Kolloquium Bauen in Boden und Fels
kbbf
2510-7755
expert verlag Tübingen
0101
2020
121
Bemessung von Hochwasserentlastungsstollen anhand zweier Beispiele aus der Schweiz
0101
2020
Jörg-Martin Hohberg
Der vorliegende Beitrag, dessen Langfassung am Vortragstag in Kopie abgegeben wird, behandelt anhand zweier aktueller Hochwasserentlastungsstollen Fragen des generellen Konzepts (Linienführung, Hydraulik, Ein- und Auslaufbauwerke), vor allem aber Fragen der geotechnischen Berechnung. Am Beispiel eines Druckstollens wird die Bedeutung der Gebirgsentspannung aufgezeigt, die als sogenannte passive Vorspannung in der Auskleidung dem In nen was ser druck entgegenwirkt. Bei der Überlagerung der Lastfälle muss man folglich zwischen günstig und ungünstig wirkenden Belastungen (Auswirkungen) unterscheiden, also ein Teilsicherheitskonzept anwenden. Das andere Beispiel eines Freispiegelstollens ist bemessungstechnisch einfacher, doch unterliegt der Stollen einem hohen Bergwasserdruck, der während des Vortriebs drainiert wird, sich aber nach Fertigstellung wiedereinstellen kann und die Auskleidung auf Druck belastet. Zum Schluss wird die Baugrube eines unterirdischen Auslaufbauwerks mit Tosbecken behandelt.
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12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 55 Bemessung von Hochwasserentlastungsstollen anhand zweier Beispiele aus der Schweiz Jörg-Martin Hohberg IUB Engineering AG, Bern, Schweiz Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag, dessen Langfassung am Vortragstag in Kopie abgegeben wird, behandelt anhand zweier aktueller Hochwasserentlastungsstollen Fragen des generellen Konzepts (Linienführung, Hydraulik, Ein- und Auslaufbauwerke), vor allem aber Fragen der geotechnischen Berechnung. Am Beispiel eines Druckstollens wird die Bedeutung der Gebirgsentspannung aufgezeigt, die als sogenannte passive Vorspannung in der Auskleidung dem Innenwasserdruck entgegenwirkt. Bei der Überlagerung der Lastfälle muss man folglich zwischen günstig und ungünstig wirkenden Belastungen (Auswirkungen) unterscheiden, also ein Teilsicherheitskonzept anwenden. Das andere Beispiel eines Freispiegelstollens ist bemessungstechnisch einfacher, doch unterliegt der Stollen einem hohen Bergwasserdruck, der während des Vortriebs drainiert wird, sich aber nach Fertigstellung wiedereinstellen kann und die Auskleidung auf Druck belastet. Zum Schluss wird die Baugrube eines unterirdischen Auslaufbauwerks mit Tosbecken behandelt. 1. Historische Einbettung Wegen der Gründung von Handelsplätzen und Städten am Auslass von Seen und Mündung von Seitenflüssen gibt es in der Schweiz viele historische Beispiele, in denen der Sedimenttransport zu erheblichen Auflandungen, Sumpfgebieten mit Malariagefahr und Rückstau in die Wohngebiete führte [1]. Bereits im 18. Jahrhundert entstand der Umleitungsstollen der Kander in den Thunersee, dessen Sohle jedoch erodierte und der nach Einsturz der Überdeckung heute wie eine natürliche Klamm wirkt. Die Umleitung von Gebirgsflüssen in Seen bedingte jedoch, dass deren Auslauf nicht durch Brücken, Mühlen u.dgl. zu sehr eingeengt war - im Fall der Stadt Thun wurde in heutiger Zeit deshalb ein zusätzlicher Hochwasserentlastungsstollen erstellt [2]. Im Zuge der Klimaerwärmung nehmen die Starkregenereignisse im Alpenraum signifikant zu; zudem wird weniger Niederschlag als Schnee oder Gletschereis zurückgehalten. Drohten früher Überschwemmungen vor allem bei Warmfronten im Frühjahr, bei denen Regen zur Beschleunigung der Schneeschmelze beitrug, so sind es heute in erster Linie lokale Unwetter, die auch im Sommer und Herbst zu Überschwemmungen führen. Da in den letzten Jahrzehnten die Bebauungsdichte deutlich zunahm, sind höhere Sachwerte gefährdet als früher, so dass sich Hochwasserentlastungsstollen relativ rasch amortisieren [3]. Anders als Rückhaltebecken, denen Opposition aus der Landwirtschaft erwächst, gelten Stollenlösungen auch als umweltfreundlich, wenn die Konstanz des Ablaufs im entlastete Flussgerinne zugleich Renaturierungen ermöglicht. 