Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
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www.internationales-verkehrswesen.de INFRASTRUKTUR Radverkehrsförderung 3.0 LOGISTIK Chinas nachhaltige Lieferkettenpraktiken MOBILITÄT Betriebliche Mobilitätsförderung TECHNOLOGIE Feinstaubemissionen von Oberleitungs-Lkw Infrastruktur anpassen, ausbauen, erneuern Heft 4 | November 2024 76. Jahrgang \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissen schaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissen schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikations wissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach wissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Alt philologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissen schaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft BUCHTIPP Friedrich Krüger Schall- und Erschütterungsschutz im Schienenverkehr Grundlagen der Schall- und Schwingungstechnik - Praxisorientierte Anwendung von Schall- und Erschütterungsschutzmaßnahmen 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2023 775 Seiten €[D] 168,00 ISBN 978-3-8169-3482-0 eISBN 978-3-8169-8482-5 expert verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de In diesem Buch wird der Gesamtkomplex der Entstehung, Ausbreitung und Minderung sowie der Messung und Bewertung von Erschütterungen, Körperschall und Luftschall bei Schienenbahnen behandelt. Dabei werden physikalische, technische und rechtliche Fragen einbezogen sowie Grundlagen der Fahrzeug- und Oberbautechnik dargestellt. Inhalt Einführung - Physikalische Grundlagen - Umgang mit Pegelwerten - Rechtsschutz der Anwohner vor Lärm und Erschütterungen des Schienennah- und Fernverkehrs - Messung und Bewertung von Schall und Erschütterungen - Schall- und Schwingungsanregung beim Schienenverkehr - Schall- und Schwingungsminderungen im Schienenverkehr - Besondere Geräusche in engen Gleisbögen - Grundlagen und Beispiele für Erschütterungs- und Schallminderungsmaßnahmen - Prüftechnik - Prognoseverfahren für Erschütterungen, Sekundär- und Primärluftschall - Grundlagen der Fahrzeug- und Fahrwegtechnik - Fahrkomfort - Begriffe, Normen und Datensammlung Ulrich Sandten-Ma Redaktionsleitung Liebe Leserinnen und Leser, ein bewegtes Jahr liegt hinter uns - für die Mobilitätsbranche und für uns als Redaktionsteam von Internationales Verkehrswesen. Vor einem Jahr haben wir die Verantwortung für diese traditionsreiche Zeitschrift übernommen, mit dem Anspruch, Ihnen aktuelle, tiefgehende und relevante Informationen rund um Verkehr und Mobilität zu bieten. Heute möchten wir die Gelegenheit nutzen, auf die vergangenen Monate zurückzublicken und Ihnen von Herzen für Ihre Treue und Unterstützung zu danken. Die Verkehrswelt steht vor großen Herausforderungen: Klimawandel, Digitalisierung und Urbanisierung treiben die Transformation des Sektors schneller voran als je zuvor. Diese Themen begleiten uns und unsere Autoren und Branchenexperten täglich, und wir bemühen uns, diese Entwicklungen für Sie kritisch zu hinterfragen und praxisorientiert aufzubereiten. Seit 2024 werden alle Fachbeiträge mit einer einmaligen DOI versehen und Autorinnen und Autoren können mit ihrer ORCID veröffentlichen. Darüber hinaus arbeiten wir mit Nachdruck daran, die Indexierung der Zeitschrift voranzutreiben, um die Sichtbarkeit weiter zu erhöhen. Sie haben unsere Arbeit mit großem Interesse und positiven Rückmeldungen begleitet. Dafür danken wir Ihnen! Ihre Anregungen und Ihr Vertrauen motivieren uns, weiter an spannenden Themen, Interviews und Fachbeiträgen zu arbeiten, die Ihren Arbeitsalltag bereichern und zukunftsweisende Perspektiven eröffnen. Auch für das nächste Jahr freuen wir uns über Beitragsvorschläge, positive und negative Erfahrungsberichte und Best-Practice-Beispiele. Wir bedanken uns auch bei unseren Herausgeberinnen und Herausgebern, bei unseren Beiratsmitgliedern sowie bei unseren Autorinnen und Autoren für die wunderbare Zusammenarbeit. Ihnen wünschen wir mit der letzten Ausgabe in diesem Jahr schöne Weihnachtstage und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Ihr Gemeinsam in Bewegung - danke, dass Sie uns begleiten U. Sandten-Ma © Lukas Wehner P. Sorg © Lukas Wehner Patrick Sorg Redaktion Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 3 DOI: 10.24053/ IV-2024-0052 EDITORIAL SEITE 44 Foto: © iStock.com/ metamorworks Foto: © Peter Pez SEITE 14 SEITE 6 Foto: © iStock.com/ ollo INFRASTRUKTUR 14 Radverkehrsförderung 3.0 - eine Zwischenbilanz Peter Pez, Antje Seidel 22 Quartiersgaragen als Lösung für die Parkproblematik in Bestandsquartieren? Ergebnisse eines Realexperimentes zur Parkplatzwahl Maike Puhe, Lukas Burger, Christof Hupfer, Andreas Rall 28 Mobilitätsstationen in der Schlei-Region Infrastruktur als Teil eines Mobilitätswende-Experiments Jens Gertsen, Cyrill Groddeck, Ferdinand Hülsbusch, Sarah Göbels 32 Rentable Wege in die E-Mobilität Timotheus Klein, Elias Dörre, Patrick Stoklosa 37 Weiße Bahninfrastruktur zur Reduktion des Urban-Heat-Island-Effekts Lasse Hansen, Rascho Aiso, Birgit Milius 40 18 neue Mobilitätsstationen für lebenswerte Quartiere Mehr Nachhaltigkeit und Lebensqualität in der Stadt: Wie Düsseldorf die Mobilitätswende in den Quartieren vorantreibt. Ariane Kersting, Nora Baisch POLITIK 6 Kommunalen Verkehrsinfrastruktur in Deutschland - schlechter Zustand und Investitionsrückstand Wulf-Holger Arndt, Stefan Schneider LOGISTIK 44 Chinas Führungsrolle bei nachhaltigen Lieferkettenpraktiken Dirk Ruppik Schlagen Sie einfach nach: Fach- und Wissenschafts-Artikel aus Internationales Verkehrswesen finden Sie ab dem Jahr 2000 online in der Beitragsübersicht auf der Archiv-Seite im Web. www.internationalesverkehrswesen.de/ archiv THEMEN, SCHLAGWORTE, AUTOREN, ... Aktuelle Themen, Termine und das umfangreiche Archiv finden Sie unter www.internationales-verkehrswesen.de Foto: © iStock.com/ metamorworks Foto: © Peter Pez SEITE 14 SEITE 44 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 4 SEITE 73 Foto: © Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, TU Darmstadt SEITE 46 Foto: © iStock.com/ ollo INHALT November 2024 MOBILITÄT 46 Investitionen im deutschen Bahnsektor Gesamtwirtschaftliche Bedeutung, internationaler Vergleich und Kapazitäten zur Umsetzung Stefanie Gäbler, Dennis Gaus, Anne Greinus, Manuela Kauder, Heike Link, Michel Zimmermann 50 Die Mobilitätswende am Best Practice Beispiel des Berliner Möckernkiez Dominik Buhl, Julia Jarass 54 Get2Work - Ein Pilotprojekt innovativer betrieblicher Mobilität Stefan Beller, Marcus Bentele, Alexander Eisenkopf, Jakob Hebart, Sebastian Scheler 59 Verkehrswende braucht (auch) Evaluation Aktuelle Schmerzpunkte und Wege zur Heilung Uwe Böhme, Juliane Haus, Melanie Herget, Michael Abraham, Volker Blees, Marie Wernecke 64 Nutzerorientierte Mobilität im Münsterland Erkenntnisse aus dem Projekt BüLaMo zur Bewertung alternativer Mobilitätskonzepte durch Bürger*innen Maren Klatt, Sabine Bertleff, Stefan Ladwig 70 Mit Mobilfunkdaten das ÖPNV-Angebot genauer planen Markus Mendetzki, Sebastian Heller TECHNOLOGIE 73 Bewertung der experimentellen Ermittlung von Feinstaubemissionen von Oberleitungs- Lkw Danny Wauri, Laurenz Bremer RUBRIKEN 03 Editorial 10 Kontrapunkt 12 Bericht aus Brüssel 79 Forum 82 Impressum Foto: © Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, TU Darmstadt Foto: © iStock.com/ ollo Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 5 stehenden Defizite und Problemlagen der betrachteten Infrastrukturbereiche spielen dabei als Ausgangslage eine wichtige Rolle. Die Ergebnisse sollen aber vor allem Politik, Verwaltung, Bauwirtschaft und ggf. weiteren Akteuren eine Orientierung für anstehende strategische Überlegungen und Richtungsentscheidungen geben. Als Ausgangsbasis wurden zunächst, erstmals seit Jahrzehnten, die Länge des V or diesem Hintergrund hat ein Konsortium aus dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, dem Verband der Deutschen Verkehrsunternehmen und dem ADAC das Difu beauftragt, den Umfang, Zustand und die Investitionsbedarfe des Verkehrsnetzes (mit Schwerpunkt auf kommunale Netze) vertieft zu eruieren 1 .Die Analyse sollte dabei den Blick nach vorn richten. Die bekommunalen Straßennetzes sowie der anderen Verkehrsnetze - und hier insbesondere die kommunalen ÖPNV-Netze - erfasst. Darüber hinaus wurden in der Studie Informationen zum Alter und zum baulichen Zustand dieser Verkehrsinfrastrukturen erhoben. Damit konnten Nachholbedarfe und zukünftige Investitionsbedarfe für den Erhalt der vorhandenen Infrastrukturausstattung und deren Erweiterung abgeschätzt werden. Kommunalen Verkehrsinfrastruktur in Deutschland - schlechter Zustand und Investitionsrückstand Verkehrsinfrastruktur, Straßenzustand, Investitionen, Verkehrsnetze, Brücken Der bauliche Zustand der kommunalen Infrastruktur verschlechtert sich seit vielen Jahren. Das betrifft neben Schulen und sozialen Einrichtungen auch die Verkehrsinfrastruktur. Mehr als die Hälfte aller Kommunen kann die notwendige laufende Straßenunterhaltung nicht sicherstellen. Das betrifft vor allem die Kommunen, die bereits einen hohen Investitionsstau bei den Straßen zu verzeichnen haben. Durch eine schnellere Abnutzung und Alterung der Infrastruktur wächst deren Ausfallrate exponentiell. Ähnliches gilt auch für die ÖPNV-Infrastruktur. So sind viele Tunnelstrecken der U-Bahnen und Stadtbahnen in einem schlechten Zustand. Die absehbar notwendig werdenden Erneuerungen dieser Anlagen sind mit einem sehr hohen finanziellen, stadtplanerischen und baulichen Aufwand verbunden, insbesondere, wenn dabei auch die Umgestaltung zu einem nachhaltigen Verkehrssystem gewährleistet werden soll. Wulf-Holger Arndt, Stefan Schneider DOI: 10.24053/ IV-2024-0053 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 6 Ein effektives Verkehrswegenetz ist eine zentrale Voraussetzung für das Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft. Der motorisierte Individual- und Güterverkehr verursacht heute jedoch rund ein Fünftel der durch Deutschland verursachten Treibhausgasemissionen. In der Vergangenheit wurden hier die Sektorziele verfehlt, obwohl das Klimaschutzgesetz des Bundes signifikante Einsparungen zwingend vorsah. Als Baulastträger stehen die Kommunen vor der großen Herausforderung, eine gut funktionierende Infrastruktur zu gewährleisten und gleichzeitig den Wandel zu einem nachhaltigen Verkehrssystem voranzutreiben. Angesichts des Umfangs der Aufgaben wird klar: Ohne eine kluge, zielgerichtete Priorisierung von Maßnahmen sowie ohne die Unterstützung der jeweiligen Länder und des Bundes wird es nicht gehen. Aus diesem Grund war von Beginn der Arbeit an klar, dass die Studie nicht bei einer reinen Fortschreibung der Infrastrukturbedarfe entlang konventioneller Schwerpunktsetzungen stehen bleiben durfte. Stattdessen wurde zusätzlich der bis 2030 zu erwartende Umbaubedarf im Sinne einer Verkehrswende aus bereits vorliegenden Schätzungen und Projektionen abgeleitet und zu einem Metaszenario verdichtet. Umfang kommunale Verkehrsnetze Der Umfang der Verkehrsinfrastruktur wurde anhand einer komplexen Auswertung von geographischen Informations- Systemen (ATKIS-Datenbank 2 , Open Street Map u. a.) vorgenommen. Dabei wurden insbesondere die Straßen in kommunaler Baulast summiert, die für den öffentlichen Kfz-Verkehr zugelassen sind. Darüber hinaus wurden andere Straßen wie landwirtschaftliche Wege, Reitwege, reine Fuß- oder Radwege, Fußgängerzonen, Privatstraßen in der Untersuchung zusätzlich separat betrachtet. Für einige spezielle Teile der Verkehrsinfrastruktur wie die U-Bahn-Netze wurden weitere Datenquellen genutzt oder eigene Erhebungen durchgeführt. Die Gesamtlänge der kommunalen Straßen hat demzufolge einen Umfang von knapp 714.000 km (s. Bild 1). Sie ist damit länger als in den meisten früheren Schätzungen und weitaus länger als die Netze von Bund (51.018 Kilometer) und Ländern (86.900 Kilometer). 3 Die Länge der Straßenbrücken in kommunaler Baulast beträgt rund 3.600 km und die der Straßentunnel knapp 1.400 km. Für die U-Bahn- und Straßenbahn-Netze wurde die Länge der Gleise betrachtet, nicht die der aufgrund mehrgleisiger Abschnitte entsprechend kürzeren Strecken. Die Länge der U-Bahn-Gleise beträgt rund 900 km und die der Straßenbahnen 6.320 km, davon verlaufen 451 km Gleise unterirdisch. Zustand der Verkehrsinfrastruktur in den Kommunen Über den Zustand der Straßen gab es bisher nur zusammenfassende Abschätzungen für Bundesfernstraßen, für einige Landesstraßennetze sowie frühere Erhebungen des Difu für einzelne Bundesländer. Aus diesem Grund wurden von Juli bis Dezember 2021 zusätzlich bundesweite Daten per Befragung erhoben, insbesondere zum Alter und Zustand der Verkehrsinfrastruktur. Insgesamt haben sich an dieser Befragung 407 Kommunen beteiligt. 4 Ein Drittel der Verkehrsstraßen ist nach Einschätzung der Kommunen in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand. Bei diesen besteht akuter Handlungsbedarf. Bei den Geh- und Radwegen sieht das Gesamtbild etwas besser aus. Die Ergebnisse zeigen, dass es den Kommunen zwar bei vielen älteren Verkehrsanlagen gelingt, sie in einer noch nutzbaren Verfassung zu halten. Bild 1: Netzlänge der Straßen in öffentlicher Baulasten 2021. Straßen in kommunaler Baulast ergeben sich aus Gemeindestraßen plus den Teilen der anderen Straßentypen, die in der Baulast von Kommunen sind. Bild 2: Zustand des kommunalen Straßennetzes 2021 Investitionsrückstand POLITIK DOI: 10.24053/ IV-2024-0053 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 7 Bezüglich des Zustandes des ÖPNV- Netzes sind die Werte ähnlich wie beim kommunalen Straßennetz. Nur etwa ein Drittel ist bei fast allen Verkehrsträgern in mindestens gutem Zustand. Die U-Bahn- Strecken weisen etwas bessere Werte auf mit gut der Hälfte im guten und sehr guten Zustand. Oberirdischen Straßenbahnstrecken haben den größten Streckenanteil in schlechtem und ungenügendem Zustand mit 22 Prozent. Ein Grund scheint auch hier die schlechte Finanzausstattung zu sein. Knapp die Hälfte der Verkehrsunternehmen weist auf ihre mangelhafte Finanzsituation hin. Investitionsrückstand und kommende Bedarfe Ausgehend von dem so beschriebenen Status quo addieren sich die für die betrachteten Infrastrukturbereiche ermittelten Investitionsbedarfe bis zum Jahr 2030 auf insgesamt rund 372 Mrd. Euro. Dabei entfällt der mit rund 283 Mrd. Euro deutlich größte Teil auf den Nachhol- und Ersatzbedarf bei der Straßenverkehrsinfrastruktur, wobei insbesondere die Ingenieurbauwerke, wie beispielsweise Tunnel und Brücken, in Ostdeutschland sowie Hauptverkehrsstra- Aber besonders in kleineren Kommunen sind die Straßen den Befragungsdaten zufolge seltener in einem sehr guten Zustand. Darüber hinaus ist fast jede zweite kommunale Straßenbrücke in keinem guten Zustand. Die Situation hat sich im Vergleich zu einer Studie des Difu im Jahr 2013 zu den kommunalen Brücken sogar noch etwas verschlechtert. Straßenbrücken sind häufig ein Nadelöhr im Verkehrssystem. Bei Ausfällen führt dies oft zu erheblichen Behinderungen und Umwegen für die Nutzenden und damit zu Zeitverlusten und individuellen Kosten. Außerdem geht mit Schäden an Brückenbauwerken auch ein höheres Sicherheitsrisiko einher. Die kommunalen Baulastträger haben dann oft keine andere Möglichkeit, als im Rahmen ihrer Verkehrssicherungspflicht das Befahren der Bauwerke zu beschränken. Entweder müssen starke Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Zufahrtbeschränkungen für schwere Fahrzeuge erlassen werden. Wie auch das jüngste Beispiel der Carolabrücke in Dresden zeigt, gelingt es den Kommunen offenbar nicht, die Zustandsverschlechterung aufzuhalten. Das ist ein Problem insbesondere mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des Verkehrssystems insgesamt. ßen im Westen der Republik im aktuellen Jahrzehnt ersetzt oder zumindest sehr umfassend saniert werden müssen. Zur Ermittlung dieser Werte wurde eine vom Difu ursprünglich für die Abschätzung von Investitionsbedarfen in Großstädten entwickelte Methodik angepasst und auf Deutschland insgesamt angewendet. Die Ergebnisse zeigen auch, dass bei den kommunalen Straßen und Wegen sowie den damit verbundenen Ingenieurbauwerken in den nächsten Jahren mit einem normativen Erweiterungsbedarf in Höhe von rund 20,5 Mrd. Euro zu rechnen ist. Der mit Abstand größte Teil entfällt auf den Süden Deutschlands, wo besonders viele Landkreise mit einer positiven Bevölkerungsprognose zu finden sind. Im Osten ist es insbesondere das Wachstum Berlins, das den Investitionsbedarf treibt. Bei der ÖPNV-Infrastruktur lässt sich der Nachhol- und Ersatzbedarf mit der gleichen Methodik wie bei der Straßenverkehrsinfrastruktur auf 64 Mrd. Euro bis zum Jahr 2030 beziffern. Der größte Teil der voraussichtlich erforderlichen Investitionen entfällt dabei auf U-Bahnsowie Stadt-/ Straßenbahnstrecken in Tunnellage. Ausschlaggebend sind dabei vor allem die besonders hohen spezifischen Baukosten, die für den Ersatz oder zumindest eine grundhafte Sanierung beispielsweise eines U-Bahn-Tunnels anfallen würden. Ebenfalls von besonderer Bedeutung sind Investitionen bei straßenbündigen Straßen- und Stadtbahnstrecken (einschließlich Strecken mit besonderem Bahnkörper) sowie bei den Bus-/ Straßen-/ Stadtbahnhaltestellen. Eine Erweiterung der ÖPNV-Infrastruktur führt im Zeitraum bis 2030 vor allem für U-Bahnsowie Stadt-/ Straßenbahnstrecken in Tunnellage zu größeren Investitionsbedarfen. Aber auch die in wachsenden Städten zusätzlich benötigten straßenbündigen Straßen-/ Stadtbahnstrecken erfordern entsprechende Investitionen. Insgesamt ergibt das Modell einen Erweiterungsbedarf von rund 4,5 Mrd. Euro. Im Vergleich zum ermittelten Erweiterungsbedarf bei der Straßeninfrastruktur und zu den anderen Bedarfskategorien ist das ein kleiner Wert. Vor dem Hintergrund der Entwicklung eines nachhaltigen Verkehrssystems gewinnt die Erweiterung der ÖPNV-Infrastruktur jedoch an Relevanz. Umbau zum nachhaltigen Verkehrssystem Gemäß den Studienergebnissen werden zumindest bis zum Zeithorizont 2030 nur wenige Verkehrsvermeidungspotenziale umsetzbar sein. Die mit der Verkehrswende angestrebten Effekte, insbesondere die Reduzierung von Emissionen, sollen vor allem durch die Verlagerung auf den ÖPNV und Bild 3: Zustand der kommunalen Brücken 2021 Bild 4: Zustand von kommunalen ÖPNV-Netzen 2021 POLITIK Investitionsrückstand DOI: 10.24053/ IV-2024-0053 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 8 die aktive Mobilität sowie durch die weitgehende Elektrifizierung des übrigen Verkehrs erreicht werden. Neben dem Ausbau des ÖPNV werden die wesentlichen Handlungsfelder zur Förderung einer nachhaltigen Mobilität deshalb in der Schaffung von Einrichtungen zur Ermöglichung von Multimodalität sowie in der Entwicklung der Ladeinfrastruktur gesehen. Diese Erkenntnisse basieren auf einer breit angelegten Auswertung von Fachbeiträgen mit Bezug zur Verkehrswende. Die Meta-Analyse hat gezeigt, dass bis zum Jahr 2030 in Abhängigkeit von den einbezogenen Ausgestaltungsoptionen zusätzliche Investitionen im Umfang von 39 bis 63 Mrd. Euro zur Realisierung der Verkehrswende erforderlich werden. Gleichzeitig scheinen Einsparungen bei Straßen und Stellplätzen (Ersatz, Erweiterung, Unterhaltung) in Höhe von 21 bis 63 Mrd. Euro denkbar. Bei konsequenter Umsetzung der im Verkehrswendediskurs besonders prominenten Maßnahmen könnten die Einsparungen die zusätzlichen Investitionen also zu einem großen Teil finanzieren. Die Verlagerung des Verkehrs auf andere Verkehrsträger erfordert jedoch darüber hinaus auch Investitionen an anderer Stelle, z. B. in Fahrzeuge des ÖPNV oder in die für die aktive Mobilität benötigten Fahrzeuge (z. B. E-Bikes). Die jeweiligen Akteure müssen über die Mittel für die erforderlichen Anschaffungen bzw. den Ausbau der eigenen Angebote verfügen, damit die Verkehrswende gelingt. Die Antriebswende und die verstärkte Nutzung der bereits heute elektrisch angetriebenen Fahrzeuge des ÖPNV setzen voraus, dass die Verkehrswende mit der Energiewende, d. h. mit dem Ausbau der Energieerzeugung durch erneuerbare Quellen, einhergeht. Auch in diesem Bereich sind erhebliche Investitionsbedarfe vorhanden oder absehbar, die auch die kommunalen Akteure betreffen (werden). Niedrigere Investitionen als bisher sind also keine Option. Die Herausforderungen sind jedoch strategisch planbar. Die Chance zum Umbau hin zu einem nachhaltigen Verkehrssystem besteht jetzt! ■ ENDNOTEN 1 Arndt, Wulf-Holger; Schnieder, Stefan: Investitionsbedarfe für ein nachhaltiges Verkehrssystem. Schwerpunkt kommunale Netze. Difu Impulse, 2023 https: / / difu.de/ publikationen/ 2023/ investitionsbedarfe-fuer-ein-nachhaltiges-verkehrssystem 2 ATKIS: Amtliches Topographisch-Kartographisches Informationssystem ist ein bundesweites Projekt der Arbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland (AdV). Mit der ATKIS wird die Topografie Deutschlands in einer geotopografischen Datenbasis beschrieben und in Form nutzungsorientierter digitaler Erdoberflächenmodelle bereitgestellt. 3 Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.) 2021: Verkehr in Zahlen 2021/ 2022, Kraftfahrt-Bundesamt, Flensburg 4 Die Antworten sind relativ gleichmäßig verteilt über Deutschland. Die ausgewerteten Fragebögen der Umfrage repräsentierten 15 Prozent der Bevölkerung von Städten und Gemeinden und 31 Prozent der Bevölkerung von (Land-)Kreisen. Bei der Fläche werden sieben Prozent der Städte und Gemeinden und 30 Prozent der (Land-)Kreise abgedeckt. Eingangsabbildung: © iStock.com/ ollo Wulf-Holger Arndt, Dr.-Ing., Leiter Forschungsbereich „Mobilität und Raum“, Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG), Technische Universität Berlin, Kaiserin-Augusta-Allee 104, KAI 3.2, 10553 Berlin wulf-holger.arndt@tu-berlin.de orcid.org/ 0000-0002-9190-5942 Stefan Schneider, Dr., Deutsches Institut für Urbanistik, Zimmerstr. 13-15, 10969 Berlin schneider@difu.de Bild 5: Normativer Investitionsbedarf als Referenz für strategische Szenarien Bild 6: Möglichkeitsfenster für Umbau durch ohnehin erforderliche Investitionen Bild 7: Angepasste Investitionsbedarfe im Meta-Szenario Investitionsrückstand POLITIK DOI: 10.24053/ IV-2024-0053 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 9 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 10 KONTRAPUNKT Alexander Eisenkopf DOI: 10.24053/ IV-2024-0054 Der Straßengüterverkehr wünscht sich einen „Nutzfahrzeuggipfel“ batterieelektrische Sattelzugmaschine heute schätzungsweise das Zweieinhalbfache eines konventionellen Fahrzeugs kostet, durchaus nachvollziehbar ist. Angemahnt werden auch Initiativen zum Ausbau der Ladeinfrastruktur und Überlegungen zu einem „Industriestrompreis“ auch für den Straßengüterverkehr, da man den optimistischen Strompreisprognosen der Politik offenbar nicht traut. Angeregt wird zudem ein „Nutzfahrzeuggipfel“, auf dem ähnlich wie auf den bereits zur ständigen Übung gewordenen „Autogipfeln“ die Probleme der Branche besprochen werden sollen. Vor ihrem geistigen Auge sehen die Verbandschefs sich wohl bereits mit den Vorständen der Lkw-Hersteller vor laufender Kamera in schweren Limousinen vor dem Kanzleramt vorfahren. In der Tat wird es mit dem Scharfschalten der Flottengrenzwerte bei absehbar unzulänglichem Ausbau der Ladeinfrastruktur einiges zu besprechen geben. Allerdings werden diese Runden nicht vergnügungssteuerpflichtig sein. Mit den Forderungen nach Fahrzeugsubventionen und einem Industriestrompreis für das Gewerbe macht sich der Straßengüterverkehr aber wie viele andere Branchen auf den Weg in eine staatsnahe, interventionistisch geprägte Vollkaskoökonomie. Wenn im Transformationsregime sowohl Produktionsmittel als auch deren Betrieb subventioniert und umfassend reguliert werden müssen, dürfte die Marktwirtschaft am Ende auf der Strecke bleiben. Die gewünschte Kungelrunde im Kanzleramt ist dann nur das Tüpfelchen auf dem i. ■ E ine der Sternstunden der EU war sicherlich die Etablierung des Europäischen Binnenmarktes und die damit verbundene Deregulierung des seitherigen wettbewerbspolitischen Ausnahmebereichs Verkehr. Die Liberalisierung des Schienen-, Straßengüter- und Luftverkehrs sowie der Binnenschifffahrt ab Mitte der 90er-Jahre machte den Weg frei für Markt- und Kundenorientierung, Kostensenkung und eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrssektors. Befreit vom Schraubstock staatlicher Regulierung setzte der Verkehrssektor starke positive Impulse für die Gesamtwirtschaft und damit für Wohlstand und Wachstum in Europa. Mit dem European Green Deal und seiner Umsetzung in den Mitgliedsstaaten wird jetzt wieder der Rückwärtsgang in Richtung Staatsnähe eingelegt. Unter der Maxime der Dekarbonisierung des Verkehrssektors definiert die Politik z. B. Marktanteilsziele einzelner Verkehrsträger oder macht strikte Vorgaben zu fahrleistungsbezogenen Emissionen der Fahrzeuge in Form von Flottengrenzwerten. Stets ist zu beobachten, dass die betroffenen Branchen sich kaum gegen solche Vorschriften wehren, schon allein um nicht als Gegner der in der Medienöffentlichkeit nahezu sakrosankten Klimapolitik zu gelten und anschließend in die Ecke der Klimaleugner gestellt zu werden. Aus unternehmerischer Sicht ist es zudem durchaus rational, den Ansagen der Politik ohne großen Widerspruch Folge zu leisten, wenn damit in der Folge das Versprechen staatlicher Alimentierung verknüpft ist. So ist es schlicht unvorstellbar, dass z. B. die Deutsche Bahn AG die derzeit utopischen politischen Marktanteilsziele für den Schienenverkehr in Frage stellen könnte, denn im Gegenzug locken gewaltige Subventionen und eine bevorzugte Behandlung. Aber auch traditionell deutlich staatsfernere Verkehrsbranchen wie der Straßengüterverkehr suchen die Annäherung. In der „Kommission Straßengüterverkehr“ haben die Verbandsvertreter bereits einmal das Kuscheln mit der Politik geübt. Der frühere, eher geschäftsmäßig artikulierte Widerstand gegen die CO 2 -Maut ist vergessen, der Transformationsprozess der Bundesregierung wird rückhaltlos unterstützt, und wichtig ist vor allem die Aufstockung der Förderprogramme z. B. zur Mautharmonisierung, die man angesichts der Fördertatbestände durchaus als Diskriminierung ausländischer Wettbewerber lesen könnte. Da diese „Peanuts“ schnell verdaut sind, geht es jetzt um die Wurst. Die Branchenverbände BGL, BWVL und DSLV haben jüngst in einem Brief an den Bundeswirtschaftsminister (nicht an den Bundesverkehrsminister! ) klar gemacht, dass die Antriebs- und Klimawende nicht zum Nulltarif zu haben ist. Es werden insbesondere auskömmliche Förderprogramme für „Zero Emission Vehicles“ gefordert, was angesichts der Tatsache, dass eine Prof. Dr. rer. pol. Alexander Eisenkopf zu aktuellen Themen der Verkehrsbranche BUCHTIPP expert verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Die alle zwei Jahre statt ndende, zweitägige Fachtagung mit begleitender Ausstellung dient dem interdisziplinären Erfahrungs- und Wissensaustausch von Forschern, Planern, Ausführenden, Eigentümern, Betreibern und der Bauwirtschaft zu neuen und innovativen Methoden, Verfahren und Technologien im Brückenbau. Im Vordergrund stehen innovative Vorgehensweisen, Methoden, Verfahren und Baustoffe sowohl für Neu- und Ersatzbau im bestehenden Verkehrsnetz als auch für Instandsetzung und Ertüchtigung des Bestands. Das vorliegende Tagungshandbuch enthält die vorab eingereichten Beiträge zu den Vorträgen und gibt einen Überblick über neue und innovative Methoden, Verfahren und Technologien zur Beurteilung, Planung, Bau, Instandhaltung und Betrieb von Brücken. Weitere Informationen unter: www.tae.de/ 50035 Matthias Müller (Hrsg.) 6. Brückenkolloquium Fachtagung über Beurteilung, Instandsetzung, Ertüchtigung und Ersatz von Brücken Tagungshandbuch 2024 1. Au age 2024, 578 Seiten €[D] 148,00 ISBN 978-3-381-13111-2 eISBN 978-3-381-13112-9 Die Europäer sind im Verteidigungsmodus D ie Frage, wie sich die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft schützen lässt, dominiert in Brüssel weiterhin die meisten Debatten. Auch solche, bei denen man das auf den ersten Blick nicht vermutet. Ein Beispiel mit Relevanz für die Logistikwirtschaft ist der von Deutschland initiierte Aufruf von sechs Mitgliedstaaten an die EU-Kommission, konsequenter dagegen vorzugehen, dass über große E-Commerce-Plattformen wie Temu und Shein täglich hunderttausende Pakete mit Waren in die EU verkauft werden, die nicht den EU-Normen entsprechen. Dass EU-Produktstandards für alle Waren im Binnenmarkt verbindlich sind, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Europäische Verbraucher sollten davon ausgehen können, dass schon allein zu ihrem Schutz kontrolliert wird, ob diese Standards eingehalten werden. Die sechs EU-Staaten begründen ihre Initiative aber nicht nur mit Verbraucherschutz, sondern explizit auch damit, dass sich die ausländischen Hersteller durch niedrigere Standards unfaire Vorteile gegenüber der EU-Konkurrenz verschaffen. Dazu kommt der Vorwurf, dass die Versender Lieferungen bewusst auf mehrere Pakete aufteilen, um unter der EU-Zollfreigrenze zu bleiben und damit weitere Kostenvorteile zu erlangen. Die Diskussion zeigt aber auch, wie schwer es im freien Welthandel ist, gegen solche Praktiken vorzugehen. Die Kommission soll zunächst Beweise für systematischen Missbrauch sammeln und dann mit dem Hebel des EU-Gesetzes für digitale Dienstleistungen (Digital Services Act - DSA) Temu und Co in die Pflicht nehmen, den Verkauf mangelhafter Produkte in die EU zu unterbinden, fordern die Mitgliedstaaten. Ob dieser Weg Erfolg hat, ist nicht garantiert. Sollten sich die Online-Plattformen weigern, Auflagen des DSA so umzusetzen wie die EU-Kommission das möchte, muss sich zeigen, welche Instrumente die Europäer haben, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Eine Diplomatin in Brüssel sagte, die EU wolle ihre Standards durchsetzen, aber keinen neuen großen Handelskonflikt vom Zaun brechen. Jahrzehntelang haben die Europäer und auch die anderen großen Industriestaaten sich zu der Überzeugung bekannt, dass möglichst freier Handel die Produktivität weltweit steigert und am Ende allen Volkswirtschaften Nutzen bringt. An dieser bisher ziemlich unumstößlich scheinenden Gewissheit zweifeln inzwischen aber offenbar einige Politiker. Es läuft nicht mehr so gut für die Europäer auf den Weltmärkten. Hohe Energiepreise und schwächelnde Innovationskraft werden als große Probleme genannt. Die EU-Staaten müssten diese aktiv angehen, kurzfristige Abhilfe ist hier aber nicht in Sicht. Lange eher verpönt, stehen stattdessen Industrie- und Subventionspolitik zur Stützung wichtiger Branchen wieder höher im Kurs. Dabei spielt allerdings auch eine Rolle, dass die globalen Konkurrenten nicht nur besser geworden sind, sondern auch zunehmend aggressiv auftreten und ihrerseits Instrumente wie Subventionen und Zölle nutzen. Beispiele sind hier etwa der Inflation Reduction Act der USA, die Drohungen des Präsidentschaftskandidaten Donald Trump mit höheren Zöllen für die EU-Automobilhersteller oder die Methoden, mit denen China zum Weltmarktführer bei Solarpaneelen geworden ist und dasselbe nun auch bei Elektrofahrzeugen versucht. Die EU tut sich schwer, darauf zu reagieren, wie die aktuelle Diskussion über Antisubventionszölle auf E-Autos aus China zeigt. Die Mitgliedstaaten sind sich nicht einig, in welchem Ausmaß sie sich von einem weitgehend ungehinderten Welthandel verabschieden und zu einer stärker an europäischen und nationalen Interessen orientierten Wirtschaftspolitik übergehen sollen. Viele neue Zölle im Welthandel würden sicher auch die Transportwirtschaft treffen. Mehr Industriepolitik und Subventionen innerhalb der EU können der Branche aber auch gefährlich werden. Denn dabei geht es immer auch um Standortpolitik und darum, welcher EU-Mitgliedstaat sich welche Subventionen leisten kann. Das hat das Potenzial, das Klima in der EU zu vergiften, wie sich bereits in der Zeit der extrem stark steigenden Energiepreise nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine gezeigt hat. Im schlimmsten Fall könnte industriepolitischer Streit einige Regierungen dazu bringen, zum Schutz der nationalen Wirtschaft sogar Freiheiten des EU-Binnenmarktes in Frage zu stellen. An Grenzkontrollen an EU- Binnengrenzen gewöhnen sich Bürger und Transportunternehmen ja derzeit gerade wieder. ■ Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 12 B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung DOI: 10.24053/ IV-2024-0055 schaft\Linguistik\Literaturgeschichte\Anglistik\Bauwesen\Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft\Tourismus\VWL\Maschinenbau\Politikwissenschaft\Elektrotechnik\Mathematik&Statistik\Management\Altphilologie \Sport\Gesundheit\Romanistik\Theologie\Kulturwissenschaften\Soziologie\Theaterwissenschaft\Geschichte\Spracherwerb\Philosophie\Medien-undKommunikationswissenschaft\Linguistik\Literaturgeschichte\Anglistik\Bauwesen\Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft\Tourismus\VWL\Maschinenbau\Politikwissenschaft\Elektrotechnik\Mathematik&Statistik\Management\Altphilologie\Sport\Gesundheit\Romanistik\Theologie\Kulturwissenschaften\Soziologie\Theaterwissenschaft\ Linguistik\Literaturgeschichte\Anglistik\Bauwesen\ Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft\Tourismus \VWL\Maschinenbau\Politikwissenschaft\Elektrotechnik\Mathematik&Statistik\Management\Altphilologie\Sport\Gesundheit\Romanistik\Theologie\Kulturwissenschaften\Soziologie\Theaterwissenschaft\Geschichte\Spracherwerb\Philosophie\Medien-undKommunikationswissenschaft\Linguistik\Literaturgeschichte\Anglistik\ Bauwesen\Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft Bauwesen\Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft schaft\Linguistik\Literaturgeschichte\Anglistik\Bauwesen\Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft\Tourismus\VWL\Maschinenbau\Politikwissenschaft\Elektrotechnik\Mathematik&Statistik\Management\Altphilologie \Sport\Gesundheit\Romanistik\Theologie\Kulturwissenschaften\Soziologie\Theaterwissenschaft\Geschichte\Spracherwerb\Philosophie\Medien-undKommunikationswissenschaft\Linguistik\Literaturgeschichte\Anglistik\Bauwesen\Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft\Tourismus\VWL\Maschinenbau\Politikwissenschaft\Elektrotechnik\Mathematik&Statistik\Management\Altphilologie\Sport\Gesundheit\Romanistik\Theologie\Kulturwissenschaften\Soziologie\Theaterwissenschaft\ Linguistik\Literaturgeschichte\Anglistik\Bauwesen\ Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft\Tourismus \VWL\Maschinenbau\Politikwissenschaft\Elektrotechnik\Mathematik&Statistik\Management\Altphilologie\Sport\Gesundheit\Romanistik\Theologie\Kulturwissenschaften\Soziologie\Theaterwissenschaft\Geschichte\Spracherwerb\Philosophie\Medien-undKommunikationswissenschaft\Linguistik\Literaturgeschichte\Anglistik\ Bauwesen\Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft Bauwesen\Fremdsprachendidaktik\DaF\Germanistik\Literaturwissenschaft\Rechtswissenschaft\HistorischeSprachwissenschaft\Slawistik\Skandinavistik\BWL\Wirtschaft BUCHT I P P Jürgen Krieger (Hrsg.) 2. Fachkongress Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur Fachtagung über Planung, Bau, Betrieb, Unterhalt, Rückbau von Brücken, Tunneln, Schienen, Straßen, Wasserwegen digital 2023, 295 Seiten €[D] 148,00 ISBN 978-3-8169-3554-4 eISBN 978-3-8169-8554-9 expert verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Der Fachkongress Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur (DigiTraVe) widmet sich dem Austausch aktueller Erkenntnisse aus Wissenschaft, Industrie und Praxis auf dem Gebiet der digitalen Transformation der Baubranche. Dabei werden sowohl Potenziale und Herausforderungen digitaler Technologien aufgezeigt als auch Konzepte zur Verknüpfung von (zukünftigen) digitalen Entwicklungen mit der Verkehrsinfrastruktur präsentiert. Die Gewährleistung von Sicherheit, Dauerhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit stehen im Fokus des ganzheitlichen Lebenszyklusmanagements von Verkehrsinfrastrukturen. Vor dem Hintergrund des Lebenszyklus (Planung, Bauausführung, Betrieb, Unterhalt, Rückbau) werden Technologien und Methoden der Digitalisierung und digitalen Transformation diskutiert. les und Verkehr (Förderlinie „Modellvorhaben Rad“), sollten die Projektpartner - die Leuphana Universität sowie der Landkreis Lüneburg - sowohl die notwendigen Datenerhebungen und -analysen durchführen als auch die Beseitigung der vorgefundenen Radverkehrshindernisse bzw. physischen und ordnungsrechtlichen Barrierestrukturen angehen. Die Arbeit im Projekt soll 2025 abgeschlossen sein. Mit Stand Frühsommer 2024 ziehen Autor und Autorin (Zwischen-) Bilanz. Wo steht das Projekt aktuell? Welche Barrieren verschiedenster Art konnten 2 021 startete das Projekt Radverkehrsförderung 3.0 (RVF3.0) mit dem Anspruch, die Durchlässigkeit und Sichtbarkeit des für alltägliches Radfahren nutzbaren Wegenetzes im Landkreis Lüneburg flächendeckend zu verbessern. Zu den Hintergründen und Zielen sowie den drei Projektschwerpunkten „Barrierefreiheit“, „analoge“ und „digitale Netztransparenz“ erschien bereits 2020 ein zweiteiliger Aufsatz im Internationalen Verkehrswesen (Jg. 72, H. 3 & 4). Ausgestattet mit Fördermitteln des Bundesministeriums für Digitadurch das Projekt sichtbar gemacht werden, und auf welchen Wegen kommt man vielleicht heute schon hindernisarm oder gar „barrierefrei“ an sein Ziel? Anhand dieser Fragen unterfüttert der vorliegende Beitrag die 2020 formulierten Aussagen mit aktuellen Forschungsergebnissen aus dem Projekt RVF3.0. RVF3.0 an der Leuphana - kein Weg zu weit, keine Hürde zu hoch Die bis zum aktuellen Zeitpunkt abgeschlossenen Erhebungen fanden zwischen Radverkehrsförderung 3.0 - eine Zwischenbilanz Radverkehr, Verkehrsplanung, Verkehrsmittelwahl Das Projekt Radverkehrsförderung 3.0 (RVF3.0) startete 2021 mit dem Anspruch, die Durchlässigkeit und Sichtbarkeit des für alltägliches Radfahren nutzbaren Wegenetzes im Landkreis Lüneburg flächendeckend zu verbessern. Mit Stand Frühsommer 2024 wird hier eine Zwischenbilanz gezogen. Peter Pez, Antje Seidel DOI: 10.24053/ IV-2024-0056 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 14 2021 und 2023 in den in Bild 1 orange, grün und hellblau unterlegten Gebieten sowie im Jahr 2018 im Gebiet der Hansestadt Lüneburg statt. Damit wurden inzwischen gut 85 % der Fläche des knapp 1.330 km² großen Landkreises Lüneburg durch das Projekt RVF3.0 und seinen Vorläufer auf Barrierestrukturen und den Zustand seiner radverkehrsrelevanten Infrastruktur untersucht; das noch offene, violette Teilgebiet folgt im Jahr 2024. Der Großteil der Erhebungsarbeiten wird durch Studierende der Leuphana im Rahmen von Projektseminaren geleistet, unterstützt durch studentische Hilfskräfte und die im Projekt tätige wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die Datenerhebung erfolgt nach einer jeweils 10-14-wöchigen inhaltlichen und methodischen Grundausbildung, und zwar in zwei Seminarclustern: Die Seminarausrichtung („Barrierefreiheit - RVF3.0“, Pez) befasst sich v. a. mit den physischen und ordnungsrechtlichen Radverkehrshemmnissen und Mängelstrukturen, auch als Mikrohindernisse bzw. Barrieren bezeichnet. Die im Rahmen der Felderhebung ermittelten Mikrohindernisse werden mit ihrer geographischen Position, einer Beschreibung der Gesamtsituation am jeweiligen Ort, mehreren Fotos und abgeleiteten Lösungsvorschlägen in einem webbasierten Melde-Tool dokumentiert, um die Daten anschließend an den Landkreis Lüneburg übermitteln zu können. Die zweite Projektgruppe („Lüneburg Maps“, Seidel) verfolgt die Erfassung des Ist-Zustands sowie der Attraktivität der radverkehrsrelevanten Infrastruktur wie Straßen, benutzungspflichtige und weitere Radwege sowie sonstige Wege mit verbindender Funktion. Die für die Erhebung und Dokumentation dieses Zustands geeignete Methodik wird seit 2019 gemeinsam mit Studierenden entwickelt, angewandt und kontinuierlich um neue Aspekte erweitert. Ziel ist es - ohne die im Barrieren-Seminar herausgeforderte normative Herangehensweise zur Verbesserung von Zuständen - für den aktuellen Zustand Rohdaten in größtmöglicher Detailtiefe zu erheben. Die Daten werden als Open Data in der OpenStreetMap-Datenbank (OSM) abgelegt und können bei Zustandsänderungen jederzeit auch von nicht am Projekt beteiligten Personen aktualisiert werden. Dies ermöglicht eine manuelle oder algorithmusbasierte Ableitung von Erkenntnissen (z. B. zu Zwecken der Radnetzplanung oder für die Verwendung in Navigationssystemen) auf Basis des jeweils aktuellen Zustands der Infrastruktur. Insgesamt wurden bis zum Ende der dritten (2023) und damit vorletzten der vier Erhebungsphasen 1.775 Mikrohindernis- Meldungen an den Landkreis übermittelt und 2.900 km Wege in der OSM mit radverkehrsrelevanten Informationen hinterlegt. Während sich das Netz der für die Zustandserhebung befahrenen Wege mit Verbindungsfunktion (Bild 1, pinkfarbene Linien) recht gleichmäßig über die bisher untersuchten Gebiete erstreckt und lediglich in den Siedlungsräumen dichter wird, deutet die Verteilung der Mikrohindernisse (gelbe Punkte in Bild 1) an, dass es zwar durchaus Hindernishäufungen innerhalb und im direkten Umfeld von Siedlungen gibt, dass zugleich aber auch in der Fläche und (wenig überraschend) vor allem entlang von Wegen mit verbindender Funktion zahlreiche Barrieren das Radfahren im Landkreis erschweren. Die Zahl der Mikrohindernisse ist deutlich höher und räumlich breiter gestreut als erwartet, bestätigt jedoch die bereits bei der Antragstellung zum Projekt formulierte Notwendigkeit, sich der Beseitigung von Radverkehrshindernissen im Sinne von Barrierefreiheit in der Fläche, also auch außerhalb von Siedlungsgebieten und klassifizierten Straßen, zu widmen. Das wesentliche Ziel der Datenerhebungen und -analysen ist es, auf Basis des dokumentierten Ist-Zustandes einen Soll- Zustand zu formulieren, der dem Projektpartner Landkreis Lüneburg und seinen Kommunen als Orientierung bzw. konkrete Handlungsempfehlung zum Zweck der Radverkehrsförderung dient. Diese Form der Public-Science-Partnership war ein wesentlicher Grund für die Bewilligung von Fördermitteln des Bundes für das Projekt Bild 1: Übersicht über die Erhebungsphasen im Projekt RVF3.0 und aktueller Stand der Erhebungen Radverkehrsförderung INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0056 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 15 für die Fördermittel des Bundes mit einer neuen strategischen Ausrichtung der Radverkehrspolitik innovativ positioniert hatten: Während die beträchtliche Zahl von Studierenden in ihren jeweiligen Untersuchungsarealen mit Eifer dabei waren und jedes Meldeblatt als Identifizierungs- und Lernerfolg betrachtet wurde, wirkte die auf diese Weise eruierte große Masse an Meldungen für die sehr kleine Zahl von Verwaltungsmitarbeitern auf kommunaler Ebene regelrecht erschlagend und damit frustrierend. Der Anreiz, sich anderen, kurzfristigeren und sichtbareren Erfolg versprechenden Aufgaben zu widmen oder mit solchen „eilbedingt“ von vorgesetzter Ebene beauftragt zu werden, war und ist groß. Schnell stellte sich ferner heraus, dass die Meldungsflut auf diese Weise auch inhaltlich nicht von der Verwaltung bzw. innerhalb der Projektzeit zu bewältigen ist und es musste ein Ingenieurbüro hinzugezogen werden, das viele der Maßnahmen baulich zu bewerten und auszuarbeiten hatte. Auch der Administrationsweg erwies sich als beträchtliche Hürde. Der Landkreis verwaltet die Gelder (80 % Förderquote für Maßnahmen), ist aber nicht nur auf kommunale Mitfinanzierung, sondern insbesondere auf das Maßnahmeneinvernehmen angewiesen. I. d. R. müssen dazu Bau-/ RVF3.0, in welchem die Leuphana die für die öffentliche Hand zumindest in der Fläche kaum leistbare Recherche- und Dokumentationstätigkeit sowie deren wissenschaftliche Auswertung übernimmt. Dass diese Art der „Arbeitsteilung“ den Projektpartner jedoch vor beinahe größere Herausforderungen stellen würde, als es die eigene Befassung mit den Radverkehrshindernissen vermocht hätte, wurde erst im Verlauf der engeren Zusammenarbeit zwischen Universität und Landkreis deutlich. Barrieren in der Administration - lästig, aber zu bewältigen Als lästig für das Projekt, aber letztlich noch das geringste Problem, stellte sich die Mittelbewirtschaftung