eJournals Kolloquium Bauen in Boden und Fels 12/1

Kolloquium Bauen in Boden und Fels
kbbf
2510-7755
expert verlag Tübingen
0101
2020
121

Turm am Mailänder Platz, Stuttgart

0101
2020
Jörg Schreiber
Erik Linke
Bei dem Projekt Turm am Mailänder Platz handelt es sich um den Bau eines Hochhauses im Stuttgarter Europaviertel. Die besondere Herausforderung für die Planung der Baugrube bestand in den beiden bereits in Betrieb befindlichen Stadtbahntunneln der U12, die das Baufeld diagonal kreuzen. Um das dritte Untergeschoss des Gebäudes bis unmittelbar an den nördlichen Tunnel herstellen zu können, musste dieser fast vollständig seitlich frei gelegt werden. Das zweite Untergeschoss überragt dann mit seiner vergrößerten Grundfläche beide Tunnelröhren, so dass die Tunnel unterhalb des Gebäu‑ des verlaufen. Im Folgenden wird das Baugrubenkonzept mit dem Schwerpunkt auf die durch die Tunnel resultierenden baubetrieblichen und statischen Aspekte vorgestellt.
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12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 261 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels Dr.-Ing. Jörg Schreiber Ed. Züblin AG, Direktion Zentrale Technik, Technisches Büro Tiefbau Stuttgart, Deutschland M.Sc. Erik Linke Ed. Züblin AG, Direktion Zentrale Technik, Technisches Büro Tiefbau Stuttgart, Deutschland Zusammenfassung Bei dem Projekt Turm am Mailänder Platz handelt es sich um den Bau eines Hochhauses im Stuttgarter Europaviertel. Die besondere Herausforderung für die Planung der Baugrube bestand in den beiden bereits in Betrieb befindlichen Stadtbahntunneln der U12, die das Baufeld diagonal kreuzen. Um das dritte Untergeschoss des Gebäudes bis unmittelbar an den nördlichen Tunnel herstellen zu können, musste dieser fast vollständig seitlich frei gelegt werden. Das zweite Untergeschoss überragt dann mit seiner vergrößerten Grundfläche beide Tunnelröhren, so dass die Tunnel unterhalb des Gebäudes verlaufen. Im Folgenden wird das Baugrubenkonzept mit dem Schwerpunkt auf die durch die Tunnel resultierenden baubetrieblichen und statischen Aspekte vorgestellt. 1. Einleitung 1.1 Projekt Der Turm am Mailänder Platz ist mit 66 Metern Höhe der dritte und letzte genehmigte Hochpunkt im Stuttgarter Europaviertel. Er ist unweit des Hauptbahnhofes und direkt am Milaneo Einkaufszentrum sowie der Stadtbibliothek gelegen. Der Bau wurde im Herbst 2018 begonnen und befindet sich derzeit in der Rohbauphase. Abbildung 1: Turm am Mailänder Platz 1.2 Baufeld Eine Besonderheit des 1.768 m² großen Baugrundstückes besteht darin, dass hierauf bereits zwei U-Bahntunnel in offener Bauweise hergestellt worden sind, die sich seit 2017 im Betrieb befinden. Die Abbildung 2 zeigt die Geometrie des Gebäudegrundrisses und den ungefähren Verlauf der beiden Tunnel, die sich unter dem späteren Gebäude erstrecken. Abbildung 2: Gebäudegrundriss und Lage der Tunnel (gestrichelt), Blickrichtung nach Norden Im Norden und Nord-Westen ist das Baufeld durch die tunnelartige Wagenladungsstraße begrenzt, die der Ver- 262 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels sorgung des gesamten Areals dient. Unmittelbar östlich der Baugrube befindet sich die Moskauer Straße mit dem Eingang zur Stadtbibliothek. Südlich ist ein noch unbebautes Grundstück gelegen, das während der Bauzeit teilweise als BE-Fläche und Bodenlager verwendet wird. 2. Realisiertes Baugrubenkonzept Im westlichen Bereich (Heilbronner Straße/ Wagenladungsstraße) wurde ein frei auskragender Trägerbohlverbau mit einem Geländesprung