eJournals Kolloquium Bauen in Boden und Fels 13/1

Kolloquium Bauen in Boden und Fels
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2022
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(Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz - Konkrete Anwendung eines Quartieransatzes

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Till Kugler
Christian Moormann
Einen wichtigen Baustein der Wärmewende stellt der energetische Quartiersansatz dar, bei dem das Energieerzeugungssystem die im Quartier vorhandenen energetischen Ressourcen verwertet und verteilt. Das Projekt IWAES nutzt hierfür die ohnehin notwendige Infrastruktur der Siedlungswasserwirtschaft, um parallele Infrastrukturen zu vermeiden und Synergieeffekte zu heben. Das energetische Angebot eines Quartiers setzt sich aus den im Quartier vorhandenen erneuerbaren Ressourcen (Solarthermie, PV, Geothermie, Abwasserthermie, Abwärme) zusammen, welche effizient genutzt und transportiert werden müssen. Im Forschungsvorhaben IWAES wird als thermische Energiequelle und -senke primär die thermische Aktivierung des Abwassersystems vorgesehen, welches auch als thermische Infrastruktur genutzt wird. Die thermische Nutzung von Abwasserkanälen hat den Vorteil, dass das Temperaturniveau des Abwassers und des umgebenden Erdreichs sowie der Kanalluft sowohl zum Heizen als auch zum Kühlen verwendet werden kann. Der thermisch aktivierte Abwasserkanal besteht aus in der Regel an der Außenwandung angebrachten helixförmigen Absorberleitungen und kann durch einen Rinnenabsorber ergänzt werden. Optional zusätzliche oberhalb des Abwasserkanals installierte Transportleitungen ermöglichen einen thermischen Ausgleich zwischen Wärmeangebot und -nachfrage zwischen den einzelnen Nutzern im Quartier. Mit Hilfe dreidimensionaler hydro-thermisch gekoppelten Simulationen wird die Heiz- und Kühlleistung der Abwasserabsorber ermittelt. Ferner wurde untersucht, welche Material- und Betriebsparameter die Entzugsleistung des aktivierten Abwasserkanals maßgebend beeinflussen und inwiefern die Geometrie hinsichtlich Leistung und wirtschaftlichen, fertigungstechnischen sowie ökologischen Fragestellungen optimiert werden kann.
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13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 15 (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz - Konkrete Anwendung eines Quartieransatzes Till Kugler M.Sc. Universität Stuttgart, Institut für Geotechnik (IGS), Deutschland Univ.-Prof. Dr.-Ing. habil. Christian Moormann Universität Stuttgart, Institut für Geotechnik (IGS), Deutschland Zusammenfassung Einen wichtigen Baustein der Wärmewende stellt der energetische Quartiersansatz dar, bei dem das Energieerzeugungssystem die im Quartier vorhandenen energetischen Ressourcen verwertet und verteilt. Das Projekt IWAES nutzt hierfür die ohnehin notwendige Infrastruktur der Siedlungswasserwirtschaft, um parallele Infrastrukturen zu vermeiden und Synergieeffekte zu heben. Das energetische Angebot eines Quartiers setzt sich aus den im Quartier vorhandenen erneuerbaren Ressourcen (Solarthermie, PV, Geothermie, Abwasserthermie, Abwärme) zusammen, welche effizient genutzt und transportiert werden müssen. Im Forschungsvorhaben IWAES wird als thermische Energiequelle und -senke primär die thermische Aktivierung des Abwassersystems vorgesehen, welches auch als thermische Infrastruktur genutzt wird. Die thermische Nutzung von Abwasserkanälen hat den Vorteil, dass das Temperaturniveau des Abwassers und des umgebenden Erdreichs sowie der Kanalluft sowohl zum Heizen als auch zum Kühlen verwendet werden kann. Der thermisch aktivierte Abwasserkanal besteht aus in der Regel an der Außenwandung angebrachten helixförmigen Absorberleitungen und kann durch einen Rinnenabsorber ergänzt werden. Optional zusätzliche oberhalb des Abwasserkanals installierte Transportleitungen ermöglichen einen thermischen Ausgleich zwischen Wärmeangebot und -nachfrage zwischen den einzelnen