfristig für eine Ausweitung der Kapazitäten sorgen, da der Umfang und die Komplexität der Projekte trotz intensiver, u. a. durch Vorfinanzierung des Landes Schleswig-Holstein beschleunigter Planungen noch keine verbindlichen Fertigstellungstermine ermöglichen. Dadurch besteht die Herausforderung, bis auf Weiteres die hohen verkehrlichen Ansprüche auf der bestehenden Infrastruktur abzuwickeln. Qualitätsmanagement In der Sommersaison 2021 ermöglichte das Land Schleswig-Holstein durch eine einmalige Sonderfinanzierung eine Kapazitätsausweitung durch den Einsatz von Doppelstockwagen und zusätzlichen Bereitschaftszügen, um die wiederanlaufende touristi- Z: \Rechner\Documents\Projekte\2021\nahsh_Syltverkehr\Bearbeitung\2305_Artikel_IV\Abbildungen.pptx 2 2,5 1,0 3,5 2,0 0,5 1,5 3,0 Einpendler vom Festland (Kreis Nordfriesland) zur Insel Sylt in Tsd. 2015 2005 2010 2020 Jahr 1,5 0,5 1,0 1935 1945 1960 1940 1930 Fremdenübernachtungen in Westerland (Sylt) (in Mio., Sommerhalbjahr) 1950 1955 1965 0,5 zum Vergleich: Wyk / Föhr Jahr keine Daten vorliegend zum Vergleich: Insel Föhr Folgejahre wegen veränderter statistischer Basis nicht dargestellt; Indikation: aktuell > 4 Mio. (Gemeinde Sylt, ganzjährig) Z: \Rechner\Documents\Projekte\2021\nahsh_Syltverkehr\Bearbeitung\2305_Artikel_IV\Abbildungen.pptx 2 2,5 1,0 3,5 2,0 0,5 1,5 3,0 Einpendler vom Festland (Kreis Nordfriesland) zur Insel Sylt in Tsd. 2015 2005 2010 2020 Jahr 1,5 0,5 1,0 1935 1945 1960 1940 1930 Fremdenübernachtungen in Westerland (Sylt) (in Mio., Sommerhalbjahr) 1950 1955 1965 0,5 zum Vergleich: Wyk / Föhr Jahr keine Daten vorliegend zum Vergleich: Insel Föhr Folgejahre wegen veränderter statistischer Basis nicht dargestellt; Indikation: aktuell > 4 Mio. (Gemeinde Sylt, ganzjährig) Z: \Rechner\Documents\Projekte\2021\nahsh_Syltverkehr\Bearbeitung\2305_Artikel_IV\Abbildungen.pptx 2 2,5 1,0 3,5 2,0 0,5 1,5 3,0 Einpendler vom Festland (Kreis Nordfriesland) zur Insel Sylt in Tsd. 2015 2005 2010 2020 Jahr 1,5 0,5 1,0 1935 1945 1960 1940 1930 Fremdenübernachtungen in Westerland (Sylt) (in Mio., Sommerhalbjahr) 1950 1955 1965 0,5 zum Vergleich: Wyk / Föhr Jahr keine Daten vorliegend zum Vergleich: Insel Föhr Folgejahre wegen veränderter statistischer Basis nicht dargestellt; Indikation: aktuell > 4 Mio. (Gemeinde Sylt, ganzjährig) Bild 2: Entwicklung relevanter Nachfragegruppen im Vergleich [2, 3] Bild 3: Typische Jahresganglinie der Betriebsqualität im Sylt-Verkehr Eigene Darstellung Bild 4: Maßnahmen zur Stabilisierung der Betriebsqualität Niebüll - Westerland Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 22 INFRASTRUKTUR Schienenverkehr sche Nachfrage unter den noch volatilen Rahmenbedingungen der Corona-Pandemie bestmöglich zu verteilen. In diesem Kontext initiierte die NAH.SH als SPNV-Aufgabenträger ein Qualitätsmanagement, um gemeinsam mit allen für das Bahnsystem relevanten Akteuren Initiativen zur Verbesserung der Betriebsqualität insbesondere zwischen Niebüll und Westerland anzustoßen. Koordiniert durch die externe Fachberatung inno-mobil werden in einem Qualitätszirkel - unter den Restriktionen der durch die kurzfristig nicht veränderbare Infrastruktur gesetzten Rahmenbedingungen - insbesondere prozessuale Ansätze bei der Betriebsplanung und -durchführung sowie Maßnahmen zur Störungsprävention identifiziert und umgesetzt (Bild 4). Störungsanalyse Um das Verständnis zum Betriebsgeschehen und zu Störeinflüssen bei der NAH.SH als Aufgabenträger zu verbessern, wurde ein Tool entwickelt, um betriebstäglich als Excel-Listen eingehende Störungsmeldungen zu analysieren. Die tagesaktuelle Visualisierung der räumlichen Verteilung von Netzstörungen (Bild 5) und die Zuordnung von Fahrzeugstörungen zu Zuggattungen und Linien (Bild 6) erleichtern die Identifikation von Ursachenclustern für Betriebsstörungen auf der Seite des Aufgabenträgers. Im Qualitätszirkel zur Marschbahn wurde diese Grundlage genutzt, um bei Infrastruktur- und Eisenbahnverkehrsunternehmern gezielt Ursachencluster von Betriebsstörungen anzusprechen. Eine transparente Kommunikation zu Störungsursachen und deren Behebung bzw. künftigen Prävention trug zu einer vertrauensvollen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit der Beteiligten bei. Flexibilisierung des Betriebes Die extrem hohe Streckenauslastung erfordert eine bestmögliche Ausnutzung der knappen Trassenkapazitäten. Eine entscheidende Stellschraube dafür ist, freie Trassen unverzüglich zu nutzen, damit die Strecke schnellstmöglich wieder für Folgezüge zur Verfügung steht und Verspätungsübertragungen begrenzt werden. Relevant sind dafür nicht (nur) die geplanten Soll- Fahrplanlagen, sondern insbesondere die z. T. sehr kleinteiligen und verschachtelten Prozesse und Abhängigkeiten in der realen Betriebsdurchführung. Die nachfolgend dargestellten Maßnahmen verfolgen das Ziel, durch mehr Flexibilität bei der Betriebsführung die Möglichkeiten zu erweitern, auf aktuelle Betriebslagen dispositiv zu reagieren. •• Die bei der Fahrlagenplanung erstellten Fahrplantrassen sind auf Basis durchschnittlicher fahrdynamischer Annahmen konstruiert. Abhängig zum Beispiel von Windverhältnissen oder dem Fahrverhalten des Triebfahrzeugführers sind bei der betrieblichen Durchführung in begrenztem Umfang Abweichungen möglich. •• Abweichend von der üblichen betrieblichen Praxis, eventuelle Zeitpuffer für eine energiesparende Fahrweise im Rahmen der Fahrplanvorgaben zu nutzen, wird zwischen Niebüll und Westerland grundsätzlich eine maximal zügige Fahrt und günstigstenfalls eine Ankunft vor Plan angestrebt. •• Die optimale Nutzung der Streckenkapazität im Fall vorfristiger Ankünfte setzt voraus, dass Gegenzüge abfahrbereit sind, um ggfls. vor Plan in eingleisige Abschnitte einzufahren. •• Im Personenverkehr wird dies seit Dezember 2021 durch die sogenannte „FlexAbfahrt“-Regelung ermöglicht: Für Westerland (Sylt) und die ersten nachfolgenden Stationen werden gegenüber den geplanten Trassen um drei Minuten frühere Abfahrtszeiten veröffentlicht. Dadurch sind die Züge abfahrbereit, wenn die Strecke vorfristig frei wird. •• Bei Autozügen veröffentlichen die Betreiber eine Verladeschlusszeit, die so bemessen ist, dass mindestens eine planmäßige Zugabfahrt ermöglicht wird. Eine pünktliche und nach Möglichkeit vorzeitige Abfahrbereitschaft hängt somit von der zügigen Durchführung der Verladeprozesse und deren Bestätigung durch rechtzeitige Abgabe der Zugfertigmeldung an den Fahrdienstleiter ab. •• Durch Abfahrten vor Plan entstehen in Westerland (Sylt) Freiräume für andere Zugfahrten oder auch Rangierbewegungen im Bahnhof. Bild 5: Visualisierung von Infrastrukturstörungen Eigene Darstellung Bild 6: Visualisierung von Betriebsstörungen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 23 Schienenverkehr INFRASTRUKTUR Insgesamt wurden im Jahr 2022 gegenüber den Vorjahren nach unplanmäßigen Abfahrten weniger Folgeverspätungen aufgebaut und weniger Verspätungsminuten mit der Begründung „Zugfolge“ codiert. Dies trug dazu bei, dass sich die Pünktlichkeit auf dem Abschnitt Niebüll - Westerland in der Sommersaison des Jahres 2022 an das Niveau der gesamten Marschbahn annäherte und sich das typischerweise aufgrund der hohen Belastung dieses Abschnitts entstehende Delta verringerte (Bild 7). Es wird angenommen, dass die betriebliche Flexibilisierung dazu beigetragen hat, auch wenn exakt abgrenzbare Ursache-Wirkungs-Beziehungen nicht möglich sind, da in Vergleichszeiträumen keine ceteris-paribus-Bedingungen z. B. bezüglich Zulaufverspätungen aus Richtung Hamburg oder Netz- und Fahrzeugstörungen vorliegen. Fahrplanoptimierung In der aktuellen Fahrplankonstellation ist es aufgrund einer spitzen Kreuzung in der Einfahrt von Westerland (Sylt) selten möglich, den auch bei den Regionalexpress-Zügen vorgesehenen FlexAbfahrt-Modus mit seinen positiven Effekten zur Entfaltung kommen zu lassen. Um eine verstärkte Anwendung der FlexAbfahrten in Westerland (Sylt) insbesondere bei Zügen der DB Regio zu unterstützen, wird eine Beschleunigung und frühere Ankunft der auf Westerland zulaufenden Autozüge geprüft. Ein Ansatz dafür ist die Verlagerung eines aktuellen Kreuzungshalts, der aufgrund des Anfahr- und Bremsverhaltens bei den hohen Zuggewichten mehrere Minuten Fahrzeit kostet, auf Züge der Gegenrichtung. Diese müssten dafür in Westerland entsprechend früher abfahren. Dadurch würden Potentiale geschaffen, um planerisch wie betrieblich die FlexAbfahrt noch stärker zu nutzen. In zwei Betriebstests im Jahr 2022 konnte dieses Konzept vielfach nicht umgesetzt werden, da Autozüge aus Westerland (Sylt) den Kreuzungsbahnhof durch Verzögerungen bei der Abfahrt nicht rechtzeitig genug erreichten, damit das Hauptgleis für eine unterbrechungsfreie Fahrt der Gegenzüge freigegeben werden konnte. Es wurde deutlich, dass eine solche Feinsteuerung des Betriebes eine hohe Präzision bei betrieblichen Abläufen voraussetzt. Damit unter maximaler Ausnutzung betrieblicher Randbedingungen optimierte Fahrplankonzepte funktionieren, darf der Qualitätsanspruch an „planmäßiges“ Fahren Fahrplanabweichungen von max. einer Minute tolerieren. Nach einer Überprüfung der Prozesse zur Abfahrtsvorbereitung durch alle Betreiber wurden im März/ April 2023 zwei Aktionswochen mit intensiviertem Monitoring des Betriebs durchgeführt, in denen deutliche Verbesserungen bei zeitgerechten Zugfertigmeldungen erreicht werden konnten. Das Monitoring wird fortgesetzt, um auf einer validen Datenbasis zu entscheiden, inwieweit die Voraussetzungen für eine planerische Drehung der Autozugkreuzung mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit für die Flex- Abfahrt der RE geschaffen werden können. Ausblick Die dargestellten betrieblichen Maßnahmen optimierten den Regelbetrieb. Eine konsequente Fortführung sowie eine strikte Fokussierung auf das Planmäßigkeitskriterium mit enger Toleranzgrenze von einer Minute trägt dazu bei, diesen unter den gegebenen infrastrukturellen Restriktionen bestmöglich durchzuführen. Sie kommen dann an ihre Grenzen, wenn der Betrieb durch infrastrukturelle oder fahrzeugseitige Großstörungen massiv beeinträchtigt wird. Dies zeigte sich z. B. im Oktober und November 2022, als Ausfälle der Signaltechnik und oberbaubedingte Langsamfahrstellen zu einem deutlichen Einbruch der Betriebsqualität führten, oder Anfang Januar 2023 während einer mehrere Tage andauernden Weichenstörung. In solchen Situationen sind intelligente dispositive Maßnahmen sowie das Kooperationsverhalten aller Beteiligten (EIU wie EVU) besonders gefordert. Um Störeinträge zu minimieren und Kapazitätspuffer zu schaffen, die auch eine Aufnahme verspäteter Züge zusätzlich zum wieder anlaufenden Normalbetrieb ermöglichen, bleiben die geplanten Ausbauten der Bahnstrecke Niebüll - Westerland als einziger landseitiger Anbindung der Insel Sylt dringend erforderlich. ■ QUELLEN [1] Eigene Darstellung nach Daten aus Kirschner, J. (1998): Der Personenverkehr über den Hindenburgdamm. Diplomarbeit, und eigener Recherche aus Fahrplänen im Web und im Archiv des DB Museums Nürnberg. [2] Statistisches Landesamt Schleswig-Holstein: Beiträge zur historischen Statistik, 1967. [3] Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Sonderauswertung 339864. Jens Gertsen, Dipl.-Ing. Unternehmensberater CMC/ BDU, inno-mobil Mobilitätslösungen, Kassel gertsen@inno-mobil.de Bild 7: Delta SPNV-Pünktlichkeit Abschnitt Niebüll-Westerland/ gesamte Marschbahn Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 24 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Erfolgreiche Zukunft des-Schienenverkehrs in Deutschland? Bewältigung aktueller Herausforderungen ohne beschleunigten Infrastrukturausbau nicht möglich Bundesschienenwege, Infrastrukturausbau, Finanzierung, Deutschlandtakt, Kapazitätsengpässe, Betriebsqualität Die Zukunft des Schienenverkehrs in Deutschland wird wesentlich von der Verkehrspolitik des Bundes beeinflusst. Aufgrund vielfältiger ungelöster Herausforderungen besteht ein dringender politischer Handlungsbedarf. Ohne eine weitere Aufstockung des Verkehrsetats wird eine Finanzierung der für den Deutschlandtakt erforderlichen Infrastrukturvorhaben mittel- und langfristig nicht möglich sein. Zudem bedarf es einer massiven Beschleunigung der Umsetzungszeiträume. In kurzfristiger Hinsicht ist es bedeutsam, den multiplen Überlastungserscheinungen des Schienennetzes zu begegnen und verschärfte Rentabilitätsprobleme des Eisenbahnbetriebs abzuwenden. Fabian Stoll, Bastian Kogel D er bestehende Rechtsrahmen ermöglicht der Bundesregierung umfassende verkehrspolitische Gestaltungsmöglichkeiten im Schienenverkehrssektor. Zu nennen sind das Grundgesetz (GG), das Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSWAG), das Eisenbahnregulierungsgesetz (ERegG) oder das Regionalisierungsgesetz (RegG). Die Zukunft des Schienenverkehrs wird jedoch deutlich weniger durch rechtliche Vorgaben beeinflusst als von verkehrspolitischen und unternehmerischen Entscheidungen. Besondere Handlungserfordernisse zeigen sich hinsichtlich der Finanzierung des Neu- und Ausbaus der Bundesschienenwege, der Minimierung von Kapazitätsengpässen und der Steigerung der Betriebsqualität. Gleichzeitig zeigen sich steigende staatliche Subventionen und eine geringe Rentabilität von Verkehrsdiensten. Verzögerter Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege Der Bund erhält nach dem Grundgesetz (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a GG) die gesetzgeberische Kompetenz über den Verkehr, den Bau, die Unterhaltung, den Betrieb sowie die Erhebung von Nutzungsentgelten von Eisenbahnen, die ganz oder mehrheitlich Bundeseigentum sind [1]. Mit dem Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSWAG) wird die gesetzgeberische Kompetenz über den Eisenbahnbau konkretisiert. Der Ausbau des Netzes wird nach dem Bedarfsplan für die Bundesschienenwege (§ 1 Abs. 1 BS- WAG) vorgenommen [2]. Dessen Aufstellung richtet sich nach der gutachterlich entwickelten Methodik des Bundesverkehrswegeplans (BVWP). Die lange Geltungsdauer bisheriger BVWP (BVWP 1992: 1992-2003; BVWP 2003: 2003-2015; BVWP 2030: 2016-2030) führt dazu, dass Pläne und Methoden mehrere Bundestag-Legislaturperioden überdauern. Aufgrund der langen Geltungsdauer eines BVWP und der gängigen Praxis, Projekte als Planungsüberhang über Dekaden fortzuschreiben, sind große Teile des aktuell geltenden Bedarfsplans auf verkehrspolitische Abwägungen vergangener Regierungen zurückzuführen. Auch der verkehrspolitisch im Fokus stehende Deutschlandtakt als bundesweit konzipiertes Fahrplan- und Schienennetzausbaukonzept wurde bereits in dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD aus dem Jahr 2013 benannt. In diesem Zusammenhang wurden eine Erhöhung der Investitionsmittel und eine Beschleunigung von Planfeststellungs- und Genehmigungsverfahren für Schieneninfrastrukturprojekte angestrebt [3]. Eine vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebene Studie führte im Jahr 2015 zu einer Liste notwendiger Infrastrukturvorhaben für unterschiedliche Varianten des Deutschlandtakts [4]. Einige der gelisteten Großvorhaben waren in ähnlicher oder identischer Form bereits seit 1992 Bestandteil der Bundesverkehrswegeplanung, wie die Tabelle 1 verdeutlicht. Jedoch zeigt sich, dass Vorhaben trotz der Einordnung als vordringlicher Bedarf (VB) über mehrere BVWP-Perioden als neue Vorhaben geführt PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 23.03.2023 Endfassung: 25.04.2023 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 25 Wissenschaft INFRASTRUKTUR wurden, ohne dass mit diesen Vorhaben begonnen werden konnte. Die Umsetzung von Vorhaben mit besonderer Relevanz für den Deutschlandtakt gilt angesichts des jahrzehntealten Planungsüberhangs jedoch keinesfalls als gesichert. Eine möglichst rasche Umsetzung des Deutschlandtakts muss mit einer radikalen Beschleunigung der typischerweise Jahrzehnte andauernden Abwägungs- und Umsetzungsprozesse von Schieneninfrastrukturgroßprojekten einhergehen. Konkrete Umsetzungsschritte für deutschlandweit wirksame Bedarfsplan-Vorhaben wie die ABS / NBS Frankfurt - Mannheim, ABS / NBS Hamburg - Hannover, ABS / NBS Hanau - Würzburg / Fulda - Erfurt oder ABS / NBS Hannover - Bielefeld wurden erst innerhalb der letzten ein bis zwei Jahre aufgenommen (Tabelle 2). Zukünftig sollte die Aufnahme von Projekten in den BVWP und die Feststellung eines hohen gesamtwirtschaftlichen Nutzens innerhalb weniger Jahre zum Beginn und Abschluss von Bautätigkeiten führen. Parallel hierzu sind Projekte, die sich seit Jahrzehnten aufgrund so genannter Restarbeiten noch immer in der Realisierungsphase befinden, zügiger fertigzustellen. Bis heute enthalten die jährlichen Verkehrsinvestitionsberichte der Bundesregierung Mittelabflüsse für Vorhaben, deren Planfeststellungsbeschlüsse und Finanzierungsvereinbarungen bereits in den 1990er Jahren erteilt wurden. Dies trifft etwa auf die ABS Karlsruhe - Stuttgart - Nürnberg - Leipzig / Dresden oder die ABS / NBS Nürnberg - Ingolstadt - München zu (Tabelle 2). Finanzierungsdefizit beim Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege Die über Jahrzehnte andauernde Abarbeitung des Bedarfsplans Schiene ist sicherlich auf bürokratische Hürden, aber mindestens in demselben Ausmaß auf das limitierte Budget für Neu- und Ausbauvorhaben zurückzuführen. Trotz eines wachsenden Finanzierungsbedarfs stiegen die für Bedarfsplanmaßnahmen des Schienenverkehrs im Bundeshalt eingeplanten Mittel im Zeitraum 2012 bis 2020 nur äußerst geringfügig von 1,24-Mrd. auf 1,39 Mrd. EUR an. Im Jahr 2021 ergab sich die Besonderheit, dass die verausgabten Mittel (2,05- Mrd. EUR) das geplante Budget (1,56 Mrd. EUR) deutlich überstiegen und zudem erstmals erkennbar über den Ausgaben vorheriger Jahre lagen. Für die Jahre 2022 und 2023 wurden im Bundeshaushalt schließlich Investitionsmittel in Rekordhöhe (1,90 bzw. 2,00 Mrd. EUR) eingeplant (Bild 1) [8]. Vordringliche Bedarfsplan-Vorhaben BVWP 1992 [5] BVWP 2003 [6] BVWP 2016 [2] Gesamtkosten Stand 2020 [7] ABS Hamburg - Büchen - Berlin (2. Ausbaustufe) l. V. l. V. l. V. 2,8 Mrd. € ABS / NBS Nürnberg - Erfurt n. V. l. V. l. V. 8,0 Mrd. € ABS / NBS Frankfurt - Mannheim (- Karlsruhe) n. V. n. V. n. V. 4,4 Mrd. € ABS / NBS Hamburg - Hannover n. V. n. V. n. V. 3,9 Mrd. € ABS / NBS Hanau - Würzburg / Fulda - Erfurt n. V. n. V. n. V. 3,7 Mrd. € ABS / NBS Hannover - Bielefeld - n. V. n. V. 1,9 Mrd. € ABS / NBS Karlsruhe - Offenburg - Freiburg - Basel l. V. l. V. l. V. 15,7 Mrd. € Knoten Frankfurt, Hamburg, Köln, Mannheim, München - n. V. n. V. 10,0 Mrd. € Blau: Laufendes / fest disponiertes Vorhaben (l. V.) des vordringlichen Bedarfs Grau: Neues Vorhaben (n. V.) des vordringlichen Bedarfs ABS = Ausbaustrecke NBS = Neubaustrecke Tabelle 1: Historie ausgewählter Großvorhaben des Bundes mit besonderer Relevanz für den Deutschlandtakt (VIA) Bedarfsplan-Vorhaben BVWP PFB FINVE BB VIBN ABS Hamburg - Büchen - Berlin (2. Ausbaustufe) 1992 n. b. 2002 2002 2004 ABS / NBS Nürnberg - Erfurt 1992 1995 1997 1997 2025 ABS / NBS Frankfurt - Mannheim (- Karlsruhe) 1992 offen ABS / NBS Hamburg - Hannover 1992 offen ABS / NBS Hanau - Würzburg / Fulda - Erfurt 1992 offen ABS / NBS Hannover - Bielefeld 2003 offen ABS / NBS Karlsruhe - Offenburg - Freiburg - Basel 1980 1987 1987 1987 2035 ABS Karlsruhe - Stuttgart - Nürnberg - Leipzig / Dresden 1992 1997 1997 n. b. 2032 ABS / NBS Nürnberg - Ingolstadt - München 1985 1994 1996 1997 2006 ABS / NBS Stuttgart - Ulm (- Augsburg) 1992 1999 2009 2010 2022 Knoten Berlin, Dresden, Erfurt, Halle, Leipzig, Magdeburg 1992 1995 1997 1998 2025 BVWP = Erstmalige Aufnahme in den BVWP FINVE = Abschluss der Finanzierungsvereinbarung für das Gesamtvorhaben PFB = Planfeststellungsbeschluss für den ersten wesentlichen Bauabschnitt BB = Baubeginn wesentlicher Planfeststellungsabschnitte VIBN = Vollständige Inbetriebnahme wesentlicher Planfeststellungsabschnitte n. b. = nicht bekannt Tabelle 2: Umsetzungszeiträume ausgewählter laufender & fest disponierter Großvorhaben des Bundes (VIA nach [7]) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 26 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Im aktuellen Investitionsrahmenplan (IRP), welcher die beabsichtigten Investitionen der Bundesregierung in die Bundesverkehrswege im Zeitraum 2019 bis 2023 und darüber hinaus darstellt, wurde der Mittelbedarf für die Ausfinanzierung vordringlicher Vorhaben des Bedarfsplans Schiene auf ca. 53 Mrd. EUR beziffert. Die Summe setzt sich aus laufenden Vorhaben (ca. 8,2 Mrd. EUR), neuen fest disponierten Vorhaben (ca. 12,3 Mrd. EUR) sowie weiteren vordringlichen Vorhaben (ca. 32,7 Mrd. EUR) zusammen [9]. Die Kalkulation liegt somit über dem kalkulierten Bedarf zum Zeitpunkt der BVWP-Aufstellung im Jahr 2015 (ca. 46 Mrd. EUR). Zum damaligen Zeitpunkt wurden in der Kategorie weitere Vorhaben deutlich geringere Investitionen prognostiziert (ca. 19,7 Mrd. EUR) [10] (Tabelle 3). Der zwischenzeitlich eingetretene Mehrbedarf führt selbst unter Vernachlässigung von Baupreissteigerungen dazu, dass eine Abarbeitung des geltenden Bedarfsplans Schiene frühestens Mitte der 2040er Jahre erreicht wäre. Zu berücksichtigen ist, dass im selben Zeitraum kein Investitionsspielraum für zusätzliche Maßnahmen oder Maßnahmen des sonstigen Bedarfs mit geringerem Nutzen-Kosten-Verhältnis bestünde. Die strukturelle Unterfinanzierung der im aktuellen Bedarfsplan Schiene aufgelisteten Projekte wurde in der Debatte zum Bundeshaushalt 2023 zu Recht aufgegriffen und auf mindestens 20 Mrd. EUR beziffert. Zugleich wurden erhebliche Preissteigerungen für laufende und fest disponierte Vorhaben in Aussicht gestellt [11]. Demnach verschärft sich das Missverhältnis zwischen verfügbaren und erforderlichen Investitionsmitteln zur Bewältigung des Bedarfsplans Schiene weiter. Eine weitere Steigerung der Investitionsmittel des Bundes erscheint indessen fraglich. Vielmehr ist aus Regierungskreisen zu hören, dass eine Reduktion des BVWP-Projektvolumens, verbunden mit einer endgültigen oder vorläufigen Streichung besonders kostenintensiver Vorhaben nicht auszuschließen ist [12]. Lang andauernde Restarbeiten in laufenden Bedarfsplan-Vorhaben verursachen weiter jährliche Kosten in oft zweibis dreistelliger Millionenhöhe, ohne dass eine endgültige Fertigstellung abzusehen ist. Die Auswertung der Verkehrsinvestitionsberichte der Bundesregierung im Zeitraum 2010 [13] bis 2020 [7] lässt zudem erkennen, dass die prognostizierten Gesamtkosten laufender Vorhaben innerhalb weniger Jahre mehrfach und teilweise sprunghaft angehoben wurden. Die Steigerungsrate verausgabter Mittel hält dem Anstieg prognostizierter Gesamtkosten nicht Schritt, sodass auch aufgrund von Kostensteigerungen von einer Verlängerung laufender Bautätigkeiten auszugehen ist. Dies trifft zum Beispiel auf Kategorisierung von Neu- und Ausbauvorhaben des Bedarfsplans Schiene nach Projektständen Kalkulierter Finanzbedarf zur Ausfinanzierung des Bedarfsplans Schiene [Mrd. EUR] BVWP 2030 [10] mit Stand 2015 IRP 2020 [9] mit Stand 2019 Laufende vordringliche Vorhaben 8,4 8,2 Neue, fest disponierte, vordringliche Vorhaben 18,3 12,3 Weitere vordringliche Vorhaben in frühen Planungsstadien 19,7 32,7 Summe 46,4 53,2 Tabelle 3: Prognose des Finanzbedarfs für die Umsetzung des Bedarfsplans Schiene (VIA nach BVWP 2030 und IRP 2020) 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 Milliarden Euro Steigerung der Investitionen des Bundes in den Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege Eingeplante Haushaltsmittel Verausgabte Haushaltsmittel Bild 1: Entwicklung der Investitionen des Bundes für den Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege (VIA nach [8]) 0,0 1,0 2,0 3,0 4,0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Milliarden Euro ABS Karlsruhe - Stuttgart - Nürnberg - Leipzig / Dresden Kumulierte Ausgaben Prognostizierte Gesamtkosten 3,2 3,4 3,6 3,8 4,0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Milliarden Euro ABS / NBS Nürnberg - Ingolstadt - München Kumulierte Ausgaben Prognostizierte Gesamtkosten Bild 2: Verhältnis zwischen Ausgaben und prognostizierten Gesamtkosten von Bedarfsplan-Vorhaben (Beispiel 1) 0,0 4,0 8,0 12,0 16,0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Milliarden Euro ABS / NBS Karlsruhe - Offenburg - Freiburg - Basel Kumulierte Ausgaben Prognostizierte Gesamtkosten 0,0 4,0 8,0 12,0 16,0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Milliarden Euro ABS / NBS Nürnberg - Erfurt Kumulierte Ausgaben Prognostizierte Gesamtkosten Bild 3: Verhältnis zwischen Ausgaben und prognostizierten Gesamtkosten von Bedarfsplan-Vorhaben (Beispiel 2) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 27 Wissenschaft INFRASTRUKTUR die Vorhaben ABS Karlsruhe - Stuttgart - Nürnberg - Leipzig / Dresden, ABS / NBS Nürnberg - Ingolstadt - München (Bild 2), ABS / NBS Nürnberg - Erfurt und insbesondere ABS / NBS Karlsruhe - Offenburg - Freiburg - Basel (Bild 3) zu. Vor dem Hintergrund aufgezeigter Kosten und abzusehender Kostensteigerungen erscheint eine Diskussion alternativer Finanzierungsmöglichkeiten des Neu- und Ausbaus der Bundesschienenwege unabdinglich. Der von der Beschleunigungskommission Schiene eingebrachte Vorschlag eines Fonds-Modells propagiert ein Umverteilungsmodell von Wegeentgelten aus dem Straßensektor zugunsten der Schiene [14]. Nach dem Scheitern der von der Vorgängerregierung vorangetriebenen PKW-Maut beschränken sich Wegeentgelte bislang auf den Schwerverkehr. Die Einnahmen fließen in den Ausbau und den Betrieb des Bundesfernstraßennetzes und werden hierfür auch längerfristig benötigt. Im März 2023 kündigte die Bundesregierung an, Einnahmen eines ab 2024 geplanten CO 2 -Zuschlages auf Wegeentgelte des Schwerverkehrs anteilig für die Finanzierung von Investitionen des Schienenverkehrs zu nutzen [15]. Die Effektivität dieses Finanzierungsinstruments wird von der Höhe und Planbarkeit zusätzlicher Mauteinnahmen abhängen. Eine Alternative zu dem mautbasierten Umverteilungsmodell könnte eine zweckgebundene Verwendung von Mineralöl- und Kraftfahrzeugsteuereinnahmen für Schienenverkehrsprojekte darstellen. Dem entgegen spricht, dass auch diese Einnahmen für andere Etats fest eingeplant und kaum ersetzbar sind. Ein effektives Umverteilungsmodell steht folglich vor erheblichen Hürden. Eine Neuverschuldung des Bundes zur Finanzierung höherer Investitionen in den Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege stand in den vergangenen Legislaturperioden außer Frage, doch könnte dies die einzige Möglichkeit sein, die erforderliche Schieneninfrastruktur in ambitionierteren Zeitspannen umzusetzen. Bewältigung multipler Kapazitätsengpässe Das deutsche Schienennetz verzeichnet einen stetigen Anstieg der Betriebsleistung, von einem kurzfristigen Einbruch im Corona-Jahr 2020 abgesehen. Im Jahr 2021 wurden im Schienenpersonennahverkehr (SPNV), Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) und Schienengüterverkehr (SGV) insgesamt etwa 1,13 Mrd. Trassenkilometer (Trkm) abgewickelt, dies entspricht einer Steigerung um 3,8 % binnen fünf Jahren. Der SPNV trägt am meisten zu der gesamthaften Betriebsleistung bei (721 Mio. Trkm; 63,6 %), gefolgt vom SGV (263 Mio. Trkm; 23,2 %) und dem SPFV (150 Mio. Trkm; 13,2 %) (Bild 4) [16]. Der Anstieg der Verkehre hat auf zahlreichen Netzabschnitten zu einer Verschärfung bestehender oder zu neuen Engpasserscheinungen geführt. Zu berücksichtigen ist, dass zusätzliche Verkehre insbesondere die bereits hochbelasteten Abschnitte tangieren. Die Streckenbelastung durch Personen- und / oder Güterverkehre ist insbesondere entlang der nachfolgend gelisteten Relationen überdurchschnittlich hoch (Tabelle 4), wie anhand von Querschnittsbelastungen mit durchschnittlich 150 bis über 300 Zügen pro Tag erkennbar wird. Bei den Zugzahlen handelt es sich um gemittelte Zähldaten des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA) für das Jahr 2021 [17]. Spitzenreiter der Messkampagne ist die Messstelle Bad Hersfeld mit 342 Zügen in 24 Stunden. Hohe Zugdichten führen auf einem Großteil der beispielhaft aufgeführten Relationen zumindest abschnittsweise zu kapazitätsbedingten Engpässen. Die sehr hohen Auslastungen haben dazu geführt, dass einzelne Abschnitte entlang der Relationen Mannheim - Basel, Hannover - Kassel - Fulda und Frankfurt - Würzburg - Nürnberg - Passau gemäß Eisenbahnregulierungsrecht als überlastete Schienenwege deklariert werden [18], sodass Gegenmaßnahmen dort besonders dringlich sind. Zwar werden nach Darstellung der Bundesnetzagentur (BNetzA) Trassenanfragen der Eisenbahnverkehrs- Achse Hochbelastete Schienenverkehrsrelation Messstelle Mittlere Zugzahl in 2021 (in 24 h, beide Richtungen) SPV SGV Gesamt Nord-Süd Köln - Rhein-Main (linksrheinisch) Andernach 129 86 215 Köln - Rhein-Main (rechtsrheinisch) Lahnstein 46 103 149 Mannheim - Basel (Oberrheintal) Emmendingen 107 153 260 Hamburg - Hannover Celle 74 99 173 Hannover - Kassel - Fulda Bad Hersfeld 156 186 342 West-Ost Hamm - Hannover - Berlin Stadthagen 174 124 271 Hannover - Magdeburg Eisleben 74 105 179 Frankfurt - Würzburg - Nürnberg - Passau Karlstadt 94 195 289 Ulm - Augsburg - München - Rosenheim Rosenheim 136 92 228 Tabelle 4: Auswahl hochbelasteter Verkehrsachsen im deutschen Schienennetz (VIA nach [17]) 692 696 708 705 721 141 145 148 143 150 259 262 253 237 263 0 200 400 600 800 1000 1200 2017 2018 2019 2020 2021 Millionen Trkm Betriebsleistung des Schienenverkehrs nach Zugarten Betriebsleistung SPNV Betriebsleistung SPFV Betriebsleistung SGV COVID Bild 4: Betriebsleistung des Schienenverkehrs (VIA nach BNetzA [16], div. Jahre) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 28 INFRASTRUKTUR Wissenschaft unternehmen (EVU) auf Seiten der DB Netz AG in einem überschaubaren Ausmaß endgültig abgelehnt [19], doch lässt das knappe Trassenangebot für zahlreiche EVU kaum mehr Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Abfahrtszeiten oder das Routing zu. Insbesondere im SPFV, der in Deutschland weitgehend ohne direkte Subventionen erbracht wird, ist seit einigen Jahren ein juristisches Ringen um attraktive Zeiten und Relationen festzustellen (vgl. z. B. [20]). Für Wettbewerber der DB Fernverkehr AG ist die Reservierung attraktiver Einzeltrassen von essenzieller wirtschaftlicher Bedeutung, da die Gewinn- und Verlustrechnung auf nur wenigen Zugangeboten aufbaut und bereits durch geringfügige Fahrgastrückgänge stark negativ beeinflusst wird. Eine Erweiterung des Trassenangebots ist in hohem Maße an den zuvor erläuterten Neu- und Ausbau des Streckennetzes sowie der Knoten geknüpft. Die größtenteils weit in der Zukunft liegenden Inbetriebnahmen von Bauvorhaben werden den Konkurrenzkampf um attraktive Fahrplanslots noch verschärfen. Auch die fortschreitende Aufrüstung des Streckennetzes mit dem Zugsicherungssystem ETCS (European Train Control System) und weitere technologische Innovationen (z. B. die Erhöhung der Bremsleistung bzw. Geschwindigkeit von Güterzügen) werden gravierende Kapazitätsengpässe nicht aufheben, sondern bestenfalls mildern. Die anhaltende Überlastung von Streckenabschnitten beschränkt sowohl die Ausweitung des Zugangebotes als auch mögliche Markteintritts- und Expansionspläne nicht-bundeseigener EVU, sodass die in anderen europäischen Schienennetzen zu beobachtenden Wettbewerbseffekte - etwa sinkende mittlere Ticketpreise im SPFV (vgl. z. B. [21]) - in Deutschland eine geringere Rolle spielen. Problematische Betriebsqualität Der Eisenbahnbetrieb in Deutschland ist in einem stark zunehmenden Maße von Verspätungen geprägt. Der Anteil nicht pünktlicher Züge nach EU-Definition [22] (Verspätung ≥ 5 min im Personen- und ≥ 15 min im Güterverkehr) erreichte im ersten Halbjahr 2022 einen Negativrekord (SPNV: 12,3 %; SPFV: 33,6 %; SGV: 41,9 %) (Bild 5) [16]. Im SPNV ist somit jede zehnte Fahrt nicht pünktlich, im SPFV jede dritte Fahrt. Die massive Zunahme der Verspätungen hat erhebliche Auswirkungen auf die Gesamtreisezeit der Fahrgäste, da Anschlüsse vielfach nicht gehalten werden können. Die Häufung von Verspätungsereignissen lässt sich auf zahlreiche Ursachen zurückführen, wenngleich eine wissenschaftlich objektivierte Aufschlüsselung dieser Ursachen fehlt. Das Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) DB Netz AG zeigt sich lediglich für ca. 9 % der im Jahr 2021 codierten Verspätungsminuten (cVmin) aufgrund von Bauaktivitäten und technischen Störungen verantwortlich. Rund 57 % der Verspätungsminuten werden EVU angelastet, z. B. aufgrund verspäteter Zug- oder Personalbereitstellungen. 34 % der Verspätungsminuten werden auf übrige Umstände (u. a. Extremwetterereignisse, Folgeverspätungen) zurückgeführt. Das EIU räumt einen starken Anstieg netzbedingter Störungen ein und begründet dies mit der Ausweitung von Bautätigkeiten und hohen Ausfallraten technisch veralteter Infrastruktur [23]. Auf der Ebene des DB-Gesamtkonzerns wird die Zunahme von Verspätungen in der ersten Jahreshälfte 2022 noch stärker mit einer hohen Bautätigkeit, gepaart mit einer hohen Netzauslastung, Überalterung und Störanfälligkeit der Netzinfrastruktur begründet. Als zeitlich begrenzte Ursachen wurden u. a. Unwetterereignisse sowie die dreimonatige Geltungsdauer des 9-Euro-Tickets und der hieraus resultierende Fahrgastzuwachs genannt [24]. Aufschlussreich ist zudem die Sichtweise der Aufgabenträger des SPNV auf regionale Verspätungssituationen. Nach landesweiten Erhebungen in Nordrhein-Westfalen (NRW) für das Jahr 2021 galten 16,4 % der Zugfahrten des SPNV in NRW als nicht pünktlich, wobei in NRW eine besonders strenge Pünktlichkeitsdefinition (Verspätung ≥ 4 min) gilt. Zudem wurde ein Rekord bei der Anzahl ausgefallener Zugkilometer (ca. 11,2 % der 116 Mio. Zugkilometer) verbucht. Die verringerte Betriebsqualität wurde unter anderem mit Verzögerungen bei der Durchfahrt hochbelasteter Knoten (z. B. Hamm, Köln, Münster), einer Zunahme betrieblicher Überholungen durch den SPFV und Trassenkonflikten aufgrund von baustellenbedingten Einschränkungen der Schienennetzkapazität begründet. Außerdem führte eine verstärkte Schadanfälligkeit älterer Triebfahrzeuggenerationen zu Verspätungen. Die Häufung von Zugausfällen wurde insbesondere auf Personalmangel und umfangreiche Arbeitsstreiks zurückgeführt [25]. Werden die Erkenntnisse der EIU, EVU und SPNV- Aufgabenträger in Bezug auf Verspätungsursachen und -häufigkeiten zusammengenommen, zeigt sich ein wenig optimistisches Bild. Bei den baustellenbedingten Verspätungen und Zugausfällen ist keine Trendumkehr abzusehen, da Bauaktivitäten der DB Netz AG kurz- und mittelfristig intensiviert werden. Hinzu kommen die generell zu geringen Netzkapazitäten bzw. hohe Zugzahlen - letztere könnten bei einer positiven Fahrgast- und Konjunkturentwicklung weiter ansteigen. Auch hier ist eine möglichst rasche Bewältigung von Engpässen durch infrastrukturelle Erneuerung sowie Neu- und Ausbauvorhaben geboten. Den weitverbreiteten alters- oder verschleißbedingten Ausfallerscheinungen von Rollmaterial und Infrastrukturkomponenten ist durch verstärkte Instandhaltung und frühzeitigeren Ersatz zu begegnen. Steigende staatliche Subventionen bei geringer Rentabilität von Verkehrsdiensten Die in Deutschland tätigen EVU agieren in einem Marktumfeld, das seit Jahren von Kostensteigerungen, verhältnismäßig geringen Margen und wachsenden unter- 9,7 10,9 10,5 8,6 10,8 12,3 27,4 27,8 27,7 22,6 28,2 33,6 36,6 38,2 37,2 33,8 39,2 41,9 0 10 20 30 40 50 2017 2018 2019 2020 2021 2022* Anteil in Prozent Anteil nicht pünktlicher Züge nach Zugarten Anteil nicht pünktlicher Züge im SPNV Anteil nicht pünktlicher Züge im SPFV Anteil nicht pünktlicher Züge im SGV COVID * Erstes Halbjahr 2022 Bild 5: Anteil nicht pünktlicher Zugfahrten (VIA nach BNetzA [16], div. Jahre) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 29 Wissenschaft INFRASTRUKTUR nehmerischen Risiken gekennzeichnet ist. Der im Zuge der COVID 19-Pandemie historisch einmalige Nachfragerückgang im Personenverkehr blieb nur dank finanzieller Unterstützung des Staates ohne gravierende existenzielle Folgen für EVU. Die für EVU potenziell existenzgefährdende Pandemiesituation wurde durch die geänderte geopolitische Situation nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs abgelöst. Infolgedessen erhöhten sich die Kosten für den Bahnstrom, Dieseltreibstoff und weitere Energieträger in einem beispiellosen Ausmaß. Die zwischenzeitlich eingetretene Inflation wirkt sich gegenwärtig oder in naher Zukunft auf zahlreiche weitere Kostenbestandteile aus. Ein bedeutender Kostentreiber ergibt sich im Bereich Personal aufgrund neuer Tarifabschlüsse, auf Basis derer ein Inflationsausgleich für Arbeitnehmer angestrebt wird. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Gesamtsituation sind die zwischenzeitlichen Eingriffe des Staates in den Verkehrsmarkt eminent wichtig. Ein wesentlicher Eingriff erfolgte ab 2020 im Zuge der Trassenpreisförderung des SPFV und SGV. Nach Angaben der BNetzA wurden die mittleren Trassenpreise im Jahr 2020 im SPFV von 7,00 auf 0,75 EUR je km, im SGV von 2,91 auf 0,31-EUR je km gesenkt. Im Jahr 2021 wurde eine weitere Absenkung auf 0,07 bzw. 0,15 EUR je km beschlossen, die damit einer Abschaffung gleichkam. Im Jahr 2022 wurde die Förderung stark reduziert, sodass im ersten Halbjahr 2022 im SPFV 4,31 EUR je km und im SGV 1,66- EUR je km an Trassenentgelten bezahlt wurden (Bild 6). Mit der Trassenpreisförderung wurde besonders im SPFV ein langanhaltender Trend zu immer höheren Trassenentgelten durchbrochen. Der Anteil der Trassenentgelte an den Gesamtkosten von SPFV-EVU wurde von ca. 25 % (2019) auf 11 % (2020) bzw. ca. 6 % (2021) abgemildert. Im SGV reduzierte sich dieser Anteil von 10 bis 15 % auf ca. 6 % (2020) bzw. 4 % (2021) [16]. Im Zuge weiterer Markteingriffe des Staates konnte die Preisentwicklung für Fahrgäste des SPNV und SPFV sowie die verladende Wirtschaft im SGV vorerst gedämpft werden. Neben der Trassenpreisförderung im SPFV und SGV spiegeln sich die Reduzierung des Steuersatzes auf Tickets des SPFV von 19,0 auf 7,0 % sowie die dreimonatige Einführung des 9-Euro-Tickets im SPNV in der Entwicklung des Verbraucherpreisindex für Eisenbahnpersonenverkehr ab 2020 wieder (Bild 7) [26]. Die ab Mai 2023 erfolgende dauerhafte Einführung des 49-Euro-Tickets im SPNV könnte zu einer Abschwächung des Verbraucherpreisindexes für Eisenbahnpersonenverkehr führen, sollte jedoch nicht über die angespannte Kostensituation auf Seiten der EVU hinwegtäuschen. Die Rentabilität der Personen- und Güterbeförderung deutscher EVU wird seit knapp zehn Jahren durch die BNetzA als Quotient aus Ergebnis und Umsatz veröffentlicht. Die Angaben richten sich nach den Angaben der EVU gegenüber der Behörde und werden im Fall des SPNV und SGV zudem getrennt für nicht-bundeseigene EVU (sog. NE-Bahnen ohne Zugehörigkeit zur Deutschen Bahn AG) ermittelt. Im SPNV zeigt sich vor Beginn der COVID 19-Pandemie im Zeitraum 2014 bis 2019 eine stark abnehmende Quote (7,5 % in 2014; 3,2 % in 2019) [28, 16]. Die Entwicklung korreliert mit einer zunehmenden Dominanz der NE-Bahnen innerhalb des SPNV-Marktes, verknüpft mit einer dort vorherrschenden negativen Umsatzrentabilität (im Mittel −1,0 % 2014- 2019). Hingegen ergibt sich im SPFV ein gegenläufiger Trend. Die Geschäftstätigkeit des SPFV-EVU DB Fernverkehr AG führte dazu, dass sich die Umsatzrentabilität im SPFV-Markt beinahe verdoppeln konnte (4,5 % in 2014; 8,5 % in 2019). Im SGV zeigt sich eine Verschärfung negativer Quoten (−1,5 % in 2014; −8,8 % in 2019) (Bild 8). Bei ausschließlicher Betrachtung der im SGV tätigen NE-Bahnen ergeben sich durchweg positive, wenngleich niedrige Quoten (im Mittel 3,0 % 2014-2019). Während NE-Bahnen im SGV seit Jahren überwiegend profitabel 4,62 4,72 4,84 4,91 5,06 5,07 5,13 5,23 5,33 5,89 6,08 6,33 6,51 6,98 7,00 0,75 0,07 4,31 2,83 2,89 2,97 3,03 2,91 2,91 0,31 1,66 0 1 2 3 4 5 6 7 8 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020* 2021* 2022* Euro / km Mittlere Trassenpreise nach Zugarten SPNV SPFV SGV * nach Abzug der Trassenpreisförderung ab 2020 Trassenpreisförderung ab 2020 Bild 6: Mittlere Trassenpreise des Schienenverkehrs (VIA nach BNetzA [16], div. Jahre) 97,0 100,0 101,7 105,7 110,2 113,9 115,9 116,4 106,1 99,6 99,0 101,5 103,3 103,5 88,1 86,5 84,8 100,9 102,4 104,1 105,8 106,1 80 85 90 95 100 105 110 115 120 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 Index (2015 = 100) Preisindizes im Schienenverkehr (Index: 2015 = 100) SPNV* SPFV* SGV** * Verbraucherpreisindex ** Erzeugerpreisindex 9-Euro-Ticket Juni-Sept. 2022 Trassenpreisförderung, Umsatzsteuersenkung Bild 7: Verbrauchersowie Erzeugerpreisentwicklung im Schienenverkehr 2014- 2022 (VIA nach [26, 27]) 7,5 6,5 5,7 5,2 5,3 3,2 -9,3 -6,2 4,5 4,4 4,3 8,6 8,6 8,5 -4,4 -1,5 -3,8 -3,3 -5,0 -5,3 -8,8 -17,3 -5,1 -30 -25 -20 -15 -10 -5 0 5 10 15 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Verhältnis in % Umsatzrentabilität der EVU nach Zugarten SPNV SPFV SGV Ausreißer SPFV: -62,8 % COVID Bild 8: Entwicklung der Umsatzrentabilität deutscher EVU (VIA nach [28, 16], div. Jahre) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 30 INFRASTRUKTUR Wissenschaft sind, trifft das Gegenteil auf einige NE-Bahnen des SPNV zu [16]. Eine Steigerung der Regionalisierungsmittel hat das Potenzial, zu einer verbesserten finanziellen Ausstattung neu abgeschlossener Verkehrsfinanzierungsverträge beizutragen und weitere Insolvenzen im SPNV zu verhindern. Die anhaltend geringe oder negative Umsatzrentabilität von EVU bleibt nicht ohne Folgen für den gesamten Eisenbahnsektor. Besonders eindrücklich wird dies anhand der Unternehmensinsolvenz des SPNV-EVU Abellio, welches bereits vor dem Ausbruch der COVID 19-Pandemie in finanzielle Schieflage geriet [29]. Das marktführende SGV-EVU DB Cargo kommt trotz weitreichender Umstrukturierungen bislang nicht aus einer defizitären Geschäftssituation heraus. Bedeutsame Kostenfaktoren sind die notwendigen Investitionen in die Verjüngung des Fuhrparks und fixkostenintensive Zugbildungsprozesse im wenig rentablen Einzelwagenverkehr [30, 31]. Doch auch im Fall des bis in das Jahr 2019 profitablen SPFV-EVU DB Fernverkehr ist eine Rückkehr zu Geschäftsergebnissen in der Größenordnung 2017 bis 2019 nicht gesichert. Die Überalterung der ICE- und IC-Fahrzeugflotte erfordert in zunehmendem Maße Investitionen und damit stark ansteigende Abschreibungen, die sich ergebnismindernd auswirken [32, 33]. Befürworter der Eigenwirtschaftlichkeit des SPFV sollten im Hinterkopf behalten, dass Investitionen in das stark von Preissteigerungen betroffene, hochgeschwindigkeitsfähige Zugmaterial aus der laufenden Geschäftstätigkeit des SPFV-EVU zu leisten sind. Trotz dringender Investitionsbedarfe könnte Rollmaterial infolgedessen zeitlich gestreckt bzw. in geringer Stückzahl beschafft werden. Ein solcher Umstand wirkt sich kurz- und mittelfristig auf die Verfügbarkeit des Fahrzeugparks und somit auch auf die Betriebsqualität aus. Zusammenfassende Erkenntnisse und Empfehlungen Die aufgezeigten Problemfelder - Verzögerungen und Finanzierungsdefizit beim Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege, multiple Kapazitätsengpässe, eine problematische Betriebsqualität sowie steigende staatliche Subventionen bei einer abnehmenden bzw. geringen Rentabilität vieler Verkehrsdienste - lassen einen anhaltend hohen Bedarf an verkehrspolitischer Steuerung erkennen. Die beispielhaft thematisierten Maßnahmen - Erhöhung der Haushaltsmittel für Neu- und Ausbaumaßnahmen der Bundesschienenwege, Umsatzsteuersenkung im SPFV, Trassenpreisförderung, Einführung des 9-Eurobzw. 