dar, denn es fiel Universität wie Landkreis nicht leicht, die Arbeiten mit Erfassungsunterlagen zu dokumentieren, die auf große Bauprojekte geeicht waren und für die Verwendungsdokumentation einer sehr großen Zahl von Klein- und Kleinstmaßnahmen und erst recht deren wissenschaftliche Erhebung weitestgehend ungeeignet sind. Nicht erwartet, aber letztlich sehr bedeutsam waren psychologische Hemmnisse, obwohl sich die Universität (für die wissenschaftliche Recherche) und der Landkreis (für die infrastrukturelle Umsetzung) gemeinsam als Antragsteller Verkehrsamt, Verkehrsausschuss, Polizei, Straßenverkehrsbehörde u. a. beteiligt werden. Ein Landkreismitarbeiter meinte dazu etwas überspitzt, aber im Kern berechtigt, dass es eigentlich egal sei, ob man 10 km Radweg bzw. ein Fahrradparkhaus baue oder bloß an ein Gehwegschild (Z. 239) ein zusätzliches „Radverkehr frei“ (Z. 1022-10) schraube, der Beteiligungsmarathon sei der gleiche. Das sichtlich nachteilige mentale Aufwand-Leistung-Verhältnis schränkt die Wirkung der eigentlich verlockenden Fördergelder für einen Maßnahmenbereich, der zudem Pflichtaufgabe der Kommunen ist, spürbar ein. Im Projekt wurde versucht darauf zu reagieren, indem die Meldeblätter vor Weiterreichung nach fünf Ebenen sortiert wurden, um Übersichtlichkeit und Zugriff zu erleichtern (vgl. Bild 2): Maßgeblich für die Einordnung eines Falles in die jeweilige Ebene war die Wahrscheinlichkeit der Umsetzbarkeit der formulierten Maßnahmenvorschläge innerhalb des Projektrahmens von „leicht umsetzbar“ in Ebene 1 bis hin zu „nicht im Projektrahmen umsetzbar“ in Ebene 5. Maßnahmenvorschläge der Ebene 1 lassen sich mithilfe einfacher verkehrsrechtlicher Anordnungen oder kleinerer baulicher Maßnahmen umsetzen; sie ändern i. d. R. nichts Wesentliches an der Bild 2: Umsetzungsebenen im Projekt Radverkehrsförderung 3.0 (eigene Darstellung) INFRASTRUKTUR Radverkehrsförderung DOI: 10.24053/ IV-2024-0056 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 16 bestehenden verkehrsrechtlichen Situation (z. B. Austausch des StVO-Z 250 gegen StVO-Z 260 zur Legalisierung der implizit geduldeten, aber explizit verbotenen Nutzung eines Weges durch Radfahrende). Maßnahmenvorschläge der Ebene 2 kombinieren verkehrsrechtliche Anordnungen mit baulichen Maßnahmen oder ändern die verkehrsrechtliche Situation; sie sind insgesamt komplexer und bedingen eine umfangreichere Argumentation und ggf. Vor-Ort-Termine mit Mitspracheberechtigten (z. B. Freigabe von Einbahnstraßen für den Radverkehr in Gegenrichtung). In die Ebene 3 können Fälle eingeordnet werden, die zunächst als Verkehrsversuch umgesetzt und beforscht werden sollen. Ebene 4 umfasst Vorschläge, die voraussichtlich zu teuer oder aufgrund notwendiger Planungsverfahren zu langwierig sind, um sie innerhalb des Projektrahmens umzusetzen. Ebene 5 dient schließlich als eine Art Container für alle Maßnahmen, die z. B. bisher rechtlich nicht klar geregelt (z. B. die Anordnung von Piktogrammketten ohne Schutz-/ Radfahrstreifen) oder nicht Teil des Projektauftrags sind (insbes. Einrichtung straßenbegleitender Radinfrastruktur). Die Studierenden sollten bereits bei Erfassung der vorgefundenen Mikrohindernisse darauf achten, dass für die Lösung des jeweiligen Problems v. a. Vorschläge aus dem Bereich der Ebenen 1 und 2 angegeben werden, Ebene 1 macht knapp zwei Drittel, Ebene 2 ein Viertel aller Meldungen aus. Die Ebenen 3-5 sollten nur ergänzend genutzt werden oder in Fällen, bei denen sich die vorgefundenen Mängel nicht mit einfachen Maßnahmenvorschlägen der Ebenen 1/ 2 beheben lassen. Ebene 3 wurde bisher nicht genutzt; Meldungen aus den Ebenen 4 (8 %) und 5 (2 %) machen einen geringen Anteil aus. Alle Meldungen einer Ebene (inhaltliche Dimension) können für eine gesamte Gemeinde, für eine definierte Route oder für bestimmte Streckenabschnitte (räumliche Dimension) zusammengefasst betrachtet werden. Über die Beseitigung der Mikrohindernisse gelangt man zur Netzdurchlässigkeit, über die Etablierung von Wegweisungen zur Netztransparenz. Auf diese Weise kommt man zu „Radschönrouten“, d. h. sowohl städtisch (intralokal) als auch im ländlichen Raum (interlokal) zu einem Wegenetz abseits der Hauptverkehrsstraßen mit hoher Nutzungsattraktivität gleichermaßen für Alltags- und Freizeitverkehr. Die Herstellung von Barrierefreiheit entlang solcher Routen empfiehlt sich für eine Priorisierung. Die auf diese Weise deutlich reduzierbare Komplexität der an den Projektpartner gelieferten Datenflut kann helfen, die weitere Bearbeitung der gemeldeten Fälle auf Landkreisbzw. kommunaler Ebene zu erleichtern. Die größte Barriere für die Umsetzung wurde aber überhaupt nicht vorausgesehen und kristallisierte sich erst während der vielfältigen, projektbedingten Interaktionen zwischen Wissenschaftspersonal und kommunalen Akteuren heraus: Barrieren in den Köpfen - unüberwindbar? Die hohe Dichte der Kommunikationsprozesse rund um die studentische Ausbildung und die Verwertung der Ergebnisse erlaubte besonders intensive Einblicke, wie sie normalerweise zwischen den strukturell eher getrennt agierenden Institutionen nicht auftreten und sich auch kaum in qualitativen Interviews abbilden. Ein städtischer Mitarbeiter berichtete plastisch, wie er aus dem großen, schon in der Vorstudie 2018 erhobenen Mängelpool (347 Meldungen für Lüneburg) zehn Maßnahmenforderungen ausgesucht hatte, die aus seiner Sicht keine ernsthafte Umsetzungsproblematik erkennen ließen. Trotzdem ließ dies geradezu reflexhaft interne Widerstände im Sinne einer Bedenkensucherei (und -finderei) aufkeimen, sodass selbst die Absenkung von Bordsteinkanten zum Politikum geriet. Zwei Beispiele: Die Schaffung einer 3 km langen Nord- Süd-Radschönroute zwischen Stadtzentrum via Universität und einem südlichen Stadtteil scheitert an 10 cm zu wenig Breite einer 33 m langen Brücke über eine Bahnstrecke. Als Argument dient die von der ERA auf S. 27/ 28 [1] für gemeinsamen Fuß- und Radverkehr geforderte Wegbreite von 2,50 m, es seien nur 2,40 m im Brückenbereich. Die juristisch, planerisch und empirisch unterfütterte Entgegnung, die u. a. aufzeigt, dass die ERA-Vorgabe nur für die Wegneuanlage, nicht für Altbestand gilt und ferner nur für straßenbegleitende Wege Aussagen macht, nicht für den untersuchten Fall eines selbstständig geführten Weges (und hier auch noch einer Engstelle) blieb bislang ohne Reaktion. Während einer Ausbildungseinheit berichtete eine Mitarbeiterin der Straßenverkehrsbehörde von einer geplanten doppelten Umlaufsperre bei einem unbeschrankten Übergang einer für wenig Güter- und Sonderverkehr genutzten Bahnstrecke im letzten Untersuchungsgebiet. Auf den Hinweis, dass bei der entsprechenden Variante die für Lasten- und Kindertransporte genutzten An der Hochschule München ist an der Fakultät für Tourismus ab dem Wintersemester 2025/ 26 oder später folgende Stelle zu besetzen: Professur für Planung und Management von Infrastrukturen im Tourismus (W2) Kennziffer: BV 1450 Sie haben Ihre einschlägigen berufsspezifischen Kenntnisse und Erfahrungen in verantwortlicher Position oder Leitungsfunktion in öffentlichen und/ oder privaten Unternehmen, Betrieben, Organisationen oder Institutionen außerhalb des Hochschulbereichs erworben. Sie haben zudem durch Ihre bisherigen beruflichen Tätigkeiten idealerweise Erfahrung in möglichst vielen der folgenden Bereiche erworben: Planungsrecht, Projektleitung, internationale Kooperationen, innovative Beteiligungsformate und Mobilitätsdaten. Erfahren Sie mehr in der detaillierten Stellenausschreibung unter: https: / / stellen.hm.edu/ ywxge Bewerben Sie sich über unser Online-Portal bis zum 09.12.2024. Wir freuen uns darauf, Sie kennenzulernen! Anzeige Radverkehrsförderung INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0056 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 17 [5], wobei sich die Behebungen weitgehend auf die einfachste Stufe der o. g. Ebene 1 beschränken: der Umbeschilderung von Sackgassen in durchlässige Sackgassen (Z. 357-50). Es gibt aber einen Lichtblick - die (Samt-)Gemeinden rund um Lüneburg verhalten sich deutlich innovativer. Das stellt nicht nur die üblichen Vorstellungen der Innovations- und Diffusionstheorie auf den Kopf, auch die gängigen parteipolitischen Zuschreibungen bzgl. Radverkehrsfreundlichkeit und -reserviertheit verlieren auf der kommunalen Ebene ihre Gültigkeit. Barrieren im Raum und Wege drumherum Falsch bzw. nicht ausgewiesene (durchlässige oder auch echte) Sackgassen scheinen auf den ersten Blick unspektakulär für den Radverkehr zu sein. Jedoch machen diese Sackgassen zusammen mit absoluten Durchfahrtsverboten (StVO-Z. 250) im Landkreis Lüneburg fast ein Viertel aller Barrieremeldungen aus (Bild 3) - und dies ist gerade im ländlichen Raum ein gewichtiges Problem: Während eine nicht gekennzeichnete oder rechtlich nicht erlaubte Wegeabkürzung in der Stadt durch eine alternative Streckenführung noch relativ leicht kompensierbar ist, kann dies beim Navigieren im ländlichen Raum einen Umweg im Kilometerbereich nach sich ziehen. Die bisher 425 gemeldeten Fälle dieser Kategorie zu beheben, würde die Transparenz des nutzbaren Wegenetzes im Landkreis erheblich verbessern. Da bei einer falschen Sackgassenausweisung lediglich eine bestehende Beschilderung korrigiert werden muss und sich an der verkehrsviel. Das gilt ebenso für den allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass staatliche Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger erstens einer Rechtsgrundlage, zweitens eines Sachgrundes bedürfen und drittens der Eingriff verhältnismäßig sein muss. Spätestens an Letzterem lassen viele gefundene Barrieren für den Radverkehr (ver)zweifeln. Diese Erfahrung offenbart Grundprinzipien, die der politisch geäußerten Bereitschaft zur Stärkung des Radverkehrs diametral widersprechen. In der Planungspraxis genügt häufig schon der kleinste, unwahrscheinlichste Gefahreneinwand, um insbesondere aus Gründen der Verkehrssicherheit Veränderungsvorschläge abzulehnen - ohne eine Alternative zur Problemlösung anzubieten. Es entstehen sogar mit eben jenem Argument der Verkehrssicherheit stetig neue Hindernisse. Ausgerechnet für die Stadt Lüneburg, das dominierende Oberzentrum des Landkreises, ist nach drei Jahren Förderzeit zu konstatieren, dass das Projekt weder entscheidend zum Barriereabbau beizutragen vermochte noch Präventionswirkung zur Hindernisvermeidung entfaltete. Zwar unterzeichnete die 2021 gewählte Oberbürgermeisterin die Beteiligung am Projekt des Landkreises, Maßnahmen zur Implementierung der Grundgedanken von RVF3.0 innerhalb der eigenen Verwaltung blieben jedoch aus und in der Folge auch eine Veränderung der unter ihrem Vorgänger vor 30 Jahren eingeleiteten fahrradrestriktiven Grundeinstellung. So verwundert es nicht, wenn in einer ersten Evaluation der Vorstudie von 2018 nach vier Jahren in Lüneburg erst 20,5 % der festgestellten Mikromängel eine Behebung erfahren hatten Kastenräder kaum hindurch gelangen könnten und einen weiten Umweg fahren müssten, wurde die Maßnahme mit der potenziellen Lebensgefahr gerechtfertigt und dem Umstand, dass dort nach Auskunft lokaler Vertreter keine Radfahrer unterwegs seien - ohne dass hierfür jemals eine Zählung stattgefunden hätte. Diese beiden Ereignisse stehen stellvertretend für viele ihrer Art. Die ERA und auch die StVO bzw. VwV-StVO wird nicht als Förder-, sondern Verhinderungsinstrument für eine Protegierung des Radverkehrs gelesen und nur eine Stimme aus dem Kanon der bei einer Verkehrsschau beteiligten Akteure reicht meist schon aus, um restriktive Maßnahmen bis zum Ausschluss des Radverkehrs zu ergreifen bzw. beizubehalten. Genau besehen ist das nicht ERA- oder StVO-konform. Die ERA schreibt auf S. 80 vor, bauliche Restriktionen (u. a. im Falle von Bahnkreuzungen) „sind nur gerechtfertigt, wenn der angestrebte Zweck mit anderen Mitteln nicht erreichbar ist und die Folgen eines Verzichtes die Nachteile für die Radverkehrssicherheit übertreffen.“ [2] Und die StVO fordert im § 45 Abs. 9, Satz 1 und 3, eine Beschränkung des Einsatzes von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen auf zwingende Erforderlichkeit und Gefahrenlagen; auch § 39 Abs. 1 fordert eine Minimierung der Verkehrsreglementierungen [3] und konkretisiert damit im Verkehrsbereich Art. 2 Abs. 1 GG [4] - aber für den Radverkehr gilt die grundgesetzlich verbriefte Handlungsfreiheit augenscheinlich in der Praxis nicht Bild 3: Im Landkreis Lüneburg vorgefundene Arten von Mikrohindernissen (Stand Ende 2023), eigene Darstellung INFRASTRUKTUR Radverkehrsförderung DOI: 10.24053/ IV-2024-0056 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 18 schlüsselten Hindernisarten an, so fällt auf, dass, wenig überraschend, die zahlenmäßig bedeutsame Kategorie der falsch ausgewiesenen Sackgassen auf Ortslagen beschränkt ist. Überwiegend betrifft dies als echte Sackgassen beschilderte Wege, die für den Radverkehr jedoch durchlässig sind und häufig aus den Ortslagen hinaus auf attraktive Verbindungswege zu den Nachbarorten führen. Per StVO-Zeichen 250 mit einem Durchfahrtsverbot für alle Fahrzeuge (also auch Fahrräder) belegte Wege finden sich ebenfalls innerhalb von Ortslagen, z. B. an den Zufahrten zu Wohngebieten, die per Zusatzschild für Anlieger, aber nicht für den Radverkehr freigegeben sind. Sehr häufig sind aber auch Wald- und Feldwege außerorts de jure für die Durchfahrt gesperrt, womit (innerwie außerorts) potenziell hochrelevante Abkürzungen mit dem Rad nicht legal nutzbar sind. Diese Illegalität stellt ein typisches und nicht zu unterschätzendes Problem für Radfahrende im Straßenverkehr dar - real gilt die Beschilderung auch für den Radverkehr, obwohl dieser implizit nicht „mitgemeint“ ist. Da Radfahrende mangels konsistenter, den Radverkehr sensibel bedenkender Beschilderung diese implizite Absicht in die vorhandene Beschilderung hineininterpretieren (müssen), ist es nachvollziehbar, wenn sie sich auch von anderen ordnungsrechtlichen Anweisungen oft nicht angesprochen fühlen. Im Gegensatz zu den eben benannten ordnungsrechtlichen Barrieren und Wegweisungsmängeln, die das Radfahren eher „im Kopf “ betreffen, stellen Umlaufsperren flussen und jenseits davon „terra incognita“ vorherrscht, zeigen anschaulich die aus User-Daten verschiedener Apps generierten Heat Maps (z. B. von STADTRADELN oder Bike Citizens): So fährt laut diesen Daten ein Großteil Radelnder in Lüneburg innerhalb der Stadt entlang von stark befahrenen Hauptverkehrsstraßen mit unzureichender oder überlasteter Radverkehrsinfrastruktur, obwohl die Stadt zahlreiche ruhige, deutlich konfliktärmere und schnellere Alternativstrecken bietet. Diese Strecken sind jedoch nicht Teil des städtischen Wegweisungskonzepts und daher allenfalls Alteingesessenen oder Menschen bekannt, die sich bewusst auf die Suche nach Alternativstrecken machen. Eine Wegweisung, die neben den bisherigen Hauptrouten auf Radwegen entlang von Hauptstraßen auch die im Beitrag von 2020 vorgestellten „Radschönrouten“ berücksichtigt, könnte helfen, diese Strecken für Radelnde sichtbarer zu machen und durch eine stärkere Verteilung in der Fläche die Radwegeinfrastruktur an den Hauptstraßen zu entlasten. Im ländlichen Raum wird das Thema Wegweisung v. a. durch das Potenzial relevant, einen Teil des derzeit noch deutlich Pkw-dominierten Pendelverkehrs auf das Rad zu verlagern. Je sichtbarer das nutzbare Wegenetz und je informativer die (Kommunengrenzen übergreifende) Wegweisung ist, desto höher die Chance hierfür. Eine wesentliche Voraussetzung bleibt jedoch die Hindernisfreiheit dieser Wege. Schaut man sich in Bild 4 an einem beispielhaften Ausschnitt der Lüneburger Vororte Barendorf und Wendisch Evern die räumliche Verteilung der in Bild 3 aufgerechtlichen Situation vor Ort nichts ändert, gehören alle Fälle dieser Kategorie in die Umsetzungsebene 1 (Bild 2). Entsprechend einfach (und im Idealfall in einer einzigen verkehrsrechtlichen Anordnung bündelbar) ist die Beseitigung dieser Mängelkategorie. Gleiches gilt für die Durchfahrtverbote, bei denen i. d. R. schnell klar ist, dass die aktuelle Beschilderung ursprünglich allein für den motorisierten Verkehr gedacht war und einfach durch ein Verbot für Motorfahrzeuge (StVO-Z. 260) ersetzt werden kann. Ebenfalls in das Themenfeld Netztransparenz fällt das mit Abstand am häufigsten von den für das Projekt tätigen Studierenden dokumentierte Problem der Wegweisungsmängel, die etwas über ein Viertel aller gemeldeten Fälle ausmachen. Dies betrifft gänzlich fehlende Wegweisung (z. B. an Kreuzungen fahrradrelevanter Verbindungswege) oder auch fehlerhafte bzw. nicht vorhandene Kilometrierungen auf den Wegweisern. Die Bedeutung der analogen Wegweisung per Pfeil-, Tabellen- oder Zwischenwegweiser wird im Zeitalter der Navigations-Apps häufig unterschätzt, jedoch nutzen auch aktuell noch 67 % der Radreisenden unterwegs die vorhandene Wegweisung, wenn auch die Nutzung von Apps zunimmt.[6] Für die Zielgruppe des Projekts RVF3.0, also die Alltagsradelnden, erscheint das Thema analoge Wegweisung wie schon die Sackgassenproblematik auf den ersten Blick weniger relevant, geht es für diese Menschen doch v. a. um ihre täglichen, also - vermeintlich - bekannten Wege. Wie sehr jedoch die „eingefahrenen Wege im Kopf “, die Mental Maps, die Wahl des Weges beein- Bild 4: Räumliche Verteilung der Mikrohindernisse, Ausschnitt aus dem Erhebungsgebiet Radverkehrsförderung INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0056 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 19 ellen Mikrohindernisse auf diesen Wegen beseitigt werden. Hier soll seit März 2024 nun das eigens programmierte Web-Tool „rvf.online“ helfen, die entsprechenden Umsetzungsprozesse auf Landkreis- und kommunaler Ebene zu digitalisieren und zu beschleunigen. Über das Tool kann der gesamte Verwaltungsablauf von der ersten Sichtung einer Mikrohindernismeldung über den Einbezug zu beteiligender Instanzen bis zur Finanzierung der Maßnahme und der Archivierung der erstellten Dokumente abgewickelt werden. Die Visualisierung der Meldungen auf einer interaktiven Karte und in Listenform, die Kenntlichmachung der bereits abgearbeiteten Schritte im Prozess und letztlich das Erfolgserlebnis, ein Problem nach dem anderen sichtbar abhaken und ablegen zu können, sollen dazu beitragen, die Barrieren in den Köpfen der beteiligten Personen der administrativen Ebenen abzubauen. Bei nicht wenigen Personen rennt man mit dem neuen Werkzeug durchaus offene Türen ein, denn oft ist der Wille da, es fehlte bisher nur an geeigneten Wegen, den umfangreichen „Kleinkram“ an Problemen zu bewältigen. Quo vadis - und wo entlang? Während die bisherige Zwischenbilanz für den Bereich der Hansestadt Lüneburg alarmiert (wo die Defizite lange bekannt und deren Behebung längst hätte angegangen werden können und müssen), machen die Entwicklungen bei den Gemeinden des Landkreises Hoffnung, dass die Projektanforderungen des Fördermittelgebers bis zum Ende der Projektlaufzeit hinreichend erfüllt werden können. Jenseits dessen verhilft die OSM-basierte Erfassung der Wegestrukturen schon jetzt, quasi in Echtzeit der Eingabe, den Navigationssystemen zu einer Optimierung ihrer Wegweisung. Das gerade „scharf geschaltete“ Web-Tool „rvf.online“ verspricht ein stark beschleunigtes Abarbeiten der langen Liste von Mikrohindernissen. Und die Kombination aus beidem - das Wissen über das schon jetzt nutzbare Wegenetz sowie seine aktuell noch vorhandenen Problemstellen - ermöglicht eine zielgenaue Radverkehrsförderung in der Fläche, wie es der Projektantrag vorsah. Dennoch machen die Erfahrungen im Projekt deutlich, woran es in der Radverkehrsförderung nicht nur im Untersuchungsgebiet, sondern weithin in Deutschland, mangelt. Es sind anders, als die Akteure selbst angeben, nicht so sehr die rechtlichen Vorgaben, die sie zwängen, gegen Radfahrinteressen zu entscheiden, denn die Ermessensspielräume sind realiter erheblich. Verantwortlich ist vielmehr eine seitenverkehrte Imbalance in der Planungskultur: Trotz aller Bekundungen im politischen Bereich bis hin zu einzelnen Akteu- Nur mit hohem Kosten- und Planungsaufwand zu beheben und mit 6 % der gemeldeten Fälle selten bemängelt wurde bisher der Gesamtzustand von Wegen (Ebene 4). Gemeint sind hier i. d. R. ortsverbindende Wirtschaftswege, die durch eine attraktive, konfliktarme Umgebung führen, häufig Abkürzungen gegenüber den vorhandenen Radwegen von klassifizierten Straßen bieten und damit „Radschönrouten“-Potenzial hätten - wenn sie denn fahrradtauglich befestigt wären. V. a. im Erhebungsgebiet 2, südlich der B216, sowie im südlich und westlich von Lüneburg (Gebiet 3) sind unbefestigte Wirtschaftswege durch Wald und Feld die Regel, anders sieht dies in der stärker grundwasserbeeinflussten nördlichen Elbmarsch aus. Bereits eine stabil angelegte wassergebundene Decke könnte solche Wege bei durchschnittlichen bis guten Witterungsbedingungen und Tageslicht radverkehrsaffin machen. Allerdings würde der Umfang der notwendigen Maßnahmen den Projektrahmen deutlich sprengen oder eine Umsetzung nur erlauben, wenn am Ende der Maßnahmen für die Ebenen 1 und 2 noch genügend Geld „im Topf “ ist. Abzuwägen ist dabei auch die Umweltwirkung einer Wegebefestigung: Wie viel Fläche will oder sollte man versiegeln, um den Radverkehr zu fördern? Potenzielle Konflikte in diesem Abwägungsprozess sind nicht zu unterschätzen. Deutlich weniger aufwändig wiederum sind kleinere bauliche Maßnahmen wie die Absenkung von Bordsteinen oder die Nivellierung kleiner Stufen im Wegenetz; 3 % der Meldungen betreffen diese meist in Ortslagen vorkommenden Hindernisse, die sich i. d. R. als Maßnahme der Ebene 1 gut beseitigen lassen. Gleiches gilt für Probleme wie Wurzelaufwürfe, Risse, Schlaglöcher und andere Unebenheiten, die am ehesten straßenbegleitende Radwege entlang von Hauptverkehrsachsen betreffen. Insgesamt ist, trotz der oben beschriebenen Mängel im Wege- oder Erhaltungszustand, die Gesamtlänge des Netzes der mit dem Rad nutzbaren Wege höher als angenommen. Im Landkreis Lüneburg ist fast das komplette bisher befahrene Netz von Wegen mit Verbindungsfunktion grundsätzlich physisch befahrbar, d. h. ohne abzusteigen und mit einem durchschnittlichen Fahrrad nutzbar. Wertet man alle im Rahmen der Zustandserhebung in der OSM erfassten Daten unter Einbezug von Attributen wie Oberflächenbelag und -zustand, Beleuchtung, Wegbreite, Attraktivität der Strecke und weitere Eigenschaften gebündelt und gewichtet mittels einer sogenannten Multi-Criteria-Analyse aus, zeigen rund 1.300 km der Wege im Landkreis eine überdurchschnittlich hohe Eignung für das Radfahren. Damit diese bereits jetzt gut nutzbaren Wege wirklich durchgängig befahren werden können, müssen jedoch die punktu- und zu eng gesetzte Steckpfosten sowie auch Schranken, Tore und weitere Barrieren mit oder ohne Umfahrungsmöglichkeit, zusammen 16 % der dokumentierten Fälle, ein echtes physisches Problem dar, mit dem der Radverkehr deutlich ausgebremst, wenn nicht gar auf bestimmten Wegen komplett unmöglich gemacht wird. Umlaufsperren sind ein typisches Ortslagenproblem: sie finden sich häufig an Schulen, an Auffahrten zu stark verkehrsbelasteten Straßen, aber auch - und hier meist wirklich unnötig - in verkehrsberuhigten Wohnstraßen (wie z. B. im südöstlichen und nordwestlichen Barendorf), wo hinterfragt werden muss, warum der Radverkehr und nicht der Kfz-Verkehr hier ausgebremst wird (selbst letzteres ist oft unnötig, wenn dieser in Verkehrsberuhigten Bereichen ohnehin nur Schrittgeschwindigkeit fahren darf). Ein wesentliches Merkmal der im Projektrahmen dokumentierten Umlaufsperren ist zudem ihre oft fehlende ERA-Konformität: z. B. zu schmale Durchfahrtsbreiten (deutlich unter den geforderten 1,5 m), fehlende Rot-Weiß-Sicherheitsmarkierungen oder überlappende Flügel. Hier wie auch bei zu eng gesetzten Steckpfosten und anderen Barrieren zumindest die Durchfahrtsbzw. Umfahrungsbreiten so zu vergrößern, dass der Radverkehr in seiner gesamten „Breite“ auch von Lastenrädern und Anhängern das Hindernis, ohne abzusteigen, passieren kann, würde die Netzdurchlässigkeit spürbar verbessern und die realisierbaren Reisegeschwindigkeiten deutlich erhöhen. Ein im Vergleich zu diesen physischen Hindernissen zahlenmäßig eher nicht so häufiges Problem sind die im Landkreis Lüneburg nicht für den Radverkehr in Gegenrichtung freigegebenen Einbahnstraßen. Einbahnregelungen finden sich am ehesten in dicht bebauten Stadtteilen. Die nicht freigegebenen Einbahnstraßen machen nur 3 % der gemeldeten Fälle aus, der Großteil davon im Stadtgebiet von Lüneburg sowie einige wenige Fälle in Dahlenburg und Bleckede; eng damit verbunden sind auch Abbiegegebote bzw. -verbote. Mit einer absoluten Zahl von 90 Meldungen dieser Art sind auch diese Mängel dennoch nicht zu vernachlässigen, wenn eine flächendeckende Netzdurchlässigkeit erreicht werden soll. Einbahnstraßen und Abbiegeverbote sowie Umlaufsperren, Schranken und zu eng gesetzte Steckpfosten sind komplexere Hindernisse, für deren Beseitigung es häufig eine nochmalige Verkehrsschau oder Vor-Ort-Begutachtung mit behördlichen Verantwortlichen und der örtlichen Polizei braucht. Entsprechend werden diese Fälle in die Umsetzungsebene 2 eingeordnet. Sie sind damit wie die Fälle aus Ebene 1 ebenfalls im Projektrahmen umsetzbar, wenn auch mit etwas höherem Organisationsaufwand. INFRASTRUKTUR Radverkehrsförderung DOI: 10.24053/ IV-2024-0056 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 20 kehrswesen war in dieser Hinsicht wegweisend, bedarf aber des Ausbaus, denn die klassische Verkehrsplanungslehre wird den Bedarfen einer neuen Radverkehrsförderebene 3.0 nicht gerecht. Eine revidierte Ausbildung im Verkehrswesen erreicht nicht jene Akteure, die sich bereits im Beruf oder in politischer Verantwortung befinden. Die angesprochenen Kenntnisdefizite müssen auch in diesem Metier abgebaut werden, um deutlich schneller und in absehbarer Zeit im nichtmotorisierten Bereich eine Mobilitätswende wirksam einleiten zu können. Aktuelle Überlegungen der Leuphana-Arbeitsgruppe RVF3.0 gehen deshalb in die Richtung, ein Weiterbildungsangebot zu kreieren, das sich nicht nur an Verkehrsplaner/ innen wendet, sondern an alle Beteiligte, die im Rahmen von Verkehrsausschüssen und Verkehrsschauen mit der Materie zu tun haben, z. B. also auch Kommunalpolitik, Polizei und Verbände. Das Wirken fahrradaffiner (Ober-)Bürgermeister/ innen zugunsten der Entwicklung von Fahrradfreundlichkeit ihrer Kommunen zeigt, dass top down vieles geht. Besser wäre es aber, wenn sich im Prozess der Generierung einer effektiven und flächendeckenden Förderung des nichtmotorisierten Verkehrs im Zuge der drei eben genannten Handlungsfelder eine neue Planungskultur bottom-up entwickelt und damit auch Permanenz/ Nachhaltigkeit verspricht. ■ LITERATUR [1] und [2] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), Arbeitsgruppe Straßenentwurf 2010: Empfehlungen für Radverkehrsanlagen ERA. Köln. [3] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Straßenverkehrs-Ordnung, Stand 20.9.2022. [4] Deutscher Bundestag: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stand 19.12.2022. [5] Nissen, Luisa 2022: Neue Wege in der Radverkehrsförderung? Eine Evaluation der universitären Mängelstudie von 2018, untersucht an vier Lüneburger Stadtteilen. Buxtehude. (unveröff. Bachelorarbeit) [6] ADFC 2021: Radreiseanalyse, Präsentation, Folie 18, Download über https: / / www.adfc.de/ artikel/ adfc-radreiseanalyse-2021 (abgerufen am 28.4.2024). [7] Dies bestätigen auch Stein, Thomas / Klein, Tobias / Lindner, Sandra (Dt. Institut f. Urbanistik) 2022: Was hemmt die Umsetzung der kommunalen Radverkehrsplanung? Erste Ergebnisse aus dem laufenden BMBF-Forschungsprojekt „KoRa - Beseitigung von Umsetzungshemmnissen in der kommunalen Radverkehrsplanung - soziotechnische Innovationen und kommunale Steuerungsmöglichkeiten“. Berlin. Hier: S. 21-22. Eingangsabbildung: © Peter Pez ren, die Mobilitätswende zu befürworten und mitgestalten zu wollen, werden restriktive Maßnahmen für den Autoverkehr weitgehend blockiert, aber im Radverkehr beibehalten und sogar ausgebaut. Beides ist zu erklären mit einer tief verwurzelten, Initiativen und Innovationen lähmenden Lethargie sowie auch Angst auf allen Ebenen, d. h. von der Verwaltungsspitze bis zu den Sachbearbeitern - Angst vor etwaigen Fehlern und dem Risiko, dafür verwaltungsintern oder in der Lokalpresse zur Verantwortung gezogen zu werden. Auf diese Weise gelingt nicht einmal bei Mikromängeln, deren Beseitigung wenig Aufwand (häufig nur Tausch, Ergänzung oder Abbau von Schildern) erfordert, die den Autoverkehr nicht beeinträchtigen und für deren geringe Kosten auch noch 80 % Fördermittel locken, ein Durchbruch, was notwendige Basis einer Mobilitätswende pro Fahrrad wäre. Dies zeigt im Umkehrschluss aber auch, weshalb es in der Vergangenheit immer wieder (bzw. nur) einzelnen Kommunen gelang, sich fahrradfreundlich zu positionieren - wenn nämlich die Verwaltungsspitze und Politik eine dezidierte Radverkehrsförderung einforderten und dafür die Verantwortung übernahmen. Das verbleibende Riesendefizit zeigt, dass das vom vormaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer im April 2021 ausgerufene Ziel, Deutschland solle und bzw. könne Fahrradland werden, tatsächlich in sehr weiter Ferne liegt. „Fahrradautobahnen“ (Radschnellwege) werden uns angesichts der frappierenden Mängel in der Fläche diesem Ziel leider nicht schnell näherbringen. Was also tun? Auch wenn die bisherigen Erfahrungen teilweise unbefriedigend sind, hat das Projekt RVF3.0 wesentlich dazu beigetragen, überhaupt erst Aufmerksamkeit für die Vielzahl der Mikromängel, den Bedarf flächenwirksamer Radverkehrsförderung und das Potenzial von Radschönrouten abseits der Hauptverkehrswege zu wecken. Da Fördermittel ansonsten nur für große Bauprojekte zur Verfügung stehen, ergibt sich hieraus der dringende Bedarf zur Weiterführung und Verstetigung eines solchen Förderinstrumentes zur Eruierung und zum Abbau von Barrieren sowie dem Auf bau von umfassender analoger und digitaler Netztransparenz. Auch wenn zugunsten von Fuß- und Radverkehr durchaus noch gesetzlicher Nachholbedarf besteht, zeigen die Erfahrungen, dass eklatante Wissens- und Interpretationsdefizite bzgl. der längst vorhandenen Möglichkeiten und Ermessensspielräume zur Radverkehrsförderung bedeutsamer sind. [7] Der Schritt zur Etablierung von Fahrradprofessuren zur Reform der Hochschullehre im Ver- Peter Pez, apl. Prof. Dr., Institut für Stadt- und Kulturraumforschung, Leuphana Universität Lüneburg peter.pez@leuphana.de Antje Seidel, Dr., Institut für Stadt- und Kulturraumforschung, Leuphana Universität Lüneburg antje.seidel@leuphana.de Radverkehrsförderung INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0056 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 21 [3]. Dies zeigt sich u.a. durch entsprechende Investitionen in den Ausbau der Fuß-, Rad- und ÖV-Infrastruktur sowie Forderungen, das öffentliche Stellplatzangebot für Kraftfahrzeuge zugunsten von Aufenthaltsqualität, Klimaanpassung oder sogar Wohnflächen zu reduzieren [4]. Allerdings, so Kunst (2015), gibt es seitens der Verkehrsplanung keine Klarheit über den angestrebten Grad des Zurückdrängens. Aus seiner Sicht erscheint eine völlige Abkehr vom Pkw angesichts heutiger Stadtstrukturen und etablierter Mobilitätsbedürfnisse jedenfalls utopisch [2]. Umso wichtiger ist es, die sozialen und normativen Möglichkeits- Einleitung Im Jahr 2023 waren in Deutschland so viele Pkw zugelassen wie noch nie: auf knapp 84,6 Millionen Menschen kamen zum 01.01.2024 49,1 Millionen Pkw [1]. Gleichzeitig bemühen sich viele Kommunen, den öffentlichen Raum gerechter unter den verschiedenen Verkehrsteilnehmenden zu verteilen. Laut Kunst (2015) herrscht in Fachkreisen weitgehend Einigkeit darüber, dass in inneren Stadtlagen der Pkw zugunsten einer stadtverträglicheren Gestaltung zurückgedrängt werden müsse [2]. Auch der Deutsche Städtetag plädiert in seinem Positionspapier für mehr Platz für den Fuß- und Radverkehr bedingungen dieses Zurückdrängens besser zu verstehen. Während der Ausbau der Rad- und ÖV- Infrastruktur in den meisten Fällen auf Zustimmung stößt, stehen insbesondere Autofahrer und Autofahrerinnen einer restriktiveren Parkpolitik eher kritisch gegenüber [5, 6]. In diesem Sinne erscheint es nicht verwunderlich, dass die Agora Verkehrswende das Parken als „eines der brennendsten Themen der Verkehrspolitik“ bezeichnet [4]. Im Zuge dieser Debatte wird immer wieder angeführt, dass sich der Parkdruck in Innenstädten reduzieren ließe, wenn die Quartiersgaragen als Lösung für die Parkproblematik in Bestandsquartieren? Ergebnisse eines Realexperimentes zur Parkplatzwahl Parken, Quartiersgarage, Realexperiment, Pkw, Tiefgarage, Karlsruhe Wir stellen die Ergebnisse eines dreimonatigen Realexperimentes vor, bei dem wir 44 Bewohner*innen aus der Karlsruher Südstadt einen wohnortnahen Tiefgaragenstellplatz finanziert haben. Im Gegenzug haben die Teilnehmenden ihre Erfahrungen und Eindrücke aus dieser Zeit mit uns geteilt. So wurden sie vorab zu ihrem typischen Verkehrsverhalten befragt, als auch dreimal während der Projektphase sowie ein weiteres Mal zum Abschluss persönlich interviewt. In den Interviews berichten die Teilnehmenden von ihren Parkstrategien, Motiven und Verhaltensänderungen. Ziel war es herauszufinden, unter welchen Bedingungen Menschen existierende Tiefgaragenplätze in Bestandsquartieren nutzen. In dem Beitrag geben wir Einblicke in die Sozio-Demographie der Teilnehmenden und konzentrieren uns auf die Frage, welche Motive die Teilnehmenden bei der Parkplatzwahl leiten. Maike Puhe, Lukas Burger, Christof Hupfer, Andreas Rall DOI: 10.24053/ IV-2024-0057 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 22 vorhandenen privaten Stellplätze (z. B. in Tiefgaragen) auch tatsächlich genutzt würden [7, 8]. Die Agora Verkehrswende (2022) beziffert am Beispiel der Stadt Stuttgart, dass Tiefgaragen selbst in Spitzenzeiten nur etwa zur Hälfte ausgelastet sind [4]. Scheiner et al. (2020) ermitteln mithilfe einer Haushaltsbefragung die Verfügbarkeit von und die Entfernung zu privaten Parkplätzen und öffentlichen Stellflächen in einem Dortmunder Bestandsquartier. Sie gehen davon aus, dass sich das Falschparken in dem Gebiet halbieren ließe, wenn die vorhandenen privaten Stellplatzkapazitäten vollumfänglich ausgeschöpft würden [9]. Bisher ist allerdings unklar geblieben, wann bzw. unter welchen Bedingungen Menschen dazu bereit sind, die verfügbaren Stellflächen im privaten bzw. halböffentlichen Raum auch tatsächlich zu nutzen. Dafür ist es wichtig, sowohl die Gründe zu verstehen, die Menschen davon abhalten, private Stellflächen zu nutzen als auch die Bedingungen, unter denen Menschen diese nutzen. Vorhandene Studien zur Ermittlung der parkplatzbezogenen Beweggründe greifen meist auf so genannte Stated Choice Befragungen zurück [10-14]. Entsprechende Ansätze unterscheiden zwischen verschiedenen Parkoptionen (z. B. Straßenrand, Tiefgarage) und einer begrenzten Menge an charakterisierenden Ausprägungen; in der Regel sind dies Parkgebühren, Zu- und Abgangszeiten sowie die Park-Suchdauer. Die Befragten werden dann gebeten, sich für eine Option zu entscheiden. Aus methodischer Sicht ist dieses Vorgehen allerdings mit Schwierigkeiten verbunden, da die Befragten mit hypothetischen Situationen konfrontiert werden, die sich in der Realität ganz anders darstellen können. Insbesondere die begrenzte und darüber hinaus noch von den Forschenden gerahmte Auswahl an Attributen kann dabei zu systematischen Verzerrungen führen. So ist beim Parken davon auszugehen, dass die tatsächliche Wahl von einer Vielzahl situationsspezifischer Kontextfaktoren abhängt (z. B. Müdigkeit, Kinder oder Gepäck dabei, Wetter), die sich in dieser Vielzahl in Stated Choice Befragungen nicht adäquat unterbringen lassen. Vor diesem Hintergrund haben wir von November 2023 bis Januar 2024 ein Realexperiment durchgeführt, bei dem wir insgesamt 44 Bewohner*innen der Karlsruher Südstadt für drei Monate einen wohnortnahen Tiefgaragenstellplatz finanziert haben. Ziel der Untersuchung war es, mehr über die Beweggründe beim Parken herauszufinden und Hinweise zu erlangen, für wen und unter welchen Bedingungen das Parken in einer privaten oder halböffentlichen Quartiersgarage eine Option darstellen kann. In diesem Beitrag möchten wir die verschiedenen Parkstrategien der Teilnehmenden während des Experimentes herausarbeiten und auf die Frage eingehen, welche Verhaltensdynamiken durch die Intervention zu beobachten waren. Der Untersuchungsraum Die empirische Untersuchung begrenzte sich auf die Karlsruher Südstadt. Die Südstadt ist ein lebendiger Stadtteil, der zentral zwischen der östlichen Innenstadt und dem Hauptbahnhof liegt. Entsprechend gut ist sie an den öffentlichen Nahverkehr und das Radverkehrsnetz angeschlossen. Sozialräumlich zeichnet sich die Südstadt durch eine soziale Heterogenität aus, in der sowohl gut ausgebildete und akademisch gebildete Arbeitnehmer*innen als auch von ökonomischer Benachteiligung betroffene Menschen leben. Insgesamt handelt es sich bei der Karlsruher Südstadt um ein mehr oder weniger typisches, von Gentrifizierung betroffenes Innenstadtviertel, wie es in den meisten europäischen Großstädten vorzufinden ist. Der Parkdruck innerhalb der Südstadt wird von den Teilnehmenden als sehr hoch empfunden. Parkraumbewirtschaftungsmaßnahmen, beispielsweise in Form von gebührenpflichtigen Bewohnerparkausweisen, sind nicht vorhanden. In dem Gebiet wird überwiegend auf der Fahrbahn geparkt (markiert). Teilweise wird auch der Gehweg auf einer Fahrbahnseite zum Parken mitgenutzt. Die ausgewählte Tiefgarage ist öffentlich zugänglich und befindet sich unterhalb eines Hotels am westlichen Rand des Akquisegebiets (siehe Bild 1). Insgesamt bietet sie 340 Stellplätze, wobei 130 für Dauerparker reserviert sind. Zu- und Abgang sind zu jeder Tages- und Nachtzeit möglich. Den Teilnehmenden wurde eine Parkkarte ausgehändigt, die ihnen für die Monate von November 2023 bis einschließlich Januar 2024 einen kostenfreien Zugang garantierte. Innerhalb dieses Zeitraumes durften die Teilnehmenden die Tiefgarage jederzeit nutzen, konnten aber auch weiterhin kostenfrei im öffentlichen Raum parken. Methodisches Vorgehen Um ein möglichst umfassendes Bild der Handlungsmotive und ein besseres Verständnis der situativen Kontextfaktoren zu erlangen, kam in der Studie ein komplementärer Methodenmix zum Einsatz. Dieser bestand zum einen aus einem Vorabfragebogen, in dem das typische Mobilitätsverhalten in Alltag und Fernverkehr sowie mobilitätsbezogene Einstellungen, Meinungen und Selbsteinschätzungen der Teilnehmenden erfragt wurden [15]. Außerdem wurden die Befragten insgesamt dreimal gebeten ein Parktagebuch zu führen, in dem sie alle Parkvorgänge an drei aufeinanderfolgenden Tagen festhielten. Dieses umfasste die Art des Parkplatzes, den Zweck des vorangegan- Bild 1: Untersuchungsraum (rot umrandet) und Zugang zur Tiefgarage Parkproblematik INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0057 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 23 karte statt. Zudem wurden Interviews und Parktagebücher in der dritten und zehnten Woche des Feldversuches geführt. Die Interviews wurden in Gedächtnisprotokollen von den Interviewern schriftlich festgehalten. Zum Abschluss der Feldphase, als die Befragten ihre Parkkarte wieder abgegeben hatten, wurde ein weiteres, abschließendes Interview mit den Teilnehmenden vereinbart. In diesem Interview ging es um die Einschätzung der eigenen Mobilität vor und nach dem Versuch sowie die Erfahrungen mit der Parkkarte. Diese Interviews wurden wortgetreu transkribiert. genen Weges sowie eine Reihe möglicher Situationsgegebenheiten (z. B. Gepäck dabei). Jeweils nach dem Ausfüllen der Tagebücher wurden die Befragten von einem Interviewer zu Hause besucht, bei dem sie in einem offenen Interview die Möglichkeit hatten, die verschiedenen Situationsgegebenheiten sowie die Gründe für die Nutzung oder Nicht-Nutzung der Tiefgarage in ihren eigenen Worten darzustellen. Um einen Eindruck über die etablierten Parkstrategien zu erhalten, fand das erste Ausfüllen des Parktagebuchs sowie das erste Interview in der Woche vor der Übergabe der Park- Die Teilnehmenden Insgesamt konnten 44 Teilnehmende für das Experiment rekrutiert werden, davon 26 Männer und 18 Frauen. Den Vorabfragebogen zum typischen Mobilitätsverhalten füllten 38 dieser Personen aus, die alle in unterschiedlichen Haushalten in der Karlsruher Südstadt wohnten. In Bild 2 sind die soziodemographischen Eigenschaften und der Verkehrsmittelbesitz der Teilnehmenden visualisiert. Dieses zeigt, dass Bildungsstand und Finanzlage der Stichprobe für die Karlsruher Südstadt vergleichsweise hoch waren. So verfügten 74% der Personen über einen Hochschul- oder Universitätsabschluss und 16 % absolvieren aktuell ein Studium. Zudem gaben nur zwei Personen an, sich finanziell einschränken zu müssen, während rund drei Viertel sich einiges oder vieles leisten konnten. Bei fast einem Drittel der Haushalte handelte es sich um Einpersonenhaushalte und in nur acht der 38 Haushalte lebten Kinder. Typisches Mobilitätsverhalten und Einschätzungen der Teilnehmenden vor Erhalt der Parkkarte Die Auswertung der Selbstangaben aus dem Fragebogen zum typischen Mobilitätsverhalten ergab, dass es sich nur bei zwei der 38 Personen um monomodale Pkw-Nutzende handelte. Die übrigen 36 Personen gaben an, im Alltag multimodal mobil zu sein und neben Wegen mit dem Pkw auch regelmäßig solche zu Fuß, mit dem Fahrrad, und/ oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. In Bild 3 sind die selbstberichteten Nutzungshäufigkeiten verschiedener Verkehrsmittel im Alltag visualisiert. Dieses zeigt, dass 90% der Personen angaben, mindestens einmal pro Woche einen vollständigen Weg zu Fuß zurückzulegen. Mehr als zwei Drittel davon berichteten sogar dreimal pro Woche oder häufiger zu Fuß unterwegs zu sein. Das am zweithäufigsten genutzte Verkehrsmittel war laut Selbstangaben das Fahrrad. Circa 60 % der Personen berichteten, dieses mindestens dreimal pro Woche zu nutzen. Im Gegensatz dazu gab weniger als die Hälfte der Personen an, den eigenen Pkw mindestens dreimal pro Woche zu nutzen. 14 der 38 Personen berichteten sogar, weniger als einmal pro Woche mit einem Pkw unterwegs zu sein. Durch die intrapersonelle Auswertung der Verkehrsmittelnutzung konnte bestimmt werden, dass die 38 Personen im Durchschnitt üblicherweise nur ein Viertel ihrer Alltagswege mit dem Pkw zurücklegen. Nur drei Personen nutzen in einer üblichen Alltagswoche für mehr als die Hälfte ihrer Wege den Pkw, während 15 Personen den Pkw für weniger als ein Fünftel ihrer Wege nutzen; davon acht sogar nur für weniger als jeden zehnten Weg. Bild 2: Soziodemographische Eigenschaften und Verkehrsmittelbesitz der Teilnehmenden INFRASTRUKTUR Parkproblematik DOI: 10.24053/ IV-2024-0057 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 24 Im Hinblick auf die Parksituation für Pkw im öffentlichen Raum der Karlsruher Südstadt gaben 12 der 38 Teilnehmenden an, unzufrieden zu sein. Weitere 18 Personen waren mit der Parksituation eher unzufrieden. Eher zufrieden zeigten sich hingegen nur zwei Teilnehmende. Dementsprechend planten 24 der 38 Personen, den ihnen zur Verfügung gestellten Tiefgaragenparkplatz in den drei Monaten des Realexperiments immer zu nutzen und die übrigen 14 Personen, diesen manchmal zu nutzen. Nutzungshäufigkeit der Tiefgarage In der Mobilitätsbefragung gab die Mehrzahl der Befragten an, dass sich eine Quartiersgarage innerhalb einer bestimmten fußläufigen Entfernung befinden müsste, damit sie sich dort einen Stellplatz mieten würden. Dabei schwankten die Angaben zwischen zwei und zehn Minuten. Mithilfe der Parktagebücher und Interviews hat sich gezeigt, dass die Nähe des Wohnortes zur Tiefgarage die Nutzungshäufigkeit zwar beeinflusst, diese aber nicht vollumfänglich erklären kann. So nutzten einige Teilnehmende, die in unmittelbarer Nähe wohnen, die Tiefgarage nur für einen geringen Teil ihrer Parkvorgänge im Quartier, während andere, die etwas weiter entfernt wohnen, die Tiefgarage häufig nutzten. Aus diesem Grund werden wir im Folgenden weitere Beweggründe für die Nutzung bzw. Nicht- Nutzung der Tiefgarage beleuchtet. Zugänglichkeit der Tiefgarage Viele Teilnehmende berichteten, dass für sie die Zugänglichkeit ein entscheidender Grund war, die Tiefgarage zu nutzen: „Also ich hab die Tiefgarage sehr viel in Anspruch genommen, es war halt sehr unkompliziert für mich, weil die Tiefgarage in der Parallelstraße ist, also sehr, sehr nah zu meiner Wohnung und man hat immer einen Parkplatz gefunden.