Nutzern im Quartier. Mit Hilfe dreidimensionaler hydro-thermisch gekoppelten Simulationen wird die Heiz- und Kühlleistung der Abwasserabsorber ermittelt. Ferner wurde untersucht, welche Material- und Betriebsparameter die Entzugsleistung des aktivierten Abwasserkanals maßgebend beeinflussen und inwiefern die Geometrie hinsichtlich Leistung und wirtschaftlichen, fertigungstechnischen sowie ökologischen Fragestellungen optimiert werden kann. 1. Einleitung Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im April 2021 verpflichtet die Bundesrepublik zur Überarbeitung des bisherigen Klimaschutzgesetzes, mit dem Ziel, bereits im Jahr 2045 treibhausneutral zu sein. Über 75 % der deutschen Bevölkerung lebt gegenwärtig in Städten. Im Jahr 2019 entfielen in Deutschland mehr als 35 % des gesamten Primärenergieverbrauchs (903 TWh) auf die eingesetzte Gebäudeenergie (21,7 Mio. Gebäude), wovon die Wärme- und Kälteversorgung mit 78,5 % den größten Anteil einnimmt. Nach dem Verkehrssektor bietet der Gebäudesektor demnach das zweitgrößte Treibhaus-Einsparpotential [1], eine massive Reduzierung der hier entstehenden Treibhausgase ist somit ein unabdingbarer Bestandteil der deutschen Strategie zur Energiewende. Das Forschungsvorhaben „Integrative Betrachtung einer nachhaltigen Wärmebewirtschaftung von Stadtquartieren im Stadtentwicklungsprozess“, kurz „IWAES“, setzt genau hier mit dem Ziel energetisch autarker Stadtquartiere an, bei denen Heiz- und Kühlenergie aus thermisch aktivierten Infrastruktureinrichtungen der Siedlungswasserwirtschaft gezogen und über Abwasserkanäle thermische Energie transportiert wird. Energieeffiziente Konzepte der Wärme- und Kälteversorgung besitzen das Ziel der energetischen Autarkie, i.e. dass die vor Ort benötigte Energie ebenfalls vor Ort produziert wird und keine externe Energielieferungen über die Quartiersgrenzen hinweg notwendig werden. Durch die räumliche Nähe zwischen Energieproduktion und Energieverbrauch ist ein Energietransport kaum oder nur im geringen Umfang notwendig, etwaige Leitungsverluste sind daher gering und erhöhen folglich die Energieeffizienz. Das Forschungsprojekt IWAES stellt hier die Abwasserkanäle in den Fokus, deren Verwendung einerseits als Energiequelle und -senke und andererseits als Transport- 16 13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz system bietet in mehrfacher Hinsicht Synergieeffekte. Die thermische Energie kann mit geringen Transportverlusten zwischen Energieproduzent und -verbraucher transportiert werden; es ist hierbei unerheblich, ob es um Abwärme oder um eigens produzierte thermische Energie handelt. Die Abwasserthermie, als Teil der Geothermie, stellt regenerative und grundlastfähige thermische Energie bereit, welche sowohl zum Kühlen als auch zum Heizen eingesetzt werden kann. Das vom Institut für Geotechnik der Universität Stuttgart initiierte und geleitete Verbundforschungsvorhaben IWAES entwickelt hierzu einen thermisch entwickelten Hybridkanal, welcher thermische Energie transportieren und auf verschiedenen Laststufen generieren kann und wendet diese Entwicklung theoretisch auf das Rosensteinquartier in Stuttgart an. 2. Rosensteinquartier Als Untersuchungsgebiet wurde das Rosensteinquartier in Stuttgart gewählt. Es entsteht auf ehemaligen Gleisflächen, die durch den Bau des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofes überflüssig werden. Das neue Wohnquartier soll nach Vorgaben der Stadt Stuttgart ein Energieplusquartier werden. Im Quartier soll mehr Energie erzeugt werden als verbraucht wird. Das geplante Quartier zeichnet sich durch eine hohe Verdichtung und dadurch bedingte erhöhte Abwasserabflusswerte aus. Der Untergrund besteht hauptsächlich aus Auffüllungen und nichtbindigen Böden, in denen nicht mit Grundwasser zu rechnen ist. Die direkte Lage des Quartiers in der Kernzone des Stuttgarter Heilquellenschutzgebiets verbietet die Verwendung von Glykol als Wärmeträgerfluid. Um Frostschäden an den Absorbern zu vermeiden, kann die Temperatur des Vorlaufes bei Verwendung reinen Wassers daher nicht unter 0°C gesenkt werden. 