eJournals Brückenkolloquium 4/1

Brückenkolloquium
kbr
2510-7895
expert verlag Tübingen
91
2020
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Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen

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2020
Tobias Huber
Johann Kolleger
Patrick Huber
Die historische Ausführungsform der aufgebogenen Längsstäbe zur Schubsicherung ist nach den heutigen Regelwerken nur bedingt vorgesehen. Bei der Bewertung von bestehenden Tragwerken steht der Ingenieur daher vor der Herausforderung, dass die Anwendung der Querkraftmodelle nach Eurocode 2 aufgrund von konstruktiven Regeln in vielen Fällen nicht möglich ist. An der TU Wien wurde auf Basis großformatiger Belastungsversuche ein Nachweiskonzept entwickelt, welches eine realistische Bewertung dieser Situation ermöglicht. Das Modell des potentiellen Schubrisses (PSC-Modell) wird in diesem Beitrag anhand der Nachrechnung einer realen Stahlbetonplattenbrücke erläutert und die Vorteile in der Bestandsbewertung werden dabei aufgezeigt. Die neuen Erkenntnisse werden bereits in der neuen ÖNORM B4002-8 zur Bewertung der Tragfähigkeit bestehender Tragwerke berücksichtigt, wodurch ein Bogen der universitären Forschung in die Anwenderpraxis gespannt wurde.
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4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 141 Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen Dipl.-Ing. Dr.techn. Tobias Huber TU Wien, Institut für Tragkonstruktionen, Wien, Österreich o. Univ.Prof. Dr. Ing. Johann Kollegger TU Wien, Institut für Tragkonstruktionen, Wien, Österreich Dipl.-Ing. Dr. techn. Patrick Huber FCP Fritsch, Chiari & Partner ZT GmbH, Wien, Österreich Zusammenfassung Die historische Ausführungsform der aufgebogenen Längsstäbe zur Schubsicherung ist nach den heutigen Regelwerken nur bedingt vorgesehen. Bei der Bewertung von bestehenden Tragwerken steht der Ingenieur daher vor der Herausforderung, dass die Anwendung der Querkraftmodelle nach Eurocode 2 aufgrund von konstruktiven Regeln in vielen Fällen nicht möglich ist. An der TU Wien wurde auf Basis großformatiger Belastungsversuche ein Nachweiskonzept entwickelt, welches eine realistische Bewertung dieser Situation ermöglicht. Das Modell des potentiellen Schubrisses (PSC-Modell) wird in diesem Beitrag anhand der Nachrechnung einer realen Stahlbetonplattenbrücke erläutert und die Vorteile in der Bestandsbewertung werden dabei aufgezeigt. Die neuen Erkenntnisse werden bereits in der neuen ÖNORM B4002-8 zur Bewertung der Tragfähigkeit bestehender Tragwerke berücksichtigt, wodurch ein Bogen der universitären Forschung in die Anwenderpraxis gespannt wurde. 1. Einleitung Die Anwendung der aktuellen Stahlbetonnormen [1,2] bei bestehenden Spann- und Stahlbetonbrücken birgt mitunter Probleme bei der Nachweisführung gegenüber Querkraftbeanspruchung. Diese Problematik wurde bereits in verschiedenen Arbeiten aufgezeigt [3-5] und es wird nach Möglichkeiten gestrebt, die Situation realistischer bewerten zu können. In den letzten Jahren wurde daher mit neu entwickelten Modellen für die Nachrechnung von Spannbetonbrücken [6-9], aber auch für breitere Anwendungen [8,9] reagiert. Die historische Bauweise der aufgebogenen Längsstäbe wurde im Zuge der Nachrechnungsproblematik in einem wissenschaftlichen Kontext nie genauer betrachtet, obwohl die Relevanz groß ist. In Österreich gelten neben den nur schwach querkraftbewehrten Stegen von Spannbetonbrücken insbesondere Stahlbetonplatten, welche unbewehrt oder mit aufgebogenen Längsstäben bewehrt sind aufgrund der Normenentwicklung als potentiell querkraftgefährdet [5]. In Deutschland zeigten exemplarisch durchgeführte Nachrechnungen von 27 Plattenbrücken aus Stahlbeton in [4], dass für rund ein Drittel der Brücken keine positiven Querkraftnachweise trotz der Anwendung der Nachrechnungsrichtlinie für bestehende Brückenbauten [10] erbracht werden können. Die Gründe hierfür liegen einerseits in der Tatsache, dass zur Bauzeit aufgrund der höheren normativen Querkraftwiderstände für Beton zum Teil schlichtweg keine Querkraftbewehrung eingebaut wurde und andererseits können die heutigen normativen Anforderungen an die Bewehrungsführung nicht erfüllt werden [4]. Der zweite Teil des Eurocode 2 (EC2) für die Bemessung im Brückenbau [1] übernimmt im Wesentlichen die Regelungen des Hochbaus bezüglich Querkraft, welche nachfolgend anhand der DIN-Reihe beschrieben werden. Generell wird zur Anwendung