“ (Abschlussinterview ID_40) Die Zugänglichkeit wurde aber nicht nur durch die fußläufige Entfernung zum Wohnort bewertet, sondern auch in Relation zur Verfügbarkeit von Parkplätzen im öffentlichen Raum. So berichteten manche Teilnehmende davon, dass sie die Tiefgarage nur an bestimmten Wochentagen oder zu bestimmten Tageszeiten nutzten, an denen der Parkdruck besonders hoch war, so dass die Tiefgarage in diesem Moment schneller zugänglich war, während an anderen Tagen oder Tageszeiten die Stellplätze im öffentlichen Raum schneller zugänglich waren. Hieraus kann geschlossen werden, dass die Zugänglichkeit nicht nur von der räumlichen Nähe der Tiefgarage zum Wohnort, sondern auch von der zeitlich variierenden Parksituation im öffentlichen Raum abhängt. Entsprechend scheint das Nutzungsmuster eines Pkw einen entscheidenden Einfluss auf die Zugänglichkeit der Tiefgarage und damit auf deren relative Nutzungshäufigkeit zu haben. Sicherheitsaspekte Neben der Zugänglichkeit der Tiefgarage standen für Teilnehmende auch Sicherheitsaspekte im Vordergrund. Hiermit können zwei verschiedene Dinge gemeint sein. Einerseits der Schutz des Pkw, beispielsweise vor Witterung, Vandalismus oder unerwartet aufgestellten Halteverbotsschildern. Vor allem diejenigen, die ihr Auto nicht täglich benötigten, sondern es auch einmal für einige Tage ungenutzt stehen ließen, berichteten über die Erleichterung, nicht regelmäßig nachsehen zu müssen, ob mit dem Auto alles in Ordnung war. „Vor allem weil wir auch manchmal dann eben mehrere Tage oder Wochen nicht da sind. Und dann auch wissen, dass das Auto sicher abgestellt ist im Parkhaus und da halt nicht an der Straße irgendwas sein kann.“ (Abschlussinterview, ID_26) Andererseits kann Sicherheit auch Planungssicherheit bedeuten zu wissen, dass, egal wann, ein garantierter Parkplatz zur Verfügung steht und nicht erst lange gesucht werden muss. „Ja, man war nen bisschen flexibler oder es hat nicht mehr so ´ne Rolle gespielt sich zu überlegen, wann fährt man mit dem Auto weg und wann ist es dann vielleicht ´ne schwierige Zeit, wenn man zurückkommt und unter Umständen lang nach ´nem Parkplatz suchen muss, das ist dann halt als Überlegung weggefallen.“ (Abschlussinterview ID_15) Sicherheitsaspekte, die auf mögliche Gefahrensituationen in der Tiefgarage hindeuten (z. B. Angst vor Überfällen), wurden von keinem der Teilnehmenden erwähnt. Dies ist auch nicht verwunderlich, da die Teilnahme freiwillig war und dementsprechend davon ausgegangen werden kann, dass sich nur Menschen ohne derartige Befürchtungen gemeldet haben. Typisierung von Parkstrategien bei Verfügbarkeit einer Quartiersgarage Aus beiden Aspekten, der Zugänglichkeit und den Sicherheitsaspekten, lassen sich aus unserer Sicht drei prototypische Parkstrategien ableiten, die sich in ihrer Nutzungsintensität unterscheiden: die situationsabhängigen Optimierer, die kostenbewussten Langzeit-Parker sowie die Sorglos-Parker. Die situationsabhängigen Optimierer Die Optimierer nutzen die Tiefgarage in Situationen, in denen sie im öffentlichen Raum keinen besseren Stellplatz finden. So hatte sich bei einigen Teilnehmenden relativ schnell eine Parksuchroute etabliert, die an der eigenen Wohnung vorbeiführte und an deren Ende die Tiefgarage lag. Nur wenn sich auf dieser Route kein besserer Parkplatz im öffentlichen Raum fand, wurde der Tiefgaragenstellplatz genutzt. Die situationsabhängigen Optimierer waren die größte Gruppe im Sample. Im Unter- Bild 3: Selbstberichtete Häufigkeit der Nutzung verschiedener Verkehrsmittel im Alltag der 38 Teilnehmenden an der Vorabbefragung zum typischen Mobilitätsverhalten Parkproblematik INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0057 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 25 Effekte auf die Pkw-Nutzung beobachtet werden. Einige Teilnehmende nutzten ihren Pkw durch die Inanspruchnahme der Tiefgarage seltener, weil der Weg zur Tiefgarage als aufwändig empfunden wurde. In manchen Situationen wurden dadurch alternative Verkehrsmittel attraktiver. Andere hingegen berichteten von einer erhöhten Pkw-Nutzung, da der sichere Stellplatz in der Tiefgarage die Hemmschwelle senkte, das Auto zu verwenden, insbesondere in Situationen, in denen sie ansonsten wegen der mühsamen Parkplatzsuche darauf verzichtet hätten. Wiederum andere gaben an, dass sich ihre Pkw-Nutzungshäufigkeit nicht verändert habe, jedoch sei die Flexibilität bei der Ausführung bestimmter Aktivitäten gestiegen. So fühlten sie sich weniger gezwungen, bestimmte Wochentage oder Zeiten für Erledigungen (z. B. Einkäufe) zu wählen, weil die Tiefgarage ihnen beim nach Hause kommen einen sicheren Stellplatz garantierte. Es zeigte sich auch, dass der wahrgenommene Parkdruck, der von vielen im ersten Interview genannt wurde, sich nur selten bewahrheitete. Oft fanden die Teilnehmenden einen Parkplatz im öffentlichen Raum, der für sie zugänglicher war als der Stellplatz in der Tiefgarage. Diese Diskrepanz zwischen wahrgenommenem und tatsächlichem Parkdruck kann möglicherweise dadurch erklärt werden, dass problematische, nervige Parkereignisse stärker oder detaillierter erinnert werden. Eine objektive Untersuchung durch systematische Zählungen zu verschiedenen Tageszeiten könnte hier genauere Erkenntnisse liefern. Abschließend bleibt mit Blick auf die Diskussion um Quartiersgaragen festzuhalten, dass die Nutzungsabsicht von deren Verortung im Quartier sowie der allgemeinen Parksituation vor Ort abzuhängen scheint. Nicht zu vernachlässigen ist dabei, dass eine Quartiersgarage einen sorgloseren Umgang mit dem Pkw möglich macht, der sowohl die Pkw-Nutzung als auch den Pkw-Besitz erhöhen kann. ■ LITERATUR [1] Kraftfahrtsbundesamt: Der Fahrzeugbestand am 1. Januar 2024, [online], 4.3.2024, Online im Internet: https: / / www.kba.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilungen/ Fahrzeugbestand/ 2024/ pm08_fz_ bestand_pm_komplett.html [2] Kunst, Friedemann: Stadt und Auto ein Thesenpapier, In: Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) (Hrsg.), Almanach 2014/ 2015 „Stadt & Auto“, 2015, p. 185-198, [3] Horn, Burkhard; Kiel, Thomas; Lojewski, Hilmar und Deutscher Städtetag. Nachhaltige städtische Mobilität für alle: Agenda für eine Verkehrswende aus kommunaler Sicht [online]. Berlin und Köln, 2018. Online im Internet: https: / / www.staedte- Die Sorglos-Parker Die Sorglos-Parker schätzen vor allem die Unbekümmertheit bzw. Planungssicherheit beim Nachhause kommen - das traf sowohl auf Personen zu, die das Auto häufig nutzten als auch auf Personen, die es eher selten benötigen. Häufig wohnen die Sorglos-Nutzer in der Nähe der Tiefgarage. Anders als die situationsabhängigen Optimierer, sind die Sorglos-Parker in der Regel auf direktem Weg in die Tiefgarage gefahren, ohne Ausschau nach einem besseren Parkplatz im öffentlichen Raum zu halten. Teilweise beinhaltete der Nachhauseweg einen kurzen Stopp vor der Wohnung, um Sachen ein- oder auszuladen, um im Anschluss die Tiefgarage auf direktem Weg aufzusuchen. Diese Gruppe nutzte die Tiefgarage am häufigsten und zeigte unter allen Teilnehmenden die höchste Zahlungsbereitschaft. Fazit Das Experiment zog vor allem multimodale Verkehrsteilnehmende an, von denen viele angaben, im Alltag nicht auf ein Auto angewiesen zu sein. Diese Gruppe repräsentiert jedoch nicht die durchschnittliche Bevölkerung der Karlsruher Südstadt, was bei der Interpretation, vor allem aber bei der Generalisierung der Ergebnisse, berücksichtigt werden sollte. Dennoch liefert die Studie wertvolle Einblicke in die Bedingungen, unter denen Quartiersgaragen eine akzeptable und nachhaltige Lösung für Bestandsquartiere sein könnten. Neben den verschiedenen Parkstrategien, die sich im Zuge der Intervention gezeigt haben, konnten während des Untersuchungszeitraumes auch unterschiedliche suchungszeitraum fanden die Optimierer häufig einen zugänglicheren Stellplatz im öffentlichen Raum, so dass sie die Tiefgarage am seltensten von allen Teilnehmenden nutzten. Bei den situationsabhängigen Optimierern handelt es sich häufig um Pkw- Vielfahrende, die den Parkdruck im öffentlichen Raum nicht unbedingt als belastend empfanden, sondern eher als nötiges Übel, welches zum Autofahren dazugehört und sich mit gekonntem Parken meistern lässt. Wichtiger als die Kosten für die Tiefgarage ist den Optimierern die situationsbedingte Zu- und Abgangszeit. Die kostenbewussten Langzeitparker Die Langzeitparker nutzen die Tiefgarage vor allem wenn sie wissen, dass der Pkw für längere Zeit abgestellt werden soll - z. B. über das Wochenende oder unter der Woche, wenn sie sich sicher sind, dass der Pkw nicht gebraucht wird. Entsprechend handelt es sich dabei häufig um Personen, die diesen Pkw nicht besonders häufig nutzen. Entsprechend ist ihr Anspruch an einen Bezahlstellplatz in erster Linie der Schutz des Pkw (vor Vandalismus, Witterung oder unerwarteten Ereignissen). Viele Langzeitparker äußerten sich im Abschlussgespräch darüber, wie erleichtert sie waren, nicht mehr zu vergessen, wo ihr Auto geparkt war oder sich keine Sorgen mehr um ihr Auto machen zu müssen. Die Langzeitparker zeigten allerdings die geringste Zahlungsbereitschaft für einen Tiefgaragenstellplatz. Ein häufiges Argument war, dass sie das Auto ja sowieso nicht häufig bräuchten und deswegen nicht bereit seien, noch mehr Geld dafür aufzuwenden. Bild 4: Typische Parkstrategien der Teilnehmenden für die Nutzung der Tiefgarage INFRASTRUKTUR Parkproblematik DOI: 10.24053/ IV-2024-0057 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 26 Buchtipp Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de In Verhandlungen mit Geschick punkten „Never give without taking“ ist das Verhandlungsmotto von Ludger Schneider-Störmann. Verhandlungen in gesättigten Märkten mit hartem Wettbewerb sind kon iktreich. Der Autor beschreibt gängige Kon ikttypen und erläutert alle Facetten für ein erfolgreiches Management von Online- und Face-to-Face-Verhandlungen. Er gibt Anleitungen für eine perfekte Vorbereitung und Durchführung. Das Buch richtet sich an Studierende der Betriebswirtschaftslehre, des Wirtschaftsingenieurwesens sowie des Vertriebs und alle Studierende mit Interesse am Vertrieb. Es eignet sich auch hervorragend für die Praxis. Ludger Schneider-Störmann Kon ikte und Verhandlungsmanagement im Vertrieb 1. Au age 2024, 258 Seiten €[D] 24,90 ISBN 978-3-8252-6267-9 eISBN 978-3-8385-6267-4 hood, Journal of Transport Geography, 5.2020, Vol. 85, p. 102714, DOI 10.1016/ j.jtrangeo.2020.102714, [10] Ibeas, A.; Dell’Olio, L.; Bordagaray, M. und Ortúzar, J. De D.: Modelling parking choices considering user heterogeneity, Transportation Research Part A: Policy and Practice, 12.2014, Vol. 70, p. 41-49, DOI 10.1016/ j.tra.2014.10.001, [11] Golias, John; Yannis, George und Harvatis, Michel: Off-Street Parking Choice Sensitivity, Transportation Planning and Technology, 1.2002, Vol. 25, no. 4, p. 333-348, DOI 10.1080/ 0308106022000019620, [12] Axhausen, Kay W. und Polak, John W.: Choice of parking: Stated preference approach, Transportation, 1991, Vol. 18, no. 1, p. 59-81, DOI 10.1007/ BF00150559, [13] Waraich, Rashid A. und Axhausen, Kay W.: Agent- Based Parking Choice Model, Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board, 1.2012, Vol. 2319, no. 1, p. 39-46, DOI 10.3141/ 2319-05, [14] Soto, Jose J.; Márquez, Luis und Macea, Luis F.: Accounting for attitudes on parking choice: An integrated choice and latent variable approach, Transportation Research Part A: Policy and Practice, 5.2018, Vol. 111, p. 65-77, DOI 10.1016/ j. tra.2018.03.003, [15] Von Behren, Sascha: Das Mobilitätsskelett - ein integrativer Ansatz zur mehrdimensionalen Betrachtung von urbaner Mobilität [online], KIT Scientific Publishing,2023,OnlineimInternet: https: / / publikationen.bibliothek.kit.edu/ 1000150513 (10.9.2024). Eingangsabbildung: © iStock.com/ dies-irae tag.de/ files/ dst/ docs/ Publikationen/ Positionspapiere/ Archiv/ nachhaltige-staedtische-mobilitaet-2018.pdf [4] Agora Verkehrswende. Umparken den öffentlichen Raum gerechter verteilen. Zahlen und Fakten zum Parkraummanagement [online]. 2022. Online im Internet: https: / / www.agora-verkehrswende.de/ fileadmin/ Projekte/ 2022/ Umparken/ Agora-Verkehrswende_Factsheet_Umparken_ Auflage-4.pdf [5] Fleischer, Torsten; Puhe, Maike und Schippl, Jens: Gesellschaftliche Einstellungen zu Fragen der Mobilitätswende. Ausgewählte Ergebnisse aus einer repräsentativen Befragung in Deutschland, Internationales Verkehrswesen, 2024, Vol. 76, no. 1, p. 17-23, [6] Kirschner, Franziska und Lanzendorf, Martin: Support for innovative on-street parking policies: empirical evidence from an urban neighborhood, Journal of Transport Geography, 1.1.2020, Vol. 85, p. 102726, DOI 10.1016/ j.jtrangeo.2020.102726, [7] Blees, Volker. Nr. 13: Fehlnutzung des öffentlichen Straßenraums durch parkende Kraftfahrzeuge. Fallstudie am Beispiel Darmstadt-Arheilgen. Arbeitsberichte Fachgruppe Mobilitätsmanagement. Hochschule RheinMain. Wiesbaden, 2021. [8] Würl, Benjamin und Linder, Franz. Parken ohne Ende? Eine AGFS-Broschüre zum Thema Nahmobilität und Autoparken [online]. 2015. Online im Internet: https: / / www.agfs-nrw.de/ fileadmin/ user_upload/ parkraum_brosch_2015_WEB.pdf [9] Scheiner, Joachim; Faust, Nico; Helmer, Johannes; Straub, Michael und Holz-Rau, Christian: What’s that garage for? Private parking and on-street parking in a high-density urban residential neighbour- Maike Puhe, Dr., Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) maike.puhe@kit.edu Lukas Burger, M.Sc., Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Verkehrswesen (IfV) lukas.burger@kit.edu Christof Hupfer, Prof., Dr., Hochschule Karlsruhe (HK A), Baden-Württemberg Institut für nachhaltige Mobilität (BWIM) christoph.hupfer@bw-im.de Andreas Rall, M.Sc., Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Verkehrswesen (IfV) andreas.rall@kit.edu Anzeige Parkproblematik INFRASTRUKTUR steins ist angetreten, das zu ändern: Mit finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) und des Landes wird bis Ende 2025 ein Mobilitätsangebot demonstriert, mit dem jeder Ort des Projektgebiets rund um die Uhr ohne eigenes Auto erreicht werden kann. Zugleich soll das Verkehrsangebot im Wettbewerb zum Pkw attraktiv sein und auf nachfragestarken Achsen beschleunigt werden. Daher kann das Ziel eines flächendeckenden Angebots nicht mit Umwegen von Buslinien abseits ihrer Hauptrouten K notenpunkte sind sensible Elemente für eine funktionierende Infrastruktur, bei einzelnen Verkehrsträgern und auch bei Übergängen zwischen verschiedenen Systemen. Herausforderungen und Lösungen aus Metropolregionen unterscheiden sich dabei deutlich von Anforderungen im ländlichen Raum. Dies gilt umso mehr für den öffentlichen Verkehr, der dort außerhalb der Schülerbeförderung oft nur wenige Nutzer hat. Das Modellprojekt SMILE24 1 in der Schlei-Region im Nordosten Schleswig-Holerreicht werden. Ziel ist vielmehr ein integriertes System aus Linienverkehren und Bedarfsverkehren und Sharing-Verkehrsmitteln. Für die Effizienz eines solchen Systems ist es wichtig, dass der Linienverkehr die Hauptlast trägt. Die Auskunftssysteme der Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein GmbH (NAH.SH) 2 verweisen daher bei Verbindungsanfragen zunächst auf das vorhandene Linienverkehrsangebot. Der Bedarfsverkehr NAHSHUTTLE wird für die Abschnitte angeboten, die nicht mit dem Linienverkehr erreichbar Mobilitätsstationen in der Schlei-Region Infrastruktur als Teil eines Mobilitätswende-Experiments Verkehrsverknüpfung, Modellprojekt, ländlicher Raum, Busverkehr, On-Demand-Shuttles, Mobilitätsstationen, Aufenthaltsqualität Mit Bundes- und Landesförderung werden bis Ende 2025 im Norden Schleswig-Holsteins neue Qualitäten für Mobilität im ländlichen Raum demonstriert: Rund um die Uhr mobil, mit Linien- und Bedarfsverkehren und mit Bike- und Car-Sharing. Die einzelnen Angebote wurden ab dem Frühjahr 2024 gestartet. Seitdem wird intensiv an einer Vernetzung gearbeitet. Neben einer intermodalen Fahrplanauskunft und Betriebsorganisation spielt die Infrastruktur dabei eine entscheidende Rolle: Übergänge zwischen den Systemen erfordern Anlagen, die verkehrstechnisch funktionieren und für Fahrgäste attraktiv sind. Herausforderungen bei der Entwicklung dieser „Mobilitätsstationen“ umfassen die Entwicklung angepasster Lösungen für eine ländliche Raumstruktur sowie Vorgaben aus der Förderung, die Umsetzung in einer vorgegebenen Laufzeit parallel zur Entwicklung der verkehrlichen Angebote abzuschließen. Dargestellt wird der bisherige Planungsprozess von der Anforderungsdefinition über die Koordination kommunaler Akteure bis zu konkreten Planungen und dem aktuellen Stand der Umsetzungsvorbereitungen. Jens Gertsen, Cyrill Groddeck, Ferdinand Hülsbusch, Sarah Göbels INFRASTRUKTUR Mobilitätsstationen DOI: 10.24053/ IV-2024-0058 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 28 sind. Alternativ können diese auch mit Bike- oder Carsharing-Angeboten zurückgelegt werden. Die Umstiege von und zu den Linienbussen liegen in diesem System nahe an Start- und Zielorten in der Fläche. Dadurch entsteht eine neue Anforderung an die Infrastruktur: Über die bislang typischerweise in größeren Orten oder an Bahnhöfen errichteten Umsteigestationen hinaus werden in explizit ländlichen Umfeldern bedarfsgerechte und an die örtlichen Strukturen angepasste Umsteigeanlagen erforderlich. Diese Herausforderung wird im Teilprojekt „Mobilitätsstationen“ von SMILE24 adressiert. Anforderungen Am Anfang des Projektes stand eine intensive Beschäftigung mit Anforderungen an solche Mobilitätsstationen. Eine erste Analyse möglicher Standorte basierte auf dem durch überörtliche Anschlüsse an den Integralen Taktfahrplan (ITF) in Schleswig-Holstein in seinen Grundzügen determinierten Busfahrplan. Danach sind insbesondere Haltestellen geeignet, an denen sich Linienbusse in Richtung und Gegenrichtung begegnen, da die Zu- und Abbringerverkehrsmittel dort mit einer Fahrt Anschlüsse in beide Richtungen aufnehmen können. Dort sollen Orte entstehen, die nicht nur der intelligenten Verknüpfung verschiedener Verkehrsmittel dienen, sondern auch eine hohe Aufenthaltsqualität bieten. Als Begegnungsraum ermöglichen sie Partizipation und Teilhabe und tragen so dazu bei, den ländlichen Raum besser zu vernetzen und lebenswert zu gestalten. In Verbindung mit einer nachhaltigen Materialwahl und Gestaltung tragen die Mobilitätsstationen dazu bei, die umweltfreundliche Nutzung öffentlicher bzw. gemeinsam genutzter Verkehrsmittel attraktiv zu gestalten und zu fördern. Diese Ziele wurden durch verschiedene innovative Ansätze umgesetzt, die beispielhaft in Bild 3 visualisiert sind: Fahrgastinformationen mit dynamischen und statischen Elementen Bodenmarkierungen, um wiedererkennbare Elemente von Mobilitätsstationen spielerisch zu verbinden. Ruhezonen, um Aufenthaltsmöglichkeiten bei eventuellen Wartezeiten zu bieten Grünelemente mit lokal angepasster Bepflanzung, um den regionalen Bezug zu stärken Optional sind zusätzliche Elemente, wie beispielsweise Hofautomaten mit lokalen Produkten, denkbar. Rahmenbedingungen Aus der Anforderungsanalyse ergaben sich Anfang 2024, nach dem ersten Drittel des auf drei Jahre angelegten Förderprojekts SMILE24, zwei Konsequenzen: Für die Entwicklung und Umsetzung einer eigenen, an die Bedürfnisse des Raumes angelegten Gestaltungslinie ist der Zeitrahmen der Förderung nicht ausreichend. Um bis zum Ablauf der Förderung Ende 2025 Projekte baulich umsetzen zu können, muss auf vorhandenen Elementen aufgebaut werden. Das für die Auslegung der Mobilitätsstationen relevante Verkehrsangebot ist volatil. Der Umfang sowie zeitliche und räumliche Verteilungen nachgefragter Bedarfsverkehre sind viel weniger planbar als beim Linienverkehr, da sich Veränderungen der Nachfrage oder der verfügbaren Angebotsressourcen, z. B. nach Ende der Förderung, unmittelbar aus- Bild 1: Karte Projektgebiet Bild 2: Wegekettenauskunft NAHSHUTTLE/ Linienverkehr in der NAH.SH-App (Wegekette und Fahrplanauskunft) Mobilitätsstationen INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0058 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 29 dienung steigender Fahrgastzahlen durch einen Betrieb mit Gelenkbussen berücksichtigen. Diese Anforderung ist auch bei Busbuchten zu berücksichtigen, die an den hier relevanten Standorten entlang überörtlicher Straßen in Abstimmung mit den örtlichen Beteiligten und der Straßenverkehrsbehörde in der Regel weiterhin als erforderlich angesehen werden. Eine Verlängerung bestehender Busbuchen ist oft limitiert durch beengte räumliche Situationen, bedingt durch angrenzende Bebauung oder Grundstücksgrenzen. Um dieser Problematik zu begegnen, werden am Beginn des Einfahrbereichs Einbuchtungen (sogenannte „Nasen“) platziert, damit Gelenkbusse in einem steileren Winkel in die Busbucht einfahren und die Räder zügiger einschlagen können. Die daraus resultierende optimierte Fahrkurve führt zu einer Reduktion der erforderlichen Buchtenlänge um nahezu 15m, wodurch der Einsatz von Gelenkbussen auch bei limitierter Flächenverfügbarkeit realisierbar wird. Im Zuge der Planungsoptimierung wurde die Positionierung der Shuttlebusse neu überdacht. Ursprünglich sollte die Busbucht verlängert werden, damit die Shuttlebusse wirken. Die Planung von Mobilitätsstationen muss dies antizipieren und robuste Lösungen entwickeln, die während ihrer baulichen Lebensdauer in verschiedenen Entwicklungsszenarien „funktionieren“. Vor diesem Hintergrund begann das Planungsbüro stadtraum im Juni 2024 mit standortspezifischen Planungen für Mobilitätsstationen. Planungsbeispiele Eine Herausforderung bei der Planung der Mobilitätsstationen liegt darin, die vom Gestaltungskonzept vorgegebenen Ausstattungen und Elemente in die bestehende ländliche Infrastruktur einzupflegen. Dabei wird insbesondere der Fokus auf die Barrierefreiheit gelegt, da diese ein Kernmerkmal für die Nutzung darstellen soll. Eine barrierefreie Mobilitätsstation verliert ihre Wirkung, wenn der Zugangsweg nicht ebenso hindernisfrei konzipiert ist. Dementsprechend wurde auch die umliegende Infrastruktur betrachtet und teilweise umgeplant. Eine nachhaltige Planung der Infrastruktur soll auch die Optionen zur Beim vorderen Bereich halten können, während dahinter ein Expressbus Ein- und Ausfahren kann (vgl. Bild 4). Die im SMILE24-Projekt als NAHSHUT- TLE eingesetzten Mercedes-Transporter sind mit einem barrierefreien Zugang am Heck ausgestattet. Ein Übergang zum Gehwegbereich der Mobilitätsstation wäre in diesem Szenario nur über die Fahrbahn der Busbucht möglich. Um die Sicherheit und Barrierefreiheit zu gewährleisten, werden - soweit möglich - separate Stellplätze für den Bedarfsverkehr außerhalb der Busbucht angestrebt, soweit die bestehende Infrastruktur eine solche Anpassung zulässt (Bild 5). Eine weitere Herausforderung stellen die engen zeitlichen Vorgaben dar. Um diesen gerecht zu werden, erweist sich die frühzeitige Einbindung der Bürgermeister der zuständigen Gemeinden als essenziell. Ihre lokalen Netzwerke, insbesondere zu Eigentümern relevanter Privatflächen, sowie ihre Unterstützung bei behördlichen Abstimmungsprozessen, tragen maßgeblich zur Effizienz der Planungsverfahren bei. Ausblick Baulastträger für die Mobilitätsstationen sind die jeweiligen Kommunen. Auch wenn die Investition über das SMILE24-Projekt finanziert wird, sind für den Bau und die spätere Unterhaltung vertragliche Regelungen erforderlich. Daher ist die Umsetzung planerisch präferierter Standorte von kommunalen Entscheidungsprozessen abhängig. Ein wichtiges Kriterium dafür ist neben den jeweiligen Planungsentscheidungen die Komplexität und der Zeitbedarf der Umsetzung: Kosten, die z. B. aufgrund von Verzögerungen des Planungs- oder Bauablaufs (unabhängig von Ursache und Verschulden) erst nach dem Ende des Förderprojektes anfallen, könnten daraus nicht mehr finanziert werden. Dieses Risiko muss von den kommunalen Vorhabensträgern im Einzelfall abgewogen werden. Bild 3: Visualisierung einer möglichen Mobilitätsstation Bild 4: Beispiel für die Planung mit Shuttlebus in der Busbucht mit „Nase“ INFRASTRUKTUR Mobilitätsstationen DOI: 10.24053/ IV-2024-0058 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 30 Derzeit laufen entsprechende Beratungen und Entscheidungsprozesse in acht Kommunen im Projektgebiet. Informationen zum Fortschritt in diesem Teilprojekt und im Gesamtprojekt SMILE24 werden auf der Projektwebsite https: / / smile24.nah.sh/ veröffentlicht. ■ Eingangsabbildung: © iStock.com/ SurfUpVector ENDNOTEN 1 Schlei-Mobilität: innovativ, ländlich, emissionsfrei und 24/ 7 2 z.B. NAH.SH-App oder https: / / www.nah.sh/ de/ fahrplan/ planer/ Jens Gertsen, inno-mobil, Gesamtprojektsteuerung SMILE24 gertsen@inno-mobil.de Cyrill Groddeck, NAH.SH, Teilprojektleitung Cyrill.Groddeck@nah.sh Ferdinand Hülsbusch, stadtraum - Gesellschaft für Raumplanung, Städtebau & Verkehrstechnik mbH, Planung Ferdinand.Huelsbusch@ stadtraum.com Sarah Göbels, UXMA GmbH & Co. KG sarah.goebels@uxma.com Bild 5: Beispiel für Shuttlebus auf separaten Stellplatz neben der Busbucht mit „Nase“ INFOS SMILE24-Projektträger und -partner sind neben NAH.SH die Kreise Rendsburg- Eckernförde und Schleswig-Flensburg. Das Gesamtprojekt wird durch den Bund mit 29,3 Millionen Euro gefördert, das Land Schleswig-Holstein gibt weitere 7,3 Millionen Euro dazu. Die beiden Landkreise und NAH.SH wenden Eigenmittel in Höhe von 1,9 Millionen Euro auf. Die Kommunen sind Baulastträger der Mobilitätsstationen. Mobilitätsstationen INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0058 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 31 flotte in Abhängigkeit vom Enddatum des ICEV-Verkaufs [1]. Umso wichtiger ist in Deutschland mit seinem hohen Anteil an Mietern [6] die Bereitstellung ausreichender Ladeinfrastruktur für dieses Nutzersegment aktuell „machen vor allem Wohnungsmieter derzeit noch einen Bogen um Elektroautos“ [7]. Damit drängt sich insbesondere bei mehrgeschossigen Mietwohnungsbauten die Frage auf, ob durch Nutzung von Sonnen- und Windenergie auf den häufig flachen Dächern ein attraktives und wirtschaftliches Angebot an Ladeinfrastruktur geschaffen werden kann. Am konkreten Fall der Immobilienbestände (u. a. 35.000 Wohnungen) der WIRO GmbH 1 in Rostock wurden in dieser Untersuchung verschiedene Facetten der Thematik untersucht. Ziel dieser Studie war es, die Attraktivität der Elektromobilität für Mitarbeiter und private und gewerbliche Mieter sowie weitere Nutzer der Immobilien der Einleitung Die Elektrifizierung des motorisierten Verkehrs ist ein zentraler Bestandteil der Strategien zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen, die laut Bundes-Klimaschutzgesetz (§3, [1]) bis 2030 um 65 % im Vergleich zu 1990 vermindert werden müssen. Verkehrsbedingte Emissionen wären dementsprechend von 164 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2019 auf 85 Millionen Tonnen im Jahr 2030 zu reduzieren. Ein angemessener Beitrag zu diesem Ziel wäre der Ersatz eines Drittels der Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor (ICEVs) in Deutschland mit batterieelektrischen Fahrzeugen (BEVs) [1]. Im Lichte aktueller politischer Diskussionen scheinen BEV-Anteile von rund 30 % bis 2030 in Deutschland schwerlich erreichbar, selbst unter Berücksichtigung der Zulassungsdaten vergangener Jahre [2], Reinraumgesprächen mit Erstausrüstern [3], der Entwicklung des Pkw-Markts [4; 5] sowie Modellen zur Entwicklung der Fahrzeug- WIRO GmbH zu steigern und planungspraktische Werkzeuge für die Standortentwicklung zu liefern. Das Hauptaugenmerk lag auf der Bestimmung optimaler Standorte für Ladeinfrastruktur innerhalb dieser Liegenschaften. Zusätzlich wurde der Mehrwert einer Integration von Photovoltaikanlagen und Batteriespeichern betrachtet. Nachfolgend werden wesentliche Erkenntnisse aus der Studie [8], anschließende Betrachtungen im Rahmen einer darauf auf bauenden Veröffentlichung [9] und ergänzende Betrachtungen zur Nachfrageprognose vorgestellt. Stand Forschung und Praxis Der Mehrwert einer PV-gekoppelten Ladeinfrastruktur für private Einfamilienhäuser wurde in der Forschung bereits ausführlich diskutiert [10; 11]. Da der Anteil der Bevölkerung in Mietwohnungen in Deutschland mit über 50 % deutlich höher als in anderen Ländern liegt, stand in dieser Studie die Situation in Mehrfamilien- Rentable Wege in die E-Mobilität Sektorenkopplung, Photovoltaik, Ladeinfrastruktur Eine Studie von ARGUS Stadt und Verkehr (Hamburg) in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE (Kassel) zeigt, dass die Einrichtung und der Betrieb von E-Ladeinfrastruktur auf zahlreichen halböffentlichen Parkplätzen absehbar wirtschaftlich ist - und welche das sind, und unter welchen Bedingungen. Die Studie wurde im Auftrag der WIRO Wohnen in Rostock Wohnungsgesellschaft mbH erstellt und vom BMVI gefördert. Timotheus Klein, Elias Dörre, Patrick Stoklosa DOI: 10.24053/ IV-2024-0059 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 32 häusern und Wohnsiedlungen im Mittelpunkt. Die EU-Richtlinie zur Infrastruktur für alternative Kraftstoffe empfiehlt einen Ladepunkt pro 10 BEVs [12]. In Rostock waren Anfang 2023 1139 BEV zugelassen, Nicholas et al. [13] erwarten bis 2030 bis zu 24.000 BEVs in Rostock, die bis zu 2200 normale Ladegeräte und mehr als 100 DC-Schnellladegeräte benötigen würden. Der lokale Bedarf an Ladestrom kann aus den beobachteten Auslastungsraten der Ladeinfrastruktur abgeleitet werden [14]. In den Niederlanden liegt die Belegung der Ladeinfrastruktur in großen Gemeinden im Durchschnitt zwischen 20 und 40 % [15]. Alternativ und für die mittelbis langfristige Planung können Bewertungen auf der Grundlage von Landnutzungs- und Bevölkerungsdaten erstellt werden. Entsprechende Modelle nutzen in unterschiedlichem Ausmaß Geoanalyse- und Optimierungsalgorithmen [16; 17; 18; 19]. Einkaufs- oder freizeitbezogene Nutzungen in fußläufiger Entfernung zur Ladeinfrastruktur erhöhen nachweislich die Auslastung [20], und das etablierte Reiseverhalten für Pkw im Allgemeinen scheint auf BEVs übertragbar zu sein [21]. Methode Es wurden zwei Ansätze verfolgt. Der erste Ansatz dient der Vorabschätzung, welche Gebäude für die Kombination von Lade- und PV-Infrastruktur geeignet sein könnten. Der zweite Ansatz betrachtet Zeitreihen und liefert eine genauere Schätzung der wirtschaftlichen Machbarkeit unter Berücksichtigung der Saisonalität des EV- Verbrauchs und der PV-Erzeugung. Untersucht wurden mehr als 300 Parkierungsanlagen auf Flurstücken der WIRO, für die die Nachfrage nach Ladeinfrastruktur und das potenzielle Angebot für lokal erzeugten Solarstrom berechnet wurden. Die Standorte sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt und liegen in unterschiedlichen Nachbarschaften. Betrachtet wurde, ob eine unproblematische Verbindung zu Solaranlagen auf umliegenden Dächern hergestellt werden kann, und in welchem Umfang und mit welchen Nutzern ein wirtschaftlicher Betrieb der Ladeinfrastruktur möglich wäre. Damit ergeben sich fundierte Aussagen zur Wirtschaftlichkeit von Standorten mit unterschiedlich vielen Normal- oder Schnellladepunkten, privat und fest vermietet oder halböffentlich, mit Zukauf von Netzstrom und Zwischenspeicherung von Solarstrom, sollte dieser zwischenzeitlich im Überschuss anfallen. Eine Grundlage dieser Berechnungen ist die Abschätzung des Nachfragepotenzials für E-Ladeinfrastruktur auf Ebene der einzelnen Gebäude und Adressen. Hierfür wurden detaillierte Geobasisdaten, die Mobilitätsbefragung „Verkehr in Städten“ im Auftrag der Stadt Rostock [22] und zahlreiche weitere Datenquellen ausgewertet und zusammengeführt. Die Datenbasis ist vergleichbar mit der kommunaler Verkehrsnachfragemodelle und ermöglicht eine stichhaltige Abschätzung zur Nachfrage nach motorisierter Mobilität für die gesamte Stadt Rostock sowie eine Darstellung der Verteilung der Nachfrage über den Verlauf eines gewöhnlichen Werktages in 1-Stunden-Intervallen, für unterschiedliche Nutzersegmente. Zentrale Kenngröße der Nachfrage sind hierbei die gefahrenen Pkw- Kilometer, die mit Hilfe des Anteils von E- Pkw und deren Verbrauchskennwerten in notwendigen Fahrstrom in Kilowattstunden umgerechnet wurden. Einige Nachfragesegmente (Mieter, Beschäftigte) können mit privater Ladeinfrastruktur, ggf. personalisiert, mit exklusivem Zugang bedient werden. Bei privater Ladeinfrastruktur mit Normalladen mit Wechselstrom (AC), einer Leistung von bis zu 22 kW und individuell zugeordneten Ladepunkten kann das Laden in gewissen Grenzen gesteuert werden, sodass sich eine Nachfragekurve ähnlich der Belegung des Parkplatzes ergeben könnte. An einer halböffentlichen Ladestation erwarten Nutzer die maximale Ladeleistung für die gesamte Aufenthaltsdauer, insbesondere wenn sie an einem Gleichstrom-Ladegerät (DC) mit einer angenommenen Leistung von bis zu 150 kW laden. Dadurch ergibt sich eine Lastkurve, die eher dem Zielverkehr ähnelt. Das potenzielle Angebot an Strom aus Photovoltaik wurde anhand der bereits installierten Solaranlagen und der zur Verfügung stehenden Dachflächen für neue Anlagen ermittelt. Für einen durchschnittlichen Werktag mit durchschnittlichem PV-Stromertrag und durchschnittlicher Verkehrsnachfrage konnten für die Vorabschätzung Szenarien für verschiedene Kombinationen von Nachfragesegmenten, Ladestationen und lokalen Batteriespeichern bewertet werden. In der Zeitreihenbetrachtung wurden 4 Standorte einer genaueren Analyse und Modellierung durch das Fraunhofer Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik unterzogen. Dabei wurden für jeden der vier Standorte zeitschrittbasierte Simulationen durchgeführt, die auf der Ebene von 15-Minuten-Intervallen den Stromertrag von Solaranlagen und konkrete Ladevorgänge darstellen und dabei den Einfluss des Wochentags, der Jahreszeiten, der Feiertage und der Schulferien berücksichtigen. Auch die Möglichkeit, dass potenzielle Nutzer eine besetzte Ladestation vorfinden und bei einem anderen Anbieter laden, wurde berücksichtigt. Die detaillierte Simulation gestattet es, u.a. den Einfluss der Ladeleistungen und Nutzungsmuster auf den PV- Eigenverbrauch und die Auslastung der Ladepunkte zu bestimmen. Beide Faktoren sind für die Wirtschaftlichkeitsbewertung von hoher Relevanz. Ergebnisse Räumliche Zuordnung der Nachfrage zu den Standorten Die Erreichbarkeit von Ladeinfrastruktur ist sowohl für Autos als auch für Fußgänger zu betrachten. Die gängige Zuordnung der Nachfrage zu einem Standort mit Hilfe eines „Einzugsgebietsradius“ oder „Buffer“ wird diesem Umstand oft nicht gerecht. Weiterhin bildet die Grenze des Einzugsgebietsradius eine harte Grenze zwischen Bild 1: Zuordnung der Nachfrage zu einem Standort E-Ladeinfrastruktur INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0059 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 33 zes in Bezug zur angepeilten Nutzung in den Grenzen der betreffenden Raumeinheit egal ist. Das ist für ortsfremden Verkehr realistisch, wenn dieser per Navigationssystem eine Ladestation in der Nähe seines Zielorts sucht. Die Belastbarkeit dieses Ansatzes steht und fällt allerdings mit der Qualität der gewählten Raumeinheit, städtebaulich und fußläufig zusammenhängende Einheiten abzubilden. Einfache Raster dürften hier regelmäßig versagen; die statistischen Blöcke wie in Bild 1 scheinen hingegen geeignet. Optimierte Dimensionierung von PV-Anlage, Batteriespeicher und Ladeinfrastruktur Mit der mehr oder weniger steuerbaren Nachfrage nach Fahrstrom, dem Angebot an lokal erzeugtem PV-Strom, lokalem Batteriespeicher und unterschiedlichen Ladekapazitäten gibt es zahlreiche Stellschrauben, die das wirtschaftliche Ergebnis einer Kombination von Ladeinfrastruktur und PV- Strom beeinflussen. Beispielhaft wurden mit dem flächendeckenden Bewertungsmodell für Bild 2 vier verschiedene Szenarien formuliert, die die Wirkungen der einzelnen Stellschrauben veranschaulichen. Alle vier Szenarien unterstellen die gleiche tägliche Nachfrage nach Fahrstrom, die an einem durchschnittlichen Tag des Jahres durch eine entsprechend bemessene PV-Anlage erzeugt werden kann. Alle Szenarien Nachfragepotenzialen, die außerhalb oder innerhalb des Radius liegen. Alternativ kann die Nachfrage zunächst auf einer größeren Raumeinheit aggregiert werden, so dass sich für diese eine flächenbezogene Nachfrage berechnet. Die zugeordnete Nachfrage ergibt sich dann durch die Verschneidung eines Einzugsgebietsradius mit einer flächenbezogenen Nachfrage. Bild 1 illustriert diese alternativen Herangehensweisen. Links ist das Einzugsgebiet eines Parkplatzes mit punktuellen, gebäudescharf lokalisierten Gewerbenutzungen dargestellt. Der Einzugsgebietsradius schließt hier nur wenige kleine Gewerbenutzungen ein. Rechts ist die gemittelte Nachfrage auf Ebene der statistischen Blöcke zusammengefasst. Damit wird dem Standort bzw. seinem Einzugsgebiet auch ein Teil der weiter entfernten Nachfragepotenziale zugestanden. In diesem Beispiel führt das zu einer deutlich höheren Nachfrage als bei der Verschneidung von Punktdaten. Aus verkehrsplanerischer Sicht wie auch im Kontext dieser Studie haben beide Ansätze ihre Berechtigung. Die Verschneidung mit Nachfragepunkten unterstellt eine räumlich sehr unmittelbare Nachbarschaft, wie sie für fest vermietete Stellplätze anzunehmen ist. Die Aggregation der Nachfrage auf Ebene statistischer Blöcke oder ähnlich kleinteiliger Raumeinheiten nimmt hingegen an, dass die relative Lage des Parkplatberücksichtigen eine 30%ige Auslastung der Ladepunkte, um den Ladestand der Autobatterien, ungünstige Ankunftszeiten etc. zu berücksichtigen. In allen Szenarien wurde eine lokale Speicherbatterie berücksichtigt, die bis zu 100 kWh speichern kann und einen Speicherverlust von 10 % hat. In den Diagrammen a)-d) sind folgende Parameter im Verlauf über 24 Stunden dargestellt: die PV-Erzeugung (ca. 440 kWh/ d) die Nachfrage nach Fahrstrom (ca. 425 kWh/ d) der direkt aus der PV-Anlage geladene Fahrstrom der aus der PV-Anlage ins Netz eingespeiste Strom der Ladezustand der Batterie (state of charge) der aus der Batterie geladene Fahrstrom Da die Nutzung als Fahrstrom einträglicher ist als die Einspeisung ins Netz, sind eine möglichst geringe Einspeisung und ein möglichst hoher Eigenverbrauchsanteil vorteilhaft. Der Tagesgang der Nachfrage nach Fahrstrom verläuft in Szenario a) proportional zur Belegung des Parkplatzes, in den übrigen Szenarien wird die Nachfrage in der Stunde der Ankunft eines Kfz berücksichtigt. Szenarien a) und b) gehen von 4 AC- Ladepunkten à 22 kW aus. Bei einer mittleren Auslastung der Ladepunkte von 30 % ist die direkte Versorgung der E-Autobatterien a) b) c) d) Bild 2: Aufteilung PV-Ertrag mit verschieden ausgestatteten Ladestationen bei 1.350 m² PV-Fläche und einer lokalen Speicherbatterie mit 100 kWh INFRASTRUKTUR E-Ladeinfrastruktur DOI: 10.24053/ IV-2024-0059 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 34 somit auf 26,4 kW beschränkt. Szenario a) ist unter diesen Umständen günstiger für den Eigenverbrauchsanteil. Das liegt an der Nachfrage in der Nacht, die aus der PV- Batterie bedient wird und den Füllstand absenkt. Dadurch kann die PV-Batterie im Verlauf des Vormittags mehr PV-Strom auffangen, der mangels Ladekapazität nicht verladen wird. Die Nachfragespitze, die gegen 17 Uhr in Szenario b) auftritt, kann wegen der eingeschränkten Kapazität nicht bedient werden, unabhängig von der Energiequelle. Dieses Problem kann durch leistungsfähigere Ladeinfrastruktur behoben werden. In Szenario c) steht mit 4 DC-Ladepunkten à 150 kW ausreichende Kapazität zur Verfügung, um den erzeugten PV-Strom unmittelbar zu verladen. Wo dieser nicht ausreicht, kann das Defizit fast vollständig aus der Batterie ausgeglichen werden. In diesem Szenario wird die Nachfrage fast vollständig aus der PV-Erzeugung bedient. In Szenario d) mit 6 AC-Ladepunkten à 22 kW wird ein ähnlich hoher Eigenverbrauchsanteil realisiert. Aufgrund der insgesamt noch etwas niedrigeren Ladekapazität wird die Batterie früher gefüllt, so dass mehr überschüssiger PV-Strom ins Netz eingespeist wird. Die Eigenverbrauchsanteile in diesen Szenarien liegen zwischen 76 % in Szenario b) und 96 % in Szenario c). Validierung mit Zeitreihenbetrachtung Da die Vorabschätzung mit zahlreichen Mittelwerten arbeitet, werden die täglichen und saisonalen Schwankungen von Nachfrage und Angebot nicht abgebildet, obwohl die Auswirkungen auf den Ausgleich von Angebot und Nachfrage offensichtlich sind: jede gemessene PV-Erzeugungsganglinie eines einzelnen Tages würde deutlich abweichende Kurven für den Ladezustand der Batterie und die direkt verladene Strommenge haben. Dies zeigt sich auch in der Zeitreihenbetrachtung, die für 4 Standorte sowohl die Fahrstromnachfrage als auch die PV-Erzeugung für ein gesamtes Jahr in 15-Minuten-Intervallen berücksichtigt. Bild 3 stellt Eigenverbrauchsfaktoren für einen Standort dar, die mit der Zeitreihenbetrachtung berechnet wurden. Die Gegenüberstellung zeigt die simulierten Eigenverbrauchsanteile mit langsamen und hohen Ladeleistungen sowie für die Speicherintegration. Während bei einer langsamen Ladeleistung bis zu 40 % Eigenverbrauch realisiert werden können, beträgt der Eigenverbrauchsanteil bei einer hohen Ladeleistung nur etwa 11 %. Die Kopplung von Photovoltaikanlagen mit Schnellladeinfrastruktur scheint nur bei gleichzeitiger Nutzung eines Batteriespeichers sinnvoll. Dadurch können Eigenverbrauchsanteile von bis zu 90 % erreicht werden. Die Größe des Batteriespeichers wurde mit 40 kWh angenommen, da dies die wirtschaftlichste Größe für den Beispielstandort war. Höhere Eigenverbrauchsanteile wären mit größeren Batteriespeichern möglich. Faktor Netzstrompreis und Dimensionierung mit der Mikrosimulation In der zeitreihenbasierten Analyse können PV- und Speicherkomponenten in Abhängigkeit von Strompreis, Ladeleistung und Ladeverhalten bemessen werden. Bild 4 zeigt den Mehrwert der PV-Integration für unterschiedliche PV-Anlagengrößen an einem Standort. Die erste Gruppe von Balken im Diagramm zeigt, dass die Kombination einer Schnellladeinfrastruktur mit PV-Batteriespeichern zu Verlusten bei niedrigen Strompreisen führt. Es wird deutlich, dass ein PV-Speicher nicht immer einen Mehrwert für eine Schnellladeinfrastruktur darstellt. Ausblick Im Allgemeinen haben die Berechnungen zur Kombination von E-Ladeinfrastruktur mit Solaranlagen gezeigt, unter welchen Umständen dies vorteilhaft ist: bei moderater, ausgeglichener Nachfrage und/ oder wenn eine potenziell erhöhte Nachfrage zur Mittagszeit durch eine halböffentliche Nutzung der Ladeinfrastruktur besteht; vor allem aber bei steigenden Strompreisen. PV-Anlagen können einen hohen ökonomischen Mehrwert bieten, was sich je nach Bild 3: Gegenüberstellung der Eigenverbrauchsfaktoren in unterschiedlichen Konfigurationen Bild 4: Erträge bei unterschiedlichen Stromkosten und PV-Anlagengrößen an Beispielstandort E-Ladeinfrastruktur INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0059 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 35 infrastructure. International Journal of Sustainable Transportation. 4. October 2019, 13: 6, S. 433-449. doi: 10.1080/ 15568318.2018.1481243. [19] Klein, Timotheus und Scheler, Christian. Evaluation eines Standortpotenzialmodells für E-Ladeinfrastruktur. Internationales Verkehrswesen. 2018, (70)1, S. 32-37. [20] Minnich, Lukas. Akzeptanz und Perspektiven von Elektromobilität in Südhessen. Darmstadt: Öko-Institut e.V. [Ed.], 2020. https: / / www.oeko. de/ fileadmin/ oekodoc/ Begleitforschung-E-Mobilitaet_Suedhessen.pdf. [21] Stein, Oliver und Hoffmann, Silja. Moblitätskennwerte für Elektro- und Verbrennerfahrzeuge aus Flottendaten. [Hrsg.] Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen FGSV. Straßenverkehrstechnik. 