3. Thermischer Energiebedarf Der Siegerentwurfs des Büros asp Architekten bildete die Grundlage der Bearbeitung. Zuerst wurden alle städtebaulich relevanten Kennzahlen ermittelt, u.a. die zu erwartende Einwohnerzahl, die Grundfläche der Gebäude und die zu aus statischen Werten generierten möglichen Nutzungen samt der typischen Nutzungsgröße. Aus diesen Daten wurde durch Summation des thermischen Bedarfs ein Gebäudelastgang entwickelt. Der Gebäudelastgang berücksichtigt bereits einen gebäudeinternen thermischen Lastausgleich, d.h., sofern im Gebäude gleichzeitig ein Nutzer Heizbedarf und ein anderer Nutzer Kühlbedarf hat, wird die Abwärme des Kühlens zum Heizen verwendet. Der thermische Bedarf wurde auf Basis der Testreferenzjahre des Deutschen Wetterdienstes für das Jahr 2045 ermittelt. Erste Ergebnisse zeigen, dass der Kühlbedarf höher sein wird als der Heizbedarf. 4. Thermische Aktivierung Der Begriff ´Thermische Aktivierung´ beschreibt das Ausrüsten eines bautechnisch notwendigen Elements mit Absorberleitungen. Die Absorberleitungen sind Rohrleitungen aus Kupfer oder Kunststoff, die von einem Wärmeträgerfluid durchströmt werden. Das Wärmeträgerfluid ist, sofern es die wasserrechtlichen Bestimmungen zulassen, ein Wasser-Glykol Gemisch, welches den Vorteil bietet, dass auch mit Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes gearbeitet werden kann. Im als Modellquartier gewählten Rosensteinquartier ist bedingt durch die Lage im Heilquellenschutzgebiet die Verwendung von Glykol nicht zulässig. Das Funktionsschemata sieht vor, dass der erste Kreislauf mit den Absoberleitungen mit einer Wärmepumpe gekoppelt wird, die die Temperatur des Wärmeträgerfluides mittels elektrischer Kompressionsenergie dann auf das gewünschte Temperaturniveau hebt. Um der Forderung nach energetischer Autarkie des Quartiers gerecht zu werden, wurden alle im Quartier vorhandenen erneuerbaren thermischen Energiequellen untersucht. Im Fokus stand hier die thermische Aktivierung der Abwasserkanäle, da diese nicht nur als Energiequelle, sondern auch als Energietransportsystem fungieren. Die thermischen Restbedarfe werden anschließend mittels thermisch aktivierten Gründungselementen, Erdwärmesonden und Solarenergie gedeckt. Photovoltaische-thermische Kollektoren generieren hierbei aus der Solarenergie nicht nur thermische Energie, sondern auch elektrische Energie, welche zur thermischen Aufbereitung der thermischen Energie aller Absorbereinheiten mittels Wärmepumpe notwendig ist. Die thermische Aktivierung unterirdisch liegender statisch oder siedlungswassertechnisch notwendiger Infrastruktur bietet den Vorteil, dass keine zusätzlichen Ressourcen für den Bau geothermischer Anlagen (z.B. Erdwärmesonden, Erdkollektoren) verwendet werden müssen, da kein zusätzlicher baulicher Eingriff notwendig wird. Die thermische Aktivierung des Untergrunds wirkt auch der Bildung innerstädtischer Wärmeinseln entgegen. Bedingt durch Oberflächenversiegelung, fehlende Vegetation und Wärmeabstrahlung erhöht sich die Temperatur im urbanen Mikroklima signifikant, so werden in Stuttgart zwischen der Innenstadt und den Randzonen des Stadtkessels ca. 6 K Differenz gemessen [2]. Die oberflächliche Wärme speichert sich in den Untergrund ein, sodass auch hier ein Anstieg der Grundwassertemperatur zu verzeichnen und hiermit verbundene negative ökologische Auswirkungen verbunden sind [3]. Die Verwendung oberflächennaher geothermischer Systeme zum Heizen der Gebäude führt zum Abkühlen des Untergrunds und ist auch unter diesem Gesichtspunkt ökologisch positiv zu bewerten. 