von knapp 5,0 m hergestellt, da aufgrund der Tiefgründung der bereits vorhandenen Wagenladungsstraße sowie der noch zu errichtenden Verlängerung um den Tunnelblock 17 keine Möglichkeit für eine Rückverankerung bestand. Abbildung 3: Baugrubenkonzept (Revit-Modell), Blickrichtung nach Nordost Entlang der bestehenden Wagenladungsstraße wurden die vorhandenen Gründungspfähle unter der Außenwand teilweise freigelegt und mit Spritzbeton ausgefacht, um sie temporär als Verbauwand nutzen zu können. Hierzu musste die Stahlbetonkonstruktion einschließlich der Pfähle für die geänderte Belastungssituation statisch nachgewiesen werden. Die Baugrubensicherung auf der Ostseite wurde mit einem vierfach rückverankerten Trägerbohlverbau ausgeführt. Dabei ist ein Geländesprung von etwas mehr als 14 m zu sichern. Die Stadtbahntunnel der U12 kreuzen hier den Verbau diagonal und verlaufen dann weiter durch die Untergeschosse der benachbarten Stadtbibliothek. Abbildung 4: Baugrubenkonzept mit Ankerplanung, Blickrichtung nach Südwest Im südlichen Teil des Baufeldes bilden die U-Bahntunnel zum Teil die Begrenzung der Baugrube bzw. ermöglichen im Sinne eines Stützbauwerkes den Höhensprung zwischen dem Aushubniveau für das dritte UG und das zweite UG (siehe Abbildung 3). Die Bodenplatte des zweiten UG wird in Teilbereichen nur wenige Dezimeter oberhalb der Tunneldecken hergestellt. Zur Vermeidung unzulässiger Lastzustände und Verformungen kommen hier Setzungsplatten zum Einsatz, durch die eine Lastfreischaltung der Tunneldecken erreicht wird. Neben und zwischen den beiden Tunneln werden die Gebäudelasten aus der Lastverteilerplatte mit Bohrpfählen in den Untergrund abgetragen, um Mitnahmesetzungen der Tunnel zu minimieren. Hinsichtlich der aus der Baugrubenherstellung resultierenden Bauzustände waren umfangreiche Standsicherheits- und Verformungsberechnungen für die Tunnel erforderlich, die im Abschnitt 7 detaillierter behandelt werden. 3. Baugrund 3.1 Bodenmodell Die höchste Geländeoberkante im Baufeld zum Zeitpunkt des Projektstarts lag im Bereich der Moskauer Straße bei ca. 256 mNN. In diesem Bereich wurde in jüngster Vergangenheit eine rund 7 m hohe steile Böschung aufgeschüttet, um die Stadtbibliothek über die Moskauer Straße zu erschließen. Der darunter befindliche Baugrund kann vereinfacht anhand des folgenden repräsentativen Schichtmodells für den Bereich der nördlichen Tunnelblöcke erläutert werden: 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 263 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels Abbildung 5: Vereinfachtes Baugrundmodell Ungefähr bis zum großflächigen Aushubniveau von ca. 242 mNN stehen künstliche Auffüllungen an. Darunter stehen in der Regel direkt die Schichten des Gipskeupers an, da die quartären Deckschichten im Baufeld nur noch lokal begrenzt vorhanden sind. Überwiegend setzt der Gipskeuper mit dem Bochinger Horizont ein. Nur vereinzelt wird er noch von den Schlufftonsteinen des Dunkelroten Mergel überlagert. Der Bochinger Horizont besteht aus schluffig bis kiesigen Schlufftonsteinen mit einer geringen bis sehr geringen Druckfestigkeit. Zum Teil sind sie zu Schluff verwittert. Die Mächtigkeit des Bochinger Horizontes schwankt im Baufeld zwischen 3 m und 6,5 m. Darunter liegen die Schlufftonsteine der sogenannten Grundgipsschichten. Auch sie sind zum Teil zu Schluff entfestigt und weisen ein halbfeste oder - untergeordnet steife und feste Konsistenz auf. Die Mächtigkeit der Grundgipsschichten beträgt zwischen rund 7 m und 10 m. Unterhalb der Grundgipsschichten folgt der Lettenkeuper. 