49-Euro-Tickets, Erhöhung der Regionalisierungsmittel - reichen zur Bewältigung der Problemfelder mittel- und langfristig nicht aus. Dennoch zeigen sich die Maßnahmen der letzten drei Jahre kurzfristig als enorm wirksam. Mit der Erhöhung der für den Bedarfsplan Schiene zur Verfügung gestellten Bundesmittel könnten zumindest laufende Vorhaben schneller zur vollständigen Inbetriebnahme gebracht werden. Die Umsatzsteuersenkung im SPFV und Trassenpreisförderung im SPFV und SGV sorgen dafür, dass Kostensteigerungen in den Bereichen Energie und Personal partiell kompensiert bzw. nicht vollständig an Endkunden weitergereicht werden müssen. Zugleich wird im SPNV eine deutschlandweite Fixierung des Fahrpreisniveaus für Vielfahrer auf monatlich 49 EUR gewährleistet, welche zu steigenden Fahrgastzahlen beitragen wird. Dem Verkehrsmengenwachstum sind dabei enge infrastrukturelle Grenzen gesetzt. Es zeichnet sich ab, dass die für den Deutschlandtakt notwendigen Infrastrukturmaßnahmen nicht ausreichend gegenfinanziert sind bzw. mögliche Realisierungen trotz gestiegener Budgets zu lange Umsetzungszeiträume aufweisen. Eine Erhöhung der Finanzmittel ist damit unausweichlich, wenngleich verkehrspolitisch keinesfalls gesichert. Eine Absenkung der Trassenpreise ist mit Blick auf die Kostenstruktur und Umsatzrentabilität von EVU auch langfristig geboten. Die Tatsache, dass der Erfolg des Systems Bahn von der Rentabilität der Verkehrsdienstleistungen abhängt, sollte zukünftig stärker Beachtung finden. Bestehende Betriebsprozesse von EVU lassen mit Sicherheit zahlreiche, jedoch mit erheblichen Investitionen verbundene Effizienzsteigerungen zu. Ein wesentlicher Fokus politischer Maßnahmen ist auf die Erleichterung bzw. Subventionierung effizienzsteigernder Investitionen zu legen. Wünschenswert wären sämtliche Maßnahmen, die zu einer Begrenzung der Preisspirale z. B. bei der Beschaffung von Schienenneufahrzeugen, dem Bezug von Bahnstrom oder den Infrastrukturnutzungsentgelten führen. Doch sind auch technische Innovationen, die zu Zeit- und Ressourceneinsparungen bei Produktionsprozessen (z. B. automatisierte Zugbildung im SGV, verkürzte Wendezeiten im SPNV und SPFV, energiesparende Fahrweise) sowie administrative Vereinfachungen (z. B. Vereinfachung betrieblicher Regelwerke, Verkürzung des zeitlichen Vorlaufs bei der Planung und Anmeldung von Trassen) noch stärker als in der Vergangenheit zu fördern. Die grundlegende Voraussetzung hierfür bleibt ein europaweit koordiniertes, von der gesamten Branche getragenes Vorgehen. ■ LITERATUR [1] Bund (2022): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG. [2] Bund (2016): Drittes Gesetz zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes - BSWAG. [3] CDU ; CSU ; SPD (2013): Deutschlands Zukunft gestalten - Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode, Berlin. [4] iGES ; IVE (2015): Machbarkeitsstudie zur Prüfung eines Deutschland-Taktes im Schienenverkehr. [5] Bund (1993): Gesetz über den Ausbau der Schienenwege des Bundes - BSWAG. [6] Bund (2003): Erstes Gesetz zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes - BSWAG. [7] BMDV (2022): Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichtsjahr 2020, Berlin. [8] BMF: Bundeshaushalt interaktiv, 2012-2023, www.bundeshaushalt.de/ DE/ Bundeshaushalt-digital/ bundeshaushalt-digital.html (Zugriff am: 01.02.2023). [9] BMVI (2020): Investitionsrahmenplan 2019-2023 für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes (IRP), Berlin. [10] BMVI (2016): Bundesverkehrswegeplan 2030, Berlin. [11] Deutscher Bundestag (2022): Plenarprotokoll 20/ 49 - 49. Sitzung des Deutschen Bundestages am 6. September 2022, Berlin. [12] Deutscher Bundestag (2022): Plenarprotokoll 20/ 68 - 68. Sitzung des Deutschen Bundestages am 22. November 2022, Berlin. [13] BMVBS (2012): Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichtsjahr 2010, Berlin. [14] BMDV (2022): Beschleunigungskommission Schiene - Abschlussbericht, Bonn. [15] Bundesregierung (2023): Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung, Berlin. [16] BNetzA (2023): Marktuntersuchung Eisenbahnen 2022, Bonn. 2. Fachkongress - Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur Planung, Bau, Betrieb, Unterhalt, Rückbau von Brücken, Tunneln, Schienen, Straßen, Wasserwegen Ostfildern bei Stuttgart 20. + 21. Juni 2023 Weitere Informationen und Anmeldung unter www.tae.de/ 50051 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 31 Wissenschaft INFRASTRUKTUR [17] Isert, N.; Lutzenberger, S. (2022): Lärm-Monitoring - Schallmessungen im Schienenverkehr. Jahresbericht 2021, Bonn. [18] DB Netz AG: Überlastete Schienenwege, 2022, https: / / fahrweg.dbnetze.com/ resource/ blob/ 4816508/ d0595758788002eaf1b08b6bffd018aa/ Sachstand-UeLS-Strecken-data.pdf (Zugriff am: 01.02.2023). [19] BNetzA (2021): Tätigkeitsbericht Eisenbahnen 2019/ 2020, Bonn. [20] Wachinger, L.; Scholz, D. (2020): OVG Münster: DB Netz AG ist zur Zuweisung von Teillaufwegen verpflichtet. [21] Beria, P.; Tolentino, S.; Bertolin, A., et al. (2019): Long-distance rail prices in a competitive market. Evidence from head-on competition in Italy. In: Journal of Rail Transport Planning & Management 12, S. 100144. [22] EU (2015): Durchführungsverordnung (EU) 2015/ 1100 der Kommission vom 7. Juli 2015 über die Berichtspflichten der Mitgliedstaaten im Rahmen der Überwachung des Schienenverkehrsmarkts. [23] DB Netz AG (2022): Infrastrukturzustands- und -entwicklungsbericht 2021 - Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, Berlin. [24] DB AG (2023): Integrierter Zwischenbericht Januar - Juni 2022, Berlin. [25] Breitkopf, S.-K.; Westedt, C.; Schulte, K. (2022): Qualitätsbericht SPNV Nordrhein-Westfalen 2021, Bielefeld. [26] BMDV (2022): Verkehr in Zahlen 2022/ 2023, Berlin. [27] Destatis: Erzeugerpreisindex für Dienstleistungen nach Wirtschaftszweigen, 2023. [28] BNetzA (2017): Marktuntersuchung Eisenbahnen 2017, Bonn. [29] Berschin, F.; Glienicke, J. (2022): Instrumente für Vertragskrisen. In: Der Nahverkehr, H. 9, S. 58-65. [30] DB AG (2020): Integrierter Bericht 2019, Berlin. [31] DB AG (2022): Integrierter Bericht 2021, Berlin. [32] DB Fernverkehr AG (2020): Geschäftsbericht 2019, Frankfurt. [33] DB Fernverkehr AG (2022): Geschäftsbericht 2021, Frankfurt. Fabian Stoll, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Verkehrswissenschaftliches Institut, RWTH Aachen stoll@via.rwth-aachen.de Bastian Kogel, Dr.-Ing. Oberingenieur, Verkehrswissenschaftliches Institut, RWTH Aachen kogel@via.rwth-aachen.de 2. Fachkongress - Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur Planung, Bau, Betrieb, Unterhalt, Rückbau von Brücken, Tunneln, Schienen, Straßen, Wasserwegen Ostfildern bei Stuttgart 20. + 21. Juni 2023 Weitere Informationen und Anmeldung unter www.tae.de/ 50051 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 32 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Graphenbasierter Ansatz zur digitalen Abbildung des Regelwerks im Infrastrukturbau Digital mapping of rules, Standards representation, Automatic Code Compliance Checking, BIM, Formalization of Engineering Knowledge, Graph-based data modeling Die Realisierung einer Infrastrukturmaßnahme erfordert ein hohes Ingenieurwissen, welches unter anderem in dem einzuhaltenden technischen Regelwerk zu finden ist. Die Einhaltung von Vorgaben des technischen Regelwerks in Form von Vorschriften im Infrastrukturbau über alle Phasen hinweg ist in mehrfacher Hinsicht wichtig. Sie spiegeln nicht nur die technischen Standards als anerkannte Regeln der Technik wider, sondern sind insbesondere auch bei (verkehrs-)sicherheitsrelevanten Aspekten von großer Bedeutung. Vor diesem Hintergrund ist die Umsetzung des BIM-Anwendungsfalls der automatischen Vorschriftenkonformitätsprüfung von besonderer Relevanz. Einer der wichtigsten Schritte stellt dabei die maschinenlesbare Übersetzeng der Festlegungen dar. In diesem Beitrag wird ein generisches Modell vorgestellt, mit dem Vorschriften für den Infrastrukturbau digitalisiert und flexibel in einer Graphendatenbank als Knoten-Kanten-Konstrukt modelliert werden können. Vitali Schuk, Ullrich Martin B uilding Information Modeling (BIM) wird als Methode im Bauwesen immer mehr zum Standard. Dementsprechend gibt es zunehmende Aktivitäten, um BIM auch beim Bau und der Erhaltung von Infrastrukturen anzuwenden. Die BIM- Methodik zielt in erster Linie auf die Senkung der Kosten und die Einhaltung von Terminen bei der Realisierung von Infrastrukturprojekten ab, was nur durch die Verbesserung der Planungs- und Bauprozesse über den gesamten Lebenszyklus einer Infrastruktur erreicht werden kann. Dies soll durch die Nutzung der neuen digital verfügbaren Technologien in Verbindung mit der neuen Planungsmethodik (3D+4D+5D+6D) selbst (siehe Bild 1) und den darin enthaltenen BIM-Anwendungsfällen (AWF) erreicht werden. Derzeit beschäftigen sich viele Forschungsprojekte mit dem Thema BIM im Infrastrukturbau mit dem Ziel, aktuelle Trends, eingesetzte Technologien, BIM-AWF, Vor- und Nachteile sowie noch zu schließende Wissenslücken zu identifizieren. Als eine der Wissenslücken wird das nicht für jede gewerkespezifische Planung adäquat nutzbare BIM-Autorenwerkzeug genannt, welches eine vollständige Planung nach geltenden Vorschriften erlaubt. Zwar gibt es bereits einige Softwarelösungen, die eine teilweise automatische Überprüfung auf Einhaltung der Vorgaben aus den Vorschriften anbieten, jedoch wird bemängelt, dass diese in ihren Prüfmöglichkeiten stark eingeschränkt sind und mehrere Überprüfungsprozesse manuell durchgeführt werden müssen [1, 2]. Die vorschriftenkonforme Planung einer Infrastruktur trägt zur wirtschaftlichen Effizienz und zur rechtzeitigen Ausführung von Infrastrukturmaßnahmen bei. Deren Negierung kann zu hohen Bau- und in der Folge zu hohen Betriebskosten (Wirtschaftlichkeit) sowie zu Unfällen mit erheblichen Schäden (Sicherheit) führen. Auch unter dem Gesichtspunkt des Fahrkomforts spielen die Vorgaben aus den Vorschriften eine wichtige Rolle [3-8]. Im Jahr 2009 wurde von [9] ein Konzept zur automatischen Vorschriftenkonformitätsprüfung vorgestellt. Demnach setzt sich der Vorschriftenkonformitätsprüfungsablauf aus vier Teilen zusammen bzw. ist in vier Teilen strukturiert organisiert: AT A GLANCE The realization of an infrastructure measure requires a high level of engineering knowledge, which can be found, for instance, in the technical regulations to be complied with. Regulation compliance over the entire lifecycle is important in infrastructure construction for several reasons. Regulations (and their multiple rules) reflect the technical standards and are of great significance, especially for safety issues. Against this background, the implementation of a BIM use case for Automated Code Compliance Checking (ACCC) gains in relevance. One of the most important steps in this process is the machine-readable translation of the regulation rules. In this paper, a generic model is presented, which can be used to digitize regulations for infrastructure construction and to flexibly model them in a graph database as a node-edge construct. Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 33 Wissenschaft INFRASTRUKTUR 1. Rule Interpretation (maschinenlesbare Interpretierung und logische Abbildung der Vorschriften) 2. Building Model Preparation (Vorbereitung des 3D- Modells zur Überprüfung) 3. Rule Execution (der eigentliche Überprüfungsprozess) 4. Reporting Checking Results (Präsentation der Ergebnisse) [10] Jeder genannte Schritt betrifft unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche und Funktionen [11]. Hierbei wird oft der erste Teil, die Übersetzung bzw. Formalisierung der Vorschriftenfestlegungen in eine maschinenlesbare Form, als wichtigster und gleichzeitig schwierigster Prozess erkannt (vgl. z. B. [8, 11, 12]). Dieser Beitrag befasst sich mit der Komponente Rule Interpretation und stellt einen generischen graphenbasierten Ansatz zur Digitalisierung und Abbildung von Vorschriften und Vorschriftenfestlegungen im Infrastrukturbau für unterschiedliche Verkehrsträger vor. Die bereits 2022 in [13] vorgestellten ersten Überlegungen und Anforderungen an die maschinenlesbare Übersetzung der Vorschriften im Infrastrukturbau werden in diesem Artikel in der Umsetzung aufgegriffen. Der Begriff Vorschriften wird in dem vorliegenden Beitrag als Sammelbegriff für die normativen Dokumente jeglicher Art der normenschaffenden Institutionen verwendet. Der Begriff Vorschriftenfestlegungen ist als Sammelbegriff für die Formulierungen im Text eines normativen Dokumentes jeglicher Art (z. B. Angabe, Anweisung, Empfehlung etc. [14, 15]) zu verstehen und kann synonym mit Festlegung oder Regel bezeichnet werden. Stand der Forschung Im Bereich des Infrastrukturbaus ist die Digitalisierung von Vorschriften und deren Anwendung in einem sogenannten Automatic Code Compliance Checking (ACCC) im Vergleich zum Hochbau bisher wenig erforscht. Eine ausführliche Diskussion hierzu wurde bereits in [13] mit Verweis auf [5, 16, 17] geführt. In [5] wird mit Verweis auf [7] festgestellt, dass keiner der heute bekannten Ansätze die menschliche Sprache der Vorschriften in vollem Umfang repräsentiert. Viele der heute entwickelten Ansätze decken nur einen Teil einer Fachplanung ab und arbeiten nicht gewerkeübergreifend (hier: Festlegungen aus unterschiedlichen Vorschriften für unterschiedliche Fachplanungen) [18]. Im Bahnbau ist bisher nur ein Ansatz zur digitalen Abbildung der Vorschriften mittels einer visuellen Programmiersprache (VPL) wie BPMN (Business Process Model and Notation) und DMN (Decision Model and Notation) (als Ergänzung zur BPMN) in Anlehnung an [19] veröffentlicht worden [16]. Die Übersetzung der Vorschriftenfestlegungen selbst in die maschinenlesbare Form erfolgt über die RASE (Requirement Applicability Selection Exception)-Syntax und erfordert Programmierkenntnisse. Für den Straßenbau existiert derzeit kein Ansatz zur digitalen Abbildung von Vorschriften. Der in [16] vorgeschlagene Ansatz ist jedoch möglicherweise auf andere Verkehrsträger, einschließlich der Straße (Querschnittsgestaltung, Oberbaudimensionierung etc.), übertragbar und auch allgemein auf Vorschriften anderer Länder anwendbar. Ein ausgereiftes, allgemeingültiges Modell zur maschinenlesbaren Digitalisierung der Vorschriften und zum automatischen Einsatz in der Vorschriftenkonformitätsprüfung existiert bis heute nur im Hochbau und befindet sich auch dort noch immer in der Entwicklung [3, 4, 9, 10, 16, 20, 21, 22, 23]. Zum Einsatz einer automatischen Vorschriftenkonformitätsprüfung bzw. modellgestützten Abbildung von Vorschriftenfestlegungen im Infrastrukturbau konnten, bis auf [21] und [16] aus dem Jahr 2021, keine weiteren einschlägigen Quellen gefunden werden. Schwierigkeiten und Herausforderungen bei der digitalen Abbildung von Vorschriften und deren Inhalten Das Problem der digitalen Abbildung von Vorschriften mit deren Inhalten ist vielseitig und sollte auch deshalb auf verschiedenen Abstraktionsebenen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte betrachtet werden. Anhand der Ergebnisse aus der Literaturrecherche als auch durch eigene Überlegungen kann das Problem der digitalen Vorschriftenabbildung unter folgenden übergeordneten Gesichtspunkten betrachtet werden: 1. die digitale Repräsentation der für die Planung wichtigen Vorschriftenfestlegungsinhalte einschließlich Zusatzinformationen, 2. die strukturierte Modellierung dieser Inhalte in einer Datenbank und 3. die Darstellung/ Visualisierung der angewandten Regeln für den Anwender. Digitale Repräsentation der Vorschriftenfestlegungsinhalte Bei der digitalen Übersetzung und Abbildung von Vorschriften in eine maschinenlesbare Form müssen unterschiedliche Aspekte berücksichtigt sowie Herausforderungen bewältigt werden. Zu nennen sind u. a. die quasi kontinuierliche Anpassung und Aktualisierung einer Vorschrift (Versionierung), komplexe Abstufungen einzelner Regeln etc. [6, 8, 18]. Die vorgenannten Aspekte 3D - Modell + 4D - Termine & Bauablauf x z y + $$$ $$£€$$££$$££€£ ₽₽₽₽ ₽₽₽₽ £££ £££$$$$$££$££$$$$€€ ₽₽ ₽ €€ €££€€£€$$$£££$$$€€€ ₽₽₽ ₽ ££$$$$ £€$$$£££$$$€€£ ₽₽₽₽ ₽ €€€££€ €£€$€ £€£€£€££€€£ ₽ ₽₽ £€€££££€€£ $$£€$$££$$£ ₽₽₽₽ £££ £££$$$$$££$££$$$$€€ ₽₽ ₽ ££$$$$ £€$$$£££$$$€€£ ₽₽₽₽ ₽ 5D - Kosten + 6D - Lifecycle [Betrieb & Instandhaltung] Bild 1: 6D-Prozess im Infrastrukturbau Alle Darstellungen: Autoren Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 34 INFRASTRUKTUR Wissenschaft bzw. Herausforderungen sowie weitere Überlegungen zur digitalen Abbildung der Vorschriftenfestlegungen werden ausführlich in [13] unter Einbeziehung von 16 Aspekten erörtert (vgl. Bild 2). Die Autoren in [13] stellen fest, dass bei der digitalen Abbildung von Vorschriften sowohl Aspekte auf der Ebene der Vorschriften als auch auf der Ebene der Vorschriftenfestlegungen berücksichtigt werden müssen, da die Aspekte entweder die gesamte Vorschrift oder nur einige einzelne Festlegungen betreffen können. Daraus ergibt sich die generelle Notwendigkeit, zwei miteinander interagierende Modelle in einer Datenbank (DB) zu entwickeln - eines für Vorschriften und eines für Vorschriftenfestlegungen. Ein Teil der in Bild 2 genannten Aspekte wird u. a. in [3, 8, 12, 14, 15, 24, 25] angesprochen. Strukturierte Modellierung der Vorschrifteninhalte in einer Datenbank Vorschriftenfestlegungen beschreiben meist bestimmte Einschränkungen von Parametern und Attributen eines Objekts, sowie Beziehungen zwischen einzelnen Objekten/ Elementen, die eingehalten werden müssen [4, 11, 13]. Diese können sowohl sehr einfach als auch sehr komplex sein, mit umfangreichen Überlegungen, die mehrere Restriktionen und Beziehungen gleichzeitig enthalten [4]. Deshalb sollte die zur Darstellung der Semantik und Logik der Vorschriftenfestlegungen einzusetzende DB und das Modell selbst eine hohe Flexibilität besitzen. Zur strukturierten Organisation der Daten gibt es viele Arten von DBs, wobei das bekannteste Datenbankmodell das relationale ist. Allerdings ist jedoch die Abbildung von komplex strukturierten Daten sehr eingeschränkt, sodass die Vorschriftenfestlegungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht im hinreichenden Umfang in der DB hinterlegt werden können. Vor diesem Hintergrund sollte eine DB mit einem flexiblen Datenbankmodell ausgewählt werden. Graphendatenbanken (GDB) eignen sich gut zum Speichern von heterogenen Datenstrukturen. Sie erleichtern den Umgang mit komplexen Daten und ermöglichen gleichzeitig eine einfache Datenvisualisierung für den Nutzer [26]. Eine GDB erfüllt damit die mit einer digitalen Abbildung von Vorschriften und deren Inhalten verbundenen Anforderungen. Darstellung/ Visualisierung der angewandten Vorschriftenfestlegungen für den Nutzer (Planer) Bei der Übersetzung von Vorschriften in eine digitale Form können grundsätzlich zwei Ansätze verfolgt werden. Nach [11] mit Verweis auf [9] wird zwischen den hartkodierten Lösungsansätzen und den Logik-basierten Ansätzen unterschieden. Diese Ansätze lassen sich wiederum in die sogenannten Black-Box- und White- Box-Methoden unterteilen [10]. Bei der White-Box-Methode gibt es ein bestimmtes Modell für die digitale Darstellung von Vorschriftenfestlegungen, das nicht nur von der Maschine, sondern auch vom Benutzer (Planer) gelesen werden kann. Dadurch kann der Planer besser verstehen und nachvollziehen, welche Vorschriftenfestlegungen oder Informationen gerade geprüft wurden, wodurch die Ergebnisse der Maschine plausibler werden. Dies ist ein großer Vorteil gegenüber Verfahren mit versteckten Hintergrundprozessen (Black-Box-Methode). Als Fazit lässt sich sagen, dass bei der digitalen Übersetzung der Vorschrifteninhalte darauf geachtet werden muss, dass die anzuwendenden und auszuführenden Inhalte und damit die Überprüfungsprozesse für den Benutzer sichtbar bleiben bzw. ihm angezeigt werden können [4]. Der Ansatz sollte zudem generisch sein. Das heißt, es muss ein spezifisches Übersetzungsmodell für die digitale Abbildung von Vorschriften geben, das ohne Anpassung des Quellcodes erweitert werden kann. Implementierung der digitalen Abbildung von Vorschriften und Vorschriftenfestlegungen Die gesamte digitale Repräsentation der Vorschriften in der DB basiert im Grunde auf drei (Teil-)Modellen: 1. das (Teil-)Modell der Vorschriften, 2. das (Teil-)Modell der Vorschriftenfestlegungen und 3. das (Teil-)Modell der Länder. Dabei werden die modellierten Vorschriften und die zugehörigen Vorschriftenfestlegungen durch Kanten miteinander verbunden. Gleichzeitig werden die (kodifizierten) Vorschriften mit den entsprechenden Ländern, in denen sie gelten, verbunden. Somit liegt die gesamte Abbildung in Form eines expliziten Knoten-Kanten- Konstrukts vor. Darüber hinaus werden die digital modellierten Vorschriften mit ihren ursprünglichen in Textform vorliegenden Vorschriften (PDF-Dokument) verknüpft. Alle Modelle sind in der DB durch eigene Klassen gestützt. Dies betrifft auch die Kanten mit denen die Modelle gebildet werden. Zu Einschränkung eines Modells besitzen die Kantenklassen Attribute. Digitale Abbildung von Vorschriften und Vorschriftenfestlegungen REQ02 - Technischer Standard REQ01 - Verbindlichkeitsgrad (obligatorisch/ nicht obligatorisch) REQ03 - Kodifizierte und nicht kodifizierte Vorschriften REQ05 - Herausgeber REQ08 - Verweise zwischen den Vorschriftfestlegungen innerhalb einer Vorschrift REQ06 - Landes- und Regionszugehörigkeit REQ09 - Verweise einer Vorschrift auf eine andere Vorschrift/ Verweise einer Vorschrift auf Vorschriftenfestlegung einer anderen Vorschrift REQ10 - Verkehrsträgerübergreifende Planung REQ07 - Sachgebiet und Planungsart REQ04 - Versionierung REQ11 - Verbindung zwischen den modellierten Vorschriften bzw. Vorschriftenfestlegungen in der Datenbank zum ursprünglichen PDF- Dokument der Vorschrift REQ12 - Unterscheidung nach Verkehrsarten innerhalb desselben Verkehrsträgers REQ13 - Entwurfsaufgabe REQ14 - Modellierungsrelevanz REQ15 - Komplexitätsgrad REQ16 - Vorschriftart Bild 2: Anforderungen, die bei der digitalen Übersetzung der Vorschriften berücksichtigt werden sollten [13] Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 35 Wissenschaft INFRASTRUKTUR Modell der Vorschriften Bei der Modellierung wird grundsätzlich zwischen kodifizierten und nicht kodifizierten Vorschriften unterschieden. Dementsprechend existiert ein Klassifikationssystem sowohl für kodifizierte als auch für nicht kodifizierte Vorschriften. Die Klassenstruktur der kodifizierten Vorschriften ist dreistufig ausgelegt (siehe Bild 3). Der dreistufige modulare Aufbau soll eine detaillierte Modellierung der Vorschriften in der DB sicherstellen. Diese Struktur, in Verbindung mit anderen (Teil-)Modellen und Modellierungsattributen, berücksichtigt Aspekte wie: •• Kodifizierte/ nicht kodifizierte Vorschriften •• Versionierung einer Vorschrift •• Herausgeber einer Vorschrift (normen-/ vorschriftenschaffende Institutionen etc.) •• Landeszugehörigkeit (z. B. Deutschland, Spanien etc.) •• Vorschriftart (z. B. Gesetze, Rechtsnorm, Richtlinie, technische Spezifikationen etc.) •• Verkehrsträgerübergreifende Planung (z. B. Schiene, Straße etc.) •• Verweise einer Vorschrift auf eine andere Vorschrift/ Verweise einer Vorschrift auf eine Vorschriftenfestlegung einer anderen Vorschrift •• Verbindung zwischen einer digitalisierten und in Textform vorliegender Vorschrift (PDF) •• Sachgebiete (z. B. Trassierung, Brückenbau etc.) und Planungsarten (Planung und Entwurf, Ausführung, Betrieb, Instandhaltung) Die gesamte Abstufung erlaubt es, die Vorschriften in der DB über die Klassen nach der Vorschriftart, den Ländern und normgebenden Organisationen (z. B. DB AG, FGSV, etc.) zu strukturieren. Optional können die jeweiligen länderbezogenen Vorschriften zwecks Einteilung dieser nach den Herausgebern und/ oder Organisationen einer weiteren Klasseneinteilung unterzogen werden, indem diese eigene Unterklassen wie zum Beispiel „DB_AG“ für die Richtlinien der Deutschen Bahn AG, „FGSV“ für die Regelwerke der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen etc. bekommen (vgl. Bild 3). Aspekte wie die Versionierung, die Zugehörigkeit zu einem Verkehrsträger, die Sachgebiete, der Herausgeber und die Planungsart werden über Attributfelder berücksichtigt. Der Aspekt Herausgeber kann somit unter Umständen zweifach festgelegt werden - über das Attributfeld „Herausgeber“ und zusätzlich über eine zum Herausgeber angelegte Unterklasse. Ergänzend zur Zuordnung einer Vorschrift zu einem bestimmten Land über Unterklassen des Vorschriftenklassensystems existiert in der DB ein separates (Teil-) Modell der Länder, dessen Instanzen über die Kanten mit zugehörigen Instanzen der Vorschriften verbunden werden. Die Klassen- und Vererbungshierarchie der nicht kodifizierten Vorschriften weicht von der Klassenstruktur der eigentlichen kodifizierten Vorschriften zum Teil deutlich ab. Diese sehen aufgrund der Tatsache, dass es keine Länder und Vorschriftarten gibt, weniger ausgeprägt aus. Die Modellierungsattribute bleiben aber bei den nicht kodifizierten Vorschriften dieselben wie die der kodifizierten Vorschriften (vgl. Bild-4). Modell der Vorschriftenfestlegungen Das entwickelte Modell der Vorschriftenfestlegungen überführt die zuvor in Textform vorliegenden Festlegungen/ Regeln einer Vorschrift in eine maschinenauswertbare Form. Zu diesem Zweck werden diese in der DB als Knoten modelliert und in Gruppen mittels Kanten zusammengefasst. Dabei werden die (komplexen) Regeln schrittweise in einfachere, kleinere Elemente zerlegt, wodurch der Komplexitätsgrad der Zusammenhänge von kettenartigen Festlegungen herabgesetzt und die Aussage einer Vorschrift präzise formuliert wird. Die einzelnen Sets von Vorschriftenfestlegungen werden getrennt nach den Verkehrsträgern erstellt. «vertex» Vorschrift + oeff_EdB: Boolean + oeff_NE: Boolean + n_oeff_EdB: Boolean + n_oeff_NE: Boolean + Strassenbahn: Boolean + ...: ... «vertex» ... + ...: ... «vertex» DB_AG + ...: ... «Vertex» V «vertex» Gesetz + Aktualisierung: Date + Herausgeber: String «vertex» Rechtsnorm + Aktualisierung: Date + Herausgeber: String «vertex» Richtlinie + Aktualisierung: Date + Herausgeber: String «vertex» FGSV + ...: ... «vertex» RichtlinienDE + Bruecke: Boolean + Entwaesserungs...: Boolean + Oberbau: Boolean + Linienführung: Boolean + ...: ... + Planung_und_Entwurf: Bo... + Ausfuehrung: Boolean + Betrieb: Boolean + Instandhaltung: Boolean «vertex» RichtlinienESP + Bruecke: Boolean + Entwaesserungs...: Boolean + Oberbau: Boolean + Linienführung: Boolean + ...: ... + Planung_und_Entwurf: Bo... + Ausfuehrung: Boolean + Betrieb: Boolean + Instandhaltung: Boolean «vertex» RichtlinienIT + Bruecke: Boolean + Entwaesserungs...: Boolean + Oberbau: Boolean + Linienführung: Boolean + ...: ... + Planung_und_Entwurf: Bo... + Ausfuehrung: Boolean + Betrieb: Boolean + Instandhaltung: Boolean «Vertex» NichtKodifizierteVorschrift + oeff_EdB: Boolean + oeff_NE: Boolean + n_oeff_EdB: Boolean + n_oeff_NE: Boolean + Strassenbahn: Boolean + ...: ... «Vertex» IndividuellerModus + Aktualisierung: Date + Bruecke: Boolean + Entwaesserungs...: Boolean + Oberbau: Boolean + Linienfuehrung: Boolean + ...: ... «Vertex» Kategorisierung + Planung_und_Entwurf: Bo... + Ausfuehrung: Boolean + Betrieb: Boolean + Instandhaltung: Boolean «Vertex» V «abstract Vertex» Datensatz + Name: String + Alias: String + Kommentar: String + uuid: String Bild 3: Auszug aus der Klassen- und Vererbungshierarchie von kodifizierten Vorschriften Bild 4: Klassen- und Vererbungshierarchie von nicht kodifizierten Vorschriften Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 36 INFRASTRUKTUR Wissenschaft In dem Modell werden die digital übersetzten Vorschriftenfestlegungen als eine Vorwärts-/ Rückwärtsverkettung von Bedingungen modelliert. Sie werden mit Hilfe von logischen Ausdrücken („UND“ / „ODER“ / „WENN-DANN“-Regeln, mathematische Regeln und Mischformen aus den beiden) sowie Beziehungen in der DB dargestellt. Die Verweise zwischen Vorschriftenfestlegungen innerhalb einer Vorschrift und Verweise von einer Vorschrift auf eine andere Vorschrift werden über die Kanten abgebildet. Das Modell berücksichtigt folgende Aspekte: •• Unterscheidung nach Verkehrsarten innerhalb desselben Verkehrsträgers •• Verweise zwischen den Vorschriftenfestlegungen innerhalb der Vorschrift •• Verweise einer Vorschrift auf eine andere Vorschrift/ Verweise einer Vorschrift auf eine Vorschriftenfestlegung einer anderen Vorschrift •• Planungsarten (Planung und Entwurf, Ausführung, Betrieb, Instandhaltung) Zur Strukturierung der Vorschriftenfestlegungen ist eine Klassenstruktur vorgesehen. In Bild 5 ist exemplarisch der Aufbau von Vorschriftenfestlegungen dargestellt, welcher in Verbindung mit den Abhängigkeitskanten (in Bild 5 nicht mitdargestellt) zwischen den einzelnen Festlegungen in der DB zum Modellieren der Semantik der Vorschriftenfestlegungen verwendet wird. Von den modellierten Vorschriftenfestlegungen existieren momentan vier Arten - die sogenannten Eingabeknoten, die Auswahlknoten, die Multiauswahlknoten und die Anzahlmultiplikatorknoten. Die Eingabeknoten/ -elemente (Klasse „Eingabe“) werden benötigt, um direkte zahlenmäßige Eingaben zu tätigen, wie zum Beispiel die Angabe der Entwurfsgeschwindigkeit oder anderer numerischer Größen. In den Eingabeknoten werden die Zahlen nicht nur erfasst, sondern auch übergeben (z. B. aus einer vorherigen Berechnung). Die Auswahlknoten/ -elemente (Klasse „Auswahlelement“) erlauben eine direkte Auswahl an Angaben, welche als Namen der Auswahlelemente repräsentiert sind. Hierbei kann die Auswahl entweder manuell getätigt werden oder die Auswahl ergibt sich aus einer Abhängigkeit. Die Multiauswahlknoten/ -elemente werden wie die normalen Auswahlelemente behandelt, mit dem einzigen Unterschied, dass dort gleichzeitig mehrere Angaben berücksichtigt werden können. Zu diesem Zweck müssen diese unterhalb des Knotens „Multiauswahlgruppe“ (Klasse „Multiauswahlgruppe“) gruppiert modelliert werden. Der Anzahlmultiplikator(knoten) (Klasse „Anzahlmultiplikator“) dient dazu, bestimmte Festlegungen (Auswahlelemente) mit der dazugehörigen Auswahlgruppe vervielfältigen zu können. Der hier vorgestellte Ansatz zur Abbildung von Vorschriftenfestlegungen ist eine hybride Methode. Der Ansatz ist sowohl Objekt-, Ontologieals auch Logik-basiert. Modellierungslogik der Vorschriftenfestlegungen Im Rahmen der Entwicklung hat sich gezeigt, dass sich die Abbildung von langen Abhängigkeitsketten, welche zum Teil komplex im Text einer Vorschrift formuliert sind und eine ungeordnete Struktur aufweisen, am einfachsten auf Basis eines logischen Systems maschinenlesbar realisieren lässt. Bei dem Modell der Vorschriftenfestlegungen werden die Aussagen der Vorschriftenfestlegungen über die Auswertung der sogenannten „UND“ / „ODER“-Junktoren und „WENN-DANN“-Bedingungen implementiert. Somit entspricht das logische System den Prädikatenlogiken 1. Ordnung. Das Gesamtsystem kann im Grunde als Bedingung-(Verhalten)-Konsequenz-Ansatz angesehen Multiplikationskante Vorschriftenfestlegungsgruppenkante Oberknoten Vorschriftenfestlegungen VerkehrsträgerXY“ Vorschriftenfestlegungsgruppe Multiauswahlgruppe Auswahlgruppe Anzahlmultiplikator Auswahlelemente Auswahlelemente Eingabeelement Vorschriftenfestlegungskante Auswahlkante Auswahlkante A B1 B2 B3 B A1 A2 A3 C1 C2 C3 C E GruppenID: 1 GruppenID: 2 VFRK VFRK VFRK Bild 5: Schematische Darstellung der Struktur von Vorschriftenfestlegungen auf der Instanzebene als Knoten-Kanten-Konstrukt in der GDB; die Abhängigkeiten zwischen den Vorschriftenfestlegungen sind in der Abbildung nicht mit dargestellt. Bild 6: Repräsentatives Beispiel für die Modellierung von Abhängigkeiten zwischen den Festlegungen in Form von gruppierten „UND“-/ „ODER“-Bedingungen; C1 → A3 (mit „GruppenID“: 2) ∧ E ∨ B3 (mit „GruppenID“: 1) ∧ E Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 37 Wissenschaft INFRASTRUKTUR werden. Dabei wird die Logik nicht nur über die Prädikate dargestellt, sondern zusätzlich über die Knoten selbst und Modellierungsattribute in den Abhängigkeitskanten gebildet. Durch diese Modellierungsattribute wird eine detaillierte Beschreibung der Abhängigkeiten aus den Vorschriftenfestlegungen ermöglicht. Hierbei kann je nach Schwierigkeitsgrad einer Abhängigkeit zwischen zwei Vorschriftenfestlegungen, ein logischer Ausdruck durch eine reine Kantenverbindung eine Abhängigkeitsbeziehung herstellen. Die Logiken können gruppiert werden (siehe Lesebeispiel in Bild 6) und stellen in Verbindung mit der Attributierung der Kanten auch die komplexesten Kombinationen der Abhängigkeiten dar. Hierbei werden die gruppierten Kanten innerhalb einer Gruppe als „UND“- Logik interpretiert, zwischen den unterschiedlichen Gruppen als „ODER“-Logik. Die modellierten Vorschriftenfestlegungen werden in Abhängigkeit von ausgewählten Vorschriften gefiltert und ausgewertet. Die Zuweisung der Vorschriftenfestlegungen zu den einzelnen Vorschriften erfolgt über eine explizite Kantenmodellierung. Ergebnisse und Diskussion In diesem Beitrag wird ein Modell zur digitalen Abbildung von Vorschriften vorgestellt, bei dem eine neue Datenbanktechnologie als Grundlage verwendet wurde. Die digitale Abbildung von Vorschriften und deren Inhalte erfolgt in eigenen Klassifizierungssystemen. Beide Modelle sind so entwickelt worden, dass eine detailreiche Abbildung möglich ist. Die Modellstruktur der Vorschriftenfestlegungen ist einfach aufgebaut und eignet sich gut, um die Semantik der Vorschriftenfestlegungen abzubilden. Von Vorteil bei der gewählten Modellierungsmethode der Vorschriftenfestlegungen ist die explizite Darstellung von Abhängigkeiten und Beziehungen zwischen den einzelnen Vorschriftenfestlegungen in Form einer Kantenmodellierung sowie die einfachen Logiken (Prädikatenlogik, Modellierungsattribute). Mit dem gewählten Ansatz wurde bestätigt, dass die einfachen Techniken, wie logische Operatoren in Verbindung mit den Eigenschaften einer GDB ausreichen, um die Semantik und Logik der Vorschriftenfestlegungen praktisch jeglicher Art (z. B. Angabe, Zulässigkeit etc.) digital darstellen zu können. Die Aussage in [11], dass logische Interpretationen der Vorschriftenfestlegungen den Programmieraufwand reduzieren können, kann ebenfalls bestätigt werden. Das vorgeschlagene Framework ist generisch und erfordert keine Programmierkenntnisse. Hierbei wird die Generizität unter Zuhilfenahme des Klassenaufbaus inkl. definierten Ontologien und Taxonomien erreicht. Diese werden anhand von Klassennamen der Kanten und Knoten sowie der Attributierung (hier: Modellierungsattribute) der Objekte bestimmter Knoten und Kanten gebildet und abgefragt. Da es sich bei der Modellierung um einen Graphen bestehend aus Knoten und Kanten handelt, kann dieser gut visualisiert werden. Das bedeutet, dass die Abarbeitung einzelner Vorschriftenfestlegungen durch die Maschine und die Zusammenhänge sowie Abgrenzungen zwischen den einzelnen Festlegungen transparent bleiben, so dass dadurch die Mensch-Maschine-Kommunikation sichergestellt wird. Insgesamt lässt sich das Modell der Vorschriftenfestlegungen der sogenannten White-Box-Methode zuordnen, da der Ansatz explizit ist und einem bestimmten Modell folgt, kann auch das Modell selbst strukturiert visualisiert werden. Dadurch bleiben die Hintergrundprozesse der Vorschriftenkonformitätsprüfung bzw. der Regellogik nicht verborgen und eine Plausibilitätskontrolle (Überprüfung der Maschine auf mögliche Fehler durch den Planer) ist grundsätzlich gegeben. Bei der Entwicklung der Modelle wurden die Erkenntnisse und Empfehlungen der bisherigen Forschungsarbeiten (auch aus dem Hochbau) zur digitalen Übersetzung und Abbildung von Vorschriftenfestlegungen (z. B. [3, 4, 6, 8, 11, 12, 13, 18, 27]) berücksichtigt und um eigene Überlegungen, insbesondere im Hinblick auf eine GDB, ergänzt. Im hier vorgestellten Ansatz konnten viele der in [13] genannten Aspekte (hier: REQ03-REQ12, REQ14 und REQ16 in Bild 2) umgesetzt sowie die in [4] gemachten Empfehlungen berücksichtigt werden. Es ist zu erwähnen, dass bislang noch nicht alle zu berücksichtigenden Aspekte und Empfehlungen bereits in dem hier vorgestellten prototypischen Modell implementiert sind, in Zukunft aber noch eingebunden werden sollen. Zusammenfassung und Ausblick In diesem Artikel wird ein Ansatz vorgeschlagen, welcher die Vorschriften mit deren Inhalten in eine maschinenlesbare Form überführt und diese den verkehrsträgerübergreifenden Planungsprozessen zur Verfügung stellt. Zur Abbildung der Vorschriften und deren Inhalte werden zwei getrennte Klassifikationen eingeführt, welche in der gewählten GDB mit Hilfe von expliziten Knoten-Kanten-Konstrukten abgebildet und mit den hinterlegten Infrastrukturobjekten zum Planen und Bauen eines Verkehrsweges verbunden werden. Dank der Einfachheit der beiden Konzepte und der generischen Erweiterbarkeit besitzt der graphenbasierte Ansatz ein hohes Potential zur Weiterentwicklung. Aufbauend auf den bereits umgesetzten Erkenntnissen ist in der Zukunft eine Weiterentwicklung bis hin zur vollständigen digitalen Übersetzung der Vorschriften möglich, in dem die bereits vorhandenen Modelle mit den wachsenden vorschriftenbezogenen Details und Funktionalitäten weiter ausgebaut werden. Diesbezüglich ist es sinnvoll, anhand weiterführender Untersuchungen zu entscheiden, ob die noch umzusetzende Aspekte der digitalen Übersetzung von Vorschriften und deren Inhalte über die Klassen oder Modellierungsattribute, oder in Form einer Mischung aus beiden realisiert werden können. Zudem ist zu prüfen, welche der noch fehlenden Aspekte auf Ebene der Vorschriften und welche auf Ebene der Vorschriftenfestlegungen berücksichtigt werden sollten. ■ LITERATUR [1] BIM4INFRA2020 (2019): HANDREICHUNGEN-Technologien im BIM-Umfeld, Teil 10. . https: / / bim4infra.de/ wp-content/ uplo-ads/ 2019/ 07/ BIM4INFRA2020_AP4_Teil10.pdf (Abruf: 10.11.2022). [2] Bundesministerium für Digitales und Verkehr (2018): Wissenschaftliche Begleitung der BMVI Pilotprojekte zur Anwendung von BIM im Infrastrukturbau - Endbericht Handlungsempfehlungen. www.bmvi.de/ SharedDocs/ DE/ Anlage/ DG/ wissenschaftliche-begleitung-anwendung-bim-infrastrukturbau-2018.pdf? __blob=publicationFile (Abruf: 24.11.2022). Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 38 INFRASTRUKTUR Wissenschaft [3] Dimyadi, J.; Amor, R. (2013): Automated Building Code Compliance Checking - Where is it at? ” 19th International CIB World Building Congress. www.researchgate.net/ publication/ 303206027_Automated_Building_code_Compliance_Checking_Where_is_it_at (Abruf: 31.08.2022). [4] Garrett, J. H.; et al. (2014): Delivering the Infrastructure for Digital Building Regulations. In: Journal of Computing in Civil Engineering, Vol. 28, Iss. 2. https: / / doi.org/ 10.1061/ (ASCE) CP.1943-5487.0000369 [5] Porto, M. F.; et al. (2015): Automatic Analysis of Standards in Rail Projects. The 19th World Multi-Conference on Systemics, Cybernetics and Informatics: WMSCI 2015. www. iiisci.org/ Journal/ pdv/ sci/ pdfs/ MA969EM15.pdf (Abruf: 31.08.2022). [6] Nawari, N. (2012): The Challenge of Computerizing Building Codes in a BIM Environment. Computing in Civil Engineering (2012), American Society of Civil Engineers, 2012. https: / / doi.org/ 10.1061/ 9780784412343.0036 [7] Martins, P. J. (2009): Licenciamento automático de projectos - uma soluç-o para um problema de cooperaç-o? Conference TECCON 2009 at Porto. www.researchgate.net/ publication/ 308164337_Licenciamento_automatico_de_projectos_-_uma_solucao_ para_um_problema_de_cooperacao (Abruf: 0511.2022; Abruf: 15.12.2022). [8] Lee, Y.-C.; et al. (2020): A Comparative Analysis of Five Rule-Based Model Checking Platforms. Construction Research Congress 2020. https: / / doi.org/ 10.1061/ 9780784482865.119 [9] Eastman, C.; et al. (2009): Automatic Rule-Based Checking of Building Designs. In: Automation in Construction, Vol. 18, No. 8, pp. 1011-1033. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.autcon.2009.07.002 [10] Borrmann, A.; et al. (2021): Building Information Modeling Technologische Grundlagen und industrielle Praxis. VDI-Buch. Wiesbaden: Springer Vieweg, Springer Fachmedien ISBN: 978-3-658-33361-4. [11] Ismail, S. A.; et al. (2017): A Review on BIM-Based Automated Code Compliance Checking System. 2017 International Conference on Research and Innovation in Information Systems (ICRIIS), IEEE, pp. 1-6. https: / / doi.org/ 10.1109/ ICRIIS.2017.8002486 [12] Amor, R.; Dimyadi, J. (2021): The Promise of Automated Compliance Checking. In: Developments in the Built Environment, Vol. 5, No. 100039, p. 100039. https: / / doi.org/ 10.1016/ j. dibe.2020.100039 [13] Schuk, V.; et al. (2022): Technical specifications to meet the requirements of an Automatic Code Compliance Checking tool and current developments in infrastructure construction. In: Results in Engineering, Vol. 16, p. 100650. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.rineng.2022.100650 [14] DIN Deutsches Institut für Normung e. V. (2020): DIN 820-2, Standardization - Part 2: Presentation of documents, ISO/ IEC Directives - Part 2: 2018, modified, German and English version CEN/ CENELEC Internal Regulations - Part 3: 2019, ICS: 01.120. [15] DIN Deutsches Institut für Normung e. V. (2007): DIN EN 45020, Standardization and related activities - General vocabulary, ISO/ IEC Guide 2: 2004, Trilingual version EN 45020: 2006., ICS: 01.040.01. [16] Häußler, M.; et al. (2021): Code Compliance Checking of Railway Designs by Integrating BIM, BPMN and DMN. In: Automation in Construction, Vol. 121, , p. 103427. https: / / doi. org/ 10.1016/ j.autcon.2020.103427 [17] Xu, X.; Cai, H. (2020): Semantic Approach to Compliance Checking of Underground Utilities. In: Automation in Construction, Vol. 109, No. 103006, p. 103006. https: / / doi. org/ 10.1016/ j.autcon.2019.103006 [18] Tan, X.; et al. (2010): Automated Code Compliance Checking for Building Envelope Design. In: Journal of Computing in Civil Engineering 24 (2). https: / / doi.org/ 10.1061/ (ASCE)0887-3801(2010)24: 2(203) [19] ISO - International Organization for Standardization/ IEC - International Electrotechnical Commission (2013): ISO/ IEC 19510, Information technology - Object Management Group Business Process Model and Notation, ICS: 35.020. [20] Preidel, C.; Borrmann, A. (2015): Automated Code Compliance Checking Based on a Visual Language and Building Information Modeling. International Symposium on Automation and Robotics in Construction and Mining (ISARC 2015) at Oulu. https: / / doi. org/ 10.13140/ RG.2.1.1542.2805 [21] Häußler, M.; Borrmann, A. (2021): Knowledge-Based Engineering in the Context of Railway Design by Integrating BIM, BPMN, DMN and the Methodology for Knowledge-Based Engineering Applications (MOKA). In: Journal of Information Technology in Construction, Vol. 26, No. 12, pp. 193-226. https: / / doi.org/ 10.36680/ j.itcon.2021.012 [22] İlal, S. M.; Günaydın, H. M. (2017): Computer representation of building codes for automated compliance checking. In: Automation in Construction, Vol. 82, pp. 43-58. https: / / doi.org/ 10.1016/ J.AUTCON.2017.06.018 [23] Solihin, W.; Eastman, C. (2015): Classification of Rules for Automated BIM Rule Checking Development. In: Automation in Construction, Vol. 53, pp. 69-82. https: / / doi.org/ 10.1016/ j. autcon.2015.03.003 Vitali Schuk, M. Sc. Akademischer Mitarbeiter, Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Universität Stuttgart vitali.schuk@ievvwi.uni-stuttgart.de Ullrich Martin, Univ. Prof. Dr.-Ing. Institutsleiter, Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Universität Stuttgart ullrich.martin@ievvwi.uni-stuttgart.de [24] Bundesministerium der Justiz (2008): Bundesanzeiger - Bekanntmachung des Handbuchs der Rechtsförmlichkeit.www.bmj.de/ DE/ Themen/ RechtssetzungBuerokratieabbau/ HDR/ HDR_node.html (Abruf: 05.09.2022). [25] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2013): Grundlagen für das Erstellen von Technischen Regelwerken und Wissensdokumenten für das Straßen- und Verkehrswesen. Köln: FGSV-Verlag, ISBN: 978-3-86446-025-8. [26] Angles, R.; Gutierrez, C. (2008): Survey of Graph Database Models. In: ACM Computing Surveys, Vol. 40, No 1, pp. 1-39. https: / / doi.org/ 10.1145/ 1322432.1322433 [27] Akin, O. (2012): Building codes. Chapter 10: Embedded commissioning of building systems. Norwood (USA): Artech House. Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 39 Neue Seidenstraße LOGISTIK Transkaspische Route Die Zukunft des Gütertransports zwischen Asien und Europa? Seidenstraße, Transkaspische Route, Gütertransport Die Transkaspische Route verbindet Kasachstan über das Kaspische Meer mit Europa und Asien und hat das Potenzial, eine Alternative zu den traditionellen Transportrouten über Russland zu werden. Aufgrund der Sanktionen gegen Russland ist die Nachfrage nach dieser Route erheblich gestiegen. Allerdings müssen administrative, infrastrukturelle und politische Herausforderungen bewältigt werden, um das Potenzial der Route voll auszuschöpfen. In unserer Studie betrachten wir, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Route beitragen können. Ralf Elbert, Johannes Rentschler K asachstan, das größte Binnenland der Welt, hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte bei der Verbesserung seiner logistischen Infrastruktur gemacht, insbesondere im Bereich der Transport- und Transitkorridore. Eine bemerkenswerte Transitroute ist die Transkaspische Route, die Kasachstan über das Kaspische Meer mit Europa und Asien verbindet. Die Transkaspische Route, die auch als „Mittlerer Korridor“ oder „Eiserne Seidenstraße“ bezeichnet wird, kann eine Alternative zum transsibirischen Transportkorridor, welche u. a. durch Russland verläuft, darstellen. Die wichtigsten Landrouten zwischen Asien und Europa sind in Bild 1 visualisiert: •• Die „Transkaspische Route“: Transit von Urumchi zum Hafen von Aktau (Kasachstan), dann auf dem Seeweg nach Aserbaidschan und über Georgien und die Türkei nach Europa, •• Nordroute 1: Transit durch Kasachstan und weiter durch Jekaterinburg (auf russischem Staatsgebiet), •• Nordroute 2: Transit über Wladiwostok oder Krasnojarsk durch das Gebiet Russlands. Die Sanktionen gegen Russland und Weißrussland, die Einstellung der Geschäftstätigkeit in Russland durch mehrere große Logistikunternehmen wie Maersk, DSV und DB Schenker sowie die Sperrung von Bahn- und Schiffsverbindungen haben dazu geführt, dass die letzten beiden Routen blockiert sind, was zu einem sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach der Transkaspische Route führte (DVZ, 2022). Das ambitionierte Ziel der Transkaspische Route ist, die Transportzeit zwischen Ostasien und Europa auf bis zu zwölf Tage zu verkürzen, was sie konkurrenzfähige gegenüber den anderen großen Handelsrouten, dem Nördlichen Korridor (19 Tage) und der traditionellen Seeroute durch den Indischen Ozean (22 bis 37 Tage) machen würde (Foreign Policy Research Institute, 2023). Allerdings müssen die Länder entlang der Transkaspischen Route administrative, infrastrukturelle und politische Herausforderungen bewältigen, um das Potenzial voll auszuschöpfen. Der erste große Schritt nach vorne erfolgte 2014 mit der Eröffnung der Trans-Kasachstan-Eisenbahn, gefolgt von der Fertigstellung der Baku-Tbilisi-Kars-Eisenbahn im Jahr 2017. Die geopolitische Unsicherheit, die durch Russlands Einmarsch in der Ukraine 2014 entstand, machte es für die Länder Zentralasiens und des Kaukasus unumgänglich, nach einer alternativen, von Russland unabhängigen Landhandelsroute zu den Weltmärkten zu suchen (Eldem, 2022). Seitdem sind die Gütertransporte über den Mittleren Korridor rasch gestiegen, wenn auch von einem sehr niedrigen Niveau aus. Die über den Korridor beförderten Güter stiegen zwischen 2020 und 2021 von rund 350.000 Tonnen auf 530.000 Tonnen (van Leijen, 2022). Was die Nutzung des Korridors jedoch ankurbelte, war der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 und die anschließenden Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Moskau. Die Gütertransporte über den Mittleren Korridor sind rapide angestiegen und erreichten in 2022 3,2 Millionen Tonnen (Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022). Das Foreign Policy Research Institute (2023) geht davon aus, dass die Kapazität des Mittleren Korridors auf 10 Millionen Tonnen ansteigen wird, da die Türkei die Marmaray-Eisenbahnlinie unter dem Bosporus hindurch fertiggestellt hat, die es ermöglicht, Schienengüter aus Zentralasien direkt in das Herz Europas zu transportieren. Dennoch sollte man trotz dieses Wachstums nicht aus den Augen verlieren, dass die transportierten Mengen nur einem Bruchteil dessen entsprechen, was auf dem traditionellen Seeweg transportiert wird. Obwohl sich die Transkaspische Route noch in der Planungs- und Entwicklungs- Bild 1: Haupttransportwege von China nach Europa (basierend auf Daten der Statistic Agency of the Republic of Kazakhstan, 2022) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 40 LOGISTIK Neue Seidenstraße phase befindet, hat sie das Potenzial, den Transport zwischen Asien und Europa zu verbessern und könnte in Zukunft eine wichtige Rolle bei der nachhaltigen und resilienten Entwicklung des globalen Handels spielen. Daher untersuchte das Fachgebiet Unternehmensführung und Logistik der TU Darmstadt zusammen mit der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty, Kasachstan, den aktuellen Entwicklungsstand der Transkaspischen Route. Ziel dieser Studie ist es, zu determinieren, welche Maßnahmen kurzfristig zu einer Verbesserung der Route beitragen können, um so langfristig die Attraktivität des Mittleren Korridors zu steigern. Die Ergebnisse werden für politische Entscheidungsträger, Investoren und Forscher im Bereich Logistik und Transport von großem Interesse sein und wertvolle Einblicke in die Herausforderungen und Möglichkeiten für die Entwicklung der Transkaspische Route bieten. Angesichts des begrenzten Wissens über die Transkaspische Route und ihre dynamische technologische und politische Entwicklung wurde zur Beantwortung dieser Fragen ein induktiver qualitativer Forschungsansatz gewählt. Es wurden acht Tiefeninterviews mit Logistikdienstleistern und politischen Akteuren entlang der Route geführt, um umfangreiche und kontextspezifische Daten zu sammeln. Methodische Durchführung - Experteninterviews Da über die Transkaspische Route bisher wenig bekannt ist, haben wir uns dazu entschieden einen explorativen qualitativen Ansatz zu wählen. Dazu befragten wir die an der Route beteiligten Akteure in halbstrukturierte Interviews, um mehr über die Route zu lernen und eine solide Datengrundlage zu schaffen. Weiterhin wurden die so erhobenen Daten durch öffentlich zugängliche Informationen aus Webrecherchen ergänzt. Bei der Auswahl von Interviewpartnern war es unser Ziel, eine möglichst vielfältige Stichprobe zu bekommen, die eine umfassende Perspektive auf die Transkaspische Route ermöglicht. Bei den befragten Akteuren handelt es sich hauptsächlich um Logistikdienstleister, die den Mittleren Korridor aktiv nutzen. Weiterhin befragten wir auch Infrastruktur- und Finanzunternehmen, die an der Entwicklung der Route beteiligt sind. Um geeignete Unternehmen für unsere Befragung zu identifizieren, haben wir mit der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty zusammengearbeitet. Zwischen September 2022 und Dezember 2022 haben wir acht halbstrukturierte Interviews geführt. Um diese zu analysieren, nutzen wir das von Corbin und Strauss (2015) empfohlene Verfahren des offenen, axialen und selektiven Kodierens. Tiefergehende Informationen zum methodischen Vorgehen können in unserem bald erscheinenden Konferenzbeitrag des „International Scientific Symposium on Logistics“ entnommen werden (Elbert & Rentschler, 2023). Ergebnisse Unsere Ergebnisse deuten auf eine insgesamt positive Einstellung gegenüber der Transkaspischen Route hin. Die beteiligten Länder sind an einer weiteren Entwicklung interessiert, was auf das Potenzial für ein kontinuierliches Wachstum der Transkaspische Route hinweist. Unsere Interviews ergaben jedoch auch einige Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmungen haben wir die vier Handlungsfelder politischer Rahmen, Infrastruktur, Zusammenarbeit und Technologie identifiziert, um die Herausforderungen zu charakterisieren. Im Nachfolgenden möchten wir insbesondere auf die politischen Rahmenbedingungen eingehen, da diese vor dem aktuellen Hintergrund maßgeblich die Zukunft der Route beeinflussen. Die gegenwärtige politische Situation erweist sich als eines der in den Interviews am ausführlichsten diskutierten und dynamischsten Themen. Vor Beginn des Krieges dominierte der Transport durch Russland, wobei die Transkaspische Route weit hinter dem nördlichen Korridor zurückblieb. Diese Diskrepanz resultierte in erster Linie aus den höheren Kosten der Route, den längeren Transitzeiten und dem Koordinationsbedarf zwischen den vielen beteiligten Akteuren („Ein Problem ist die Synchronisierung aller Prozesse, insbesondere an den Grenzübergängen“, EVU; „Die meisten Vorgänge werden manuell und mit Papierdokumenten durchgeführt. Die Erleichterung dieser Prozesse wird dazu beitragen, die Warteschlangen an den Grenzen zu beseitigen“, Spediteur). Mit dem Ausbruch des Krieges und der Verhängung direkter und indirekter Sanktionen erlebte die Route jedoch einen sprunghaften Anstieg der Nachfrage. („Eigentlich haben wir nicht erwartet, dass es jetzt so einen Boom gibt, dass jetzt plötzlich so viele Güter transportiert werden und dass das so schnell und sofort geht. Und es gibt sehr viele Probleme in der südkaukasischen Region“, EVU; „Es geht nicht nur um direkte Sanktionen. Viele Unternehmen treffen die Entscheidung, ihre Waren nicht durch russische oder belarussische Unternehmen zu transportieren und das russische, belarussische und definitiv ukrainische Territorium nicht zu durchqueren, weil sie ein Kriegsrisiko sehen“, Spediteur). Trotz dieses jüngsten Anstiegs der Beförderungsnachfrage und des daraufhin gestiegenen Interesses an dem Mittleren Korridor ist die derzeitige politische Lage nach wie vor stark mit Unsicherheiten behaftet. Es besteht das Risiko, dass die Nachfrage wieder zurückgeht, sollten die Routen durch Russland wiederhergestellt werden („Und dann öffnete Russland den Transit für ukrainische Sendungen über sein Territorium. Sofort wurden alle Sendungen über Russland umgeleitet“, Spediteur - Anmerkung: bezogen auf eine frühere Blockade des nördlichen Korridors). Letztlich hängen die langfristigen Aussichten der Transkaspische Route von China ab. Die „One Belt, One Road“-Initiative ist die treibende Kraft hinter der Entwicklung der Transkaspischen Route, da China ein großes Interesse daran hat, seinen Handel und seinen wirtschaftlichen Einfluss auf den eurasischen Kontinent auszuweiten. Durch Investitionen in den Ausbau des Mittleren Korridors kann China neue Märkte in Europa erschließen und seine Abhängigkeit von der traditionellen Seeroute verringern. („China muss diese Aufgabe übernehmen. Diese Seidenstraße ist Teil der One-belt-one-road-Initiative. Es ist offensichtlich, dass diese Idee ursprünglich von China entwickelt wurde, von China gesponsert und von China unterstützt wurde“, Spediteur). Aber auch die Gründung des Verbandes Transkaspische Internationale Transportroute (TITR) war ein wichtiger Schritt, um die Zusammenarbeit zu stärken und zu einem politisch stabilen Umfeld zu beizutragen. („Es gibt eine spezielle Organisation, die von Kasachstan, Aserbaidschan und Georgien aufgebaut wurde. Sie tun eine Menge, z. B. in den Häfen die Optimierung von Prozessen, investieren Geld in neue Schiffe, die das Kaspische Meer befahren werden, verbessern die Infrastruktur in Aserbaidschan und Georgien“, Spediteur) Schlussfolgerung Die aktuelle Entwicklung der Transkaspischen Route stellt die Weichen für das langfristige Bestehen der Route. Obwohl die Route aufgrund des Krieges eine hohe Nachfrage erfährt, bleiben ihre langfristigen Aussichten ungewiss („Im Moment ist die Zukunft eine Kristallkugel. Wir können nicht vorhersagen, was in den nächsten fünf Jahren passieren wird.“, Spediteur). Um ein nachhaltiges Wachstum zu gewährleisten, müssen die Infrastruktur, die Kapazität und Zuverlässigkeit der Route verbessert werden. Dadurch wird es möglich langfristig Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 41 Neue Seidenstraße LOGISTIK Nachfrage zu gewährleisten und trotz höherer Kosten und längerer Beförderungszeiten gegenüber den Nordrouten eine viable Alternative darzustellen. Als eine solche Alternative würde die Route das Risiko von Unterbrechungen auf anderen Land- und Seewegen mindern und so zu resilienten Transportketten von Asien nach Europa beitragen. Die Akteure und Investoren stehen nun vor der kritischen Entscheidung, ob sie jetzt investieren sollen, um die Route langfristig attraktiver zu machen, oder abzuwarten, ob die derzeitige hohe Nachfrage anhält. Der andauernde Krieg ist zwar eine verabscheuungswürdige Realität, bietet für Zentralasien aber auch eine Chance, die Transkaspische Route voranzubringen und von der steigenden Nachfrage zu profitieren. ■ Wir bedanken uns für die Förderung durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst e.V. (DAAD) und das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland. Ralf Elbert, Prof. Dr. Lehrstuhl für Unternehmensführung und Logistik, Technische Universität Darmstadt elbert@log.tu-darmstadt.de Johannes Rentschler Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Unternehmensführung und Logistik, Technische Universität Darmstadt rentschler@log.tu-darmstadt.de Professur „Wirtschaftsingenieurwesen, insbesondere Güterverkehr und Logistik (W2)“ Zum nächstmöglichen Zeitpunkt · Vollzeit · Campus Recklinghausen Sie sind Expertin/ Experte im Themenfeld der integrierten Güterverkehrs- und Logistikplanung. Sie haben Erfahrung in mehreren der folgenden Bereiche: Transportprodukte, internationale Transportketten und -systeme, Einsatz neuer Technologien, Digitalisierung der Prozesse und Nachhaltigkeit in Güterverkehr und Logistik (Klimaschutz, Lärmschutz, Luftreinhaltung, Verkehrsverlagerung etc.) Sie verfügen über eine in der Regel durch Promotion nachgewiesene Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit. Aus Ihrer fünfjährigen Berufspraxis, davon mindestens drei außerhalb des Hochschulbereichs, bringen Sie fachbezogene Erfahrungen mit, zur Anwendung oder Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden. Vor dem Hintergrund Ihres Studiums des (Wirtschafts-)Ingenieurwesens, der Informatik oder der Logistik wirken Sie mit an der Weiterentwicklung der Studiengänge der Lehreinheit Wirtschaftsingenieurwesen mit Blick auf zukunftsfähige Güterverkehrskonzepte, Digitalisierung und nachhaltige Entwicklung. Was wir erwarten • Sie leiten Lehrveranstaltungen auf Deutsch und Englisch • Sie beteiligen sich an der Akquise, Initiierung und Umsetzung von Drittmittelprojekten • Sie vermitteln auch Grundlagenfächer in der Lehreinheit Wirtschaftsingenieurwesen, insb. mathematische und/ oder ingenieurwissenschaftliche Grundlagen • Sie übernehmen Aufgaben der Studiengangsentwicklung, -koordination und -administration Worauf Sie sich freuen können • Ein spannendes und abwechslungsreiches Aufgabengebiet im Fachbereich Ingenieur- und Naturwissenschaften • Entwicklungsmöglichkeiten dank regelmäßiger Fort- und Weiterbildungsangebote Haben wir Sie neugierig gemacht? Dann freuen wir uns auf Ihre Bewerbung samt der üblichen Unterlagen bis zum 31.05.2023 auf unserem Online-Bewerberportal (https: / / www.w-hs.de/ stellenangebote-der-hochschule/ ). Bitte beachten Sie auch die Einstellungsvoraussetzungen des Hochschulgesetzes NRW, § 36. Wir wünschen uns mehr Frauen in Lehre und Forschung und freuen uns deshalb auf qualifizierte Bewerberinnen. Bewerbungen von Menschen mit einer Schwerbehinderung berücksichtigen wir bei gleicher Eignung bevorzugt. Noch Fragen? Melden Sie sich dazu einfach beim Fachbereich Ingenieur- und Naturwissenschaften dekanat.fb8@w-hs.de. Wissen. Was praktisch zählt. Mit diesem Grundsatz setzen wir an der Westfälischen Hochschule seit über 25 Jahren regional und international Zeichen: von gezielter Talentförderung hinein in die praxisnahe Ausbildung von Fach- und Führungskräften. An unseren drei Standorten machen sich rund 8.000 Studierende in knapp 60, vor allem technisch-ökonomisch ausgerichteten Studiengängen fit für den Fortschritt. Gemeinsam mit über 700 Beschäftigten werden mit anwendungsorientierter Forschung Impulse für Verfahren, Produkte und Dienstleistungen von morgen gesetzt. Anzeige Westpress.indd 1 Anzeige Westpress.indd 1 12. Apr. 2023 15: 48: 30 12. Apr. 2023 15: 48: 30 LITERATUR Corbin, J.; Strauss, A. (2015): Basics of Qualitative Research. Thousand Oaks, CA: Sage. DVZ (21.12.2022): Zeitenwende auf der Seidenstraße. www.dvz.de/ rubriken/ land/ detail/ news/ zeitenwende-auf-der-seidenstrasse.html Elbert, R.; Rentschler, J. (2023): The Transcaspian Route - Current Developments and Challenges. In: Schmidt, T.; Furmans, K.; Freitag, M.; B. Hellingrath, B.; de Koster, R.-; Lange, A (Hrsg.). International Scientific Symposium on Logistics: Conference Volume. Bundesvereinigung Logistik. Eldem, T. (2022): Russia’s war on Ukraine and the rise of the Middle corridor as a third vector of Eurasian connectivity. https: / / doi. org/ 10.18449/ 2022C64 Foreign Policy Research Institute (2023): The Middle Corridor through Central Asia: Trade and Influence Ambitions - Foreign Policy Research Institute. www.fpri.org/ article/ 2023/ 02/ the-middlecorridor-through-central-asia-trade-and-influence-ambitions Statistic Agency of the Republic of Kazakhstan. (2022, 30. Dezember). https: / / stat.gov.kz/ Stiftung Wissenschaft und Politik (2022): Russia’s War on Ukraine and the Rise of the Middle Corridor as a Third Vector of Eurasian Connectivity. www.swp-berlin.org/ en/ publication/ russias-war-onukraine-and-the-rise-of-the-middle-corridor-as-a-third-vectorof-eurasian-connectivity van Leijen, M. (2022): Capacity or not, the Middle Corridor is on the rise. RailFreight.com, 2022. www.railfreight.com/ beltandroad/ 2022/ 03/ 30/ capacity-or-not-the-middle-corridor-is-on-the-rise/ ? gdpr=deny Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 42 LOGISTIK Digitalisierung Digitales Testfeld Air Cargo Open Source für die Luftfracht Luftfracht, Digitalisierung, Open Source, IATA ONE Record, Autonomes Fahren/ Fahrerlose Transportsysteme, Predictive Analytics Das „Digitale Testfeld Air Cargo (DTAC)“ umfasst insgesamt sechs eigenständige Teilprojekte, in denen Lösungen entwickelt und demonstriert werden, die sich des fragmentierten, weitgehend nicht-digitalen Luftfrachtsystems annehmen. Dabei werden Aufbau und Betrieb digitaler und intelligenter Anwendungen und Lösungen vorangetrieben sowie automatisierte bzw. autonome land- und luftseitige Prozesse erprobt. Einzigartig sind dabei zum einen die standortübergreifende, starke Zusammenarbeit mit der Industrie sowie der Open-Source-Ansatz. Lars Mehrtens, Oliver Ditz, Manuel Wehner D ie Rolle der Luftfracht ist in den letzten Jahren sehr deutlich geworden. Neben der Leistungsfähigkeit und Flexibilität sind aber auch die Grenzen des Systems immer deutlicher sichtbar. Die Branche gilt nicht als besonders innovativ, viele Tätigkeiten basieren auf manuellen Prozessen und papierbasierten Dokumenten. Zusätzlich hat die Branche, wie viele andere, mit dem Mangel an Fachkräften zu kämpfen. Erfolgreiche Umsetzungen von Digitalisierungs- und Automatisierungsprojekten in anderen Branchen lassen auch für die Luftfracht auf ein hohes Potential schließen. Welche Effekte hätten etwa eine vollständige Digitalisierung der Transportkette, KI-gestützte Ressourcenplanung und autonome Transporte an Flughäfen? Antworten darauf wird das vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr mit rund 7 Mio. EUR geförderte Forschungsprojekt „Digitales Testfeld Air Cargo (DTAC) in den nächsten zwei Jahren geben. Denn das Ziel ist es, die Abfertigung der Luftfracht durch eine bessere Vernetzung über Unternehmensgrenzen hinweg und durch die digitale oder automatisierte Unterstützung ausgewählter Prozessabschnitte effizienter zu gestalten. Unter der Leitung des Fraunhofer IML, unterstützt durch die Frankfurt UAS, und den operativen Partnern wie den Flughäfen Köln-Bonn, Frankfurt, Leipzig, Stuttgart, Düsseldorf und München sowie Lufthansa Cargo, DB Schenker, Sovereign Speed, CHI und LUG arbeitet das Projektteam an transparenten Lösungen, die der gesamten Branche weitestgehend als Open-Source-Lösungen zur Verfügung gestellt werden (Bild 1). Was ist ein digitales Testfeld? Digitale Testfelder sind ein wesentlicher Bestandteil der Forschungs- und Innovationsförderung des Bundes für die digitale Transformation. Sie sprechen dabei verschiedene gesellschaftliche Gruppen an. Die Forschung und Industrie erhält die Möglichkeit, aus erster Hand Praxiserfahrungen in einer realen Umgebung zu sammeln, während die Politik daraus Informationen erhält, die als Entscheidungsgrundlage für zukünftige Beschlüsse genutzt werden kann. Die Luftfracht gilt häufig nicht als besonders innovativ, da es in diesem Bereich seit langem kaum größere technologische Fortschritte gab, die die Arbeitsweise grundlegend verändert haben. Ein häufig angeführter Grund dafür ist die These, dass die Luftfracht aufgrund der Komplexität und Flexibilität nicht weiter zu digitalisieren ist. An der Luftfrachtabfertigung sind mehrere Akteure beteiligt, darunter Fluggesellschaften, Spediteure, Zollmakler und Versender, die überwiegend individuelle Verfahren und Systemlösungen verwenden. Zusätzlich ist die Luftfahrt stark reguliert und die Vorschriften sind von Land zu Land unterschiedlich. Eine einheitliche digitale Plattform zu schaffen, die von allen Beteiligten genutzt werden kann, ist daher schwer. Des Weiteren ist die Luftfracht eine sehr wettbewerbsintensive Branche, in der viele Unternehmen nur zögerlich in die Digitalisierung investieren können. Es lassen sich drei generelle Kernthemen identifizieren, die bei der Entwicklung von Branchenlösungen zu berücksichtigen sind, damit diese Anwendung finden können: Fehlende Investitionen in Technologie Die Luftfrachtbranche hat nur langsam in neue Technologien wie Automatisierung, Datenanalyse und Digitalisierung investiert. Dies hat zu einem Mangel an Innovation und Effizienz in der Branche geführt. Fragmentierte Lieferketten und Vertragsverhältnisse Die Luftfrachtbranche ist stark fragmentiert, und an der Lieferkette sind zahlreiche Akteure beteiligt. Das macht es schwierig, die gesamte Lieferkette zu koordinieren und zu erneuern. Verständnis für regulatorische Hindernisse Fehlende Harmonisierung: Die Luftfrachtvorschriften sind von Land zu Land unterschied- 7 Teststandorte 2 Forschungseinrichtungen 9 Industriepartner Bild 1: Das DTAC-Konsortium Alle Abbildungen: Autoren Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 43 Digitalisierung LOGISTIK Was ist ONE Record? ONE Record ist eine von der IATA vorangetriebene Initiative, um die veralteten Datenstandards CargoIMP und CargoXML abzulösen und gleichzeitig die Datensilos entlang der Transportkette aufzubrechen und die Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinaus mit standardisierten Datenformaten den Datenaustausch zu vereinfachen. Dabei werden Dokumente nicht mehr erstellt, versendet und vielfach weitergereicht, sondern jeder Akteur stellt seine Daten standardisiert im Internet über moderne Schnittstellen bereit und gewährt anfragenden Unternehmen Zugriff. Die Vorteile dieser Digitalisierung und der Wechsel zu einem informationsbedarfsgetriebenen Ansatz sind nicht nur der reduzierte ökologischere Fußabdruck, sondern fördern auch eine stärkere Integration von Geschäftsprozessen zwischen Unternehmen. Der Standard erlaubt neben dem Datenaustausch auch das Teilen von Anhängen wie Dokumenten oder Status-Informationen aus IoT-Sensorik. lich, was es den Unternehmen erschwert, grenzüberschreitend tätig zu werden. Intransparenz: Luftfrachtvorschriften können komplex und schwer zu verstehen sein, was es den Unternehmen erschwert, sie einzuhalten. Hohe Kosten: Die Einhaltung der Luftfrachtvorschriften kann kostspielig sein, was zu höheren Kosten für die Unternehmen führt. Die Branche braucht Innovationen in Bereichen wie Tracking und Tracing, Digitalisierung, Automatisierung und Nachhaltigkeit. Zusätzlich bieten verbesserte Datenanalysefähigkeiten und prädiktive Analytik die Chance, Kundenbedürfnisse besser zu verstehen und den Betrieb zu optimieren. Um diese Herausforderungen anzugehen, stellt der DTAC-Lösungsansatz neutrale und standortübergreifende Lösungen, die konsensfähig sind, in den Vordergrund. Insgesamt umfasst das DTAC drei Themenfelder in sechs Teilprojekten (vgl. Bild 2): •• Standardisierter Datenaustausch zwischen allen Akteuren der Luftfrachttransportkette mittels ONE Record •• Automatisierung und Autonomisierung in dispositiven Handling- und Transportprozessen der Luftfracht •• Neue Konzepte und Methoden zur Optimierung der Auslastung und Kapazitäten Themenfeld 1: Standardisierter Datenaustausch zwischen allen Akteuren der Luftfrachttransportkette mittels ONE Record Zentraler Bestandteil für die benötigte grundlegende Reformation des Datenaustauschs soll dabei der neue Datenstandard ONE Record der IATA sein, umgesetzt als Open Source Server Software Package namens NE: ONE (opeN sourcE: ONE record server software). NE: ONE setzt dabei das Datenmodell und die API-Spezifikationen des IATA ONE Record-Standards vollständig um. Darüber hinaus sind verschiedene Effizient- Features vorgesehen, um die Adaption weiter zu vereinfachen. Kernziel von NE: ONE ist es, den Betrieb eines ONE Record-Servers und damit die Teilnahme am Datenaustausch out-of-the-box zu erleichtern und somit die Einstiegshürde gerade für kleinere Unternehmen zu senken. Im Rahmen des Projekts soll das ONE Record-Servernetzwerk mit echten Daten bespielt und getestet werden und zeigen, dass reale Use Cases der Industrie abgedeckt werden können. Zusätzlich wird ein unternehmensübergreifender Digitaler Avatar entwickelt, der seine Daten durch ONE Record bezieht und intern gemäß dem Standard verarbeitet. Der Digitale Avatar soll eine Blaupause für ähnliche kollaborative Simulationsprojekte an anderen Standorten werden und aufzeigen, dass eine höhere Datentransparenz und eine moderne Datenhaltung allen Beteiligten viele Chancen bieten. Mit diesen beiden Werkzeugen wird der ONE Record-Standard auf seine Praxistauglichkeit geprüft, Input für dessen Weiterentwicklung geschaffen und der Luftfrachtbranche aufgezeigt, welches Potential ein moderner Datenaustausch für jedes Unternehmen bietet. NE: ONE wird von Beginn an transparent im Repository der Open Logistics Foundation entwickelt und steht jedem Interessierten kostenlos zur Verfügung. Ziel ist es, dass daraus eine Open Source Community von Nutzern entsteht, die diese Basiskomponente nicht nur nutzen, sondern zusammen weiterentwickelt. Grundlage für die Test- und Weiterentwicklung ist dabei die starke Zusammenarbeit mit der Industrie. Zusammen mit ausgewählten Projektpartnern wurden verschiedene Use Cases ausgearbeitet, die unterschiedliche Probleme von mangelndem Datenaustausch heutzutage aufdecken und aufzeigen, wie diese mit ONE Record gelöst werden können. Die Use Cases reichen dabei vom einfachen digitalen Austausch der Sendungsdaten, über ein detailliertes CO 2 -Monitoring, bis hin zum Tracking von LKW-Standzeiten, um eine höhere Transparenz und damit Planbarkeit in die Prozesse zu bekommen. Neben dem reinen Datenaustausch werden auch Ansätze entwickelt, wie diese Daten in der Operative sinnvoll genutzt werden können. Eine Auswertung der aktuellen Verfahren macht deutlich, dass - während der physische Umschlag weitestgehend ähnlich abläuft - der Datenbedarf zur Identifikation der Sendung auf unterschiedlichen Referenznummern basiert, sodass bei jedem Lagereingang ein neues Label nötig ist, um die dazugehörigen Informationen aus den eigenen Lagersystemen abrufen zu können. Dies erfordert einen manuellen Abgleich und Identifikation des Packstücks mit den Frachtpapieren, was entsprechendes Fehlerpotenzial bieten. In Folge wurden vier Entwicklungsbereiche als priorisierter Handlungsbedarf identifiziert: •• Infrastrukturunabhängiger Abruf von Sendungsinformationen am einzelnen Packstück •• Dokumentation von Transportbeschädigungen für ein individuelles Packstück, sodass diese Beschädigung im weiteren Prozessverlauf nicht mehr erneut dokumentiert werden muss •• Offene Nutzung von Sensordaten, wie GPS, Schock oder der Temperatur, um den Zustand und Status einer oder mehrerer gemeinsam verladenen Sendungen zu ermitteln •• Bessere und schnelle Ortung einer Sendung bei unbekanntem Standort Diese vier Bereiche werden in zwei Entwicklungssträngen bearbeitet. Ein Entwicklungsstrang sieht eine Verbindung zu NE: ONE vor, sodass die Daten der ONE Record-Infrastruktur aktiv im Lagerumschlag Bild 2: Die 6 Teilprojekte des „Digitalen Testfeld Air Cargo“ Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 44 LOGISTIK Digitalisierung genutzt werden können. Dazu wurde ein universelles QR-Code-Label, das sog. „NE: ONE Tag“ entwickelt. Sobald ein Partner das Label anbringt, kann es von ihm und allen weiteren Beteiligten in sämtlichen Prozessschritten gescannt und per App ausgelesen werden. Über den im QR-Code hinterlegten Link zu den individuellen Packstück-Informationen werden von den dezentralen/ einzelnen ONE Record-Servern der Partner einzelne Datenfelder abgerufen und zu Sendungsinformationen aggregiert. Die Masken in der App sollen dabei frei konfigurierbar sein, sodass die ausgegebenen Informationen und Referenzen entsprechend der jeweiligen Tätigkeit in den unterschiedlichen Prozessschritten angezeigt werden können (Bild 3). Im 2. Entwicklungsstrang wird ein weiterführendes „NE: ONE Pouch“-Konzept entwickelt, welches manuelle Scanvorgänge gänzlich überflüssig machen soll. Hierzu wird das an jedem Packstück angebrachte „Tag“ um passiven Sensorik (NFC/ RFID) erweitert und eine „aktive“ (lesende) Einheit, z. B. beim Konsolidieren von Fracht, erstellt automatisch ein Manifest. Ebenso lässt sich darüber z. B. der Standort von identifizierten Sendungen automatisiert auf eine große Anzahl an Sendungen übertragen und aktiv teilen (Bild 4). Themenfeld 2: Automatisierung und Autonomisierung in dispositiven Handling- und Transportprozessen der Luftfracht Ziel des Themenfelds ist es, gemeinsam mit der Industrie entlang der Luftfracht-Prozesskette, mit dem aktuellen, verfügbaren Stand der Technik die Machbarkeit einer Teilautomatisierung der Vorfeldtransporte sowie des Frachtlager-Handlings zu demonstrieren. Durch den Einsatz von automatisierten Fahrzeugen soll die Planbarkeit in der Prozesskette perspektivisch erhöht, die Personalbindung verringert und das Ressourcenmanagement der Geräte verbessert werden. Aus einer bruchstückhaften Kette verschiedener Einzeltransporte wird so ein ressourcen-optimierter Just-in-Time-Prozess. Die Entwicklung von automatisiertem und autonomem Fahren schreitet in großen Schritten voran und inzwischen gibt es dezidierte Entwicklungen für das Vorfeld. Transporte sind ein elementarer Baustein der Luftfrachttransportkette, insbesondere in der Bereitstellung auf dem Vorfeld und innerhalb der Luftfrachtlagerhallen für den Frachtaufbau. Durch die räumliche Ausdehnung und die häufig gegebene Trennung von Fracht- und Passagierterminals an Flughäfen entstehen lange Fahrtwege mit hoher Personalbindungsdauer. Gleichzeitig führt dies zu notwendigen Pufferzeiten an den Prozessschnittstellen - sowohl unternehmensintern als auch zwischen den beteiligten Abfertigungs- und Transportunternehmen. Wesentliche Gründe für den bislang niedrigen Automatisierungsstand sind vor allem im niedrigen Standardisierungsgrad der Luftfracht sowie den zugehörigen Abfertigungsprozessen zu finden. Während die Transporteinheiten bspw. in der Seefracht in hohem Maße standardisiert sind, steht im Bereich der allgemeinen Luftfracht-Abfertigung die Flexibilität im Vordergrund: Flugzeugtypen haben unterschiedliche Anforderungen, was bspw. die Konturen, Maße, Waren-Positionierung und Gewichtsverteilung der Transporteinheiten betrifft. Die vor- und nachgelagerten Abfertigungsprozesse sind ebenfalls größtenteils variabel. Die Anlieferung von bereits flugbereit gepackten Einheiten im Luftfrachtcontainer, der mit begrenztem Aufwand am Flughafen umgeschlagen und zum Flugzeug transportiert werden könnte, ist eher selten. In der Regel werden Sendungen einzeln angeliefert und müssen vor Ort aufwändig und händisch konsolidiert werden. Somit ergibt sich eine Vielzahl an Prozessvariationen, die den niedrigen Standardisierungs- und letztlich Automatisierungsgrad erklären. Als weitere Gründe für den Status quo sind u. a. die Flächenknappheit bzw. -effizienz an Flughäfen, Haftungsrisiken, das notwendige Investitionsvolumen sowie geringe Profitmargen bei gleichzeitig hoher Konkurrenz aufzuführen. Das Risiko, eingespielte und scheinbar optimierte Prozessketten durch Automatisierungsansätze in einzelnen Prozessabschnitten ins Ungleichgewicht zu bringen, scheint oftmals zu groß zu sein. Mittels einer sog. Manual Process Intelligence (MPI)-Analyse wurden die manuell ausgeführten Tätigkeiten in den Luftfrachthallen hinsichtlich der Wertschöpfung und Automatisierbarkeit überprüft und den verfügbaren Fahrerlosen Transportsystemen (FTS) und robotischen Systemen gegenübergestellt. Hierzu wurden in zwei separaten, jeweils ca. einwöchigen Erhebungsphasen über 100 Sensoren und Beacons eingesetzt, die teils stationär in die Infrastruktur integriert und teils mobil an Fahrzeugen und Dienstkleidung angebracht wurden. Mit einer ausgewerteten Messdauer von über 340 Stunden und etwa 3,3 Milliarden ausgewerteten Da- Bild 3: NE: ONE