2. Konzeptionelle Entscheidungen Normalerweise handelt es sich bei Hochwasserentlastungsstollen um Freispiegelstollen, die je nach Wasserandrang unterschiedlich stark gefüllt sind. Ein Mindestenergieliniengefälle wird vorgeschrieben, um die Kapazität sicherzustellen; bei steiler Neigung kann jedoch auch absichtliche eine erhöhte Rauigkeit zur Energievernichtung sinnvoll sein, um am Auslauf auf ein Tosbecken verzichten zu können. Der Einlauf kann ungeregelt über einen Fallschacht oder über ein regelbares Wehr erfolgen. Dafür werden u.U. Versuche an physischen Modell durchgeführt, um laminare Einlaufströmungen ohne Lufteinschlüsse sicherzustellen. Beim anderen präsentierten Stollen wurde die aus Wasserkraftwerken bekannte Form eines Druckstollens gewählt, der über ein geschlossenes Auslaufschütz stets unter Wasserdruck steht. Dies ermöglich nicht nur einen unscheinbaren Ein- und Auslauf unterhalb der Wasseroberfläche, sondern stellt auch das schnelle Anspringen und einen verschleißarmen Betrieb sicher. Im vorliegenden Fall verlangte aber der hohe Druck von über 40 m Wassersäule nach speziellen Nachweisen gegen hydraulischen Grundbruch infolge von Aufsättigung des Bergwasserspiegels bei undichtem Stollen. 56 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 Bemessung von Hochwasserentlastungsstollen anhand zweier Beispiele aus der Schweiz 3. Berechnungsmethoden Grundsätzlich kommen noch klassische Berechnungsmethoden wie der elastische gebettete Stabzug zur Anwendung, an dem Lastfälle superponiert werden können. Im Fall einer passiven Vorspannung muss jedoch an einem geotechnischen Scheibenmodell mittels FEM die auf die Auskleidung wirkende Gebirgsentspannung ermittelt werden. Dies erfordert ein klares Denken in Szenarien aus Überlagerungsdruck, Gebirgssteifigkeit/ festigkeit, Innendruck- und Außendrucklastfällen (Unterhaltslastfall bei leerem Stollen), inkl. möglicherweise Quelldruck in der Stollensohle. Dabei darf nicht davon ausgegangen werden, dass die Annahme tiefer Felskennwerte immer zu einer konservativen Bemessung führt. Bei wenig Übung können zusätzlich handwerkliche Berechnungsfehler auftreten, wie im Vortrag an einem Beispiel gezeigt werden wird. Ein geotechnisches Scheibenmodell ist wegern der Konsistenz der Annahmen grundsätzlich zu bevorzugen, doch braucht es aufgrund der unterschiedlichen Szenarien mehrere Berechnungen, unter Anwendung von Lastteilsicherheitsbeiwerten bei nichtlinearem Verhalten [4]. Heikel sind zumeist die Auslaufbauwerke, einerseits weil sie oft zugleich als Startbaugruben für den aufwärts gerichteten Vortrieb dienen, unmittelbar am Vorfluter liegen und meist eine geringe Felsüberdeckung aufweisen. Im Fall des gezeigten komplexen Auslaufbauwerks kommt hinzu, dass es unterhalb einer vielbefahrenen Eisenbahnlinie an einem dicht bebauten Seeufer zu liegen kommt und wegen des Tosbeckens eine tiefe Baugrube erfordert [5]. 4. Ausschreibungs- und Vergabeverfahren Um am Markt Chancen mit bereits gebrauchten Tunnelbohrmaschinen (TBM) nutzen zu können, wird mitunter die genaue Wahl des Stollendurchmessers dem Bauunternehmer belassen und der Stollen funktional nach hydraulischen Anforderungen ausgeschrieben (Energielinie, hydraulischer Radius, Rauigkeit, Dichtigkeit). Dabei steht es dem Bauunternehmer frei, eine Tübbinglösung zu wählen, bei der sich die TBM rückwärtig gegen den zuletzt versetzten Tübbing abstützt, oder eine Spritzbetonauskleidung im Kombination mit einer Gripper-TBM, die sich seitlich am Gebirge verkrallt und vorwärts zieht. Bei Spritzbetonvarianten mit nur minimaler Bewehrung handelt es sich um eine ausgesprochene „Low-Budget“- Lösung, die den Gemeinden entgegenkommt, weil die Hochwasserentlastung über einen Stollen meist erheblich teurer kommt als ein Ausbau des bestehenden Flussgerinnes. Für die Bemessung schließt sich dazu der Bauunternehmer als Generalübernehmer mit einem Projektierungsbüro zusammen und haftet für die Bemessung. Das ursprünglich entwerfende Büro hat dann die Aufgabe, als Prüfer den Bauherrn vor zu großen Risiken zu schützen. Daraus können sich heikle Mandate ergeben, wenn der Bauherr aus Kostengründen auf eine solche Low- Budget-Lösung einsteigt und der Unternehmer dazu tendiert, doch noch nötigen Zusatzaufwand als geologisch bedingt zu deklarieren. Literaturverzeichnis [1] Vischer, Daniel L.: Die Geschichte des Hochwasserschutzes in der Schweiz. Berichte des BWG, Serie Wasser, Nr. 5, Bern 2003. [2] Vgl. Stollen Thun in: https: / / www.engineering-group. ch/ de/ referenzen.html [3] AWEL: Hochwasserschutz an Sihl, Zürichsee und Limmat - Synthesebericht, Zürich 2015. https: / / awel.zh.ch/ internet/ baudirektion/ awel/ de/ wasser/ hochwasserschutz/ hochwasserschutz_zürich.html [4] Hohberg, J.-Martin: Sinn und Machbarkeit von Festigkeitsnachweisen mit Teilsicherheitsbeiwerten im Stollenbau. DGGT-Fachsektionstage Geotechnik, Würzburg 2019. [5] Hohberg, J.-Martin: 3D FEM analysis of the construction pit for a TBM-driven flood discharge gallery. Acta Polytechnica CTU Proc. 23, 2019.