13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 17 (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz 5. Hybridkanal Der ´Hybridkanal´ ist ein Abwasserkanalsegment, das zu einem die originäre Aufgabe des Abwassertransportes erfüllt, infolge der thermischen Aktivierung der Tunnelschale aber auch dem umgebenden Erdreich, der Kanalluft und dem Abwasser thermische Energie entziehen als auch zuführen kann. Ein Rinnenabsorber (gleichbedeutend zu den inneren Absorbern) zum gezielten Wärmeentzug aus dem Abwasser kann zusätzlich in das System integriert werden. Daneben kann der Hybridkanal mit zwei oder drei Leitungen ausgerüstet werden, mit denen thermische Energie auf unterschiedlichen Energiestufen durch das Quartier transportiert werden kann (Abb. 1). Abb. 1: Thermisch aktivierter Hybridkanal Unterschiedliche thermische Bedürfnisse der Nutzer erfordern unterschiedliche thermische Nutzungen des Hybridkanals. Meldet ein Nutzer einen Bedarf an thermischer Energie an, so wird eine Ablaufschemata gestartet. Als erstes wird überprüft, ob ein anderer Nutzer im Netz einen Überschuss an thermischer Energie abgeben will, wenn ja erfolgt ein Transport von thermischer Energie (Abb. 3). Ist jedoch kein Nutzer mit thermischem Überschuss im Netz vorhanden, wird die thermische Energie durch Aktivierung der außen liegenden Absorber gewonnen, da hier kurzzeitige Speicherkapazitäten bestehen (Abb. 2). Außenliegende Absorber können bei Kanälen ab einem Durchmesser von 300 mm appliziert werden. Für in das System optional integrierbare Rinnenabsorber muss ein Kanal hingegen einen Mindestdurchmesser von 800 mm haben, um im Reversionsfall von einer Person begangen werden zu können. Reicht die thermische Energie, die durch Aktivierung der äußerlichen Absorber generiert wird, nicht aus, werden zusätzlich die Rinnenabsorber (innenliegende Absorber) mit direktem Kontakt zum Abwasser aktiviert (Abb. 4). Die Absorber werden für den Wärmeentzug mit einem kalten Wärmeträgerfluid beaufschlagt, um durch das Abwasser bzw. umgebende Erdreich erwärmt zu werden; bei der Gebäudekühlung wird dem Kanal Kälte entzogen. Die so gewonnene Energie wird mittels einer Wärmepumpe auf ein verwertbares Niveau gehoben. Transportierte thermische Energie benötigt im besten Fall keine Anhebung der Temperatur mittels Wärmepumpe, folglich ist in diesem Fall kein zusätzlicher Aufwand für eine die Wärmepumpe notwendig. Abb. 2: Eintrag ins Erdreich Abb. 3: Transport thermischer Energie 18 13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 Abb. 4: Entzug der thermischen Energie aus dem Abwasser Zur optimalen Realisierung der Kanalquerschnitte werden die Hybridkanäle in ihrer geometrischen Anordnung und Rohrkonfiguration variiert. Kleine Absorber Rohrdurchmesser werden gewählt, wenn ein hoher Wärmeübergang zwischen Absorber und Umgebung gebraucht wird. Eine Reduzierung des Querschnittes erhöht die Strömungsgeschwindigkeit und den dimensionslosen Wärmeübergangskoeffizienten. Ein großer Durchmesser hingegen reduziert die Strömungsgeschwindigkeit und verringert so den Wärmeübergang [4]. Die dreidimensionale Ausgestaltung des Hybridkanals sieht ein aktiviertes Kanalstück aus Kunststoff vor. Im untersuchten Fall wird eine Länge von 6 Metern angenommen, andere Kanallängen sind jedoch denkbar. An der äußeren Oberfläche des Kanals ist die Absorberleitung in Form einer Helix angebracht, mit der Konsequenz, dass es pro Hybridkanalsegment einen Vor- und einen Rücklauf gibt. Die Koppelung mehrerer Kanalsegmente zu einem Element mit ebenfalls nur einem Vor- und Rücklauf ist möglich, erhöht jedoch die erforderliche Pumpenenergie. In Abb. 5 ist das Grundmodell des thermisch aktivierten Hybridkanals zu sehen, welcher sowohl Abwasser transportiert als auch über die äußerliche Absorberleitung dem umgebenen Boden, aber auch der Kanalluft und dem Abwasser thermische Energie entzieht. Abb. 5: Thermisch aktivierter Hybridkanal Die Anbindung der Vor- und Rücklaufleitung an den Hausanschluss erfolgt über Verbindungsleitungen. Im Hausanschluss wird die thermische Energie über einen Wärmetauscher an eine Wärmepumpe zur weiteren Verwendung aufbereitet (siehe Abs. 6). Bei der Verbindung der Hybridkanäle mit dem Hausanschluss kann die Anbindung der Hybridkanäle entweder in Parallelschaltung oder in