3.2 Bodenparameter Die vom geotechnischen Sachverständigen ermittelten und in den Berechnungen angesetzten Bodenkennwerte sind in der nachfolgenden Tabelle zusammengefasst. Da für die Dunkelroten Mergel, den Bochinger Horizont und die oberen 4 m der Grundgipsschichten die gleichen Rechenparameter angegeben wurden, sind diese Böden nachfolgend und im FE-Modell als „oberer“ Gipskeuper zu einer Schicht zusammengefasst worden. Als „unterer“ Gipskeuper wird im FE-Model der Teil der Grundgipsschichten definiert, der sich mehr als 4 m unterhalb der Unterkante des Bochinger Horizontes befindes (siehe Abbildung 5). Tabelle 1: Bodenparameter 4. Grundwasser Da der bauzeitliche Bemessungswasserstand mit 240 mNN unterhalb der Baugrube liegt, waren keine Maßnahmen zur Grundwasserabsenkung innerhalb der Baugrube und auch kein wasserdichter Verbau erforderlich. 5. Wagenladungsstraße 5.1 Einleitung Nördlich des Baufeldes befindet sich die Wagenladungsstraße, die der Andienung des Areals dient und über die nach Fertigstellung die Tiefgarage erreichbar ist. Zwar wurde bei der Bemessung der Wagenladungsstraße bereits die Errichtung einer Nachbarbebauung berücksichtigt, jedoch ergab sich nun bei der Planung der Baugrube eine um bis zu 1,85 m tiefere Aushubsohle als in der ursprünglichen Statik der Wagenladungsstraße angenommen. Infolge der tieferen Aushubsohle wurden die Gründungspfähle der Wagenladungsstraße freigelegt, sodass eine nachträgliche Bemessung erforderlich wurde. In der Bemessung wurde die äußere und innere Tragfähigkeit der Gründungspfähle sowie die innere Tragfähigkeit der Wagenladungsstraße für die geänderte Situation im Bauzustand nachgewiesen. 264 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels 5.2 Nachweisführung Der maßgebende Schnitt zur Nachweisführung mit der tiefsten Aushubsohle ergibt sich im Bereich der Tunnelblöcke 10 und 11. Abbildung 6: Aushubsohlen vor der Wagenladungsstraße Anhand der vorliegenden Statik zur Wagenladungsstraße wurde die Bemessung der Tunnelblöcke nachmodelliert und nachvollzogen. Für zwei wesentliche Lastfallkombinationen wurden sämtliche Lastfälle, Lagerbedingungen und Bettungsfedern simuliert. Die Kontrolle der Schnittgrößenverläufe und Reaktionskräfte zeigten für beide Lastfallkombinationen eine hinreichend genaue Übereinstimmung der Ergebnisse mit der Ursprungsstatik, sodass auf Grundlage dieser „kalibrierten“ Nachberechnung die veränderte Belastungssituation der freigelegten Pfähle nachgewiesen wurde. Die Freilegung der Gründungspfähle führt zu einem Ausfall der horizontalen Pfahlbettung auf der einen Seite und einem zusätzlichen Erddruck von der anderen Seite (s. Abbildung 7). Zwischen den Gründungspfählen wurde eine Spritzbetonausfachung zur Sicherung des Baugrunds, der innerhalb des Tunnels verlaufenden Straße und der Leitungen ausgeführt. Abbildung 7: Zusätzlicher Erddruck auf Gründungspfähle infolge Freilegung In der Nachbemessung konnte gezeigt werden, dass die statisch erforderliche Bewehrung gegenüber der tatsächlich vorhandenen Bewehrung erheblich geringer ist und somit die innere Tragfähigkeit der Gründungspfähle weiterhin gegeben ist. Die Schnittgrößen des Rahmenbauwerks waren ebenfalls vermindert. Die Einhaltung sämtlicher Werte ist im erheblichen Maße auf die in der Bestandsstatik berücksichtigte seitliche Anschüttung der Wagenladungsstraße über die gesamte Tunnelhöhe zurückzuführen (s. Abbildung 8). Der Entfall dieses Erddrucks führt zu einer signifikanten Entlastung des Tragwerks und somit zu Reserven, die für