Tag bildet die Schnittstelle zwischen den in ONE Record vorhandenen Daten und dem Lager Bild 4: Funktionsstruktur NE: ONE Pouch Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 45 Digitalisierung LOGISTIK tenpunkten konnte ein umfassendes Bild über die Abläufe in der betrachteten Frachthalle abgeleitet werden. Im Ergebnis lässt sich nun bspw. festhalten, dass ca. 49 % der Zeit unmittelbar wertschöpfend sind durch manuelle Arbeit an und mit der Fracht. Etwa 7,5 % der Zeit entfallen auf Fahraktivitäten, die für den Einsatz autonomer Transport- und Handlingsysteme besonders relevant sind. Ergänzt um historische Sendungsdaten wurden Prozessabschnitte definiert, die Wertschöpfung dieser Prozessabschnitte untereinander verglichen und potenzielle Marktlösungen (Anbieter und Systeme) erhoben, um entsprechende Use Cases und Anforderungen an FTS abzuleiten. Der Importbzw. Export-Prozess wurde in insgesamt 15 Prozessabschnitte geteilt. Hierzu gehören u. a. Übergabeprozesse zwischen den beteiligten Unternehmen, der Auf- und Abbau von luftfrachtgeeigneten Transporteinheiten sowie diverse interne Umfuhrprozesse wie bspw. Lagervorgänge und die Zollgestellung. Als mögliche Lösungen wurden über 600 potenziell interessante Systeme (insb. FTS) von mehr als 130 Anbietern weltweit identifiziert, in acht Kategorien klassifiziert und den Prozessabschnitten zugeordnet. Vier Use Cases wurden priorisiert und im Detail ausgearbeitet. Hierunter fallen im Bereich des Export-Prozesses Transport- und Handlingvorgänge zwischen LKW-Entladung, Röntgengerät, Lager und Build-Up- Platz (dort werden die flugfertigen Einheiten gebaut). Im Bereich des Import-Prozesses fallen hierunter Vorgänge zwischen dem Break-Down-Platz (analog zum Build-Up, s. o.), den verschiedenen Lager-Arten und der Bereitstellung an der LKW-Rampe. Mindestens einer dieser Use Cases wird mit geeigneten Technologien realisiert und bewertet werden. Bereits existierende Automatisierungslösungen wie bspw. Hochregallager, sollen gezielt als Bausteine in das Zusammenspiel der Systeme eingebunden werden. Als Teststandort steht insb. der Flughafen München im Fokus. Themenfeld 3: Neue Konzepte und Methoden zur Optimierung der Auslastung und Kapazitäten Im 3. Themenfeld werden neue Methoden zur Entscheidungsfindung und Möglichkeiten für Synergien durch neue Lagerkonzepte entwickelt und erprobt. Entsprechend wird ein auf die Luftfrachtprozesse zugeschnittenes Predictive Analytics Modell erarbeitet, das die Kapazitäts- und Ressourcenplanung mit Hilfe von künstlicher Intelligenz verbessert, indem es frühzeitig Trendveränderungen erkennt und so Gegenmaßnahmen vorab ergriffen und somit Überlasten und Engpässe vermieden werden können. Lerngrundlage für den Machine Learning-Ansatz sind historische Frachtdaten, die mittels Data-Mining-Techniken um weitere externe Parameter, wie z. B. Wetterdaten angereichert werden, sodass sich Trends, bzw. Muster ableiten lassen, die dann durch eine Künstliche Intelligenz auf die aktuelle Datenlage angewandt werden. Neben der KI-Unterstützung wird auch in einem neuen, konventionellen Konzept erprobt, wie knappe physische Ressourcen durch Bündelung an einem Flughafenstandort effizienter genutzt werden können: Insbesondere mittelgroße und große internationale Flughäfen ohne Hubfunktion für Luftfracht haben häufig eine stark schwankende Auslastung der Frachtzentren, während gleichzeitig in anderen Bereichen desselben Flughafens die Logistik unter Engpässen leidet. Insbesondere an deutschen und europäischen Flughäfen sind hierfür die Verkehrsentwicklung, die Flächenbegrenzung und der konkurrierende Flächenbedarf ursächlich. Zusätzlich verschärft der Fachkräftemangel in der Branche die Lage. Das DTAC-Teilprojekt „Digitale Standortlogistik“ entwickelt daher Ansätze, die durch die Bündelung der Dienstleistungen für Luftfrachtabfertigung und Versorgungslogistik dieses Missverhältnis in der Logistik an Flughafenstandorten gesamtheitlich verbessern. Ziel ist die Entwicklung eines generalistischen Konzepts, wie Luftfrachtzentren in die Versorgung des gesamten Flughafenstandortes integriert werden können, sodass einerseits eine Verbesserung der Auslastung und andererseits eine Auflösung der Engpässe im Personalbereich erreicht werden können, was gleichzeitig für die Luftfrachtabfertiger die Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und Resilienz bei schwankender Nachfrage verbessert (Bild 5). Neben der Überprüfung, ob durch die Bündelung der Sicherheitskontrollmaßnahmen für Fracht und Flughafenanlieferungen, entsprechend ihrer jeweils geltenden Vorschriften, neue Effizienzen gehoben werden können, gilt es, die Prozesse beider Bereiche anzugleichen und digitale Lösungen zur Unterstützung der integrierten logistischen Dienstleistungen zu definieren und zu erproben. Das Digitale Testfeld Air Cargo läuft noch bis September 2024. Beginnend ab diesem Sommer werden in allen sechs Teilprojekten Demonstrationen und weitere Veröffentlichungen erfolgen. Das DTAC ist transparent und steht über eine Teilnahme im Projektbeirat weiteren Unternehmen offen. Der aktuelle Stand kann auf der DTAC- Webseite, bzw. dem DTAC-LinkedIn-Kanal gefunden werden. ■ Weitere Details zum Digitalen Testfeld Air Cargo: www.digitales-testfeld-air-cargo.de Oliver Ditz Teilprojektleiter Aviation Logistics, Fraunhofer IML, Frankfurt am Main oliver.ditz@iml.fraunhofer.de Manuel Wehner Teilprojektleiter Aviation Logistics, Fraunhofer IML, Frankfurt am Main manuel.wehner@iml.fraunhofer.de Lars Mehrtens Projektleiter Aviation Logistics, Fraunhofer IML, Frankfurt am Main lars.mehrtens@iml.fraunhofer.de Bild 5: Gegenüberstellung von Luftfracht- und Terminalversorgungsprozessen Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 46 MOBILITÄT ÖPNV ÖV-Angebote während der Fluchtbewegungen 2015 und 2022 Personenverkehr, Grenzüberschreitender Verkehr, Öffentlicher Verkehr, Fluchtbewegungen, Ukrainekrieg, Balkanroute Der Personenverkehr war von den Fluchtbewegungen aus der Ukraine im Jahr 2022 sowie aus Syrien und dem Mittleren Osten im Jahr 2015 stark betroffen. Doch während das Jahr 2015 medial durch Bilder von chaotischen Zuständen an Bahnhöfen geprägt war, schien die Personenbeförderung im Jahr 2022 für die breite Öffentlichkeit unterhalb der Wahrnehmungsgrenze abzulaufen. Dieser Artikel nimmt die Maßnahmen im Öffentlichen Verkehr in den Blick und stellt einen Vergleich zwischen beiden Jahren an. Dabei zeigt sich, dass der Sektor unterschiedlich auf die starken Fluchtbewegungen reagierte. Antje-Mareike Dietrich, Ivan Kuritsyn D ie Fluchtbewegungen aus der Ukraine im Jahr 2022 sowie aus Syrien und dem Mittleren Osten im Jahr 2015 stellten verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens vor große Herausforderungen, insbesondere auch den Personenverkehr. Doch während das Jahr 2015 medial durch Bilder von chaotischen Zuständen an Bahnhöfen geprägt war, schien die Personenbeförderung im Jahr 2022 für die breite Öffentlichkeit unterhalb der Wahrnehmungsgrenze abzulaufen. Dabei reisten im Jahr 2022 allein aus der Ukraine mehr Menschen nach Deutschland ein als im Jahr 2015 insgesamt. Es stellt sich deshalb die Frage, was während der beiden Jahre mit sehr starken Fluchtbewegungen anders lief. Dieser Artikel nimmt dabei den Öffentlichen Verkehr (ÖV) in Deutschland in den Blick und stellt einen Vergleich zwischen den ÖV- Maßnahmen in beiden Jahren an. Dabei zeigt sich, dass der Sektor unterschiedlich auf die starken Fluchtbewegungen reagierte. Fluchtbewegungen Deutschland wurde im Jahr 2022 aus verschiedenen Gründen zur Zieldestination für Geflüchtete. Hierzu zählen die relative Nähe Deutschlands zum Kriegsgebiet, die bereits hier lebende Diaspora und die große Hilfsbereitschaft in vielen Teilen der deutschen Gesellschaft. Im Jahr 2015 waren die Gründe vergleichbar [1]. Im Jahr 2022 wurden nach Mitteilung des Bundesinnenministeriums mehr als 1.040.000 Geflüchtete aus der Ukraine registriert [2]. Nach Einschätzung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) reisten im Jahr 2015 circa 890.000 Schutzsuchende nach Deutschland ein [3]. Die große Mehrheit der Asylsuchenden aus der Ukraine erreichte Deutschland über Polen (siehe Bild 1). Laut der EU-Agentur Frontex haben 3,14 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner der Ukraine im Zeitraum vom 24. Februar bis zum 3. Mai 2022 die polnische Grenze überschritten [4]. Aufgrund der Überfüllung der Übergänge an der polnischen Grenze verließen weitere 960.000 Asylsuchende die Ukraine über die Slowakei und Ungarn. Die meisten Geflüchteten reisten somit über die östliche Grenze nach Deutschland ein. Die Hauptbahnhöfe Berlin, Cottbus, Dresden und Hannover waren die ersten großen Stationen auf der Weiterfahrt zu den Zielorten innerhalb Deutschlands. Unter den Bundesländern, die den größten Anteil der Geflüchteten aufnahmen, waren Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen und Sachsen (siehe Bild 2). Deshalb führten die Wege der meisten Geflüchteten weiter in diese Bundesländer [5]. Im Jahr 2015 wurde auf dem Landweg die sogenannte Balkanroute am häufigsten als Route genutzt (siehe Bild 3). Die Flüchtenden durchquerten auf ihrem Weg nach Deutschland die Türkei, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Kroatien, Ungarn und Österreich. Die Einreise nach Deutschland geschah deshalb über die südliche Grenze von Österreich nach Bayern. Der Münchner Hauptbahnhof war für viele die erste Station innerhalb Deutschlands. Von dort aus verteilten sie sich in andere Städte. Die meisten Schutzsuchenden nahmen die Bundesländer Bild 1: Die Fluchtbewegungen aus der Ukraine vom 24.02.-03.05.2022 [4] Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 47 ÖPNV MOBILITÄT Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen und Berlin auf (siehe Bild 2) [6]. Es lässt sich deshalb annehmen, dass die Geflüchteten nach ihrer Einreise über den Münchner Hauptbahnhof mittels Fern- und Regionalverkehr in ebendiese Bundesländer weiterfuhren. In beiden Jahren nutzten die Flüchtenden das ÖV-Angebot. Teilweise reagierte der ÖV auf die starke Nachfrage, indem er zusätzliche Angebote einrichtete. Zum einen handelte es sich um organisatorische Maßnahmen, wie beispielsweise den Einsatz von Sonderzügen. Zum anderem wurden spezielle Tarifangebote für Asylsuchende eingeführt. Internationaler Verkehr nach Deutschland Im Jahr 2022 konnten Flüchtende aus Polen und anderen zentraleuropäischen Ländern nach Deutschland ein vergleichsweise umfangreiches ÖV-Angebot nutzen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer hatten die Möglichkeit direkt aus der polnischen Stadt Przemyśl, die an der ukrainischen Grenze liegt, einmal pro Tag mit dem Fernzug nach Berlin zu fahren. Darüber hinaus konnten sie aus den Grenzgebieten nach Warschau reisen und von dort aus sechsmal pro Tag nach Berlin weiterfahren. Eine zusätzliche Option war die Verbindung Gdynia - Berlin einmal täglich. Des Weiteren wurden an bestimmten Tagen zusätzliche Züge von Breslau nach Cottbus sowie von Przemyśl nach Hannover eingesetzt. Die Geflüchteten, die die Ukraine via die Slowakei oder Ungarn verließen, benutzten die Züge Budapest - Berlin (zweimal täglich) und Prag - Berlin (fünf Mal täglich) [8]. Die Fahrscheine für die Zugverbindungen, die von polnischen, ungarischen und tschechischen Eisenbahnunternehmen bedient wurden, erhielten die Geflüchteten kostenfrei. Einige europaweite Verkehrsunternehmen boten im Frühjahr 2022 darüber hinaus kostenlose Tickets für Asylsuchende an, damit sie von der Grenze der Ukraine nach Deutschland weiterreisen konnten. Als Beispiel lässt sich die Sonderaktion von Flixbus anführen, die Busverkehre aus den polnischen Grenzstädten Przemyśl und Rzeszow anbot. Die Billigfluggesellschaft Wizzair bot ebenfalls 100.000 gebührenfreie Flugtickets aus angrenzenden Ländern der Ukraine an. Damit konnten die Flüchtlinge Deutschland zusätzlich durch die Luft erreichen. Flüchtende nach Deutschland, die sich im Jahr 2015 über die Balkanroute bewegten, mussten hingegen das reguläre Angebot der DB und der ÖBB nutzen und den regulären Fahrpreis zahlen. Am häufigsten reisten die Flüchtlinge mit dem Regionalzug Salzburg - München nach Deutschland. Außerdem gab es die Möglichkeit, mit dem Fernzug von Wien nach München zu fahren. Im Vergleich zu den Regionalzügen waren die Plätze jedoch stark limitiert und die Fahrscheine mussten im Voraus gekauft werden. Von September bis Oktober fiel der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr sogar einige Male aus. Grund hierfür war die Einführung von Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich. Die Flüchtenden wichen auf Busse und Taxis aus, um von Salzburg nach Freilassing zu kommen. Im September 2015 sendete Baden-Württemberg 15 Busse nach Österreich, um Asylsuchende direkt in das Bundesland zu befördern. Fernverkehr innerhalb Deutschlands Am 1. März 2022, wenige Tagen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar, wurde das „helpukraine“-Ticket eingeführt. Mit diesem Fahrschein konnten die Asylsuchenden aus der Ukraine gebührenfrei mit den Zügen der Deutschen Bahn (DB), inklusive dem ICE, zu ihrem Zielort in Deutschland fahren. Die Koordination der Beförderung von Flüchtenden wurde ab März durch das Bundesamt für Güterverkehr übernommen, das hierfür ein Lage- Bild 2: Zielorte der Geflüchteten in Deutschland 2015 und 2022 [5, 6] Bild 3: Die Fluchtrouten nach Deutschland 2015 ([7] mit Bezug auf dpa) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 48 MOBILITÄT ÖPNV zentrum einrichtete [9]. Ein wesentliches Ziel war es, die Flüchtenden bereits auf ihrer Reise mit den notwendigen Informationen zu versorgen. Von März bis Mai 2022 war es beispielsweise möglich, am Berliner Hauptbahnhof von Freiwilligen der DB gegen Vorlage des ukrainischen Personalausweises das „helpukraine“-Ticket zu erhalten. Hierfür wurde parallel zum Regelbetrieb ein Sonderticketschalter eingerichtet. Zusätzlich konnten die Freiwilligen bei der Ausgabe des 2022 „helpukraine“-Tickets in der DB- App prüfen, ob in den jeweiligen Zügen noch Plätze zur Verfügung standen. Wenn Überfüllung drohte, konnte den Geflüchteten die nächste weniger ausgelastete Zugverbindung angeboten werden. Im Vergleich hierzu reagierte die DB im Jahr 2015 erst mit einiger Verzögerung auf die seit August 2015 stark steigenden Zahlen der in Deutschland einreisenden Asylsuchenden. Ab dem 11. September konnten Geflüchtete nach ihrer ersten Registrierung einen Gutschein bekommen, der sich gegen ein gebührenfreies Fahrtticket in einen Ort der Erstaufnahme tauschen ließ [10]. Außerdem durfte das Kontrollpersonal kostenlose Fahrscheine an die Geflüchteten ausgeben, die noch kein von Deutschland ausgestelltes Dokument vorzeigen konnten. Die Prüfung des mutmaßlichen Status als Asylsuchende oblag dem Kontrollpersonal. Medienberichten zu Folge wurden zudem ab Mitte September 2015 einzelne Sonderzüge von München nach Berlin, Braunschweig, Dortmund, Ingelheim (Rheinland-Pfalz) und Saalfeld (Thüringen) eingesetzt. Nahverkehr innerhalb Deutschlands Zu Beginn der Fluchtbewegungen startete am 1. März 2022 die Initiative des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) zur kostenlosen Mitnahme von ukrainischen Geflüchteten. Gegen Vorlage ihres Passes konnten sie kostenlos die Angeboten des ÖPNV nutzen. Weitere Dokumente, wie Asylanträge, waren nicht notwendig. Die Aktion wurde nach drei Monaten zum 31. Mai beendet [11]. Zu diesem Zeitpunkt wurde das 9-Euro-Ticket eingeführt und eine Einigung von Bund und Ländern über den Aufenthaltsstatus von geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern erzielt. Einige Verkehrsunternehmen, wie z. B. in der RVO- Region Werdenfels, stiegen bereits vorzeitig aus der Aktion aus, da sie nach eigenen Angaben die hohen Kosten für den kostenlosen Transport nicht mehr allein stemmen konnten [12]. Dies legt nahe, dass die Finanzierung der dreimonatigen Maßnahme den Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen selbst oblag. Mit der Einigung von Bund und Ländern vom 8. April 2022 über die Finanzierung der öffentlichen Leistungen für ukrainische Geflüchtete wurde auch die Finanzierung der ÖPNV-Tickets geklärt [13]. Seit dem 1. Juni 2022 erhalten ukrainische Geflüchtete Grundsicherung. Darin sind auch die Leistungen für die Nutzung des ÖV enthalten. Die Kosten dafür übernimmt der Bund. Eine mit der VDV-Initiative vergleichbare zentralisierte Lösung fehlte während der Fluchtbewegungen im Jahr 2015. Die Tarifangebote für Geflüchtete variierten in verschiedenen Städten. In der Regel erhielten erst registrierte Asylsuchende ein spezielles ÖPNV-Ticket. Diese Fahrscheine konnten kostenlos sein, wie zum Beispiel in Braunschweig oder Karlsruhe, oder mit einem Rabatt hinsichtlich des normalen Fahrpreises. In Berlin bekamen die ankommenden Geflüchteten ein Armband, mit dem sie bis zu ihrer Registrierung kostenlos mit dem ÖPNV Berlins fahren durften [14]. Flächendeckend wurde diese Lösung jedoch nicht verfolgt. Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auf die Fluchtbewegungen im Jahr 2022 deutlich planvoller und vorausschauender reagiert wurde. Bereits mit Ausbruch des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wurden die starken Fluchtbewegungen antizipiert. Das „helpukraine“-Ticket sowie die VDV-Initiative sorgten für eine klare tarifliche Regelung. Die Einrichtung eines Sonderticketschalters am Berliner Hauptbahnhof, der zusätzlich die Auslastung der Züge mit in den Blick nahm, entlastete den Regelbetrieb. Die Einreise nach Deutschland wurde zusätzlich durch die Einrichtung von Sonderfahrten und Initiativen privater Verkehrsunternehmen unterstützt. Es ist absehbar, dass wir auch in Zukunft immer wieder mit starken Fluchtbewegungen konfrontiert sein werden. Die Maßnahmen im Frühjahr 2022 sind gute Beispiele dafür, wie der ÖV aus organisatorischer und tariflicher Sicht auf diese Nachfragespitzen reagieren kann. Die Maßnahmen müssen jedoch seitens der Politik flankiert werden. Neben den klaren tariflichen Regelungen war die zentrale Koordination der Personenbeförderung eine wichtige organisatorische Maßnahme. Insbesondere mit Blick auf den ÖPNV sollte zukünftig noch stärker die Finanzierung berücksichtigt werden. Einige Verkehrsunternehmen waren mit Verweis auf die ungeklärte Finanzierung bereits vorzeitig aus der VDV-Initiative ausgestiegen. Dies macht deutlich, dass auch diese Aufwände bei einer soliden ÖPNV-Finanzierung berücksichtigt werden müssen. ■ LITERATUR [1] Oltmer, J. (2016): Germany and Global Refugees. A History of the Present. In: CESifo DICE Report, 14 (4), S. 26-31. [2] Bundesministerium des Innern und für Heimat (2023): Acht von zehn Schutzsuchenden kommen aus der Ukraine. www.bmi.bund. de/ SharedDocs/ pressemitteilungen/ DE/ 2023/ 01/ asylantraege2022. html [3] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2015): Migrationsbericht 2015. Zentrale Ergebnisse. www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Forschung/ Migrationsberichte/ migrationsbericht-2015-zentrale-ergebnisse.pdf? __blob=publicationFile&v=17 [4] FRONTEX (2022): Ukraine: Frontex support to Member States. https: / / frontex.europa.eu/ media-centre/ news/ news-release/ ukrainefrontex-support-to-member-states-PAEQqq [5] Bundesagentur für Arbeit (2023): Bestand an Regelleistungsberechtigten (RLB) mit der Staatsangehörigkeit Ukraine. https: / / statistik.arbeitsagentur.de/ DE/ Statischer-Content/ Statistiken/ Themen-im- Foku s/ U kraine-K rieg/ G eneri s c he-P ublikationen/ Tabellenanhang-Hintergrundinfo-Berichterstattung-Ukraine. xlsx? __blob=publicationFile&v=9 [6] Statistisches Bundesamt (2023): Schutzsuchende: Bundesländer, Stichtag, Geschlecht/ Altersjahre/ Familienstand, Ländergruppierungen/ Staatsangehörigkeit. www-genesis.destatis.de/ genesis/ / o n l i n e ? o p e r a t i o n = t a b l e & c o d e = 1 2 5 3 1 - 0 0 2 1 & b y p a s s = true&levelindex=0&levelid=1677616176854 [7] Badische Zeitung (2015): Grenzkontrollen wegen Flüchtlingsstrom: Stau auf der Balkanroute. www.badische-zeitung.de/ grenzkontrollen-wegen-fluechtlingsstrom-stau-auf-der-balkanroute--111412917. html [8] Datenbank Fernverkehr (2023). www.fernbahn.de/ datenbank/ suche/ [9] Bundesamt für Logistik und Mobilität (2023): BAG koordiniert die Beförderung von Flüchtenden aus der Ukraine in Deutschland. w w w. b a l m . b u n d . d e / S h a r e d D o c s / P r e s s e m i t t e i l u n g e n / DE/ 2022/ 2022_03_09_PM_08-22_BAG_koordiniert_Befoerderung_Fluechtenden_Ukraine_in_Deutschland.html [10] Süddeutsche Zeitung (2015): Asylsuchende sollen kostenlos Zug fahren dürfen. www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/ deutsche-bahnfluechtlinge-sollen-kostenlos-zug-fahren-duerfen-1.2644440 [11] Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (2022): Pass = Ticket- Regelung für ukrainische Geflüchtete endet am 31.05.2022. https: / / www.vdv.de/ 220524-pm-ticket-pass-fuer-ukrainische-gefluechtete-endet-am-31.-mai.pdfx. [12] Merkur.de (2022): RVO-Region Werdenfels streicht kostenlose Bustickets für Ukrainer. www.merkur.de/ lokales/ bad-toelz/ badtoelz-ort28297/ rvo-region-werdenfels-streicht-kostenlose-bustickets-91505760.html [13] RedaktionsNetzwerk Deutschland (2022): Geflüchtete aus der Ukraine: Was bedeutet die Einigung auf die Kosten? www.rnd.de/ politik/ gefluechtete-aus-ukraine-krieg-was-bedeutet-die-einigungzu-den-kosten-JV5UWVYBA5CKTNOLA7Z5STOJZQ.html [14] Tagesspiegel (2015): Die BVG sagt „Welcome“. www.tagesspiegel. de/ berlin/ die-bvg-sagt-welcome-4981270.html Antje-Mareike Dietrich, Dr. Projektleiterin, WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung GmbH, Braunschweig a.dietrich@wvigmbh.de Ivan Kuritsyn Projektmitarbeiter, WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung GmbH, Braunschweig i.kuritsyn@wvigmbh.de Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 49 ÖPNV MOBILITÄT Wie einfach wird die Tarifwelt unterhalb des Deutschlandtickets? Konzeptionelle Überlegungen und Erfahrungsberichte Deutschlandticket, Tarife, ÖPNV, Preisgestaltung, Bahnregionalverkehr Auch nach Einführung des Deutschlandtickets wird ein erheblicher Teil der Nachfrage im ÖPNV durch konventionelle Tarife abgedeckt. Für die Unternehmen besteht die Herausforderung darin, die Chancen einer tariflichen Vereinfachung unterhalb des Deutschlandtickets zu nutzen. Zu berücksichtigen sind dabei auch die Wechselwirkungen zwischen den Tarifsegmenten. Ziel muss es sein, nicht nur Vielfahrern mit Deutschlandticket ein einfaches Tarifsystem anzubieten, sondern allen Kundengruppen, angefangen von Personen, die nur sporadisch Busse und Bahnen nutzen möchten, und potenzielle Neukunden (=-bisherige ÖPNV-/ SPNV-Nicht-Nutzer) anzusprechen. Entsprechende digitale Angebote bestehen zum Teil bereits heute und könnten durch eine Digitalisierungs-Offensive einen dringend notwendigen Akzeptanzgewinn mit sich bringen. Andreas Krämer A b dem 1. Mai 2023 ist das Deutschlandticket als monatlich kündbares Abonnement im Markt. Es ist an eine Person gebunden und kann nicht an andere Nutzer weitergereicht werden, es kann auch schriftlich in den Kundenzentren und auf diversen Mobilitäts-Apps bestellt werden und ist auf dem Handy oder per Chipkarte nutzbar. Mit einem Preis von 49 EUR pro Monat erhält Deutschland nicht nur einen abgesenkten, eineitlichen „Preisdeckel“ im ÖPNV, sondern auch die Möglichkeit zu einem bundesweiten Zugang zum ÖPNV sowie zum SPNV. Der erhöhte Ticketpreis wird dazu führen, dass das Deutschlandticket weniger Gelegenheitskunden mobilisiert als das 9-Euro-Ticket. Dieses wurde etwa 52 Mio. Mal verkauft (etwa 10 Mio. Abo-Kunden erhielten das Ticket automatisch). Umgerechnet 38 Mio. Personen haben das 9-Euro-Ticket zumindest während eines Monats besessen. Die Ticket-Käufer kommen damit auf einen Anteil von 73 % an allen Ticket-Besitzern [1]. Der tarifliche „Spielraum“ unterhalb des Deutschlandtickets Einer Kalkulationsgrundlage des VDV zufolge [2], werden 11,3 Mio. bestehende ÖP- NV-Abos annahmegemäß in das Deutschlandticket migrieren (= 80 %); 2,8 Mio. Kunden behalten weiterhin ihr ÖPNV-Abonnement (= 20 %). Als sogenannte (Abo-) Neueinsteiger werden 5,6 Mio. Personen erwartet, so dass sich knapp 17 Mio. Besitzer des Deutschlandtickets errechnen (in diesem Fall liegt der Abo-Neukunden-Anteil bei 33 %). Alleine diese Kennziffern verdeutlichen, dass der Absatz, aber auch die Verlagerungseffekte und Klimawirkungen deutlich hinter dem 9-Euro-Ticket zurückbleiben müssen. Verlagerungen der Nachfrage vom PKW zu Bussen und Bahnen sind beim 9-Euro-Ticket vor allem im Segment bisheriger Gelegenheitskunden messbar gewesen-[3]. Trotzdem wird das Deutschlandticket die ÖPNV-Nutzung in Deutschland in den kommenden Jahren maßgeblich beeinflussen. Obwohl kritisiert wurde, der Preis von monatlich 49 EUR sei für größere Schichten der Gesellschaft zu teuer [4], das Ticket sei eine Fehlinvestition, weil gerade in ländlichen Regionen Investitionen für einen Netzausbau erforderlich seien (die jetzt fehlten [5]) oder das Ziel einer Tarifvereinfachung sei aufgrund von Sonderlösungen gar nicht erreichbar [6], verfügt das Deutschlandticket über das Potenzial, den ÖPNV stark zu verändern und insbesondere die Tariflandschaft deutlich zu vereinfachen. Vor diesem Hintergrund ist danach zu fragen, welcher Teil der Gesamtnachfrage durch das Deutschlandticket abgedeckt werden kann, wie die Wechselwirkungen zwischen Deutschlandticket und weiter bestehenden Tarifelementen aussehen und wie das Tarifgefüge unterhalb des Deutschlandtickets insgesamt zu vereinfachen ist. Die Attraktivität des Deutschlandtickets Teilweise entsteht der Eindruck, dass das Deutschlandticket fast totgeredet wurde, bevor es im Markt gestartet ist. Wissenschaftler wurden zitiert, die davon ausgehen, nur gut jeder zehnte ehemalige 9-Euro-Ticket-Besitzer wäre bereit, das Monatsabo zu 49 EUR zu kaufen (das entspräche nur etwa 4 Mio. Personen). Oder es stehen Befragungsergebnisse im Raum, nach denen 15 % der Befragten beabsichtigen, das Ticket regelmäßig zu kaufen und zu nutzen (also 10 bis 11 Mio. Menschen) [4]. Eigene Befragungsergebnisse wie die der Studienreihen Pricing Lab und OpinionTRAIN deuten unabhängig von einer bekundeten Kaufbereitschaft darauf hin, dass die Mobilitätsstrukturen in Deutschland auf ein höheres Absatzpotenzial schließen lassen. Die Attraktivität des Deutschlandtickets ergibt sich über die beiden Achsen Mobilität im ÖPNV (Nahbereich) und der Nutzung der Bahn im Regionalverkehr (Bild 1). Alleine 16 % der Bevölkerung (18+ Jahre) nutzen Busse und Bahnen am Wohnort mindestens an zwei Tagen pro Woche und unternehmen gleichzeitig mindestens eine Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 50 MOBILITÄT ÖPNV Reise pro Monat mit der Bahn (> 50 km einfache Strecke). Erhöht ist der korrespondierende Anteil in größeren Städten (500.000+ Einwohner), bei jüngeren Menschen (<-30-Jahre) oder Besitzern einer BahnCard. Aber nicht nur in diesem Fall lohnt sich der Kauf des Deutschlandtickets. Selbst bei sporadischer Nutzung des Bahnregionalverkehrs werden Ausgaben von 49 EUR leicht überschritten. Der Preis für das Querdurchs-Land-Ticket liegt bei 44 EUR (pro Tag, Einzelreisende), beim BayernTicket sind es 27 EUR . Bei Rückreise an einem anderen Tag als dem der Hinfahrt ist das Deutschlandticket die bessere Alternative für den Kunden. Allerdings können Festpreise unter verhaltenswissenschaftlichen Gesichtspunkten auch als Anker (oder auch als „Decoy“) fungieren, die das Deutschlandticket attraktiver erscheinen lassen und bei der Migration unterstützen [7]. Zusätzlich sind latente Nachfragepotenziale bei Nicht- oder Gelegenheitsnutzern (ÖPNV, Schienenpersonenverkehr) zu berücksichtigen. Erschließbar sind diese zwar nur zum Teil über den Faktor Preis ( jeweils unter den Top-3-Gründen bei den Nutzungsbarrieren, [8, 9]), trotzdem ergeben sich signifikante Nachfragepotenziale. Das bedeutet: Absatzchancen bestehen auch bei Mobilitätssegmenten, die bisher weder die Bahn im Regionalverkehr noch Busse und Bahnen am Wohnort genutzt haben [10]. Eine Rolle dabei spielen könnte die Planbarkeit des Deutschlandtickets für die nächsten 24 Monate (im Unterschied zum Vorgängerangebot 9-Euro-Ticket). Wechselwirkungen: Deutschlandticket und bestehende Tarifelemente Das Deutschlandticket wird den Großteil der bestehenden Zeitkarten im ÖPNV substituieren (50 bis 80 %). Regional sind Unterschiede zu erwarten, die u. a. vom bisherigen Preisniveau, der Zeitkartenstruktur und dem Umfang von Zusatzleistungen abhängen (Bild 2). Damit werden die Stammkunden des Deutschlandtickets in erster Linie gespeist durch bisherige ÖPNV-Vielfahrer. Allerdings sind dabei zwei Teilgruppen genauer zu beleuchten: Nutzer von Semestertickets und Jobtickets (beide zusammen decken etwa 40 % der ÖPNV-Abo-Kunden ab [11]). Die Integration von Semestertickets in das Deutschlandticket Bei Semestertickets handelt es sich in der Regel um Solidarmodelle, bei denen die studentische Vertretung mit den lokalen Verkehrsverbünden oder Aufgabenträgern einen günstigen Abnahmepreis verhandeln, der dann einen Teilbetrag des Semesterbeitrags darstellt und allen Studierenden den Zugang zu Bussen und Bahnen ermöglicht. In einer Erhebung aus dem Jahr 2021 wird die Preisspanne für das Semesterticket an den größten Hochschulen in Deutschland auf 65 EUR bis 230 EUR beziffert, wobei allerdings auch unterschiedliche Leistungen enthalten sind. Bei einem Durchschnittspreis von 177 EUR errechnet sich ein Monatsbetrag von weniger als 30 EUR [12]. Um das Semesterticket und das Deutschlandticket zu verzahnen, wird seit Frühjahr 2023 zunehmend diskutiert, Studierenden ein Upgrade in das Deutschlandticket anzubieten. Liegt der Preis des Semestertickets bei z. B. 30 EUR monatlich, bekommen Studierende gegen Zahlung eines Aufpreises von monatlich 19 EUR Zugang zum bundesweit gültigen Deutschlandticket. Bayern schlägt einen anderen Weg ein. Ministerpräsident Söder kündigte eine preisreduzierte Variante zu 29 EUR pro Monat ab Wintersemester 2023 für Bayerns Schüler, Studierende und Azubis an [13]. Er greift damit einen Vorschlag studentischer Dachorganisationen auf, die im Nov. 2022 ein „bundesweites Bildungsticket“ zum Preis von monatlich 29-EUR gefordert hatten [14]. Jobtickets innerhalb des Deutschlandtickets Auf der Webseite der Bundesregierung wird das zukünftige Jobticket-Modell im Zusammenhang mit dem Deutschlandticket Ende Januar 2023 wie folgt beschrieben [15]: „Unternehmen sollen die Möglichkeit erhalten, ihren Beschäftigten das Deutschlandticket als Jobticket bereitzustellen. Wenn sie dabei einen Abschlag von mindestens 25 Prozent gewähren, geben Bund und Länder einen weiteren Abschlag von fünf Prozent dazu. Beschäftigte könnten das Ticket auf diese Weise für mindestens 30 Prozent weniger beziehen.“ Konkret bedeutet dies, dass das Deutschlandticket für viele Beschäftigte zum monatlichen Preis von etwa 34 EUR oder weniger verfügbar sein wird (49 EUR abzüglich 12,25 EUR Arbeitgeberzuschuss, abzüglich 2,45 EUR staatliche Förderung), also 30 % vergünstigt angeboten werden kann. Die Ausrichtung der Unternehmen ist vor Marktstart des Deutschlandtickets offensichtlich sehr fragmentiert. Einige Unternehmen orientieren sich am Preis von 34,30 EUR (das Unternehmen Bayer will diesen Preis allen Beschäftigten anbieten, Mitarbeiter der Post sollen das Deutschlandticket für 15 EUR monatlich buchen können, während die Telekom erklärt, sie würde ein solches Ticket nicht weiter subventionieren [16]). Maßnahmen der Verkehrsunternehmen zur Vereinfachung des Tarifportfolios Einige Verkehrsverbünde haben bereits vor Marktstart des Deutschlandtickets ihr Tarifportfolio vereinfacht, andere warten ab. Der Hamburger Verkehrsverbund (hvv) hat bereits zum 1. Mai 2023 das Angebot an Zeitkarten stark reduziert. Neben der Wochenkarte hvv Gesamtnetz zu 29 EUR und dem Deutschlandticket zu 49 EUR wird eine Monatskarte hvv Gesamtnetz zum Preis von 69 EUR angeboten [17]. Andere Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, optionale Zusatzleistungen zum Deutschlandticket buchbar zu machen (Bild- 2). Beispielsweise sollen zum 1. Juli in ganz Nordrhein-Westfalen gültige Zusatztickets (als monatlich kündbares Abonnement) für die 1. Klasse-Nutzung (69 EUR pro Monat) und Fahrradmitnahme (39 EUR pro Monat) eingeführt werden [18]. Ein anderes Beispiel ist die Stadt Leipzig, die Kunden mit Deutschlandticket zwei optionale Nutzung und Erwägung des ÖPNV 1) 1 44% 22% 34% ÖPNV genutzt 1) Wenn Sie einmal an die letzten 4 Wochen denken: Wie oft fahren Sie in einer normalen Woche durchschnittlich mit den Bussen und Bahnen Ihres Verkehrsverbundes an Ihrem Wohnort? Und: Wie oft haben Sie in den letzten 3 Monaten überlegt, Busse und Bahnen in Ihrer Stadt zu nutzen und haben dann doch etwas Anderes genutzt? 2) Gab es in den letzten 12 Monaten Situationen, bei den Sie die Nutzung der Bahn (50+ km) erwogen, aber diese letztendlich nicht genutzt haben? ÖPNV nicht genutzt und kein ÖPNV- Fahrtenpotenzial Nutzung und Erwägung der Bahn 2) Nicht genutzt, aber die Bahn kommt grundsätzlich für mich in Frage Nein, die Bahn kommt grundsätzlich für mich nicht in Frage Nichtnutzungsgründe: Der Faktor Preis („zu teuer“) ist unter den Top-3-Gründen, 39 %; Top-Aspekt ist „Geringe Mobilität am Zielort / Startort“ ÖPNV nicht genutzt, aber ÖPNV-Fahrtenpotenzial oder ÖPNV kommt in Frage 23% 54% 23% ÖPNV-Nutzung Wohnort Bahnreisen > 50 km 16 % 10 % 13 % 61 % < 2 Tage/ Wo. Mind. 1 x / Mo. Mind. 2 Tage/ Wo. Seltener / gar nicht 2 Ja, genutzt in den letzten 12 Monaten Nichtnutzungsgründe: Der Faktor Preis („zu teuer“) ist unter den Top-3-Gründen, 22 %; Top-Aspekt ist „Angebot / Fahrplan“ Mobilitätssegmente* * Basis: Mobilität vor dem 9-Euro-Ticket (2022) Bild 1: Nutzung und Erwägung von ÖPNV und Bahn (> 50 km) Alle Abbildungen: exeo Strategic Consulting AG Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 51 ÖPNV MOBILITÄT Bausteine anbietet (Mitnahme Kinder zu 1,50 EUR und Mitnahme Erwachsene zu 4,60 EUR monatlich [19]). In den Verbünden bodo, naldo und VVS werden als Zusatzleistung Übertragbarkeit und Mitnahmemöglichkeiten im Verbundgebiet (9,90- EUR pro Monat) angeboten [20]. Der Eindruck: alles andere als Einheitlichkeit. Tarifangebote unterhalb des Deutschlandtickets Durch die Tarifreform ab 1. Mai 2023 müssen sämtliche Tarife auf den Prüfstand gestellt werden. Um auf veränderte Mobilitätsbedürfnisse durch die Corona-Krise zu reagieren, hatten sich die Verkehrsunternehmen bei tariflichen Ansatzpunkten im Wesentlichen auf zwei Modelle für ÖPNV- Gelegenheitsnutzer fokussiert: Einerseits auf zweistufige Tarife [21], andererseits auf Fahrten- oder Tageskarten-Kontingente [22]. Neue Ticketangebote als Konsequenz veränderter Mobilitätsbedürfnisse der Kunden So bieten z. B. die Leipziger Verkehrsbetriebe mit „ABO Flex“ einen Rabatt von ca. 50 % auf Einzelfahrten für eine Grundgebühr von 6,90 EUR/ Monat an (Break-even: 13,80-EUR). Der RMV hat Anfang 2023 den RMV-SparPass eingeführt, der Kunden 25 % Rabatt auf Kurzstrecken-, Einzel- und Tageskarten pro Monat für das gesamte RMV- Gebiet gewährt und 10 EUR im Monat (ohne Abonnement) kostet [23]. Der Breakeven beläuft sich auf 40 EUR Ticketausgaben (in diesem Fall ist der Kunde mit und ohne RMV-SparPass finanziell gleichgestellt). Für nur 9 EUR mehr bietet das Deutschlandticket bundesweite, unbeschränkte Nahverkehrsmobilität. Gefordert wurden außerdem sogenannte „Homeoffice-Tickets“, bei denen Kunden z. B. acht, zehn oder zwölf Nutzungstage im Paket (30 Tage gültig bzw. pro Monat) angeboten werden. Eingeführt wurden derartige Tarifangebote u. a. vom hvv und dem Verkehrsverbund Stuttgart [24]. Erfahrungen des hvv mit digitalen Tageskarten-Paketen Im hvv wurde vom 20. Oktober 2021 bis zum 17. April 2022 eine 10er-Tageskarte (nutzbar bis zum 16. Mai 2022) als digitaler Tarif angeboten, die beispielsweise für den Tarifbereich AB (Hamburg) zum Preis von 59 EUR und damit zu einem ermäßigten Preis gegenüber der Tageskarte (8,40 EUR) verfügbar war. Zur Orientierung: Der Absatzerfolg war relativ bescheiden. So wurden im Aktionszeitraum von Oktober 2021 bis April 2022 in Summe knapp über 7.200 Karten verkauft - im Vergleich zu 130.000 verlorenen Stammkunden durch die Corona-Krise eine sehr geringe Zahl. Basierend auf den Ergebnissen einer Controlling-Studie wurde das Angebot in eine 5er-Tageskarte zum Preis ab 29,50 EUR überführt (unveränderte Gültigkeit von 30 Tagen) und ab September 2022 verkauft sowie durch einen vergleichbaren Untersuchungsansatz überprüft. Die Anzahl der Ticketverkäufe lag bereits in der ersten Verkaufswoche fast siebenmal höher als beim Vorgängerangebot - ein Indikator, dass das veränderte Angebot damit viel besser den Bedarf im Mobilitätsmarkt traf [25]. Das wird auch deutlich anhand der weiteren Absatzzahlen (Bild 3). Allerdings ergibt sich mit Blick auf die Zeit ab dem 1. Mai 2023 folgende Perspektive: 54 % der Nutzer der 5er-Tageskarte beabsichtigen, das Deutschlandticket (DT) zu kaufen, sobald dieses verfügbar ist (Bild 3, [26]). Erkennbar werden hier Abhängigkeiten, die bereits in anderen Studien beschrieben worden sind [27]. Die DT-Kaufabsicht ist positiv korreliert mit den monatlichen Ausgaben für Mobilität und negativ mit dem Alter. Es besteht zudem ein starker positiver Zusammenhang zwischen der Anzahl der gekauften 5er-Tageskarten und der Kaufabsicht für das DT. Damit wird deutlich: Je nach konkreter Ausgestaltung der Tageskarten-Pakete sind sehr unterschiedliche Absatzpotenziale erschließbar. Und: Es ist ambitioniert bis unmöglich, Verluste im Abo-Bestand durch neue Tarifangebote für Medium-User auszugleichen [22]. Deutschlandticket: Ein Schritt in Richtung Digitalisierung und Kundenähe Mit dem Deutschlandticket, als digitales Ticket konzipiert, ergeben sich nicht nur Chancen für eine weitere Digitalisierung der Tariflandschaft, sondern auch für eine veränderte Sicht auf die Notwendigkeit einer verstärkten Kundenzentrierung und eines aktiven Kundenmanagements. 2 Tarife für Gelegenheitskunden Zeitkarten- Angebote in der Region 1 2 3 Wanderungsbewegungen Wanderungsbewegungen Spezielle Zielgruppen wie Studierende und Jobtickets Tarifportfolio im ÖPNV und Bahnregionalverkehr Gelegenheitskunden Deutschlandticket Stammkunden Deutschlandticket Digitalisierung der Tarife Zusatzleistungen eTarife Vereinfachung Neukunden Strategischer Rahmen für die Tarifstrategie Gelegenheitskunden ÖPNV Bild 2: Strategischer Rahmen für die Tarifstrategie in Zeiten des Deutschlandtickets Kumulierte Verkaufsentwicklung nach Tagen (1 bis 140)* Kundenbeziehung*** +1085 % Verkaufstag Tickets Sep.-Dez. 22 Okt. 21-Mai 22 53% 19% 5er-Tageskarte 10er-Tageskarte „Ich besitze aktuell (nach meiner letzten x-er-Tageskarte) eine x-er-Tageskarte“ Sep.