Reihenschaltung erfolgen, d.h. entweder wird jedes Kanalsegment einzeln mit dem Hausanschluss mit jeweils eines Vor- und Rücklaufs verbunden oder es gibt eine Vorlaufleitung, aus der alle Hybridkanäle versorgt werden, und einen Rücklauf, der alle Rückläufe sammelt. Um hydraulische Druckverluste und folglich Leistungsabnahmen zu vermeiden, werden die Hybridkanäle bei der Reihenschaltung im Tichelmann-Prinzip verlegt, wodurch die Summe der Rohrlängen der Vor- und Rücklaufleitung bei jedem Hybridkanal gleich groß ist. Jedes Kanalsegment wird folglich von einem annährend gleichgroßen Volumenstrom durchströmt, da jedes Kanalsegment durch die gleichen Leitungslängen den gleichen Druckverlust infolge Rohrreibung aufweist (Abb. 6). In Abb. 6 wird der Hausanschluss als ´HUB´ bezeichnet. Die Parallelschaltung wurde im Projekt IWAES nicht verwendet, da bei ca. 475 zu erwartenden Hybridkanalsegmenten die Anzahl an Vor- und Rücklaufleitungen im Untergrund schwer Platz finden würde. Positiv bei der Verwendung der Parallelschaltung wäre hingegen, dass die Zulauf- und Rücklaufleitungen ebenfalls als thermischer Kollektor wirken würden. Abb. 6: „Tichelmann“ Anbindung der Hybridkanäle Der Zugang zu den innenliegenden Absorbern erfolgt über Abwasserschächte die räumlich direkt vor den Hausanschlüssen installiert werden (Abb. 7). In derselben Abbildung sind die oben liegenden Transportleitungen (blau, gelb, rot) zu erkennen, deren Verbindung mit dem Hausanschluss ebenfalls über denselben Abwasserschacht läuft. (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz 13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 19 Abb. 7: Anbindung der Transportleitungen und der innenliegenden Absorber. In Abb. 8 wird die zentrale Funktion des Abwassersschachtes deutlich, der das Verbindungsstück zwischen der Kanalisation, Absorbereinheiten, Transporteinheiten und dem Hausanschluss bildet. Abb. 8: Ansicht des Hybridkanalsystems 6. Verbundnetz 1. Ebene 2. Ebene 3. Ebene Abb. 9: Dreistufiger thermischer Quartiersansatz mit Integration des thermisch aktivierten Abwassernetzes, von links beginnend Block, Hubareal, Quartier. (WT: Wärmetauscher, WP: Wärmepumpe) Das Verbundnetz hat die Aufgaben, gleichzeitig als Absorber als auch als Transporteinheit zu fungieren. Der bereits erwähnte Grundgedanke ist es, thermische Bedarfe und thermische Überschüsse auf Quartiersebene miteinander zum Ausgleich zu bringen, sodass eine zusätzliche Energieerzeugung überflüssig wird. Hierfür muss das Transportnetz zur Aufnahme und Abgabe von thermischer Energie unterschiedlichen Niveaus fähig sein. Würde ein Nutzer eines Wärmenetzes nur mit einer Vor- und einer Rücklaufleitung thermische Energie auf einem hohen Niveau aus dem Netz ziehen und verwerten, sodass dieser Nutzer die Temperatur auf einem mittleren Niveau wieder einspeisen möchte, stellt sich die Frage, ob dieser Rücklauf der warmen Vorlauf- oder der kalten Rücklaufleitung zugeführt werden soll, beides würde die nutzbare Exergie entweder zum Kühlen oder zum Heizen reduzieren. Um diese Reduktion der Exergie zu verringern, wurde in Analogie zur Elektrotechnik ein dritter Leiter als Neutralleiter hinzugefügt, in welchen thermische Energie auf mittlerem Temperaturniveau eingeleitet wird und bei Bedarf entnommen wird. (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz 20 13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 In den Hausanschlüssen wird die thermische Energie, die aus innenliegenden und außenliegenden Absorbern gewonnen oder durch die Transportleitungen verschoben wurde aufbereitet, i.e. die thermische Energie wird über Wärmetauscher der Wärmepumpe zugeführt und auf die gewünschte Temperatur gehoben. Wärmepumpen besitzen immer einen Kompressor und einen Verdampfer, ersterer erhöht die Temperatur letzterer senkt diese ab. Sowohl am Kompressor als auch am Verdampfer sind Wärmetauscher angebracht, welche die „Kälte“ als auch „Wärme“ entweder an das Gebäude selbst oder ans Netz abgeben. Sofern die Temperatur