2021, 12.2021, S. 903-909. [22] Gerike, Regine, et al. Tabellenbericht zum Forschungsprojekt „Mobilität in Städten - SrV 2018“ in der Hansestadt Rostock. Dresden: Technische Universität Dresden, 2020. ENDNOTEN 1 https: / / www.wiro.de/ Eingangsabbildung: Erzeugt seit fünf Jahren Strom: Fassaden-PV-Anlage an einem WIRO-Wohnhaus in der Joliot-Curie-Allee im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel. © Fotograf. WIRO/ Jens Scholz Statistik/ Produktkatalog/ produkte/ Fahrzeuge/ fz1_b_uebersicht.html. [3] Windt, Alexander und Arnhold, Oliver. Ladeinfrastruktur nach 2025/ 2030: Szenarien für den Markthochlauf. Berlin: Nationale Leitstelle Ladeinfrastruktur (Hg.), 2020. Studie gefördert durch das BMVI. [4] IEA. Global EV Outlook. s.l.: International Energy Agency, 2023. [5] Wappelhorst, Sandra. The end of the road? An overview of combustion-engine car phase-out annoncements across Europe. Beijing, Berlin, San Francisco, Sao Paulo, Washington: icct, 2020. [6] destatis. EU-Vergleich: Deutschland Mieterland Nummer 1. [Online] [Zitat vom: 10. 2 2024.] https: / / w w w.destatis.de/ Europa/ DE / T hema/ Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/ Soziales-Lebensbedingungen/ Mieteranteil.html. [7] ntv.de. Wirtschaft - Ladeinfrastruktur fehlt - Mieter kaufen selten E-Autos. [Online] 29. 9 2024. https: / / www.n-tv.de/ wirtschaft/ Mieter-kaufenselten-E-Autos-article25259195.html. [8] Klein, Timotheus, et al. E-Ladeinfrastrukturkonzept für die WIRO GmbH in Rostock. Hamburg: s.n., 2023. Erläuterungsbericht. [9] Dörre, Elias, Klein, Timotheus und von Bonin, Michael. Finding Attractive Electric-Vehicle- Charging Locations with Photovoltaic System Integration. World Electric Vehicle Journal. 2024, 15, 97. [10] Martin, H., et al. Using rooftop photovoltaic generation to cover individual electric vehicle demand—A detailed case study. Renewable and Sustainable Energy Reviews. 2022, 157/ 111969. [11] von Bonin, M., et al. Impact of Dynamic Electricity Tariff and Home PV System Incentives on Electric Vehicle Charging Behavior: Study on Potential Grid Implications and Economic Effects for Households. Energies. 2022, 15 (3). [12] Council of the European Union; European Parliament. Directive 2014/ 94/ EU of the European Parliament and of the Council of 22 October 2014 on the deployment of alternative fuels infrastructure Text with EEA relevance. [Online] 22. 10. 2014. https: / / op.europa.eu/ en/ publicationdetail/ -/ publication/ d414289b-5e6b-11e4-9cbe- 01aa75ed71a1/ language-en. [13] Nicholas, Michael und Wappelhorst, Sandra. Regional Charging Infrastructure Requirements in Germany through 2030. Beijing, Berlin, San Francisco, Sao Paulo, Washington: icct, 2020. icct white paper. [14] Maase, Simone, et al. Performance of Electric Vehicle Charging Infrastructure: Development of an Assessment Platform Based on Charging Data. World Electric Vehicle Journal. 20. July 2018, 9,25. [15] Wolbertus, Rick. Evaluating Electric Vehicle Charging Infrastructure Policies. Delft: s.n., 2020. ISBN: 978-90-5584-264-3. [16] How Many Public Chargers, and for Whom: A Qualified Site Location Approach for the E-MetropoLIS. Klein, Timotheus und Prill, Thomas. Hamburg: s.n., 2021. 27th ITS World Congress. [17] Niels, Tanja, et al. Modellbasiertes Vorgehen zur Ermittlung von Standorten öffentlicher Ladeinfrastruktur - Methodik und Anwendung am Fallbeispiel Landkreis München. [Hrsg.] Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen FGSV. Straßenverkehrstechnik. 2020, 11.2020, S. 739- 746. [18] Pagany, Raphaela, Camargo, Luis Ramirez und Dorner, Wolfgang. A review of spatial localization methodologies for the electric vehicle charging Standort durch eine deutliche Erhöhung der Netto-Kapitalwerte und damit der Gewinne widerspiegelt. Die wichtigsten Faktoren sind die Systemkosten für die PV-Integration, der Netzstrompreis sowie der Eigenverbrauchsanteil. Während auf die ersten beiden Faktoren nur geringfügiger Einfluss besteht, wird der Eigenverbrauch durch den Tagesgang des Fahrstrombedarfs, die Ladeleistung der Ladepunkte und die Größe von PV-Anlage und Batteriespeicher beeinflusst. Dies erfordert eine individuelle Betrachtung der Standorte und eine standortoptimierte Dimensionierung der Systemkomponenten. Dass eine standortscharfe Betrachtung für eine große Anzahl an Liegenschaften möglich ist, konnte in der Studie erfolgreich aufgezeigt werden. Mit dem Ziel, den Kapitalwert zu maximieren, hat sich dabei die Bedarfsermittlung an Fahrstrom und die Zuordnung von Nutzungsgruppen per Geoinformationssystem in Kombination mit einer zeitreihenbasierten Dimensionierung der PV-Anlagen und Batteriespeicher als zweckmäßig erwiesen. Die Vorabschätzung ist besonders bei einer Vielzahl von Standorten hilfreich, um Standorte für die vertiefende Betrachtung zu priorisieren. Eine sinnvolle Ergänzung wäre hier die Berücksichtigung saisonaler Schwankungen in der PV-Erzeugung. Neben einer realistischeren Einschätzung des Eigenverbrauchs ergäbe sich daraus eine Bandbreite des PV-Defizits oder -Überschusses, was für die Eignung und ggf. Bemessung des Netzanschlusses von Bedeutung ist. Im Allgemeinen besteht aktuell noch ein Mangel an Daten zum Ladeverhalten und zu den Auswirkungen der Konkurrenzsituation auf die Auslastung und den Ertrag von Ladeinfrastruktur. Hier sehen die Autoren noch weiteren Forschungsbedarf. Belastbare Daten zum Tagesgang der Nachfrage sind notwendig, um die Kompatibilität verschiedener betrieblicher oder öffentlicher Nutzergruppen untereinander und mit den jeweiligen Energiequellen zu beurteilen. Die Studie wurde von der WIRO GmbH beauftragt und vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur mit der Förderrichtlinie Elektromobilität vom 14. Dezember 2020 gefördert. ■ LITERATUR [1] Friedrich, Markus. Maßnahmenbereiche zur Einhaltung der CO2-Minderungsziele und deren Wirkungspotenziale. [Hrsg.] Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen FGSV. Straßenverkehrstechnik. 2023, 5.2023, S. 311-322. [2] KBA. Bestand nach Zulassungsbezirken (FZ 1). [Online] Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), 2023. [Zitat vom: 27. 9. 2023.] https: / / www.kba.de/ DE/ Timotheus Klein, Dipl.-Ing., ARGUS/ TKMG, Pinnasberg 45, 20359 Hamburg t.klein@argus-hh.de Elias Dörre, M.Sc., Fraunhofer Institute for Energy Economics and Energy System Technology IEE, Joseph-Beuys-Str. 8, 34117 Kassel elias.doerre@iee.fraunhofer.de Patrick Stoklosa, M.Sc., ARGUS, Pinnasberg 45, 20359 Hamburg p.stoklosa@argus-hh.de INFRASTRUKTUR E-Ladeinfrastruktur DOI: 10.24053/ IV-2024-0059 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 36 das Stadtklima zu entlasten (Santamouris, 2013). Die Stadt Wien untersuchte Weißfärbungen von Straßenbahnschienen und die Schweizerische Bundesbahn (SBB) führte Tests mit weiß beschichteten Schienenabschnitten durch (SBB, 2021; Stadt Wien, 2020). Die nun am Fachgebiet für Bahnbetrieb und Infastruktur (bbi) der TU Berlin durchgeführte Versuchsreihe untersucht erstmals die Effekte einer Weißfärbung des gesamten Schienenoberbaus, nicht nur der Schienen, und gibt einen Ausblick auf die 1. Einleitung Das Phänomen der städtischen Wärmeinsel (Urban Heat Island, UHI) stellt ein zunehmend relevantes Problem dar. Bahninfrastruktur mit dunklen Schienen und dunklem Gleisbett speichert Wärme besonders stark und trägt somit zum städtischen Wärmeauf bau bei. Der Einsatz von reflektierenden Beschichtungen auf Fahrbahnen und Infrastrukturkomponenten wird seit Jahren erforscht, um die Wärmespeicherung zu minimieren und mögliche UHI-Reduktion. Dieser Ansatz ist dahingehend interessant, da bei einer Lackierung ausschließlich der Schienen relativ schnell von einer Abnutzung der Farbe auf dem Schienenkopf (und damit der Notwendigkeit einer erneuten Lackierung) ausgegangen werden muss. Die Fläche des Schienenkopfes ist jedoch minimal im Verhältnis zur Fläche des gesamten Schienenoberbaus. Es kann daher postuliert werden, dass langfristig gezeigt werden kann, dass die Lackierung des gesam- Weiße Bahninfrastruktur zur Reduktion des Urban-Heat-Island-Effekts Temperaturabsenkungen durch weiß gefärbte Oberflächen im Eisenbahn-Betriebs- und Experimentierfeld: Erkenntnisse und Potenziale zur Kühlung urbaner Räume Urban Heat Island, Weißfärbung, Bahninfrastruktur, Temperaturreduktion, Schienenoberbau, Stadtklima Die Urbanisierung führt dazu, dass Verkehrsinfrastrukturen das Phänomen der städtischen Wärmeinsel (Urban Heat Island, UHI) verstärken können. An der Technischen Universität Berlin wurde aus diesem Grund in einem Gleisabschnitt der gesamte Schienenoberbau des Eisenbahn-Betriebs- und Experimentierfelds weiß gefärbt und die Temperaturentwicklung über zwei Testperioden gemessen. Erste Ergebnisse zeigen eine Reduktion der Umgebungstemperatur von über 2,5 °C, besonders in Hochtemperaturphasen. Die Studie grenzt sich von bisherigen Ansätzen ab, welche meist ausschließlich die Schiene betreffen. Lasse Hansen, Rascho Aiso, Birgit Milius Weiße Bahninfrastruktur INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0060 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 37 Die Temperaturdaten beider Segmente wurden in einer Referenzmessung im Juli 2024 ermittelt. Anschließend wurde die weiße Lackierung eines Segments vorgenommen (Bild 2), gefolgt von einer zweiten Messphase im August. Ziel war es, die Temperaturdaten der beiden Segmente untereinander vergleichen zu können, um so Aussagen zu dem Einfluss einer weißen Färbung der Schieneninfrastruktur treffen zu können. Als Farbe zur Lackierung wurde ein weißer Primer des Herstellers „Mankiewicz“ genutzt. Es wurden insgesamt 6 Einheiten á 400 ml Sprühfarbe auf einer Fläche von ca. 2,80 x 9,00 Metern verteilt. 3. Ergebnisse und Erkenntnisse 3.1 Temperaturverläufe im Vergleich Bei der Auswertung der Datensätze wird unter Berücksichtigung der oben genannten Prämisse ein Fokus auf den Vergleich der Umgebungstemperatur gelegt, da das ten Oberbaus zu hervorragenden Effekten ohne häufige Neulackierung führt. 2. Versuchsanordnung und Methodik am Eisenbahn-Betriebs- und Experimentierfeld Zur Untersuchung der Temperaturreduktion durch eine Weißfärbung des Eisenbahnoberbaus wurde im Eisenbahn- Betriebs- und Experimentierfeld der Technischen Universität Berlin ein Gleisabschnitt ausgewählt, der in zwei benachbarte Segmente unterteilt wurde (Bild 1). Beide Segmente liegen in einem Bereich, der im Lauf des Tages sowohl schattige als auch besonnte Zeitfenster hat. Diese Zeitfenster sind für beide Segmente vergleichbar. In beiden Segmenten wurden an vergleichbaren Stellen Temperatursensoren entlang des Oberbaus und an Umgebungspunkten im Abstand von 2,00 m an der Wand rechts in Bild 2 installiert. Wohlergehen der Stadtbewohner im Mittelpunkt der Betrachtung zu den Urban Heat Cells steht. Dies ist ein Unterschied zu den bisherigen Analysen, bei denen vor allem der Zustand (und die mit dem Temperaturwechsel im Zusammenhang stehenden Schienenspannungen) betrachtet wurden. In der Referenzmessung im Juli heizten sich beide Abschnitte bei Sonneneinstrahlung auf bis zu 45 °C auf, wobei der Abschnitt, welcher später weiß lackiert wurde, etwas höhere Temperaturen aufwies (Bild 3). In der zweiten Messphase, nach der Lackierung des hälftigen Segmentes, kehrte sich das Ergebnis deutlich um. Es zeigte sich, dass der weiß lackierte Abschnitt in Hochtemperaturphasen deutlich kühler blieb. Die Umgebungstemperaturen dieses Bereichs lagen in Hochtemperaturphasen mit über 45 °C gemessener Temperatur um bis zu 3,5 °C unter den Temperaturen des unbehandelten Referenzabschnittes. Vor der Lackierung mit weißer Farbe betrug die Temperaturdifferenz der beiden Abschnitte im Mittel +1,61 °C, wobei die höhere Temperatur im Bereich des später weiß lackierten Abschnitts auftrat. Nach der Lackierung kehrte sich diese Differenz um und ergab im Mittel -0,96 °C. Durch die weiße Lackierung des gesamten Oberbaus konnte somit eine Reduktion der Umgebungstemperatur um im Mittel über 2,5 °C erreicht werden. 4. Diskussion und Einordnung der Ergebnisse Die Weißfärbung von städtischer Infrastruktur wird seit Jahren als Strategie zur Bild 1: Positionierung der Sensoren, links unlackierter Abschnitt (Schwellen 8-14), rechts ab August weiß lackiert (Schwellen 1-7), Quelle: Rascho Aiso Bild 3: Weiße Lackierung der gesamten Infrastruktur (halber Testabschnitt), Quelle: Lasse Hansen Bild 2: Versuchsgleisabschnitt mit direkter Sonneneinstrahlung (13: 30 Uhr), Quelle: Lasse Hansen INFRASTRUKTUR Weiße Bahninfrastruktur DOI: 10.24053/ IV-2024-0060 Internationales Verkehrswesen (76) 4ǀ 2024 38 Kühlung urbaner Gebiete betrachtet (Peron et al., 2015). Frühere Studien in Europa konzentrierten sich auf Straßenbahnschienen, wie etwa in Wien, oder Schienenbeschichtungen, wie die Tests der SBB in der Schweiz. Die dokumentierten Temperaturreduktionen bei der Beschichtung einzelner Schienen lagen dabei meist unter 2 °C (SBB, 2021; Stadt Wien, 2020). Der hier durchgeführte Versuch erweitert die bisherige Forschung durch die Beschichtung des gesamten Oberbaus. Dies zeigt neue Potenziale, wie städtische Bahninfrastrukturen zur Reduktion des Urban-Heat-Island-Effekts beitragen können. Der Versuch zeigt auch, dass selbst mit einfachen Mitteln bereits nachweisbare Effekte gezeigt werden können. 5. Fazit und Ausblick Die Ergebnisse der weißen Lackierung des gesamten Schienenoberbaus im Versuchsgleis des Eisenbahn-Betriebs- und Experimentierfelds belegen, dass reflektierende Beschichtungen eine effiziente und klimafreundliche Möglichkeit zur Minderung des Urban-Heat-Island-Effekts darstellen. Eine signifikante Kühlung der Umgebungstemperatur im Gleisbereich kann dazu beitragen, den städtischen Wärmeaufbau zu verlangsamen und das Mikroklima zu verbessern. Die vorliegenden Erkenntnisse werden weitergehend ausgewertet und analysiert. Weitere Analysen sollen auch die Temperaturentwicklungen der Infrastruktur selbst betrachten. Darauf aufbauend sind weitere Forschungen, die in Zusammenarbeit mit Verkehrsunternehmen an neuen Versuchsstrecken durchgeführt werden können, geplant. Diese sollen die Langzeiteffekte und Wirtschaftlichkeit der Methode untersuchen. Langfristig könnte die Weißfärbung des Oberbaus als klimafreundliche, temperaturreduzierende Maßnahme für städtische Verkehrsinfrastrukturen eingesetzt werden. ■ LITERATUR 1. Santamouris, M. (2013). Energy and Climate in the Urban Built Environment. Routledge. 2. Chen, X., Li, Q., und Liu, J. (2020). „Thermal performance evaluation of reflective coatings on asphalt pavements in urban environments.“ Construction and Building Materials, 261, 120489. 3. Peron, F., Costanzo, V., und La Gennusa, M. (2015). „Urban heat island mitigation strategies based on the analysis of urban canyon geometry and street paving properties.“ Energy and Buildings, 86, 174- 183. 4. Hartz-van Dijk, T. (2019). „Mitigation of Urban Heat through Reflective Coatings on Pavements.“ Urban Climate, 29, 100504. 5. Schweizerische Bundesbahnen (SBB). (2021). „Pilotversuche zur Reduktion von Gleistemperaturen mit reflektierenden Beschichtungen.“ SBB Technischer Bericht. 6. Stadt Wien. (2020). „Kühle Straßenbahnschienen: Weißfärbung als Maßnahme gegen das Aufheizen in der Stadt.“ Wien.gv.at. Eingangsabbildung © iStock.com/ Studia72 Bild 4: Temperaturverläufe der Umgebungssensoren vor und nach der weißen Lackierung, Quelle: Lasse Hansen Lasse Hansen, Ing., MBE, Technische Universität Berlin, Fachgebiet Bahnbetrieb und Infrastruktur, Wissenschaftlicher Mitarbeiter l.hansen@tu-berlin.de Rascho Aiso, cand. B.Sc., Technische Universität Berlin, Fachgebiet Bahnbetrieb und Infrastruktur, Studentischer Mitarbeiter aiso@campus.tu-berlin.de Birgit Milius, Prof., Dr.-Ing., Technische Universität Berlin, Fachgebiet Bahnbetrieb und Infrastruktur, Fachgebietsleitung birgit.milius@tu-berlin.de Weiße Bahninfrastruktur INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0060 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 39 lität. Gleichzeitig nimmt der Druck zu, die innerstädtische Mobilität nachhaltiger und zukunftsorientierter zu gestalten, um so die Mobilitätswende voranzutreiben. Andererseits ergeben sich gerade hier viele Möglichkeiten, da in der Regel bereits ein gut entwickeltes Netz des öffentlichen Nahverkehrs, S tädtische Quartiere rücken zunehmend in den Fokus der Mobilitätswende, denn sie stehen vor diversen Herausforderungen: Dichte Bebauung, steigende Pendlerzahlen und begrenzte Parkmöglichkeiten führen zu einer deutlichen Belastung der Lebensquaeine Radinfrastruktur und kurze Wege eine gute Anbindung und hohe Erreichbarkeit gewährleisten. Dies betrifft auch die Stadt Düsseldorf. Die Nutzung von umweltfreundlichen Mobilitätsformen wie Carsharing und Leih- Mikromobilen ist in den besonders beleb- 18 neue Mobilitätsstationen für lebenswerte Quartiere Mehr Nachhaltigkeit und Lebensqualität in der Stadt: Wie Düsseldorf die Mobilitätswende in den Quartieren vorantreibt. Mobilitätswende, Mobilitätsstationen, geteilte Mobilität, Stadtplanung und -entwicklung, lebenswerte Städte Im Rahmen des Landesförderprojektes „Multi-Mo-DUS“ setzt die Stadt Düsseldorf 18 Mobilitätsstationen in besonders belebten Quartieren um. Die Stationen bieten eine Vielzahl an Angeboten wie Carsharing, E-Scooter, Leih-Mikromobile und Ladestationen für E-Fahrzeuge, die den Umstieg auf nachhaltige Mobilitätsalternativen direkt vor der Haustüre der Anwohner*innen erleichtern sollen. Gleichzeitig soll die Aufenthaltsqualität vor Ort dank bedarfsgerechter Gestaltung des öffentlichen Raums erhöht werden. So soll das Projekt als Modell für weitere Städte in NRW dienen. Ariane Kersting, Nora Baisch DOI: 10.24053/ IV-2024-0061 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 40 ten Stadtteilen Pempelfort, Derendorf und Golzheim jedoch noch nicht ausreichend verankert. Dort fehlen zentrale Orte, an denen diese Mobilitätsangebote gebündelt zur Verfügung stehen. Fehlende öffentliche Aufenthaltsorte begründen darüber hinaus, wieso Anpassungsmaßnahmen notwendig sind. Das Förderprojekt „Multi-Mo-DUS“ (Multimodalität für lebenswerte Quartiere) soll eine entsprechende Lösung bieten. Innerhalb von zwei Jahren sollen dabei nicht nur die Mobilität in den zentrumsnahen Wohnquartieren, sondern auch die städtebauliche Gestaltung und Lebensqualität in Düsseldorf verbessert werden. Dabei geht es nicht nur um die Reduzierung der privaten Pkw-Nutzung, sondern um eine umfassende Neugestaltung der Mobilität vor Ort, die den Bedürfnissen der Anwohner*innen und den Anforderungen einer modernen, umweltbewussten Stadt gerecht wird. Alternatives Mobilitätsangebot soll den Umstieg erleichtern Das Herzstück des Stadtraumentwicklung- und Mobilitätsförderprojektes sind die 18 neuen Mobilitätsstationen, die bis 2026 in den Düsseldorfer Stadtteilen Pempelfort, Derendorf und Golzheim entstehen. Diese Stationen bieten den Anwohner*innen vielfältige, leicht zugängliche und umweltfreundliche Mobilitätslösungen, direkt vor ihrer Haustüre. Alltagswege, ob zur Arbeit, zum Einkaufen oder für Freizeitaktivitäten, lassen sich damit einfach und flexibel gestalten. Carsharing-Fahrzeuge stehen für größere Fahrten zur Verfügung, während E-Scooter oder Fahrräder eine schnelle Alternative für kürzere Strecken bieten. Fahrradquartiersgaragen schaffen sichere und witterungsfeste Abstellmöglichkeiten, ohne körperliche Anstrengung. Außerdem trägt eine Vielzahl an Ladestationen für Elektrofahrzeuge dazu bei, den steigenden Bedarf an Ladeinfrastruktur in der Stadt zu decken. Alle Mobilitätsangebote sind dabei einfach und bequem per App buchbar. Die Mobilitätsstationen sind so gestaltet, dass sie eine möglichst breite Zielgruppe ansprechen. Pendler*innen, Anwohner*innen ohne eigenen PKW, junge Familien oder ältere Menschen - für jeden soll eine individuelle, flexible und umweltfreundliche Mobilitätslösung zur Verfügung stehen. Insbesondere die erste und letzte Meile soll auf diese Weise ohne privaten Pkw ermöglicht werden. Pendler*innen können so beispielsweise ein Leih-Fahrzeug auf dem Weg zur ÖPNV-Haltestelle oder auf dem Weg zurück nach Hause nutzen. So soll der Umstieg auf nachhaltige Mobilitätsalternativen bequem und einfach gelingen und langfristig ein neues urbanes Mobilitätsverständnis etabliert werden. Ganzheitliche Planung dank Bedarfsabfrage Ein zentrales Anliegen des Multi-Mo- DUS-Projekts ist die enge Einbindung der Anwohner*innen in die Planungsprozesse. Bereits im Sommer 2023 wurde eine interaktive Bedarfsabfrage durchgeführt, bei der die Bürger*innen ihre Wünsche und Anregungen zu den geplanten Mobilitätsstationen äußern konnten. Diese Beteiligung der Anwohner*innen sorgte dafür, dass die neuen Stationen passgenau auf die Bedürfnisse der jeweiligen Nachbarschaften zugeschnitten wurden. Diese bedarfsorientierte Planung ist ein wichtiger Faktor für den langfristigen Erfolg des Projekts. Die Stationen sollen nicht als isolierte Orte neuer Mobilität, sondern als integrierte Bestandteile der jeweiligen Quartiere wahrgenommen werden. Nur so können sie dazu beitragen, die Mobilität und die Lebensqualität in den dicht besiedelten Stadtteilen nachhaltig zu verbessern. Die Integration verschiedener Mobilitäts- und Stadtentwicklungsmaßnahmen ist daher ein zentrales Element des Projekts. Die Mobilitätsstationen werden nicht nur funktional gestaltet, sondern sollen auch die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum verbessern. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Verbesserung der allgemeinen Fußwegequalität im öffentlichen Raum. Zusätzlich wird die Mobilitäts- und Radinfrastruktur in den Quartieren erweitert und optimiert. Durch die Bereitstellung von Sitzgelegenheiten und insbesondere durch Bepflanzungen, Baumpflanzungen und Dachbegrünungen entstehen darüber hinaus attraktive Orte, die zum Verweilen einladen und das Stadtbild verschönern. Da insbesondere Flächenentsiegelungen nicht überall ohne weiteres möglich sind, füllen zukünftig sogenannte Klimaanpassungsmodule diese Lücke. Sie lassen sich modular kombinieren und individuell an den gegebenen Raum anpassen. Die verwendbaren Elemente sind vielfältig und umfassen unter anderem verschiedene Pflanzkästen, Rankgitter oder Pergoladächer. An den Multi-Mo-DUS-Standorten Schinkel- und Schloßstraße werden erste Module entstehen. An der Schinkelstraße werden dabei mehrere Hochbeete aufgestellt, an der Schloßstraße wird es eine Hochbeet-Bank- Kombination geben. So tragen die Mobilitätsstationen nicht nur zur funktionalen Mobilität bei, sondern verbessern auch das Stadtklima und die Lebensqualität. Stadtweit vernetzt mit dem smarten Mobilitätsnetzwerk Im Rahmen des Förderprojekts arbeitet die Landeshauptstadt Düsseldorf eng mit ihren städtischen Töchtern Connected Mobility Düsseldorf (CMD) und der Rheinbahn zusammen. So wird sichergestellt, dass die verschiedenen städtischen Projekte miteinander verknüpft und aufeinander abgestimmt sind. Grundlage der Förderung durch Mittel des Landes NRW bildet die Förderrichtlinie FöRi-MM. Das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehrs des Landes NRW trägt 80 Prozent der Förderkosten. Die Mobilitätsstationen setzt die CMD im Auftrag des Amtes für Verkehrsmanagement um. Die erste Station im Projektgebiet und damit auch die erste Station in Pempelfort ist am Freitag, den 11. Oktober 2024 offiziell in Betrieb gegangen. Die Mobilitätsstation Schloßstraße bietet verschiedene Angebote geteilter Mobilität wie beispielsweise Carsharing oder eine Ausleih-Station für Leih-Fahrräder und E-Scooter. Eine digital vernetzte und geschlossene Fahrrad- Bild 1: Infostele mit QR-Code zur Bedarfsabfrage Mobilitätswende INFRASTRUKTUR DOI: 10.24053/ IV-2024-0061 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 41 Alter Schlachthof, Gneisenaustraße, Golzheimer-Platz, Pfalzstraße, Rochusstraße, Rochusmarkt, Rolandstraße, Römerstraße, Rosenstraße, Saarbrücker Straße, Scheibenstraße und Tannenstraße. Die Vision in Düsseldorf geht aber weit über das Jahr 2026 hinaus. Bis 2035 ist geplant, das engmaschige Mobilitätsnetzwerk auf insgesamt 100 Mobilitätsstationen in ganz Düsseldorf auszubauen. Dank des flächendeckenden Mobilitätsangebots sollen die Düsseldorfer*innen die Möglichkeit haben, so reibungslos und effizient wie möglich von einem Verkehrsmittel auf das andere zu wechseln. Datenanalysen und die Nutzung von Dashboards helfen dabei, ein möglichst bedarfsgerechtes und nutzerfreundliches Angebot an geteilter Mobilität zu bieten. Denn dafür müssen die Nutzerbedürfnisse verstanden und Auslastungen gesteuert werden. Hierbei kommt das durch die CMD eigens entwickelte „Shared Mobility Dashsammelschließanlage bietet zudem sichere und witterungsfeste Stellplätze für private Fahrräder. Der „Hypercharger“, eine Superschnellladesäule der Stadtwerke Düsseldorf, ermöglicht das besonders schnelle Laden privater E-Autos. Darüber hinaus wurde die Platzfläche am Standort neugestaltet. Verschiedene Sitzmöglichkeiten, darunter auch spezielle Klimaanpassungsmodule, die Sitzgelegenheit mit Begrünung kombinieren, sowie sieben neue Bäume, welche in der kommenden Pflanzsaison gepflanzt werden, sorgen für mehr Grün und Aufenthaltsqualität in der Stadt. Die Baumaßnahmen für fünf weitere Stationen haben bereits gestartet oder starten noch in diesem Jahr: Die Mobilitätsstationen Kunstakademie, Maria-und-Josef-Otten-Platz und Schinkelstraße werden noch in diesem Jahr fertiggestellt, die Stationen Münsterplatz und Bankstraße folgen Anfang 2025. Darüber hinaus entstehen noch zwölf weitere an folgenden Standorten: board“ zum Einsatz. Mithilfe der Plattform können die Positions- und Bewegungsdaten der E-Scooter, Elektroroller und E-Bikes von allen Anbietern in Echtzeit erfasst, verwaltetet, visualisiert und analysiert werden. Diese Daten werden mit Informationen von Parksensoren und Parkverbotszonen, Lastenradautomaten und Fahrradstationen sowie Geo-Daten angereichert und liefern so ein umfassendes Bild über die Nutzung. Vorbildcharakter für die Mobilität der Zukunft Das Projekt zeigt, wie durch eine vernetzte und integrierte Mobilitätsplanung die Herausforderungen dichter Bebauung, des Parkdrucks und des wachsenden Pendlerverkehrs gemeistert werden können. Es zeigt Wege auf, wie Mobilität in zentrumsnahen Wohnquartieren nachhaltig organisiert und dabei die Lebensqualität der Bewohner verbessert, anstatt beeinträchtigt werden kann. Durch die Kombination aus nachhaltigen Mobilitätslösungen und der attraktiven Gestaltung öffentlicher Räume entsteht ein neues Konzept städtischen Lebens. Damit wird die Mobilitätswende in Düsseldorf konkret erlebbar - direkt vor der eigenen Haustür. Durch die gezielte Bündelung und Integration verschiedener Maßnahmen entsteht ein systematischer Ansatz, der sowohl die Verkehrsbelastung reduziert als auch die Aufenthaltsqualität in den Stadtteilen verbessert. Somit hat das Projekt das Potenzial, ein Modell für andere Kommunen in NRW zu sein und als Vorbild für ähnliche Vorhaben zu dienen. ■ Eingangsabbildung: © Connected Mobility Düsseldorf GmbH Ariane Kersting, Leiterin Kommunikation Connected Mobility Düsseldorf GmbH, Carlsplatz 18, 40213 Düsseldorf ariane.kersting@cmd.nrw Nora Baisch, studentische Mitarbeiterin Connected Mobility Düsseldorf GmbH, Carlsplatz 18, 40213 Düsseldorf nora.baisch@cmd.nrw Bild 2: Übersichtskarte mit den Multi-Mo-DUS-Standorten INFRASTRUKTUR Mobilitätswende DOI: 10.24053/ IV-2024-0061 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 42 tiven und nachhaltigen Vermittlung von (Fach-)Wissen Bausteinen zur effekmit den wichtigsten verlag.expert genommen. Internationale Abkommen wie das Pariser Klimaabkommen (2015) und der Glasgow-Klimapakt (2021), die sich das Ziel gesetzt haben, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 bzw. 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, haben Länder dazu veranlasst, ehrgeizige Klimaziele zu setzen. Gleichzeitig fordern Verbraucher zunehmend, dass Unternehmen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ökologisch verantwortungsvoll handeln. China, das beide Abkommen unterzeichnet hat, ist somit wie alle anderen Länder verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zur Begrenzung des CO 2 - und Treibhausgas-Ausstoßes umzusetzen. Zudem hat das Land erkannt, das es auch wirtschaftlich davon profitieren kann, nachhaltige Praktiken zu implementieren. Die Umgestaltung der Lieferketten hin zu mehr Nachhaltigkeit ist dabei ein zentraler Baustein. I n den letzten Jahren ist das Thema Nachhaltigkeit weltweit in den Fokus gerückt. Unternehmen sowie Regierungen sehen sich einem wachsenden Druck ausgesetzt, umweltfreundliche Praktiken zu implementieren. China, als eine der größten Volkswirtschaften und Produktionsstätten der Welt, unternimmt erhebliche Anstrengungen, um nachhaltige Lieferkettenpraktiken zu fördern. Von der Einführung von Elektrofahrzeugen bis hin zur Optimierung von Transportwegen durch Künstliche Intelligenz (KI) zeigt das Land der Mitte, wie technologische Innovationen und ökologische Verantwortung Hand in Hand gehen können. Globaler Druck zur Nachhaltigkeit Der globale Druck, nachhaltige Praktiken in alle Aspekte der Wirtschaft zu integrieren, hat in den letzten Jahren erheblich zu- ESG-Rahmenwerk fördert nachhaltige Geschäftspraktiken Das World Business Council for Sustainable Development beschreibt in einem umfassenden Bericht, wie China seine Rolle in der globalen Lieferkette durch die Förderung nachhaltiger Praktiken und Technologien stärkt [1]. Der Bericht hebt hervor, dass China in den letzten Jahren ein nationales ESG-Rahmenwerk (Environmental, Social, Governance) entwickelt hat, das rasch gewachsen ist. Das Rahmenwerk soll Unternehmen ermutigen, in grüne Technologien zu investieren und nachhaltige Geschäftspraktiken zu implementieren. Wichtige Initiativen umfassen die Förderung von grünen Finanzierungen und die Einführung strengerer Vorschriften zur Reduktion von Umweltbelastungen durch Unternehmen. Zudem wird betont, wie Unternehmen durch Kooperationen und den Einsatz mo- Chinas Führungsrolle bei nachhaltigen Lieferkettenpraktiken Pariser Klimaabkommen, E-Commerce, CO 2 -Emissionen, Predictive Analytics, Künstliche Intelligenz, Recyclingstrategien, IoT Das Land der Mitte unternimmt erhebliche Anstrengungen, um seine Lieferketten nachhaltiger zu gestalten. Aufgrund seiner Vorreiterrolle kann das Land anderen Ländern weltweit als Vorbild dienen. Dirk Ruppik LOGISTIK Lieferketten DOI: 10.24053/ IV-2024-0062 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 44 derner Technologien ihre Lieferketten effizienter und umweltfreundlicher gestalten können. Einführung von Elektrofahrzeugen in die Lieferketten Ein Schlüsselelement in Chinas Strategie zur Förderung nachhaltiger Lieferketten ist die Einführung von Elektrofahrzeugen (EVs). Das Land der Mitte ist bereits der weltweit größte Markt für Elektrofahrzeuge, wobei sich diese Vorreiterrolle auch in der Logistikbranche widerspiegelt. Große E-Commerce-Unternehmen wie JD.com und Alibaba haben begonnen, ihre Lieferflotten auf Elektrofahrzeuge umzustellen, um die Kohlenstoffemissionen erheblich zu reduzieren. JD.com hat bereits über 3000 Elektrofahrzeuge in verschiedenen Städten Chinas im Einsatz und plant, innerhalb der nächsten zwei Jahre seine gesamte Lieferflotte auf alternativ angetriebene Lieferfahrzeuge umzustellen. Die Initiative ist Teil eines umfassenden Programms zur Reduzierung von CO 2 -Emissionen im JD-Logistiknetzwerk, was den CO 2 -Ausstoß pro Fahrzeug um mindestens 20 Tonnen pro Jahr senken könnte [2]. Alibaba hat in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um seine Flotte auf Elektrofahrzeuge umzustellen. Dies steht im Einklang mit den Zielen des Unternehmens, die CO 2 -Emissionen zu reduzieren und bis 2030 klimaneutral zu werden. Generell ist die Umstellung auf Elektrofahrzeuge jedoch nicht nur eine Frage des Umweltschutzes. In städtischen Gebieten, wo die Luftverschmutzung ein erhebliches Problem darstellt, wird durch EVs sowohl die Umweltbelastung verringert als auch die öffentliche Gesundheit verbessert. Ein weiterer Vorteil der Nutzung von Elektrofahrzeugen in der Logistik ist die Reduzierung der Betriebskosten. Sie sind in der Regel energieeffizienter und haben geringere Wartungskosten als herkömmliche Verbrennungsmotoren. Dies ermöglicht es Unternehmen, nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch kosteneffizienter zu arbeiten. KI zur Routenoptimierung China nutzt laut McKinsey KI intensiv zur Optimierung von Routen im Transport- und Logistiksektor, der eine zentrale Rolle in der chinesischen Wirtschaft spielt [3]. Die Optimierung der Routenplanung durch KI basiert auf der Analyse großer Datenmengen, einschließlich Verkehrsdaten, Wetterbedingungen und IoT-Sensordaten von Fahrzeugflotten. Diese KI-gestützten Systeme ermöglichen es, effizientere und umweltfreundlichere Routen zu berechnen, wodurch sowohl die Betriebskosten als auch die CO 2 -Emissionen erheblich reduziert werden. Ein besonderes Beispiel ist die Anwendung von Predictive Analytics zur Vorhersage von Störungen und zur Anpassung der Routen in Echtzeit, was zu einer erheblichen Verbesserung der Flottenverwaltung und der Treibstoffeffizienz führt. Die Implementierung dieser Technologien könnte entscheidend dazu beitragen, dass der „Automobil-, Transport- und Logistiksektor“ bis 2030 einen wirtschaftlichen Wert von etwa 380 Milliarden Dollar generiert. Ein Beispiel für die erfolgreiche Anwendung von KI in der Logistik ist das chinesische Unternehmen Cainiao, der Logistikarm von Alibaba. Cainiao nutzt KI, um die Logistikprozesse zu optimieren. Der Logistiker hat es geschafft, die Lieferzeiten erheblich zu verkürzen, indem es intelligente Algorithmen zur Vorhersage und Planung von Lieferungen einsetzt [4]. Dadurch wurde die Anzahl der zurückgelegten Kilometer pro Lieferung reduziert und zudem der Energieverbrauch als auch die Emissionen verringert. Investitionen in grüne Technologien China hat sich verpflichtet, die Entwicklung und Anwendung grüner Technologien in der Industrie zu fördern, um seine Lieferketten nachhaltiger zu gestalten. Die chinesische Regierung tätigt umfangreiche Investitionen in die Forschung und Entwicklung von erneuerbaren Energien und umweltfreundlichen Produktionsmethoden. Durch staatliche Anreize sollen Unternehmen diese nachhaltigen Technologien zu übernehmen. Das Land spielt eine bedeutende Rolle in der globalen Lithium-Ionen-Batterieindustrie, die jedoch vor großen Herausforderungen steht [5]. Die Branche sieht sich mit Problemen wie der Stabilität der Lieferketten, der Notwendigkeit von Standardisierungen und der Bewältigung von Marktverzerrungen konfrontiert. Die chinesische Regierung unterstützt die Industrie durch gezielte Investitionen in Forschung und Entwicklung, fördert die Zusammenarbeit entlang der gesamten Lieferkette und setzt verstärkt auf Recyclingstrategien, um eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen. Darüber hinaus wurden strenge Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung und zur Einhaltung von Umweltstandards eingeführt, um die Branche weiter zu stärken und sich auf globale Anforderungen vorzubereiten. Die Volksrepublik hat erhebliche Maßnahmen ergriffen, um den Einsatz von recycelbaren Materialien in der Produktion zu fördern und den ökologischen Fußabdruck seiner Lieferketten zu verringern. Die Regierung unterstützt Unternehmen durch eine Reihe von Initiativen, die darauf abzielen, Abfälle zu minimieren und den Kreislauf von Materialien zu schließen [6]. Dazu gehören staatliche Richtlinien, die die Schaffung umfassender Recycling-Systeme bis 2025 vorsehen, sowie Anreize für Unternehmen, die nachhaltige Praktiken umsetzen, wie zum Beispiel das Recyceln von Textilabfällen und die Rückgewinnung von Materialien aus Produktionsabfällen. Diese Bemühungen sind Teil eines breiteren Plans, die Kreislaufwirtschaft voranzutreiben und so zur Reduzierung von CO 2 -Emissionen beizutragen. Die umfassende Integration grüner Technologien in die Lieferketten der Volksrepublik könnte als Modell für andere Länder dienen, die ihre Wirtschaft ökologisch nachhaltiger gestalten wollen. Zudem wird Chinas Rolle in einer zunehmend nachhaltigen Welt bei der Gestaltung umweltfreundlicher Lieferkettenpraktiken zweifellos weiter an Bedeutung gewinnen. ■ LITERATUR [1] China‘s Green Stride Forward: Accelerating Industrial Sustainable Transformation, Peter Bakker, Juni 2024, World Business Council for Sustainable Development, https: / / archive.wbcsd.org/ Overview/ News-Insights/ Insights-from-the-CEO/ China-s- Green-Stride - For ward-Accelerating- Industrial-Sustainable-Transformation, letzter Zugriff: 23.10.2024 [2] Green Supply Chain, JD.com, https: / / corporate. jd.com/ sustainability, letzter Zugriff: 23.10.2024 [3] The Next Frontier for AI in China Could Add $600 Billion to Its Economy, Report by Kai Shen, Xiaoxiao Tong, Ting Wu, and Fangning Zhang McKinsey, https: / / www.mckinsey.com/ capabilities/ quantumblack/ our-insights/ the-next-frontier-for-ai-inchina-could-add-600-billion-to-its-economy#/ , letzter Zugriff: 23.10.2024 [4] Alibaba Cloud, Cainiao Smart Supply Chain: Big Data, AI & Machine Learning, https: / / www.alibabacloud.com/ en/ customers/ cainiao-logistics? _p _ lc=1, letzter Zugriff: 23.10.2024 [5] China lithium imports and rising lithium carbonate Prices, Arendse Huld, China Briefing, https: / / www.china-briefing.com/ news/ chinas-lithiumion-battery-industry-overcoming-supply-chainchallenges/ , letzter Zugriff: 23.10.2024 [6] Policies seek to boost efficiencies in nation‘s waste recycling system, March 2024, China Daily, https: / / english.www.gov.cn/ policies/ policywatch/ 202403/ 20/ content _WS65fa4525c6d- 0868f4e8e5439.html, letzter Zugriff: 23.10.2024 Eingangsabbildung: © iStock.com/ metamorworks Dirk Ruppik Asien-Korrespondent und freier Fachjournalist, Phuket (TH) dirkruppik@gmx.de Lieferketten LOGISTIK DOI: 10.24053/ IV-2024-0062 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 45 gut funktionierendes Infrastruktursystem führt zu niedrigen Transaktionskosten und schafft die Grundlage für eine effiziente Produktion und eine hohe Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Daher kommt dem Bahnsektor eine wesentliche ökonomische Rolle zu. Dabei geht die Bedeutung jedoch D ie Bereiche Wasser, Energie, Telekommunikation und Verkehr stellen aus volkswirtschaftlicher Sicht wesentliche Infrastrukturen dar. Sie sorgen dafür, dass wirtschaftliche, arbeitsteilige und gesellschaftliche Prozesse reibungslos funktionieren. Ein über die reine Transportfunktion hinaus. Ein gut entwickelter Bahnsektor entfaltet auch wirtschaftliche, räumliche, soziale und ökologische Wirkungen. So trägt der Bahnsektor unter anderem als Arbeitgeber zur wirtschaftlichen Entwicklung bei und sichert Kaufkraft und Wohlstand entlang Investitionen im deutschen Bahnsektor Gesamtwirtschaftliche Bedeutung, internationaler Vergleich und Kapazitäten zur Umsetzung Bahnsektor, Investitionen, Rollmaterial, Infrastruktur Der Bahnsektor trägt durch den Transport von Personen und Gütern wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland bei. Darüber hinaus lösen auch die Investitionen des Bahnsektors gesamtwirtschaftliche Effekte aus. Die Investitionen in die Schieneninfrastruktur belaufen sich im Jahr 2021 auf 11 Mrd. Euro, die Investitionen in Rollmaterial auf 2,6 Mrd. Euro. Sie führen zu wirtschaftlichen Effekten in Form von Wertschöpfung von rund 8,9 Mrd. Euro und Beschäftigung von rund 163 000 Arbeitsplätzen - sowohl direkt in der Bahnindustrie als auch indirekt in vor- und nachgelagerten Branchen. Stefanie Gäbler, Dennis Gaus, Anne Greinus, Manuela Kauder, Heike Link, Michel Zimmermann DOI: 10.24053/ IV-2024-0063 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 46 der gesamten Wertschöpfungskette [1]. Der Eisenbahnsektor löst auch durch seine Investitionstätigkeit wirtschaftliche Effekte aus. Investitionen sind das Rückgrat von Wirtschaft und Beschäftigung und damit ein wichtiger Motor für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Sowohl die Bundesregierung als auch die Deutsche Bahn haben angekündigt, in den kommenden Jahren Milliardenbeträge in die Zukunft des Schienenverkehrs zu investieren. Der deutsche Bahnsektor steht aufgrund der steigenden Nachfrage nach öffentlichem Verkehr im Kontext von Klimawandel und Urbanisierung vor großen Veränderungen. Der Erhalt und die Modernisierung der bestehenden Infrastruktur sind unerlässlich, um einen reibungslosen und zuverlässigen Schienenverkehr zu gewährleisten. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurden ehrgeizige Ausbaupläne vorgelegt, die eine Erweiterung des Schienennetzes sowie eine Steigerung der Effizienz und Kapazität des Schienenverkehrs vorsehen. Im Auftrag des Deutschen Zentrums für Schienenverkehrsforschung beim Eisenbahn-Bundesamt (DZSF) untersuchten die INFRAS AG und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Rahmen der Studie „Gesamtwirtschaftliche Bedeutung des deutschen Bahnsektors auf Grundlage der Investitionstätigkeit“ detailliert die im deutschen Bahnsektor getätigten Investitionen in Infrastruktur und Rollmaterial [2]. Investitionen in Infrastruktur und Rollmaterial Der Fokus der Analyse liegt auf den Investitionen in die Infrastruktur und das Rollmaterial im Status quo. Stichjahr der Analyse ist aufgrund der Datenverfügbarkeit das Jahr 2021. Zur Quantifizierung der Investitionen des deutschen Bahnsektors wird das Inländerkonzept angewandt, es werden also nur Unternehmen mit Sitz in Deutschland berücksichtigt. 1 Die Analyse erstreckt sich sowohl auf bundeseigene als auch auf nicht-bundeseigene Eisenbahnen. Ebenso in Betracht gezogen werden die Fahrzeugpools der Länder sowie die Wagenhalter und Leasinggesellschaften mit Sitz in Deutschland, die Schienenfahrzeuge erwerben und vermieten, sowie die Anlagegüterhersteller im Bereich der Infrastruktur und des Rollmaterials. Da Werksbahnen kein öffentlich zugängliches Schienennetz zur Verfügung stellen, sind sie kein Teil der Analyse. 2 Straßenbahnen und U-Bahnen werden in einer separaten Untersuchung berücksichtigt. Die der Analyse zugrundeliegenden Abgrenzungen zeigt Bild 1. Zur Bestimmung der Investitionen der bundeseigenen Eisenbahnen in die Eisenbahninfrastruktur (Oberbau, Kunstbauten, Hochbau, Elektrik, Elektronik, Aufzüge) dienen die aus den Infrastrukturzustandsberichten der DB AG abgeleiteten Investitionsvolumina sowie eine Sonderauswertung der DB AG. Die Daten zu den Investitionen der nicht-bundeseigenen Eisenbahnen stammen aus Erhebungen der Bundesnetzagentur. Die Investitionen in das Rollmaterial basieren auf Daten des Beratungsunternehmens SCI Verkehr, die die Liefervolumina von Schienenfahrzeugen nach verschiedenen Klassifizierungen erfassen. 3 Tabelle 1 zeigt die ermittelten Investitionssummen im Bereich der Schieneninfrastruktur (differenziert nach DB AG und nicht-bundeseigenen Eisenbahnen) und der Schienenfahrzeuge. Insgesamt wurden 2021 etwa 11 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur und 2,6 Milliarden Euro in das Rollmaterial investiert. Rund 90 % der Investitionen in die Infrastruktur und 64 % der Investitionen in das Rollmaterial führten zu Aufträgen in Deutschland. Gesamtwirtschaftliche Bedeutung von Investitionen im deutschen Bahnsektor Unternehmen erzeugen durch ihre Investitionstätigkeit nicht nur betriebswirtschaftliche Effekte für den eigenen Unternehmenszweck, sondern durch den Bezug von Vorleistungen auch volkswirtschaftliche Effekte entlang der gesamten Wertschöpfungskette. So führen Investitionen im Bahnsektor nicht nur zu entsprechenden Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekten innerhalb des Sektors, sondern auch in anderen Wirtschaftsbereichen. Diese gesamtwirtschaftliche Bedeutung bahnspezifischer Investitionen wurde mit Hilfe einer Input-Output-Analyse ermittelt. Dazu wurden Daten der amtlichen Statistik wie Strukturstatistiken im Handel und Dienstleistungsbereich, Statistiken der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR), Input-Output-Tabellen und Daten zur Arbeitsproduktivität verwendet. 