einen tieferen Aushub verwendbar sind. Die äußere Tragfähigkeit der Gründungspfähle wurde in der Bestandsstatik erst ab einer Tiefe unterhalb der jetzigen Baugrubensohle betrachtet und wurde somit ebenfalls nicht maßgebend. Abbildung 8: Entfallender Erddruck auf die Wagenladungsstraße 6. Trägerbohlwand zur Moskauer Straße Entlang der Moskauer Straße wurde eine Trägerbohlwand mit insgesamt vier Ankerlagen zur Sicherung eines Höhensprungs von ca. 14 m ausgeführt. Viel mehr als die Bemessung stellte die Konstruktion und die Ausführung der Trägerbohlwand besondere Herausforderungen dar. Diverse Leitungen (Stromtrassen, Abwasserkanal, Fernwärme, Schächte), die Stadtbibliothek, die Tunnelröhren der U-Bahn und entsprechend erforderliche Sicherheitsabstände waren bei der Planung der Träger und der Anker zu berücksichtigen. Die beengten Platzverhältnisse ließen z. T. nur die Herstellung von horizontalen Ankern zu. Weiterhin wurden Druckrohranker eingesetzt, die eine Lasteinleitung am Ende des Verpresskörpers bewirken, um so den Lasteinleitungspunkt weiter von benachbarten Leitungen zu entfernen (s. Abbildung 9). Die dreidimensionale Modellierung vereinfachte die Planung der komplexen Geometrie und Ankerführung erheblich (s. Abbildung 4). Die Reaktionsschnelligkeit im Falle unvorhersehbarer Ereignisse zeigte sich bei der 3D-modellbasierten Planung als besonderer Vorteil. So konnten z. B. in einigen Fällen Anker nicht auf die erforderliche Prüfkraft angespannt werden, sodass Ansatzpunkte und Ankerneigung der Ersatzanker unter Beachtung der komplexen Randbedingungen kurzfristig zur Verfügung gestellt werden mussten. Die visuelle Kontrollmöglichkeit durch Einblendung von Toleranzkörpern bei der Ankerherstellung, Mindestabständen der Anker untereinander oder zu Bauwerken und Leitungen führte zu einer schnellen Verfügbarkeit der erforderlichen Angaben. 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 265 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels Abbildung 9: Einsatz von horizontalen Ankern und Druckrohrankern unter schwierigen geometrischen Voraussetzungen 7. Stadtbahntunnel 7.1 Einleitung Abbildung 10 gibt einen Überblick über die Lage der Tunnelblöcke innerhalb der Baugrube. Die Elementlänge der einzelnen Tunnelblöcke beträgt 10 m. Abbildung 10: Lage der Tunnelblöcke Der nördliche Tunnel 634 musste im Zuge der Aushubarbeiten einseitig freigelegt werden. Aufgrund des daraus resultierenden asymmetrischen Erddruckes erfährt der Tunnel eine geringe horizontale Verschiebung. Abbildung 11: Bauzustand mit einseitig frei gelegtem Tunnel 634 Die resultierende Horizontalkraft aus dem Erddruck wird bei den Tunnelblöcken 634.34 bis 634.36 sowohl über die Sohlreibung als auch durch die bereits vor dem Aushub neben dem Tunnel hergestellten Gründungspfähle aufgenommen. Für den Block 634.37, der in der Verbauachse liegt, waren darüber hinaus zusätzliche Stützmaßnahmen und Berechnungen erforderlich. 7.2 Nachweise der Tunnelblöcke im Regelbereich 7.2.1 Konzept In Abbildung 3 und Abbildung 4 ist eine Reihe von Gründungspfählen zu erkennen, die in geringem Abstand entlang des nördlichen Tunnels verläuft. Die Pfahlreihe wird beim einseitigen Freilegen des Tunnels als indirekte seitliche Stützung der Tunnelsohle aktiviert und wirkt sich reduzierend auf die Verformungen aus. Für die Bemessung der späteren Gründungspfähle mussten daher die sich aus dem Bauzustand ergebenden Biege- und Querkraftverläufe entsprechend ermittelt und berücksichtigt werden. 