bereits auf verwertbaren Temperaturniveau ist kann durch einen hydraulischen Bypass die Wärme direkt verwertet werden. Des Weiteren ist in einem Hausanschluss auch ein PCM Speicher installiert, welcher thermische Leistungsspitzen abfedern und den thermischen Bedarf vom thermischen Angebot entkoppeln soll. Da es absehbar ist, dass das energetische Potential der Abwasserkanäle nicht zur Deckung der Energiebedarfe ausreicht, können weitere im Quartier befindliche Energiequellen in Betracht gezogen werden, u.a. eine thermische Aktivierung der Gebäudegründungen, Erdwärmesonden als auch Solarthermie. Die Einbindung und thermischer Aufbereitung dieser weiteren Energiequellen erfolgt ebenfalls im Hausanschluss. Wenn jeder einzelne Nutzer einen voll ausgestatteten Hausanschluss samt modifizierten Abwasserschacht benötigt, ist dies ökologisch als auch ökonomisch ungünstig. Die Effizienz thermischer Anlagen nimmt mit der installierten Leistung zu, weshalb die Bündelung thermischer Bedarfe angestrebt werden sollte. 7. Mehrstufiges Konzept Das mehrstufige Konzept orientiert sich an der Bebauung des jeweiligen Quartiers. Im Forschungsprojekt IWAES wurde exemplarisch der städtebauliche Entwurf von asp-Architekten für das Rosensteinquartuer als Grundlage herangezogen. Der Entwurf sieht eine Unterteilung des Quartiers in mehrere Hubareale vor. Die Hubareale setzen sich wiederum aus mehreren Gebäudeblöcken zusammen (Abb. 9). Hubs sind Gebäude, die städtebaulich kennzeichnend für ein Areal sein sollen, konkret handelt es sich hier um eine öffentlich zugängige Einrichtung (z.B. Bibliothek etc.). In diesen Hubs sollen gemäß städtebaulichem Entwurf auch die notwendigen Technikzentralen untergebracht sein. Im Rahmen von IWAES wurde in diesen Hub auch ein modifizierter Hausanschluss, inklusive PCM-Speicher untergebracht. Zur Bündelung der thermischen Energiebedarfe der Nutzer wurde ein mehrstufiges thermisches Konzept entwickelt, bei dem nicht jeder Nutzer singulär thermisch versorgt wird, sondern im Verbund. Das Konzept umfasst in IWAES drei Ebenen der thermischen Bilanzierung: • Erste Ebene: Gebäudeblock • Zweite Ebene: Hubareal • Dritte Ebene: Gesamtes Quartier Jede Ebene besitzt ein eigenes Verbundnetz, in dem die jeweils niedrigere Ebene als Nutzer auftritt. In der ersten Ebene wird innerhalb des Gebäudeblocks ein Ausgleich zwischen den einzelnen Nutzern angestrebt, wird dieser jedoch verfehlt, wird die notwendige thermische Restenergie dem Hubnetz entnommen. Der Gebäudeblock ist über einen Hausanschluss mit dem Hubnetz verbunden. Ist im Hubnetz ebenfalls kein thermisches Gleichgewicht zwischen den Blöcken möglich, wird die thermische Energie aus dem Quartiersnetz gezogen (dritte Ebene). Ist in der dritten Ebene ebenfalls kein Ausgleich möglich, wird die thermische Energie aus den Hybridkanälen gewonnen und sofern diese Absorber ebenfalls nicht ausreichen, werden zusätzlich noch die thermisch aktivierten Gründungselemente, Erdwärmesonden und Solarthermie Einheiten aktiviert. 8. Numerische Untersuchungen Zur Ermittlung der thermischen Leistungsfähigkeit der Hybridkanäle wurden numerische zweidimensionale und dreidimensionale Berechnungen mittels der Simulationssoftware COMSOL durchgeführt, dass hier verwendete Modell ist in Abb. 10 dargestellt. Abb. 10: Dreidimensionales numerisches Modell (Legende Temperatur in °C) Die einwirkenden atmosphärischen Einflüsse wurden mittels der stündlich aufgelösten Testreferenzjahre des Jahres 2045 des Deutschen Wetterdienstes abgebildet. Die thermischen Einflüsse aus Abwassertemperatur wurden aus stündlichen Temperaturmessungen am Hauptklärwerk Stuttgart-Mühlhausen gebildet. Aus dem städtebaulichen Entwurf wurde von einem Pro- (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz 13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 21 jektpartner die siedlungswassertechnische Planung für das Rosensteinquartier entworfen. Der Entwurf gibt für jeden Kanalabschnitt den Durchmesser, Länge und die