-Dez. 22 Okt. 21-Mai 22 70% 41% „Ich werde in den nächsten Monaten wieder eine x-er-Tageskarte kaufen“ 5er-Tageskarte 10er-Tageskarte Sep. 22-Dez. 22 Okt. 21-Mai 22 Kennziffer Einheit 5er-Tageskarte 10er-Tageskarte Preis Paket EUR (AB) 29,50 € 5 9 , 0 0 € Preis je TK EUR (AB) 5,90 € 5, 90 € Genutzte TK Ø Stück 4,7 8,7 Genutzte TK % von Total 94% 87% Verkauf Ø TK/ Tag 479 40 *** Online-Befragung nach Nutzung des letzten Tageskarte (nach Ablauf der Gültigkeit); 5er-Tageskarte = 510 Interviews; 10er-Tageskarte = 357 Interviews * Verkaufskennziffern vom hvv ** Abfrage Kaufabsicht Deutschlandticket (Dez. 2022) 54% 18% 28% Ja ** Nein Weiß nicht Kauf DT Bild 3: Ergebnisse zur Pilotierung Tageskarten-Paketen im hvv (in Anlehnung an Korbutt et al. 2023) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 52 MOBILITÄT ÖPNV Fokus auf das „Kundenwertzentrierte Management“ Hierbei stehen Facetten der sogenannten Customer Experience genauso im Vordergrund wie ein Kundenwertmanagement. In der Verknüpfung der Herausforderungen der Kundenzentrierung einerseits und des Wertmanagements anderseits ergibt sich die Logik eines „Kundenwertzentrierten Managements“ [28]. Die daraus abgeleitete Value-to-Value-Segmentierung ist in Bild 4 konzeptionell dargestellt [29]. Eigene Studien bestätigen, dass das Deutschlandticket relativ stark durch bestehende ÖPNV- Stammkunden, schwächer durch Gelegenheitskunden und am schwächsten durch Personen genutzt wird, die das 9-Euro-Ticket nicht genutzt haben. Allerdings sind aufgrund der Segmentgröße dieser potenziellen Kundengruppe bereits geringe Kaufquoten mit hohen absoluten Absatzzahlen verbunden. In Zeiten des Deutschlandtickets wird es wichtig, die Verschiebungen in den beiden Wertachsen richtig zu verstehen. So ist denkbar, dass das Deutschlandticket einen Einfluss auf die Bedürfnisstruktur, z. B. die Preissensitivität, der Nachfrage hat [30] oder sich die Ansprüche an die Kundenprozesse (Kündigung des Abos, Transparenz per Kundenkonto etc.) verändern, genauso wie die Wertigkeit der Kunden aus Unternehmenssicht (Downsell-Effekte bei Kunden mit bisher höheren Ausgaben als 49 EUR, Upsell-Effekte bei Gelegenheitskunden, die Busse und Bahnen mit dem Deutschlandticket intensiver nutzen möchten). Fokus auf die Digitalisierung der Tarife Gerade vor dem Hintergrund eines digitalisierten Deutschlandtickets bestehen Möglichkeiten, den Digitalisierungsschub zu nutzen, um insgesamt die Akzeptanz der ÖPNV-Kunden für eTarife zu erhöhen und nicht nur eine Digitalisierung, sondern gleichzeitig eine Vereinfachung der Tariflandschaft zu erreichen. Unterstützt werden könnte dies durch Kundenkonten, die neben der Ticketbuchung und -verwaltung auch weitere Informationen und Zusatzleistungen bereitstellen. Ein digitalisierter Tarif, beispielsweise entfernungsbasiert mit Sicherheitskomponenten wie einer Deckelung der Kosten pro Tag oder pro Monat wäre auch ein Aufsatzpunkt, um klassische konventionelle Tarife zu entschlacken. Erreicht werden kann das auch mit digitalisierten Tageskarten-Paketen. Gleichzeitig bringt ein Datenschutz-konform ausgestaltetes Kundenkonto die Möglichkeiten einer Win-Win-Situation mit sich: Die Anbieter der App erhalten nicht nur eine bessere Sicht auf die Kundenbeziehung (Sammlung von Ausgaben, Rückmeldung der Kunden etc.), sondern auch mehr Gelegenheiten zur Interaktion mit den Kunden - beides sind Voraussetzungen für ein zielgerichtetes Kundenbeziehungsmanagement. Der Nutzen für die Kunden könnte sich u. a. durch eine bessere Transparenz über die Ausgaben (inkl. Hinweise zur Sinnhaftigkeit bzw. „Rentabilität“ des Deutschlandticket-Kaufs und umgekehrt) oder durch in Echtzeit bereitgestellte Informationen zur Fahrt ergeben. Ausblick Bei aller - teilweise auch berechtigten - Kritik an der Ausgestaltung des Deutschlandtickets werden die Chancen für eine weitere Vereinfachung der Tariflandschaft und der Ticketing- und Kundenprozesse zu wenig gewürdigt. Wichtig ist das Verständnis, dass mit der Markteinführung ab 1. Mai 2023 weitere dynamische Prozesse verbunden sind. Die Diskussionen um Sonderregelungen für Sozialtickets, für Studierende oder Jobtickets verdeutlichen, dass der Preis von 49 EUR zu hoch angesetzt wurde, um eine größere Akzeptanz in der Gesellschaft und nachhaltige Effekte für die Verkehrswende zu erzielen [27]. Aber auch hier gilt zumindest teilweise „Der Weg ist das Ziel“. Im Sinne eines tatsächlich vereinfachten Tarifportfolios für alle relevanten Kundengruppen, wie Gelegenheitskunden, sind Voraussetzungen zu schaffen, die einen einfachen, problemlosen und günstigen Einstieg in das System ÖPNV auch für Menschen ohne Besitz des Deutschlandtickets ermöglichen. Je stärker digitalisiert dies erfolgt, desto einfacher wird dann ein aktives Marketing der Kundenbeziehung über alle Phasen des Kundenlebenszyklus. Die Einfachheit der Tarife unterhalb des Deutschlandtickets ist nicht nur durch die Vielzahl und Verschiedenheit von Tarifangeboten bestimmt, sondern auch durch die Kundenprozesse. Denkbar wären auch nationale Kampagnen mit einer bundesweit einheitlichen Regelung. Das könnte ein einfaches digitales Ticket (km-basiert und mit Tagespreisdeckel 4,90 EUR) genauso sein wie eine Tageskarte zum Preis von 4,90 EUR (oder fünf Minuten Nutzungszeit für 0,49- EUR), um die bekannte Ziffernfolge 49 aufzugreifen und kommunikativ zu nutzen. ■ LITERATUR [1] Krämer, A.; Wilger, G.; Bongaerts, R. (2022): Das 9-Euro-Ticket: Erfahrungen, Wirkungsmechanismen und Nachfolgeangebot. In: Wirtschaftsdienst (102), H. 11, S. 873-879. [2] Bundesverbands Deutscher Omnibusunternehmen e. V. (bdo) (2023): Stellungnahme des bdo zum Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes v. 24.02.2023 zur öffentliche Anhörung am 01.03.2023. www.bundestag.de/ resource/ blob/ 935570/ e44785a879610f2e3bc8d052ab9a9839/ Stellungnahme-BDO-data.pdf (Abruf: 04.04.2023). [3] Krämer A.; Korbutt A. (2022): Das 9-Euro-Ticket - Ziele, Wirkungsmechanismen und Perspektiven. In: Internationales Verkehrswesen (74), H. 3, S. 10-13. [4] Pluta, W. (2023): ÖPNV: Viele halten das 49-Euro-Ticket für zu teuer. Golem.de v. 6. Februar 2023. www.golem.de/ news/ oepnv-vielehalten-das-49-euro-ticket-fuer-zu-teuer-2302-171686.html (Abruf: 04.04.2023). [5] N.N. (2023): CDU-Fraktionschef: 49-Euro-Ticket werde Mobilität auf Land nicht verändern. Die Zeit online v. 30.03.2023. .www.zeit.de/ news/ 2023-03/ 30/ 49-euro-ticket-werde-mobilitaet-auf-landnicht-veraendern? utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.zeit. de%2Fnews%2F2023-03%2F30%2F49-euro-ticket-werde-mobilitaet-auf-land-nicht-veraendern (Abruf: 04.04.2023). [6] Fischer, C. (2023): 49-Euro-Ticket nur für Reiche? Experte mit harter Kritik. Der Westen v. 04.03.2023. www.derwesten.de/ panorama/ vermi s c hte s/ 49-euro-ti c ket-9-bu s-ba hn-kritik-ab-wa nnid300439752.html (Abruf: 11.01.2023). [7] Josiam, B. M.; Hobson, J. P. (1995): Consumer choice in context: the decoy effect in travel and tourism. In: Journal of Travel Research (34), Nr. 1, S. 45-50. [8] Krämer, A. (2016): Nachfragepotenziale für den ÖPNV - Konzeptionelle Überlegungen und empirische Ergebnisse für die D-A-CH-Region. In: Der Nahverkehr (34), H. 12, S. 20-24. [9] Brocke, B.; Neweling, S.; Krämer, A. (2023): Fallbeispiel: Deutsche Bahn - Zwischen BahnCard/ BahnBonus und Aktionsangeboten. In: Krämer, A.; Kalka, R.; Merkle, W. (Hrsg.): Stammkundenbindung vs. Neukundengewinnung. Springer, Wiesbaden, S. 61-77. Bild 4: Kundenwertmanagement im ÖPNV in Zeiten des Deutschlandtickets Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 53 ÖPNV MOBILITÄT [10] Krämer, A.; Hercher, J. (2022): 9-Euro-Ticket: Der Wunsch nach einem Nachfolgeangebot und mögliche Absatz- und CO 2 -Einspareffekte. Die Studie „OpinionTRAIN 2022“ untersucht das 9-Euro-Ticket nach Abschluss der Gültigkeitsperiode (Teil 3) v. 22.09.2022. www. rogator.de/ 9-euro-ticket-wunsch-nachfolgeangebot-co2-einspareffekte/ (Abruf: 11.01.2023). [11] Mobilität in Deutschland (2017): Mobilität in Tabellen. https: / / mobilitaet-in-tabellen.dlr.de/ (Abruf: 10.03.2023). [12] UNICUM (2023): Semesterticket Vergleich 2022: Wer zahlt wie viel? UNICUM v. 18.03.2021. www.unicum.de/ de/ studium-a-z/ uni-orga/ semesterticket-vergleich-wer-zahlt-wie-viel-wer-kommt-wieweit (Abruf: 20.2.2023). [13] N.N. (2023): Söder verspricht 29-Euro-Ticket. Süddeutsche Zeitung v. 18.01.2023. [14] Fzs (2022): Nicht den Anschluss verpassen - Studierende fordern: Bundesweites 29€-Bildungsticket jetzt! www.fzs.de/ 2022/ 11/ 01/ nicht-den-anschluss-verpassen-studierende-fordern-bundesweites-29e-bildungsticket-jetzt/ (Abruf: 10.03.2023). [15] Die Bundesregierung (2023): So soll das Deutschlandticket funktionieren. Stand v. 31.01.2023. www.bundesregierung.de/ breg-de/ aktuelles/ deutschlandticket-2134074. (Abruf: : 20.02.2023). [16] NN (2022): Beschäftigte können sich freuen Einige Arbeitgeber bezuschussen 49-Euro-Ticket. Ntv v. 28.03.2023. www.n-tv.de/ wirtschaft/ Einige-Arbeitgeber-bezuschussen-49-Euro-Ticket-article24016361.html (Abruf: 10.03.2023). [17] hvv (2023): Die größte Tarifreform seit Gründung des hvv: Das hvv Deutschlandticket und alle wesentlichen Änderungen des hvv Tarifs im Überblick. Hamburg. [18] N.N. (2023): Deutschlandticket: NRW führt eigene Zusatzleistungen ein. WDR v. 29.03.2023. www1.wdr.de/ nachrichten/ landespolitik/ deutschlandticket-nrw-100.html (Abruf: 04.04.2023). [19] LVB (2023): Dein Deutschlandticket: Hol es dir jetzt bei den LVB. www.l.de/ verkehrsbetriebe/ produkte/ deutschlandticket/ (Abruf: 04.04.2023). [20] VCD (2023): Beim Kauf eines Deutschland-Tickets lohnt sich der Vergleich. Stuttgart, 13.04.2023. www.lifepr.de/ inaktiv/ vcd-landesverband-baden-wuerttemberg-ev/ VC D-B eim-K auf-eine s- Deutschland-Tickets-lohnt-sich-der-Vergleich/ boxid/ 942333 (Abruf: 13.4.2022). [21] Wilger, G.; Krämer, A.; Bongaerts, R. (2020): Flex-Tarife und Abo- Angebote für Gelegenheitsnutzer im ÖPNV - eine Bestandsaufnahme und Analyse der Wirksamkeit. In: Der Nahverkehr (38) H. 10, S. 16-23. [22] Krämer, A.; Bongaerts, R.; Reinhold, R. (2022): Veränderte Mobilität von Abo-Kunden und Ansätze für alternative Ticketangebote am Beispiel Frankfurt am Main. In: Verkehr und Technik (75) H. 3, S. 85- 89. [23] RMV (2023): Der RMV-SparPass. https: / / sites.rmv.de/ de/ sparpass (Abruf: 04.04.2023). [24] VVS (2021): Neues Angebot für „Ab-und-zu-Fahrer“: Digitales 10er- TagesTicket startet ab April.www.vvs.de/ presse/ detailansicht-pressemitteilung/ presse/ neues-angebot-fuer-ab-und-zu-fahrer-digitales-10er-tagesticket-startet-ab-april/ (Abruf: 04.04.2023). [25] Korbutt, A.; Krämer, A. (2023): Veränderte Sicht auf die Kundenbeziehungen im ÖPNV: Der Hamburger Verkehrsverbund (hvv). In: Krämer, A.; Kalka, R.; Merkle, W. (Hrsg.): Stammkundenbindung versus Neukundengewinnung. Springer, Wiesbaden. S. 187-207. [26] Korbutt, A. T.; Senkbeil, C.; Auzins, K.; Krämer, A. (2023): Bedürfnisgerechte Tarifgestaltung in Zeiten von Corona und 9-Euro-Ticket - Erfahrungen mit einem digitalen Tageskartenangebot im hvv. In: Nahverkehr (41) H. 4, S. 41-45. [27] Krämer, A.; Wilger, G.; Bongaerts, R. (2022): Vom 9-Euro-Ticket zum Deutschlandticket. VARI Forschungsbericht Nr. 3, Iserlohn, 23.11.2022. [28] Krämer A.; Burgartz, T. (2022): Kundenwertzentriertes Management. Springer, Wiesbaden. [29] Krämer, A.; Bongaerts, R.; Reinhold, T. (2021): Kundenwert - die zwei Seiten einer Medaille: Value-to-Value-Segmentierung für die traffiQ Frankfurt. In: Internationales Verkehrswese, (73) H. 3, S. 80- 83. [30] Krämer, A. (2018): Die Mobilisierung von preissensibler Nachfrage in einer digitalisierten Welt - Die Entstehung von vier Quasi-Monopolen im deutschen Fernverkehrsmarkt. In: Internationales Verkehrswesen (70) H. 1, S. 16-20. Andreas Krämer, Prof. Dr. Vorstandsvorsitzender, exeo Strategic Consulting AG, Bonn; Direktor, Value Research Institute (VARI), Iserlohn. andreas.kraemer@exeo-consulting.com Wie sich die urbane Transformation schaffen lässt Wie sich die urbane Transformation schaffen lässt Zivilgesellschaft | Partizipation | Reallabore | Governance | Zukunftsvisionen Zivilgesellschaft | Partizipation | Reallabore | Governance | Zukunftsvisionen 2 · 2023 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Gemeinschaftsprojekt Stadt Lesen Sie in der neuen Ausgabe 2|2023 von Transforming Cities:  Mit digitalen Tools Leerstand bekämpfen  Graffiti: Pro und Contra  Lebensqualität in Großwohnsiedlungen  Welche Zukunft hat das Einfamilienhaus?  Organisation des Hitzeschutzes in Kommunen  Umweltgerechtigkeit im Quartiersmanagement  Mit gemeinsamer Laborarbeit Innenstädte vitalisieren  Stärkung der Zivilgesellschaft Erscheint am 5. Juni 2023. Jetzt bestellen unter: https: / / www.transforming-cities.de/ einzelheft/ Urbane Systeme im Wandel. Das Technisch-Wissenschaftliche Fachmagazin TranCit_2 2023_halbe_quer.indd 1 TranCit_2 2023_halbe_quer.indd 1 27. Apr. 2023 18: 00: 56 27. Apr. 2023 18: 00: 56 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 54 9-Euro-Ticket: Wendepunkt in-der Verkehrspolitik Von der sozialpolitischen Entlastungsmaßnahme zur verkehrspolitischen Weichenstellung Verkehrspolitik, Mobilitätswende, 9-Euro-Ticket, ÖPNV Das „9-Euro-Ticket“ wurde im Mai 2022 als Teil des Entlastungspakets II der Bundesregierung beschlossen. Für drei Monate geplant, hatte das Ticket jedoch langfristige Folgen: Zum ersten Mal gab es eine bundesweit einheitliche Zeitkarte für den öffentlichen Nahverkehr, die mit der Einführung des Deutschlandtickets zum 1. Mai 2023 verstetigt ist. Eine Analyse der medialen Berichterstattung zeigt, wie bereits kurz nach Einführung des Tickets eine Nachfolgedebatte aufkommt. Die kurzfristige Maßnahme war damit eine wichtige Weichenstellung für eine verkehrspolitische Wende. Regina Weber, Jonathan Kniep I m Zuge des zweiten Entlastungspakets wurde am 19./ 20. Mai 2022 von Bundestag und Bundesrat beschlossen, ein bundesweit gültiges Nahverkehrsticket zum Monatspreis von neun Euro für einen Zeitraum von drei Monaten („9-Euro-Ticket“) einzuführen. Die Folgen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ließen die Energiepreise in Deutschland stark ansteigen. Ab Februar lag die Inflationsrate im Vergleich zu den Vorjahresmonaten dauerhaft über 5 % [1]. Insbesondere die Benzinpreise waren zwischen Februar und März durchschnittlich um über 20 % gestiegen [2]. Dies stellte eine große Belastung für Pendlerinnen und Pendler dar. Das Entlastungspaket II sah mehrere Maßnahmen vor, um diese Kriegsfolgen sozialpolitisch abzufedern: neben der Einführung des 9-Euro-Tickets verschiedene Einmalzahlungen und eine ebenfalls auf drei Monate befristete Steuersenkung auf Kraftstoffe, der sogenannte „Tankrabatt“. Das 9-Euro- Ticket sollte Kundinnen und Kunden des Foto: Erge / pixabay MOBILITÄT ÖPNV Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 55 ÖPNV MOBILITÄT ÖPNV entlasten, aber durch einen finanziellen Anreiz auch den Umstieg auf den ÖPNV vereinfachen [3]. Das temporäre Ticket entfaltete eine große Eigendynamik und wurde schlussendlich in Form des ab Mai 2023 gültigen Deutschlandtickets für 49 EUR pro Monat verstetigt. Damit hebt sich das 9-Euro-Ticket von den anderen Entlastungsmaßnahmen ab: Weder die Einmalzahlungen (Kindergelderhöhung und Energiepreispauschale) noch der temporäre „Tankrabatt“ konnten eine ähnliche Dynamik entfalten. Als wichtige Einflussfaktoren trafen dabei aufeinander: Das 9-Euro-Ticket hatte eine massive strukturverändernde Wirkung - weg von Tarifzonen hin zu einem deutschlandweit gültigen Ticket - und es war auf Anhieb sehr erfolgreich: Rund 52 Millionen Tickets wurden im gesamten Zeitraum von Juni-August verkauft [4]. In der Politikforschung werden einschneidende Ereignisse, die ein Politikfeld dauerhaft verändern, als „critical junctures“ (entscheidende Weichenstellungen) bezeichnet [5]. Das Kernargument des Erklärungsansatzes lautet, dass in manchen Politikfeldern externe Schocks nötig sind, um etablierte Strukturen und Prozesse aufzubrechen. Durch solche externen - oft ungeplanten - Einflüsse sind große politische Veränderungen möglich [6]. Die Einführung des Tickets als Reaktion auf den Preisschock war gewissermaßen ein „externer Schock“: Die gezielte bundespolitische Intervention hat das bestehende Gefüge der regionalen Tarifverbünde und deren Preisfindungsmechanismen stark beeinflusst. Gleichzeitig zeigte sich durch die große Nachfrage, dass diese Veränderung auf große Resonanz in der Bevölkerung gestoßen ist. Die Einführung, der Ticketzeitraum und die Nachfolgedebatte rund um das 9-Euro- Ticket wurden von einer intensiven Medienberichterstattung begleitet. Auf Basis von über 150.000 Artikelüberschriften aus dem Zeitraum Mai bis September 2022 zeigen wir im Folgenden, dass die Nachfolgefrage schon kurz nach Einführung des Tickets begann und die Berichterstattung sich recht schnell auf ein mögliches Nachfolgeticket konzentrierte. Dies deutet darauf hin, dass das 9-Euro-Ticket bereits bei seiner Einführung keine klassische sozialpolitische Maßnahme war, sondern verkehrspolitische Implikationen schon früh absehbar waren. Das 9-Euro-Ticket als critical juncture Die Ticketlandschaft im öffentlichen Personennahverkehr in Deutschland ist in ihrer Struktur vielfältig und kompliziert. Preisgestaltung und Ticketverkauf im öffentlichen Verkehr teilen sich aktuell auf mehr als 60-Verkehrsverbünde, weitere Tarifverbünde und auf Einzelunternehmen in verbundfreien Gebieten auf, die 27 Aufgabenträger sprechen auch in Teilen bei der Tarifgestaltung mit. Hinzu kommen Landestarife und der Deutschlandtarif. 1 Innerhalb der Verbünde gibt es jeweils unterschiedliche Tarifzonen, Waben und Gültigkeitsbereiche der Tickets [7, 57ff.]. Dieser „Tarifdschungel“ gilt als große Hürde für eine einfache und unkomplizierte Nutzung des öffentlichen Verkehrs, ist aber maßgeblich durch die bestehende Struktur aus Aufgabenträgern und Verkehrsverbünden bedingt und scheint sehr träge [7, 8, 9]. In der Erklärung unerwarteter politischer Entwicklungen nimmt der eingangs skizzierte critical juncture-Ansatz eine prominente Rolle ein [5, 6, 10, 11]. Wenngleich sich ein Großteil der Forschung zu diesem Theorieansatz auf den Einfluss von Großereignissen wie Kriegen oder Entstehungsprozesse von Gesellschaften bezieht, können auch kleinere und mittlere politische Entwicklungen damit erklärt werden, zum Beispiel im Bereich der Stadtentwicklung [12]. Langfristige politische Veränderungen in Politikfeldern mit großem Beharrungspotenzial sind danach insbesondere dann möglich, wenn ein externer Einfluss etablierte politische Strukturen und Institutionen in Frage stellt. Der externe Einfluss löst eine critical juncture aus, also einen Zeitraum, in dem Veränderungen besonders einfach sind. Sind diese Veränderungen einmal eingetreten, sind sie schwer wieder zurückzudrehen. Bestätigungen der Veränderungen durch positives Feedback helfen, einen neuen Status quo zu etablieren und das politische Feld langfristig zu verändern [5]. Die Einführung des 9-Euro-Tickets kann in der Rückschau fast als Musterbeispiel einer solchen Entwicklung gesehen werden. Die ursprüngliche sozialpolitische Motivation, die Inflationskosten für die Bevölkerung abzumildern, war ein externer Eingriff in das bestehende verkehrspolitische Gefüge aus der ÖPNV-Tarifwelt. Anders als die anderen Maßnahmen aus dem Entlastungspaket II sind durch diesen Schritt bestehende Institutionen und Gefüge, insbesondere die Hoheit der Tarifverbünde über ihre Fahrpreise, in Frage gestellt worden. Somit war das 9-Euro-Ticket ein systemischer Bruch des etablierten Systems. Es stieß gleichzeitig auf fruchtbaren Boden, da die Präsenz des Klimawandels und die erforderliche Emissionsminderung im Verkehrssektor die Förderung des ÖPNV zu einem politischen Dauerthema machen [13]. Einmal eingeführt erfreute sich das Ticket sehr großer Beliebtheit (positives Feedback). Dies belegen nicht nur die hohen Verkaufszahlen, auch die umfangreiche Begleitforschung zum Ticket belegt dies [14]. Hierdurch wuchs der Druck, ein Nachfolgeangebot zu entwickeln, da eine Rückkehr zum alten Ticketsystem nicht akzeptabel und nur schwer vermittelbar schien. Somit findet das 9-Euro-Ticket seine vorläufige Etablierung im Deutschlandticket, welches ab Mai 2023 zum monatlichen Preis von 49 Euro gültig ist. Betrachtet man den medialen Diskurs rund um das Ticket, kann man die beschriebenen Tendenzen hin zu einer Nachfolgeregelung bereits früh erkennen. Entwicklung der Medienberichterstattung rund um das Ticket Massenmedien nehmen in der politischen Willensbildung eine herausragende Rolle ein und können die politische und öffentliche Debatte stark bestimmen. Sie signalisieren einerseits das Meinungsklima, stellen also dar, welche Meinungen vorherrschen und welche die Mindermeinungen sind. Andererseits kann man aus der Berichterstattung Rückschlüsse daraus ziehen, welche Themen überhaupt gesellschaftlich relevant sind. Dabei beeinflussen Medien nicht nur, was wir wahrnehmen, sondern auch, wie wir etwas wahrnehmen, also beispielweise die inhaltliche Qualität von bestimmten politischen Entscheidungen [15, 16]. Um einen Einblick in die öffentliche Debatte rund um das 9-Euro-Ticket zu gewinnen, verwenden wir daher Überschriften von 151.030 Artikeln aus Online-Medien, die zwischen dem 1. Mai und 30. September 2022 zum Thema 9-Euro-Ticket erschienen sind. 2 Der Datensatz umfasst die Onlineausgaben klassischer Printmedien (z. B. sueddeutsche.de), öffentlich-rechtlicher Radio- und TV-Sender (z. B. tagesschau.de, ndr.de) sowie reine Online-Medien (z. B. t-online. de). Um die unstrukturierten Textdaten adäquat analysieren zu können, haben wir klassische Text-Mining-Analysen durchgeführt. Die zeitliche Verteilung der Beiträge bestätigt ein kontinuierliches Interesse der Medien am Thema. Es gibt erwartete Peaks der Berichterstattung vor und zu Beginn sowie zum Ende des Ticketzeitraums. Darüber hinaus gibt es einige Ausreißer, die allerding nur sehr grob mit konkreten Ereignissen zusammenhängen. Ein prominentes Beispiel ist der Vorschlag des Verbands deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) zu einer Anschlusslösung (Bild 1). Die deutschen Medien (90 % der untersuchten Artikel) sind zu 60 % Teil des Onlineangebots Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 56 MOBILITÄT ÖPNV einer Tages- oder Wochenzeitung, von Radio- oder Fernsehsendern. Diese Quellen lassen sich hinsichtlich ihrer Reichweite regional oder bundesweit zuordnen. 72 % sind regionale Angebote, überwiegend aus Regionalzeitungen, außerdem von regionalen Radios oder TV-Sendern. Damit ist die Berichterstattung deutlich durch regionale Medien geprägt. Einen Eindruck über die inhaltliche Gestaltung der Berichterstattung erhält man beim Blick auf die Häufigkeit bestimmter Begriffe. Da die Daten den Zeitraum von Mai bis September 2022 abdecken, können die Zeiträume vor dem Ticketverkauf (Mai), während des Gültigkeitszeitraums (Juni- August) und nach dem Ticketverkauf (September) separat betrachtet werden. Dabei ist zu erkennen (Bild 2), dass sich, abgesehen von neutralen Begriffen wie „Bahn“, „ÖPNV“ und „Ticket“, die häufig genannten Wörter von Periode zu Periode unterscheiden. Weisen Begriffe wie „Mai“, „Start“ und „Ansturm“ 3 vor der Einführung des Tickets noch auf dessen baldigen Beginn hin, wandelt sich der Diskurs bereits während des Ticketzeitraums in eine Debatte um eine mögliches Nachfolgeticket. Hierfür steht exemplarisch das Wort „Nachfolge“, welches sich sowohl im Ticketzeitraum als auch nach dem Ticketzeitraum unter den drei häufigsten Nennungen befindet. Nach dem Ticketzeitraum weisen die Wörter „Berlin“ 4 , „Länder“ und „Bund“ auf die damals geführten Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über ein mögliches Nachfolgeticket hin, welche in einer Sonderkonferenz der Verkehrsministerien am 19. September 2022 mündeten. Betrachtet man statt einzelner Wörter die am häufigsten zusammen auftretenden Wortpaare, verstärkt sich dieser Eindruck (Bild 3). Auch hier lässt sich eine klare thematische Entwicklung im Zeitverlauf erkennen: Während noch im Mai über die Abstimmungen in Bundestag und Bundesrat am 19. bzw. 20. Mai und den bevorstehenden Verkaufsstart berichtet wurde, thematisierten die Überschriften ab der Ticketeinführung im Juni 2022 die hohen Verkaufszahlen und die damit einhergehenden steigenden Nutzerzahlen im ÖPNV. Ab Juli ist ein weiterer entscheidender Bruch zu erkennen: Erstmals ist die Nachfolge des 9-Euro- Tickets (hier als „9euroticket nachfolge“ codiert) das häufigste Wortpaar. Weitere Begriffe wie „365-Euro“ (gemeint ist das 365-Euro-Ticket), „Tarif-Dschungel“ oder „69-Euro“ (gemeint ist ein Ticket zum Preis von monatlich 69 Euro) zeigen, dass bereits zahlreiche Nachfolgevarianten diskutiert wurden. Dieser Diskurs gewinnt in den Folgemonaten an Relevanz: So wurde das Wortpaar zur Nachfolge des 9-Euro-Tickets im Juli nur 58mal, im August 193mal und im September 259mal codiert. Dies kann als klares Indiz gewertet werden, dass der mediale Druck, ein Nachfolgeticket anbieten zu müssen, vermittelt als Frequenz in der Berichterstattung, ab Juni 2022 systematisch gestiegen ist. Frühe Wegbereitung für das Deutschlandticket Der Blick in die Medienberichterstattung zum 9-Euro-Ticket zeigt, dass die Debatte um eine Nachfolgelösung frühzeitig begonnen und fast den gesamten Ticketzeitraum begleitet hat. Bereits im Juli 2022 erschienen erste Pressemeldungen, die ein Nachfolgeticket behandelten. Spätestens ab August war die Frage nach einer möglichen Nachfolgeregelung das dominierende Thema in der Berichterstattung. Dies untermauert die Vermutung, dass es sich bei der krisenbedingten Einführung des 9-Euro-Tickets um einen critical juncture handelte, mit der eine verkehrspolitische Entwicklung begonnen hat, die nicht mehr leicht zu Bild 2: Häufigste Wörter in Titeln von Onlineartikeln zum 9-Euro-Ticket in den drei Zeiträumen vor, während und nach dem Ticketverkauf Eigene Darstellung Bild 1: Berichterstattung über das 9-Euro-Ticket, Anzahl der Artikel in online verfügbaren Medien im Zeitverlauf Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 57 ÖPNV MOBILITÄT stoppen war. Vereinzelt wurde dieses Potenzial für eine solche Entwicklung bereits frühzeitig gesehen und bspw. das Ticket als „Startschuss“ für ein bundesweites Ticket aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht untersucht [17]. Mit dem Entlastungspaket und der Einführung des Tickets reagierte die Ampel- Koalition auf den Preisschock, der durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöst wurde. Die positive Resonanz und der damit gleichsam wachsende öffentliche Druck zwangen die Regierung, eine Nachfolgelösung anbieten zu müssen, die in Form des 49-Euro-Tickets im Mai 2023 eingeführt wurde. So zeigt das Beispiel des 9-Euro-Tickets eindrucksvoll, dass externe Schocks und damit einhergehende politische Entscheidungen das Potenzial besitzen, stabile Prozesse, wie hier die Tarifsystematik im ÖPNV, aufzubrechen und systemverändernde Entscheidungen herbeizuführen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Einführung des Tickets langfristig auf die Strukturen der Verkehrsverbünde und die Tarifsysteme im ÖPNV auswirken wird. ■ 1 Der Deutschlandtarif wird in der Deutschlandtarifverbund GmbH von ÖPNV-Aufgabenträgern und Eisenbahnverkehrsunternehmen verantwortet und regelt seit 01.01.2022 Kosten und Einnahmeaufteilung bei verbundübergreifenden Tickets. 2 Die Artikel wurden auf Basis einer Stichwortsuche identifiziert, die verschiedene Schreibweisen des Begriffs „9-Euro-Ticket“ umfasst. Von den Artikeln wurde schließlich nur die Überschrift verwendet, unabhängig davon, ob der Begriff in der Überschrift auftaucht oder nur im folgenden Artikeltext. Der Datenkorpus reicht von kurzen Ankündigungen und Informationen zum Ticketverkauf bis zu umfangreichen Analysen und Berichten. Die Datensammlung erfolgte über den Dienstleister argus insights. 3 Die Insel Sylt ist aufgrund der Kontroverse über möglichen Reiseverkehr auf die Insel vor Beginn des Ticketverkaufs auffällig häufig genannt. 4 Berlin taucht als Begriff auch häufig auf, da die Stadt nach dem Ticketzeitraum seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Übergangsticket in Höhe von 29 Euro angeboten hat und dies zu einer erhöhten Medienpräsenz führte. LITERATUR [1] Statistische Bundesamt (2023), Europa: Monatliche Inflationsrate. w w w. d e s t a t i s . d e / E u r o p a / D E / T h e m a / B r e x i t / _ G r a f i k / _ Interaktiv/ 27-inflationsrate-monatlich.html [2] Statista (2023): Durchschnittlicher Preis für einen Liter Superbenzin in Deutschland von Januar 2020 bis Februar 2023. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 1690/ umfrage/ preis-fuer-einen-liter-superbenzin-monatsdurchschnittswerte/ [3] Bundesregierung (2022): Weitere Erleichterungen auf dem Weg. www.bundesregierung.de/ breg-de/ suche/ entlastungspaketzwei-2028052 (Zugriff: 28.03.2023). [4] Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV): Bilanz zum 9-Euro-Ticket, Stand: 29. August 2022: www.vdv.de/ bilanz-9-euro-ticket.aspx (Zugriff: 28.03.2023). [5] Collier, D. (2022): Critical Juncture Framework and the Five-Step Template. In: Collier, D.; Munck, G. L. (Hrsg.): Critical Junctures and Historical Legacies: Insights and Methods for Comparative Social Science, Maryland: Rowman & Littlefield, S. 113-68. [6] Capoccia, G. (2015): Critical junctures and institutional change. In: Mahoney, J.; Thelen, K. (Hrsg.): Advances in Comparative-Historical Analysis. Cambridge: Cambridge University Press, S. 147-179. [7] Waluga, G. (2017): Das Bürgerticket für den öffentlichen Personennahverkehr: Nutzen, Kosten, Klimaschutz. München: Oekom-Verlag. [8] Borcherding, A. (2022): Kaufen, einsteigen, fahren ohne nachzudenken: www.klimareporter.de/ verkehr/ kaufen-einsteigen-fahren-ohne-nachzudenken (Zugriff: 28.03.2023). [9] Bundesamt für Verkehr (Hrsg.) (2010): Evaluation Tarifgestaltung im Personenverkehr. Schlussbericht. Zürich. www.infras.ch/ media/ filer_public/ fe/ aa/ feaa4c7d-66c7-44ee-becf-34b942024264/ schlussbericht_evaluation_tarifgestaltung_im_personenverkehrfinal-29-3-2010.pdf (Zugriff: 28.03.2023). [10] Collier, R. B.; Collier, D. (1991): Shaping the political arena (Vol. 11). Princeton: Princeton University Press. [11] Lipset, S. M.; Rokkan S. (Hrsg.) (1967): Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives. New York/ London: Free Press. [12] Rast, J. (2009): Critical Junctures, Long-Term Processes: Urban Redevelopment in Chicago and Milwaukee, 1945-1980. In: Social Science History, 33 (4), S. 393-426. [13] Umweltbundesamt (2022), UBA-Prognose: Treibhausgasemissionen sanken 2022 um 1,9 Prozent. Pressemitteilung vom 15.03.2023 www.umweltbundesamt.de/ presse/ pressemitteilungen/ uba-prognose-treibhausgasemissionen-sanken-2022-um (Zugriff: 28.03.2023). [14] Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF): DZSF- Fachtagung: Begleitforschung zum 9-Euro-Ticket, Tagungsdokumentation. www.dzsf.bund.de/ SharedDocs/ Termine/ DZSF/ 2022/ 2022_11_04_Tagung_9EuroTicket.html (Zugriff: 28.03.2023). [15] Jäckel, M. (2011): Medienwirkungen: Ein Studienbuch zu Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. [16] Roessing, Th. (2013): Öffentliche Meinung. In: Schweiger, W.; Fahr, A.: Handbuch Medienwirkungsforschung, Wiesbaden: Springer VS. [17] Herfurth, D. (2022): Das Neun-Euro-Ticket als Startschuss für ein dauerhaftes Deutschland-Ticket. Ein zweistufiges Modell zur Umsetzung. Konstanz: KOPS Universität Konstanz, urn: nbn: de: bsz: 352- 2-sb2vgupqz5hn5. Regina Weber, Dr. Wissenschaftliche Referentin, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF), Bonn weberr@dzsf.bund.de Jonathan Kniep Praktikant, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung; Masterstudent der Sozialwissenschaften, Ruhr-Universität Bochum jonathan.kniep@ruhr-uni-bochum.de Bild 3: Häufigste Wortpaare in Titeln von Onlineartikeln zum 9-Euro-Ticket pro Monat Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 58 MOBILITÄT Schifffahrt Mit dem Passagierschiff über-den Atlantik Niedergang (und Zukunft? ) der Passagierlinienschifffahrt Transatlantik-Reisen, Nordatlantik-Route, Passagierschiff, Linienschiff In den 1970er Jahren verschwanden fast alle Passagierlinienschiffe von den Ozeanen. Heutige Erklärungsversuche für das Ende dieses Verkehrssystems erschöpfen sich meist in knappen Verweisen auf die schnelleren Flugzeuge. Doch der Blick zurück lohnt, nicht nur aus Nostalgie. Ist die Lage heute anders als vor 50 Jahren, könnte die Passagierlinienschifffahrt vielleicht sogar eine Renaissance erleben. Der folgende Beitrag skizziert den Niedergang der Passagierlinienschifffahrt am Beispiel des Nordatlantiks als bedeutendster Hochstraße des interkontinentalen Passagierverkehrs. Thomas N. Kirstein N ach dem Zweiten Weltkrieg konkurrierte das Passagierschiff erstmals mit dem Flugzeug. Trotzdem stiegen die Passagierzahlen stetig. Im Jahre 1957 erreichten sie mit über einer Million ihren Höhepunkt. Bis zu 80 Schiffe pendelten über den Ozean. Schnelldampfer schafften die Überfahrt in fünf bis sieben Tagen, je nach Abfahrtshafen in Europa. Langsame Schiffe brauchten bis zu fünf Tage mehr. In Amerika war New York der Haupthafen des Schiffsverkehrs. Die Propellermaschinen der Airlines schafften einen Nordatlantikflug in zwölf bis zwanzig Stunden, je nach Abflughafen in Europa, inklusive Tankstops und ggf. weiteren Zwischenstopps, um Unterwegsflughäfen zu bedienen. Trotzdem fuhr über die Hälfte der Reisenden per Schiff. Dafür sprach schon sein höherer Komfort. Die 1. Klasse glich einem schwimmenden Grand Hotel, die 2. Klasse ähnelte der 1., und die 3. oder „Touristenklasse“ bot soliden Komfort und etwas beengte, aber oft gemütliche Kabinen für zwei bis vier Personen. Allen Passagieren boten die Schiffe, nach Klassen getrennt, Bewegungsfreiheit und Geselligkeit, Aufenthalte an Deck mit Deckstühlen, Bordspielen, abendliche Musik- oder Tanzveranstaltungen und mindestens vier frisch gekochte Mahlzeiten täglich. Flugzeuge hingegen waren klein und beengt, denn die Leistungsgrenzen der Kolbenmotoren beschränkten ihre Größe. „Vom Komfort her war das Fliegen 4. Klasse, kein Vergleich mit einem Schiff“, erinnert sich ein Passagier der fünfziger Jahre. 1 Ein Sitz 1. Klasse war nur 53 Zentimeter breit. Der Sitzreihenabstand betrug rund einen Meter. Liegesitze und (Etagen-)Betten verlangten erhebliche Aufpreise. Auch kleine Salons oder Lounges, die einen zeitweiligen Platzwechsel erlaubten, und winzige, nach Damen und Herren getrennte Gemeinschaftswaschräume mit Waschbecken zur Morgen- oder Abendtoilette entsprachen kaum dem Komfort der Schiffe. In der- 1953 eingeführten Touristenklasse schrumpften die Sitzbreiten sogar auf 47 Zentimeter, und der Salon blieb der 1. Klasse vorbehalten. Für das Schiff sprach auch der günstigere Fahrpreis. Er lag rund 30 Prozent unter dem der vergleichbaren Flugklasse. Die Reedereien schützten diesen Wettbewerbsvorteil bewusst durch ihre Kartellabsprachen auf der Nordatlantischen Passagekonferenz. Nur in der 1. Klasse der großen Schnelldampfer kosteten sogar die günstigsten Kabinen fast so viel wie ein Flugticket. Trotzdem waren sie sehr gut gebucht. Der Komfort spielte demnach eine zentrale Rolle. 2 Einen Nachteil des Verkehrssystems Schiff bildet seine begrenzte Netzbildungsfähigkeit. Passagiere aus dem Binnenland oder mit Zielen jenseits der Ankunftshäfen mussten mit anderen Verkehrsmitteln an- oder weiterreisen. Dafür betrieben die europäischen Eisenbahnen Bootszüge, die ihre Passagiere in wenigen Stunden von den Metropolen oft direkt an die Piers brachten. In den weitläufigen USA hingegen konnten Bahnreisen Tage dauern. Mancher Passagier nutzte für die An- oder Weiterreise lieber das schnellere Flugzeug, das innerhalb der USA schon deutlich günstiger war als in Europa. Zudem bot der Seeweg weniger Verkehrsgelegenheiten als der Luftweg. Da Schiffe bis zu 2.000 Plätze hatten, war ihre Zahl geringer als die der Flugzeuge mit nur 50 bis 80 Sitzen. Trotzdem liefen in vielen der großen Häfen fast täglich Schiffe aus. Ab 1957 schlossen Reedereien und Fluggesellschaften Interline-Abkommen. Nordatlantikreisende konnten nun eine Strecke fliegen, die andere fahren, und erhielten trotzdem die üblichen Rückreisermäßigungen. Damit ließen sich die Vorteile beider Verkehrssysteme auf einer Reise kombinieren. Die „Queen Mary“ war mit über 2.000 Passagieren eines der größten Linienschiffe. Sie wurde 1967 außer Dienst gestellt. Eine Überfahrt dauerte fünf Tage. (Foto: Cunard Line) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 59 Schifffahrt MOBILITÄT Die vierziger und fünfziger Jahre zeigten eine gesunde Konkurrenz zwischen See- und Luftverkehr. Das Flugzeug erzeugte einen Teil seines Verkehrs ohnehin neu. Dazu zählten beruflich Reisende, deren Reisezweck nicht gewichtig genug gewesen wäre, um zwei lange Seereisen zu rechtfertigen. Hinzu kam jener Teil von Privatreisenden und Touristen, deren begrenzte Urlaubsansprüche lange Seereisen fast unmöglich machten. Nicht nur in Deutschland betrug der Mindesturlaub kaum drei Wochen. Die sechziger Jahre: Der Niedergang beginnt Die Zahl der Schiffspassagiere ging ab 1958 zurück. Eine der Ursachen war die im April im Flugverkehr eingeführte Economyklasse, deren Preis nur noch knapp 20 Prozent über dem Schiffspreis 3. Klasse lag. Dafür wurden die Sitzreihen auf 86 Zentimeter zusammen geschoben, Toiletten und Waschräume reduziert oder verkleinert und Gratismahlzeiten und Freigepäck stark beschränkt. Trotzdem flogen schon im Sommer 1958 rund 65 Prozent aller Fluggäste Economy. Eine Untersuchung zeigte, dass rund 20 Prozent der Economy-Passagiere ohne den günstigeren Tarif das Schiff benutzt oder auf die Reise verzichtet hätten. 3 Die Passagierzahlen der Schiffe sanken bis 1962 aber primär auf den Überfahrten in westlicher Richtung. Ein Grund lag in den schwindenden Auswandererzahlen als Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs in Europa. Emigranten waren aber schiffsaffine Reisende. Sie schätzten die günstigen Schiffstarife, die große Menge an kostenlosem Freigepäck, und sie hatten Zeit. 4 Ende Oktober 1958 flogen die ersten Düsenmaschinen über den Atlantik. Da sie den nordatlantischen Flugbetrieb aber erst ab 1960 dominierten, konnten sie die sinkenden Schiffspassagierzahlen von 1958/ 59 nur unwesentlich mit verursacht haben. Die Jets machten das Fliegen attraktiver. Die Flugzeiten sanken auf sieben bis neun Stunden, und die leistungsstarken Turbinentriebwerke erlaubten größere Flugzeuge. Die 1. Klasse erhielt breitere, bequemere Sitze und spürbar mehr Beinfreiheit. In der Economyklasse wurden nur die Sitze fünf Zentimeter breiter. Doch die halbierten Flugzeiten milderten die Unbequemlichkeiten der Flugreise für alle Passagiere. Hinzu kamen die Laufruhe der Düsentriebwerke und das Fliegen in höheren, ruhigeren Luftschichten. Schon die ersten Düsenflugzeuge senkten die Gesamtkosten pro Tonnenkilometer um durchschnittlich 30 Prozent. Doch der Kauf der teuren Jets und anfängliche Sitzüberkapazitäten erzwangen vorerst sogar moderate Tarifsteigerungen. Erst 1963 sanken die Flugtarife um zehn Prozent, und ab Die „Constellation“ von Lockheed gehörte zu den besten Langstreckenflugzeugen mit Kolbenmotoren. Foto: Deutsche Lufthansa AG Die deutsche „Bremen“ zählte mit rund 1.100 Passagierplätzen und einer Reisedauer von acht Tagen (Bremerhaven-New York) zu den mittleren Linern. Foto: Hapag-Lloyd AG Speisesaal 1. Klasse der „Bremen“ Foto: Hapag-Lloyd AG Die beengte Passagierkabine einer „Constellation“ Foto: Deutsche Lufthansa AG Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 60 MOBILITÄT Schifffahrt Mitte der sechziger Jahre lagen sie in der Economyklasse nur noch knapp über dem günstigsten Schiffstarif. Hinzu kamen Lockerungen der Gruppentarifbestimmungen. Reiseveranstalter erhielten nun Gruppentarife, die rund ein Drittel unter den günstigsten Schiffstarifen lagen. 5 Die Normalpreise sanken aber erst um 1970 spürbar unter jene der günstigsten Schiffspassage. Dafür mitverantwortlich war auch die Einführung der besonders wirtschaftlichen Jumbojets. 6 Die Reedereien hatten den Preiskampf zwar verloren, wollten die Tariflücke zum Flugzeug aber wenigstens begrenzen, obwohl die verbliebenen Schiffspassagiere den Preis offenbar nicht als wichtigstes Kriterium der Verkehrsmittelwahl ansahen. Viele Reeder kalkulierten noch knapper und mit Passagierauslastungen, die sich in einem normalen Liniendienst nur schwer erreichen ließen. Hinzu kamen nicht selten Sondertarife, u. a. für Studenten, die nicht kostendeckend waren, um Passagiere zu gewinnen, die sonst aus Kostengründen fliegen würden. Zugleich steigerten viele Reedereien schon in den sechziger Jahren Service und Komfort aller Klassen, um Passagiere zu gewinnen. Damit stiegen aber auch die Kosten. Auf neueren Schiffen wie der „France“ ließen sich 1. und Touristenklasse kaum noch unterscheiden. Einige Kritiker empfahlen stattdessen (vergeblich) eine spartanische 3. Klasse, die dem Flugpreis Paroli bieten könnte. Schon 1965 war die Zahl der Liner auf 40 und die Passagierzahl auf 650.000 gesunken. Die Reedereien hielten vor allem ihre großen Schnelldampfer auf der Linie. Kleinere, langsamere und damit auch preiswertere Schiffe wurden verkauft, verschrottet oder in die Kreuzfahrt geschickt. Experten erwarteten aber kein Ende der Linienfahrt, denn der hohe Komfort und die Annehmlichkeiten der Seereise zogen noch immer Passagiere an. „Getting there is the half fun“ lautete der Werbeslogan der Cunard Line, und eine viel zitierte Studie der New Yorker Hafenbehörde prognostizierte für 1985 noch 280.000 Linienpassagiere. 