7.2.2 FE-Modell Die Verformungen für die Blöcke im Regelbereich wurden anhand von vergleichsweise einfachen 3D-Plaxis-Modellen ermittelt. Bei der verwendeten Geometrie handelt es sich hauptsächlich um eine mit 10 m Tiefe in Tunnellängsrichtung extrudierte 2D-Geo-metrie mit lediglich einer Ergänzung: Die Gründungspfähle wurden als kreisrunde Volumenkörper mit Interfaces an den Außenflächen modelliert. Abbildung 12 zeigt das Modell in der für den Tunnel maßgebenden Berechnungsphase mit dem Endaushub der Baugrube. Vergrößert im Detail dargestellt ist die Ansicht der fünf ca. 8 m langen Gründungspfähle (D = 1,2 m) mit ausgeblendetem Boden. 266 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels Abbildung 12: Modell eines Tunnelblockes mit benachbarten Gründungspfählen Als Stoffgesetz wurde für alle Böden das „Hardening Soil Model“ verwendet. Im Falle des Gipskeuper kam zudem die Erweiterung „Small Strain Stiffness“ zum Einsatz (siehe Tabelle 1: Bodenparameter). 7.2.3 Ergebnisse Wesentliches Ziel der FE-Berechnungen waren die Verformungsprognosen. Darüber hinaus konnten die Modelle verwendeten werden, um zusätzlich zu den mit konventioneller Statik-Software bereits geführten Standsicherheitsnachweisen die Gesamtstandsicherheit mittels der Methode der Phi-C-Reduktion zu bestätigen. Abbildung 13 zeigt die Horizontalverschiebungen transversal zum Tunnel. Abbildung 13: Horizontalverschiebungen transversal zum Tunnel (Skala: +1,5 mm bis -3,5 mm) Die maximalen Tunnelverschiebungen für das oben gezeigte Tunnelelement betragen an der Tunneloberseite ca. 3 bis 4 mm und an der Tunnelunterseite ca. 2 mm. Die Ergebnisse wurden in Abstimmung mit dem Tunnelbetreiber u. a. an das damalige Planungsbüro für die Stadtbahntunnel zur statischen Bewertung weitergeleitet. Die anhand der vereinfachten Modelle für den Regelbereich gewonnenen Ergebnisse waren in einer frühen Projektphase eine wichtige Entscheidungsgrundlage für die Abstimmung der Baugrubenplanung mit allen Projektbeteiligten, da zuvor nicht eindeutig gesichert war, dass das einseitige Freilegen der Tunnel statisch zulässig ist. 7.3 Nachweis des Tunnelblockes 634.37 innerhalb des Verbaus 7.3.1 Konzept Die in Abbildung 11 gezeigte Situation zeigt den Regelfall, bei dem die Tunnelblöcke 634.34 bis 634.36 den Horizontaldruck ohne eine zusätzliche direkte Abstützung aufnehmen können. Im Falle von Block 634.37 ist die Belastungssituation deutlich ungünstiger, da eine Ecke des Blockes den Verbau durchdringt und hier der Erddruck aus einer Höhendifferenz von über 14 m auf die Erdseite des Blockes wirkt (siehe Abbildung 14 und Abbildung 15). Abbildung 14: Lage von Block 634.37 im Grundriss Die nachfolgende Skizze veranschaulicht im Schnitt die Situation, die sich im Endaushubzustand für die hinter dem Verbau liegende und mit ca. 8 m Boden überschüttete Blockecke ergibt. 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 267 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels Abbildung 15: Prinzipskizze: Schnitt durch Block 634.37 In Abbildung 16 ist die am Block 634.37 verwendete Abstützkonstruktion inklusive der Stützberme dargestellt. Während der Installation der Abstützkonstruktion verblieb zunächst eine Stützberme, um den Tunnelblock in Position zu halten. Für den Einbau der Schrägsteife war lediglich ein lokal begrenzter Einschnitt in die Stützberme erforderlich. Abbildung 16: Abstützkonstruktion für Block 634.37 Erst nachdem die fertige Stahlkonstruktion kraftschlüssig mit Pagel an die Tunnelaußenwand und das Widerlager auf der Bodenplatte angeschlossen worden war, konnte die Stützberme