4 Berücksichtigt wurden sowohl direkte als auch indirekte Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekte. Die direkten Effekte messen die Wertschöpfung und Beschäftigung, die direkt durch die getätigten Investitionen im Unternehmenscluster entstehen. Zur Umsetzung der Investitionen werden Vorleistungen benötigt, deren Produzenten wiederum Vorleistungen beziehen. So ent- Bild 1: Untersuchungsgegenstand und Systemgrenzen Legende: blau = Gegenstand der Untersuchung, blau-gestrichelt = teilweise berücksichtigt, grau = nicht Gegenstand der Untersuchung. Grafik INFRAS. Quelle: [2] Tabelle 1: Investitionen in Schieneninfrastruktur und Fahrzeuge (in Mio. Euro) 2021 Infrastruktur 10.921 DB AG 10.681 nicht-bundeseigene Eisenbahnen 240 Fahrzeuge 2.643 Quellen: DB AG (IZB), DB Netz AG (Sonderauswertung), ViZ, SCI Verkehr; [2]. Investitionen MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0063 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 47 frastruktur und 450 VZÄ je 100 Mio. Euro Investitionen in Rollmaterial. Internationaler Vergleich der Investitionen in die Schiene Um das deutsche Investitionsniveau international einzuordnen, werden die Investitionen in den Schienenverkehr mit denen anderer Länder verglichen. Dazu werden die Investitionen pro Einwohner und pro Quadratkilometer sowie der Anteil der Schieneninvestitionen an den gesamten Verkehrsinfrastrukturinvestitionen und am Bruttoinlandsprodukt (BIP) herangezogen. 5 Eine besondere Herausforderung bei einem internationalen Vergleich besteht in der statistischen Abgrenzung (z. B. in der Definition von „Verkehrsinfrastruktur“), da diese zwischen den Ländern variiert. Darüber hinaus sind bei einem internationalen stehen durch die Investitionen Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekte entlang der Wertschöpfungskette. Diese vorgelagerten Effekte werden in den indirekten Effekten erfasst. Dabei wird die gesamte Wertschöpfungskette berücksichtigt, die mit der Produktion der betrachteten Anlagegüter verbunden ist. Die Investitionen in das Rollmaterial in Höhe von 2,6 Mrd. Euro im Jahr 2021 führen insgesamt zu einer Wertschöpfung von ca. 0,8 Mrd. Euro in Deutschland (siehe Bild 2). Davon entfallen 0,3 Mrd. Euro auf die direkte und 0,5 Mrd. Euro auf die indirekte Wertschöpfung. Die Investitionen in die Infrastruktur generieren im Vergleich zum Rollmaterial eine deutlich höhere Wertschöpfung. Die Investitionen von 11 Mrd. Euro im Jahr 2021 führen zu einer aggregierten Wertschöpfung von 8,1 Mrd. Euro, davon 3,9 Mrd. Euro direkt und 4,2 Mrd. Euro indirekt. Für jeden in die Infrastruktur investierten Euro werden somit rund 0,74 Euro an Wertschöpfung generiert, beim Rollmaterial sind es 0,31 Euro. Wie bei der Wertschöpfung ist auch bei den Beschäftigungseffekten ein Großteil auf die Investitionen in die Schieneninfrastruktur zurückzuführen. Insgesamt sind ca. 163.000 Vollzeitäquivalente (VZÄ) an der Produktion der relevanten Güter beteiligt, davon ca. 107.000 in den direkt an den Infrastrukturprojekten beteiligten Branchen wie Bau, Planung und Materialherstellung. Weitere 54.000 VZÄ entstehen als indirekte Effekte durch die erhöhte Nachfrage nach Vorleistungen (siehe Bild 2). Für das Rollmaterial belaufen sich die Beschäftigungseffekte auf rund 4.500 VZÄ direkt und 7.300 VZÄ indirekt. Normiert man die Werte zur besseren Vergleichbarkeit, so ergeben sich Beschäftigungseffekte von 980 VZÄ je 100 Mio. Euro Investitionen in die Schienenin- Vergleich von Verkehrsinvestitionen generelle Probleme bei der Wahl einer geeigneten Bezugsbasis zu berücksichtigen. So findet der Investitions- und Transportbedarf (qualitativ und quantitativ) in den untersuchten Indikatoren keine Berücksichtigung. Sie sind daher mit Vorsicht zu interpretieren und stellen nur eine Annäherung dar. Bild 3 zeigt vier Indikatoren im Zeitraum von 2000 bis 2021 für Deutschland, den Durchschnitt der OECD und EU sowie für das 1.-9. Quantil der OECD. Bis 2004 lag Deutschland mit seinen Investitionen in allen vier Indikatoren über dem Durchschnitt der OECD. In den folgenden Jahren wurde, verglichen mit der OECD, unterdurchschnittlich in die Schiene investiert. Bezogen auf die Fläche bzw. die gesamten Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur näherten sich die Investitionen in Deutschland ab 2012 dem OECD-Durchschnitt an bzw. lagen wieder leicht darüber. Für die Investitionen pro Einwohner bzw. als Anteil am BIP gilt dies seit 2019/ 2020. Betrachtet man den Durchschnitt der EU-Länder, so lag der Anteil der Schieneninvestitionen am BIP in Deutschland über den gesamten Zeitraum unter dem Wert der EU. Bei den anderen Indikatoren investierte Deutschland im EU-Vergleich zunächst unterdurchschnittlich, seit 2012 (pro km²) bzw. seit 2016/ 2017 jedoch überdurchschnittlich. Aufgrund der genannten Herausforderungen bei internationalen Vergleichen von Investitionen lässt sich keine Einschätzung ableiten, ob Länder dem Bedarf entsprechend investieren. Die Indikatoren geben jedoch in Anbetracht von Problemen mit Pünktlichkeit und Zugausfällen in Deutschland, die zum Teil auf unzureichende Erhaltungsinvestitionen in die Infrastruktur zurückzuführen sind, Hinweise auf eine unzureichende Investitionstätigkeit. Bild 2: Direkte und indirekte Wertschöpfungs- und Beschäftigungswirkung der Investitionen. Grafik INFRAS. Quelle: [2] Bild 3: Investitionen der OECD-Länder in die Schieneninfrastruktur. Grafik: INFRAS Quelle: [2] MOBILITÄT Investitionen DOI: 10.24053/ IV-2024-0063 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 48 Kapazitäten zur Umsetzung gesteigerter Investitionen im Bereich Eisenbahn Die von der DB AG geplante Generalsanierung hochbelasteter Korridore sowie das politische Ziel der Verkehrswende mit einer höheren Nutzung des Bahnverkehrs werden in den kommenden Jahren hohe Investitionen in das Schienennetz und Fahrzeuge erfordern. Investitionen führen zu positiven gesamtwirtschaftlichen Effekten. Allerdings können sie diese nur entfalten, wenn für die Umsetzung gesteigerter Investitionsvolumina auch entsprechende Kapazitäten vorhanden sind. Die Bereiche, die von den Investitionen in die Schieneninfrastruktur profitieren, sind personell bereits voll ausgelastet und haben erhebliche Probleme, zusätzliches Personal zu rekrutieren. So gibt es im Tief bau seit 2018 mehr offene Stellen als Arbeitssuchende [3]. Umfragen zeigen, dass ein Drittel der Unternehmen im Hochbau und bis zu zwei Drittel der Unternehmen im Tief bau Schwierigkeiten haben, offene Stellen zu besetzen [4] [5]. Die Personalengpässe betreffen nicht nur Fachkräfte, sondern auch Praktikanten und Auszubildende sowie ungelernte Arbeitskräfte [4] [6]. Eine Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit bestätigt einen deutlichen Personalmangel im Tief- und Gleisbau [7]. Die Personalsituation in den für den Bahnsektor relevanten Baubranchen scheint somit bereits bei dem derzeitigen Investitionsniveau seit Jahren zunehmend angespannt. Um eine Steigerung der Investitionen in den kommenden Jahren zu ermöglichen, müsste systematisch zusätzliches Personal aufgebaut werden. Hierfür ist jedoch eine langfristige Planungssicherheit, z. B. durch einen planbaren Aufwuchs der Investitionsmittel und eine über mehrere Jahre gesicherte Finanzierung, erforderlich. Eine weitere Herausforderung für das Baugewerbe, die auch den Bereich der Schieneninfrastruktur betrifft, stellen gestiegene Kosten dar. Während sich die insbesondere in den Jahren 2021 und 2022 stark eingeschränkte allgemeine Materialverfügbarkeit verbessert hat [8] [9] [10], beeinflussen die gestiegenen Energie- und Rohstoffkosten weiterhin die Baukosten. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass ein höheres Investitionsniveau nur begrenzt zu zusätzlichen Bauaktivitäten führt. Bei der Beschaffung und dem Bau von Rollmaterial sind Kapazitätsprobleme weniger problematisch. Verzögerungen bei Neufahrzeugen sind in der Regel nicht auf Personalengpässe, sondern auf technische Probleme oder Zulassungsfragen zurückzuführen [11]. Trotz gelegentlicher Schwierigkeiten in der Lieferkette sollten gesteigerte Investitionen in Rollmaterial umgesetzt werden können. Der akute Personalmangel im Eisenbahnbetrieb führt jedoch dazu, dass Investitionen in neue Fahrzeuge nur bedingt (z. B. durch größere Fahrzeuge) in zusätzliche Transportkapazität umgesetzt werden können. ■ LITERATUR [1] Böttger, C., Maennig, W., Hartmann, E., Barsch, K., Waldmann, L., Specht, G. und Brockmann L. (2021). Untersuchung der volkswirtschaftlichen Bedeutung des deutschen Bahnsektors auf Grundlage der Beschäftigungswirkung, Berichte des Deutschen Zentrums für Schienenverkehrsforschung (14), DOI: https: / / doi.org/ 10.48755/ dzsf.210001.01. [2] Greinus, A., Zimmermann, M., Esche, C., Peter, M., Link, H. und Gaus, D. (2024): Gesamtwirtschaftliche Bedeutung des deutschen Bahnsektors auf Grundlage der Investitionstätigkeit, Berichte des Deutschen Zentrums für Schienenverkehrsforschung, DOI: https: / / doi.org/ 10.48755/ dzsf.240015.01. [3] Bundesagentur für Arbeit (2023): Berufe auf einen Blick. Retrieved February 8, 2024, from https: / / statistik.arbeitsagentur.de/ DE/ Navigation/ Statistiken/ Interaktive-Statistiken/ Berufe-auf-einen- Blick / Berufe-auf-einen-Blick-Anwendung-Nav. html [4] DIHK (2023b): Fachkräfteengpässe gefährden Transformation und Innovation: DIHK-Report Fachkräfte 2023/ 2024. Berlin. Retrieved from https: / / www.dihk.de/ resource/ blob/ 107882/ f8e2f- 248f 04aaf10e622d5a0fcb38df 9/ fachkraef te dihk-fachkraeftereport-2023-data.pdf [5] Garnitz, J., Sauer, S., & Schaller, D. (2023): Arbeitskräftemangel belastet die deutsche Wirtschaft. Ifo Schnelldienst, (09/ 23), 60-64. Retrieved from https: / / www.ifo.de/ publikationen/ 2023/ zeitschrift-einzelheft/ ifo-schnelldienst-092023-umverteilung-familienpolitik [6] DIHK (2023): Ausbildung 2023: Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung. Berlin. Retrieved from https: / / www.dihk.de/ resource/ bl ob/ 101096/ 2c6f6df4f883ffb6060c65d8fc69a78a/ fachkraefte-dihk-ausbildungsumfrage-2023-data.pdf [7] Bundesagentur für Arbeit (2023): Engpassanalyse. Retrieved February 8, 2024, from https: / / statistik.arbeitsagentur.de/ DE/ Navigation/ Statistiken/ Interaktive-Statistiken/ Fachkraeftebedarf/ Engpassanalyse-Nav.html [8] Dorffmeister, L. (2022): Branchen im Fokus: Tiefbau. Ifo Schnelldienst, (06/ 22), 51-54. Retrieved from https: / / www.ifo.de/ publikationen/ 2022/ zeitschrift-einzelheft/ ifo-schnelldienst-062022-geldund-fiskalpolitik-der-eu [9] Gornig, M., & Pagenhardt, L. (2024): Bauvolumen dürfte erstmals seit der Finanzkrise nominal sinken - Lage im Wohnungsbau spitzt sich zu. DIW Wochenbericht. Retrieved from https: / / www.diw. de/ de/ diw_01.c.889485.de [10]Hummel, M., Hutter, C., & Weber, E. (2022): Wie die Materialengpässe den Arbeitsmarkt treffen. Wirtschaftsdienst, 102(4), 316-318. Retrieved from https: / / www.wirtschaftsdienst.eu/ inhalt/ jahr/ 2022/ heft/ 4/ beitrag/ wie-die-materialengpaesse-den-arbeitsmarkt-treffen.html [11] Kirnich, P. (2019, January 17): Bei der Bahn ist Verspätung programmiert. Frankfurter Rundschau. Retrieved from https: / / www.fr.de/ wirtschaft/ bahn-verspaetung-programmiert-11268653.html ENDNOTEN 1 Die Investitionen des Eisenbahnsektors im Ausland sowie die Importe entsprechender Anlagegüter werden - soweit in den Daten separat darstellbar - nicht in die Analyse einbezogen. Auch Nachfrageimpulse aus dem Ausland sind nicht Bestandteil der Analyse. Ausländische Unternehmen, die in Deutschland tätig sind und investieren, werden nur dann berücksichtigt, wenn diese Investitionen über inländische Tochtergesellschaften erfolgen. 2 Dass gewisse Investitionen von Werksbahnen jedoch Teil der Datenquellen sein könnten, kann nicht ausgeschlossen werden. 3 Für eine detaillierte Beschreibung der analysierten Datenquellen, des verwendeten Investitionsbegriffes, der Abgrenzung des Verkehrsträgers Eisenbahn sowie umfangreichen Auflistungen der getätigten Investitionen siehe [2]. 4 Für eine detaillierte Beschreibung der Methodik und der zugrundeliegenden Daten siehe [2]. 5 Die Analyse basiert auf Daten des ITF/ OECD, die mittels der von der OECD publizierten Umrechnungskurse und Deflatoren in Euro in konstante Preise des Jahres 2015 umgerechnet wurden. Eine Bereinigung um Kaufkraftparitäten erfolgte nicht. Die zur Bildung der Indikatoren erforderlichen zusätzlichen Daten wie Fläche und Bruttoinlandsprodukt wurden der Weltbank entnommen, die historischen Bevölkerungsdaten stammen von der OECD. Für eine detailliertere Beschreibung siehe [2]. Eingangsabbildung: © iStock.com/ ollo Stefanie Gäbler, Dr., Wissenschaftliche Referentin, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung gaeblerst@dzsf.bund.de Dennis Gaus, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, DIW Berlin e.V. dgaus@diw.de Anne Greinus, Dr., Geschäftsleiterin, Partnerin, INFRAS AG Anne.greinus@infras.ch Manuela Kauder, Dr., Wissenschaftliche Referentin, Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung kauderm@dzsf.bund.de Heike Link, Dr., Bereichsleiterin Verkehrsökonomie, DIW Berlin e.V. hlink@diw.de Michel Zimmermann, Dr., Projektleiter, INFRAS AG Michel.zimmermann@infras.ch Investitionen MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0063 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 49 ärmeren Alltagsmobilität zustimmen, um damit mehr Aufenthaltsqualität, sichere Räume zum Spielen für Kinder und für den Austausch mit den Nachbarn zu schaffen? 2 Der Möckernkiez in Berlin-Kreuzberg bietet die Möglichkeit, dieses Konzept näher zu betrachten. Ziel des Beitrags ist es, die Mobilitätssituation vor Ort darzustellen, die Bedürfnisse seitens der Anwohner: innen, auftretende Schwierigkeiten und Lösungsvorschläge für die Organisation der Alltagsmobilität zu 1. Einleitung: Die Mobilitätswende ist in Berlin durch das Mobilitätsgesetz (2018) vorgesehen, allerdings sind die Fortschritte räumlich sehr unterschiedlich. Häufig zeigt sich auch, dass nicht alle Menschen die Umgestaltung der Infrastrukturen in Richtung mehr Fuß- und Radverkehr sowie öffentlichem Nahverkehr begrüßen. 1 Was wäre an einem Ort möglich, der verkehrsberuhigt geplant wurde und somit alle Menschen, die dorthin ziehen, prinzipiell der Idee einer autountersuchen. Die Ergebnisse können Hinweise darauf geben, wie die Mobilitätswende flächendeckend umgesetzt und skaliert werden kann. Sie zeigen, wie die Ausgestaltung eines Kiezes und das Zusammenleben durch eine gemeinschaftlich „von unten strukturierte“ Mobilitätswende funktionieren kann. 2.Untersuchungsgebiet Das Neubaugebiet liegt innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings, ist eingebettet in Be- Die Mobilitätswende am Best-Practice-Beispiel des Berliner Möckernkiez Mobilitätswende, Best Practice, autofrei, Verkehrsberuhigung, Bottom-up-Prozess Im Vergleich zu Berlin ist der Möckernkiez ein Vorreiter in der Mobilitätswende. Als „Zwischenraum“ entwickelt sich hier eine auto-unabhängigere und umweltfreundlichere Lebensweise. Autos sind seltener und werden weniger genutzt, während der Alltag meist zu Fuß, per Rad, ÖPNV oder Sharing- Diensten bewältigt wird. Gemeinsam erarbeiten die Anwohner: innen Lösungen für verbleibende Herausforderungen wie dem Umgang mit Liefer-, Pflege- und Handwerksverkehr. Die Analyse der Stärken und verbleibenden Probleme des Kiezes bietet wertvolle Erkenntnisse für andere Städte und Stadtteile mit ähnlichen Ambitionen. Dominik Buhl, Julia Jarass MOBILITÄT Best Practice DOI: 10.24053/ IV-2024-0064 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 50 standsstrukturen und grenzt an den Park am Gleisdreieck an. Als Genossenschaft ist es von Bürgerinnen und Bürgern als eine Gemeinschaft für „selbstverwaltetes, soziales und ökologisches Wohnen“ konzipiert worden. 3 Es besteht aus 14 Wohngebäuden, die im Passivhausstandard und nach bauökologischen Kriterien errichtet wurden. Miteinander verbunden sind die Gebäude durch eine autofreie „Kiezstraße“, Spielplätze sowie Gartenhöfe und -flächen (Bild 1). Seit dem ersten Einzug im Jahr 2018 leben mittlerweile knapp 1.000 Personen in 471 Wohneinheiten im Möckernkiez. In Form einer Online-Befragung wurden mehrere Erhebungswellen nach dem Einzug der Bewohner: innen durchgeführt. Das Online-Survey bestand aus geschlossenen Fragen (Multiple-Choice, Ja/ Nein und Skalenfragen) und offenen Fragen. Die Anzahl der Teilnehmenden lag bei n=182 (2022), n=153 (2021) und n=379 (2018). Der Rücklauf entspricht für jede Welle damit einem Anteil von mindestens 15 % aller Bewohner: innen. Bild 2 zeigt die Verteilung von Geschlecht, Haushaltsgröße und Alter im Sample für 2022. Mit einem Fokus auf die aktuellste Erhebungswelle aus dem Jahr 2022 werden im Folgenden deskriptive Ergebnisse zur Mobilitätsausstattung der Bewohner: innen, zu Herausforderungen der Verkehrsberuhigung und zu Lösungspotenzialen dargestellt. 3.Pkw-Besitz und Verkehrsmittelnutzung im Möckernkiez Pkw-Besitz Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg kamen im Jahr 2022 141 Pkw auf 991 Möckernkiez-Bewohner: innen, d. h. 0,14 Autos pro Kopf. 4 Dies ist beinahe identisch mit den Ergebnissen unserer Befragung: Im Jahr 2022 gaben 29 % der Befragten an, dass es in ihrem Haushalt ein Auto gibt. Bei einer durchschnittlichen Haushaltgröße von 2,27 Personen sind das 0,13 Autos pro Kopf. Im ganzen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg waren es im selben Jahr 61.432 Pkw auf 293.231 Einwohner: innen, d. h. 0,21 Autos pro Kopf. 5 In ganz Berlin waren es 0,32 Autos pro Kopf, also fast zweieinhalb mal so viele wie im Möckernkiez. 6 Berlin lag damit noch deutlich unter allen anderen Bundesländern. 7 Weitere Verkehrsmittelausstattung und -nutzung Obwohl 29 % der Befragten ein Auto zur Verfügung haben, wird es nur von 2 % der Befragten (fast) täglich benutzt. 13 % benutzen das eigene Auto 1-3-mal pro Woche und 8 % der Befragten 1-3-mal pro Monat. Die meisten Befragten bewältigen ihren Alltag zu Fuß, auf dem Fahrrad oder mit dem ÖPNV. 90 % der Befragten besitzen mindestens ein Fahrrad. Knapp 50 % der Befragten verfügen über eine Jahreskarte für den ÖPNV. Darüber hinaus sind 22 % der Befragten bei einer Car-Sharing-Plattform angemeldet, die sie 1-3-mal im Monat oder weniger benutzen. Diese Befunde sind relativ stabil über den untersuchten Zeitraum von fünf Jahren. Zufriedenheit mit der Mobilität im Kiez und Herausforderungen Ein Anteil von 72 % der Befragten beurteilt die Situation auf der „Kiezstraße“, die die Wohnhäuser miteinander und mit dem Straßennetz außerhalb des Kiezes verbindet, „sehr positiv“ oder „eher positiv“. Weitere 13 % beurteilen die Situation als „neutral“ und 14 % als „eher negativ“ oder „sehr negativ“ (Bild 3). Trotz der großen Zufriedenheit der Befragten mit der Mobilitätssituation in ihrem Kiez (Bild 3) gibt es im Möckernkiez dennoch Probleme. Auf diese lässt sich zum Teil aus den Daten schließen: 29 % der Befragten geben an, dass es in ihrem Haushalt ein Auto gibt, das nur in 2 % der Fälle täglich verwendet wird. Von diesen Personen können sich bis auf wenige „nicht vorstellen, im Jahr 2022 ihr Auto abzuschaffen” (Bild 4). Woran das liegt, ist eine komplexe Frage, auf die unsere Daten zwei Antworten zulassen. Erstens haben mehrere Personen in einem offenen Textfeld beschrieben, wie die Bild 1: Möckernkiez. Quelle: picryl.com/ media/ kiezplatz-im-mockernkiez-in-berlin-mit-dergeschaftsstelle-der-mockernkiez-f0c570 Bild 2: Beschreibung der 156 Teilnehmenden in der Datenerhebung von 2022 Best Practice MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0064 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 51 oder die während der Corona-Pandemie zu Risikogruppen gehörten, sowie für Familien mit kleinen Kindern (keine oder kaum Kindersitze im Car-Sharing). Diese Erfahrungen bestätigen den Befund, dass insbesondere die Perspektive von körperlich Alternativen zum motorisierten Individualverkehr, d. h. ÖPNV und Car-Sharing- Angebote, ihren besonderen Mobilitätseinschränkungen nicht gerecht werden. Dies war der Fall für Personen, die mobilitätseingeschränkt oder pflegebedürftig sind eingeschränkten Personen in der Mobilitätswende häufig nicht mitgedacht wird. 8 Zweitens haben all diejenigen Personen, die sich nicht vorstellen können, ihr Auto abzuschaffen, angegeben, dass sie in ihrer Entscheidungsfreiheit darüber, (a) ihr Auto abzuschaffen oder (b) ihr Auto nicht zu verwenden, von außen beschränkt sind. Das heißt, dass diese Personen in einen Alltag mit Lohnarbeits- und Pflegearbeitsverhältnissen eingebettet sind, bei dem sie den Eindruck haben, dass sie nicht auf ein Auto verzichten könnten, selbst wenn sie es wollten. Bild 5 sammelt die wichtigsten Sorgen und Wünsche, die die Menschen im Möckernkiez in Hinblick auf die Verkehrssituation beschäftigen. Die grün markierten Aussagen sind solche, die relativ einfach und kostengünstig umgesetzt werden könnten. Die rot markierten Aussagen weisen auf Zielkonflikte hin, in denen die Meinungen, bzw. Interessen unterschiedlicher Gruppen auseinandergehen. Hier sind vier Zielkonflikte zu erkennen. Erstens, der Umgang mit den noch übrigen Privatautos. Zweitens, der Umgang mit Lieferdiensten und Handwerksverkehr. Drittens, die Regulierung des Fahrradverkehrs (insb. Temporegulierung). Viertens, der Umgang mit Pflegediensten und Taxis aus der oben angesprochenen Perspektive mobilitätseingeschränkter Personen und deren Inklusion. 4. Lösungsmöglichkeiten für Herausforderungen der Verkehrsberuhigung Aus den Aussagen der Befragten konnten konkrete Ideen herausgefiltert werden, wie einige der oben genannten ‚Zielkonflikte‘ gelöst werden könnten (Bild 6). Um die Abhängigkeit von Pkw-Besitz und -Nutzung weiter zu reduzieren, könnte eine kiezinterne Plattform zum Mitfahren oder Ausleihen von Pkws oder Fahrradanhängern installiert werden. Eine verbesserte Parksituation außerhalb des Kiezes könnte die Kiezstraße auch von Pflege-, Liefer- und Handwerksverkehr zunehmend befreien. Letzterer könnte weiter reduziert werden, indem Termine mit Handwerker: innen über eine kiezinterne Plattform gebündelt werden. Weitere Lösungsansätze wären, neben der eigenen Beschränkung von Konsumlieferungen, ein zentrales Paketlager für alle Paketdienste, ein ausgewiesener Abstellort für E-Roller und Essenslieferant: innen sowie das Ausblenden der Kiezstraße als befahrbare Straße bei digitalen Kartendiensten wie Google Maps. Um den Fahrradverkehr zu regulieren, könnte ein Fahrradstreifen auf der Kiezstraße installiert werden. Ein erster Schritt, um besser auf die Bedürfnisse von mobilitätseingeschränkten Personen einzugehen, wäre die Bereitstellung von Bild 3. Antworten der Befragten auf die Frage wie sie die Verkehrssituation im Kiez beurteilen (n=162) Bild 4. Antworten der Autobesitzenden (n=51) auf die Aussage „Ich habe fest vor, im Jahr 2022 ein Auto abzuschaffen”. Die Y-Achse beschreibt die Anzahl der Befragten Bild 5. Verbreitete Meinungen über die Mobilität im Kiez. Die rote Markierung kennzeichnet Zielkonflikte, die grüne Markierung kennzeichnet Meinungen mit geringerem Konfliktpotential. Die Zahlen in Klammern geben an, wie häufig die jeweilige Meinung geäußert wurde (n=156) MOBILITÄT Best Practice DOI: 10.24053/ IV-2024-0064 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 52 schattigen Orten zum Verweilen oder Warten auf Pflegedienste oder Taxis. Fazit Die Analyse des autofreien Wohngebiets im Möckernkiez in Berlin zeigt, dass der Pkw- Besitz bereits im städtischen Kontext relativ gering ist und in diesem verkehrsberuhigten Quartier nochmals besonders niedrig ausfällt. Das Beispiel zeigt, dass hier schon vieles in Richtung Mobilitätswende erreicht wurde und gleichzeitig auch Herausforderungen bestehen. Insbesondere in Bezug auf die Fragen, wie mit den verbleibenden Privatautos umgegangen wird, welchen Zugang Lieferdienste und Handwerksverkehr gewährt bekommen, inwiefern die Geschwindigkeit des Fahrradverkehrs reguliert wird und inwiefern mobilitätseingeschränkte Personen Pflegediensten und Taxis Zugang geben können, gibt es noch Klärungs- und Handlungsbedarf. Die Idee des Möckernkiezes, als gut organisierte Bottom-up-Gemeinschaft neue Stadtstrukturen zu etablieren und ein Zusammenleben ohne Auto zu ermöglichen, ist eine bisher besondere Art und Weise, um die Mobilitätswende umzusetzen. Dabei geht es auch darum, die konkreten Bedürfnisse an die Gestaltung des Alltags gemeinsam im Diskurs zu artikulieren und nach praktischen Lösungen zu suchen. Denn der freiwillige Umzug in einen solchen verkehrsarmen Kiez bedeutet nicht zwangsläufig eine vollständige Abkehr vom Auto in der Alltagsmobilität. Diese Diskrepanz deutet darauf hin, dass individuelle Mobilitätsentscheidungen nicht allein durch das Wohnumfeld bestimmt werden, sondern in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext stehen. Hier zeigt sich, dass die Aushandlung der Verkehrssituation kontinuierlich passieren muss und kein ‚Endzustand‘ erreicht ist. Darüber hinaus lassen sich Zielkonflikte, wie etwa der Wunsch nach umfassender Verkehrsberuhigung, nicht isoliert auf Quartiersebene lösen. Sie sind eingebettet in übergeordnete gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken, die die lokalen Rahmenbedingungen beeinflussen. Der Möckernkiez illustriert, dass auch innerhalb des aktuellen Systems ambitionierte Verkehrsberuhigungsmaßnahmen realisierbar sind. Dabei sollte man die Stadt oder Gesellschaft nicht als ein perfekt integriertes System begreifen, sondern als ein Gefüge, in dem sich an einigen Stellen Zwischenräume eröffnen. 9 Solch ein Zwischenraum, wie der des Möckernkiezes mit seinen 991 Bewohner*innen und 30.000 m² Fläche, besitzt das Potenzial, Ideen eines zukünftigen, nachhaltigeren Gesamtsystems vorwegzunehmen. Innerhalb dieses Zwischenraums können deliberative Entscheidungsprozesse (wie das Kiez-Plenum), umweltfreundlichere Mobilitätsformen und lokale Infrastrukturen im Kleinen entwickelt werden. Durch die Schaffung von Strukturen, die ein Leben ohne Auto erleichtern, können alternative Lebens- und Mobilitätsformen erprobt werden. 10 Dennoch führen die bestehenden rechtlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen oft zu einer Blockade umfassenderer, progressiver Maßnahmen. Dies trägt zu Frustrationen und Spannungen innerhalb des Quartiers bei, da die Ambitionen der Bewohner*innen nicht vollständig umgesetzt werden können, was letztlich die Grenzen lokaler Mobilitätslösungen aufzeigt. Danksagung Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Programms Forschung für nachhaltige Entwicklung (FONA) gefördert. Das Projekt ist Teil des größeren Verbundprojekts „EXPERI - Die Verkehrswende als sozial-ökologisches Realitätsexperiment“, das untersuchen soll, wie die sozial-ökologische Verkehrswende in Metropolregionen gelingen kann. Das EXPERI-Projektnetzwerk besteht aus der Technischen Universität Berlin, dem Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) und dem DLR-Institut für Verkehrsforschung. Wir danken Prof. Dr. Sophia Becker und Johanna Barkam für die Erhebung der Daten und Dr. Michael Hardinghaus für die grundlegenden und wertvollen Hinweise zum Manuskript. ■ Eingangsabbildung: © iStock.com/ blyjak ENDNOTEN 1 Andor, M., Helmers, V., Hoenow, N., Hümmecke, E., Memmen, M. (2024). „Stimmungsbild Verkehrspolitik: Wie steht die deutsche Bevölkerung zu den meistdiskutierten verkehrspolitischen Maßnahmen? - Ein bundesweiter Vergleich der Zustimmung in der Bevölkerung“. RWI Heft 164. 2 Christ, W. & Loose, W. (2001). “Städtebauliche und ökologische Qualitäten autofreier und autoarmer Stadtquartiere“, Bauhaus-Universität Weimar und Öko-Institut e.V., Freiburg; Lanzendorf, M., Scheffler, C., Trost, L., & Werschmöller, S. (2022). “Implementing bicycle-friendly transport policies: Examining the effect of an infrastructural intervention on residents’ perceived quality of urban life in Frankfurt, Germany”. Case Studies on Transport Policy, 10(4), 2476-2485. 3 https: / / www.moeckernkiez.de/ . Siehe auch das Video des “Cities-4-People” Projekts über den Möckernkiez: https: / / www.youtube.com/ watch? v=v2GhxK3DUg0&ab_channel=cities4people. 4 Amt für Statistik Berlin-Brandenburg -Einwohnerregisterstatistik (Bestands- und Bewegungsdaten). 5 h t t p s : / / w w w. s t a t i s t i kb e r l i n b r a n d e n b u r g . de/ 076-2023. Einwohnerzahlen auf Bezirksebene, vgl. Seite 5 der „Einwohnerregisterstatistik Berlin 31. Dezember 2023“: https: / / download.statistikberlin-brandenburg.de/ 33c9036f104cc704/ 5066 49c17098/ SB_A01-05-00_2023h02_BE.pdf; 6 Ebd. 7 https: / / www.destatis.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilungen/ 2023/ 09/ PD23_N048_46.html 8 Stafford, L., Vanik, L., & Bates, L. K. (2022). “Disability justice and urban planning”. Planning Theory & Practice, 23(1), 101-142. 9 Olin Wright, E., Envisioning Real Utopias (2014), 321-336. 10 Ebd., 330. Dominik Buhl, Studentischer Mitarbeiter, EXPERI-Projekt, Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit - Helmholtz-Zentrum (RIFS), Potsdam buhl.dominik@web.de Julia Jarass, Dr., Projektleiterin, Räume in Mobilitäts- und Transportsystemen, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin-Adlershof julia.jarass@dlr.de Bild 6. Spontane Lösungsvorschläge für die vier identifizierten Zielkonflikte (ZK). Die Zahlen in Klammern geben an, wie häufig die jeweilige Meinung geäußert wurde (n=156) Best Practice MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0064 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 53 den Ausstoß an indirekt zurechenbaren CO2-Emissionen zu verringern und das Image des Unternehmens zu verbessern [2]. Weiterhin hat eine reduzierte Pkw-Nutzung auf dem Arbeitsweg auch gesundheitliche Vorteile für die Mitarbeitenden [3]. Traditionelle Konzepte des Mobilitätsmanagements forcieren die Inanspruchnahme des öffentlichen Verkehrs, die Nutzung des Fahrrads oder die Bildung privater Fahrgemeinschaften als Pendelalternative zum eigenen Pkw. Empirische Studien zur Struktur der Pendelaktivitäten zeigen jedoch, dass sich spürbare Verhaltensänderungen nur sehr langsam einstellen [4, 5] und bis- 1. Betriebliches Mobilitätsmanagement und On-Demand-Verkehrsangebote 1.1 Problemaufriss Betriebliches Mobilitätsmanagement ist ein in Deutschland seit vielen Jahren diskutiertes Konzept, das vielversprechende Chancen, aber auch stetige Herausforderungen mit sich bringt [1]. Gegenstand ist die Beeinflussung der individuellen Mobilitätsentscheidungen von Mitarbeitenden über ihre Pendel- und Berufswege sowie die Gestaltung entsprechender Maßnahmen und Angebote. Ziel ist es, die Pkw-Nutzung und folglich den Parkplatzbedarf zu reduzieren, her verfolgte Maßnahmen dafür nicht ausreichen [6]. Hinzu kommt, dass sich die Mobilitätsbedürfnisse der Arbeitnehmenden im Zeitablauf geändert haben. Mit einer wachsenden Dynamik des Wirtschafts- und Arbeitslebens und höheren Koordinationsbzw. Abstimmungsanforderungen wächst der Bedarf an flexiblen Pendel- und Mobilitätslösungen. Diese Entwicklung wird massiv verstärkt durch die im Zuge der Covid- 19-Pandemie angestoßenen Veränderungen der Arbeitsorganisation, insbesondere der Verbreitung flexibler Telesowie mobiler Arbeit (umgangssprachlich „Home-Office“). Zudem ermöglichen es technologische Ent- Get2Work - Ein Pilotprojekt innovativer betrieblicher Mobilität Betriebliches Mobilitätsmanagement, On-Demand-Verkehr, Pendelkonzept, Mobilitätswünsche, ÖPNV Von 04/ 2023 bis 03/ 2027 wird das Sustainable Mobility Lab durch das Programm Interreg IV «Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein» (ABH) gefördert, dessen Mittel vom Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) und vom Schweizer Bund zur Verfügung gestellt werden. Diese Publikation ist im Rahmen des Labs entstanden Stefan Beller, Marcus Bentele, Alexander Eisenkopf, Jakob Hebart, Sebastian Scheler DOI: 10.24053/ IV-2024-0065 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 54 wicklungen, die Chancen und Potenziale bedarfsabhängiger Mobilitätsangebote besser auszuschöpfen. Diese On-Demand-Verkehre können zeitliche und räumliche Differenzen in der Nachfrage flexibel abdecken [7]. Im Idealfall ermöglichen On-Demand- Verkehre durch die Bündelung individueller, zeitlich und örtlich korrespondierender Mobilitätswünsche dynamische Routen und flexible Fahrzeiten [8]. Diese Flexibilität ist wichtig, um das, zwischen mobiler Arbeit und Arbeiten vor Ort, tagesabhängig schwankende Mobilitätsprofil der Mitarbeitenden abzubilden. Starre Fahrpläne des Öffentlichen Verkehrs sind vielfach nicht in der Lage, solche wechselnden und individuell abweichenden Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen. Die Unternehmen verfügen jedoch in der Regel über eine entsprechende Datengrundlage, die ein auf den Arbeitnehmer zugeschnittenes On-Demand-Mobilitätsangebot ermöglicht. Betriebliche bedarfsorientierte Mobilitätsangebote könnten eine Alternative zur individuellen Pkw-Nutzung darstellen und Synergieeffekte generieren, ohne die öffentlichen Mobilitätsangebote zu kannibalisieren. 1.2 Das Projekt Get2Work Unsicherheit herrscht in der Forschungslandschaft zum Mobilitätsmanagement bezüglich potenzieller Wirkungen derartiger betrieblicher Mobilitätsangebote. Dieser Forschungslücke widmet sich das diesem Beitrag zugrunde liegende Projekt. Gegenstand ist ein von der ZF Friedrichshafen AG (nachfolgend „ZF“) am Standort Friedrichshafen durchgeführtes Pilotprojekt, mit dem ein On-Demand-Pendelkonzept im Herbst 2023 („Get2Work“) für drei Wochen getestet wurde. Im Rahmen dieses Projektes wurden sowohl Fahrgemeinschaften als auch zwei On-Demand-Shuttlebusse als Pendeloption montags bis freitags von 05: 30 - 18: 30 Uhr angeboten. Das Einzugsgebiet umfasste 450 km² für die Fahrgemeinschaften und 90 km² für die On-Demand-Shuttlebusse jeweils zentriert um Friedrichshafen. Friedrichshafen ist eine Mittelstadt mit ca. 60.000 Einwohnern ohne Autobahnanschluss oder Verkehrsmittel wie Straßenbahn oder U- Bahn. Das Umland wird im öffentlichen Verkehr hauptsächlich über Busse erschlossen, auf den Verkehrsachsen Friedrichshafen-Ravensburg, Friedrichshafen-Lindau und Friedrichshafen-Überlingen auch mit dem SPNV. Aus nachvollziehbaren Gründen ist daher der eigene Pkw bei den 9.000 Mitarbeitenden der ZF in Friedrichshafen mit einem durchschnittlichen Anteil von 65 % das Hauptverkehrsmittel der Arbeitspendler. Im Rahmen von Get2Work konnten die Mitarbeitenden nach ihrer Anmeldung ihren Pendelwunsch in einer mobilen App mit zeitlichem Vorlauf oder auch spontan eintragen. Spezifiziert wurde dieser durch die örtlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen sowie die gewünschte Pendellösung. Basierend auf allen Pendelwünschen berechnete eine zentrale Vermittlungsplattform optimale Routen und verteilte die Pendelnden auf verschiedene Fahrzeuge. Diese Berechnungen passten sich dynamisch an Änderungen wie neue Buchungen oder Stornierungen an, wobei die Parameter zur Anpassung klar definiert waren. Die Pendelnden erhielten die von der Plattform bestätigte Zeit und den Einstiegsort zugewiesen. Sowohl vor als auch während der Fahrt war der aktuelle Standort des Fahrzeugs und dessen Route in der App sichtbar. Auch Zwischenstopps, die wegen des Abholens oder Absetzens weiterer Pendelnder auftreten, wurden in der Anwendung angezeigt. Insgesamt kam es zu 204 Fahrten im Zeitraum des Pilotprojektes. 1.3 Methodik der Datenerhebung Die Ergebnisse des Projektes wurden durch eine Umfrage unter den App-Nutzenden dokumentiert und anschließend ausgewertet. Ziel war es, Rückschlüsse auf die Motivation der Teilnehmenden zu gewinnen und die Attraktivität des neuen Mobilitätsangebotes zu evaluieren. Die Zielgruppe der Umfrage bestand aus den zuvor registrierten Interessenten an einem solchen Pendelkonzept, die entweder aktiv teilgenommen oder nur generell interessiert waren, aber am Ende keine Fahrten gebucht oder angeboten haben. Konkret erhob die Umfrage, in welchem Umfang und warum die Pendelnden das On-Demand-Pendelkonzept als Alternative für ihren individuellen, privaten Pendelverkehr genutzt haben. So wurde versucht, Erfolgsfaktoren und Rahmenparameter für die Akzeptanz eines On-Demand-Pendelkonzeptes zu identifizieren. Fragen nach der Zahlungsbereitschaft für ein solches Angebot sollten Hinweise liefern, wie ein Preismodell für ein On-Demand-Pendelkonzept aussehen könnte, um in Zukunft eine hohe Nutzerakzeptanz zu gewährleisten. Die aus 42 Fragen bestehende Umfrage gliederte sich in vier Abschnitte. Zunächst wurde der aktuelle Pendelstatus abgefragt, anschließend die Erfahrungen mit dem Pendelservice bzw. dem Angebot von Fahrgemeinschaften und abschließend Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung/ Nutzung eines solchen Angebots. Im ersten Teil der Umfrage wurden allgemeine Fragen zu den Teilnehmenden und deren aktuellem Pendelverhalten gestellt. Abgefragt wurden unter anderem Alter, Geschlecht, durchschnittliche Präsenztage bei der Arbeit sowie die konkrete Anzahl an Präsenz- und Nutzungstagen des Pendelservices während der Pilotphase. Falls der Pendelservice nicht für jeden Präsenztag in Anspruch genommen wurde, wurde nach Gründen für die Nutzung anderer Pendellösungen sowie nach der Art der alternativ genutzten Pendellösung gefragt. Der zweite Abschnitt untersuchte generell die Erfahrungen und Einschätzungen der Interessenten zu den angebotenen Fahrten. Hier konnten Aussagen über die Zufriedenheit der Nutzer, deren Beweggründe zur Inanspruchnahme des Services, Gründe für das Nichtzustandekommen von Fahrten, Stornierungsgründe und bevorzugte Zahlungsmethoden gemacht werden. Zusätzlich wurde nach den Gründen gefragt, warum Interessenten des On-Demand-Pendelkonzeptes das Angebot während der Pilotphase nicht genutzt haben. Der dritte Teil der Umfrage fokussierte sich auf das Anbieten von Fahrten zum Gründen von Fahrgemeinschaften. Es wur- Bild 1: Pendeltage betriebliche Mobilität MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0065 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 55 7 % sogar nur einen Tag. Dieses Ergebnis reflektiert klar die vermehrte Nutzung mobilen Arbeitens und die damit verbundenen Arbeitszeitmodelle bei der ZF. Die Verteilung der tatsächlichen Pendeltage während der Get2Work Pilotphase mit insgesamt 14 Arbeitstagen bestätigt weitgehend die Antworten zur generellen Zahl der Pendeltage je Arbeitswoche. Bild 2 zeigt, dass der überwiegende Teil der Befragten Get2Work während der Pilotphase nicht genutzt hat (69,5 %). Die tatsächliche Nutzung erfolgte zumeist in einem Intervall zwischen einem und fünf Arbeitstagen, 2 Personen wählten an 12 Arbeitstagen Get2Work für das Pendeln. Ein Erklärungsansatz für die schwache Nutzung des neuen Angebots findet sich in den offenen Antworten. Ein wichtiger Grund ist wohl, dass das Matching der Fahrgemeinschaften nicht ausreichend funktionierte. So boten viele Fahrer eine Mitfahrt an, nur wenige wollte aber umgekehrt eine Mitfahrt buchen. Teilweise wurde auch über Probleme mit der App oder die Begrenzung des Zielgebietes geklagt. In einer weiteren Frage sollten die Teilnehmenden auf einer Skala von 1-10 bewerten, wie schmerzhaft das Ende der Get2Work Pilotphase und damit die Einstellung des Mobilitätsangebotes für sie ist. Dabei zeigte sich eine deutliche Dichotomie zwischen Nutzern und Nicht-Nutzern. Erstere vermissen den Service sehr stark (10,2 % gegenüber 4 % bei den Nicht-Nutzern), während aus der Gruppe der Nicht-Nutzer 13,5 % das Angebot überhaupt nicht vermissten (2,1 % der Nutzer). Auf die Frage nach den dominanten Verkehrsmitteln für das Pendeln gaben die meisten den Pkw an, gefolgt vom Fahrrad und dem ÖPNV. Vereinzelt werden auch Fahrgemeinschaften, Mitfahrde nach den Motiven und Erfahrungen der Fahrer gefragt, eine Fahrgemeinschaft anzubieten oder auch nicht. Zudem thematisierte eine Frage die Höhe eines monetären Ausgleichs für die Fahrer einer Fahrgemeinschaft. Im letzten Abschnitt der Umfrage wurden Fragen zur Nutzungs- und Zahlungsbereitschaft der Interessenten für ein mögliches zukünftiges On-Demand-Pendelkonzept gestellt. Mit diesen Informationen können die Realisierungschancen eines solchen Pendelkonzepts abgeschätzt und ggfls. die Preisgestaltung dafür vorbereitet werden. 2. Ergebnisse der Teilnehmendenbefragung Die Auswertung der Teilnehmendenbefragung liefert umfangreiche Ergebnisse, die im Folgenden dargestellt werden. Sie umfasst neben quantitativen auch qualitative Ergebnisse, die sich aus der Vielzahl an Freitextfeldern ergeben. 2.1 Ergebnisse der quantitativen Auswertung Von den insgesamt 96 ausgefüllten Fragebogen (Rücklaufquote 29 %) entfielen 70 % auf Männer. Der überwiegende Teil der Teilnehmenden (über 80 %) war in der Gruppe der 25-55-Jährigen zu verorten. Angesichts der Tatsache, dass die Befragten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, verwundert dies nicht. Bemerkenswert ist, dass gut 33 % der Antwortenden wochentäglich zur Arbeit pendeln, wie Bild 1 zeigt. Dies deutet darauf hin, dass sowohl Angestellte in der Verwaltung als auch Mitarbeiter aus der Produktion an der Befragung teilgenommen haben. Die meisten befragten Mitarbeitenden hatten allerdings 2 oder 3 Pendeltage in der Woche (zusammen 48 %), gelegenheiten außerhalb von Get2Work und sogar der ZF-Werksbus erwähnt. Dies spricht grundsätzlich dafür, alternative Pendellösungen auf Basis des Einsatzes vorhandener privater Pkw zu suchen. Damit diese praxistauglich realisiert werden können, bedarf es allerdings auch eines entsprechenden Vergütungssystems für diejenigen, die ihre Fahrzeuge zur Verfügung stellen. Ausweislich der Antworten auf die diesbezüglichen Fragen schätzen die Teilnehmenden den Preis für ein Pendelangebot auf 10 bis 30 Cent pro km. Im Median liegt die Schätzung bei 20 Cent. Die individuelle Zahlungsbereitschaft für eine Fahrt steigt bis ca. 15 km Fahrtstrecke an und flacht dann ab (Degression des Kilometerpreises), um ab 23 km wieder in einen (leichten) Anstieg überzugehen. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei der Zahlungsbereitschaft für den Shuttlebus. Da die Zahlungsbereitschaft hier im Niveau jedoch geringfügig höher liegt, ist es naheliegend, dass der Shuttlebus als hochwertigere Mobilitätslösung wahrgenommen wird. Es ist zudem festzuhalten, dass die Daten ein Delta zwischen der Zahlungsbereitschaft der Fahrgäste und dem gewünschten Preis der Fahrer bzw. den Kosten des Shuttlebusses zeigen. 2.2 Ergebnisse der qualitativen Auswertung In der Erhebung wurden zahlreiche offene Fragen gestellt, um Gründe für Teilnahme oder Nichtteilnahme, Aspekte der Zufriedenheit und Ansatzpunkte für mögliche Verbesserungen in Erfahrung zu bringen. Zunächst ist festzuhalten, dass die tatsächlichen Nutzer (n = 29) ein hohes Maß an Zufriedenheit mit Get2Work artikulierten und das Angebot sehr positiv beurteilten. Hauptsächliche Gründe für die Nutzung waren stressfreies Pendeln, Neugierde, Parkplatzprobleme aber auch „schlechtes Wetter“, vermutlich bei Pendelnden, die sonst das Fahrrad nutzten. Die zahlreichen Nicht-Nutzer (n = 67) begründeten ihre Abstinenz vor allem mit der Begrenzung des Einzugsgebiets, dem „unpassenden Zeitraum“ für den Pilotversuch, aber auch, wie bereits erwähnt, mit mangelndem Matching der Fahrgemeinschaften. Als Begründung für das Angebot einer Fahrgemeinschaft im Rahmen von Get2- Work, wurde am häufigsten Nachhaltigkeit (Reduktion der Verkehrslast) und Hilfsbereitschaft für Kollegen genannt. Finanzielle Aspekte spielten demgegenüber nur eine geringe Rolle. Umgekehrt gaben Teilnehmende, die keine Fahrgemeinschaft angeboten haben, als Grund an, dass die Planbarkeit des Tagesablaufs und die notwendige Flexibilität über Gebühr eingeschränkt würde. Teilweise stand auch kein Bild 2: Pendeltage mit Nutzung von Get2Work MOBILITÄT betriebliche Mobilität DOI: 10.24053/ IV-2024-0065 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 56 Fahrzeug zur Verfügung oder der Prozess wurde als zu kompliziert empfunden. Ein weiterer Grund hängt mit der Struktur des Projektes zusammen. Da einige Teilnehmende den Shuttlebus nutzten, kam das Angebot einer Fahrgemeinschaft für sie nicht in Frage. Eine weitere Differenzierung der Analyse nach Nutzern und Nicht-Nutzern, zeigte, dass bei Nutzern die Resonanz zu den Angeboten größtenteils positiv ist. Als Probleme werden vor allem die fehlende Flexibilität sowie asynchrone Arbeits- und private Servicezeiten genannt. Auch gesundheitliche Aspekte des Radfahrens bzw. Zufußgehens spielen eine Rolle bei den Entscheidungen. Es wird auch konkrete Kritik an der App formuliert (Aufteilung in zwei Anwendungen, Stromverbrauch, fehlende Erinnerungen etc.). Außerdem machen die Nutzer konkrete Verbesserungsvorschläge in denen sie z. B. für eine Erweiterung des Bediengebiets des Shuttlebusse und die Einführung definierter Fahrtkorridore plädieren, um Fahrtwege nicht zu sehr zu verlängern. Hinsichtlich der Mitfahrgelegenheiten werden zahlreiche detaillierte Verbesserungsvorschläge zu Buchung, Bedienung und Transparenz gemacht. Auch die Nichtnutzer formulieren Optimierungsvorschläge. Sie wünschen sich ebenfalls eine Ausweitung des Bediengebiets des Shuttlebusses und eine höhere Bedienfrequenz. Eine Ausweitung des Bedienungsraums wird auch für Fahrtgemeinschaften vorgeschlagen ebenso wie die Möglichkeit, Hin- und Rückfahrten zusammen zu buchen. Präferiert werden von den Befragten stabile Fahrgemeinschaften mit festen Abfahrtszeiten und Treffpunkten. Ihre Nicht-Nutzung begründen sie im Wesentlichen mit dem zu kleinen Bediengebiet des Shuttlebusses oder fehlender passender Angebote für eine Mitfahrgelegenheit. Auch die App wird hinsichtlich Bedienfreundlichkeit und Datenhunger kritisiert und eine zweite Testphase angeregt. Insgesamt artikulieren sowohl Nutzer als auch Nicht-Nutzer, dass sie die Angebote von Get2Work nutzen würden, wenn diese in Zukunft wieder verfügbar wären. Auch viele Nicht-Nutzer haben, wie Bild 3 zeigt, nach wie vor Interesse an diesem Projekt und an einer Teilnahme. 