7 Ein zentrales Handicap des nordatlantischen Reiseverkehrs waren seine saisonalen Nachfrageschwankungen. Sie resultierten vor allem aus dem hohen Anteil von Touristen und Privatreisenden, die schon um 1960 zwei Drittel aller Nordatlantikpassagiere stellten. Viele Touristen bevorzugten die komfortable und erholsame Ferienwoche auf See, anstatt ihre Reisekasse für den bloßen Transport im Flugzeug zu nutzen. Touristen reisten aber vor allem im Sommerhalbjahr. Eine ebenfalls schiffsaffine Gruppe waren Auswanderer. Sie reisten saisonal unabhängig, doch ihre Zahl sank ständig ab. Zu jeder Saison reisten auch Künstler, Diplomaten oder Geschäftsleute. Sie tendierten aber stärker zum Flugzeug, denn Zeit war Geld, und das Ticket bezahlte die Firma oder der Staat. Hinzu kam das kalte und stürmische Winterwetter des Nordatlantiks. Als sich Flug- und Schiffstarife angenähert und die Jets den Flugkomfort verbessert hatten, bevorzugten noch mehr Reisende im Winter das Flugzeug. Ab Mitte der sechziger Jahre fuhren die meisten Liner im Winter so weit unterhalb der Rentabilitätsgrenze, dass die Sommermonate die Verluste nicht mehr kompensierten. Die Reedereien reduzierten die winterlichen Überfahrten drastisch, und ab 1968/ 69 endete der winterliche Schiffsverkehr fast vollständig. Im Sommerhalbjahr hingegen blieb die Nachfrage groß. Viele Überfahrten waren Monate im Voraus ausgebucht, und Reisende wurden abgewiesen. Im Winter hingegen fanden Reisewillige keine Schiffe mehr. Diese Situation verstärkte die Abwanderung zum Flugzeug zusätzlich. Kreuzfahrten hatten vor allem kleineren und langsameren Linienschiffen schon immer eine Alternative für die Wintersaison geboten. Erst Mitte der sechziger Jahre wechselten auch die großen Schnelldampfer verstärkt in die Kreuzfahrt. Doch Superliner mit 2.000 Passagierplätzen waren für diesen noch kleinen Markt zu groß. Zudem fehlten vielen Kreuzfahrtzielen große und tiefe Häfen, da sie abseits der Hauptschifffahrtsrouten lagen. Die Riesendampfer ankerten auf Reede und brachten ihre Passagiere mit Beibooten an Land. Zudem verlangten die kalten Nordatlantikwinter eher verglaste Promenaden als große Sonnendecks mit Swimmingpools. Unattraktiv war auch die strikte räumlich Klassentrennung, zumal die unterste Kabinenkategorie älterer Liner Vergnügungsreisende kaum ansprach. Probleme machten auch die hohen Bau- und Betriebskosten der Superliner. Die auf höchste Geschwindigkeiten und tagelange Dauerlast ausgelegten Dampfturbinen waren teuer, voluminös und personalintensiv. Außerdem brauchten Liniendampfer sehr solide Rümpfe, die auch bei hoher Geschwindigkeit schweren Atlantikstürmen standhielten. Vorn und achtern waren die Rümpfe scharf zugeschnitten, um den Wasserwiderstand reduzieren und die Längsstabilität im Sturm verbessern. Dadurch verringerte sich aber der nutzbare Schiffsraum. Zudem bestanden die Deckshäuser vieler Nachkriegsliner aus teurem Aluminium. Das leichte Metall senkte den Masseschwerpunkt des Schiffes und verbesserte damit das Seegangsverhalten, und der reduzierte Tiefgang erhöhte die Geschwindigkeit. Letztlich machten viele der teuren Superliner auf Kreuzfahrten Minus. Erfolgreicher waren kleinere Schiffe, die zudem nur zwei Klassen besaßen, und die sich auf Kreuzfahrten durch verschiebbare Trennwände und geöffnete Verbindungstüren als Einklassenschiffe fahren ließen. Hinzu kamen Mehrbettkabinen der Touristenklasse, die sich durch Wegklappen von Ober- oder Couchbetten in bequeme Ein- oder Zweibettkabinen verwandeln ließen. Die sechziger Jahre veränderten auch die Wahrnehmung der Seereise. Die schnellen, bequemer gewordenen Jets lockten nun auch jenen Teil der oberen Zehntausend stärker an, der bislang noch gern die 1. Klasse der Luxusliner bevölkert hatte. Die „High Society“ hieß bald nur noch „Jetset“, dessen Glamour auch auf die Economyklasse abstrahlte. Luxusliner hingegen verblassten langsam zu Statussymbolen von gestern. Es schien fast symbolisch, als der französische Staatspräsident Giscard d’Estaing der „France“, dem letzten französischen Nordatlantikliner, die Subventionen strich und dafür den Bau der „Concorde“ förderte. Staatssubventionen für die nordatlantische Linienschifffahrt hatten sich lange Zeit Entwicklung der Schiffspassagierzahl auf der Nordatlantik- Route Quellen: Cunard Line u.a. jahr Jahr Passagierzahl in Tausend Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 61 Schifffahrt MOBILITÄT auf günstige Kredite oder Zuschüsse für den Bau teurer Superliner beschränkt, die zugleich auch nationale Prestigeobjekte waren. Doch ab Mitte der sechziger Jahre benötigten viele Reedereien auch direkte Betriebskostenzuschüsse ihrer Regierungen. Die siebziger Jahre: Das Ende der Passagierlinienfahrt Um 1970 gaben die ersten Linienreedereien auf. Sogar die Sommerfahrpläne waren bald soweit ausgedünnt, dass auch die großen europäischen Häfen oft weniger als eine Abfahrt pro Woche anbieten konnten. Dieser Mangel an Verkehrsgelegenheiten förderte die Abwanderung zum Flugzeug zusätzlich. Trotz allem wählten noch 1970 rund 250.000 Passagiere das Schiff. Die Auslastungen der verbliebenen Nordatlantikliner lag im Sommer bei durchschnittlich 80 Prozent. Doch die meisten der verbliebenen Schiffe waren typische Superliner, die auf Kreuzfahrten eher Verluste machten. Hinzu kamen die noch immer knapp kalkulierten Linientarife. Das Ende der letzten Liner brachte die Ölkrise, mit der die Kosten der brennstoffhungrigen Dampfturbinen explodierten. Hinzu kamen rasant steigende Personalkosten als Folge der allgemein stark steigenden Löhne. Diese Kostensteigerungen schlugen direkt auf die Subventionshöhe durch, da die Staaten die meisten Liner ohnehin schon subventioniert hatten. Die Regierungen beendeten ihre Unterstützung, und die letzten Reedereien stellten den Transatlantikdienst Mitte der siebziger Jahre ein. Nur die „Queen Elizabeth 2“ der britischen Cunard Line hielt am saisonalen Nordatlantikdienst fest. Als letzter Liner fand sie im Sommerhalbjahr noch ausreichend Passagiere, und mit einer moderaten Klassentrennung und großen Außenbereichen mit Pools eignete sie sich für Kreuzfahrten besser als viele ihrer Schwestern. Zudem hatte die Cunard Line Anfang der siebziger Jahre das Preiskartell der Nordatlantischen Passagierkonferenz verlassen und eine deutlich nachfrageorientiertere Preisstruktur entwickelt. Bis 1986 fuhr auch die polnische „Stefan Batory“ über den Nordatlantik. Als Schiff einer osteuropäischen Planwirtschaft litt sie aber weniger unter marktwirtschaftlichen Zwängen und diente dem Staat zugleich als Devisenbringer. Fazit Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein komplexes Konkurrenzverhältnis zwischen Schiff und Flugzeug. Anfänglich sprachen für das Flugzeug nur die kürzere Reisezeit, eine bessere Netzbildungsfähigkeit und der „Traum vom Fliegen“. Schiffe hingegen lockten mit höheren Komfort, dem Charme der Seereise und günstigeren Tarifen. Erst als sich Flug- und Schiffstarife annäherten, begannen viele Passagiere zum Flugzeug abzuwandern. Diesen Trend verstärkte der verbesserte Flugkomfort der Düsenmaschinen. Trotzdem schätzten viele Reisende weiterhin die Qualität der Seereise. Mit den sinkenden Passagierzahlen verschwanden aber viele Schiffe aus dem Liniendienst, und die reduzierte Zahl der Verkehrsgelegenheiten förderte die Abwanderung zum Flugzeug zusätzlich. Zudem verschärfte sich das Saisonproblem, da zu viele Passagiere in den Wintermonaten das Flugzeug vorzogen. Im saisonalen Kreuzfahrtdienst ließen sich viele der verbliebenen Superliner nicht optimal einsetzen und fuhren Verluste ein. Zugleich waren die Tarife für die Linienfahrt zu knapp kalkuliert. Am Ende benötigten viele Schiffe staatliche Betriebskostenzuschüsse. Als Ölkrise und Lohnkostensteigerungen die Betriebskosten nochmals erhöhten, strichen die Regierungen ihre Subventionen und fast alle verbliebenen Liner gaben auf. Gegenwart und Zukunft Noch immer sprechen der Komfort und das Erlebnis der Seereise für das Linienschiff. Zudem liegen Seereisen wieder im Trend. Die Zahl der Kreuzfahrtpassagiere stieg weltweit von 1970 bis 2019 von jährlich 500.000 auf rund 30 Millionen. 8 Das Flugzeug hat sein glamouröses Image derweil eingebüßt. Der Traum vom Fliegen ist zur Banalität verblasst, und mancher Kritiker verspottet die fliegenden Economy-Transportsäle gar als „Slum der Lüfte“. 9 Die jährliche Zahl der Reisenden zwischen Europa und den USA stieg seit dem Ende der Passagierlinenschiffahrt um das Zehnfache, auf rund 80 Millionen. 10 Würde heute, wie in der Endphase der Liner, nur ein Prozent aller Reisenden das Schiff nutzen, wäre eine ganze Flotte ausgelastet. Zudem sind die Urlaubsansprüche von Arbeitnehmern inzwischen von drei auf bis zu sechs Wochen gestiegen. 11 Privatreisende, die aus Zeitgründen ausschließlich fliegen können, sind damit verschwunden. Zumindest eine kombinierte See- und Luftreise wäre jedermann möglich. Trotzdem unterläge der Nordatlantikverkehr noch immer saisonalen Schwankungen. Doch ein nachfrageorientiertes Tarifsystem könnte das Saisonproblem etwas abmildern. Zudem wären heutige Liner für den saisonalen Kreuzfahrtdienst geeigneter als ihre Vorfahren. Dieselmotoren sind verbrauchsärmer als Dampfturbinen und eignen sich technisch besser für den Stop-and-go-Verkehr der Kreuzfahrt. Auch die Passagierbereiche entsprächen eher denen eines Kreuzfahrers, denn heutige Linienpassagiere erwarten keine strikte Klassentrennung mehr, und beengte Kabinen 3. Klasse ohne Bad ließen sich auch im Liniendienst kaum noch verkaufen. Dieser Trend deutete sich schon Ende der sechziger Jahre an. Zudem könnten die Liner große Außenbereiche, Sonnendecks und Außenpools erhalten, zumal der Nordatlantikdienst im Winter vermutlich auch heute eine nur geringe Rolle spielen würde. Der Tarif einer Schiffspassage kann mit den inzwischen weiter gefallenen Economytarifen des Flugzeuges nicht konkurrieren, mit den stark gestiegenen Flugtarifen für Business- und Firstclass aber schon. Zudem zeigten schon die späten Jahre des Linienschiffsverkehrs, dass die verbliebenen Passagiere die Qualität der Seereise höher schätzten als den Preisvorteil des Fliegens. Auch die Preissensibilität wäre heute geringer, da die Realeinkommen gestiegen sind. Die „Queen Elizabeth 2“ lief bis 2008 erfolgreich im kombinierten Linien- und Kreuzfahrtdienst. Sie wurde durch die „Queen Mary 2“ ersetzt. Foto: Cunard Line Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 62 MOBILITÄT Schifffahrt Entsprach ein günstiger Schiffstarif (einfache Fahrt) um 1970 einem Monatslohn eines Facharbeiters, so würde heute weniger als ein halber Monatslohn ausreichen. 12 Die Zukunft kann weitere Veränderungen bringen, falls umwelt- und klimapolitisch motivierte Eingriffe in den Luftverkehrsmarkt die Flugkosten erhöhen. Auch neue, energiesparende Flugzeugantriebe könnten das Fliegen verteuern, aber auch verlangsamen. Ein Beispiel ist die derzeit vieldiskutierte Renaissance der Propeller. Dass Passagiere auf Beförderungspreise oder wenige Stunden mehr Flugzeit sensibel reagieren, hat die Vergangenheit gezeigt. Zudem könnten Schiffe für alternative, energiesparende Antriebe der Zukunft geeigneter sein, da sie hinsichtlich Größe und Gewicht ihrer Antriebsanlagen flexibler sind als Flugzeuge. Dass noch immer Passagiere mit dem Linienschiff reisen möchten, beweist die britische Cunard Line bis heute. Dafür, dass dieser Verkehrssektor größer sein oder werden könnte, liefert der Blick in die Vergangenheit einige Hinweise. ■ 1 Wolf Willms reiste in den fünfziger Jahren häufig über den Nordatlantik. Zit. n.: Focke, H. (2004): Mit dem Lloyd nach New York. Bremen, S. 51. 2 Lochner, N.; Wilts, J. (1956): Wachstum und Wettbewerb im Nordatlantischen Passagierverkehr. Göttingen, S. 130 ff., Schaubildanhang S. 18. 3 Verkehrsergebnisse der Economyklasse. Pressemitteilung der KLM (Archiv Deutsches Museum, LRD 00533-04). 4 Lepach, P. (1964): Kurs Neue Welt - ein Beitrag zur Übersee-Passagierfahrt. In: Nauticus, Jahrbuch für Seefahrt und Weltwirtschaft. Frankfurt, S. 63. 5 Lepach, P. (1969): Kooperation zwischen Schifffahrt und Luftverkehr im Passagierverkehr. In: Herbert Schmidt: Kooperation im Verkehr. Bad Godesberg, S. 324 ff. 6 Preisbeispiel Hin- und Rückflug Frankfurt - New York mit Beschränkung auf bestimmte Wochentage und maximal 21 Tagen Aufenthaltsdauer in Übersee 1440 DM; Passagierschiff (Bremen) ab Bremerhaven je nach Saison 1904 bis 2336 DM. Lepach, ebd., S. 377. 7 Reisener, W. (1968): Passagierschiff am Wendepunkt seiner Geschichte. In: Wirtschaftsdienst, H. 3, S. 136. 8 Zahlen d. Cruise Lines International Association. 9 Behringer, W.; Ott-Koptschalijnski, C. (1991): Der Traum vom Fliegen. Frankfurt a. M., S. 463. 10 Passagierzahl 2019 (vor der Coronakrise). Zahlen d. United States Department of Transportation, Bureau of Transportation Statistics. Reisende nach/ aus Ländern Osteuropas sind nicht berücksichtigt, da diese auf Grund ihrer langen An-/ Abreisen zu den großen Atlantikhäfen (inkl. westl. Mittelmeer und Nordsee) als potentielle Schiffspassagiere zu vernachlässigen wären. 11 Beispiel Deutschland, Bundesurlaubsgesetz, Mindesturlaub bis 1974 = 15 Tage. 12 Berechnet nach den Schiffspreisen des Norddeutschen Lloyd für 1970 und den Minimaltarifen der Cunard Line für 2023. Thomas N. Kirstein, Dr. phil. Fakultät 1, Fachgebiet Technikgeschichte, Technische Universität Berlin dr.thomas.kirstein@googlemail.com WISSEN WAS MORGEN BEWEGT Schiene, Straße, Luft und Wasser, globale Verbindungen und urbane Mobilität: Viermal im Jahr bringt Internationales Verkehrswesen fundierte Experten- Beiträge zu Hintergründen, Entwicklungen und Perspektiven der gesamten Verkehrsbranche - verkehrsträgerübergreifend und zukunftsorientiert. Ergänzt werden die deutschen Ausgaben durch die englischsprachige Themen-Ausgabe International Transportation. Mehr dazu unter www.internationales-verkehrswesen.de Internationales Verkehrswesen gehört seit 1949 zu den führenden europäischen Verkehrsfachzeitschriften. Der wissenschaftliche Herausgeberkreis und ein Beirat aus Professoren, Vorständen, Geschäftsführern und Managern der ganzen Verkehrsbranche verankern das Magazin gleichermaßen in Wissenschaft und Praxis. Das technisch-wissenschaftliche Fachmagazin ist zudem Wissens-Partner des VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld. INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN - DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN »Internationales Verkehrswesen« und »International Transportation« erscheinen bei der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, www.trialog-publishers.de IV_Image_halb_quer.indd 1 IV_Image_halb_quer.indd 1 04.04.2018 12: 03: 35 04.04.2018 12: 03: 35 Mobilität INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 63 Urban mobility in Ukraine: Eight building blocks for a green recovery What does it need to foster sustainable mobility in post-war Ukrainian cities? Ukraine, sustainable mobility, recovery, reconstruction This article discusses the challenges and opportunities for sustainable mobility in post-war Ukrainian cities. The discussion covers various building blocks of sustainable mobility, such as regulatory reform, financing, local value creation and planning approaches. The focus is on providing a framework for futureoriented decision making. Marta Pastukh, Mathias Merforth, Viktor Zagreba, Armin Wagner T he war in Ukraine has a significant impact on urban transport infrastructure, with variations between regions. The eastern regions have suffered from physical destruction, while the central and western regions face challenges in accommodating refugees and dealing with resource shortages. Preexisting problems of underinvestment, lack of strategic guidance for urban mobility and the need for fleet renewal exacerbate the situation. A joint report by the World Bank, the Government of Ukraine, the European Union and the United Nations estimates total damage to the transport sector at USD 35.7 billion by February 2023, while reconstruction and immediate recovery needs are estimated at USD 92.1 billion. Reconstruction, which is already underway, is critical to maintaining urban services and the country’s economic viability (Figure 1). At the same time, the debate about the nature of this reconstruction is growing. Although numerous papers have been published on green recovery in general and on specific sectors in particular, few discuss Ukraine’s urban mobility systems. In this regard, we should be aware of the following: •• In Ukraine, despite Russian aggression, considerable efforts are currently being made to keep the transport system running and modernize it at the same time. New and renovated vehicles, enhanced services and new roads are being completed even during the war. Innovative approaches such as cashless ticketing are also being pursued. Overall, the efforts of Ukrainian workers and decision-makers in the transport sector are very high and worthy of full recognition. •• In Ukraine - as in many other countries - urban transport has no proper place within national structures. Cities thus maintain a great deal of ownership over urban transport issues and thus see greater opportunity for transformational change - a positive thing that should not be undone. Yet these municipalities often lack appropriate governance structures and access to funding - which is even more true for medium-sized and small cities. •• “Healing” the tremendous war damages wrought on public transport systems, urban roads, bridges and vehicle fleets is not only necessary to getting the Ukrainian economy back on track. It could also trigger the rise of a new strategic sector with economic growth and employment opportunities, as we will later outline. Against this backdrop, this paper outlines eight essential building blocks for a green recovery in urban mobility as part of broad reform agenda in Ukraine. By implementing the suggestions in this proposal, Figure 1: Bomb attack on Saltivske tram depot in Kharkiv Source: Міністерство внутрішніх справ України / commons.wikimedia.org INTERNATIONAL Mobilität Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 64 Ukraine and its international partners will reduce reliance on imported fossil fuels, greenhouse gas emissions, and the number of people killed in vehicle-related accidents - while constantly improving quality of life. The eight building blocks interconnect and reinforce each other as they form the foundation for a sustainable development of urban mobility. In a sense, they shape the institutional and administrative framework required for the further development of urban mobility in Ukraine. 1. Develop a National Urban Mobility Policy Programme (NUMP) in Ukraine to align urban transport planning and policymaking in all cities with European perspectives and the Lugano Principles. A NUMP will enhance the capability of cities to plan, finance, and implement projects sustainably while harmonizing laws, norms, sector strategies, investments, and support programs. Efficient coordination and effective support from the national to the city level will improve investment conditions and bring urban mobility systems on to a sustainable and low carbon track. The development of a NUMP should actively support directional economic development decisions such as digitalization and higher value creation through renewable energy production, smart electric components, vehicle/ bus/ tram production, and battery production. 2. Develop and adopt Sustainable Urban Mobility Plans (SUMP) as a prerequisite for investments and decision-making in urban transport A SUMP provides a structured process that can help cities create an integrated, green, accessible, and affordable mobility infrastructure that moves citizens and goods in a sustainable and inclusive way locally, while globally reducing transport-related GHG emissions. The multi-stakeholder approach taken by the SUMP also strengthens cooperation and participation among different stakeholders and interest groups, leading to higher acceptance and ownership of the proposed measures. The use of traffic planning methodologies as well as data collection and management should be mandatory in order to improve SUMP processes. The establishment of effective mobility departments responsible for all aspects of mobility planning will be crucial, as they will be in a position to influence and manage the underlying causes of mobility trends. Example Lviv (see Figure 2): The city of Lviv developed a SUMP that was formally approved in 2018. The SUMP process supported awareness-raising measures for deputies, decision-makers and district administrations. All stakeholders agreed that the pedestrian as well as public transport should be prioritised at the top of the mobility pyramid (an inverted structure); that facilitated the decision to create separate lanes for PT and trolleybuses. It has become easier to justify projects to international organisations when they are included in the SUMP. At the institutional level, the SUMP process addressed a lack of institutionalisation; a significant change came with the establishment of a new department for urban mobility and street infrastructure. Prior to that, the transport office was under the domain of the Department for Housing. 3. Strengthening and integrating local public transport systems requires implementing a threetier structure. Local authorities should define policy goals, while a non-commercial entity (such as a transit alliance) manages and pays for transport services. Bus and rail operators should be contracted to deliver services. This approach can integrate all public transport services and modes in a city or region into one attractive and easy-to-use system. It may make sense to establish transit alliances starting from oblast capitals and integrating functional transport areas of surrounding hromadas. Additionally, a Ukraine-wide fare and ticketing system could be introduced using digital possibilities. 4. Launching a national Innovation and upscaling campaign An innovation program for shared learning to promote sustainable mobility should be launched. It should focus on five thematic areas including Transport Demand Management, Livable Cities, Climate-transformative mobility, Smart mobility, and Transparent governance in mobility. The program should encourage cities to propose and implement sustainability-oriented reform projects using renewable resources and domestic know-how. A Secretariat should be established to evaluate proposals and monitor implementation, with funding provided by the National Fund for Sustainable Urban Mobility. The program should also include seminars, publications, and media activities to promote the dissemination of knowledge and encourage participation from stakeholders. Foreign donors are invited to provide funding and share their experience. 5. Securing adequate funding for mobility policy in Ukraine To address the issue of funding, Ukraine needs to explore the concept of user financing and complementary funding for transport investments, with funds for service and maintenance. Funding should also reflect the internalization of negative external effects such as air pollution, traffic congestion, and climate change. To provide good local public transport, state and municipal subsidies are common in many countries, where high socio-economic benefits such as accessibility to workplaces, reduced noise, emissions, and resource consumption, and accident prevention are recognized. It is important to make the benefits of subsidizing these services clear, transparent, and reflected in increased user figures. One solution is the establishment of a National Fund for Sustainable Urban Mobility. This fund could be linked to the national road fund and replenished through increased fuel taxes on petrol and diesel or based on vehicle registration tax. It is crucial to emphasize that the political Figure 2: Planned transport hub in Lviv Source: Institute for Spatial Development Lviv Mobilität INTERNATIONAL Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 65 responsibility for funding and financial prioritization should lie with the cities and hromadas. 6. Shifting towards participatory planning approaches and modern design principles Municipal streets and public spaces should be reconstructed based on elaborate planning processes involving public participation and competition between designers, with a focus on more ambitious designs for sustainable mobility. This involves prioritizing mobility management and mixed traffic in city centers (as compared to the often rigid separation today) and residential areas, and establishing a strong link between spatial development and mobility. Prioritization should be based on economic, social, and environmental impacts, with walking and public transport given priority over general traffic and parked vehicles. Local decision-makers and technical staff should be empowered to implement these changes, and systematic capacity building should be promoted. National standards in vehicle manufacturing, road construction, and technology should also be reformed to reflect new developments. 7. Promote sustainable transport industries as building block of the new Ukrainian economy. Ukraine should focus on developing sustainable transport industries to boost its economy - including by modernizing its urban infrastructure and expanding its capacities as a producer of locomotives, railway coaches, buses, trams and electric supplies. To achieve this, Ukraine could develop an Urban Mobility Industry & Investment Strategy that provides a comprehensive overview of investment options for the production of sustainable mobility vehicles, supplies, and infrastructure in Ukraine for domestic and international clients. By doing so, Ukraine can create modern jobs, transform its economy, and position itself as a production hub ready for European and global markets. 8. Endurance and persistence for ongoing reform and adaptation A green recovery approach offers the opportunity to speed up previously initiated reforms, to reform comprehensively as well as ambitiously and in line with European practices and objectives. To accelerate ongoing regulatory reform, upgrading of skills, and international networking, we suggest conducting a comprehensive analysis of the need for reform and benchmarking against European standards. This should cover topics such as legislative basis, academic curricula, and international networking. Ukraine has committed to sustainable mobility-oriented actions under the Association Agreement with the EU, but progress reports have been delayed due to the war. For its implementation, the Cabinet of Ministers of Ukraine on October 25, 2017 with Resolution No. 1106 approved the “Plan of measures for the implementation of the Association Agreement”. The document was adopted in May 2018, and an Implementation Plan to it was adopted three years later, in April 2021. Both documents are large in scope and scale, and have at least 17 mentions of sustainable mobility-oriented actions that are in line with EU Green Deal. The plan contains more than 120 tasks in the field of transport, most of which relate to legal and economic regulation in the sector of rail transport, aviation, sea, and river traffic. Just three tasks concern urban public transport, and the government has not delivered on this commitment yet. The government should prioritize implementing these commitments, and an observatory can be used to monitor progress and ensure communication. Summary The above building blocks are not an exhaustive overview of all the challenges related to sustainable mobility in post-war Ukrainian cities. Other crucial issues such as inadequate statistics, corruption, poor road safety, lack of urban logistics strategies and lack of parking management have not been discussed. The aim is to present basic building blocks that can provide a framework for future-oriented decisionmaking. The choices made for or against individual approaches and priorities within each of these areas will have a significant impact on mobility in Ukrainian cities over the coming decades. Therefore, before making any decisions, it is essential to assess whether the measures will make individual car use more attractive or promote walking, cycling and public transport. The decision should be in line with the new paradigm that favours diverse, attractive and affordable mobility with minimal negative impacts. The policy course for sustainable mobility in Ukraine will be set over the next few years. It is clear that there are no onesize-fits-all solutions, quick wins or lowcost options. Success will only come from continuous and systematic policy development and positive intellectual conflict of ideas. ■ SOURCES A full version of this article can be found here: https: / / transformativemobility.org/ anchoring-green-recovery-of-urban-mobility-inukraine-eight-building-blocks/ Ukraine Rapid Damage and Needs Assessment: March 2023, the World Bank, the Government of Ukraine, the European Union, the United Nations. The Urban Transport Sector in Ukraine - A baseline report in the context of the War of 2022 and prospects for a cgreen post-war recovery of Ukraine (Viktor Zagreba, Demayn Danylyuk) Prepared by Oresund LLC, Ukraine at the assignment of the European Climate Foundation. October 2022 Sustainable Urban Mobility Plan (SUMP) Toolkit SUMP learning programme for mobility practitioners National Urban Mobility Policies and Investment Programmes (NUMP) Toolkit UKRAINE - RAPID DAMAGE AND NEEDS ASSESSMENT“ (World Bank, Ukrainian Government, EU) Sustainable Urban Transport - Financing from the Sidewalk to the Subway; Capital, Operations, and Maintenance Financing (Arturo Ardila- Gomez and Adriana Ortegon-Sanchez) Urban Mobility in Ukraine: The 13 billion Euro gap - The next decade’s reform and investment needs (Mathias Merforth, prepared by GIZ- SUTP), April 2014 Armin Wagner Senior Advisor Sustainable Mobility, GIZ, Eschborn (DE) armin.wagner@giz.de Marta Pastukh Advisor Sustainable Mobility, GIZ, Eschborn (DE) marta.pastukh@giz.de Mathias Merforth Project Manager Sustainable Mobility, GIZ, Eschborn (DE) mathias.merforth@giz.de Viktor Zagreba Chairperson, NGO Vision Zero (UA) viktor@zagreba.com Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 66 TECHNOLOGIE Maintenance Optimierte Instandhaltung für-Schienenfahrzeuge Digitalisierung als Grundlage von Innovationen in der Instandhaltung von Schienenfahrzeugflotten Digitalisierung, Prädiktive Instandhaltung, Instandhaltungsmanagement, Asset Management Schienenfahrzeuge haben eine lange Lebensdauer. Während dieser Zeit werden Komponenten und Teilsysteme wenn nötig wieder instand gesetzt, zwischendurch überholt und gegebenenfalls mehrfach erneuert. Das Fahrzeuginstandhaltungsmanagement adressiert alle hierfür erforderlichen Prozesse. Digitale Technologien halten auch in der Fahrzeuginstandhaltung zunehmend Einzug. Für die erfolgreiche Einführung datengetriebener digitaler Geschäftsmodelle müssen jedoch nicht nur technologische und rechtliche Voraussetzungen gegeben sein - ohne Akzeptanz in der Belegschaft wird der Erfolg ausbleiben. Lars Schnieder D er Rechtsrahmen der Eisenbahnsicherheit in der Europäischen Union [1] verlangt von den für die Instandhaltung zuständigen Stellen, dass die Fahrzeuge, für deren Instandhaltung sie zuständig sind, in einem sicheren Betriebszustand sind. Im Rahmen seiner Konstruktionspflicht gewährleistet der Hersteller der Schienenfahrzeuge zum Zeitpunkt der Erteilung der Inbetriebnahmengenehmiung, dass in der Konzeptions- und Planungsphase Konstruktionsfehler vermieden wurden. Konkret bedeutet dies, dass die Schienenfahrzeuge zum Zeitpunkt der Erteilung der Inbetriebnahmegenehmigung den gebotenen Sicherheitsstandards entsprechen. Einem ingenieurmäßigen probabilistischen Sicherheitsverständnis folgend ist offensichtlich, dass die Schienenfahrzeuge mit einem verbleibenden Restrisiko in Verkehr gebracht werden. Den Hersteller von Schienenfahrzeugen trifft daher eine umfassende Instruktionspflicht, um den Betreiber in die Lage zu versetzen, den Gefahren soweit möglich entgegenzuwirken. Um die Sicherheit der Fahrzeuge auch im Betrieb aufrechtzuerhalten, etablieren die für die Instandhaltung zuständigen Stellen umfassende Managementsysteme. Instandhaltung von Schienenfahrzeugen Herstellervorgaben für die Instandhaltung Ausdruck der aktiven Wahrnehmung der Instruktionspflicht durch die Schienenfahrzeughersteller ist die systematische Weiterleitung sicherheitsbezogener Anwendungsregeln an die für die Fahrzeuginstandhaltung zuständige Stelle [2]. In der Regel machen die Hersteller den Betreibern daher konkrete Vorgaben zu Art und Häufigkeit der Instandhaltungsarbeiten, der Ausbildung und Qualifikation des Instandhaltungspersonals sowie qualitätssichernder Maßnahmen im Rahmen der Instandhaltung. Auf diese Weise wird neben einem hohen Sicherheitsniveau auch ein hohes Maß an Zuverlässigkeit und Betriebsbereitschaft gewährleistet. Diese herstellerseits vorgegebenen Instandhaltungsprogramme basieren auf den bei den Fahrzeugherstellern vorliegenden Erkenntnissen und Erfahrungen über das Verschleißverhalten einzelner Baugruppen und Komponenten. Die Herstellervorgaben sind in der Regel hinsichtlich der Intervalle für einzelne Instandhaltungsmaßnahmen konservativ aufgebaut. Damit werden die bei Inbetriebnahme neuer Fahrzeuge oder Fahrzeuggenerationen noch nicht vorliegenden Erfahrungen über das detaillierte Verschleißverhalten oder das Zusammenwirken einzelner Komponenten im Sinne einer mindestens gleichwertig hohen Betriebssicherheit kompensiert [3]. Die Einhaltung der konservativen Herstellervorgaben verursacht jedoch höhere Kosten für die Instandhaltung, als dies bei einer Berücksichtigung der realen Beanspruchung der Komponenten im Betrieb der Fall wäre. Optimierung der Instandhaltungsprogramme im Betrieb Vor dem Hintergrund der Wirtschaftlichkeit des Betriebs haben die Betreiber den Wunsch, die oftmals laufleistungsabhängig oder kalendarisch bestimmten Fristenarbeiten an die tatsächliche betriebliche Belastung des Fahrzeugs anzupassen oder idealerweise vorherzusagen (prädiktive Instandhaltung). In der Praxis passt daher der Betreiber das Instandhaltungsprogramm an seine spezifischen Betriebsbedingungen an. Aus den tatsächlichen Beanspruchungsparametern des Betriebs und den Auslegungsparametern des Fahrzeugs lassen sich die maßgebenden Verschleiß-, Alterungs-, und Ausfallparameter ableiten. Es besteht somit die Möglichkeit, die Instandhaltung zielgenau auf den tatsächlichen Verschleiß, die Alterung und den Ausfall der Komponenten auszurichten. Um mit Änderungen bei Ausrüstung, Verfahren, Organisation, Personalausstattung oder Schnittstellen umgehen zu können, sollten die für die Instandhaltung zuständigen Stellen Risikobewertungsverfahren eingerichtet haben. Diese Verfahren bewerten, inwieweit ein verändertes Instandhaltungsverfahren häufiger zu möglichen Gefährdungen führt, oder ob die Gefährdungen potenziell höhere Schadensausmaße mit sich bringen. Zielstellung ist hier der Nachweis einer mindestens gleichen Sicherheit des neuen Verfahrens im Vergleich zu vorherigen Ansätzen (vgl. [4]). Digitalisierung der Instandhaltung von Schienenfahrzeugflotten Der erfolgreiche Sicherheitsnachweis für veränderte Instandhaltungsprogramme erfordert für statistisch signifikante Aussagen Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 67 Maintenance TECHNOLOGIE große Datenmengen. Daten können in der digitalisierten Wirtschaft aber erst genutzt werden, wenn sie in elektronischer Form vorliegen. Nur elektronisch vorliegende Daten können in vielfältiger Form weiterverarbeitet und nutzbar gemacht werden. Es müssen also im Eisenbahnverkehrsunternehmen systematisch große Datenbestände erfasst und verwaltet werden, um diese für die Optimierung von Instandhaltungsprozessen nutzen zu können. Genau dies ist Ansatzpunkt der Digitalisierung. Das heißt, dass das System Bahn muss für informationsverarbeitende Systeme lesbar gemacht werden. Ohne die Digitalisierung der Schienenfahrzeugflotten kann keine digitale Datenverarbeitung, ob nun durch lernende Verfahren oder andere, stattfinden. Technisch geht es dabei um die Aufzeichnung und die Umwandlung von analogen in digitale Signale, mit denen Computersysteme arbeiten können. Die hierfür erforderliche systemtechnische Infrastruktur sind Informations- und Kommunikationstechnologie- Plattformen. Technologische Grundlagen digitaler Geschäftsmodelle: Informations- und Kommunikationstechnologie-Plattformen Bild 1 zeigt eine grundlegende Architektur von Plattformen im Internet of Things (IoT) [5]. Ein IoT-System besteht aus den folgenden Komponenten: •• Edge Computing bezeichnet Geräte auf Schienenfahrzeugen, welche die Daten erheben, vorverarbeiten und an die zentrale Dateninfrastruktur übertragen. Hierbei handelt es sich um Sensorwerte oder um Informationen aus dem Betriebssystem der unterschiedlichen Fahrzeugsysteme. Hierbei ist auf eine rückwirkungsfreie Integration in die elektronischen Einrichtungen des Schienenfahrzeugs zu achten, um eine bestehende Fahrzeugzulassung nicht negativ zu beeinflussen. •• Konnektivität beschreibt die Verbindung zwischen den einzelnen Edge Devices und der zentralen Dateninfrastruktur. Hierbei kommen verschiedene Übertragungsmedien wie ein Wireless Local Area Network (WLAN), Bluetooth oder- Mobilfunk sowie unterschiedliche Kommunikationsprotokolle zur Anwendung [6]. •• Der zentrale Datenspeicher ist Teil der Dateninfrastruktur, die als Cloud oder Serverdienst zur Verfügung stehen. Hier sind in der Regel auch zusätzlich Rechenleistung oder Software vorhanden, die für die Bereitstellung von Daten nötig sind. Hierbei handelt es sich um Datenbanken, Data-Warehouses bzw. Data Lakes [7]. •• Enterprise-Resource-Planning (ERP) bezeichnet die unternehmerische Aufgabe, Personal, Ressourcen, Kapital, Betriebsmittel und Material im Sinne des Unternehmenszwecks rechtzeitig und bedarfsgerecht zu planen, zu steuern und zu verwalten. Diese Aufgabe wird heutzutage mit Hilfe von IT-Systemen auf Basis einer modernen Informations- und Kommunikationstechnik realisiert. In den ERP-Systemen vorhandene Daten fließen in die Auswertungen mit ein. •• Big Data Analytics bezeichnet die Modelle, mithilfe derer aus den gewonnenen Daten Erkenntnisse gezogen werden [8]. Hierbei kann es sich beispielsweise um die Vorhersage von Ausfallzeitpunkten handeln, so dass erforderliche Instandhaltungsaktivitäten zeitgerecht disponiert werden können und die Abnutzungsvorräte der Einzelkomponenten vor dem Hintergrund der Wirtschaftlichkeit optimal ausgeschöpft werden. Am Markt gibt es ein vielfältiges Produktportfolio, welches sich von einzelnen Komponenten bis zu vollständigen IoT-Systemen erstreckt. Die Beschaffung vollständiger IoT-Systeme birgt die Gefahr, dass die Daten nur darin verwendet werden können. Dies kann dadurch bedingt sein, dass sie eigene Dateninfrastrukturen und Analyseplattformen bereitstellen und eine Bereitstellung an externe Systeme durch Schnittstellen vernachlässigt wird. Allerdings ist es essentiell, dass Daten möglichst breit zur Verfügung stehen und in beliebigen Systemen verwertbar sind. Wertschöpfung aus Daten endet nicht mit ihrer einmaligen Analyse. Es entstehen stets neue Anwendungsfälle, die eine Verknüpfung mit Daten aus anderen Systemen erfordern. Ebenso ist eine Kooperation verschiedener Akteure wichtig, da nur mehrere Betreiber gemeinsam eine größere Datenbasis schaffen, die bessere Ergebnisse liefern kann. Dies rückt bestehende rechtliche Hemmnisse in den Vordergrund. Rechtliche Grundlagen digitaler Geschäftsmodelle: Vertragliche Vereinbarungen Ist der Prozess der Fahrzeuginstandhaltung auf einer digitalen technologischen Basis umgesetzt, liegt eine wesentliche Voraussetzung für digitale Geschäftsmodelle vor. Allerdings sind die Hürden für die Umsetzung oftmals nicht nur technischer Natur. In der Praxis sind hierbei die Interessen verschiedener Stakeholder hinsichtlich der Datenbereitstellung zu berücksichtigen, was in Bild 2 hinsichtlich möglicher vertraglicher Interaktionen zwischen Fahrzeughersteller, Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen dargestellt ist: •• Verkehrsunternehmen benötigen für die Abwicklung ihres Betriebs Fahrzeugflotten, die sie entweder selbst besitzen oder die ihnen von Dritten zur Nutzung bereitgestellt werden. •• Fahrzeughalter verantworten den sicheren Zustand der Schienenfahrzeuge. Für sie ist der revisionssichere Nachweis der Erfüllung ihrer Rechtspflichten wichtig. •• Fahrzeuginstandhalter (in Bild 2 nicht dargestellt) haben das Interesse einer möglichst wirtschaftlichen Durchführung der Instandhaltungsaktivitäten, bzw. der Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Auftraggeber. •• Fahrzeughersteller: Fahrzeughersteller möchten ihre aus dem Produkthaftungsrecht resultierenden Rechtspflichten erfüllen. Sie möchten aus dem Betrieb Wis- Bild 1: Architektur von IoT-Systemen [5] Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 