entfernt werden. Der vertikale Stahlträger wurde bereits bei der Herstellung des Gründungspfahls einbetoniert und diente nach der Aktivierung der Abstützkonstruktion als Zugelement für die Aufnahme der resultierenden Umlenkkraft. Abbildung 17: Entfernung der Stützberme mit dem Minibagger 7.3.2 3D FE-Modell Für die zu erbringenden Nachweise in den Bauzuständen wurden die von der Baugrubenherstellung betroffenen Blöcke der Stadtbahntunnel samt ihrer Umgebung in Plaxis 3D modelliert. Das komplexe 3D-Modell ermöglichte im Unterschied zu dem zuvor gezeigten einfachen Modell auch Aussagen über Differenzverformungen zwischen Blöcken. Die Blöcke waren zu diesem Zweck gegenseitig verschieblich gelagert. Da für einige der Blöcke durch die Aushubentlastung Hebungen zu erwarten waren, konnte insbesondere der Übergangsbereich zu einem überschütteten Nachbarblock kritisch werden. Die Modellierung der Interfaces erlaubte sowohl die gegenseitige Verschiebung als auch ein Auseinanderklaffen der Blöcke in den Fugen. Abbildung 18 zeigt das 3D-Modell im Endaushubzustand. Es wurden alle Bauzustände inklusive der Zwischenaushübe für alle Ankerlagen einschließlich der Phasen zum Aktivieren der Vorspannkräfte simuliert. Abbildung 18: 3D-Modell zur Untersuchung von Block 634.37, Endaushubzustand mit bereits hergestelltem Bodenplattenabschnitt 268 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels In dem FE-Modell wurden sämtliche Verpressanker, Verbauträger und Tunnelblöcke innerhalb des Modellausschnittes mit ihrer exakten Geometrie generiert. Zu diesem Zweck konnten z. B. im Falle der Anker die räumlichen Anfangs- und Endkoordinaten für die freie Ankerlänge und den Verpresskörper aus dem 3D-Revit-Modell exportiert und zur Modellbildung in Plaxis verwendet werden. Abbildung 19: 3D-Modell zur Untersuchung von Block 634.37 (Boden ausgeblendet) Die Generierung sämtlicher Modell-Elemente erfolgte durch das Einlesen von Befehlszeilen in den „Commands Runner“ (Abbildung 20). Die Zeilen waren zuvor automatisiert auf Basis der Geometriedaten des Revitmodells erstellt worden. Durch diese Arbeitsweise entfällt praktisch die klassische Modellerstellung unter Nutzung der grafischen Oberfläche mit den seitlichen Werkzeugleisten. Abbildung 20: Verwendung des Commands Runner zum Einlesen von extern generierten Befehlszeilen 7.3.3 Ergebnisse aus dem 3D-Modell Nachfolgend sind die Verformungsergebnisse für den Endaushubzustand in x-, y- und z-Richtung dargestellt. Bei allen Ergebnissen handelt es sich um die Gesamtverschiebungen, die ab dem Projektstart Turm am Mailänder Platz rechnerisch auftreten. Alle voran gegangenen Verformungen aus den Berechnungsphasen zur Simulation der Tunnelherstellung, der anschließenden Wiederverfüllung sowie der Herstellung der Böschung vor der Bibliothek sind darin nicht enthalten. Abbildung 21: Verschiebungen in y-Richtung (Skala: -0,50 bis 3,75 mm) Die Verformungen in y-Richtung entsprechen näherungsweise den transversalen Tunnelverschiebungen. Die Ergebnisse des einfacheren 3D-Modells (siehe Abschnitt 7.2) werden vom größeren 3D-Modell mit knapp 4 mm sehr gut bestätigt. Abbildung 22: Verschiebungen in x-Richtung (Skala: -1,3 bis 0,6 mm) Die Verformungen in x-Richtung zeigen, dass die Differenzen der Längsverschiebungen innerhalb der Blockfugen in einer Größenordnung von etwa einem Zehntelmillimeter liegen. Der absolute Maximalwert der Längsverschiebungen ergibt sich an der Blockfuge 634.36 / 634.35 mit ux = -1,3 mm. Abbildung 23: Verschiebungen in z-Richtung (Skala: -0,5 bis 3,75 mm) 12. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Januar 2020 269 Turm am Mailänder Platz, Stuttgart - Planung einer Baugrube unter Berücksichtigung eines einseitig freigelegten Stadtbahntunnels Für die Setzungen bzw. Hebungen ergibt sich ein ähnliches Bild: Die Differenzverformungen in den Fugen sind vernachlässigbar gering. Der Maximalwert der Hebungen ist mit ca. 4 mm sowohl unkritisch für den Betrieb der Stadtbahn als auch in statischer Hinsicht für die Tunnelblöcke. Ursache für die Hebung ist einerseits der großflächige Aushub der Baugrube aber auch der im Modell berücksichtigte Rückbau der Böschung entlang der Moskauer Straße. 8. Monitoring Für das Projekt wurde ein umfangreiches Monitoringprogramm entwickelt und umgesetzt. Dazu gehörte u. a. eine geodätische Lageüberwachung der Tunnelblöcke. Die bis zum jetzigen Zeitpunkt gemessenen Verformungswerte liegen alle unterhalb der Schwellenwerte. Die Abstützkonstruktion ist inzwischen rückgebaut und die Herstellung der Untergeschosse weit fortgeschritten. In lateraler Richtung wurden die Schwellenwerte auf +5 mm und -5 mm festgelegt. Die maximal gemessenen Querverschiebungen der Tunnelblöcke liegen bei 2 mm und damit unterhalb der berechneten Verformungswerte. In vertikaler Richtung waren die Schwellenwerte mit +10 mm und -10 mm definiert. Von den fünf Prismen, die jeweils innerhalb eines Tunnelmessquerschnittes angeordnet waren, gab es teilweise Einzelmesswerte, die fast bist an den Schwellenwert von +10 mm heranreichten. Allerdings handelte es sich dabei offenbar um Ausreißer, da in diesen Fällen die anderen vier Prismen des gleichen Messquerschnittes diese Bewegungen nicht bestätigten. Gemessen am Gesamtbild der Messwerte haben sich für die Blöcke 634.36 und 634.37 Hebungen von ca. 4 mm gezeigt, wobei die Einzelmesserwerte innerhalb eines Querschnittes i. d. R. mit bis zu +/ -2 mm um den gemessenen Mittelwert variieren. Für die weiteren Blöcke ergaben sich erwartungsgemäß geringere Hebungen. 9. Schlussfolgerungen und Ausblick Die vorab mittels der FE-Berechnungen prognostizierten Verformungen und die inzwischen gemessenen Verformungen passen insbesondere bei den Hebungen sehr gut zusammen. Dies ist nicht unbedingt selbstverständlich, da einerseits während der Realisierung einer Baugrube Effekte - z. B. aus dem Baubetrieb - auftreten, die sich anhand eines FE-Modells und der dabei verwendeten „wished-in-place“-Methode nur unzureichend erfassen lassen und es sich andererseits bei den angesetzten charakteristischen Bodenkennwerten um vorsichtige Schätzwerte handelt. Insgesamt sind die Horizontalverschiebungen der einseitig frei gelegten Tunnelblöcke äußerst gering ausgefallen, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Schwankungen der Messwerte innerhalb des Korridors von +/ -2 mm wohl wesentlich durch Messtoleranzen erzeugt werden. Es konnten für die Horizontalverschiebungen keine signifikanten Messwertänderungen beobachtet werden, die eine konkrete Auswirkung des Erdaushubs angezeigt hätten. Eine wahrscheinliche Ursache für die praktisch nicht messbare Horizontalverschiebung der Tunnelblöcke liegt in der Verwendung von bindemittelverbessertem Boden bei der damaligen Rückverfüllung der Baugrube nach dem Bau der beiden Tunnel. Da die Geometrie der damals qualifiziert verfüllten Arbeitsräume zwischen und neben den Tunneln nicht zweifelsfrei anhand der Pläne zu klären war, wurden auf der sicheren Seite liegend für die Verformungsberechnungen nur die Eigenschaften einer nicht mit Bindemitteln verbesserten Verfüllung angenommen.