3. Hypothesen und Handlungsempfehlungen Aus den Ergebnissen der Befragung lassen sich im Kontext der einschlägigen Literatur Hypothesen zu den Rahmenbedingungen und Erfolgsfaktoren des Get2Work- Projektes sowie Handlungsempfehlungen für das betriebliche Mobilitätsmanagement ableiten, die nachfolgend vorgestellt werden. 3.1 Ausbau und zweiter Pilot der Mitfahrgelegenheit Zwar war die Zahl der tatsächlich durchgeführten Fahrgemeinschaften im Projekt gering, insbesondere weil das Matching der Angebote aus verschiedenen Gründen schlecht funktionierte. Die Resonanz sowohl der Nutzer als auch der Nicht-Nutzer war aber dennoch sehr positiv. Daher sollte der Versuch unternommen werden, durch eine Ausweitung des Einzugsgebiets im Rahmen einer zweiten Pilotphase mit einem überarbeiteten Angebot weitere Nutzer zu gewinnen. Gelingt es, die Bedingungen für das Matching zu verbessern, dürfte sich über positive Netzwerkeffekte die Zahl der Teilnehmenden erhöhen lassen und eine stärkere Bündelung der Pendelfahrten erreicht werden. Dies ist insbesondere erfolgsträchtig, da der Pkw in Zukunft nach wie vor das dominante Verkehrsmittel für die Pendelnden sein dürfte. Generell kann aus diesen Beobachtungen schlussgefolgert werden, dass der Matching-Problematik besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, wenn im Rahmen des betrieblichen Mobilitätsmanagements Fahrgemeinschaften organisiert werden. 3.2 Marktungleichgewichte bei der Mitfahrgelegenheit Die Option Mitfahrgelegenheit wurde von vielen Pkw-Fahrern im Pilotversuch positiv angenommen, aber es kam häufig zu einem Mismatch zwischen Angebot und Nachfrage. Dies liegt vermutlich daran, dass infolge des Status-quo-bias und der Habitualisierung der Verkehrsmittelwahl vor allem Fahrer bestehende Fahrten für Mitfahrer öffneten, nur wenige allerdings als Fahrgast nach freien Plätzen suchen. Folglich blieben viele Fahrer ohne Mitfahrer und die Anzahl der Nutzer gering. Diese Hypothese wurde in anderen Studien bereits bestätigt [9]. Eine Möglichkeit, dieser Herausforderung zu begegnen, stellt ein Zusammenführen der Fahrer-App und der Buchungs- App dar. Dadurch könnten in Zukunft auch mehrere Fahrer zu einer Fahrgemeinschaft gebündelt werden. Während einem Fahrer die Rolle als Fahrer vom System automatisch zugewiesen wird, würden die anderen als Fahrgast pendeln. Auch wenn den Fahrgästen eine Option eingeräumt werden müsste, die Bündelung abzulehnen, könnten so dennoch zusätzliche Fahrgemeinschaften zustande kommen. 3.3 Positionierung und Design der Mitfahrgelegenheit Die grundsätzlich positive Einschätzung der Option „Mitfahrgelegenheit“ durch die Teilnehmenden ist auch ein Ausdruck der sozialen Kontexte dieses Konstrukts. So wird dem gemeinsamen Pendeln von einigen Teilnehmern durchaus ein kollegialer Charakter zugewiesen. Einschlägige Studien bestätigen, dass die Aspekte (gegenseitiger) Freundlichkeit und weniger Stress für die Teilnahme an Fahrgemeinschaften entscheidend sind [10]. Darüber hinaus zeigen wissenschaftliche Studien, dass Nichtwissen über Mitfahrer der wichtigste limitierende Faktor ist, insbesondere bei Frauen. Der Abbau dieser psychologischen Barriere durch Kollegialität kann die Bereitschaft, an einer Mitfahrgelegenheit teilzunehmen, deutlich steigern [11]. Insofern ist nachvollziehbar, dass die Buchungsmaske der Mitfahrgelegenheit im „Uber-Stil“ von einzelnen Fahrgästen als unpassend und zu „geschäftsmäßig“ wahrgenommen wird und verschiedene Bild 3: Interesse an potenzieller Get2Work Nutzung betriebliche Mobilität MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0065 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 57 weg. URL https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ Arbeit/ Arbeitsmarkt/ Erwerbstaetigkeit/ im-Fokus-Pendler.html - Zugriffsdatum: 18.07.2024. [5] Statistisches Bundesamt (Destatis) (2023). Verkehr in Zahlen 2023/ 2024. Kraftfahrt-Bundesamt, Flensburg. [6] Schwedes, O., Sternkopf, B., Rammert, A. (2017). Mobilitätsmanagement - Möglichkeiten und Grenzen verkehrspolitischer Gestaltung am Beispiel Mobilitätsmanagement. Technische Universität, Berlin. [7] Scheier, B., Frieske, B. & Viergutz, K. (2021): Chancen und Potenziale von Mobility-as-a-Service nach der Corona-Pandemie, Wirtschaftsdienst 101, 394-399. [8] Ronald, N., R. Thompson und S. Winter (2015). Simulating Demand-responsive Transportation: A Review of Agent-based Approaches, Transport Reviews, 35(4), 404-421. [9] Le Goff, A., Monchambert, G., & Raux, C. (2022). Are solo driving commuters ready to switch to carpool? Heterogeneity of preferences in Lyon‘s urban area. Transport Policy, 115, 27-39. [10] Ademe-inddigo, S. A. S. (2015) : Leviers d’actions pour favoriser le covoiturage de courte distance, évaluation de l’impact sur les polluants atmosphériques et le CO2. Leviers d’actions, benchmark et exploitation de l’enquête nationale Transports et déplacements (ENTD). [11] Bulteau, J., Feuillet, T., Dantan, S., & Abbes, S. (2021). Encouraging carpooling for commuting in the Paris area (France): which incentives and for whom? . Transportation, 1-20. [12] Li, J., Embry, P., Mattingly, S. P., Sadabadi, K. F., Rasmidatta, I., & Burris, M. W. (2021). Who chooses to carpool and why? Examination of Texas carpoolers. Transportation Research Record,1, 110-117. Eingangsabbildung: © iStock.com/ simonkr 4. Fazit Im Rahmen des Projektes Get2Work wurden bei der ZF Friedrichshafen AG App-basierte Mitfahrgelegenheiten und Shuttlebusse als Teil des betrieblichen Mobilitätsmanagements erprobt. Die Auswertung dieses Pilotprojektes zeigt, dass einer umfassenden Nutzung der Angebote derzeit noch zahlreiche Hindernisse gegenüberstehen. Gleichzeitig artikulierten die betroffenen Pendelnden grundsätzlich eine positive Wahrnehmung dieser Mobilitätsoptionen. Die Ergebnisdiskussion der durchgeführten Befragung legt nahe, dass unter den spezifischen betrieblichen und raumstrukturellen Rahmenbedingungen der ZF insbesondere Fahrgemeinschaften einen sinnvollen Weg zu einer nachhaltigen Organisation der Pendelaktivitäten der Mitarbeitenden darstellen können. Neben organisatorischen Anpassungen und einer Optimierung der Apps sollten gezielte Anreize gesetzt werden, um das Matching von Fahrern und Mitfahrern zu verbessern und die Anzahl gebündelter Pendelwege insgesamt zu erhöhen. Die gewonnenen Erkenntnisse dürften nicht nur für die ZF Friedrichshafen AG, sondern auch für andere Unternehmen mit stark Pkw-lastigen Pendlerströmen und begrenzten Alternativen im öffentlichen Verkehrssystem relevant sein. Der Ausbau entsprechender Angebote stellt zudem einen Baustein im Rahmen der Nachhaltigkeitsberichterstattung berichtspflichtiger Unternehmen dar. So kann die Fahrtenbündelung zur besseren Dokumentation und Reduktion der unter Scope 3.7 „Employee Commuting“ erfassten Treibhausgasemissionen beitragen. Zuletzt bieten die Ergebnisse auch Anknüpfungspunkte für verkehrspolitische Handlungsempfehlungen, etwa die Weiterentwicklung bestehender steuerrechtlicher Privilegien für Pendelnde zu einem betrieblichen Mobilitätsbudget. Außerdem ergeben sich daraus Anregungen zur Diskussion hinsichtlich der Ausbaunotwendigkeit von Verkehrsknotenpunkten in der Nähe sehr großer Unternehmen. ■ LITERATUR [1] FGSV (1995). Öffentlicher Personennahverkehr. Mobilitätsmanagement - ein neuer Ansatz zur umweltschonenden Bewältigung der Verkehrsprobleme. In: Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Arbeitspapier). [2] Schuppan, J (2020). Mobilität und berufliche Lebensereignisse. Springer VS, Wiesbaden. [3] Garrido-Cumbrera, M., Braçe, O., Gálvez-Ruiz, D., López-Lara, E., & Correa-Fernández, J. (2023). Can the mode, time, and expense of commuting to work affect our mental health? . Transportation Research Interdisciplinary Perspectives, 21, 100850. [4] Statistisches Bundesamt (Destatis) (2016). Pendeln in Deutschland: 68% nutzen Auto für Arbeits- Veränderungen der Apps angeregt werden (vereinfachte Bedienung, Vorschläge für Abfahrtsorte und feste Abfahrtszeiten). Es erscheint daher sinnvoll, die App für die Mitfahrgelegenheit zu überarbeiten und stärker als kollegiale Pendellösung zu positionieren. Dies kann auch eine generelle Empfehlung für die Gestaltung solcher Systeme sein, um die Akzeptanz bei den Mitarbeitenden im Rahmen des betrieblichen Mobilitätsmanagements zu steigern. 3.4 Unterschiedliche Zahlungsbereitschaft für die beiden Dienste Wie bereits erwähnt, zeigen die Daten eine Differenz zwischen der Zahlungsbereitschaft der Fahrgäste und den Preisvorstellungen der Fahrer bzw. den Kosten des Busses. Auf der anderen Seite sind einige Fahrer sogar bereit, Fahrgäste kostenlos mitzunehmen. Daher sollte man darüber nachdenken, Anreize für beide Zielgruppen in Form nicht-monetärer Incentives zu setzen. Diese könnten als nicht-geldwerte Vorteile in physischer (reservierte Parkplätze) oder digitaler Form (Ranglisten, Level-System, Badges) umgesetzt werden. Studien legen zudem nahe, dass eingesparte Fahrtkosten für Nutzer beruflicher Mitfahrgelegenheiten besonders wichtig sind [12]. Eine Weiterentwicklung solcher Anreizsysteme im Kontext eines Mobilitätsbudget wäre daher auch generell zu diskutieren. 3.5 Kerngebiet und Servicezeiten der Shuttlebusse Die Ergebnisse der Befragung legen nahe, dass auch das Angebot der Shuttlebusse von den Mitarbeitenden grundsätzlich sehr positiv aufgenommen wurde. Neben den tatsächlich aktiven Nutzern sehen Fahrradfahrer/ innen und ÖPNV-Nutzende in diesen eine wetter- und jahreszeitabhängige Ergänzung ihrer Mobilitätoptionen. Hauptkritikpunkte der Befragten betreffen allerdings das begrenzte Bediengebiet und den fehlenden Abgleich mit Schichtzeiten. Im Rahmen einer zweiten Pilotphase könnte das Kerngebiet unter Beachtung attraktiver ÖV-Verkehrspunkte erweitert werden. Die Angebotszeiten sollten an die Arbeits- und Schichtzeiten der Nutzenden angepasst, die Wartezeit vor der Buchung angezeigt und die Fahrer/ innen besser geschult werden. Grundsätzlich sind die Hürden eines Ausbaus des Shuttlebussystems aufgrund der hohen Kosten und der nur geringfügig größeren Zahlungsbereitschaft der Fahrgäste allerdings deutlich höher als bei der Mitfahrgelegenheit. Es erscheint fraglich, ob ein Betrieb ohne umfangreiche Quersubventionierung mittelfristig umsetzbar ist. Stefan Beller, ZF Friedrichshafen AG stefan.beller@zf.com Marcus Bentele, ZF Friedrichshafen AG marcus.bentele@zf.com Jakob Hebart, Zeppelin Universität Friedrichshafen jakob.hebart@zu.de Alexander Eisenkopf, Zeppelin Universität Friedrichshafen Sebastian Scheler, Ostschweizer Fachhochschule, St. Gallen sebastian.scheler@ost.ch MOBILITÄT betriebliche Mobilität DOI: 10.24053/ IV-2024-0065 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 58 sind meist das Ergebnis langer Reihen unzulänglicher Prototypen. Etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden Evaluationsverfahren dezidiert beforscht und es werden spezifische Methoden entwickelt und in unterschiedlichen Lebensbereichen eingeführt. Der Kern moderner Evaluation besteht dabei darin, systematisch Prozesse, Programme, Projekte oder Institutionen zu untersuchen und zu bewerten mit dem Ziel, sie im Hinblick Einleitung und Grundlagen Seit jeher ist Evaluation, ganz allgemein verstanden als die Überprüfung und Reflexion der Ergebnisse des Tuns und Handelns, impliziter Bestandteil jeglicher Lern- und Entwicklungsprozesse: Kleinkinder nutzen die schmerzliche Erfahrung des Hinfallens, um den Prozess des Laufens zu optimieren, Köch: innen sind auf das Feedback ihrer Gäste angewiesen, um Rezepturen zu verbessern, erfolgreiche technische Produkte auf Wirksamkeit, Effizienz und Qualität zu beurteilen und Verbesserungspotenziale zu identifizieren. Geht es stärker um das regelmäßige bzw. kontinuierliche Sammeln oder Erheben von Daten und Informationen, spricht man vom Monitoring, das Teil einer Evaluation sein kann. Es kann zwischen Wirkungs- und Prozessevaluation unterschieden werden. Die Wirkungsevaluation zielt darauf ab, die Auswirkungen von Maßnahmen auf die Verkehrswende braucht (auch) Evaluation Aktuelle Schmerzpunkte und Wege zur Heilung Evaluation, Indikatoren, Wirkungen, Prozess, Partizipation Die Autor: innen haben im interdisziplinären Arbeitskreis Evaluationen des DEPOMM e.V. (Deutsche Plattform für Mobilitätsmanagement [1]) einen Raum für den gemeinsamen Austausch geschaffen, um für die Bedeutung von Evaluationen im Mobilitätssektor zu sensibilisieren, Herausforderungen zu identifizieren und praxisorientierte Lösungsansätze weiterzuentwickeln. Der vorliegende Beitrag bildet einen Impuls für den Austausch mit der Fachöffentlichkeit, der unterschiedliche Erfahrungskontexte und Problemperspektiven bündelt und der zur Bewusstseinsschärfung für Evaluation sowie zur gemeinsamen Suche nach gangbaren Wegen für gelingende Evaluationen beitragen soll. Uwe Böhme, Juliane Haus, Melanie Herget, Michael Abraham, Volker Blees, Marie Wernecke DOI: 10.24053/ IV-2024-0066 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 59 Mobilitätssituation zu ermitteln. Dies geschieht anhand von (meist quantitativen) Indikatoren, welche entweder im Rahmen des Monitorings erfasst oder gezielt nur für die Evaluation erhoben werden. Die Prozessevaluation zielt demgegenüber darauf ab, die Qualität von Planungs- oder Umsetzungsprozessen zu beurteilen, um daraus für den laufenden und für künftige Prozesse zu lernen. Hierbei kommen überwiegend qualitative Methoden zur Anwendung [2]. Die Evaluationsforschung bildet eine Querschnittsdisziplin, die unter anderem im Bildungs- und Gesundheitswesen, in den Sozialwissenschaften und in Wirtschaft und Industrie Anwendung findet. Im Verkehrswesen wurden Evaluationen lange Zeit vorrangig als Bestandteil von Qualitätsmanagementsystemen für Produkte und Dienstleistungen durchgeführt, beispielsweise im Rahmen der Qualitätssicherung von Straßenbaustoffen [3] oder im Zuge von Bonus-Malus-Regelungen bei ÖPNV-Angeboten [4]. Die Evaluation verkehrspolitischer bzw. verkehrsplanerischer Strategien, Programme, Pläne und Maßnahmen wurde erst in den 2010er Jahren mit den „Hinweisen zur Evaluation von verkehrsbezogenen Maßnahmen“ der FGSV [5] und der UBA-Publikation „Evaluation zählt - Ein Anwendungshandbuch für die kommunale Verkehrsplanung“ [6] einer breiteren Fachöffentlichkeit nahegebracht. Nennenswerte Verbreitung gefunden haben Evaluationen in diesen Handlungsfeldern bis dato allerdings nicht. Dabei gibt es gerade in jüngerer Zeit eine Reihe von Entwicklungen, die als Treiber für die standardmäßige Evaluation von Verkehrsplänen und -maßnahmen wirken: Zunehmender Stellenwert quantitativer Ziele Mit den EU-Luftqualitätsrichtlinien haben bereits seit 2005 harte, quantitative und überprüf bare Ziele mit unmittelbarer Verkehrsrelevanz Einzug in die Verkehrsplanung gehalten, in jüngerer Zeit in ihrer Bedeutung abgelöst von Treibhausgas-Minderungszielen. Im Zuge der Novelle der TEN-V-Richtlinie plant die EU-Kommission die verbindliche Einführung von Sustainable Urban Mobility Plans (SUMPs) für die städtischen Knoten in Europa. Inhärenter Bestandteil von SUMPs wiederum ist die Durchführung von Evaluationen. Verbesserte Datenverfügbarkeit Insbesondere Dank der Digitalisierung steigen die Qualität und die Verfügbarkeit von verkehrs- und mobilitätsbezogenen Daten. Zugleich sinkt der Aufwand zu ihrer Sammlung und damit auch die Schwelle zur Durchführung von Evaluationen. Verbreitertes verkehrsplanerisches Maßnahmenspektrum In den letzten Jahren ist eine Vielzahl neuer bzw. neuartiger Maßnahmen und Handlungsansätze ins verkehrsplanerische Repertoire gekommen. Das Spektrum reicht von technologischen Innovationen wie Elektrokleinstfahrzeugen und On-Demand-Shuttles bis hin zu innovativen Marketing-Ansätzen wie Mobilitätsbudgets. Ihnen allen ist gemein, dass noch keine umfassenden, generalisierbaren Erkenntnisse zu ihren Effekten vorliegen. Evaluationen sind prädestiniert, die Erkenntnislücken zu schließen. Zunehmender Legitimationsdruck verkehrsplanerischer Maßnahmen Aufgrund verschiedener gesellschaftlicher und politischer Entwicklung stehen verkehrsplanerische Maßnahmen zusehends unter kritischer Beobachtung von Politik und Öffentlichkeit. Evaluationen können dazu beitragen, die Beurteilung von Maßnahmen zu objektivieren und zu versachlichen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der vorliegende Beitrag „Schmerzpunkte“, also Hemmnisse und Hürden, die nach den Erfahrungen der Autor: innen in der Praxis der erfolgreichen Durchführung von Evaluation entgegenstehen und zeigt mögliche Bild 1: Stimmungsbild zum Nutzen von Wirkungsevaluationen (aus einer Umfrage kommunaler Planer: innen und Akteure im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Evaluationen in Verkehrs- und Mobilitätsplanungsprozessen, 2022) MOBILITÄT Evaluation DOI: 10.24053/ IV-2024-0066 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 60 besonders elementar, so hat er womöglich ein Interesse daran, bestimmte Erfolge einer Maßnahme oder eines Förderprogramms besonders hervorzuheben oder Misserfolge zu vertuschen [8]. Das mit der Evaluation beauftragte Institut wiederum möchte bei vorrangiger Orientierung an der Erkenntnisfunktion (zur Ermittlung von CO2-Emissionen) die wissenschaftlichen Ansprüche wie die Einhaltung von Gütekriterien erfüllen und ist daher auf eine „saubere“ Datengrundlage angewiesen. Entscheidend hierfür ist die einheitliche und möglichst zentrale Datenerfassung, also möglichst durch einen zuständigen Evaluator. Demgegenüber möchten die evaluierten Praxispartner eventuell eigene Aspekte bei der Datenerhebung berücksichtigt haben oder diese am besten selbst durchführen, um sich exklusive Zugriffsrechte auf Daten und Ergebnisse zu sichern. Es ist daher wichtig, dass die am Evaluationsprozess beteiligten Akteure mit ihren teilweise divergierenden Interessen und Erwartungshaltungen diese vorab offenlegen und dabei insbesondere über die dominierende Evaluationsfunktion reflektieren, da sonst Frustration, Irritation und ein abnehmendes Evaluationsinteresse entstehen können [9]. Für „weiche“ und „frühe“ Veränderungen sensibilisieren Wie eingangs dargestellt, zielen Wirkungsevaluationen darauf ab, die Effektivität und Effizienz von kommunalen Verkehrswendemaßnahmen zu ermitteln. Aufgrund der systemischen Komplexität insbesondere integrierter, multi- und intermodaler Mobilitätssysteme und der Beurteilung neuer verkehrlicher Maßnahmen werden sie immer anspruchsvoller. Oft zielen einzelne Maßnahmen auf eine Transformation ganzer Systeme ab. Grundlegend kommen für die Wirkungsermittlung sowohl qualitative als auch quantitative Indi- Wege zur „Heilung“, also zur Überwindung der Hemmnisse und Hürden auf. Evaluation als Daueraufgabe verstehen Aktuell sind Evaluationen kein fester Bestandteil in der Verkehrsplanung auf kommunaler Ebene. Wenn Evaluationen durchgeführt werden, bleiben Anpassungen und Optimierungen von Prozessen oder Maßnahmen jedoch aus. Die Ergebnisse werden innerhalb der Verwaltung zur Kenntnis genommen, jedoch nicht weiterverfolgt, oft aus Kapazitätsgründen. Auch die Furcht vor Misserfolgen spielt eine Rolle im Kontext von Evaluationen. So können Schwachstellen und Mängel offengelegt werden, wodurch sich kommunale Gebietskörperschaften angreif bar machen. Da Evaluationen aufwendig und oft nicht im Tagesgeschäft unterzubringen sind, werden sie nicht als prioritär angesehen (vgl. Bild 1). In den gegebenen Strukturen fällt es den Fachverwaltungen schwer, Evaluationen kontinuierlich durchzuführen. Um langfristig engagiert und konsequent Evaluationen durchzuführen, muss ein Wandel in der Planungskultur erfolgen. Evaluationen sind als Chance zu sehen, um Maßnahmen transparent und sachbasiert offenzulegen. Dabei führt eine kontinuierliche Evaluation auf kommunaler Ebene langfristig im gesamten Prozess zu einer Einsparung von Ressourcen und Aufwand. Damit eine offene, sachbasierte und verbesserungsorientierte Planungskultur entstehen kann, müssen Evaluationen als fester Bestandteil im Planungsprozess verankert sowie die Offenlegung möglicher Schwachstellen und Mängel als Chance angesehen werden. Erwartungen, Interessen und Funktionen offenlegen Die Bundespolitik hat sich ehrgeizige Klimaziele gesetzt. Danach soll Deutschland bis 2045 klimaneutral sein. Aus diesem Grund besteht in den verschiedenen Sektoren wie auch im Verkehrssektor häufig das Ziel der Evaluation, den durch eine Intervention eingesparten Betrag an CO2-Emissionen zu ermitteln. Vor der Durchführung der Evaluation sollte aber bei allen beteiligten Akteuren (siehe Bild 2) auch ein Bewusstsein darüber bestehen, dass Evaluationen ganz verschiedene Funktionen erfüllen können. Beispielsweise lassen sich Evaluationen unterscheiden nach [7]: Erkenntnisfunktion, Kontrollfunktion, Dialogfunktion, Legitimationsfunktion. Ist für den Auftraggeber der Evaluation beispielsweise die Legitimationsfunktion katoren in Betracht. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass in der Umsetzung von Wirkungsevaluationen zumeist auf ein recht begrenztes Set quantitativer Indikatoren (z. B. CO2-Reduktion) zurückgegriffen wird, die als zentrale Referenzgrößen für die Verkehrsplanung betrachtet werden (siehe Einleitung). Die häufige Verengung der Wirkungsevaluation nachhaltiger Mobilitätsmaßnahmen begrenzt ihre realistische Evaluation sowie das frühzeige Identifizieren und Erfassen komplexer Veränderungen, da solche quantitativen Indikatoren erst nach einiger Zeit der abgeschlossenen Maßnahmenumsetzung erhoben werden können. Weitere und insbesondere qualitative Indikatorenbereiche (wie Akzeptanz, Nutzungsfreundlichkeit oder Informationsqualität) werden dabei vielfach kaum berücksichtigt, obwohl sie entscheidenden Einfluss auf die Effektivität umgesetzter Maßnahmen besitzen können. Eine stärkere Berücksichtigung von qualitativen Indikatoren kann dazu beitragen, für qualitative und frühe Veränderungen zu sensibilisieren. Dies ermöglicht zugleich, weitere Stakeholder bereits frühzeitig über erste Veränderungswirkungen zu informieren und unterstützt so die Kommunikationsfähigkeit und das Self-Empowerment kommunaler Akteure mit Blick auf die Wirkungen umgesetzter Maßnahmen. Potential von Prozessevaluationen und partizipativen Evaluationsansätzen stärker nutzen Um beurteilen zu können, ob eine Maßnahme erfolgreich war, sollte nicht nur auf die Wirkung geachtet werden. Vielmehr ist es auch relevant, wie der Prozess, der zur Wirkung geführt hat, abgelaufen ist. Diese Prozessevaluation wird aber immer noch zu selten durchgeführt. Im Unterschied zu Wirkungsevaluationen werden Prozessevaluationen nicht erst nach Abschluss einer Maßnahmenumsetzung eingesetzt, sondern Bild 2: Akteure im Evaluationsprozess [8] Evaluation MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0066 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 61 bestenfalls bereits flankierend zum Planungs- und Umsetzungsprozess. Sie können so frühzeitig dazu beitragen, Probleme und Hindernisse zu identifizieren und diese im Projektverlauf zu beheben und so zugleich die Effizienz des Ressourceneinsatzes zu optimieren. Da Prozessevaluationen vielfach das Feedback der heterogenen Beteiligten und Betroffenen von Maßnahmen mit einbeziehen, können sie zudem dazu beitragen, die Kommunikation und Akzeptanz bei Maßnahmenumsetzungen zu fördern. Missverständnisse können so reduziert und die Zusammenarbeit verbessert werden. Da die Dokumentation von Prozessen ein wichtiges Element von Prozessevaluationen darstellt, verhelfen sie zudem zu einem höheren Grad an Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Arbeitsprozesse. Sie liefern wichtige Kontextinformationen und verhelfen so dazu, die Ergebnisse und komplexen Wirkungen von Maßnahmen besser zu interpretieren. Dies gilt auch für die Kausalzusammenhänge zwischen umgesetzten Maßnahmen und eingetretenen Wirkungen. Prozessevaluationen ermöglichen es auf diese Weise besser zu verstehen, warum die angestrebten Ergebnisse (nicht) wie geplant erreicht oder sogar übertroffen wurden und was bei einer wiederholten Umsetzung von Maßnahmen verbessert werden könnte. Aus diesem Grund sind sie insbesondere für eine begleitende Evaluation von Projekten geeignet und sollten im verstärkten Maße Anwendung finden. In Kombination mit Wirkungsevaluationen verhelfen Prozessevaluationen dazu, ein komplexeres Bild von der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen ebenso wie ihren Wirkungspotentialen und Skalierungsmöglichkeiten zu erhalten. Verbindliche Indikatorensets stärker partizipativ entwickeln Mit der Nutzung von Fördermitteln geht zumeist eine Auskunfts- und Berichtspflicht gegenüber Projektträger und förderndem Ministerium über Projektfortschritte einher. Evaluationen sind hier oft ein zentrales Moment der Dokumentation. Die Indikatorensets werden extern durch Ministerien, Projektträger oder Begleitforschungsteams festgelegt und in regelmäßigen Abständen in den Projekten erhoben. Gerade im Kontext von größeren Fördermaßnahmen besteht häufig das Problem, dass vorab festgelegte Sets von Indikatoren genutzt werden, um die durchaus heterogenen Projekte einer ganzen Fördermaßnahme zu evaluieren. Sowohl für die Begleitforschungsteams, die mit wenig passenden Ansätzen und Indikatoren sinnvolle Daten erheben sollen, als auch für Projekte, die die Wirkung ihrer Maßnahmen und Aktivitäten nicht repräsentiert sehen, stellt dies ein Problem dar. Das Resultat sind nur begrenzt aussagefähige Evaluationen und Daten in schlechter Qualität. Partizipative Evaluationsansätze setzen genau an diesem Problem an und beziehen aktiv unterschiedliche Betroffene und relevante Interessengruppen in den Evaluationsprozess ein. So ermöglichen sie die Integration von entscheidendem Praxis- und Kontextwissen in die Entwicklung, Umsetzung und Datenauswertung im Rahmen der Evaluationen [10]. Wege zur praktischen Umsetzung können hier sich regelmäßig wiederholende Workshopformate oder Interviews mit Expertinnen und Experten sein, in denen die Inputs der einzelnen Stakeholdergruppen getrennt voneinander ermittelt werden. In der Entwicklung und Auswahl von Indikatoren kann so einerseits ihre Praxistauglichkeit erhöht werden. Dies unter anderem dadurch, dass Herausforderungen ihrer praktischen Operationalisierung durch ein verbessertes Kontextverständnis von Wirkungen deutlich werden. Eine solche kollaborative und lösungsorientierte Zusammenarbeit trägt dazu bei, die Datenqualität von Evaluationen stark zu verbessern. Neben einer Verbesserung der Dateninterpretationen fördern partizipative Ansätze das gemeinsame Commitment und die Akzeptanz des Evaluationsansatzes, da die Beteiligten eine höhere Wertschätzung gegenüber ihren Perspektiven erfahren. Die gemeinsame Arbeit und Reflexion trägt bei den Beteiligten auch zu einem Kompetenz- und Kapazitätsauf bau und so zu einem Empowerment im Evaluationsbereich bei. Nicht nur Wege der Identifikationen von Wirkungen, sondern auch Kompetenzen diese methodisch zu erfassen und über diese auch gegenüber anderen zu kommunizieren, werden so in ihrer Entwicklung unterstützt. Fokussiertere Förderziele, Kontextmonitoring und Kontrollgruppen bei Maßnahmenbündeln prüfen Gut durchdachte Maßnahmenbündel sind in der Regel effektiver als nur eine isoliert durchgeführte Einzelmaßnahme. Jedoch besteht die große Herausforderung für jede externe Evaluation darin, dass man zwar idealerweise im Nachhinein Veränderungen feststellen kann, jedoch keine Aussage darüber, ob diese Veränderungen nur durch genau diese Maßnahmenkombination ausgelöst wurden oder vielleicht schwerpunktmäßig nur durch eine bestimmte Teilmenge davon oder schlichtweg durch andere Parallelaktivitäten oder externe Rahmenbedingungen. Gerade die Coronapandemie zeigte ja sehr eindrücklich, wie stark externe Rahmenbedingungen die reinen Maßnahmeneffekte überlagern können, indem beispielsweise aus Sorge vor Ansteckung die Bereitschaft, mit anderen Menschen ein Fahrzeug zu teilen oder gemeinsam zu nutzen, auch nach Ende der Kontaktbeschränkungen noch eine ganze Weile deutlich geringer blieb als vor der Pandemie. Aber auch ohne solche extremen Kontexteinflüsse stellt man bei der Begleitforschung von mehreren ähnlichen Projekten oft fest, dass die unterschiedliche Kombination und lokale Ausgestaltung dazu führen, dass die über Erhebungen ermittelten Veränderungen (z. B. in der Verkehrsmittelwahl, in den Einstellungen o. Ä.) sehr unterschiedlich ausfallen können, auch wenn sehr ähnliche Einzelmaßnahmen umgesetzt wurden. Belastbare Aussagen über die reinen Maßnahmenwirkungen sind dann schon allein aufgrund der Heterogenität in der Ausgangslage und bei den beteiligten Akteuren im Grunde so gut wie nicht möglich. Hinzu kommt, dass die Aufträge für externe Evaluationen - sei es für eine lokale Initiative oder für ein bundesweites Modellprogramm - i. d. R. keine „Kontrollgruppen“ beinhalten. Es wird also aus Gründen der finanziellen Ersparnis meist darauf verzichtet, neben den Pilotgebieten, in denen etwas Neues erprobt wird, auch noch möglichst vergleichbare räumlich-soziale Untersuchungseinheiten als Vergleichsbasis zu suchen, in denen dann keine Maßnahmen durchgeführt werden. Angesichts der Komplexität in den Wirkbeziehungen und der Heterogenität in den Ausgangsbedingungen und Maßnahmenkombinationen gibt es nicht einen „Königsweg“ für eine saubere Evaluation und Begleitforschung. Dennoch können einige Empfehlungen, vor allem in Richtung Fördermittelgeber, gegeben werden: Bei der Gestaltung von Förderprogrammen ist es empfehlenswert, sich auf maßnahmenseitig homogenere Vorhaben zu konzentrieren und die Förderziele fokussierter zu formulieren. Wird hingegen eine möglichst heterogene Projektfamilie angestrebt, so sollte realistischerweise auf eine Wirkungsevaluation verzichtet und ausschließlich eine Prozessevaluation ausgeschrieben werden. Bei der Ausschreibung von externen Evaluationsleistungen sollte ein kontinuierliches Kontextmonitoring fester Bestandteil sein. Die Möglichkeit, dabei explizit auch mit Kontrollgruppen zu arbeiten, sollte geprüft werden. Sowohl für die Programmverantwortlichen von zukünftigen Förderprogrammen als auch für die konkreten Zuwendungsempfänger ist es sehr hilfreich, sich bereits vor Projektstart zu überlegen, von welchen Annahmen über Wirkungsbeziehungen man eigentlich ausgeht - und dies im weiteren Verlauf mehrmals zu überprüfen und ggf. anzupassen. Bei diesem Klärungsprozess MOBILITÄT Evaluation DOI: 10.24053/ IV-2024-0066 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 62 den evaluationsfördernden strukturellen Rahmenbedingungen besteht entsprechend noch einiger Handlungsbedarf. Mit diesem Artikel möchten wir Mut machen, mehr und vor allem qualitativ hochwertigere Evaluation zu wagen, ohne dabei jedoch in typische Fallstricke zu geraten. Außerdem freuen wir uns auf weitere Fachdebatten zu den genannten Aspekten. Bei Interesse kontaktieren Sie gerne die Autorinnen und Autoren dieses Beitrags. LITERATUR [1] https: / / depomm.de/ [2] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2018): Empfehlungen zur Anwendung von Mobilitätsmanagement - EAM 18, R2. [3] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2004): Leitfaden für das Qualitätsmanagement im Straßenbau - Teil 1 bis 7. [4] DIN EN 13816: 2002-07, Transport - Logistik und Dienstleistungen - Öffentlicher Personenverkehr; Definition, Festlegung von Leistungszielen und Messung der Servicequalität; Deutsche Fassung EN 13816: 2002 [5] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2012): Hinweise zur Evaluation von verkehrsbezogenen Maßnahmen. [6] Dziekan, K., Riedel, V., Moczek, N., Daubitz, S., Keßler, S., Kettner, S., & Abraham, M. (2015). Evaluation zählt: Ein Anwendungshandbuch für die kommunale Verkehrsplanung. [7] Stockmann, R. (2000): Evaluation in Deutschland. In: Stockmann, R. (Hrsg.): Evaluationsforschung - Grundlagen und ausgewählte Forschungsfelder. Sozialwissenschaftliche Evaluationsforschung Band 1. Seiten 11- 40. Leske+Budrich. Opladen. [8] Bartsch, R. (2004): Validität durch Triangulation? Erfahrungen aus der Evaluation regionaler Entwicklungskonzepte (REK) in Thüringen. In: Sedlacek, P. (Hrsg.): Evaluation in der Stadt- und Regionalentwicklung. Stadtforschung aktuell Band 90. Seiten 65 - 82. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden. [9] Rolfes, M.; Wilhelm, J. L. (2021): System[theoret] ische Stadtentwicklung - Der Potsdamer Leitsternansatz. Wiesbaden. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-658-34516-7 (link.springer.com, Zugriff am 30.9.24) [10]Brandes, S.; Schaefer, I. (2013): Partizipative Evaluation in Praxisprojekten. Chancen und Herausforderungen. Prävention und Gesundheitsförderung, Band 8, Ausg. 3, Seiten 132 - 137, Springer Verlag. Berlin-Heidelberg. https: / / doi. org/ 10.1007/ s11553-013-0390-5 (link.springer. com, Zugriff am 10.10.24) Eingangsabbildung: © iStock.com/ metamorworks über die zugrundeliegenden „mentalen Modelle“ können auch externe Evaluationsteams sehr hilfreich sein, sofern dies explizit Teil ihrer Beauftragung ist. Um auch Erkenntnisse über den Einfluss von Generationeneffekten und den Einflüssen des jeweiligen „Zeitgeists” zu erlangen, wäre es schließlich interessant, wenn ein konkretes Förderprogramm nach z. B. 10 Jahren wiederholt und mit den gleichen Evaluationsinstrumenten begleitet werden würde. Ausblick Angesichts der globalen Klimakrise und den daraus resultierenden Verpflichtungen zur CO2-Reduktion steht die Verkehrsplanung unter Druck, neben wirtschaftlich tragfähigen auch umweltfreundliche und zugleich sozial gerechte Mobilitätslösungen zu entwickeln. Dies spiegelt auch die geplante Einführung von Sustainable Urban Mobility Plans (SUMPs) für die städtischen Knoten in Europa im Zuge der TEN-V-Novelle wider. Evaluation ist entscheidend, um zu überprüfen, ob neu eingeführte Maßnahmen tatsächlich zur Erreichung dieser gewünschten Ziele beitragen. Durch technologische Innovationen wie autonomes Fahren, intelligente Verkehrssysteme (ITS) und die Sektorkopplung von Elektromobilität mit erneuerbaren Energien verändert sich der Verkehrssektor rasant. Evaluation spielt hier eine zentrale Rolle, um Akzeptanz, Einsatzzwecke und Auswirkungen dieser neuen Technologien zu erfassen und zu bewerten. Zudem kann Evaluation dazu beitragen, die Perspektiven und das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden besser zu verstehen und vorgesehene Maßnahmen auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Bevölkerung abzustimmen. So kann durch stärker partizipative Evaluationsprozesse die Akzeptanz von Veränderungen erhöht und das Vertrauen der Bevölkerung gestärkt werden. Aussagefähige Evaluationen benötigen eine nachvollziehbare Datengrundlage und idealerweise auch ein gewisses Maß an Standardisierung, um jenseits von Einzelfällen Vergleiche ziehen zu können. Dies kann nur von geschulten Personen mit ausreichender Kapazität und durch deren Austausch untereinander gewährleistet werden, denn es bedeutet eine detaillierte Offenlegung der Vorgehensweise sowie der systeminhärenten Unsicherheiten und Zielkonflikte. Bei Uwe Böhme, Dr.-Ing., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen- Geislingen uwe.boehme@hfwu.de Juliane Haus, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung juliane.haus@wzb.eu Melanie Herget, Dr.-Ing., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel m.herget@uni-kassel.de Michael Abraham, Referent für Kommunales Mobilitätsmanagement bei der Deutschen Plattform für Mobilitätsmanagement michael.abraham@depomm.de Volker Blees, Prof. Dr.-Ing., Professur „Verkehrswesen“ im Fachbereich Architektur und Bauingenieurwesen der Hochschule RheinMain Volker.Blees@hs-rm.de Marie Wernecke, Mitarbeiterin bei Hessen Mobil im Bereich strategische Nahmobilitätsplanung Marie.werneke@outlook.com Evaluation MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0066 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 63 Insbesondere in ländlichen Regionen ist im Vergleich zu städtischen Ballungsräumen überwiegend der private PKW das Mittel der Wahl: Je ländlicher und schlechter die Anbindung an die Verkehrsinfrastruktur, desto höher die Nutzungsintensität und Anzahl an PKW pro Haushalt [1]. Anforderungen an Mobilität im ländlichen Raum Mobilität ist eine Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe und grundlegend für die Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse. Hierzu zählen unter anderem der Weg zur Arbeit, der Gang in den Supermarkt oder der Besuch bei Freund*innen. Obwohl PKW-Fahren heutzutage klimaverträglicher denn je ist, hat der Anstieg des Verkehrsaufkommens in den letzten Jahren diesen positiven Effekt aufgehoben [2]: Der Anteil der Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor ist von 13 % im Jahr 1990 auf 19,4 % im Jahr 2021 angestiegen, was laut dem Umweltbundesamt neben dem zuneh- Nutzerorientierte Mobilität im Münsterland Erkenntnisse aus dem Projekt BüLaMo zur Bewertung alternativer Mobilitätskonzepte durch Bürger*innen Akzeptanzforschung, Bürgerbeteiligung, Reallabor, Multimodale Mobilität, Mobilität im ländlichen Raum Die Einhaltung der Klimaziele und die Suburbanisierung setzen neue Anforderungen an Mobilitätsangebote. Verkehrsinfrastrukturell wenig erschlossene Regionen stehen vor der Herausforderung, attraktive Alternativen für den vorherrschenden motorisierten Individualverkehr zu entwickeln. Im Projekt BüLaMo (Bürgerlabor Mobiles Münsterland) werden verschiedene Mobilitätskonzepte bedarfsgerecht entwickelt, implementiert und durch Nutzende evaluiert. Die Evaluationsergebnisse leisten für ländliche Gemeinden einen wertvollen Beitrag bei der Implementierung alternativer Mobilitätskonzepte. Maren Klatt, Sabine Bertleff, Stefan Ladwig DOI: 10.24053/ IV-2024-0067 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 64 menden Straßengüterverkehr auch mit dem motorisierten Individualverkehr begründet werden kann [2]. Neben der kontinuierlich steigenden Anzahl an PKW [3] erfordern anhaltende Entwicklungen wie die Suburbanisierung und Stadtflucht das Zurücklegen weiterer Strecken [4,5] und können so zu einer intensiveren Nutzung des privaten PKW beitragen. Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Klimaschutzziele der Bundesregierung [6] und des Green Deal der Europäischen Union [7] wird deutlich, dass der motorisierte Individualverkehr im Konflikt zu nationalen und internationalen Klimaschutzzielen steht. Dabei können verschiedene Ansätze verfolgt werden, um Mobilität klimafreundlicher zu gestalten: Zum einen kann der motorisierte Individualverkehr elektrifiziert werden, zum anderen kann der ÖPNV so gestaltet werden, dass dieser einen adäquaten und attraktiven Ersatz darstellt [8]. Hierbei kann die Erfassung der Bedürfnisse der Bürger*innen zentrale Erkenntnisse für die nutzerzentrierte Gestaltung eines bedarfsorientierten ÖPNV-Angebots liefern. So können Gründe für die Nutzung und - noch entscheidender - für die Nicht- Nutzung des ÖPNV erfasst und das ÖPNV- Angebot bestmöglich an die Bedürfnisse angepasst werden. Laut Kf W-Energiewendebarometer [1] können sich zwei Drittel (63 %) der Personen, deren Haushalt mehrmals die Woche den privaten PKW verwendet, vorstellen, auf den ÖPNV umzusteigen, wenn eine bessere Anbindung vorläge. Der Wunsch nach einer besseren Anbindung ist dabei in Landgemeinden verbreiteter als in Großstädten. Multimodale Mobilität als Mobilitätskonzept Vor allem im städtischen Bereich gibt es in den letzten Jahren ein wachsendes Angebot an alternativen Mobilitätskonzepten, welches das ÖPNV-Angebot z. B. durch (E-) Bikesharing, Carsharing oder E-Scooter ergänzt. Diese Angebote verbessern die flexible Kombinationsmöglichkeit unterschiedlicher Verkehrsmittel und können somit auch die Zielerreichung verbessern. Im Rahmen von BüLaMo wird im Kreis Coesfeld erprobt, wie man im ländlichen Raum bereits bestehende Mobilitätsangebote mit neuen Mobilitätskonzepten im Sinne einer multimodalen Mobilität kombinieren kann. Im Rahmen einer früheren Veröffentlichung [9] in Internationales Verkehrswesen wurde das Projekt BüLaMo, das darin geplante Vorgehen und die geplanten Mobilitätskonzepte vorgestellt. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wird beschrieben, welche Mobilitätskonzepte realisiert wurden und welche Erkenntnisse sich daraus ableiten lassen. Ein im Projekt implementiertes Mobilitätsangebot ist die Expressbuslinie X90 (kurz: X90): Diese verbindet die Städte Olfen, Lüdinghausen und Senden mit Münster und ist eine Ergänzung zum bestehenden (Schnell-)Busnetz. Die X90 zeichnet sich im Vergleich zu anderen (Schnell-)Bussen durch einen begradigten Linienverlauf und eine reduzierte Anzahl von Haltestellen aus. Dadurch soll die Zielerreichung beschleunigt und eine attraktive Möglichkeit geschaffen werden, größere Strecken entlang der Achse mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Zusätzlich sind die Busse der X90 mit WLAN und Tablets zum Lesen von Zeitungen und Zeitschriften ausgestattet. Neben der X90 wurden im Rahmen des Projekts On-Demand-Shuttles (kurz: Shuttle) implementiert, die unabhängig von existierenden Bushaltestellen und Fahrplänen im Gemeindegebiet Senden fahren. Durch die Bündelung verschiedener Fahrtwünsche, teilen sich Passagiere mit ähnlichen Routen ein Shuttle. Die Shuttles ermöglichen somit das flexible Zurücklegen insbesondere kürzerer Strecken. Zusätzlich wurde an verschiedenen Standorten in Senden ein Carsharing- Angebot geschaffen, welches seit Anfang 2024 verfügbar ist. Diese Carsharing-Stationen befinden sich in Wohngebieten und sollen dadurch besonders leicht für die Anwohner*innen zu erreichen sein. Ein weiteres in BüLaMo verfolgtes (und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch nicht implementierendes) Konzept ist der Auf bau von Mobilstationen. Diese sind speziell ausgestattetet und bieten eine Anzahl von Services, wie z. B. WLAN, Schließfächer oder Ladestellen für E-Bikes. Somit sollen bspw. Umstiege und Wartezeiten angenehmer gestaltet und verschiedene Mobilitätsangebote physisch miteinander vernetzt werden. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gibt es eine Muster-Mobilstation, die sich an der Bushaltestelle Mönkingheide in Senden befindet (siehe Bild 1). Anhand der Muster-Mobilstation wurden die Erwartungen der Bürger*innen erfasst. Die Eröffnung der vollwertigen Mobilstation erfolgt voraussichtlich im Sommer 2024. Die in BüLaMo neu geschaffenen und bereits existierenden Mobilitätskonzepte können über die kommit! -App gebucht werden. Diese soll den Buchungsprozess mehrerer Mobilitätskonzepte einfach gestalten und somit einen Beitrag zur niederschwelligen Nutzung der Mobilitätsangebote leisten. Bürgerbeteiligung zur Erprobung neuer Mobilitätskonzepte Um die Entwicklung der Mobilitätskonzepte so nah am Nutzenden wie möglich zu gestalten, ist ein zentrales Element im Projekt die Bürgerbeteiligung in Form eines Bürgerlabors. Hierfür hat das Aachener Marktforschungsinstitut und Projektpartner Dialego AG ein Panel mit insgesamt rund 1.700 Bürger*innen aus dem Münsterland aufgebaut. Das Panel zeichnet sich durch seine demografische Heterogenität aus und wird im Projektverlauf zu verschiedenen Themen rund um die Mobilitätskon- Bild 1. Foto eines Shuttles und eines Busses der X90 (links) und der Muster-Mobilstation in Senden, Bushaltestelle Mönkingheide. Alternative Mobilitätskonzepte MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0067 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 65 Shuttle und Carsharing vorgestellt. Diese setzen sich aus den Befragungsergebnissen von Phase 1 und 3 (siehe Bild 2) zusammen. Mobilitätsverhalten Die Einblicke in das Mobilitätsverhalten der Befragten decken sich mit den im Einleitungstext genannten Daten über Mobilität im ländlichen Raum [1]: ca. 90 % der Befragten gaben an, einen Führerschein zu besitzen und mind. ein Fahrzeug im Haushalt zur Verfügung stehen zu haben. Etwas mehr als 40 % gaben an sogar mind. zwei Fahrzeuge im Haushalt zur Verfügung stehen zu haben. Zudem scheint die Verfügbarkeit von Fahrrädern und E-Bikes hoch zu sein: knapp 70 % der Befragten gaben an, dass dem Haushalt mind. ein Fahrrad zur Verfügung stünden, über 50 % verfügen im Haushalt über mind. ein E-Bike. Rund die Hälfte der Befragten nutzten höchstens einmal im Monat ÖPNV-Angebote, knapp ein Drittel nutzen den ÖPNV mehrmals die Woche bis täglich. Gründe für die Nicht-Nutzung des ÖPNV-Angebots seien unattraktive Abfahrtszeiten sowie die Standorte der Haltestellen. Auch Fahrtdauer, Kosten und Buchungsaufwand hielten einige Personen von der Nutzung ab. Sharing-Angebote, in Form von Car-, Bike- oder Scooter-Sharing scheinen unter den Befragten kaum genutzt zu werden, was unter anderem durch das geringe Angebot an Sharing-Dienstleistungen im Münsterland begründet werden könnte. Expressbuslinie X90 Über die Hälfte der Befragten gaben an, die X90 einbis mehrmals im Monat zu verwenden. Ein kleinerer Teil von fast 20 % nutze die X90 mehrmals pro Woche bis täglich. Die meisten Personen verwendeten die X90 für Freizeitaktivitäten und private Erledizepte befragt. Hierzu werden verschiedene Workshops oder Online-Befragungen durchgeführt. Das Institut für Kraftfahrzeuge der RWTH Aachen University (ika) erweitert die kontinuierliche Bürgerbeteiligung von Dialego AG um die Erhebung der Akzeptanz der Nutzenden hinsichtlich der Mobilitätskonzepte. Die Erfassung der Akzeptanz ist ein entscheidender Faktor, da neuartige Technologien und Konzepte nur dann ihren vollen Nutzen entfalten können, wenn diese auch tatsächlich von Bürger*innen genutzt werden [10]. In den Akzeptanzbefragungen wurden auch Lob, Kritik, Verbesserungsvorschläge und Wünsche erfasst. Auf Grundlage dieses Feedbacks können Handlungsempfehlungen bezüglich der Gestaltung des Mobilitätsangebots abgeleitet werden. Die Akzeptanzuntersuchung der verschiedenen Mobilitätskonzepte erfolgt durch einen iterativen Evaluationsprozess: In diesem wechseln sich Phasen der Akzeptanzmessung mit Implementierungsphasen ab, in denen die abgeleiteten Verbesserungsmöglichkeiten berücksichtigt werden können (Bild 2). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung liegen Ergebnisse aus Phase 1 und 3 vor. In Phase 1 wurde die Akzeptanz der X90 nach Einführung des Angebots sowie die erwartete Akzeptanz des Shuttles vor der Einführung erfasst. In Phase 3 wurde die Akzeptanz der X90 und des On-Demand-Shuttles nach Einführung sowie die erwartete Akzeptanz des Carsharings vor Einführung des Angebots erhoben. Diese werden im Folgenden näher beschrieben. Erkenntnisse aus dem Projekt Im Rahmen dieses Beitrags werden die zentralen Ergebnisse der bisherigen Akzeptanzforschung zu den Mobilitätskonzepten X90, gungen. Knapp 40 % der Befragten nutzten die X90 für den Arbeits- und Ausbildungsweg. Unter der Annahme, dass es die X90 nicht geben würde, würden 80 % der Befragten den privaten PKW als Ersatz für die X90 nutzen. Dies deutet darauf hin, dass Personen durch das Angebot der X90 weniger Fahrten mit dem privaten PKW zurücklegen zu scheinen. Weitere Angaben zeigten, dass die Strecken auch mit anderen Buslinien (48 %) oder dem privaten Fahrrad/ E-Bike (22 %) zurückgelegt werden würde. Die Ergebnisse der Akzeptanzbefragung zeigen, dass sich die Bewertungen hinsichtlich der Akzeptanzdimensionen Einstellung zur Nutzung, Wahrgenommener Nutzen und Wahrgenommene Einfachheit der Nutzung im Zeitverlauf des Projekts nicht verändert haben, wobei alle drei Akzeptanzdimensionen bereits in der ersten Befragung gemessen an der Bewertungsskala als hoch zu bewerten waren. In Bezug auf die Akzeptanzdimension Wahrgenommene Bedenken konnte im zweiten Befragungszeitraum eine statistisch signifikant niedrigere Bewertung gemessen werden als im ersten Befragungszeitraum. Dies impliziert, dass sich vorhandene Bedenken gegenüber Mobilitätskonzepten im Laufe der Zeit, z. B. durch positive Erfahrungen abgebaut haben könnten. Die Varianz in den Daten deutet darauf hin, dass die X90 von den Befragten unterschiedlich bewertet wird. Obwohl die Bewertung im Durchschnitt positiv war, lohnt sich daher ein Blick auf die offenen Antwortmöglichkeiten, in denen die Befragten Kritik und Verbesserungsvorschläge äußern konnten. Personen, die die X90 nicht nutzen, begründen dies vor allem damit, dass die Strecke der X90 für sie nicht relevant sei oder die Haltestellen für sie ungünstig gelegen sind. Weitere, weniger häufig genannte Gründe waren, dass kein Bedarf an diesem Bild 2. Schematische Darstellung des iterativen Ablaufs der Akzeptanzerhebung des ika über den Projektverlauf von 2020 bis 2024 hinweg. MOBILITÄT Alternative Mobilitätskonzepte DOI: 10.24053/ IV-2024-0067 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 66 Angebot bestehe, weil alternative Verkehrsmittel genutzt würden, die Kosten (v. a. für Familien) zu hoch, die Verfügbarkeit von Informationen nicht ausreichend oder die Abfahrtszeiten für die Zwecke unpassend seien. Zudem wurde angemerkt, dass eine Erweiterung des Fahrplans vor allem am Wochenende und in den Randzeiten früh morgens und spät abends wünschenswert sei. On-Demand-Shuttle Das Nutzungsverhalten der Befragten zeigt, dass über die Hälfte der Befragten das Shuttle für Freizeitaktivitäten nutzen. Über 30 % nutzen das Shuttle für andere private Erledigungen, wie z. B. Arztbesuche. Unter der Annahme, dass es das Shuttle nicht geben würde, gaben rund 70 % der Befragten an, den privaten PKW als Ersatz zu nutzen. Dies deutet darauf hin, dass Personen durch das Angebot des Shuttles weniger Fahrten mit dem privaten PKW zurücklegen. Andere Befragte gaben an, dass sie die Strecken mit dem privaten Fahrrad oder E-Bike (45 %) oder zu Fuß (29 %) zurücklegen würden. Die Akzeptanzdimensionen Einstellung zur Nutzung, Wahrgenommener Nutzen und Wahrgenommene Einfachheit der Nutzung sind gemessen an der Bewertungsskala als eher hoch zu bewerten. Zudem wurden die Wahrgenommenen Bedenken hinsichtlich der Nutzung des Shuttles gemessen an der Bewertungsskala als niedrig eingestuft. Wie bei der X90 zeigt sich auch in der Akzeptanzbewertung eine mäßig ausgeprägte Streuung in den Daten, was darauf hindeutet, dass das Mobilitätsangebot von Personen unterschiedlich positiv bewertet wird. Personen, die das Shuttle noch nicht genutzt haben, begründen dies vor allem damit, dass allgemein kein Bedarf am Angebot bestünde oder sie nicht im Einsatzgebiets des Shuttles wohnen würden. Zudem wird angemerkt, dass das Shuttle als Angebot nicht präsent sei, Unwissenheit über Abfahrorte und Preisstruktur bestünden oder das Prinzip des Shuttles unklar sei. Zudem wurde von einzelnen Personen geäußert, dass eine barrierefreie Nutzung z. B. bei der Mitnahme von Rollstühlen oder Kinderwagen wichtig sei. Die Anmerkungen der Befragten deuten zudem darauf hin, dass eine angemessene Auslastung wichtig sei - somit wurde eine hohe Auslastung zu Stoßzeiten genauso kritisiert, wie eine zu geringe Auslastung. Durch eine zu hohe Auslastung entstünden längere Wartezeiten oder das Shuttle sei zeitweise nicht buchbar. Eine geringere Auslastung hingegen vermittele den Eindruck, dass das Prinzip der Fahrtenbündelung nicht funktioniere und somit das Angebot nicht ökologisch effizienter sei als eine Fahrt mit dem privaten PKW. Carsharing Das Carsharing-Angebot in Senden ist das jüngste Angebot im Rahmen von BüLaMo und wurde vor der Einführung hinsichtlich der Akzeptanz bewertet. Bei dieser Befragung zeigte sich zum einen, dass die Befragten angaben, bisher wenig Erfahrung mit Sharing-Angeboten zu haben. Die Mehrheit der Befragten (86 %) nutze (fast) nie Sharing Angebote. Nur 2 % der Befragten seien bei einem Carsharing-Anbieter angemeldet, zum anderen zeigte sich, dass sich knapp die Hälfte der Befragten vorstellen könnten ein Carsharing-Angebot wie in BüLaMo zu nutzen. Diese Personen gaben an, dies vermutlich mehrmals im Monat (42 %) oder höchstens einmal im Monat (26 %) zu nutzen; eine tägliche Nutzung (4 %) oder eine Nutzung mehrmals die Woche (13 %) wurde weniger häufig genannt. Die Befragten können sich die Nutzung des Carsharing- Angebots vor allem für Freizeitaktivitäten, Einkäufe (z. B. zum Transport von sperrigen Gegenständen) oder private Erledigungen, wie z. B. Arzt- oder Friseurbesuche, vorstellen. Hierbei wurde von einzelnen Befragten hervorgehoben, dass das Angebot als Ersatzverkehrsmittel genutzt werden könne, falls der private PKW in der Werkstatt sei, der ÖPNV ausfalle oder die Wetterverhältnisse zu schlecht seien, um mit dem Fahrrad zu fahren. Als Fahrzeuge für das Angebot wünschten sich die Befragten vor allem Kleinwagen, Kleinstwagen und Kombis. Personen, die sich nicht vorstellen können, das Angebot zu nutzen, gaben an, dass ein privater PKW zu Verfügung stünde und somit kein Bedarf am Angebot vorhanden sei.Einzelne Befragte äußerten Unsicherheiten in Bezug auf den Umgang mit Schäden am Fahrzeug und damit verbundenen Haftungs- und Versicherungsfragen. Zudem zeigten sich Befragte besorgt, dass der Zustand der Fahrzeuge durch die öffentliche Nutzung schlecht und die Preisstruktur kompliziert oder intransparent sein könnte. Andere äußerten die Sorge, dass die spontane Verfügbarkeit der Fahrzeuge nicht gegeben oder die Carsharing-Station zu weit weg sein könnte. Zusammenfassung und Ausblick Die Ergebnisse der Akzeptanzerhebung zeigen, dass grundsätzlich das ein grundsätzliches Interesse an alternativen Mobilitätskonzepten bei vielen Befragten besteht und dass die X90, das Shuttle und das geplante Carsharing-Angebot positiv bewertet werden. Es zeigte sich aber auch, dass die ständige Verfügbarkeit und Flexibilität am privaten PKW im Vergleich zum ÖPNV-Angebot sehr geschätzt werden. Wenn zukünftige Mobilitätsangebote den private PKW ersetzen sollen, sollten diese sich daher durch eine flexible Zielerreichung auszeichnen. Zudem sind Lösungen denkbar, bei denen bereits vorhandene Transportmittel - wie etwa das private Fahrrad oder der PKW - mit öffentlichen Transportmitteln kombiniert werden. Fahrradabstellmöglichkeiten oder Parkplätze entlang von Expressbuslinien könnten diese Kombination attraktiver machen und wurden explizit von Befragten als Wunsch genannt. Seit der Einführung des Deutschlandtickets gibt es eine attraktive und niederschwellige Möglichkeit den ÖPNV regelmäßig zu nutzen. Jedoch gaben Personen an, dass - auch nach Einführung des Deutschlandtickets - die Kosten weiterhin ein Grund seien, nicht den ÖPNV zu nutzen. Eine attraktivere Tarifstruktur für Einzel- oder Mehrfahrtentickets für Gelegenheitsfahrer*innen könne das Angebot weiter verbessern, so die Befragten. Eine weitere Erkenntnis aus dem Projekt ist, dass die Nutzung der Mobilitätskonzepte grundsätzlich so niedrigschwellig wie möglich sein sollte. Gerade die Nutzung von neuen und noch unbekannten Mobilitätskonzepten kann auf den ersten Blick kompliziert erscheinen und mit Befürchtungen verbunden sein, wie z. B. die Befürchtung vor intransparenten Kosten beim Carsharing oder Unsicherheiten in Bezug auf den Umgang mit eventuellen Schäden am Fahrzeug. Um eventuellen Unsicherheiten entgegenzuwirken könnten bspw. Tage der offenen Tür bei Einführung des Angebots oder attraktive Probeangebote hilfreich sein. Die Erfahrung aus dem Projekt zeigt, dass sich Personen noch mehr Informationen über die Mobilitätskonzepte wünschen. Bei der Kommunikation neuer Mobilitätskonzepte sollten daher so viele Kanäle wie möglich verwendet werden. Gleichzeitig sollten Buchungsprozess und Tarifstrukturen so einfach wie möglich gestaltet sein. Bei der Interpretation der Daten aus der Akzeptanzbefragung ist zu berücksichtigen, dass die Stichprobe keinen festen Anforderungen hinsichtlich ihrer Repräsentativität unterlag. Zwar war die Altersstruktur mit Teilnehmern von 18 bis 89 Jahre sehr divers und auch die Beschäftigung reichte von Schüler*innen über Angestellte in Voll- und Teilzeit bis hin zu Renter*innen, jedoch wurden nicht alle demografischen Parameter erfasst, um sicherzustellen, dass es sich um eine repräsentative Erhebung handelt. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Befragungsergebnisse wertvolle Einblicke in die Einstellungen und Bedürfnisse der Bürger*innen liefern, sodass bspw. in der Kommunikation von Mobilitätskonzepten darauf eingegangen werden kann. Gemeinden, die ebenfalls neuartige Mobilitätskonzepte implementieren wollen, wird Alternative Mobilitätskonzepte MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0067 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 67 [9] Bertleff, S; Klee, P.-A.; Lender, B., Bickendorf, P., Ladwig, S. (2021): Mobilitätsentwicklung im Münsterland - Bedarfsgerechte Gestaltung der Anbindung des ländlichen Raums im Bürgerlabor mobiles Münsterland. In: Internationales Verkehrswesen, (73. Jg.) Heft 3. [10] Osswald, S.; Wurhofer, D.; Trösterer, S.; Beck, E.; Tscheligi, M. (2012). Predicting information technology usage in the car: towards a car technology acceptance model. In: Proceedings of the 4th International Conference on Automotive User Interfaces and Interactive Vehicular Applications, S. 51-58. Eingangsabbildung: © iStock.com/ Drazen Zigic LITERATUR [1] Römer, D.; Salzgeber, J. (2022). Verkehrswende in Deutschland braucht differenzierte Ansätze in Stadt und Land. In: KfW Research Fokus Volkswirtschaft, Heft 363. [2] Umweltbundesamt (2023). Emissionen des Verkehrs. Online: https: / / www.umweltbundesa m t . d e / d a t e n / v e r k e h r / e m i s s i o n e n d e s ve r ke h r s#ve r ke h rb e la s tetlu f tu n d k lim a minderungsziele-der-bundesregierung (Abruf: 21.02.2024) [3] Umweltbundesamt (2023). Verkehrsinfrastruktur und Fahrzeugbestand. Online: https: / / www. umweltbundesamt.de/ daten/ verkehr/ verkehrsinfrastruktur-fahrzeugbestand#entwicklung-deskraftfahrzeugbestands (Abruf: 26.02.2024) [4] Wolking, C. (2021): Öffentliche Mobilität und neue Mobilitätsdienstleistungen - Rahmenbedingungen und Gestaltungsperspektiven. In: Öffentliche Mobilität, S. 105-138. [5] Münter, A. (2012): Wanderungsentscheidungen von Stadt-Umland-Wanderern. Regionaler Vergleich der Muster und Motive, Informations- und Wahrnehmungslücken sowie Beeinflussbarkeit der Wanderungsentscheidung in vier Stadtregionen. In: MV-Wissenschaft. [6] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) (2016): Klimaschutzplan 2050. Klimaschutzpolitische Grundsätze und Ziele der Bundesregierung, BMU, Arbeitsgruppe IK III 1. [7] Europäische Kommission (2019): Der europäische Grüne Deal, COM(2019) 640 final. Brüssel. [8] Umweltbundesamt (2024). Klimaschutz und Verkehr. Online: https: / / www.umweltbundesa m t . d e / t h e m e n / v e r k e h r / k l i m a s c h u t z i m verkehr#undefined (Abruf: 23.2.24) auf Basis der Projekterfahrung der enge Austausch mit den Bürgern empfohlen. Weitere Informationen zum Projekt BüLaMo und die im Rahmen des Projekts durch Dialego AG erhobene Ergebnisse des Bürgerlabors können auf der Projekthomepage eingesehen werden: https: / / www.muensterland.com/ muensterland-kommit/ mitmachen/ ergebnisse/ Danksagung Wir bedanken uns beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, dem Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen sowie dem Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe für die Förderung des Projekts. Zudem danken wir dem Kreis Coesfeld als Projektträger, dem Zweckverband Mobilität Münsterland Fachbereich Bus und der Gemeinde Senden, der Regionalverkehr Münsterland GmbH als Mobilitätsdienstleister im Projekt und den Verbundpartnern: Dialego AG, e.Mobility. Hub GmbH und dem Institut für Straßenwesen und dem Werkzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen University. ■ Maren Klatt, M.Sc., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsbereich Verkehrspsychologie und Akzeptanz, Institut für Kraftfahrzeuge (ika), RWTH Aachen University, Steinbachstraße 7, 52074 Aachen maren.klatt@ika.rwth-aachen.de Sabine Bertleff, Dr. rer. medic., ehem. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsbereich Verkehrspsychologie und Akzeptanz, Institut für Kraftfahrzeuge (ika), RWTH Aachen University, Steinbachstraße 7, 52074 Aachen Stefan Ladwig, Dr. phil., Forschungsbereichsleiter Verkehrspsychologie und Akzeptanz, Institut für Kraftfahrzeuge (ika), RWTH Aachen University, Steinbachstraße 7, 52074 Aachen stefan.ladwig@ika.rwth-aachen.de MOBILITÄT Alternative Mobilitätskonzepte DOI: 10.24053/ IV-2024-0067 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 68 All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren | abo@narr.de expert verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG expert verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Foto von Jon Tyson auf Unsplash Element der Matrix steht für die Gesamtanzahl der Personen-Wege, die in einem Zeitabschnitt zwischen Quelle und Ziel zurückgelegt werden. Die kleinsten Raumeinheiten, „Basiszonen“ genannt, orientieren sich an den Funkzellen. Sie haben Abmessungen von wenigen hundert Metern in zentralen Lagen bis zu mehreren Kilometern. Zeitlich stehen die Wegedaten nach Monaten unterteilt seit 2019 zur Verfügung. Sie können als Tagesdurchschnitt auf einer Karte angezeigt oder als Tabelle exportiert werden. Die Exporte lassen sich nach Wochentagen, Abfahrtsstunden oder der Luftlinien-Entfernung differenzieren. Eine Aufteilung der Wege nach Verkehrsträgern ist bislang nicht möglich. Für die Arbeit mit MND ist wichtig zu beachten, dass zwischen den Rohdaten, also automatisch protokollierten Mobilfunk-Ereignissen, und den Wegedaten ein komplexer Auf bereitungsprozess steht. Die räumliche Zuordnung der Mobilfunk-Ereignisse schätzt Teralytics datengestützt ab. Zwar sind die Orte der Funkmaste bekannt, mit denen die Mobilfunkgeräte im Hintergrund selbsttätig kommunizieren. Die Abdeckung einer Funkzelle wird jedoch unter anderem von der genutzten Technologie, der Ausrichtung der Antennen, der Topographie und lastabhängigen Veränderungen des Versorgungsgebietes bestimmt. Aus den Rohdaten geht ebenfalls nicht hervor, wann ein Weg endet und der nächste beginnt oder ob nur pausiert, im Stau gestanden bzw. auf einen Zug gewartet wird. In „Matrix“ wird dies regelbasiert festgelegt. Sehr vielschichtig ist auch die Hochrechnung der beobachteten Wege. Diese sind nicht als Zufallsstichprobe zu werten, was eine statistisch gesicherte Extrapolation Einleitung Der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) ist Aufgabenträgerorganisation für den regionalen ÖPNV. Im Verbundgebiet, das zwei Drittel von Hessen einschließlich der Metropolregion Frankfurt Rhein-Main umfasst, bestellt er die regionalen ÖPNV- Leistungen ergänzend zu den lokalen Nahverkehrsorganisationen, die für lokale Verkehre innerhalb der Landkreise bzw. der kreisfreien oder Sonderstatusstädte zuständig sind. Ihre strategischen Ziele legen die Aufgabenträgerorganisationen in Nahverkehrsplänen fest. Eine Grundlage hierfür ist die Analyse von Stärken und Schwächen des Angebots. Sie erfolgt bislang primär auf Basis von Fahrgastzählungen. Aus Mobilfunkdaten („Mobile Network Data“, MND) erzeugte Wegedaten i werden seit einigen Jahren am Markt angeboten und beim RMV zu Planungszwecken genutzt. MND bilden das gesamte Wegeaufkommen ab. Sie ermöglichen die Betrachtung von Verkehren auch außerhalb des ÖPNV und stellen eine sinnvolle Erweiterung ausschließlich ÖPNV-bezogener Analysen dar. In diesem Artikel wird eine Methodik vorgestellt, mit der das ÖPNV-Angebot im RMV-Gebiet auf der Grundlage von MND und programmgestützten Abfragen der RMV-Fahrplanauskunft gesamthaft untersucht und bewertet werden kann. Wegedaten aus Mobilfunkdaten Die Teralytics AG verarbeitet Mobilfunkdaten des Netzanbieters Telefónica zu Wegedaten im Produkt „Matrix“. In diesem wird analog zur Verkehrsmodellierung der Betrachtungsraum in kleinere Raumeinheiten unterteilt. Auf dieser Basis werden Quelle- Ziel-Matrizen generiert, die die Stärke der Verkehrsverflechtungen abbilden. Jedes deutlich kompliziert. Für die Gewichtung der Wege müssen zudem Informationen von Quelle und Ziel in geeigneter Weise kombiniert werden, zum Beispiel der Marktanteil von Telefónica, der räumlich wie auch zeitlich variiert [1] [2]. Einschätzung der MND aus Sicht der RMV-Planung Zwar wurden zu Beginn der Nutzung der MND beim RMV punktuell unplausible Ergebnisse festgestellt. Der nachfolgende Prozess, der vertiefte Analysen und Anpassungen der Auf bereitungsmethoden umfasste, resultierte jedoch in einem deutlich verbesserten Datensatz, der diversen Prüfungen standhielt, angefangen beim Vergleich mit raumtypologisch differenzierten Wegezahlen aus der Studie „Mobilität in Deutschland“ [3] bis hin zum Abgleich mit Kordonzählungen an Ein- und Ausfallstraßen der Stadt Frankfurt [4]. Obwohl beim Einsatz von MND in der Verkehrsplanung Fragestellungen nicht zu spezifisch gewählt werden sollten, stellen sie mit einer zumindest nicht unwahrscheinlichen Abbildung des gesamten Verkehrsaufkommens und dessen Verteilung gerade auf regionaler Ebene einen klaren Mehrwert dar, auch weil hier die Anforderungen an die räumliche Auflösung nicht so hoch sind wie im lokalen Kontext. Fraglich ist zudem, ob Alternativen wie zum Beispiel Verkehrsmodelle auf Basis von Strukturdaten und synthetischer Population mit geringerem Aufwand generiert, kalibriert und gepflegt werden können, relevante Fragestellungen in höherer Bandbreite abdecken und/ oder validere Ergebnisse erzeugen. Für MND spricht weiterhin, dass sie nicht nur stichtagsbezogen, sondern kontinuierlich über Jahre in hoher zeitlicher Auflösung vorliegen. Mit Mobilfunkdaten das ÖPNV-Angebot genauer planen ÖPNV, Regionalverkehr, Angebotsplanung, Mobilfunkdaten, Angebotsanalysen, Reisezeitverhältnisse Aus Mobilfunkdaten abgeleitete Wegedaten können die Anforderungen aus der Verkehrsplanung nicht alleinstehend erfüllen, auch weil sie bisher nur das gesamte Wegeaufkommen ohne Differenzierung nach Verkehrsmitteln abbilden. Trotzdem bieten sie einen Mehrwert, zum Beispiel bei der Abschätzung von Nachfragepotenzialen für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) über dessen Systemgrenzen hinaus. Folgend wird eine Methode vorgestellt, die mit Mobilfunkdaten und teilautomatisierten Fahrplanabfragen verbundweite Angebotsanalysen sowie Optimierungen von Fahrplan und Fahrtenangebot ermöglicht. Markus Mendetzki, Sebastian Heller DOI: 10.24053/ IV-2024-0068 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 70 MOBILITÄT Mobilfunkdaten Beim RMV wurden die MND bereits verschiedentlich eingesetzt, zum Beispiel als Grundlage für die Verkehrsmodellierung in Nutzen-Kosten-Untersuchungen (NKU). Bei den NKU zur Verlegung der Station Kirchhain-Anzefahr und für eine neue Station „Marburg Mitte“ flossen sie in die Bewertung ein. Weiterhin kamen die Daten in einer Studie zur Einrichtung neuer Expressbuskorridore bei der Schätzung von Fahrtenaufkommen zur Anwendung [5]. Sie dienten auch als Entscheidungshilfe für die Bewertung unterschiedlicher Fahrplankonzepte im Hinblick auf Anschlussoptimierungen an Knotenpunkten. Globale Angebotsanalysen mit Fahrplanabfragen und MND Erfahrene Planerinnen und Planer können die Qualität der Angebote in ihrer Zuständigkeit meist sehr gut einschätzen. Gleichwohl können nicht alle Angebotslücken auf Grundlage vorliegender Fahrgastzählungen und der fallbezogenen Ermittlung von Reisezeiten identifiziert werden. Das Verhältnis zwischen den Reisezeiten im ÖPNV und mit dem Pkw auf einer Verbindung ist ein wichtiger Indikator für die ÖPNV-Angebotsqualität. Die hier vorgestellte Methode ermöglicht die Bildung von Reisezeitverhältnissen und die Abschätzung von Wegeaufkommen für das gesamte Verbundgebiet. Weist eine Relation ein eher ungünstiges Reisezeitverhältnis und gleichzeitig eine hohe Nachfrage auf, ist dies ein Indiz für Optimierungspotenziale. Entsprechend der Zuständigkeit des RMV für den regionalen Verkehr werden Verbindungen zwischen den Gemeinden betrachtet und der Fokus auf kreisüberschreitende Relationen gelegt. Methodik Die RMV-Auskunft kann mithilfe einer offenen API-Schnittstelle [6] parametriert aufgerufen werden. Dabei kann wie beim Aufruf einer Website eine Zeichenfolge in die Adressleiste eines Browsers eingegeben werden. Dieser Text enthält Quelle und Ziel, Datum und Uhrzeit der Abfrage sowie eine Vielzahl weiterer Parameter. So können neben ÖPNVauch Pkw-Verbindungen oder Kombinationen mit Park+Ride ausgegeben werden. Der Aufruf kann auch aus einer Excel- Tabelle heraus angestoßen, die relevanten Informationen erfasst und verarbeitet und der gewünschte Wert an die Tabelle zurückgegeben werden. Anschauliche Anleitungen für vergleichbare Abfragen finden sich zum Beispiel bei YouTube [7]. Für die Fahrplanabfragen wird für jede Gemeinde im RMV-Gebiet nur je ein zentraler Haltepunkt angenommen. Diese aus Aufwandsgründen notwendige Vereinfachung kann insbesondere in großen Städten und in Gemeinden mit vielen verstreuten Ortsteilen zur Unterschätzung der tatsächlichen Reisezeiten führen. Die über 82.000 Abfragen wurden zur Begrenzung der Serverlast auf maximal 6.000 pro Stunde verteilt. Als Abfragedatum wurde der 4. Juli 2024 festgelegt, ein Donnerstag außerhalb der Schulferien mit nur wenigen fahrplanrelevanten Baumaßnahmen. Um nicht gesonderte Schülerverkehre oder Verstärkerfahrten zu Spitzenzeiten abzubilden, wurde die Zeit auf 10 Uhr gelegt. Abgefragt wurden die drei nachfolgenden ÖPNV-Verbindungen sowie eine für Pkw. Der Quotient aus der schnellsten ÖPNV-Reisezeit und der Dauer der Pkw-Fahrt wurde an das jeweilige Tabellenfeld zurückgegeben. Nach Berechnung der Reisezeitverhältnisse wurden diese gemäß den Empfehlungen der FGSV [8] in Qualitätsstufen eingeteilt (siehe Tabelle 1). Anschließend wurden den Relationen die mittleren werktäglichen Wegezahlen für Januar 2024 zugeordnet, dem bei Bearbeitung aktuellsten verfügbaren Monat. Verbundweite Ergebnisse Die Verteilung aller Relationen auf die Qualitätsstufen der Reisezeitverhältnisse zeigt Bild 1. Während der ÖPNV auf knapp 7 % der Relationen ein günstiges oder sehr günstiges Reisezeitverhältnis erzielt und auf über der Hälfte ein mindestens zufriedenstellendes, ist es auf fast 10 % der Relationen schlecht oder sehr schlecht. Werden anstelle der Relationen die Wege angesetzt, ergibt sich eine wesentlich positivere Verteilung der Reisezeitverhältnisse (Bild 1). Gemäß MND beträgt die Wegezahl bei rund 40 % der Relationen Null und nur für unter 20 % werden zehn oder mehr Wege ausgewiesen. Werden nur die Landkreisgrenzen überschreitenden Verbindungen betrachtet, zeigt sich ein ähnliches Bild. Zwar sinkt hier der Anteil sehr günstiger, aber auch der schlechten oder sehr schlechten Relationen (siehe Bild 2). Reisezeitverhältnis ÖPNV/ MIV Qualitätsstufe < 1 A - sehr günstig 1 bis < 1,5 B - günstig 1,5 bis < 2,1 C - zufriedenstellend 2,1 bis < 2,8 D - gerade noch akzeptabel 2,8 bis < 3,8 E - schlecht 3,8 oder größer F - sehr schlecht Tabelle 1: Einteilung der Reisezeitverhältnisse in Qualitätsstufen nach [8] Bild 1: Verteilung der Reisezeitverhältnisse zwischen den Städten und Gemeinden im RMV-Gebiet in Qualitätsstufen Bild 2: Verteilung der Reisezeitverhältnisse zwischen den Städten und Gemeinden im RMV-Gebiet in Qualitätsstufen, nur kreisübergreifende Verbindungen A: 1,0 % B: 5,9% C: 44,1% D: 39,7% E: 8,3% F: 1,1% Relationen A: 23,7% B: 28,5% C: 29,1% D 12,4% E: 4,2% F: 2,1% Wege A: 17,5% B: 33,7% C: 33,4% D: 11,1% E: 2,9% F: 1,3% Wege A: 0,4% B: 5,3% C: 45,1% D: 40,5% E: 7,8% F: 0,8% Relationen Mobilfunkdaten MOBILITÄT DOI: 10.24053/ IV-2024-0068 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 71 einem Kreuzungsbahnhof in Rodheim, der sich aktuell in Planfeststellung befindet, kann zukünftig ein einheitlicher Takt mit Übergangsmöglichkeiten in Friedberg hergestellt werden. Weiterentwicklung Derzeit werden Ansätze geprüft, mit denen Fehleinschätzungen der Reisezeitverhältnisse aus der Annahme nur einer Haltestelle pro Gemeinde vermieden werden können. Danach ist geplant, den Ansatz auf andere Zeiträume von planerischem Interesse (z. B. Hauptverkehrszeit, Abendverkehre, Wochenende) anzuwenden und auf zusätzliche Kriterien wie durchschnittliche Reisezeiten, Bedienungshäufigkeiten und -zeiten sowie Umsteigehäufigkeiten zu erweitern. Zudem können die Abfragen der Reisezeitverhältnisse nach Fahrplanwechseln wiederholt und auf diese Weise mittelfristig Zeitreihen gebildet werden. Auswertungen sind auch für Teile des Verbundraums (z. B. Landkreise) mit den Ortsteilen als Betrachtungsebene denkbar. Fazit und Ausblick MND stellen als Grundlage für die Abschätzung des Gesamtverkehrsaufkommens und dessen Verteilung im RMV-Gebiet bereits einen Mehrwert dar, der sich noch einmal deutlich erhöht, wenn es gelingt, die Wegedaten nach Verkehrsmitteln zu differenzieren. Hierzu befindet sich ein Ansatz in Entwicklung. Die Aufgabe ist jedoch ähn- Auswertung für Oberzentren Folgend werden beispielhaft die Oberzentren im RMV-Gebiet betrachtet. Sie sind im regionalen Kontext von Bedeutung, da sie zum Teil über Kreisgrenzen hinweg zentralörtliche Funktionen wahrnehmen. Ihre Erreichbarkeit mit dem ÖPNV ist insgesamt positiv zu bewerten, da 93 % der Wege in die Oberzentren ein Reisezeitverhältnis der Klasse C oder besser aufweisen. Zwischen den Oberzentren ergeben sich Unterschiede in der Verteilung der Wege auf die Klassen A bis C. Ein zentral gelegener Bahnhof (z. B. Wetzlar) oder eine S-Bahn-Station (z. B. Offenbach) wirken sich dabei positiv aus. Eine Übersicht ist in Bild 3 für die Relationen mit mehr als 1000 Fahrten pro Tag und Richtung dargestellt. Ein Reisezeitverhältnis der Klasse E und über 1000 Wege pro Tag weist beispielsweise die Relation Niederweimar - Marburg auf. Dies liegt an der sehr guten überörtlichen Pkw-Anbindung des Marburger Stadtzentrums, gleichwohl wird derzeit ein zusätzlicher Haltepunkt „Marburg Mitte“ geprüft, der eine bessere ÖPNV-Erreichbarkeit der Marburger Innenstadt und günstigere Reisezeitverhältnisse bewirken könnte. Ähnlich ist dies bei der Verbindung von Rosbach v.d.H. nach Bad Nauheim, einem Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums gemeinsam mit Friedberg. Dort können Anschlüsse im Zugverkehr aufgrund eines eingleisigen Abschnitts nicht systematisch hergestellt werden. Mit lich komplex wie schon die Generierung des Gesamtwegeaufkommens. Gegebenenfalls helfen hier Daten aus automatischen Fahrgastzählsystemen, die allerdings nur für einen Teil des ÖPNV-Angebots vorliegen. Der Ansatz, Reisezeitverhältnissen und MND kombiniert auszuwerten soll weiterverfolgt, optimiert und auf weitere Fragestellungen der Angebotsanalyse ausgedehnt werden. Es ist geplant, Reisezeitverhältnisse zunächst zur Beschreibung des Status quo in die kommende Fortschreibung des Nahverkehrsplans aufzunehmen. Perspektivisch sind sie auch als ergänzendes Kriterium bei der Bildung von Bedienungsstandards denkbar. ■ ENDNOTEN i Zur Vereinfachung werden mit MND sowohl Mobilfunkdaten als auch aus Mobilfunkdaten generierte Wegedaten bezeichnet LITERATUR [1] Münnich, R. und T. Schmid: „Verkehrsverflechtungen, Erreichbarkeit und Aufenthaltsbevölkerung: Methodik und Ergebnisse der Multi-Source-Analysen“ - Vortrag auf der Abschlusskonferenz des BMDV-Projektes VerBindungen, Berlin, 23.11.2023 [2] ht tp s: / / d e. s t ati s t a.co m / s t ati s tik / date n / s tu die/ 183182/ umfrage/ anzahl-der-mobilfunkanschluesse-in-deutschland-nach-netzbetreiber/ , abgerufen am 11.10.2024 [3] https: / / www.mobilitaet-in-deutschland.de/ archive/ pdf/ MiD2017_Ergebnisbericht.pdf, abgerufen am 11.10.2024 [4] https: / / frankfurt.de/ -/ media/ frankfurtde/ serviceund-rathaus/ verwaltung/ aemter-und-institutionen/ strassenverkehrsamt/ pdf/ 36_10-stadtrandzaehlung-2020.pdf, abgerufen am 11.10.2024 [5] Blöcher, P.: „Jede Gemeinde, jede Stunde“, in: Regionalverkehr 04-2024, ISSN 1615-7281 [6] https: / / opendata.rmv.de/ site/ start.html [7] https: / / www.youtube.com/ watch? v=kKUNpwoxIEM, abgerufen am 14.10.2024 [8] FGSV (Hrsg.): Empfehlungen für Planung und Betrieb des öffentlichen Personennahverkehrs, Projektbericht (FoPS), FA-Nr. 70.837/ 2009, Juni 2010. Markus Mendetzki, MSc. Traffic and Transport, Bereichsleiter Mobilitätsanforderungen und Rahmenplanung; Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Alte Bleiche 7, 65719 Hofheim/ Ts. m_mendetzki@rmv.de Sebastian Heller, Dipl.-Ing., Mitarbeiter Bereich Mobilitätsanforderungen und Rahmenplanung; Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Alte Bleiche 7, 65719 Hofheim/ Ts. s_heller@rmv.de Bild 3: Reisezeitverhältnisse in Stufen für Oberzentren und Mittelzentren mit Teilfunktionen eines Oberzentrums (Quelle: RMV, Teralytics AG) Marburg Rudolphsplatz in Qualitätsstufen ab 1.000 Wege pro Werktag A sehr günstig B günstig C zufriedenstellend D gerade noch akzeptabel E schlecht F sehr schlecht DOI: 10.24053/ IV-2024-0068 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 72 MOBILITÄT Mobilfunkdaten für die Entwicklung des globalen Güterverkehrs herausgegeben, die eine etwa vierfache Zunahme des Straßengüterverkehrs von 6,4 Billionen tkm im Jahr 2010 auf 30,9 Billionen tkm im Jahr 2050 voraussagt. Unter der Annahme, dass Lkw mit Dieselmotoren bis dahin noch immer die überwiegende Mehrheit der schweren Nutzfahrzeuge ausmachen, würde diese Zunahme bspw. mit einem Anstieg der CO 2 -Emissionen um rund 300 % einhergehen [1], [2]. Insgesamt zeigt sich, dass der Straßengüterverkehr für etwa 35 % der Gesamtemissionen im Verkehr ver- Einleitung Der Straßengüterverkehr, insbesondere mit schweren Nutzfahrzeugen, als notwendiger Treiber für wirtschaftliche Aktivitäten ist für die meisten Volkswirtschaften unverzichtbar, verursacht jedoch gleichzeitig einen großen Teil der Luftschadstoffemissionen und anderer Schadstoffe, die dem Güterverkehrssektor weltweit zugerechnet werden. Nach einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat das International Transport Forum (ITF) 2015 eine Prognose antwortlich ist. Aus dem Verkehrsträger Schiene entstammen lediglich 0,5 % [3]. In Deutschland hat das Güterverkehrsaufkommen in den letzten Jahren stetig und erheblich zugenommen. Trotz eines im internationalen Vergleich qualitativ und quantitativ überdurchschnittlich ausgebauten Schienennetzes und zahlreichen Bestrebungen Transporte auf den Verkehrsträger Schiene zu verlagern wird von einem weiterhin kontinuierlichen Wachstum der Straßengüterverkehrsleistung ausgegangen. Der hohe und unentwegt steigende Bewertung der experimentellen Ermittlung von Feinstaubemissionen von Oberleitungs-Lkw eHighway, Luftschadstoffemissionen, Feinstaub, Pantograph, dynamisches Laden Die vom Straßengüterverkehr verursachten hohen CO₂- und Feinstaubemissionen erfordern Strategien, die einen weitgehend emissionsfreien Transport ermöglichen. Ein vielversprechender Lösungsansatz ist die Verbreitung von elektrischen Lkw, die während der Fahrt dynamisch über Oberleitungen angetrieben werden. Durch einen Vergleich der Oberleitungsfahrzeuge mit konventionellen Lkw sowie anhand qualitativer Ableitungen aus dem Bahnwesen, gestützt durch eine Analyse experimenteller Tests, wird gezeigt, dass die PM10-Emissionen durch ein Zusammenwirken von Pantograph und Oberleitung reduziert werden. Danny Wauri, Laurenz Bremer DOI: 10.24053/ IV-2024-0069 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 73 Beitrag schwerer Nutzfahrzeuge zu den Luftschadstoff- und Treibhausgasemissionen 1 sowie die kaum nennenswerten Verlagerungen des Straßengüterverkehrs auf den Verkehrsträger Schiene erfordern folglich eine rasche Umsetzung verschiedener Maßnahmen und Lösungsansätze, die einen weitgehend emissionsfreien und somit klimaverträglichen Straßengüterverkehr ermöglichen. Im Regional- und Fernverkehr konnten bisher nur wenige Maßnahmen erfolgreich umgesetzt werden. Grund ist v. a. die eingeschränkte Reichweite der batterieelektrisch angetriebenen, schweren Nutzfahrzeuge, die nur mit einem erheblichen Mehrgewicht sehr großer Batterieeinheiten und einem damit einhergehenden Ladevolumenverlust ausgeglichen werden kann [4]. Aufgrund der hohen Gesamtzahl zurückgelegter Streckenkilometer und den hohen Verkehrsleistungen im Regional- und Fernverkehr lassen sich signifikante Emissionsminderungspotentiale erschließen, wenn schwere Nutzfahrzeuge dynamisch, bspw. mit Hilfe einer Oberleitungsinfrastruktur, elektrifiziert würden [5], [6]. Das Grundprinzip des dynamischen Ladens beruht auf einer abschnittweisen Energieversorgung elektrisch angetriebener Lkw über eine angepasste Fahrleitungsanlage auf dem rechten Fahrstreifen einer Fernstraße. Die rein elektrischen (oder hybriden) Oberleitungs-Lkw sind neben einem Elektromotor (und konventionellen Verbrennungsmotor) mit einem Energiespeicher (Batterie) und einem modifizierten Stromabnehmer (Pantograph) ausgestattet. Dieser Stromabnehmer ermöglicht es, elektrische Energie von der Oberleitungsanlage zum elektrischen Antriebssystem des Fahrzeugs zu übertragen. Mit Blick auf die notwendige Reduktion der verkehrlich bedingten Luftschadstoffemissionen sowie angesichts des fortgeschrittenen technologischen Reifegrades des dynamischen Ladesystems per Oberleitung und deren erfolgreiche Erprobung im Rahmen von drei öffentlichen Feldversuchen, zeigt sich das volle Potenzial zur Minderung jedoch erst durch eine gesamtheitliche Untersuchung ökologischer Wirkungen, einschließlich der Analyse und Bewertung der aus dem Betrieb der Oberleitungs-Lkw resultierenden Abriebemissionen, verursacht durch das Zusammenwirken des Pantographen und der Fahrleitung. Die Bewertung erfolgt dabei über qualitative Ableitungen von Erfahrungen aus dem Straßen- und Schienenverkehr sowie anhand experimenteller Forschungsarbeiten. Messungen und Berechnungen aus Feldtests hinsichtlich des Verschleißes an Fahrdraht und Schleifleiste (z. B. durch statistisch gemittelte Abriebmessungen) sollen die beiden Betrachtungsansätze untermauern. In diesem Zusammenhang ist die Analyse der Feinstaubemissionen (PM10) von wesentlicher Bedeutung, da diese direkt auf Verkehrsteilnehmende einwirken. Feinstaubemissionen von Diesel-Lkw und Oberleitungs-Lkw Die Feinstaubkonzentrationen im Straßengüterverkehr weisen in der Regel eine breite lokale und temporale Streuung auf. Die Konzentrationen können in hochfrequentierten Abschnitten deutlich höher sein. Auch auf weniger stark befahrenen Abschnitten können kurzzeitige hohe Konzentrationen auftreten, insbesondere zu Stoßzeiten. Dies ist auf Faktoren wie Brems- und Beschleunigungsvorgänge, den Straßenbelag oder auch die Wetterbedingungen zurückzuführen. Die Feinstaubbelastung wird zusätzlich von der Art der Beladung, dem Kraftstofftyp, der Motoreffizienz und den Emissionsstandards der Fahrzeuge beeinflusst. Hinzu kommen Faktoren wie die entwurfstechnische Straßenraumgestaltung und der momentane Verkehrszustand. [8] Bei Betrachtung des emittierten Feinstaubs werden demnach verschiedene Quellen deutlich. Neben den aus dem Verbrennungsmotor resultierenden Partikeln aus Abgasen (motorische Emissionen) tragen im Wesentlichen Reifen- und Bremsabriebe und Wiederaufwirbelungen von Fahrzeugkatalysatoren, Antriebssystemen (Kardanwellen, Dichtungen, Getrieben) zum Gesamtanteil des emittierten PM10-Feinstaubs bei. [8] Die spezifischen Anteile haben sich in den letzten Dekaden infolge verbesserter Fahrzeugtechnik und Partikelfilter jedoch verändert. War vor rund 30 Jahren der Großteil der Feinstaubemissionen auf den Motor zurückzuführen, entfallen heutzutage erhebliche Anteile auf den Abrieb von Bremsen, Reifen und Straßen. Welchen Anteil diese Quellen an der Feinstaubemissionen haben wird sehr kontrovers diskutiert. Während einige Statistiken den Anteil des Dieselmotors als wesentliche Quelle benennen [9], wird an anderer Stelle der Abrieb von Bremsen, Reifen und der Straße als bedeutender gesehen [10]. Begründet wird dies dadurch, dass die Abriebemissionen parallel zu den Fahrleistungen steigen und die Auspuffemissionen durch verbesserte Motor- und Reinigungstechniken trotz höherer Fahrleistungen sinken. Im Vergleich zu konventionellen Diesel- Lkw entfällt der verbrennungsmotorische Anteil bei (rein elektrischen) Oberleitungs- Lkw. Auch der Abrieb der Komponenten im Antriebssystem und in den Bremsen wird, infolge der elektrischen Bremsung, reduziert. Gegenläufig zu dieser Reduktion sind Feinstaubemissionen zu betrachten, die durch ein höheres Fahrzeuggewicht und die Verwendung des Stromabnehmers entstehen. PM10 entsteht bei Verbrennungsprozessen und durch den Abrieb von Stoffen, wie z. B. am Fahrdraht. In Emissionsberechnungen werden für den Straßenverkehr oft nur die motorischen Emissionen berücksichtigt. Da in die Betrachtung der Umweltwirkungen des Oberleitungssystems auch die Fahrdrahtabriebemissionen einbezogen werden müssen, ist es notwendig, die Aufwirbelungs- und Abriebemissionen in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Für motorische Emissionen der Diesel- Lkw sowie für Aufwirbelungs- und Abriebemissionen liegen Erfahrungen vor. Literaturangaben zufolge liegt die Feinstaubemission (PM10) konventioneller Lkw für motorische Emissionen bei 0,08 - 0,4 g/ Fzg-km und für Abriebe und Aufwirbelungen bei 0,06 - 0,5 g/ Fzg-km [11], [12]. Zur Ermittlung der PM10-Emissionen der Oberleitungs-Lkw aus dem Abrieb des Fahrdrahtes und der Schleifleisten bestehen hingegen Unsicherheiten. Es gibt hierzu keine Erfahrungen oder Messwerte. Bild 1: PM10- Gesamtemission im Straßenverkehr nach [8] TECHNOLOGIE Oberleitungs-Lkw DOI: 10.24053/ IV-2024-0069 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 74 Abnutzung einhergehen. Höhere Kontaktkräfte verbessern hingegen den elektrischen Kontakt und reduzieren die Anzahl der elektrischen Lichtbögen. Sie erhöhen jedoch die mechanische Abnutzung. Es ist demnach ein Optimum durch moderate Kontaktkräfte anzustreben, um eine minimale Gesamtsumme aus elektrischer und mechanischer Abnutzung zu erreichen [16]. Da der Lkw-Antriebsstrom in Oberleitungssystemen geringer ist als der einer elektrischen Vollbahn, ist ebenfalls die Lichtbogenleistung geringer und folglich auch der elektrische Verschleiß [19]. Wichtig bei sämtlichen Betrachtungen ist auch das verwendete Material des Fahrdrahtes. Dabei konnte im Bahnwesen aus einem Verschleißwert einer Reinstkupferleitung ein theoretischer Abriebfaktor an der Oberleitung von mindestens 0,12 g pro Fahrzeugkilometer ermittelt werden. 