68 TECHNOLOGIE Maintenance sen für die konstruktive Auslegung zukünftiger Fahrzeuge erhalten. In diesem Geflecht unterschiedlicher Interessen müssen geeignete Regelungen zur Nutzung der im Betrieb der Schienenfahrzeuge entstandenen Daten betrachtet werden. Maschinendaten gewinnen vor allem dann einen besonderen Wert, wenn Geschäftsmodelle digitalisiert werden und Daten zur Geschäftsgrundlage werden. Dies ist in der Instandhaltung von Fahrzeugflotten der Fall. Insofern hat der Staat unterschiedliche gesetzliche Regelungen geschaffen, welche grundsätzlich Schranken für die Verwendung von Daten zwischen Privaten setzen. Die bestehenden rechtlichen Regelungen bilden jedoch den Gegenstandsbereich der Transaktion von Maschinendaten unzureichend ab [9]: •• Datenschutzrechtliche Bestimmungen: Die Datenschutz-Grundverordnung (DS- GVO) und ergänzende nationale Vorschriften gewähren einen besonderen Schutz für personenbezogene Daten (bspw. Informationen über eine natürliche Person, ihre Aktivitäten, ihren Aufenthaltsort und ihre Kontakte). Wird allerdings der konkrete Personenbezug durch Anonymisierung entfernt oder liegt kein Personenbezug vor, findet das Datenschutzrecht keine Anwendung. •• Schutz des geistigen Eigentums: Das Recht des geistigen Eigentums soll immaterielle Güter (bspw. Computersoftware) schützen. Damit soll dem Hersteller, der das immaterielle Gut entwickelt hat, eine vorrangige wirtschaftliche Verwertung seines Produktes sowie ein Schutz vor Nachahmung gesichert werden. Der gesetzliche Schutz des geistigen Eigentums greift jedoch regelmäßig nicht für einzelne Informationen. Ähnlich verhält es sich mit dem Patentschutz, da ein Datenbestand, der lediglich die erfindungsgemäß gewonnenen Erkenntnisse enthält, nicht unter den Patentschutz fällt. •• Schutz von Geschäftsgeheimnissen: Dem Inhaber eines Geschäftsgeheimnisses soll die ungestörte profitable Nutzung eigener Innovationsaktivitäten und des damit erarbeiteten Informationsvorsprungs sichern. Allerdings stößt auch dieses Rechtsinstitut bei in Schienenfahrzeugen gewonnen Maschinendaten an seine Grenzen. Zum einen sieht das Gesetz nur einen möglichen Schutz von Informationen vor, einzelne Rohdaten wären damit wohl nicht vom Schutzbereich erfasst. Zum anderen dürfen produktimmanente Informationen durch Untersuchung frei auf dem Markt verfügbarer Produkte aufgedeckt (Reverse Engineering) und in der Folge weiterverwendet werden. •• Sachenrechtlicher Schutz: Das Sachenrecht für bewegliche Sachen im bürgerlichen Recht wurde geschaffen für eine exklusive Zuordnung von nicht beliebig multiplizierbaren Gegenständen, die durch Nutzung an Wert verlieren - dies spricht gegen eine Anwendung von Vorschriften zum Sacheigentum auf Daten. Das Sacheigentum des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) umfasst allerdings den Schutz von Datenträgern, da diese wiederum Sachen sind. Über den Eigentumsschutz an Datenträgern sind die darauf gespeicherten Daten mittelbar mitgeschützt. Die unbefugte Änderung oder Löschung von Daten ist daher als Eingriff in das Eigentum am Datenträger anzusehen, der zu Schadensersatz führen kann. •• Strafrechtsschutz: Das Strafrecht gewährt einen Schutz vor unberechtigtem Zugriff auf einen Datenbestand. Danach ist es verboten, Einrichtungen zum Schutz von Daten (z. B. Firewall oder Verschlüsselung) zu umgehen, um Zugriff auf die Daten zu erlangen. Verboten sind die unberechtigte Löschung, Veränderung, Beschädigung und Zerstörung von Daten. Geschütztes Rechtsgut ist die Datenintegrität und die ungehinderte Verfügungsmöglichkeit des Berechtigten über Daten, nicht aber die rechtliche Zuordnung von Daten oder die Vertraulichkeit einer Information. Das bloße Kopieren von nicht besonders gegen Zugriff gesicherten Daten ist daher nicht Tathandlung. Der strafrechtliche Schutz steht jedem berechtigten Dateninhaber zu. Berechtigter Dateninhaber ist derjenige, der die Speicherung von Daten unmittelbar durch Eingabe, durch Start eines Speicherprogramms oder durch bestimmungsgemäße Verwendung eines zur Datenerzeugung und -aufzeichnung bestimmten Gerätes bewirkt hat. Allein aus der Herstellung und dem Verkauf eines Gerätes zur Datenerzeugung kann - wenn eine entsprechende Vereinbarung fehlt - eine Berechtigung an den damit erzeugten Daten nicht abgeleitet werden. Maschinengenerierte Einzeldaten sind - wie die Darstellung zeigt - nicht umfassend gesetzlich geschützt. Da ein gesetzlicher Schutz für Daten und Informationen, die im Unternehmen erhoben werden, nur in wenigen Fällen bei Erfüllung besonderer Voraussetzungen besteht, bietet es sich zum anderen an, einen Schutz wertvoller Daten gegenüber Geschäftspartnern über Verträge zu etablieren. In Verträgen kann auch festgelegt werden, dass und unter welchen Bedingungen ein im Einzelfall anzuerkennendes Schutzrecht an Daten zugunsten des Vertragspartners aufgegeben wird. Digitale Geschäftsmodelle - der-Faktor Mensch „Never change a running system“ ist ein Satz, den sicher jeder schon einmal gehört hat. In der Natur des Menschen liegt es, dass er Veränderungen erst einmal skeptisch gegenübersteht. Der digitale Wandel von Fahrzeuginstandhaltungsprozessen ist auch in dieser Hinsicht kein Selbstläufer. Durch die Prozessdigitalisierung werden Arbeitsgewohnheiten der Mitarbeitenden in der Fahrzeuginstandhaltung verändert. Daher sollte die Digitalisierung möglichst durch Bild 2: Vertragsstruktur bei direkter Fahrzeugbeschaffung durch den Aufgabenträger und Herstellerinstandhaltung [10] Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 69 Maintenance TECHNOLOGIE ein aktives Veränderungsmanagement (Change Management) begleitet werden. Das Change Management eines Unternehmens koordiniert, organisiert und begleitet (Ver-)Änderungen aller Art in Betrieben. Nicht selten verstehen die Mitarbeitenden nicht, warum sie plötzlich etwas anders machen sollen als zuvor oder stellen in Frage, weswegen viel Geld investiert wird, um vermeintlich unnötige Veränderungen voranzutreiben. Zudem können Frustration und Ablehnung auf Seiten der Belegschaft steigen, sollten Prozesse bei der Einführung nicht sofort funktionieren oder im laufenden Prozess kleinere Anpassungen stattfinden müssen. Auch dass die Leistung der Abteilungen künftig transparenter und vergleichbarer gegenüber anderen Abteilungen gemacht wird, kann bei den Beteiligten zu Bedenken oder gar Angst führen. Um mit dieser Angst und Ablehnung gegenüber Veränderungen richtig umzugehen bzw. sie gar nicht erst aufkommen zu lassen, werden situativ verschiedene Methodiken im Change-Management eingesetzt. Beispiele umfassen: •• Ausreichende und umfassende Kommunikation: Das Change Management stellt sicher, dass alle Mitarbeitenden in den Instandhaltungswerken korrekt und in geeigneter Weise über die bevorstehenden Maßnahmen sowie den Grund bzw. den Zweck der Maßnahmen informiert werden. •• Einbindung und Akzeptanz: Bestmöglich sollten betroffene Mitarbeitende in die Erstellung des Anforderungskatalogs mit eingebunden werden, so dass sie zukünftige digitale Instandhaltungsprozesse aktiv mitgestalten. Dadurch wird die Akzeptanz für die Maßnahmen und Prozesse erhöht. •• Definition von Testphasen: Im Rollout- Plan neuer Maßnahmen sollten Testzeiten sowie isolierte Tests unter Realbedingungen berücksichtigt werden. Dadurch können auftretende Fehler schneller behoben werden, ohne dass diese Einfluss auf den gesamten Betriebsablauf ) des Instandhaltungswerks haben. •• Rückfallpläne: Durch aufgestellte Rückfallpläne bleibt die Belegschaft bei anfänglichen Problemen mit dem neuen System handlungsfähig. Zudem wird durch einen umfangreichen Plan ein Verständnis für eine Anlaufphase geschaffen. Bei der Einführung und Veränderung von Prozessen setzen viele Firmen bereits länger auf das Wissen und die Expertise erfahrener Change Management-Berater. Sie unterstützen und beraten bei der Umsetzung und verfügen über viel Praxiserfahrung um beurteilen zu können, wie eine Veränderung bestmöglich in einem laufenden Betrieb erfolgreich umgesetzt werden kann. Fazit Die Datenwertschöpfungskette reicht von der Erschließung von Datenquellen und dem Sammeln von Daten über die Speicherung von Daten, ihre Analyse und Auswertung, die Verknüpfung mit anderen Datenbeständen, die Herausfilterung bestimmter Datenmerkmale (z. B. Anonymisierung) bis hin zum Vergleich eines Datenbestandes mit Referenzdaten und zur Prüfung von Konsistenzen eines Datenbestandes. Technologisch können diese Aufgaben durch IoT-Plattformen und verbindliche Schnittstellenvorgaben gelöst werden. Um ein tragfähiges Geschäftsmodell aus der Verarbeitung von Daten für die Zwecke der vorausschauenden Instandhaltung zu machen, sind vertragliche Regelungen als Grundlage einer hersteller- und betreiberübergreifenden Dateninfrastruktur für die systematische Erhebung von Massendaten erforderlich. Nur auf diese Weise können Verbesserungspotenziale in Konstruktion und Instandhaltung von Schienenfahrzeugflotten datengetrieben identifiziert und in verfügbarkeitssteigernde Maßnahmen überführt werden. Die Berücksichtigung technischer und rechtlicher Rahmenbedingungen allein ist für den Erfolg der Prozessdigitalisierung notwendig, aber nicht hinreichend. Für eine nachhaltige Akzeptanz in der Belegschaft muss diese frühzeitig in die Veränderungsprozesse mit eingebunden werden. ■ LITERATUR [1] Richtlinie (EU) 2016/ 798 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Eisenbahnsicherheit. [2] Durchführungsverordnung (EU) 2019/ 779 der Kommission vom 16. Mai 2019 mit Durchführungsbestimmungen für ein System zur Zertifizierung von für die Instandhaltung von Fahrzeugen zuständigen Stellen gemäß der Richtlinie (EU) 2016/ 798 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 445/ 2011 der Kommission. [3] Müller, T.; Nikutta, J. (2007): Sicherheitstechnische Aspekte bei der Optimierung der ICE-Instandhaltung. In: EI-Eisenbahningenieur 11, S. 18-22. [4] Durchführungsverordnung (EU) Nr. 402/ 2013 der Kommission vom 30. April 2013 über die gemeinsame Sicherheitsmethode für die Evaluierung und Bewertung von Risiken und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 352/ 2009. [5] Bock, U.; Schnieder, L. (2021): Predictive Maintenance von Schienenfahrzeugflotten . In: Verband Deutscher Eisenbahningenieure e.V. (Hrsg.), Eisenbahningenieurkompendium 2021. Erscheinungsdatum voraussichtlich 11/ 2021. [6] Bock, U.; Seifert, N.; Schnieder, L. (2015): “Always-on“ - Moderne Fahrzeug-IT als Basis für zukunftsweisenden Schienenpersonenverkehr . In: Eisenbahntechnische Rundschau 64, H. 7-8, S. 58-61. [7] Bock, U.; Schnieder, L.; Pal, D. (2020): Kriterien zur Auswahl von Architekturen für IoT-Plattformen zur prädiktiven Instandhaltung von Fahrzeugflotten im Schienenverkehr. 17. Internationale Schienenfahrzeugtagung, Dresden, 26.02.-28.02.2020. [8] Brandt, H.; Bock, U. (2018): Predictive Maintenance - IT gestützte Ermittlung flexibler Wartungszyklen für Fahrzeuge im Personenverkehr . In: Eisenbahntechnische Rundschau, H. 1/ 2, S. 58-62. [9] Bitkom e. V. (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.): Datennutzung für digitale Geschäftsmodelle Leitfaden zu Rechtsfragen und Vertragsgestaltung. Teil 1 - Gesetzliche Grundlagen. Berlin, 2021. [10] Schnieder, L. (2018): Strategisches Management von Fahrzeugflotten im öffentlichen Personenverkehr - Begriffe, Ziele, Aufgaben, Methoden. Berlin: Springer. Lars Schnieder, Prof. Dr.-Ing. habil. Chief Executive Officer, ESE Engineering und Software-Entwicklung GmbH, Braunschweig; Lehrbeauftragter an der RWTH Aachen und der TU Braunschweig lars.schnieder@ese.de Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 70 TECHNOLOGIE Wissenschaft Erhöhung der Sicherheit im Flughafen Parameterstudie zum Einsatz von KI zur Optimierung der Reaktionen auf einen nicht zuzuordnenden Gegenstand Luftverkehr, Flughäfen, Security, Künstliche Intelligenz, Reinforcement Learning, Deep-Q-Network Der Flughafen als eine kritische Infrastruktur des Transports kann zu jedem Zeitpunkt Ziel eines Anschlags sein. Die Methoden der Angreifer werden immer ausgefeilter. Essenziell ist daher eine schnelle und adäquate Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse. Von jedem verlassenen Gepäckstück - ein häufig auftretendes Ereignis - geht potentiell eine Gefahr aus. KI wird bereits erfolgreich in einzelnen Bereichen des Flughafens eingesetzt. Diese reichen von intelligenter Videoüberwachung über die Grenzkontrolle bis zur Überwachung der Hochsicherheitsbereiche. In dieser Arbeit wurde eine exemplarische Umgebung untersucht, welche die zur Neutralisierung eines nicht zuzuordnenden Gegenstandes (z. B. Koffer) notwendigen Aktionen abbildet. Zum Lösen der Aufgabe, diese Aktionen zu wählen, wurde das Verfahren Deep Q-Network verwendet. Mittels einer Parameterstudie wird ein Parametersatz gesucht, der in Deep Q-Network auftritt und ein optimales Ergebnis liefert. Hierbei wurden Lernrate, Batchsize und Anzahl der Iterationen variiert. Andrei Popa, Olaf Milbredt, Christina Draeger D ie Luftfahrt sieht sich mit wachsenden Herausforderungen im Bereich der Sicherheit konfrontiert. Die Angriffsmuster der Terroristen werden immer komplexer. In der Vergangenheit waren diese die Grundlage von neuartigen Überprüfungsmethoden, wie zum Beispiel Metall-, Sprengstoff- und Flüssigkeitsdetektoren [1, 2]. Neben der Notwendigkeit den Flug abzusichern, ist auch der Flughafen als Ansammlungspunkt großer Menschenmengen im Visier des Terrorismus. Der Anschlag am Flughafen Brüssel in 2016 zeigt, wie sensibel ein Flughafen als Ziel ist [3]. Ein nicht zuzuordnender Gegenstand (NzG), wie zum Beispiel ein Koffer, wird aus diesem Grund immer als potentielle Gefahr gesehen. An den Flughäfen tritt der Fund eines NzG häufig auf. Am Flughafen München werden beispielsweise jeden Tag bis zu 30 NzG gefunden. In den meisten Fällen lässt sich dieser NzG zuordnen, jedoch kommt in acht von 30 Fällen ein Spürhund zum Einsatz. Falls dieser anschlägt oder aufgrund einer ungünstigen Position des NzG nicht eingesetzt werden kann, muss direkt ein Entschärfer gerufen werden. Dies passiert bei bis zu drei der 30 Funde [4]. Um den Menschen bei der Aufgabe der Erkennung potentieller Gefahren zu unterstützen, wird bereits heute KI an Flughäfen eingesetzt. Diese reicht von intelligenter Videoüberwachung über die Grenzkontrolle bis zur Überwachung der Hochsicherheitsbereiche [5, 6, 7]. Diese KI-Systeme operieren unabhängig voneinander, ohne die Möglichkeit eines Informationsaustausches [8]. Um diese Problematik zu überwinden, wurde in [8] die Vision eines neuartigen Sicherheitskonzepts vorgestellt, welches ganzheitlich von einer KI interpretiert wird und adäquate Reaktionen vorschlägt. Die Nutzung von KI am Flughafen ist vor allem durch die Verwendung von Bildmaterial geprägt. Diese Kombination ermöglicht zum Beispiel den dokument- und kontaktlosen Zugang zur Sicherheitskontrolle und zum Gate. Dabei bestimmt die KI die Identität eines Passagiers durch Gesichtserkennung [9]. Ein ähnlicher Ansatz wird zur Grenzkontrolle im Verfahren iBorderCtrl verwendet [6]. Die Erkennung von Merkmalen in einem Bild eignet sich ebenfalls für Gepäckstücke. In [10] werden Gepäckstücke anhand ihrer Bilder über Flughäfen hinweg identifiziert. Nicht bei jedem erkannten Gepäckstück kann von einem NzG ausgegangen werden, da die primäre Eigenschaft eines NzG in der Nichtauffindbarkeit des Eigentümers besteht. Aus diesem Grund haben [11, 12] die Fragestellung untersucht, wie ein Objekt einer oder mehrerer Personen zuzuordnen ist und wie das Zurücklassen dieses Objektes erkannt werden kann. Es bestünde zum Beispiel die Möglichkeit, dass Kameras die Trajektorie eines sich wegbewegenden Objekts verfolgen [11]. Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 71 Wissenschaft TECHNOLOGIE Das in dieser Arbeit vorgestellte System zielt nicht auf die Erkennung, sondern auf die Steuerung der Prozesse zur Wiederherstellung der Sicherheit nach dem Fund eines NzG ab. Es bildet somit ein komplementäres System zu den oben dargestellten. Als Teil des in [8] vorgestellten KI-Systems zur ganzheitlichen Steuerung der Sicherheitssysteme kann es als die Rückmeldungen der oben beschriebenen Systeme interpretierend angesehen werden. Nachfolgend wird eine erste methodische Grundlage für das in [8] genannte Sicherheitskonzept untersucht. Das verwendete Verfahren zum Trainieren einer KI ist das Reinforcement Learning. Bei der KI-Methode Reinforcement Learning erlernt der Agent, selbständig in einer Umgebung zu agieren. Eine Aktion des Agenten innerhalb der Umgebung führt zu einer Rückmeldung der Umgebung in Form einer Belohnung. Dafür wurde eine exemplarische Umgebung untersucht, welche die zur Neutralisierung eines NzG notwendigen Aktionen abbildet. Es wird das Verfahren Deep Q-Network (DQN) verwendet, welches in [13] vorgestellt wurde. Diese testeten das DQN-Verfahren mit Bilddaten eines Videospiels. Um zu prüfen, ob sich dieses Verfahren auch für die Anwendung in der exemplarischen Umgebung dieser Arbeit eignet, wurde eine Parameterstudie über die Parameter Batchsize, Lernrate und Anzahl der Iterationen durchgeführt. Somit kann einerseits analysiert werden, wie sich die Parametereinstellungen auf die Trainingsergebnisse auswirken. Andererseits ist ersichtlich, ob das vorgegebene Ziel - die schwankungsfreie Neutralisierung des NzG - mit der entsprechenden Parametervorgabe zu erreichen ist. Schwankungsfreiheit bezieht sich in diesem Kontext auf eine Standardabweichung von Null des Mittelwerts des maximalen Ertrags unabhängiger Trainingsläufe des Agenten zu einer bestimmten Iteration. Das bedeutet, eine schwankungsfreie Neutralisierung des NzG liegt dann vor, wenn die Schwankungsfreiheit ab einer bestimmten Iteration gegeben ist. Methode des Reinforcement Learning In dieser Studie wird der Ansatz des verstärkenden Lernens benutzt [14]. In diesem muss ein Agent in einer gegebenen Umgebung vorgegebene Aktionen ausführen (s. Bild 1). Bei jeder Aktion in einem Zustand der Umgebung erhält der Agent eine Rückmeldung in Form eines neuen Zustands und eines Zahlenwerts (Belohnung). Hier sind die Menge aller Aktionen und die Menge aller Zustände endlicher Anzahl. Da die Reaktion der Umgebung nur vom momentanen Zustand und der jeweiligen Aktion des Agenten abhängt, spricht man von einem Marcov Decision Process [14]. Die Aufgabe eines Agenten ist das Finden einer Abfolge von Aktionen, die die Summe aller Belohnungen (Ertrag) maximiert. Am Anfang gibt es noch keine Erfahrung, auf die der Agent aufbauen kann, sodass er zufällig Aktionen auswählt. Beschreibung der Umgebung Der dieser Studie zugrunde liegende Gedanke hinter der Entwicklung der Umgebung ist die Neutralisierung eines NzG am Flughafen. Das in dieser Umgebung verwandte NzG ist zu 70 % ein harmloser Koffer und zu 30 % ein getarnter Sprengsatz. Diese Aufteilung wurde angenommen, da der Algorithmus bei einer um Größenordnungen (Zehnerpotenz) kleineren Explosionsrate viel mehr Iterationen benötigt, um eine Explosion zu erfahren. Eine um Größenordnungen kleinere Explosionsrate führt zu einer deutlich längeren Laufzeit, was für diese erste methodische Grundlagenstudie vermieden wurde. Die Umgebung baut auf ein Framework von Python auf. Dieses besteht aus einer Struktur für das Reinforcement Learning sowie der Belohnungsfunktion und Aktionsausführung. Die Aktionen in der implementierten Umgebung sind an die in der Realität ausgeführten Abläufe bei der Entdeckung eines NzG angelehnt. Das sind hier das Absperren von Bereichen, Einsetzen des Spürhundes oder das Hinzuziehen des Entschärfers. Der Spürhund ermittelt, ob ein aktiver Sprengsatz im NzG vorhanden ist. Der Entschärfer kann einen solchen neutralisieren. Das Absperren führt zu einer Evakuierung des betroffenen Bereichs, sodass keine Personen zu Schaden kommen können. Die Belohnungsfunktion besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil werden Kosten berücksichtigt und im zweiten Teil das Schadensausmaß. Jede Aktion ist mit fixen Kosten verbunden, die in ihrer Größenordnung dem Aufwand der jeweiligen Aktion entsprechen sollen. Im Falle einer Detonation besteht der Schaden aus Sach- und Personenschaden. Ersterer wurde mit Hilfe von geschätzten Kosten für Sachschäden pro Quadratmeter ermittelt. Für den Personenschaden mussten ebenfalls Kosten angenommen werden, um eine Addition durchführen zu können. Diese wurden um drei Größenordnungen (10 3 ) höher als der Sachschaden eingeschätzt. Die Aufgabenstellung des Agenten ist die Ausführung von Aktionen, die zu einer Neutralisierung des NzG führen. Dazu soll der Ertrag des Agenten maximiert werden. Beschreibung des Algorithmus In diesem Beitrag wird das Verfahren Deep Q-Network (DQN) verwendet, das bereits mehrfach erfolgreich eingesetzt wurde [13]. Es verbindet Q-Learning mit neuronalen Netzen. Die Aktions-Wert-Funktion ist eine Funktion abhängig von dem jeweiligen Zustand und der in diesem Zustand ausgeführten Aktion. Sie beschreibt den Ertrag, wenn die Aktion im gegebenen Zustand ausgeführt und einer gegebenen Strategie gefolgt wird. Eine optimale Strategie zeichnet sich durch den bestmöglichen Erwartungswert des Ertrages aus. Jede optimale Strategie hat die gleiche Aktions-Wert-Funktion. Wenn diese Funktion bekannt ist, kann daraus wiederum eine optimale Strategie rekonstruiert werden. Daher wird in diesem Verfahren schrittweise die Approximation dieser Umgebung Agent Bild 1: Die Agent- Umgebung- Interaktion beim Reinforcement Learning [14] Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 72 TECHNOLOGIE Wissenschaft Funktion verfeinert. Jede optimale Funktion erfüllt die sogenannte Bellman-Gleichung, welche von Bellman in [15] und [16] entwickelt wurde. Diese kann verwendet werden, um eine Iterationsvorschrift zu konstruieren. Eine solche Folge konvergiert dann gegen die optimale Aktions-Wert-Funktion. Im Fall von DQN wird für die Approximation eine Funktion mit einem Parameter benutzt [13]. DQN nutzt neuronale Netze zur Funktionsapproximation aufgrund der nun verfügbaren Computerkapazität, die große Netze mit mehr als tausend Neuronen in einer Schicht erlaubt. Benutzt man ein neuronales Netz zur Approximation der Aktions-Wert-Funktion, können Instabilitäten auftreten [17]. Um diesen zu entgegnen, haben die Autoren in [13] die Verwendung von Erfahrungswiederholungen und periodisch aktualisierten Zielwerten für die Aktions-Wert-Funktion eingeführt. Im Verfahren DQN kommen verschiedene Parameter zum Einsatz. In dieser Arbeit werden die Parameter Batchsize, Anzahl der Iterationen und die Lernrate verändert. Die Batchsize ist die Anzahl der zufällig aus der Gesamtheit der schon erfahrenen Situationen (Erfahrungswiederholungen) ausgewählten Testfälle. Diese ausgewählten Erfahrungswerte dienen als zusätzliche Eingabe für den Lernprozess. Die Lernrate fließt in das Verfahren Stochastic Gradient Decsent (SGD) ein, um den Fehler, der sich aus der Bellman-Gleichung ergibt, zu minimieren. Der Gradient des Fehlers ist ein Vektor, der in die Richtung des größten Anstiegs der Funktion zeigt. Um diese zu minimieren, ändert man den Punkt in die entgegengesetzte Richtung. Das Ziel dieser Arbeit ist das Identifizieren des besten Parametersatzes. Das bedeutet ein möglichst schwankungsfreies Ergebnis, welches mit einer geringen Anzahl an Iterationen erreicht werden kann und im Neutralisieren des NzG mündet. Durchführung der Parameterstudie Zur Durchführung der Parameterstudie wurden folgende Werte ausgewählt: •• Batchsize = {64, 128, 256, 512}, •• Anzahl der Iterationen = {5.000, 10.000, 20.000, 40.000}, •• Lernrate = {0,005; 0,001; 0,0005; 0,0001}. Diese decken nach vorherigen Testdurchläufen den Parameterraum ab. Da etwaiges Schwankungsverhalten nur bei einer größeren Anzahl an Iterationen auftrat, wurde in dieser Studie der hier kleinste angegebene Wert benutzt. Ab einer größeren Iteration als der größten angegebenen war ein ähnliches Schwankungsverhalten zu beobachten. Bei einer Lernrate größer als 0,005 oder einer Lernrate kleiner als 0,0001 resultierte ebenfalls ein Verhalten mit größeren Schwankungen. Bei einer Batchsize von 16, genauso wie bei einer Iterationsanzahl kleiner als 2000, wurde das angestrebte Ziel nicht erreicht. Das Ergebnis eines Lernprozesses wurde innerhalb von zehn Episoden - eine Abfolge von Zuständen, Aktionen und Belohnungen, die mit einem Endzustand abschließt - evaluiert und der Mittelwert gebildet. Dies geschah in zwei identischen Umgebungen, um die Verallgemeinerungsfähigkeit zu testen. Um das Ergebnis von der spezifischen Lernhistorie zu entkoppeln, wurden 20- Durchläufe verwendet. Von diesen wurden Mittelwert und Standardabweichung für jeden Datenpunkt ermittelt. Ergebnisse Es wurde der oben angegebene Bereich für die Iterationen ausgewählt, da nach einer kleineren Anzahl Iterationen größere Schwankungen auftreten können, wie stellvertretend in Bild 2 zu sehen ist. Für die größte Lernrate 0,005 schwankten die Ergebnisse um mehr als 50-% um den Mittelwert. Bei einer Batchsize von 256 betrug die Abweichung bei der 40.000ten Iteration mehr als 440-% (s .Bild 3). Bei der kleinsten Lernrate von 0,0001 waren im Durchschnitt mindestens 20.000 Iterationen notwendig, um die Zielerreichung (Neutralisierung des NzG) zu erfüllen (s. Bild 4). Es ist schwierig zu erkennen, ob die Schwankung tatsächlich verschwindet. Zusätzlich ist aufgefallen, dass die Schwankung verschwinden kann, aber im späteren Verlauf des Trainings wieder ansteigt. -1×10 8 -5×10 7 0 5×10 7 0 5000 10000 15000 20000 25000 30000 35000 40000 Mittlerer Ertrag Iteration Mittelwert Standardabweichung Bild 2: Im späteren Verlauf des Trainings des Agenten auftretende Schwankungen mit den Parametern Batchsize: 256, Iterationen: 40.000, Lernrate: 0,001 Darstellungen 2 bis 6: Autoren -1×10 8 -5×10 7 0 5×10 7 0 5000 10000 15000 20000 25000 30000 35000 40000 Mittlerer Ertrag Iteration Mittelwert Standardabweichung Bild 3: Schwankungen der Ergebnisse beim Training des Agenten mit den Parametern Batchsize: 256, Iterationen: 40.000, Lernrate: 0,005 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 73 Wissenschaft TECHNOLOGIE In Bild 5 ist dieses Verhalten zu erkennen. Die Schwankung der Ergebnisse betrug in diesem Fall ca. 30-%. Eine schnellere und schwankungsärmere Zielerreichung war für die Lernraten 0,001 und 0,0005 zu erkennen. Bei der Lernrate 0,0005 lag die Schwankung über mehrere tausend Iterationen bei Null, vergrößerte sich jedoch im weiteren Verlauf auf 15 bis 50- % ähnlich Bild 5. Bei der Lernrate 0,001 war für die Batchsize 512 die Schwankung mindestens 20 %. Bei den Batchsizes 64 und 256 waren die Schwankungen mit wenigen Ausnahmen im Bereich zwischen 15 bis 50 %. Zusätzlich zum angegebenen Bereich der Batchsize wurde die Batchsize 32 benutzt. Dafür kamen Ergebnisse aus den vorigen Trainingsläufen zum Einsatz. Um ein breites Bild zu erhalten, erfolgte die Durchführung der zusätzlichen Trainingsläufe mit den Iterationen 10.000 und 40.000 sowie den beiden Lernarten 0,001 und 0,0001. Die Lernrate 0,001 erreichte bei 40.000 Iterationen das Ziel der Neutralisierung, jedoch mit Schwankungen von mindestens 30 %. Bei der kleineren Lernrate (0,0001) waren, wie bereits in den vorherigen Trainingsläufen erkennbar, mehr als 10.000 Iterationen notwendig, um das Ziel der Neutralisierung des NzG zu erreichen. Dabei zeigte sich für 40.000 Iterationen eine schwankungsfreie Zielerreichung ab Iteration 33.000. Um ein Auftreten der Schwankung zu einem späteren Iterationsschritt auszuschließen, wurde ein Trainingslauf mit 60.000 Iterationen durchgeführt (s. Bild 6 links). Hier ergab sich eine schwankungsfreie Zielerreichung ab der 38.000ten Iteration (s. Bild 6 rechts). Der optimale Parametersatz für das in dieser Studie vorliegende Problem wird durch die Batchsize 32 und die Lernrate 0,0001 bei einer Iteration von mindestens 40.000 abgebildet (s. Bild 6 rechts). Diskussion Nachfolgend werden die Ergebnisse in ihrer Eignung analysiert. Die größte Lernrate 0,005 ist ungeeignet für den Lernvorgang, da Schwankungen bis zu 440- % auftreten können. Bei keiner Batchsize sinken die Schwankungen unter 50- %. Eine Verkleinerung der Lernrate um eine Größenordnung (0,0005; 0,0001) führte teilweise zu Phasen ohne Schwankung, die aber nur temporär im Lernprozess auftraten. Eine Schwankung war für jede Batchsize vorhanden. Mit den angegebenen Parameterkombinationen war keine schwankungsfreie Neutralisierung des NzG möglich. Nur mit den zusätzlichen Tests mit der Batchsize 32 stellte sich heraus, dass eine Zielerreichung möglich ist. Jedoch war es hierbei nötig, die Lernrate kleiner zu wählen (0,0001). Eine schwankungsfreie Lösung des Problems wurde bei dieser Batchsize und einer Lernrate von 0,0001 erreicht. Dieses Verhalten bestätigte sich bei einer Iterationsanzahl von 60.000. Während der Durchführung der Trainingsläufe war zu beobachten, dass sich die Dauer eines Trainings zum einen bei größerer Batchsize (Anzahl der Iterationen und Lernrate fix) und zum anderen bei kleinerer Lernrate (Anzahl Iterationen und Batchsize fix) sowie größerer Anzahl an Iterationen (Batchsize und Lernrate fix) verlängert. Eine schwankungsfreie Lösung des Problems wurde nur bei der Lernrate 0,0001 mit einer Batchsize von 32 erreicht (s. Bild 6 rechts). -1.5×10 8 -1×10 8 -5×10 7 0 5×10 7 0 5000 10000 15000 20000 Mittlerer Ertrag Iteration Mittelwert Standardabweichung Bild 4: Beispiel für Schwankungen des mittleren Ertrags beim Training des Agenten mit den Parametern Batchsize: 128, Iterationen: 20.000, Lernrate: 0,0001 -80000 -75000 -70000 -65000 -60000 -55000 -50000 -45000 -40000 -35000 -30000 30000 32000 34000 36000 38000 40000 Mittlerer Ertrag Iteration Mittelwert Standardabweichung Bild 5: Durch Skalierung sichtbare kleinere Schwankungen der Ergebnisse beim Training des Agenten mit den Parametern Batchsize: 512, Iterationen: 40.000, Lernrate: 0,0001 -20 -15 -10 -5 0 5 0 10000 20000 30000 40000 50000 60000 Mittlerer Ertrag (*10 7 ) Iteration Mittelwert Standardabweichung -51 -50.5 -50 -49.5 -49 40000 45000 50000 55000 60000 Mittlerer Ertrag (*10 3 ) Iteration Mittelwert Standardabweichung Bild 6: (Links) Verlauf des Ergebnisses beim Training des Agenten mit den Parametern Batchsize: 32, Anzahl Iterationen: 60.000, Lernrate: 0,0001. (Rechts) Ausschnitt des linken Bildes für die Iterationen ab 40.000 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 74 TECHNOLOGIE Wissenschaft Fazit und Ausblick Der Flughafen als vulnerabler Knotenpunkt des Transports ist besonders gefährdet, Ziel eines Anschlages zu sein. Den verfeinerten Methoden der Angreifer muss durch eine schnelle und adäquate Reaktion begegnet werden. Von jedem verlassenen Gepäckstück geht potentiell eine Gefahr aus. Das übergeordnete Ziel ist die Beschleunigung des Erkennens der NzG, des Verursachers und des Einleitens der notwendigen Schritte mittels einer KI. In dieser Arbeit wurde eine exemplarische Umgebung untersucht, welche die zur Neutralisierung eines NzG notwendigen Aktionen abbildet. Zur Lösung wurde das Verfahren DQN verwendet. Mittels einer Parameterstudie wurde ein optimaler Parametersatz gesucht, der in DQN auftritt. Die Ergebnisse zeigen, dass eine große Lernrate (0,005) zu keinem schwankungsfreien Neutralisieren des NzG führte. Die Schwankungen reichten von 0,1- % bis zu 440- %. Bei einer Lernrate von 0,001 war eine Schwankung von mindestens 15- % zu beobachten. Eine schwankungsfreie Lösung der Aufgabe wurde mit der Lernrate 0,0001 und einer Batchsize von 32 erzielt. Die Möglichkeit der Verwendung von KI als eine neue Methode des präventiven Monitorings des Flughafenterminals, insbesondere bei der Maßnahmenauswahl im Falle eines NzG, wird durch die erzielten Resultate unterstützt. Die hier implementierte Umgebung mit dem Lernverfahren DQN führt mit Hilfe der Nutzung des ermittelten Parametersatzes zum Ziel - das heißt das Treffen von Entscheidungen zur schwankungsfreien Lösung des Problems, in diesem Fall zur Neutralisierung eines NzG. Die Implementierung der Umgebung bildet einen kleinen Teil der Aktionen beim Fund eines NzG ab. Um sich der Vision des neuartigen Sicherheitskonzepts aus [8] weiter zu nähern, besteht der nächste Schritt aus einer Erweiterung der Umgebung inklusive der Zeitabhängigkeit beim Neutralisieren des NzG. Dabei sollen die räumlichen Gegebenheiten sowie die Position der benötigten Ressourcen und des einzusetzenden Personals berücksichtigt werden. ■ LITERATUR [1] Europäische Kommission (2010): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über den Einsatz von Sicherheitsscannern auf EU-Flughäfen. https: / / eur-lex.europa.eu/ legal-content/ DE/ TXT/ ? uri=CELEX: 52010DC0311 (Abruf: 30.01.2023). [2] Kotowski, T.; Plickert, P. (2022): Die 100-Milliliter-Grenze für Flüssigkeiten fällt. www.faz. net/ aktuell/ wirtschaft/ die-100-milliliter-grenze-fuer-fluessigkeiten-bei-flugreisen-faellt-18485704.html (Abruf: 30.01.2023). [3] Deutschlandfunk (2016): Der Tag der Anschläge von Brüssel. www.deutschlandfunk.de/ newsblog-der-tag-der-anschlaege-von-bruessel-100.html (Abruf: 17.02.2023). [4] Moritz, H. (2019): Das macht die Bundespolizei mit herrenlosem Gepäck. www.merkur. de/ lokales/ erding/ flughafen-muenchen-ort60188/ flughafen-muenchen-bundespolizei-herrenloses-gepaeck-so-reagiert-polizei-13311422.html (Abruf: 17.02.2023). [5] Donadio, F.; et al. (2018): Artificial Intelligence and Collaborative Robot to Improve Airport Operations. In: Online Engineering & Internet of Things, Springer International Publishing. [6] Jupe, L. M.; Keatley, D. A. (2020): Airport artificial intelligence can detect deception: or am i lying? In: Security Journal, Vol. 33, No. 4. [7] Koroniotis, N.; et al. (2020): A Holistic Review of Cybersecurity and Reliability Perspectives in Smart Airports. In: IEEE Access, Vol. 8. [8] Milbredt, O.; Popa, A.; Doenitz, F.; Hellmann, M. (2022): Neuartiges Konzept der Sicherheitsarchitektur eines Flughafens - Ganzheitliche Interpretation der Sicherheitsinfrastruktur am Flughafen mithilfe von KI. In: Internationales Verkehrswesen, H. 3, S. 27-31. [9] Lufthansa Online: www.lufthansa.com/ de/ de/ star-alliance-biometrics.solo_continue. (Abruf: 17.02.2023). [10] Logistik Heute (2018): Ein neuronales Netz fürs Gepäck. In: Logistik-Heute, HUSS-VERLAG. Online: www.psilogistics.com/ fileadmin/ files/ downloads/ PSI_Logistics/ PDFs_Fachartikel/ LH_9-2018_30-31_PSI_low.pdf (Abruf: 01.02.2023). [11] Arsic, D.; Schuller, B. (2011): Real Time Person Tracking and Behavior Interpretation in Multi Camera Scenarios Applying Homography and Coupled HMMs. In: The Processing Issues. Lecture Notes in Computer Science, Vol 6800. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-642- 25775-9_1 [12] Soh, Z. H. C.; et al. (2020): Abandoned Baggage Detection & Alert System Via AI and IoT. In: Association for Computing Machinery, pp.. 205-209. [13] Mnih, V.; et al. (2015): Human-level control through deep reinforcement learning, In: Nature, Vol. 518, pp. 529-533. [14] Sutton, R. S.; Barto, A. G. (2018): Reinforcement Learning: An Introduction. In: Bradford Books, the MIT Press Cambridge, Massachusetts London, England. [15] Bellman, R. (1957): A Markovian Decision Process. In: Journal of Mathematics and Mechanics, Vol. 6, No. 5, pp. 679-684. [16] Bellman, R. (2010): Dynamic Programming. In: Princeton University Press. [17] Tsitsiklis, J.; Van Roy, B. (1997): An analysis of temporal-difference learning with function approximation. In: IEEE Transactions on Automatic Control, Vol. 42, No. 5, pp. 674-690. Olaf Milbredt, Dr. rer. nat. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abt. Informationsgewinnung und Modellierung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V., Institut für Verkehrssystemtechnik, Braunschweig olaf.milbredt@dlr.de Christina Draeger, B. Sc. Studentin der Luft- und Raumfahrttechnik, Universität Stuttgart st155485@stud.uni-stuttgart.de Andrei Popa, Dipl.-Wirtsch.-Ing. (FH), M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abt. Design & Bewertung von Mobilitätslösungen, Institut für Verkehrssystemtechnik, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Braunschweig andrei.popa@dlr.de Veranstaltungen FORUM Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 75 Erfahrungen und Chancen von On-Demand-Angeboten im ÖPNV Vorschau: 27. Juni 2023, Tagessymposium, Hamburg D as Institut für Verkehrsplanung und Logistik der TUHH veranstaltet in Kooperation mit dem Hamburger Verkehrsverbund hvv am 27. Juni 2023 ein Tagessymposium zu den „Erfahrungen und Chancen von On-Demand Angeboten im ÖPNV“. Im Jahr 2018 startete im Hamburger Westen eines der ersten in den ÖPNV integrierten On-Demand-Angebote in Deutschland, mittlerweile werden in zahlreichen Projekten On-Demand-Systeme als Ergänzung zum klassischen Bus- und Bahnangebot erprobt. Dabei werden unterschiedliche Ansätze verfolgt. Parallel zu diesen - oft finanziell geförderten - Projekten wird vielfach eine Begleitforschung vorgenommen, um zentrale Fragen zu klären: Wer nutzt die Angebote und für welchen Zweck? Welche Verkehrsmittel nutzen die Menschen aufgrund der neuen On-Demand-Angebote weniger? Von wo nach wo fahren die Menschen? Und vor allem: Wie geht es nach dem Ende der Förderung weiter? Das Symposium „Erfahrungen und Chancen von On-Demand Angeboten im ÖPNV“ soll einen Ort zum Austausch schaffen, bei dem die Erkenntnisse der vielfältigen On-Demand-Projekte aus verschiedenen Blickwinkeln präsentiert und zwischen Wissenschaft und Praxis diskutiert werden können. Zielgruppe dieses Symposiums sind sowohl die Wissenschaft als auch Aufgabenträger, Kommunen, Verkehrsverbünde und Verkehrsunternehmen sowie Consultants und Anbieter von Leistungen rund um das Thema On-Demand im ÖPNV. www.tuhh.de/ vpl polisMOBILITY2023 Vorschau: 24.-26. Mai 2023, Konferenz zu kommunalen Handlungsfeldern, Köln I m Mai dieses Jahres treffen sich erneut Vertreter von Kommunen, Unternehmen, Wissenschaft und Forschung mit Mobilitätsexperten aus dem In- und Ausland auf der polisMOBILITY in Köln. Neben der Präsentation innovativer Mobilitätslösungen steht ein fachlich spannendes, transdisziplinär besetztes Konferenzprogramm im Mittelpunkt der Veranstaltung. Die Konferenz findet vom 24. bis 26. Mai 2023 in der Koelnmesse statt. Sie vermittelt Kommunen und kommunalen Unternehmen Instrumente für die strategische Ausrichtung und operative Umsetzung der Mobilitäts- und Energiewende. Über verschiedene Live-Formate zeigt die Konferenz die zentralen Themen für die Weichenstellungen der Mobilitätswende im Sinne lebenswerter und nachhaltiger Städte und Regionen auf. Neben Panels und Vorträgen sind in der diesjährigen Ausgabe - als neues Beteiligungsformat - auch inhaltliche Workshops mit einem praxistauglichen Ansatz vorgesehen. Themen der föderalen Kooperation, der Planung und des Raummanagements aber auch Aspekte wie Digitalisierung, Mobility as a Service und Letzte-Meile-Logistik stehen im Fokus. Wesentlich hierbei ist die Rolle der Kommunen: Ziel ist es, Entscheidungsträgern mögliche Handlungsspielräume aufzuzeigen und den Transformationsprozess nachhaltig positiv zu gestalten. www.polis-mobility.de Parken 2023 - Smarte Ideen für den ruhenden Verkehr Vorschau: 28.-29. Juni 2023, Fachausstellung mit begleitender Fachtagung, Wiesbaden D ie Messe Parken in Wiesbaden ist Deutschlands einzige Fachausstellung mit begleitender Fachtagung zum Thema Planung, Bau und Betrieb von Einrichtungen des ruhenden Verkehrs. Mehr als 110 Aussteller präsentieren sich auf der auf der zweitägigen Fachmesse und zeigen ihre Produkte und Innovationen rund um den ruhenden Verkehr. Dabei wird die gesamte Bandbreite der Branche, von klassischer Parkraumausstattung über Bezahlsysteme bis hin zum Thema Smart Mobility zu sehen sein. Aussteller treffen auf der Parkplatzmesse auf ein hochkompetentes Fachpublikum wie Betreiber von Parkierungsanlagen, Fach- und Führungskräfte aus den Bereichen Bau- und Gebäudemanagement, Vertreter der öffentlichen Verwaltung, Jungunternehmer aus dem Bereich Smart Mobility sowie Architekturbüros und Dienstleister. Die begleitende Fachtagung stellt in praxisorientierten Vorträgen maßgeschneiderte Lösungen für den ruhenden Verkehr vor und setzt neue Impulse für den Arbeitsalltag. Die Fachmesse in Wiesbaden ist Pflichttermin und Branchen- Highlight zugleich und bietet alle Informationen über Neuigkeiten, Innovationen und aktuelle Trends in der Parkplatzbranche. www.parken-messe.de FORUM Standpunkt Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 76 Game-Changer Deutschlandtakt Kommunale Verkehrspolitik und -planung muss jetzt umdenken. Ein Weckruf von Marian Zachow, ÖPNV-Dezernent, Erster Kreisbeigeordneter des Landkreises Marburg-Biedenkopf. D er Deutschlandtakt kommt 2030 - oder er soll kommen. Der Koalitionsvertrag 2018 formulierte erstmals klar „Wir werden die Umsetzung des Deutschlandtakts vorantreiben“ 1 und will „bis 2030 doppelt so viele Bahnkundinnen und Bahnkunden gewinnen und dabei u. a. mehr Güterverkehr auf die umweltfreundliche Schiene verlagern.