durchschnittlich zu erwartende Abwasserströmungsgeschwindigkeit an, die dann in der numerischen Simulation als Strömungsgeschwindigkeit angenommen wurde. Geothermische Anlagen werden üblicherweise leicht turbulent durchströmt, da dies das energetische Optimum zwischen eingesetzten Pumpenstroms und extrahierter Wärmeenergie darstellt [7]. Für die Daten der Kanalluft wurden in IWAES gesonderte Untersuchungen durchgeführt, deren Ergebnisse in die numerischen Untersuchungen flossen, siehe Kap. 8 Als Bodenkontinuum wurden ein für das Rosensteinquartier typisches nichtbindige Bodenmaterial ohne Grundwasserströmung aber gesättigt angenommen. Der aufgetragene Lastgang wurde im Rahmen des Projektes für einen typischen Gebäudeblock entwickelt. Für den Lastgang wurde wie bei der Untersuchung der Leistungsfähigkeit von Geothermieanlagen üblich, eine Arbeitszahl von 3,5 angenommen anstelle des für die KfW als untere Mindestgrenze angegebenen Wertes von 4,3, wodurch eine konservative Bemessung des Hybridkanals gewährleistet wird. Als minimale Vorlauftemperatur wurde ein Wert von 2°C und als maximale Vorlauftemperatur ein Wert von 35°C angenommen. Der obere Grenzwert ergibt sich nach [8] als die maximale Zulauftemperatur zu den Abwasserkanälen. Die minimale Temperatur von 2°C ergibt sich aus der Vorgabe des Heilquellenschutzes, kein Glykol als Frostschutz verwenden zu dürfen und der Verwendung von Rohrbündelwärmetauschern. Bei der numerischen Berechnung wurde der Lastgang durch die Anzahl an Hybridkanälen geteilt, die für die Bewältigung des Lastgangs notwendig sind. Als maßgebender Parameter wurde die Vorlauftemperatur des Hybridkanals gewählt, die die 35°C-Schranke nicht über- und die 2°C Schranke nicht unterschreitet. In Abb. 11 ist die Vorlauftemperatur eines Hybridkanals aufgezeigt, der hierbei aufgebrachte Lastgang wurde durch 70 dividiert, i.e. 70 Hybridkanalsegmente sind notwendig um den Lastgang abarbeiten zu können. Abb. 11: Numerische Untersuchung eines DN800 Hybridkanals Die Leistung des Hybridkanals wurde mittels der folgenden Gleichung ermittelt und durch die Anzahl an Jahresvolllaststunden dividiert (Heizlaststunden: 1240 h, Kühllaststunden: 357 h). Werden die Leistungen auf die innere Oberfläche bezogen, ergeben sich die in Tab. 1 und 2 gegebenen Werte. Tab. 1: Wärmeentzugsleistung bei 1240 Vollaststunden Kanaldurchmesser innere Oberfläche gesamtes Netz [mm] [W/ m²] [kW] 300 143 281 400 129 37 800 117 159 Tab. 2: Wärmeeintragsleistung bei 357 Vollaststunden Kanaldurchmesser innere Oberfläche gesamtes Netz [mm] [W/ m²] [kW] 300 830 1633 400 709 203 800 641 871 Insgesamt können alle Hybridkanäle allein durch die äußerlich angebrachten Absorber eine durchschnittliche, jährliche Leistung von 477 kW und eine Kühlleistung von 2700 kW erbringen. Bei der Kühlleistung muss be- (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz 22 13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 rücksichtigt werden, dass Temperaturen bis 35°C zugelassen werden, was eine Kühlung mittels Wärmepumpe zwingend nötig macht. Eine abschließende Validierung des numerischen Modells steht mangels Messdaten noch aus und soll in der Verstetigungs- und Umsetzungsphase des IWAES Projektes erfolgen. 9. Untersuchungen zur Kanalluftströmung Untersuchungen bei thermisch aktivierten Tunnelbauwerken belegten einen signifikanten Einfluss der Tunnelluft auf die mögliche Wärmeextraktion [5], [6]. Um die thermische Leistungsfähigkeit der Hybridkanäle zu ermitteln, ist es daher wichtig, Temperatur und die Strömung der Kanalluft zu kennen. Der Forschungsstand zur Kanalluft beinhaltetet keine genauen Messungen der Temperatur und Strömungsgeschwindigkeit im Bezug zur Abwassertemperatur, weshalb im Frühjahr 2021 Untersuchungen zu diesem Sachverhalt an der Universität Stuttgart durchgeführt wurden. Hierfür wurden unterschiedliche Kanaldurchmesser und Gefälle messtechnisch ausgerüstet und untersucht (Abb. 12). Bedingt durch eventuelle Faulgase in der Kanalisation musste