2 Die mittlere Fahrdrahtlebensdauer aus dem Gesamtnetz der DB AG beträgt ca. 1,25 Millionen Stromabnehmerdurchgänge. Demzufolge besitzen die Fahrdrähte bei Bahnanwendungen in der Regel eine Qualitative Ableitungen aus bestehenden Technologien Die Technologie des dynamischen Ladens durch Oberleitungen befindet sich noch in einem frühen Stadium der Nutzung und Optimierung. Dies führt dazu, dass nur wenige Erkenntnisse zu Feinstaubemissionen vorliegen. Durch die im Wesentlichen aus dem Schienenverkehr abgeleitete Technik können jedoch Rückschlüsse aus bisherigen Analysen gezogen werden. Über die Emission von Feinstaub im Straßen- und im Schienenverkehr liegen diverse Studien und Untersuchungen vor. Zur qualitativen Ableitung des Einflusses des Stromabnehmers bietet sich ein Vergleich zum Schienenverkehr an. Eine Studie von HELD- STAB UND KLJUN zeigt, dass der Abrieb bei einer Beschleifung des Fahrdrahtes durch den Stromabnehmer im Bahnverkehr den geringsten Anteil der Emissionen ausmacht. Andere Abriebe der Schiene (Stahl), der Bremssysteme sowie der Räder des Triebfahrzeugs und der Eisenbahnwagen überwiegen [13]. Bild 2 zeigt die PM10- Emissionen aus dem Schienenverkehr. Untersuchungen von LÖSCHER UND SEIFERT beziffern den Anteil der PM10-Emissionen durch Fahrdrahtabrieb auf 1 % und den Anteil des Pantographen (Kohleschleifstücke) auf 0,1 % [14]. Zur Bestimmung des Verschleißverhaltens des Kontaktpaares Fahrdraht und Schleifleiste wird zwischen mechanischem Verschleiß aufgrund von Reibung und elektrischem Verschleiß aufgrund von Stromübertragung differenziert [15]. Der Gesamtverschleiß des Kohleschleifstücks ist dabei definiert als Summe aus mechanischer und elektrischer Abnutzung. Diese sind umgekehrt proportional zur Kontaktkraft (Bild 3). Geringe Kontaktkräfte führen zu geringer mechanischer Abnutzung. Es treten dabei jedoch vermehrt Lichtbögen auf, die mit einer hohen elektrischen durchschnittliche Lebensdauer etwa 30 Jahren. Je Trassenkilometer und Stromabnehmer entsteht ein durchschnittlicher Abrieb an der Oberleitung von 0,06 g, der als Feinstaub emittiert wird. Zusätzlicher Abrieb der Kohleschleifstücke am Stromabnehmer erscheint Studien zufolge im Bahnwesen vernachlässigbar klein [18]. Im Oberleitungssystem dynamischer Ladesysteme auf Fernstraßen ist diese Thematik aufgrund zahlreicher Stromabnehmerdurchgänge der Fahrzeuge spezieller zu betrachten. Es kommen Schleifleisten aus reiner Hartkohle oder paraffinimprägnierte Schleifleisten sowie Fahrdrähte aus einer sehr harten Kupfer-Magnesium-Legierung zum Einsatz. Diese Kontaktkombination ist als äußerst verschleißfeste Werkstoffkombination aus der Bahntechnik bekannt und mit denen des leichten Straßenbahnbetriebs vergleichbar (mittlere Anpresskräfte und Ströme, Geschwindigkeiten bis 80 km/ h). Mit Ausnahme von Geschwindigkeit und Stromart elektrischer Bahnen sind die Umgebungsparameter mit dem Oberleitungssystem vergleichbar und somit als Richtwerte übertragbar. So wird zur Bestimmung der Lebensdauer des Fahrdrahts im Oberleitungssystem der Referenzwert der Fahrdrahtlebensdauer aus dem Gesamtnetz der DB AG als Ausgangswert angenommen. Unter der Annahme eines Verschleißvorrats von 30 % (Bahnsystem 20 %) 3 ermittelt sich in Abhängigkeit des Nennquerschnitts und der Abnutzungsgrenze eine Lebensdauer des Fahrdrahtes zwischen 11,25 und 13,4 Millionen Stromabnehmerdurchgängen. Bei einer erwartbaren Anzahl von ca. 3.000 Oberleitungs-Lkw pro Tag und Fahrtrichtung ermittelt sich somit eine Fahrdrahtlebensdauer von etwa 16 Jahren [19]. Die Lebensdauer der Schleifleiste beträgt etwa 100.000 km [7]. Weiterentwicklungen im Bereich der Werkstoffkunde werden der Materialpaarung an der Wirkschnittstelle Bild 2: PM10- Gesamtemission im Schienenverkehr nach [14] Bild 3: Verschleiß in Abhängigkeit der Kontaktkraft [17] Oberleitungs-Lkw TECHNOLOGIE DOI: 10.24053/ IV-2024-0069 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 75 Bild 4: Ermittelte und auf vier paraffinhaltige Schleifleisten hochgerechnete (fett markiert) Emissionsfaktoren bei unterschiedlichen Kontaktströmen (Auszug) [21] Schleifleiste/ Fahrdraht zugutekommen und das Fahrdraht-Verschleißverhalten auf diese Weise weiter optimieren. Analysen zufolge und unter Berücksichtigung der Lebensdauern von Fahrdraht von 16 Jahren sowie der Schleifleiste von 100.000 km werden durchschnittlich 0,0496 mg Fahrdrahtabrieb und 0,01235 mg Schleifleistenabrieb je Fahrzeugkilometer (0,00308 g je Schleifleiste) freigesetzt. In Summe werden demnach etwa 0,062 g Gesamtabrieb je Fahrzeugkilometer emittiert [7]. Dies Werte beinhalten dabei den Gesamtmasseverlust inklusive Grobstaub und nicht nur den PM10-Anteil. Für das Oberleitungssystem ist der Anteil der PM10-Emissionen durch Fahrdrahtabrieb und Pantographen nach den theoretischen Betrachtungen folglich experimentell anhand praktischer Erprobungen zu ermitteln. Experimentelle Untersuchungen im Oberleitungssystem für den Straßengüterverkehr Neben theoretischen und qualitativen Betrachtungen wurden bereits zu Beginn der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu dynamischen Ladesystemen experimentelle Untersuchungen bzgl. Abrieben an Fahrdraht und Pantographen durchgeführt. Die Siemens AG und die TU Berlin, Fachgebiet Umweltchemie haben mit einem Versuchsstand zur Messung und Bewertung von Feinstaub an der Kontaktstelle Schleifleiste/ Fahrleitung die Partikelemissionen unter möglichst realitätsnahen Bedingungen (Fahrgeschwindigkeit, Stromfluss, Polung, Andruckkraft) gemessen und quantifiziert. Es wurde dabei eine Schleifleiste betrachtet und die Ergebnisse anschließend auf die vier Schleifleisten der O-Lkw hochgerechnet [21]. Dabei konnten die Partikelemissionen in Relation zu anderen Emissionen (Abgase, Aufwirbelungen, Brems- und Reifenabriebe) gesetzt werden, um diese u. a. bestehenden Kfz-Abgasnormen (z. B. Euronormen 5/ 6) gegenüberzustellen. Ein unabhängiges Gutachten der Technischen Universität Dresden, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ Professur Elektrische Bahnen bewertete diese Ergebnisse anschließend [22]. Die Untersuchungen zeigten zunächst, dass durch den Verschleißvorgang nur ein gewisser Anteil an Partikeln freigesetzt wird, der in die Atmosphäre gelangt. Der Anteil an Partikeln mit einem aerodynamischen Durchmesser < 100 μm ist von den Betriebsbedingungen abhängig und liegt zwischen 20 % und 60 %. Die Schwankungsbreite ist durch die unterschiedliche Partikelemission bei Betriebsbedingungen mit und ohne Funkenbildung an der Kontaktstelle Schleifleiste/ Fahrdraht zu erklären. Weitere Analysen in Verbindung mit bestehender Literatur deuten zudem darauf hin, dass festgestellte Masseverluste der Schleifleiste überwiegend auf den Abbruch größerer Partikel (bis hin in den Millimeterbereich) zurückzuführen sind. Sie sind das Resultat mechanischer Belastungen (z. B. Fehlstellen oder starke Vereisung am Fahrdraht). Der Anteil des Masseverlustes des Fahrdrahtes konnte im Rahmen des Versuchsstands nicht ermittelt werden. Gleichwohl ist dieser und die damit verbundenen Partikelemissionen mit Berücksichtigung von [7] nicht zu vernachlässigen. Grund hierfür ist, dass sich diese Masseverluste insb. aufgrund der höheren Dichte im Vergleich zur Schleifleiste erheblich auf die massebasierte Bewertung der EURO-6 Norm auswirken. Überdies ist nicht mit vermehrtem/ größerem Abbruch größerer Partikel zu rechnen. Demzufolge sind die relevanten Partikelemissionen bezogen auf den Gesamtmasseverlust des Fahrdrahtes deutlich höher [22]. Die Ergebnisse des Versuchsstands zeigen grundsätzlich eine Abhängigkeit der Partikelemission von den Betriebsbedingungen. Neben den naheliegenden Einflussgrößen der Materialzusammensetzungen sind die wesentlichen Größen der Fahrstrom, die Fahrgeschwindigkeit sowie - gemäß [17] - die Andruckkraft der Schleifleiste an den Fahrdraht. Die Stromstärke beeinflusst den elektrischen Verschleiß der Kontaktpartner dabei maßgeblich, wobei dieser stärker an der Schleifleiste als am Fahrdraht auftritt. Die Stromstärke beeinflusst die Kontakttemperatur, was die Kohlenstoffverbrennung beeinflusst [17]. Dies belegt eine Studie von TERFLOTH [23], wonach erhöhte Partikelemission nur bei Stromfluss beobachtet werden. Bei paraffinimprägnierten Schleifleisten kann es zur Verbrennung von Beimengungen oder Verdampfung kommen. Es ist wahrscheinlich, dass gasförmige Verbrennungsprodukte wie CO und CO2 sowie unvollständig verbrannte Stoffe wie Ruß und polyzyklische Kohlenwasserstoffe entstehen, die als Aerosole freigesetzt werden [21]. Inwieweit die Temperaturen an der Kontaktstelle Fahrdraht/ Schleifleiste im Fahrbetrieb von O-Lkw ansteigen, konnte bisher nicht eindeutig ermittelt werden. Infolge einer inhärenten Kühlung durch Fahrtwind wird ein immens hoher Anstieg jedoch als unwahrscheinlich angesehen [22]. Die Partikelemission nimmt mit steigendem Strom und höherer Geschwindigkeit zu. Jedoch wurde eine deutliche Zunahme erst bei hohen Stromstärken (≥ 100 A), hohen Fahrgeschwindigkeiten (80 km/ h) und einer unzureichenden Andruckkraft beobachtet. Die daraus resultierende Lichtbogenbildung erhöht die Temperatur der Schleifleiste stark, wobei am Versuchsstand der TU Berlin Temperaturen über 100°C gemessen wurden. Die Partikelemissionen werden dabei durch die Verbrennung/ Verdampfung des kohlenstoff basierten Schleifleistenmaterials verursacht [22]. Messversuche unter realitätsnahen Betriebsbedingungen (ohne Lichtbogenbildung) lieferten PM10-Anteile am luftgetragenen Staub (bis ca. 100 μm) im Bereich von 15 - 35 %. Es konnte jedoch kein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Anteil dieser Partikel und dem Kontaktstrom und/ oder der Umfangsgeschwindigkeit (simulierte Fahrgeschwindigkeit) festgestellt werden. Obwohl eine Partikelfreisetzung allein durch den Reibvorgang (ohne Stromfluss) erfolgt, ist diese Freisetzung selbst bei hohen Geschwindigkeiten deutlich geringer als die Freisetzung bei Stromfluss. Dies wird durch Ergebnisse zahlreicher anderer Studien bestätigt, die zeigen, dass der elektrische Verschleiß stärker ist als der mechanische Verschleiß [15], [17]. Unter Annahme realitätsnaher Versuchsbedingungen und einer Geschwindigkeit von 80 km/ h konnten für paraffinhaltige Schleifleisten 4 bei einem Betriebsstrom von 100 A Abriebe von etwa 3,84*10-4 g/ Fz-km ermittelt werden. Zudem wurde ein PM10-Anteil von etwa 3*10-5 g/ Fz-km ermittelt. Mit Bezug zu Abbildung 1 und den dort aufgeführten PM10-Anteilen ergibt sich demnach ein prozentualer Anteil der PM10 von 0,078 %. Dieser Wert entspricht in etwa den 0,1 %. Unter Annahme realitätsnaher Versuchsbedingungen und einer Geschwindigkeit von 80 km/ h konnte bei einem Betriebsstrom von 150 A ein Abrieb von etwa 6,6*10-4 g/ Fz-km ermittelt werden. Ein Wert, der deutlich unter dem Strom 100 A, 80 km/ h (keine oder nur geringe Bildung von Lichtbögen) Strom 150 A, 80 km/ h (keine oder nur geringe Bildung von Lichtbögen) Strom 150 A, 80 km/ h (starke und nahezu permanente Bildung von Lichtbögen) Anzahlbezogen [1/ Fzg-km] 3x10 9 1,2x10 10 6,1x10 9 2,44x10 10 1,4x1011 5,6x10 11 Massebezogen [mg/ Fzg-km] 0,096 0,384 0,165 0,66 4,07 16,28 TECHNOLOGIE Oberleitungs-Lkw DOI: 10.24053/ IV-2024-0069 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 76 3 Höherer Wert bedingt durch geringere Zugkraft 20 kN bei größerem Querschnitt. 4 Bei den Messungen mit reiner Hartkohle kam es zu vielen Lichtblitzen. Daher gab es vermutlich in diesem Versuch höhere Werte als bei der paraffinimprägnierten Schleifleiste. 5 Unter der Annahme von etwa 1,35 kWh/ Fzg-km für den Dieselbetrieb. LITERATUR [1] Statista GmbH (2021): Weltweites Frachtvolumen im Vergleich der Jahre 2010 und 2050 nach Verkehrs-trägern. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 482955/ umfrage/ frachtvolumenweltweit-nach-verkehrstraegern/ . [2] OECD/ ITF (2015): ITF Transport Outlook 2015, International Transport Forum (ITF), OECD Publish-ing/ ITF [Hrsg.], Paris 2015.http: / / dx.doi.org/ 10.1787/ 9789282107782-en. [3] Beyschlag, L., Bruhin, A., Guidehouse Kerres, P., Lotz, B., Oppermann, L., Sach, T. (2021): Klimaschutz in Zahlen, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit [Hrsg.], Berlin 2021. [4] Panchal, C., Stegen, S. und Lu, J. (2018): Review of static and dynamic wireless electric vehicle charging system. 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(2014): Ökonomische und ökologische Bewertung eines Oberleitungs-Hybrid Systems für schwere Nutzfahrzeuge, ENUBA -Elektromobilität bei schweren Nutzfahrzeugen zur Umweltentlastung von Ballungsräumen, Technische Universität Dresden, Siemens AG, 2014. [8] bast (2008): Fachtagung Luftqualität an Straßen, Bundesanstalt für Straßenwesen, Beiträge der Tagung vom 5. und 6. März 2008, Bergisch Gladbach, März, 2008. [9] Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz, Verursacher von Feinstaub-PM10-Emissionen in Bayern (o.J.): https: / / www.stmuv.bayern.de/ themen/ luftreinhaltung/ verunreinigungen/ feinstaub/ emissionen pm10. htm. [10] Reek, F (2019): Der meiste Dreck kommt nicht aus dem Auspuff. https: / / www.sued deutsche.de/ auto/ feinstaub-verkehr-bremsen-reifen-1.4427241. [11] Handbuch Emissionsfaktoren des Straßenverkehrs, Version 3.1 / Januar 2010. Dokumentation zur Version Deutschland erarbeitet durch INFRAS AG Bern/ Schweiz in Zusammenarbeit mit IFEU Heidelberg. Hrsg.: Umweltbundesamt Berlin, 2010. Zusammenfassung Die genaue, quantifizierbare Ermittlung und Analyse der Feinstaubemissionen dynamischer Ladesysteme über Oberleitungen, insbesondere aus dem Zusammenwirken der Kontaktpartner Fahrdraht/ Schleifleiste, ist aufgrund der Komplexität und der geringen Nutzungsdaten derzeit nur in Ansätzen möglich. Eine direkte Übertragung abgeleiteter Richtwerte aus dem System elektrischer Bahnen auf das Oberleitungssystem für den Straßengüterverkehr ist aufgrund vergleichbarer Umgebungsparameter zulässig. Bei einer Lebensdauerannahme von 16 Jahren bei ca. 3.000 O-Lkw pro Tag und Fahrtrichtung werden durchschnittlich etwa 0,0496 g Fahrdraht je Fahrzeugkilometer freigesetzt. Dies Werte beinhalten dabei den Gesamtmasseverlust inklusive Grobstaub und nicht nur den PM10-Anteil. Auf der Fahrzeugseite entstehen zusätzlich 0,01235 g Schleifleistenabrieb je Fahrzeugkilometer. Bei Betrachtung der Schleifleiste wird der Grenzwert der Euro-6 Norm dabei eingehalten (umgerechnet 0,0135 g/ Fz.km). Es ist davon auszugehen, dass Weiterentwicklungen im Bereich der Werkstoffkunde auch der Materialpaarung an der Kontaktstelle Schleifleiste/ Fahrdraht zugutekommen und sich das Verschleißverhalten auf diese Weise weiter optimieren lässt. Realitätsnahe Versuche bestätigen diese Erkenntnisse. So wurde bei einem Betriebsstrom von 150 A etwa 0,66 mg/ Fz-km Abrieb ermittelt, der damit unter dem Grenzwert der Euro-6 Norm liegt. Zudem ist erwähnenswert, dass im regulären Betrieb der O-Lkw die Bildung von Lichtbögen ein äußerst seltenes Ereignis darstellt. Durch Optimierungen des Andrucks der Schleifleiste an den Fahrdraht wird einerseits die Häufigkeit der ohnehin seltenen Lichtbögen nochmals reduziert, andererseits steigt dadurch die Lebensdauer der Schleifleiste. Die Feinstaubemissionen werden sich durch dynamische Ladesysteme bei Gesamtbetrachtung aller Anteile in Summe reduzieren. Um hinreichen exakte Aussage in Abhängigkeit des Verschleißes des Fahrdrahtes treffen zu können, sind die Feldversuche weiter voranzutreiben und im Rahmen von Langzeitstudien auszuwerten. ■ ENDNOTEN 1 Der Hauptunterschied zwischen den beiden Arten besteht in ihren Auswirkungen. Luftschadstoffemissionen haben direkte Auswirkungen auf die Luft-qualität und die Gesundheit. Treibhausgasemissionen haben v. a. langfristige Auswirkungen auf das Ökosystem und die Gesellschaft. 2 Unter der Annahme eines Verschleißwertes von 0,5 mm2 pro Jahr und 100 Stromabnehmerdurchgängen pro Tag. Grenzwert der Euro-6 Norm liegt (0,0135 g/ Fz.km 5 ) [20], [21]. Anzumerken ist, dass der gewählte Betriebsstrom im Versuchsauf bau von 150 A einem Fahrstrom von 300 A in der Realität entspricht. Unter realen Bedingungen wirkt der Kontaktstrom gleichermaßen an beiden Stromabnehmerwippen. Da jede Stromabnehmerwippe aus zwei Schleifleisten besteht, sind die Stromwerte mit dem Faktor 2 (Anzahl Schleifleisten pro Wippe) zu multiplizieren. Eine direkte Übertragung der Versuchsbedingungen auf den realen Fahrbetrieb von O-Lkw ist selbstverständlich nicht ohne Einschränkung möglich. Die Ergebnisse der Studie der TU Berlin sowie die Anmerkungen des Gutachtens der TU Dresden dienen als Anhaltspunkte für die mögliche Partikelemission unter realen Bedingungen. Diese sind anhand von praxisnahen Feldtests zu ermitteln. Verschleißanalysen aus Feldversuchen mit Oberleitungs-Lkw Ein häufiger Ansatz zur Ermittlung und Bewertung der Feinstaubemissionen ist die Nutzung von Verschleißinformationen des Fahrdrahts und der Schleifleisten. Dies Vorgehen gibt Aufschluss über die zu erwartende Feinstaubemissionen und kann in Relation zu anderen verkehrsbedingten Emissionen (Aufwirbelung, Brems- und Reifenabriebe, motorische Emissionen) gesetzt werden. Eine Charakterisierung der Staubemission bezüglich Partikelgröße (z. B. Anteil von lufthygienisch relevantem PM10) und der chemischen Zusammensetzung kann hieraus nicht abgeleitet werden. Dies Verfahren ist im Hinblick auf die bisherigen Informationen aus den Feldversuchen nicht hinreichend geeignet, um genauere Rückschlüsse die Feinstaubemissionen aus dem Betrieb der Oberleitungs- Lkw zu ziehen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, jedoch aufgrund des aktuellen Entwicklungsstands plausibel. So gibt es bislang nur sehr wenige Messungen von Schleifleistenabrieb, die dem Fahrbetrieb zugeordnet werden können. Zudem variieren die Messungen und Fahrleistungen stark, da auch der Schleifleistenabrieb variierenden Einflussfaktoren (z. B. Wetter) unterliegt. Teilweise sind die Verschleißerscheinungen infolge geringer Fahrleistungen der O-Lkw nur schwer ermittelbar. Auch bei Betrachtung des Fahrdrahts lassen sich an den Versuchsanlagen noch keine Verschleißerscheinungen ermitteln, da die gemessenen Werte z. T. noch innerhalb der Messtoleranz liegen. Ferner wurden die bisherigen Messungen an Fahrzeug-Prototypen bzw. Stromabnehmer-Prototypen vorgenommen. Diese sind nur in Ansätzen aussagekräftig für zukünftige serienreife Systeme. Oberleitungs-Lkw TECHNOLOGIE DOI: 10.24053/ IV-2024-0069 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 77 me im Vergleich mit Magnetschnellbahntechnologien, The International Maglev Board, Research Series Volume 4, München 2020. [19] Sommer, H. (2021): Lebensdauer des Kontaktsystems in eHighway-Anlagen, Siemens Mobility GmbH, Erlangen, 2021. [20] Verordnung (EG) Nr. 715/ 2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (Text von Bedeutung für den EWR) [21] Frenzel, W. (o.J.): Messung und Bewertung von Feinstaub an der Wirkstelle Schleifleiste-Fahrleitung, Technische Universität Berlin, FAKULTÄT III, Fakultät für Prozesswissenschaften, Institut für Technischen Umweltschutz, Fachgebiet Umweltchemie. [22] Technische Universität Dresden (2023): Begutachtung des Abschlussberichts des Kooperationsprojekts „Messung und Bewertung von Feinstaub an der Wirkstelle Schleifleiste-Fahrleitung“ der Siemens AG mit der TU Berlin (Fachgebiet Umweltchemie), TU Dresden, Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ Professur Elektrische Bahnen, Dresden, 2023. [23] Terfloth, S. (2014): Arbeitspapier “PM 10 Anteil am Gesamtabrieb des Kontaktsystem Fahrdraht- Schleifleiste“ vom 19.02.2014, TU Dresden, Professur Elektrische Bahnen, Dresden, 2014 Eingangsabbildung: © Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, TU Darmstadt [12] Schmidt, W., Düring, I., Lohmeyer, A. (2011): Einbindung des HBEFA 3.1 in das FIS Umwelt und Verkehr sowie Neufassung der Emissionsfaktoren für Aufwirbelung und Abrieb des Straßenverkehrs, 2011. [13] Heldstab, Jürg; Kljun, Natascha *2007(: „PM10- Emissionen Verkehr. Teil Schienenverkehr. Schlussbericht“. INFRAS im Auftrag des Eidgenössischen Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL). Bern, 10. Januar 2007. [14] Löchter, Andreas; Seifert, Arno (2007): Modellsystem zur Berechnung des Abriebs und anderer luft-getragener Schadstoffe des Schienenverkehrs. In: Immissionsschutz 2007, 12. 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(2020): Feinstaubemissionen im spurgeführten Hochgeschwindigkeitsverkehr Rad-Schiene Hochgeschwindigkeitsbahnsyste- Danny Wauri, Dr., Systemingenieur für Elektromobilität bei Siemens Mobility Siemenspromenade 6, 91058 Erlangen https: / / orcid.org/ 0009-0002-3021-4897 danny.wauri@siemens.com Laurenz Bremer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Darmstadt Otto-Berndt-Straße 2, 64287 Darmstadt https: / / orcid.org/ 0000-0001-6108-5747 bremer@verkehr.tu-darmstadt.de TECHNOLOGIE Oberleitungs-Lkw Monique Dorsch Öffentlicher Personennahverkehr Grundlagen und 25 Fallstudien mit Lösungen 2., aktualisierte und überarbeitete Auflage 2023, 357 Seiten €[D] 37,90 ISBN 978-3-8252-5970-9 eISBN 978-3-8385-5970-4 Dieses Lehr- und Fallstudienbuch bietet sowohl eine theoretische Einführung in die Thematik als auch 25 Fallstudien mit Lösungen. Im Zentrum der Theorie stehen die strategischen Aktionsfelder der Verkehrsunternehmen und -verbünde sowie die jeweiligen Rahmenbedingungen. Die gewählten Beispiele weisen durchwegs eine hohe Komplexität auf. Geeignete Instrumente zur Analyse und Lösung solcher Problemstellungen bietet die Methodik des vernetzten Denkens. Daher erläutert die Autorin zudem die Anwendung der diesbezüglichen Instdie Autorin zudem die Anwendung der diesbezüglichen Instdie Autorin zudem die Anwendung der diesbezüglichen Inst rumente. Zu jeder Fallstudie wird ein Lösungsvorschlag angeboten. Die Fragestellungen zu den einzelnen Fällen können je nach Interesse und Schwerpunktsetzung variiert werden, was die Fälle universeller einsetzbar bzw. anwendbar macht. Anzeige Die kritische Beurteilung des Luftverkehrs ist zudem dadurch begründet, dass durch die erheblichen Distanzen, die mit dem Flugzeug überwunden werden können, erhebliche absolute Mengen an Emissionen generiert werden. So kann ein einzelner Langstreckenflug die Bemühungen eines Menschen zunichtemachen, ein Jahr lang auf die Nutzung des PKW zugunsten des ÖPNV oder des Fahrrades auf kurzen Strecken im Stadtverkehr zur Senkung seines ökologischen Fußabdrucks zu verzichten. Auch ist festzuhalten, dass anders als die durch den Industriesektor erzeugten Emissionen jene des Luftverkehrs bis dato nur durch einen kleinen Teil aller Menschen verursacht werden. D er internationale Luftverkehr wird trotz seines insgesamt geringen Anteils an den anthropogenen CO 2 -Emissionen (2 % der weltweiten Gesamtemissionen entsprechend 1,2 Gt CO 2 -eq nach IPCC-AR6 2023, die 3-5 % des anthropogenen Netto-Klimaantriebs entsprechen), als relevant für den individuellen ökologischen Fußabdruck eines Menschen eingestuft. Diese Beurteilung ist insofern bedeutsam, als dass sie - über die Effekte durch Covid-19 hinaus - zu einem deutlichen Rückgang im Luftverkehr führte, die allerdings nur temporär bis etwa zum Jahr 2021 wirkten. Seitdem ist auch in Deutschland wieder ein deutlicher Zuwachs im Luftverkehrsaufkommen festzustellen. Wie erwähnt, steigt der Verkehrsdurchsatz im Luftverkehr (Passagier und Fracht) seit 2022 wieder deutlich an, sodass in Deutschland im Jahr 2023 etwa 80% der Vor- Covid-19 Verkehrsleistung erreicht wurden (europäischer Durchschnitt: 96%). Die Lufthansa erholte sich wirtschaftlich rasch, zahlte die Einlagen 1 und 2 des Wirtschaftsstabilisierungsfonds bereits im Jahr 2021 zurück. Offensichtlich rückt neuerlich ins Bewusstsein, dass Luftverkehr eine globale physische Vernetzung der Menschen und damit Kulturen und Wirtschaften mit vertretbaren Reisezeiten zu verbinden erlaubt. Der Wissenschaftliche Beirat geht infolgedessen davon aus, dass der kommerzielle Luftverkehr in der Mobilität insbesondere Klimawirksamkeit des Luftverkehrs - Berücksichtigung des Einflusses von Kondensstreifen Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Digitales und Verkehr DOI: 10.24053/ IV-2024-0070 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 79 über weite Strecken auch langfristig eine tragende Rolle spielen wird. Zunehmende Erkenntnis ist aber auch, dass die „wahre“ Klimawirksamkeit des Luftverkehrs noch nicht korrekt erfasst ist. In der laufenden Atmosphären- und Luftfahrtforschung lässt sich sicher feststellen, dass CO 2 -Emissionen und jene, die bis dato in CO 2 -Äquivalenten ausgedrückt werden, den anthropogenen Beitrag des Luftverkehrs zur Klimaänderung nicht vollständig abbilden. Ursache ist die Verbrennung von Kerosin in Strahltriebwerken heutiger kommerziell genutzter Luftfahrzeuge, einem Gemisch verschiedener Kohlenstoff-/ Wasserstoffmakromoleküle (typisch C12H26) in einer Flughöhe von 9-11 km dicht unterhalb der Tropopause. Bei stöchiometrischer, optimaler Verbrennung saugt ein im heutigen Luftverkehr häufig genutztes Triebwerk mit einem Nebenstromverhältnis von 9: 1 ca. 500 t Luft pro Stunde im Reiseflug an und verbrennt dabei ca. 1,6 t Kraftstoff. Das Triebwerk verlassen in dieser Zeit 50.000 kg heiße Gase (Kerntriebwerk) und 450.000 kg kalte Luft (Nebenstrom). Davon sind ca. 5000 kg Kohlendioxid, 2000 kg Wasserdampf, 17 kg Stickoxide, 1,5 kg Schwefeldioxid, 1,2 kg Kohlenmonoxid, 0,2 kg Kohlenwasserstoffe und 0,05 kg Feinpartikel. Die spezifischen Treibhausgasemissionen des Luftverkehrs resultieren also nicht nur aus dem reinen CO 2 -Ausstoß, sondern ergeben sich auch aus weiteren vermutlich klimaverändernden Wirkungen durch Stickoxide, Ruß und eben auch Kondensstreifen und Zirruswolken, sog. Nicht-CO₂-bedingte Auswirkungen der Luftfahrt. Inzwischen drängt auch die EU-Kommission ausgehend von ihrem Fit-für-55-Programm unter dem Dach des sog. Green Deals als auch dem weiteren Zwischenziel, 90% CO 2 -Reduktion bis 2040 zu erreichen, auf Klärung der Frage, inwieweit die Emissionshöhe - im Reiseflug nahe der Tropopause und damit an den Grenzen des dynamischen Wettergeschehens liegend - besonderer Betrachtung bei der Beurteilung bedarf. Die bereits länger vorliegenden Erkenntnisse der Forschung, dass nicht nur wie bis dato die durch fossile, vollständige als auch unvollständige Verbrennung erzeugten Abgase über CO 2 und weitere verbrennungsbezogene Emissionen (in CO 2 -Äquivalenten bemessen) für die Klimawirksamkeit des Luftverkehrs zu berücksichtigen sind, dringen auch in die Politik: Die EU-Kommission wollte in 2023 einen Rahmen für die Überwachung, Meldung und Prüfung (MRV) Nicht-CO₂-bedingter Auswirkungen der Luftfahrt schaffen. Die Richtlinie 2003/ 87/ EG wurden in diesem Sinne um eine Klausel zum Monitoring und Reporting derartiger Auswirkungen ergänzt (Artikel 14), die bis 08/ 2024 in eine Durchführungsverordnung umgesetzt werden muss, um den Prozess durch die Luftfahrtunternehmen ab 2025 beginnen zu lassen. Der Beitrag der Nicht-CO₂-bedingten Auswirkungen ist dabei sehr unterschiedlich; je nach Bezugszeitraum schwankt er von deutlich unter einem bis zu 30 Prozent. Bereits im Jahr 2001 wurde auf das Phänomen durch Luftverkehr induzierter künstlicher Bewölkung in Form von Zirren hingewiesen. Dies sind die bekannten und oft sichtbaren Kondensstreifen, in Englisch Condensation Trails oder kurz „Contrails“. Mittlerweile ist gesichert, dass eisübersättigte Gebiete, in welche die heißen Abgaspartikel der Triebwerke als Kondensationskeime eindringen, Kristallisation verursachen, die zur Bildung von Kondensstreifen führen können. Dieses Phänomen wird auch beim zukünftigen Einsatz von SAF (Sustainable Aviation Fuel), also Kraftstoff aus Biomasse oder PTL-Prozessen) nicht vollständig verschwinden, wenn auch durch den möglichen Entzug von Aromaten in SAF die Anzahl an Kristallisationskeimen statistisch gesenkt werden kann. Weiterführend konnte nachgewiesen werden, dass diese Wolken, wenn in größerer Menge und unter ungünstigen atmosphärischen Bedingungen persistent erzeugt, eine im Mittel dreistündige Lebensdauer aufweisen und damit eine Änderung des Strahlungsantriebs (Radiative Forcing, RF gemessen in W/ m²) auf der Erde verursachen. Die Wirkung dieser den Nicht-CO 2 -Emissionen zugeordneten Effekte wird seitdem intensiv beforscht. Die Bundesregierung reagierte hierauf im Jahr 2022 mit der Gründung des „Arbeitskreis klimaneutrale Luftfahrt“ bestehend aus drei Arbeitsgruppen (AG), von denen sich AG3 mit „Effizientem Luftverkehr“ und hier auch mit möglichen quick wins beschäftigt, zu denen die Vermeidung von Kondensstreifen gehört, weil durch operative Eingriffe in die Flugtrajektorie direkt der Entstehung von Kondensstreifen entgegengewirkt werden kann. Grund hierfür ist das häufig schmale Höhenband mit nur wenigen 100 m vertikaler Ausdehnung, in dem starke Eisübersättigung, d.h. stark unterkühlter Wasserdampf, in der Atmosphäre (sog. Ice Super Saturated Regions, ISSR) gegeben ist. Üblicherweise sehen Vermeidungsstrategien das jeweilige Unterfliegen dieser Gebiete vor. Hieraus leitet sich eine deutlich größere Komplexität bei der Ermittlung der Klimawirkung des Luftverkehrs ab. Dies gilt offensichtlich gleichermaßen für die Frage, ob bzw. wie ein Erreichen von Klimaneutralität im Luftverkehr möglich wird, denn das Unterfliegen der Luftschichten mit hoher Eisübersättigung hat auch Nachteile. So bedeutet Fliegen in geringerer Flughöhe i.d.R. eine reduzierte Effizienz, also eine Steigerung des Kraftstoffverbrauchs und damit direkt auch der CO 2 -Emissionen sowie der weiteren verbrennungsbezogenen Nicht-CO 2 - Emissionen. Dieser relative Effekt wächst mit abnehmendem Fluggewicht und ist damit, der Massenabnahme des Luftfahrzeugs durch Kraftstoffverbrauch geschuldet, auf dem letzten Teil des Streckenflugsegments dominant. Die somit vorliegende negative Korrelation von potenzieller persistenter Kondensstreifenbildung und CO 2 -Emissionen erfordert eine Anpassung der Flugtrajektorie, für deren Kostenabwägung sowohl chemisch-physikalische Zusammenhänge in der jeweiligen Flughöhe und -zeit als auch ordnungspolitische Komponenten zu berücksichtigen sind. Für eine Betrachtung des gesamten Fluges von Startbis Zielort ergänzen sich sodann weitere Nicht-CO 2 - Emissionsparameter (i.w. SOx, NOx) sowie Fluglärm im An- und insbesondere Abflug sowie die lokale Luftqualität in direkter Bodennähe um die genutzten Flugplätze, die z. B. durch (Ultra-)Feinstaub und Grobstaub - verursacht durch unverbrannten Kohlenwasserstoff - beeinträchtigt werden kann. Eine Anlastung der Emissionen an die Flugplatzunternehmen erfolgt hierbei jedoch bis dato nur innerhalb des sog. ICAO-Start-/ Landezyklus (LTO) mit Ausnahme des Fluglärms, der anderweitig gesetzlich geregelt ist. Flugplätze sind in der Ratsempfehlung wohl auch deshalb bisher nicht thematisiert. Im Juni 2023 wurde dem Verkehrsausschuss des Bundestags ein Sachstandsbericht des o.g. Arbeitskreises vorgelegt, in dem auf die Bedeutung von Nicht-CO 2 Emissionen hingewiesen wird, der jedoch noch keine Vorschläge zur Erhebungsmethodik enthält. Hier empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat folgende methodische sowie ordnungspolitische Maßnahmen. Methodisch: Die bis dato erfolgende Berechnung von Kondensstreifen für Verkehrsflüsse, d. h. strecken- oder luftraumspezifisch über den Zeitraum eines Tages akkumulierte Flüge, muss deutlich detaillierter auf Einzelflugebene in Entsprechung von 2003/ 87/ EG erfolgen, die sodann räumlich zu aggregieren ist (landesspezifisch und ganz Europa). Zu beachten hierbei ist die Abhängigkeit der Klimawirksamkeit von Kondensstreifen nicht nur von der Höhe, sondern auch vom relativen Sonnenstandwinkel und damit der Uhrzeit, der Flugrichtung und der Lebensdauer, die auch auf der lokalen Turbulenz in der Atmosphäre beruht. All diese Variablen sind flugspezifisch und können nicht hinreichend präzise gemittelt auf Verkehrsflussebene errechnet werden. Ist-Daten jedes Fluges liegen hierfür vor FORUM Standpunkt DOI: 10.24053/ IV-2024-0070 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 80 Luftfahrzeug durch den Verkehrsminister vorangetrieben werden. Ordnungspolitisch: Weder EU ETS noch CORSIA berücksichtigen bis dato Nicht-CO 2 -Emissionen in der Verkehrsleistungsbewertung. Der Wissenschaftliche Beirat plädiert für eine entsprechende Erweiterung der Bewertungsgrößen und deren Kennzahlen für den Verkehrssektor. Die Erhebungsmethodik sollte transparent und uniform für ganz Europa, zunächst pro Land mit der Möglichkeit der o.g. weiteren Aggregation erfolgen. Hierzu sollten die etablierten Emissionsberechnungssysteme erweitert werden, wie sie für durch kommerziellen Luftverkehr verursachte CO 2 - und weitere verbrennungsinduzierte Nicht-CO 2 -Emissionen seit 2016 bei der Deutschen Flugsicherung im Einsatz sind. Damit wäre eine verbesserte Beurteilung der Klimawirkung des Luftverkehrs möglich und die Anwendung geeigneter Minderungsstrategien durch die Luftraumnutzer im Rahmen der Flugplanung sowie operativ durch die Flugsicherung möglich. Die Umrechnung des effektiven, um die aktuelle Wettersituation bereinigten Strahlungsantriebes in ein CO 2 -Äquivalent sollte auf Einzelflugebene standardisiert umgesetzt werden, um eine transparente Bewertung für Kostenabwägungen bei der Trajektorienbestimmung für alle Luftraumnutzer gleichermaßen zu gewährleisten. Hierbei ist der gewählte Bezugszeitraum sehr sensitiv und damit sorgfältig zu wählen. Der Wissenschaftliche Beirat sieht den über 20 Jahre akkumulierten Temperaturänderungseffekt (AGTP20) als guten Kandidaten an, um gesellschaftliche Praktikabilität (innerhalb eines Menschenlebens) und die verschiedenen Verweilzeiten von Kondensstreifen und Emissionen sachgerecht zu berücksichtigen. Damit befände sich die Bewertung auch im gewählten Bewertungsbereich nach IPPC von 1 bis 100 Jahren. Zudem sollte auf diesem Wege ein ordnungspolitischer Konsens über die Frage der „Optimalität“ für Trajektorien gefunden werden. Erst dann ist es möglich, eine objektive Bewertung einzelner Verkehrssteuerungseinheiten sowie einzelner Luftraumnutzer vorzunehmen. Hierbei ist auch der Bewertung von Nicht-CO 2 -Emissionen weiteres Augenmerk zu widmen: Aktuelle Leistungskennzahlen sollten von rein CO 2 -emissionsorientierten, zweidimensionalen Metriken (z. B. Horizontal Flight Efficiency - HFE, Vertical Flight Efficiency - VFE) durch dreidimensionale Metriken und sollten genutzt werden. Ein entsprechendes Monitoring sollte aufgebaut und z. B. durch die Deutsche Flugsicherung betrieben werden. Ein zugehöriges Reporting über die Deutsche Emissionshandelsstelle DEHSt könnte mittels ordnungspolitischer Maßnahmen (s.u.) umgesetzt werden. Der Wertebereich dieser Parameter ist groß, so dass sich die Wirkung von Kondensstreifen auf die mittlere globale Temperatur am Boden (Absolute Global Temperature Change Potential, AGTP) gar im Vorzeichen umkehren kann. So können diese in wenigen Fällen und tagsüber (bei überwiegender Wirkung der Reflektion solarer, hochfrequenter Lichtwellen) gegenüber der Reflektion bis zur Extinktion terrestrischer (also vom Erdboden emittierter) Strahlung auch kühlend wirken. Eine Incentivierung diesbezüglich günstiger Flugzeiten im Rahmen des Emissionshandels, also in der Zuordnung von Emissionsgebühren zu einzelnen Flügen wird angeregt. Relevant sind zuvorderst Mittel-/ Langstreckenflüge, da diese lange im Streckenflug und damit in großen Höhen nahe der Tropopause operieren. Somit ist hier die Wahrscheinlichkeit für den Durchflug eisübersättigter Gebiete grundsätzlich höher. Für eine effiziente Implementierung emissionsmindernder Flugrouten sowie die präzise Berechnung der Klimawirkung von Einzelflügen braucht es möglichst großflächig kontrollierter Lufträume wie sie als Funktionale Luftraumblöcke (FAB) in Europa etabliert sind. Der Wissenschaftliche Beirat empfiehlt die politische Unterstützung des in Bezug auf Effizienz zunehmend in die Kritik geratenen FAB- Konzeptes auch unter diesem Gesichtspunkt. Erfassung aller potenziellen persistenten Kondensstreifen: Zur Ermittlung der Nicht-CO 2 -Klimawirkung müssen alle Kondensstreifen im Luftraumsegment berücksichtigt werden. Da sich Kondensstreifen thermodynamisch betrachtet gegenseitig beeinflussen, ist diese Akkumulationsrechnung nichtlinear und damit komplex zum effektiven Strahlungsantrieb (effective RF, eRF) zu überführen. Auch dies unterstreicht das Gebot von Berechnungen auf Einzelflugebene. Die Bereitstellung weiter verbesserter, verlässlicher und möglichst hoch aufgelöster Wetterdaten, insbesondere Feuchtedaten der Atmosphäre, sollte durch den Deutschen Wetterdienst (DWD) in Abstimmung mit der Word Meteorological Organization (WMO) sowie insitu Beobachtungen mittels Sensorinstalla-tionen direkt am ersetzt werden, da Vertikal- und Horizontalprofiloptimierung gekoppelt sind. Zudem sollten Wetterparameter in die Leistungsrechnung integriert werden (Wind, Temperatur, Luftdruck, Feuchtedaten der Atmosphäre), da diese die Ergebnisse erheblich beeinflussen und insofern bis dato die Vergleichbarkeit stark begrenzt ist. Der Wissenschaftliche Beirat ist überzeugt, dass die aufgezeigten Maßnahmen erforderlich sind, um die richtigen Anreize für Luftraumnutzer, die Flugsicherungen in Deutschland bzw. im FAB-EC, in dem Deutschland Mitglied ist, und darüber hinaus europaweit sowie für den Europäischen Network Manager zur Erreichung der erklärten Klimaziele zu setzen. Die mit diesen Maßnahmen verbundene internationale Perspektive ist dabei unbedingt im Blick zu behalten, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im Luftverkehr zu wahren. ■ Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Digitales und Verkehr Prof. Dr.-Ing. Lutz Eckstein Aachen Prof. Dr.-Ing. Hannes Federrath Hamburg Prof. Dr.-Ing. Hartmut Fricke Dresden Prof. Dr.-Ing. Markus Friedrich Stuttgart Prof. Dr. Astrid Gühnemann Wien Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Dietrich Haasis Bremen Prof. Dr.-Ing. Evi Hartmann Nürnberg Prof. Dr.-Ing. Carlos Jahn Hamburg Prof. Dr. Meike Jipp Berlin Prof. Dr. Natalia Kliewer Berlin Prof. Dr. Matthias Knauff Jena Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Knorr Speyer Prof. Dr.-Ing. Ullrich Martin Stuttgart Prof. Dr. Kay Mitusch Karlsruhe Prof. Dr. Stefan Oeter Hamburg Prof. Dr. Tibor Petzoldt Dresden Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop Dortmund Prof. Dr. Gernot Sieg (Vorsitzender) Münster Prof. Dr.-Ing. Peter Vortisch Karlsruhe Eingangsabbildung: © iStock.com/ Alberto Masnovo Standpunkt FORUM DOI: 10.24053/ IV-2024-0070 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 81 Internationales Verkehrswesen (76) 4 ǀ 2024 82 GREMIEN ǀ IMPRESSUM Herausgeberbeirat Gerd Aberle Dr. rer. pol. Dr. h.c., Professor emer. der Universität Gießen und Ehrenmitglied des Herausgeberbeirats Sebastian Belz Dipl.-Ing., Generalsekretär EPTS Foundation; Geschäftsführer econex verkehrsconsult GmbH, Wuppertal Uwe Clausen Univ.-Prof. Dr.-Ing., Institutsleiter, Institut für Transportlogistik, TU Dortmund & Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Vorsitzender, Fraunhofer Allianz Verkehr Johann Dumser Director Global Marketing and Communications, Plasser & Theurer, Wien Florian Eck Dr., Geschäftsführer des Deutschen Verkehrsforums e.V., Berlin Alexander Eisenkopf Prof. Dr. rer. pol., ZEPPELIN-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Verkehrspolitik, Zeppelin University, Friedrichshafen Michael Engel Dr., Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Fluggesellschaften e. V. (BDF), Berlin Ute Jasper Dr. jur., Rechtsanwältin Sozietät Heuking Kühn Lüer Wojtek, Düsseldorf Oliver Kraft Geschäftsführer, VoestAlpine BWG GmbH, Butzbach Magnus Lamp Programmdirektor Verkehr Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR), Köln Ullrich Martin Univ.-Prof. Dr.-Ing., Leiter Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Direktor Verkehrswissenschaftliches Institut, Universität Stuttgart Herausgeberkreis Kay W. Axhausen Prof. Dr.-Ing., Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT), Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), Zürich Hartmut Fricke Prof. Dr.-Ing. habil., Leiter Institut für Luftfahrt und Logistik, TU Dresden Hans-Dietrich Haasis Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Maritime Wirtschaft und Logistik, Universität Bremen 76. Jahrgang Impressum Titelbild: © iStock.com/ ThamKC Herausgeber Prof. Dr. Kay W. Axhausen Prof. Dr. Hartmut Fricke Prof. Dr. Hans Dietrich Haasis Prof. Dr. Sebastian Kummer Prof. Dr. Barbara Lenz Prof. Knut Ringat Verlag expert verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 72070 Tübingen Tel. +49 7071 97 97 0 info@narr.de www.narr.de Redaktionsleitung Dipl.-Phys. Ulrich Sandten-Ma Tel. +49 7071 97 556 56 redaktion@internationales-verkehrswesen.de Redaktion Patrick Sorg, M.A. Tel. +49 7071 97 556 57 redaktion@internationales-verkehrswesen.de Korrektorat: Dr. Grit Zacharias Anzeigen Ursula Maria Schneider Tel. +49 611 71 60 585 ursula.maria.schneider@t-online.de Gültig ist die Anzeigenpreisliste Nr. 61 vom 01.01.2024 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 89 85853 881 abo-service@narr.de Erscheinungsweise 4 x im Jahr mit einer Ausgabe International Transportation Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist vier Wochen vor Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Bezugsgebühren Jahresabonnement Inland: print EUR 225,00 inkl. Versandkosten / eJournal EUR 210,00 (inkl. MWSt.) Jahresabonnement Ausland: print EUR 238,00 / eJournal EUR 210,00 (inkl. VAT) Einzelheft print: EUR 39,00 (inkl. MWSt.) + Versand Das Abonnement-Paket enthält die jeweiligen Ausgaben als Print-Ausgabe oder eJournal mit dem Zugang zum Gesamtarchiv der Zeitschrift. Campus-/ Firmenlizenzen auf Anfrage Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e. V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck Elanders Waiblingen GmbH, Waiblingen Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. ISSN 0020-9511 eISSN 2942-7800 www.narr.de/ agb Ralf Nagel Ehem. Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Verbandes Deutscher Reeder (VDR), Hamburg Jan Ninnemann Prof. Dr., Studiengangsleiter Logistics Management, Hamburg School of Business Administration; Präsident der DVWG, Hamburg Uta Maria Pfeiffer Abteilungsleiterin Mobilität und Logistik, Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI), Berlin Tom Reinhold Prof. Dr.-Ing., Geschäftsführer, traffiQ, Frankfurt am Main Wolfgang Stölzle Prof. Dr., Ordinarius, Universität St. Gallen, Leiter des Lehrstuhls für Logistikmanagement, St. Gallen Matthias von Randow Hauptgeschäftsführer Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), Berlin Peer Witten Prof. Dr., Vorsitzender der Logistik- Initiative Hamburg (LIHH), Mitglied des Aufsichtsrats der Otto Group Hamburg Oliver Wolff Hauptgeschäftsführer Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Köln Sebastian Kummer Prof. Dr., Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik, Wien Barbara Lenz Prof. Dr., ehem. Direktorin Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin Knut Ringat Prof., Geschäftsführer und Vorsitzender der Geschäftsführung der Rhein-Main- Verkehrsverbund GmbH, Hofheim am Taunus expert verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Suchen Sie einen Verlag für Ihr Fachbuch? Sie haben bislang durch Ihre Beiträge zum Gelingen unserer Zeitschrift „Internationales Verkehrswesen“ beigetragen. Seit Januar 2024 erscheint diese Zeitschrift im expert verlag, der seit über 40 Jahren Fachliteratur mit engem Praxisbezug veröffentlicht. Ob Lehrbuch, Fachbuch oder Qualifikationsschrift: wir bieten Ihnen die Möglichkeit, Ihr Buch mit großer Reichweite zu veröffentlichen. Um Ihr Buch optimal zu vertreiben und die Wahrnehmung in der Fachleserschaft zu befördern, veröffentlichen wir Ihr Werk sowohl als gedrucktes Buch wie auch als eBook in den Formaten ePDF, ePub und HTML. Mit unseren plattformübergreifenden Produktionsrichtlinien stellen wir moderne Ausgabeformate für unsere Publikationen sicher. Unsere eLibrary gewährleistet Bibliotheken, Studierenden und Privatpersonen benutzerfreundlichen Zugriff auf erworbene eBooks sowie unsere OpenAccess-Publikationen. Unsere Bücher finden sich in allen wichtigen Hochschulen im D-A-CH-Raum und darüber hinaus. Unser Lektorat unterstützt Sie bei der Umsetzung Ihres Buchvorhabens in allen Phasen von der Planung bis zum Druck. deagreez - stock.adobe.com Sprechen Sie gerne mit uns über Ihr Buchvorhaben: Ulrich Sandten-Ma Fon: +49 (0)7071 97 556 56 | eMail: sandten@verlag.expert 4. Kolloquium Straßenbau in der Praxis Planen, Bauen, Erhalten, Betreiben unter den Aspekten von Nachhaltigkeit und Digitalisierung Die alle zwei Jahre stattfindende Fachtagung mit begleitender Ausstellung und geselligem Abendempfang bietet eine ideale Plattform für die aktuellen Herausforderungen im Straßenbau: - Gewinnen Sie Einblicke in neueste Entwicklungen und Trends - Stellen Sie Ihre Fragen zu Fachbeiträgen aus Forschung, Industrie und Praxis - Erweitern Sie Ihr Netzwerk und nutzen Sie den persönlichen Erfahrungsaustausch THEMEN DER FACHTAGUNG Für das 4. Kolloquium „Straßenbau in der Praxis“ sind etwa 80 Plenar- und Fachvorträge zu folgenden Themen geplant: - Nachhaltigkeit - Recycling und umweltfreundliche Materialien - Digitale Technologien und Planung - Bauweisen und Infrastruktur - Instandhaltung und Management Ostfildern bei Stuttgart 18. + 19. Februar 2025 Mehr Informationen und Anmeldung: www.tae.de/ 50045 Technische Akademie Esslingen e.V., An der Akademie 5, 73760 Ostfildern Kontakt: bauwesen@tae.de, T +49 711 340 08 - 35, www.tae.de Jetzt anmelden!