“ 2 Diese klare Zielformulierung ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass die Idee gerade einmal neun Jahr vorher erstmals - und mit einem allenfalls (sehr) verhaltenen Prüfauftrag „Wir werden die Vorschläge zur Einführung eines Deutschlandtaktes im Schienenpersonenverkehr einer sorgfältigen Überprüfung unter Beteiligung der Länder unterziehen.“ 3 - in einem Koalitionsvertrag stand. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer hatte ein erstes Gutachten auf den Weg gebracht, Alexander Dobrindt verfolgte dann - in Koalition mit der SPD - diesen Weg weiter; Andreas Scheuer konnte 2018 den ersten Gutachterentwurf vorlegen 4 , zwei darauf aufbauende folgten 2019 und 2020 5 ; in aktueller Fassung - mit wirtschaftlicher Bewertung - liegt der „Abschlussbericht zum Zielfahrplan“ seit 2022 vor. 6 Unter anderem folgende Maßgaben sehen die Gutachter vor: •• Optimierung von Anschlussknoten/ Fahrzeiten zwischen Knotenbahnhöfen zur weiteren Verkürzung der Umsteigesowie Reisezeiten (...) •• Erreichen einer möglichst hohen Systematisierung des SPFV, um SPNV Angebote bestmöglich anbinden zu können. •• Vorsehen von Halbstundentakten und Halbstundenrhythmen auf ausgewählten bzw. nachfragestarken Korridoren •• Bestmögliche Verknüpfung der Fernverkehrslinien untereinander und klare Knotenbildung als Grundlage zur optimalen Verknüpfung mit dem SPNV. •• Umsetzung eines angebotsorientierten, aber betreiberneutralen Fernverkehrsnetzes, das auch wirtschaftlichen Aspekten (z. B. ein wirtschaftlicher Fahrzeugeinsatz) Rechnung tragen muss. •• Erreichen einer möglichst hohen Systematisierung des SPFV, um SPN-Angebote bestmöglich anbinden zu können. •• Nutzen der Fahrzeitgewinne auch für die Regionen in der Fläche durch Optimieren der Anschlussverkehre..“(…) 7 Was komplex erscheint, ist eigentlich einfach: In den Verkehrsknoten kommen jede (halbe) Stunde die Züge an, dort bestehen untereinander wechselseitige Anschlussbeziehungen im Fern- und Nahverkehr. Das ist ein Paradigmenwechsel: „Nicht die superschnelle Verbindung von einem Großstadtbahnhof zum anderen ist dabei der entscheidende Faktor, sondern die Minimierung der Gesamtreisezeit von Haus zu Haus dank Rendezvoussystem an den Knotenpunkten“ 8 Wie das aussieht, zeigt die ÖBB mit einer exemplarischen Grafik (Bild 1): Zwei ICs kommen zur Minute 58 bzw. 00 an, fahren dann zur Minute 00 bzw. 02 wieder ab. Alle anderen (Regional-) Züge kommen jeweils irgendwann in den Minuten 53-57 an, stehen je etwa fünf bis zehn Minuten am Bahnsteig und fahren dann zwischen den Minuten 04 und 07 weiter, so dass sowohl Anschluss zwischen den Regionalzügen untereinander als auch zu den IC besteht. Zur halben Stunde, also zur Minute 30, wiederholt sich das auf gleiche Art und Weise. Dieses Fahrplankonzept folgt dem berühmten Schweizer Vorbild. 9 „Alle Linien treffen sich gleichzeitig im Knotenbahnhof und haben untereinander Anschluss“. 10 Zwar wird in Deutschland „ein derartig konsequenter Ansatz der Korrespondenzen für (fast) alle Linien wie in der Schweiz nicht nachvollzogen“, 11 - weil „dies teilweise zu sehr langen Haltezeiten in den Knotenbahnöfen und einer entsprechend langen Bahnsteigbelegungszeit“ 12 führt - ; aber auch in Deutschland werden regelhaft an den Knoten mannigfaltige Umsteigebeziehungen bestehen. Das setzt einen weiteren Paradigmenwechsel voraus: Statt dass sich - wie über Jahrhunderte üblich - der Fahrplan an die vorhandene Infrastruktur anpassen muss(te), gilt nun „Erst der Fahrplan, dann der Aus- und Neubau der Schieneninfrastruktur.“ 13 Entsprechend sieht der Abschlussbericht umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen vor. 14 Dass so ein Modell mehr als konkurrenzfähig ist, liegt auf der Hand: Das Gutachten prognostiziert „deutliche Reisezeitverkürzungen“ 15 sowie hohes Potential im Rahmen der volkswirtschaftlichen Bewertung „Unter Berücksichtigung der zusätzlichen Instandhaltungskosten und der bereichsübergreifenden Nutzen summieren sich die Nutzen auf rd. 2,2 Mrd. EUR pro Jahr. Das entspricht einem Barwert von rund 43,9 Mrd. EUR. Der Barwert der Investitionskosten beträgt rd. 30,0 Mrd. EUR. Daraus ergibt sich ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von 1,4“. 16 Bild 1: Schematische Darstellung eines idealen Taktknotens Quelle: Aus einer Präsentation von ÖBB-PV Vorstand Klaus Garstenauer, ÖBB-Personenverkehr AG Wien Standpunkt FORUM Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 77 Der Deutschlandtakt: (Noch) kein Mega Thema Angesichts dieses epochalen Umbruchs müsste eigentlich sehr offensiv über den Deutschlandtakt gesprochen werden, zumal die erste Etappe schon 2030 eingeläutet werden soll. Gemessen daran aber, wie sehr ansonsten selbst einzelne neue Strecken bejubelt werden, ist es erstaunlich, dass der Deutschlandtakt - obwohl er ja schlagartig alle Verbindungen potenziert und damit vermutlich einschneidender sein dürfte als andere Meilensteine der Verkehrsentwicklung - in der politischen Debatte kaum eine Rolle spielt. 17 Das erstaunt, weil er sogar jenseits der Parteipolitik steht: Zurückzuführen ist er auf die 2008 gestartete bürgerschaftliche „Initiative Deutschland Takt“ aus Verbänden wie ProBahn, VCD, Bundesarbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger im Schienenverkehr und etlicher (Fach-)Persönlichkeiten wie z.B. dem bis heute als Taktgeber wirkenden Hans Leister. 18 Letztlich wurde daraus ein parteiübergreifendes Projekt: In der CDU/ FDP-Koalition wurden erste Schritte gemacht, die Große Koalition unternahm dann weitere und die Ampel- Koalition stellt derzeit die Weichen für 2030 und die folgenden Jahr(zehnt)e. Die dennoch auszumachende verbale und mediale Zurückhaltung 19 hat vermutlich auch damit zu tun, dass ein integraler Taktfahrplan kaum als glaubwürdige Vision verkauft werden kann, wenn gleichzeitig 2022 die statistisch gemessene Pünktlichkeit der Bahn in Deutschland auf einem Rekordtief von 65,6% 20 lag. Das Modell setzt voraus, dass selbst Übergänge von fünf bis sechs Minuten verlässlich funktionieren. Dass das eine sperrige Vorstellung ist, liegt auf der Hand, wenn derzeit Verzögerungen von bis zu sechs Minuten nicht einmal als Verspätung zählen. 21 Hinzu kommt, dass der Zeitplan bis 2030 als (sehr) ambitioniert daherkommt angesichts der in Deutschland üblichen langen Planungs- und Genehmigungszeiten. Vielleicht trägt sogar der Begriff „Deutschlandtakt“ selbst zu seiner Unterschätzung bei, das Stichwort erweckt zwar Assoziationen an die mittlerweile fast legendäre Einführung des zweiklassigen IC- Verkehrs („Jede Stunde - Jede Klasse“) 22 im Jahr 1979, lässt damit aber auch eher an eine zwar (Fern-) verkehrstechnische Innovation denken als an eine raumgreifende Verkehrsrevolution. Vielleicht hätte ein Begriff wie Bahn2030 o. ä. mehr den Charakter als GameChanger verdeutlicht. GameChanger für Kommunen All das mag erklären, warum die Verkehrspolitik in Deutschland nur selten für die komplexe deutschlandweite Vertaktung wirbt. Während aber schon auf Bundes- und Landesebene kaum über den Deutschlandtakt gesprochen wird, kommt er in der Kommunalpolitik bisher fast gar nicht vor. Wie sehr er aber Paradigmenwechsel auch für die lokale Verkehrspolitik und -planung - und zwar für Bus wie Bahn - ist und welche Folgen das hat, will ich - als gelernter Pfarrer - an einem ungewöhnlichen Bild aufzeigen. Kommunale Verkehrspolitik heute: Ein Motiv in großem Fenster Derzeit erinnert kommunale Verkehrsplanung - sofern sie nicht, wie in manchen Gebietskörperschaften, ohnehin fast komplett auf die Verbund- oder Landesebene übertragen ist eher einem großen Kirchenfenster, wie etwa dem von Neo Rauch im Naumburger Dom (Bild 2). Auf einer großen Fläche, begrenzt nur durch die äußere Architektur, kann sich der Künstler entfalten. So ist auch lokale Verkehrsplanung heute: Wenige extern gesetzte Rahmenbedingungen, nämlich Fern- und Regionalverkehre auf der Schiene, vereinzelt (über-)regionale Buslinien, setzen den Rahmen; ansonsten kann eine große Fläche weitestgehend frei bespielt werden. Die Fahrplanung folgt in der Regel örtlichen Bedarfen und Wünschen. Allerdings mit einem nennenswerten Wermutstropfen: Trotz der Gestaltungsfreiheit gelingt nur selten ein so beachtetes Werk wie Neo Rauch im Naumburger Dom. Denn - um im Bild zu bleiben - die Farbe ist zu knapp fürs große Bild. Oft sind die finanziellen Mittel begrenzter als die vielen Wünsche. Daher entstehen statt eines Gesamtkunstwerkes oft „halbfertige Werke“, die aus Sicht der Fachleute vergleichsweise gut sind 23 ; in der öffentlichen Meinung aber eher als mangelhaft wahrgenommen werden, heißt es doch oft „auf dem Land fährt kein Bus.“ 24 Kommunale Verkehrspolitik morgen: Mehr Bilder zwischen vielen Fenster-Sprossen Demgegenüber stelle ich das fast 800 Jahre alte Elisabeth-Fenster aus der gleichnamigen Marburger Kirche (Bild 3). Ebenfalls ein Bild 2: Das 2007 entstandene Elisabethfenster von Neo Rauch in der Elisabethkapelle im Dom Naumburg (Saale): In einem nur durch die Architektur vorgegebenen Rahmen konnte der Künstler ein großes Motiv entfalten. Quelle: Vereinigte Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Foto: Falko Matte Bild 3: Das Elisabethfenster in Marburg. In den enge(re)n Fenstern zwischen den Sprossen sind die Bilder zwar kleiner, dafür sind mehr Szenen möglich. Quelle: Evangelische Kirchengemeinde Elisabethkirche Marburg FORUM Standpunkt Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 78 Meisterwerk, aber ganz anders. Hier entfaltet sich die Kunst in den engen Zwischenräumen zwischen den einzelnen Sprossen. 25 So ähnlich ist es auch mit dem Deutschlandtakt: Kommunale Verkehrsplanung kann künftig nicht mehr weitgehend frei die große Fläche bespielen, sondern muss sich - wie der mittelalterliche Künstler - in die engen Zwischenräume eines (von Taktzeiten im Fern- und Regionalverkehrs) gegliederten Rahmens einpassen, jedenfalls sofern die lokalen Busverkehre nicht wie ein Fremdkörper im vertakteten Gesamtsystem Deutschlandtakt daherkommen sollen. Dann muss eine Buslinie zwischen zwei verschiedenen Bahnhöfen ggf. so ausgerichtet werden, dass sie genau zur „Taktknotenzeit“ an einem Ort abfährt und zur Taktknotenzeit am anderen Ort ankommt. Zunächst mutet dies wie eine Einschränkung kommunaler Gestaltungsfreiheit an, aber bei genauem Hinsehen entpuppt es sich mehr als Chance, wie auch der Vergleich der beiden Kunstwerke zeigt. Ja, man kann keineswegs sagen, ob das Bild der Heiligen Elisabeth von Neo Rauch aus unserem Jahrhundert „schöner“ ist oder das aus dem 13. Jahrhundert; dafür handelt es sich um eine viel zu unterschiedliche Gestaltung. Eines aber erschließt sich auf den ersten Blick: Der spätromanische Künstler hatte zwar nicht die Möglichkeit, ein großes Bild zu schaffen, dafür konnte er aber viel mehr Szenen ins Bild setzen. Während Rauch eine einzige Szene abbildet, 26 sind im Marburger Fenster - wenn auch kleiner - fast alle Lebensstationen der Heiligen zu sehen. So ist es auch beim Deutschlandtakt: Zwar muss man sich als Verkehrsplaner an von außen gesetzte (Schienen-) Fahrzeiten anpassen; weil er aber vielerorts Halbstundentakt statt Stundentakt mit sich bringt, verdoppelt sich in der Regel die Anbindungsqualität, zusammen mit den verbesserten Anschlussbeziehungen vervielfachen sich die Reiseoptionen. Kommunale Verkehrsplanung, die sich - aufgrund der Knappheit der Ressourcen - über Jahrzehnte hinweg damit zufriedengeben musste, wenige Fahrten in die nächstgrößere Stadt anzubieten, kann nun durch Anschlüsse zu überregionalen Verkehren sehr viel mehr Reise-Optionen „ins ganze Land“ ermöglichen. Und das sogar weitgehend ohne zusätzliche Kosten, denn die Verbesserungen ergeben sich ja fast ausschließlich aus der Erweiterung des Schienenangebotes, wofür in der Regel die Kommunen nicht direkt zur Kasse gebeten werden. Um im Bild zu bleiben: Der Rahmen wird zwar enger, dafür entstehen aber mehr Optionen. Wenn man so will: mit derselben Menge Farbe lässt sich auf einmal eine größere Zahl an Szenen gestalten. Damit steht auch der ländliche Raum vor einer Chance. Aber anders als die Zentren an den (Haupt-) Bahnlinien, die (fast) automatisch vom Deutschlandtakt profitieren, muss der ländliche Raum die Chance selber aktiv ergreifen. Bisher ist er eher wenig(er) im Blick, was sich auch daran zeigt dass der Deutsche Landkreistag - anders als der Städtetag - bisher nicht explizit an den Arbeitsgruppen zur Planung beteiligt ist. 27 Deswegen dieser Weckruf: Schon jetzt muss der Deutschlandtakt in kommunaler Verkehrsplanung mitgedacht werden. Wenn es gelingt, den Takt zwischen den Zentren durch günstige Busanschlüsse bis zur Haltestelle im Dorf zu verlängern, werden sich die Reisemöglichkeiten vervielfachen. Kommt man - und sei es nur zweistündlich - von klein(st)-en Orten wie Leidenhofen nicht nur regelmäßig „öffentlich“ nach Marburg, sondern kann dort dank des Taktknotens verlässlich in fast alle Richtungen umsteigen, wird jede Busabfahrt in Leidenhofen potentieller Ausgangspunkt einer Reise nach Hamburg oder Zürich, aber auch Wiera oder Lollar. Das ist eine Chance für kleine(re) Kommunen, gerade in einer Zeit, in der das Auto für die Jüngeren an Bedeutung verliert. 28 Ob und wie die Chance genutzt wird, entscheidet sich jetzt: In den nächsten Jahren müssen dafür in Kommunen und Landkreisen die Weichen nach vorne gestellt werden. Wie dies aussehen könnte, lege ich in sieben Thesen dar. Sieben Thesen, damit der Deutschlandtakt kommunale Chance wird 1. Schnelligkeit statt Feinerschliessung Der lokale Busverkehr wird sich durch den Deutschlandtakt diametral verändern. Wenn man mit dem Zug in vielleicht 120 Minuten 300 Kilometer von Stuttgart nach Marburg unterwegs ist, wird es der Kunde nicht hinnehmen, wenn er für die letzten vielleicht 15 Kilometer von Marburg bis Kleinseelheim weitere 60 Minuten - oder doch ein Auto bzw. Taxi - benötigt. Das erfordert ein Umdenken, ist es doch derzeit noch oft so, dass Buslinien auf ihrer Fahrt so viele Orte wie möglich „abklappern“. Gerade weil der Schülerverkehr derzeit im ländlichen Raum noch die überwiegende Nutzung darstellt, ist das auch eine sinnvolle Lösung; die erhöhten Fahrzeiten schlagen nur bedingt ins Kontor, weil die meisten den Bus für den Weg von Schule und Arbeit nutzen, aber eher selten auf Umsteigebeziehungen angewiesen sind. Mit dem Deutschlandtakt wird aber auch der lokale und regionale Busverkehr zum Teil einer Reisekette, bei der Fahrgäste über den Zielpunkt der Busfahrt hinaus weiter reisen. Damit wird Reisezeit umso wichtiger, so dass das Motto lauten muss: Geschwindigkeit vor Feinerschließung. Das bedeutet, dass ein Großteil kommunaler Linien neu- und umgestaltet werden muss. Anstelle von Linien, die viele Ort(steil)e bedienen, treten schnelle Direkt- Busse mit wenig Halten, die mit den nächsten Bahn- oder Busknoten verbinden. Dass dies nicht „aus der Luft gegriffen“ ist, zeigen ja die vielerorts umgesetzten Schnellbus- Linien. 2. Feinerschließung durch Umsteigen Neben Direktlinien braucht es für die Feinerschliessung weitere „Dorf-Linien“ mit kleineren Fahrzeugen, die mit den Hauptlinien vernetzt werden. Der Fahrgast fährt mit einer schnellen Linie z. B. in den Hauptort einer Gemeinde, dort besteht dann Umstiegsmöglichkeit auf eine Dorflinie, die die einzelnen Ortsteile dann - ebenfalls in derselben Taktfolge und Verlässlichkeit - erschließt. Die Dorflinie kann durch intelligentes Marketing, das die Identifikation mit dem jeweiligen Dorf stärkt, noch attraktiver werden - so wie es z. B. heute schon in Ferienregionen üblich ist, z. B. die Dorflinie Ruhpolding (Bild 4) 29 . Auch hier können die Fahrzeiten in einzelne Dörfer überschaubar bleiben, weil die Linien dann nicht 20 Orte mit ihren jeweiligen Wohngebieten, sondern vielleicht nur fünf oder sechs bedienen. Diese Kombination lässt eine Verbindung von Geschwindigkeit und Feinerschliessung zu und die Anbindung der Orte besser werden. 3. Umsteigen muss bequem sein Ein solches Szenario mag effizient sein; beim Fahrgast wird es (zunächst) auf Ablehnung stoßen. Denn für den Kunden ist die Bereitschaft zum Umsteigen gering. In der Logik des Deutschlandtaktes lässt sich aber nicht vermeiden, dass dieser Kundenwunsch mit der Devise „(mehrfach) umsteigen statt Durchfahren“ kontrastiert wird. Von daher wird eine solche Diskussion vor Ort alles andere als vergnüglich sein. Aber: Ich wage die These, dass die Ablehnung von Umsteigevorgängen vor allem daran liegt, dass sie kaum verlässlich und zudem - wegen Straßenüberquerung oder ungünstigen Wartesituationen - noch dazu unbequem sind. Dass die Menschen durchaus bereit sind, umzusteigen, sofern es verlässlich und bequem ist, zeigt zum Beispiel das bereits erwähnte „IC-System 79“: Dessen Erfolg liegt bis heute darin, dass an Verknüpfungspunkten wie z. B. Mannheim verlässlicher und bahnsteiggleicher Übergang gewähr- Standpunkt FORUM Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 79 leistet ist. Dies gilt es, auf den Nahverkehr zu übertragen: Wenn zwischen Bus und Bahn wie auch zwischen Bus und Bus ein verlässlicher, bequemer Übergang möglich ist, wird die Umsteige-Bereitschaft steigen (Bild 5). 4. Bequem heißt: „Zuverlässig“ Der erste - und wohl wichtigste - Punkt der Unbequemlichkeit des Umsteigens liegt darin, dass es heute risikobehaftet, ist: Der Deutschlandtakt wird nur dann attraktiv sein, wenn selbst knappe Anschlüsse zuverlässig werden. Das kann gelingen, weil der Deutschlandtakt das Problem bei der Wurzel zu packen versucht, indem nämlich Verspätungen aufgrund zu knapper Infrastrukturverhältnisse durch an die Bedarfe des integralen Taktfahrplans angepasste Ausbaumaßnahmen beseitigt werden. Dabei darf man es nicht bewenden lassen, sondern muss - gerade im lokalen (Bus-)Verkehr - das Thema Anschlussbeziehungen im Blick halten. Derzeit sind sämtliche Anreizbzw. vor allem Malus-Systeme tendenziell eher auf das Einhalten des Fahrplanes ausgerichtet, d. h. dem Grunde nach ist es für das Fahrpersonal derzeit sinnvoller, die Anschlussreisenden stehen zu lassen und pünktlich abzufahren als umgekehrt. Hier muss künftig das Prinzip „Anschluss zuerst“ in der Aus- und Weiterbildung des Fahrpersonals Einzug halten. Da in einem integralen Taktfahrplan aber in der Regel nicht nur eine, sondern mehrere Anschlussbeziehungen einzuhalten sind, funktioniert dies nur, wenn zeitliche Spielräume im Fahrplan eingebaut sind. Das scheint in einem Widerspruch zum eingangs postulierten Ziels „Schnelligkeit“ zu stehen, der Zielkonflikt entschärft sich indes bei genauerem Hinsehen: Mit der Umstellung auf schnellere Direktverbindungen ist die Fahrzeiteinsparung z. T. so erheblich, dass ein Teil des Fahrzeitgewinns in Fahrplanverlässlichkeit investiert werden kann. Trotz allem wird sich nicht immer jeder Anschluss erreichen lassen: Deswegen braucht es - für den Fahrgast - transparente und klare Standards hat, wann mit der Erreichung eines Anschlusses zu rechnen ist und wann nicht. Während bei Halbstundentakt das Verpassen wenig schwerwiegend ist, muss z. B. bei Zwei-/ Vierstundentakt auch länger gewartet werden. 5. Zuverlässig ist bedarfsentsprechend Verlässlichkeit betrifft aber nicht nur das Erreichen des Anschlusses, sondern auch, dass der Bus überhaupt fährt. Angesichts des akuten Personalmangels ist dies keine Selbstverständlichkeit, immer öfter kommt es schon heute zu Fahrtausfällen. 30 Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass das Thema Personalverfügbarkeit mehr denn je limitierender Faktor aller wünschbaren ÖPNV- Anliegen ist. Dieser Aspekt muss auch im Kontext des Deutschlandtaktes im Blick bleiben und vielleicht allzu forsche Forderungen nach Taktverdichtungen relativieren. Ein verlässlich funktionierender (Zwei-)Stundentakt ist z. B. für den Kunden attraktiver als ein Halbstundentakt, bei dem jedoch etliche Fahrten schon bei der kleinsten Erkältungswelle ausfallen. Ebenso weist dies auf politischen Handlungsbedarf hin. Ein Teil der Lösung könnte sein, Sonderregelungen zu treffen, dass - mit ergänzenden Schulungen - auf bestimmten lokalen Verkehren zum Beispiel auch 16-Sitzer mit normalem Führerschein gefahren werden können. Denn ohne Zweifel wird der ÖPNV in Zukunft auf nebenberufliche Personen oder auch Ruheständler angewiesen sein. Ich spreche von bedarfsentsprechend statt von bedarfsorientiert. Damit meine ich, dass nicht allein der zahlenmäßige Bedarf, sondern der Gesamt(mobilitäts)bedarf des (potenziellen) Fahrgastes im Blick sein muss. Ein Beispiel: Zu frühen Zeiten am Wochenende fahren in ländlichen Räumen selten Züge oder Busse, weil der Bedarf objektiv gering ist. Allerdings muss ein Fahrgast, der gänzlich auf sein Auto verzichten will, die Chance haben, auch abends spät oder Sonntags früh die nächsten Anschlussknoten zu erreichen, weil er sonst doch ein Auto vorhalten müsste. Bedarfsentsprechend heißt also, dass wenigstens ein Grundangebot auch in den Randzeiten vorgehalten werden muss. Natürlich kann nicht jeder Zug bis Mitternacht stündlich fahren, aber es muss dafür gesorgt werden, dass es überhaupt Spät- oder Frühabfahrten - ggf. mit Bedarfsverkehren - gibt (Bild 6). Mitunter lässt sich das ohne Mehrkosten realisieren, weil ohnehin bestehende Abfahrten nur nach hinten bzw. nach vorn geschoben werden. 31 6. Bedarfsentsprechend heißt: „Umbauen“ Umsteigen entspricht oft nicht den Wünschen der Fahrgäste, weil beschwerliche Wege zurückzulegen sind. Das gilt selbst da wo der (eigentliche) Weg nicht weit ist, aber betriebliche Eigenheiten - wie etwa der fast legendäre Umstieg auf Gleis 102 in dem Dörfchen Altenbeken - das Umsteigen schwierig(er) erscheinen lassen. Erst recht beschwerlich wird der Wechsel zwischen den Verkehrsträgern. Oft muss der Fahrgast den Weg zu abgelegenen Bussteigen finden. Hinzu kommt, dass die Architektur- und Aufenthaltsqualität von Bahn- und Busbahnhöfen zu wünschen übriglässt. Der Deutschlandtakt gelingt nur, wenn das Umsteigen auch baulich erleichtert wird. Damit wird klar, dass es nicht nur eine Herausforderung für Verkehrsunternehmen oder Ver- Bild 4: Dorflinien können durch intelligentes Design und lokalspezifisches Marketing attraktiv(er) werden - wie hier in Ruhpolding. Quelle: Chiemgau Tourismus e.V Bild 5: Bequem ist Umsteigen, wenn man wie in Gladenbach am Würtenberg beim Wechsel der Richtungen nicht die Straße queren muss. Quelle: RNV Marburg-Biedenkopf, Foto: Marian Zachow FORUM Standpunkt Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 80 bünde ist, sondern auch für die Städte und Gemeinden. Folgte auch hier bisher der Verkehr der (vorhandenen) Infrastruktur - Haltestellen wurden dahin gebaut, wo noch Platz war - muss künftig die Infrastruktur eher von den Umsteigewegen her entworfen werden. Dafür müssen auch gewachsene (Bau-)Strukturen in Frage gestellt werden. Das heißt nicht, dass mit der Abrissbirne Schneisen ins Stadt- und Dorfbild geschlagen werden, kann aber bedeuten, dass z.B. die Beseitigung nicht mehr benötigter Bahnhofsanbauten sinnvoll sein kann, um Umsteigen bequemer zu machen. 32 Kombibahnsteige für Bus- und Bahn (Bild 7) können ebenso ein Ansatz sein wie Busbahnhöfe, die an demselben Steig den Übergang zu anderen Linien zulassen. Dabei können „Rendezvous-Haltestellen“ ggf. sogar außerorts sinnvoll sein, wenn dort eine Verknüpfung von Direkt- und Dorfbuslinien erfolgt. Selbst unkonventionelle Ideen - wie etwa Bussteige, an denen ohne Querung der Strasse zwischen den Richtungen umgestiegen werden kann (vgl. z. B. Gladenbach Würtenberg, Bild 4) - oder sonst nur im U-/ Stadtbahn-Verkehr übliche Mittelbussteige in Straßenmitte 33 , sind denkbar. Konzeption, Planung und Finanzierung von Haltestellenumbauten erfordern Zeit; mithin müssen Veränderungen heute auf den Weg gebracht werden, damit sie 2030 im Bau sind. Auf den ersten Blick mag das teuer anmuten, angesichts guter Förderkulissen ist es aber eine Chance: Denn neugestaltete und durch Umsteiger belebte Haltestellen sind auch städtebaulich ein Gewinn. Das gilt nicht nur für preisgekrönte Bauten wie den ZOB Böblingen 34 (Bild 8), sondern auch für kleinere Lösungen 35 . Umsteigekomfort muss auch intermodal gedacht werden, d.h. den Umweltwerbund und das Auto (mit) im Blick haben (Fahrradabstellanlagen, aber auch Park & Ride, Kiss & Ride). Künftig werden auch (größere) Bus-Stationen Start- und Zielpunkt längerer Reisen werden, d. h. auch diese brauchen Qualitäten (fast) wie ein Bahnhof (z. B. Lebensmittelautomaten, Schließfächer etc.). 7. „Umbauen“ betrifft nicht nur den ÖPNV Der Deutschlandtakt hat auch Umbrüche auf Handlungsfeldern zur Folge, die man nicht mit Verkehrspolitik verbindet. Zu den Faktoren, die bisher die Fahrplangestaltung bestimmen, gehören besonders die Schulzeiten (Bild 9). Nicht zufällig beschreibt ein Workshop noch im Jahr 2015 die Ziele für den Nahverkehr im ländlichen Raum mit: „Vom Manager des Schülerverkehrs zum Mobilitätsallrounder“. 36 Zwar ist der Schulbusverkehr in der Regel mittlerweile in (normale) Linien integriert 37 , gleichwohl sind die Angebotsstrukturen noch immer von den Schulzeiten geprägt. Dadurch hat sich ein Anspruchsdenken entwickelt: Verschieben sich Ankunftszeiten auch nur um wenige Minuten, kann das heftige (Eltern-) Proteste hervorrufen. 38 Hier ist der Deutschlandtakt einmal mehr GameChanger, denn faktisch müssen alle Fahrplanzeiten von den Anschlüssen in Taktknoten gedacht werden. Damit werden die Möglichkeiten, auf Schulzeiten einzugehen, eingeengt: Denn angesichts von Ressourcenmangel ist es nicht realistisch, komplementär zum normalen Taktverkehr noch zusätzliche Schulbusfahrten anzubieten. Weil zugleich Schüler: innen nicht unbeaufsichtigt sein dürfen, bleibt nur, die Schulzeiten dem Fahrplan anzupassen. Hier muss früh in den Schulen Bewusstsein geweckt werden, denn dass man die Schulzeiten statt an pädagogischen Kriterien (indirekt) an den Fahrzeiten von Fernverkehrszügen ausrichten muss, wird wenig Begeisterung auslösen. Das ist auch eine landespolitische Herausforderung; z. T. stehen derzeit auch Schulgesetze noch der Anpassung von Taktverkehren entgegen. 39 Ähnliche Herausforderungen gelten auch für die Wirtschaft(spolitik). Wie bei den Schulen gibt es z. T. historisch gewachsene Fahrten zu den Schichtzeiten größerer Arbeitgeber. Auch solche lokalen Spezifika können künftig nur noch wenig(er) berücksichtigt werden. Das sollte mit Arbeitgebern frühzeitig kommuniziert werden. Allerdings kommt man auch hier nicht mit leeren Händen, aufgrund der vervielfachten Verbindungen kann vielleicht sogar der ein oder andere vom Arbeitgeber finanzierte Shuttleverkehr durch den regulären ÖPNV ersetzt werden. Fazit: Jetzt geht’s los Der Deutschlandtakt wird bisher maßlos unterschätzt. Es ist kaum fassbar, dass er in der öffentlichen Debatte kaum vorkommt, während das - relevante, aber keineswegs so epochale - 49-Euro-Ticket seit Monaten die Medien beherrscht. Vielleicht mag das auch der Tatsache geschuldet sein, dass bis 2030 aufgrund der notwendigen infrastrukturellen Voraussetzungen, allenfalls eine erste Etappe startet, gleichwohl wird unabhängig vom tatsächlichen Einführungsdatum die damit verbundene Trendwende weitaus früher eingeleitet. Deswegen muss dieses (Zukunfts-)Thema jetzt pro-aktiv gestaltet werden. Diejenigen Landkreise, Städte und Gemeinden haben künftig Wettbewerbsvorteile, die früh in Richtung Deutschlandtakt denken. ■ Bild 6: Der Marburger Nachtstern mit täglichen Abfahrten ab 23: 45 Uhr in alle Gemeinden weckt Nachfrage auch bei Menschen, die sonst nicht mit dem ÖPNV unterwegs sind. Quelle: Landkreis Marburg-Biedenkopf, Foto: Gabriel Pruteanu/ ALV Bild 7: Kombibahnsteige, an denen bequem zwischen Zug und Bus und intermodal zu Rad-, Bus-, Fuß- und Autoverkehr umgestiegen werden kann, sind im Deutschlandtakt wichtiger denn je. Hier die Station Ruckling an der 2002 reaktivierten Strecke Neumünster-Bad Segeberg. Quelle: Bahnstadt, Planungsgesellschaft für Bahnhofsentwicklung mbH Standpunkt FORUM Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 81 Bild 8: Neugestaltete Verknüpfungshaltestellen können auch städtebaulich ein Gewinn sein - wie der für vorbildliches Bauen ausgezeichnete ZOB in Böblingen. Quelle: Zoller Architekten, Stuttgart; Foto: Wilfried Gronwald Bild 9: Der Deutschlandtakt ist auch GameChanger für die Schulen. Schulbeginn und -Ende werden sich künftig auch an vorhandenen Taktzeiten orientieren müssen. Bild: istock.com/ LSOphotos Der Beitrag ist die schriftliche und teilweise aktualisierte und ergänzte Fassung eines aus Anlass der Verleihung des Hessischen Fahrgastpreises 2022-2023 durch ProBahn Hessen am 14.01.2023 in Fronhausen/ Lahn vom Verfasser gehaltenen (Fest-)Rede. 1 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, 12. März 2018, S.77, Z. 3550 und 3551 2 Ebd. S 79, Zeile 3619 und 3620 3 WACHSTUM. BILDUNG. ZUSAMMENHALT. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU UND FDP. 17. Legislaturperiode. Berlin, 26. Oktober 2009,39. 4 Zu diesem „Startschuss“ https: / / www.system-bahn.net/ aktuell/ zukunftsbuendnis-schiene-stellt-zielfahrplandeutschlandtakt-vor/ #articlebottom (Zugriff 12.01.2023) 5 Zur Abfolge der Gutachterentwürfe vgl. https: / / www. deutschlandtakt.de/ blog/ finalisierter-gutachterberichtzum-deutschlandtakt/ (Zugriff 12.01.2023) 6 SMA und Partner AG, Intraplan Consult, Via Consulting und Development in Kooperation mit TTS Trimode Transport Solutions: Abschlussbericht zum Zielfahrplan Deutschlandtakt. Grundlagen. Konzeptionierung und wirtschaftliche Bewertung. Version 3-00 01. September 2022. 7 Alle Spiegelstriche SMA et al.: Abschlussbericht, 18 8 Initiative Deutschland-Takt: deutschland-takt (Faltblatt). November 2012, S. 1. 9 Zur Schweiz vgl. Hürlimann, Gisela: Die Eisenbahn der Zukunft. Modernisierung, Automatisierung und Schnellverkehr bei den SBB im Kontext von Krisen und Wandel (1965 - 2000). Zürich (Preprints zur Kulturgeschichte der Technik) 2006, besonders S. 176-189. 10 SMA et al: Abschlussbericht, 41. 11 SMA et al: Abschlussbericht, 41 12 SMA et al: Abschlussbericht, 41 13 SMA et al: Abschlussbericht, 13, 14 vgl. SMA et al: Abschlussbericht, Anhang. 15 SMA et al: Abschlussbericht, S. 10 16 SMA et al: Abschlussbericht, S. 174 17 www1.wdr.de/ nachrichten/ deutschlandtakt-bahn-ausbau-verspaetung-100.html (Zugriff 06.01.2023) 18 Unter anderem von ihm stammt auch eine kompakte Darstellung zur Historie des Deutschlandtaktes vgl. Leister, Hans; Iffländer, Lukas: Neues vom Deutschlandtakt. In: Eisenbahnkurier (555) 12/ 2018, S. 36-39. 19 Selbst in der Fach-Öffentlichkeit ist Zurückhaltung zu spüren. Die Regionalkonferenzen mit Bundesminister Wissing waren zwar ein Schritt nach vorn, lösten aber (noch) keinen breiten Handlungsimpuls bei den Teilnehmer aus. 20 www.spiegel.de/ wirtschaft/ service/ bahn-wohl-so-unpuenktlich-wie-nie-a-f4a7260b-da5a-423f-b3f6-e968de- 046bfc (Zugriff am 01.03.2023) 21 www.capital.de/ wirtschaft-politik/ 10-kuriose-fakten-zuverspaetungen-bei-der-bahn (Zugriff 11.01.23) 22 Vgl.dazu Jänsch, Eberhard: Vor 30 Jahren: IC 79. Jede Stunde - jede Klasse. in: Eisenbahntechnische Rundschau 05/ 2009, 263-267. 23 Statistiken zeigen, dass in der Regel über 90% der Bürger*Innen in maximal 600 bzw. 1200 m Entfernung einen Bus-/ Bahnhalt mit mindestens 20 Abfahrten werktäglich haben; das ist aber kaum bewusst. www.allianz-pros c h i e n e . d e / w p c o n t e n t / u p l o a d s / 2021/ 08/ 210818_PM_Erreichbarkeit_Grafik.pdf (Zugriff am 23.02.2023) 24 Wie verzerrt die Wahrnehmung ist zeigt sich, wenn mir selbst in Orten mit stündlicher Anbindung das Klischee begegnet, das außer Schulbussen kein ÖPNV existiere. 25 Fachlich korrekt müsste man von Bleiruten sprechen. 26 Bzw. nebeneinander, denn im Naumburger Dom konnte er in drei benachbarten Fenstern drei Szenen gestalten. 27 Vgl. den Abschnitt „Projektbegleitung und Stakeholdereinbindung“, in: SMA et al: Abschlussbericht 28-29 28 2018 hatten nur ca. 80% der 18-24-Jährigen einen Führerschein, 2010 waren es noch über 85 %. https: / / rp-online. de/ leben/ auto/ news/ fuehrerschein-immer-weniger-junge-leute-besitzen-eine-fahrerlaubnis_aid-38535651 (Zugriff 11.04.2023) 29 Vgl. www.ruhpolding.de/ mobilitaet-vor-ort (Zugriff 07.03.2023) 30 www.tagesschau.de/ wirtschaft/ personalmangel-bussebahnen-oepnv-101.html (Zugriff 07.01.2023) 31 Dass bedarfsentsprechend auch bedarfsweckend sein kann, zeigt der „Marburger Nachtstern“: Seit 2020 gibt es tägliche Abfahrten ab Marburg in jede Gemeinde des Landkreises ab 23.45, an Wochenenden z.T. um 0.45. Dieser Nachtstern entwickelt sich zum „Renner“ bei Kulturfreunden, Party- oder Theatergängern. 32 Wie in Biedenkopf, wo die Stadt mit viel Aufwand den Abriss eines (denkmalgeschützten) Güterschuppens ermöglichte, um direkten Übergang von Bahnsteig zu Bus zu ermöglichen; vgl. www.op-marburg.de/ lokales/ marburgbiedenkopf/ biedenkopf/ spatenstich-fuer-busbahnhof-inbiedenkopf-E3QE2K3JLEH3QRTAJGUZ7HHIKY.html sowie www.mittelhessen.de/ lokales/ kreis-marburg-biedenkopf/ biedenkopf/ endlich-gehts-los-spatenstich-fuerden-busbahnhof-1922276 (Zugriffe am 12.02.2023) 33 Das setzt natürlich voraus, dass in einem vom Verkehr abgetrennten Bereich ein Wechsel in den Linksverkehr erfolgt, wie im Stadtbahnverkehr mancherorts umgesetzt, vgl. www.kvc-kassel.de/ fileadmin/ kvg-pi/ dokumente/ Vellmar_Tram_3-Seiten_KVC.pdf (Zugriff 01.03.2023) 34 www.akbw.de/ baukultur/ beispielhaftes-bauen/ praemierte-objekte/ detailansicht/ objekt/ zentraler-omnibusbahnhof-2538 (Zugriff 01.03.2023) 35 vgl. z.B. www.marburg-biedenkopf.de/ Pressemitteilungen/ 2021/ september/ 537-2021-Bushaltestellen.php 36 Die Berater: [C. Kamphausen / J.Lunkenheimer]: Ergebnis- und Maßnahmenpapier. Mobilität im ländlichen Raum sichern. Marburg, 10.11.2015, S. 30-33. 37 Die Umstellung von Schulbus auf Linie ist nicht selten von Protesten begleitet, vgl. z. B. https: / / www.merkur.de/ lokales/ fuerstenfeldbruck/ eltern-protestieren-gegen-abschaffung-schulbusses-6099271.html (Zugriff 23.02.2023) 38 www.merkur.de/ lokales/ wolfratshausen/ muensinger-eltern-machen-mobil-3718949.html (Zugriff 23.02.2023) 39 Wie daraus ein Konflikt erwächst, ist z.B. im Landkreis Bautzen zu besichtigen gewesen, wo das Schulamt gegen einen Taktfahrplan votiert hat, weil er den Interessen der Schulen entgegen stand www.saechsische.de/ niesky/ lokales/ niesky-taktfahrplan-schuelerverkehr-schulenbuslinien-goerlitz-bildung-5791821-plus.html (Zugriff 07.01.2023) Marian Zachow Erster Kreisbeigeordneter, Vorstandsvorsitzender Regionaler Nahverkehrsverband Marburg- Biedenkopf, Marburg ZachowM@marburg-biedenkopf.de GREMIEN | IMPRESSUM Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 82 Erscheint im 75. Jahrgang Impressum Herausgeber Prof. Dr. Kay W. Axhausen Prof. Dr. Hartmut Fricke Prof. Dr. Hans Dietrich Haasis Prof. Dr. Sebastian Kummer Prof. Dr. Barbara Lenz Prof. Knut Ringat Verlag und Redaktion Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22 | D-72270 Baiersbronn Tel. +49 7449 91386.36 Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de www.trialog.de Verlagsleitung Dipl.-Ing. Christine Ziegler VDI Tel. +49 7449 91386.43 christine.ziegler@trialog.de Redaktionsleitung Eberhard Buhl, M. A. (verantwortlich) Tel. +49 7449 91386.44 eberhard.buhl@trialog.de Korrektorat: Ulla Grosch Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de dispo@trialog.de Gültig ist die Anzeigenpreisliste Nr. 60 vom 01.01.2023 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 service@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr mit International Transportation Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist vier Wochen vor Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Jahres-Bezugsgebühren Inland: Print EUR 225,00 / eJournal EUR 210,00 (inkl. MWSt.) Ausland: Print EUR 228,00 / eJournal EUR 210,00 (exkl. VAT) Einzelheft: EUR 39,00 (inkl. MWSt.) + Versand Das Abonnement-Paket enthält die jeweiligen Ausgaben als Print-Ausgabe oder eJournal mit dem Zugang zum Gesamtarchiv der Zeitschrift. Campus-/ Unternehmenslizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck Kössinger AG & Co. KG, Schierling, koessinger.de Herstellung Schmidt Media Design, München, schmidtmedia.com Titelbild Metro-Waggons in Istanbul (TR) Foto: istock Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Baiersbronn-Buhlbach ISSN 0020-9511 Herausgeberkreis Herausgeberbeirat Uta Maria Pfeiffer Abteilungsleiterin Mobilität und Logistik, Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI), Berlin Sebastian Belz Dipl.-Ing., Generalsekretär EPTS Foundation; Geschäftsführer econex verkehrsconsult GmbH, Wuppertal Gerd Aberle Dr. rer. pol. Dr. h.c., Professor emer. der Universität Gießen und Ehrenmitglied des Herausgeberbeirats Magnus Lamp Programmdirektor Verkehr Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Köln Uwe Clausen Univ.-Prof. Dr.-Ing., Institutsleiter, Institut für Transportlogistik, TU Dortmund & Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Vorsitzender, Fraunhofer Allianz Verkehr Florian Eck Dr., Geschäftsführer des Deutschen Verkehrsforums e.V., Berlin Michael Engel Dr., Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Fluggesellschaften e. V. (BDF), Berlin Alexander Eisenkopf Prof. Dr. rer. pol., ZEPPELIN-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Verkehrspolitik, Zeppelin University, Friedrichshafen Tom Reinhold Prof. Dr.-Ing., Geschäftsführer, traffiQ, Frankfurt am Main Ottmar Gast Dr., ehem. Vorsitzender des Beirats der Hamburg-Süd KG, Hamburg Barbara Lenz Prof. Dr., ehem. Direktorin Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin Knut Ringat Prof., Sprecher der Geschäftsführung der Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Hofheim am Taunus Detlev K. Suchanek Publisher/ COO, GRT Global Rail Academy and Media GmbH | PMC Media, Hamburg Wolfgang Stölzle Prof. Dr., Ordinarius, Universität St. Gallen, Leiter des Lehrstuhls für Logistikmanagement, St. Gallen Ute Jasper Dr. jur., Rechtsanwältin Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek, Düsseldorf Johann Dumser Director Global Marketing and Communications, Plasser & Theurer, Wien Matthias von Randow Hauptgeschäftsführer Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), Berlin Kay W. Axhausen Prof. Dr.-Ing., Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT), Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), Zürich Hartmut Fricke Prof. Dr.-Ing. habil., Leiter Institut für Luftfahrt und Logistik, TU Dresden Hans-Dietrich Haasis Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Maritime Wirtschaft und Logistik, Universität Bremen Sebastian Kummer Prof. Dr., Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik, Wien Peer Witten Prof. Dr., Vorsitzender der Logistik- Initiative Hamburg (LIHH), Mitglied des Aufsichtsrats der Otto Group Hamburg Oliver Wolff Hauptgeschäftsführer Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Köln Oliver Kraft Geschäftsführer, VoestAlpine BWG GmbH, Butzbach Ralf Nagel Ehem. Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Verbandes Deutscher Reeder (VDR), Hamburg Jan Ninnemann Prof. Dr., Studiengangsleiter Logistics Management, Hamburg School of Business Administration; Präsident der DVWG, Hamburg Ben Möbius Dr., Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie in Deutschland (VDB), Berlin Ullrich Martin Univ.-Prof. Dr.-Ing., Leiter Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Direktor Verkehrswissenschaftliches Institut, Universität Stuttgart DAS FACHMAGAZIN FÜR DIE JACKENTASCHE Lesen Sie Internationales Verkehrswesen und International Transportation lieber auf dem Bildschirm? Dann stellen Sie doch Ihr laufendes Abo einfach von der gedruckten Ausgabe auf ePaper um - eine E-Mail an service@trialog.de genügt. Oder Sie bestellen Ihr neues Abonnement gleich als E-Abo. Ihr Vorteil: Überall und auf jedem Tablet oder Bildschirm haben Sie Ihre Fachzeitschrift für Mobilität immer griffbereit. www.internationales-verkehrswesen.de/ abonnement Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 3 ePaper-EAZ_IV_TranCit.indd 3 11.11.2018 18: 27: 05 11.11.2018 18: 27: 05 2023 | Heft 2 Mai