eine explosionsgesicherte Messkonstruktion entwickelt werden, sodass anstatt eines Hitzedrahtanemometers zur Messung der Kanalluftgeschwindigkeit ein Windrad verwendet wurde, welches eine Messschwelle von ca. 0,2 m/ s besitzt. In Abb. 13 ist die Messung aller relevanten Temperaturen des Kanals 66 (Durchmesser 700 mm) aufgezeigt, es zeigt sich, dass die Temperatur der Kanalluft konstant und weitestgehend unabhängig von der Oberflächentemperatur ist, aber auch nicht direkt abhängig von der Abwassertemperatur ist. Dieser Zusammenhang ist nur durch die thermische Beeinflussung des Erdreichs zu erklären. In Abb. 14 ist zu erkennen, dass es im Kanal 66 eine Kanalluftströmung gibt und diese unabhängig von der Abwasserströmungsrichtung sein kann. Abb. 15 zeigt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Kanallufttemperatur und Abwassertemperatur gibt; je größer der Durchmesser des Abwasserkanals ist desto eindeutiger ist der Zusammenhang zwischen Kanallufttemperatur und der Temperatur des Abwassers. Abb. 16 zeigt, dass insbesondere für große Kanaldurchmesser ein Zusammenhang zwischen Kanallufttemperatur und Außentemperatur besteht. Zusammenfassend wird deutlich, dass je größer der Kanaldurchmesser ist, desto eher ist die Kanallufttemperatur in Interaktion mit der Außentemperatur; ein Grund könnten die erhöhten Strömungsgeschwindigkeiten des Abwassers sein, welche den Wärmeübergang zwischen Kanalluft und Außentemperatur und Kanalluft und Abwasser erhöhen. Größere Kanaldurchmesser kommen bei größeren Abflusswerten zum Einsatz, welche zumeist eine größere Abflussgeschwindigkeiten aufweisen. Abb. 12: Schematische Darstellung des Messkonzeptes Abb. 13: Messungen der relevanten Temperaturen (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz 13. Kolloquium Bauen in Boden und Fels - Februar 2022 23 Abb. 14: Messungen der Kanalluftgeschwindigkeit Abb. 15: Kanallufttemperatur über Abwassertemperatur Abb. 16: Kanallufttemperatur über Außentemperatur 10. Fazit Der im Forschungsprojekt IWAES entwickelte Ansatz des mehrstufigen thermischen Verbundsystems auf Basis thermisch aktivierter Hybridkanäle stellt ein zukunftsfähiges Instrument der Wärmewende im innerstädtischen Kontext dar. Besonders hinsichtlich der immer wichtiger werdenden Kühlung von Gebäuden kann das Konzept einen wesentlichen Beitrag leisten. In das Konzept können einfach weitere regenerative Energiequellen eingebunden werden. 11. Danksagung Das Forschungsprojekt IWAES wird vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Forschungsoffensive „Ressourceneffiziente Standquartiere für die Zukunft“ (RESZ) gefördert. Literatur [1] Deutsche Energie Agentur GmbH 2021 [2] Baumüller, J., Hoffmann, U., Reuter, U. (2012): Städtebauliche Klimafibel, Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg [3] Griebler, C., Kellermann, C., Stumpp, C.,Hegler, F., Kuntz, D., Walker-Hertkorn, S. (2015): Auswirkungen thermischer Veränderungen infolge der Nutzung oberflächennaher Geothermie auf die Beschaffenheit des Grundwassers und seiner Lebensgemeinschaften - Empfehlungen für eine umweltverträgliche Nutzung. 2015 [4] von Böckh, W. (2015): Wärmeübertragung, Springer Vieweg [5] Buhmann. P. (2019): Energetisches Potential geschlossener Tunnelgeothermiesysteme. Institut für Geotechnik. Mitteilungendes Instituts für Geotechnik der Universität Stuttgart, Heft 73, 2019 [6] Schneider, M. (2013): Zur energetischen Nutzung von Tunnelbauwerken - Messungen und numerische Berechnungen am Beispiel Fasanenhof, Institut für Geotechnik. Mitteilungen des Instituts für Geotechnik der Universität Stuttgart, Heft 68, 2013 [7] VDI 4620 Blatt 2, Thermische Nutzung des Untergrunds - Erdgekoppelte Wärmepumpenanlagen, 2019 [8] Satzung der Landeshauptstadt Stuttgart über die öffentliche Abwasserbeseitigung (Abwasserbeseitigungssatzung - Abws), Amtsblatt der Landeshauptstadt Stuttgart Nr. 51/ 52, 2019 (Geo-)Thermische Aktivierung von Abwasserkanälen und deren Einbettung in ein Wärme-Kälteverbundnetz