der Bemessungsregeln ein Mindestwert der bezogenen Rippenfläche vorausgesetzt, weshalb die Modelle für glatten Stahl nicht anwendbar sind. Bei Brücken mit Bewehrung der Klasse St I oder Torstahl ist somit ein Nachweis nur mit Hilfe der Nachrechnungsregelwerke [10, 11] möglich. Nach EC2 wird strikt zwischen Bauteilen mit und ohne rechnerisch erforderlicher Querkraftbewehrung unterschieden, wobei hier der Querkraftwiderstand des Betons V Rd,c das Kriterium ist (Gl. 1). (1) 142 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen mit dem Vorfaktor C Rk,c (0,15 nach [2]), dem Teilsicherheitsbeiwert für Beton γ c , dem Maßstabsfaktor k = 1+(200/ d [mm]) 1/ 2 , dem Bewehrungsgrad der Längsbewehrung ρ l ≤ 0,02, der charakteristischen Betondruckfestigkeit f ck , dem Faktor zur Berücksichtigung einer Normalkraft k 1 (0,12 nach [2]), der Normalspannung aufgrund einer Normalkraft σ cp , der geringsten Breite des Querschnitts b w und der statischen Nutzhöhe d. Sobald dieser Grenzwert überschritten wird, ist in der Regel im ganzen Bauteil, außer bei Platten (b/ h > 5 nach [2]) zumindest eine Mindestquerkraftbewehrung vorzusehen. Die Querkraftbewehrung kann im Brückenbau [2] mit unterschiedlichen Bewehrungselementen bewerkstelligt werden: Bügel, welche die Längszugbewehrung und die Druckzone umfassen, aufgebogene Stäbe sowie eine Kombination von beiden. Querkraftzulagen in Form von einschnitten Bügeln mit Haken oder Bügelkörben. Mindestens 50 % der Querkraft müssen jedoch von konventionellen Bügeln übernommen werden. Die genannten Regelungen lassen damit keine Anrechnung von aufgebogener Längsbewehrung zu, wenn diese alleine und nur an den Auflagern vorgesehen wurde. Im Zuge der Bemessung von Stahlbetonplatten kann bei geringer Ausnützung der Druckstrebentragfähigkeit V Rd,max (V Ed ≤ 1/ 3∙V Rd,max ) auch nach aktueller Normenlage die gesamte Querkraftbewehrung aus aufgebogenen Längsstäben bestehen. Diese sind ausreichend zu verankern (0,7∙l bd in der Druckzone, bzw. 1,3∙l bd in der Zugzone). Zur Berechnung des Querkraftwiderstands der Bewehrung V Rd,s wird kein eigenes Berechnungsmodell angegeben, womit lediglich das Fachwerkmodell mit Rissreibung herangezogen werden kann. Im EC2 [ 1 ] ist dafür folgende Formel vorgesehen (Gl. 2). (2) mit der Fläche der Querkraftbewehrung A sw , dem horizontalen Abstand der Bewehrungselemente s, dem Bemessungswert der Streckgrenze der Schubbewehrung f ywd , dem innerem Hebelarm z, dem Druckstrebenwinkel θ, dem Abminderungsfaktor der Festigkeit aufgrund von geneigten Rissen ν 1 , dem Beiwert zur Berücksichtigung der Vorspannung α cw , und der Neigung der Schubbewehrung bezogen auf die Bauteilachse α. Der Druckstrebenwinkel θ kann nach [ 2 ] in folgenden Grenzen gewählt werden (Gl. 3). (3) Der maximale Abstand s b für aufgebogene Längsstäbe soll kleiner als die statische Nutzhöhe d sein (s b ≤ d). So ist das Modell bei häufig vorkommenden größeren Abständen der Aufbiegungen oder bei unzureichender Verankerung der Stäbe ebenso nicht anwendbar. Zusammenfassend können folgende Probleme hinsichtlich der Nachrechnung von Stahlbetonplattenbrücken mit aufgebogenen Längsstäben angeführt werden: - Vorhandensein glatter Bewehrung - Bügelanteil kleiner als 50 % der gesamten Querkraftbewehrung - Keine Mindestquerkraftbewehrung im gesamten Bauteil (unbewehrte Bereiche) bei Balken - Zu große vorhandene Abstände der aufgebogenen Längsstäbe - Zu geringe Verankerung der Stäbe Um diesen Umständen gerecht zu werden, wird in diesem Beitrag ein Nachweiskonzept vorgestellt, welches die Nachrechnung von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen ermöglichen soll [13,14,15]. Das Potential des vorgestellten Modells wird anhand der Nachrechnung einer realen Stahlbetonplattenbrücke aufgezeigt. Das vorgestellte Modell bildet die Grundlage für die Formulierungen in der neuen ÖNORM B4008-2: Bewertung der Tragfähigkeit bestehender Tragwerke - Teil 2: Brückenbau [11]. 2. Querkraftmodell für Bauteile mit Aufbiegungen 2.1 Querkraftwiderstand Angrenzend an den Nachweisschnitt A-A wird ein Schubriss mit einem Winkel β cr konstruiert (Bild 1). Bewehrungsstäbe, welche innerhalb der Risslänge l cr von dem Schubriss gekreuzt werden, können in Abhängigkeit der vorhandenen Verankerungslänge bis zur Spannung σ sd,i belastet werden. Durch das Aufsummieren der vertikalen Anteile ergibt sich der Stahltraganteil V Rd,s . Zusätzlich kann ein Betontraganteil V Rd,c berücksichtigt werden. Wird kein Bewehrungsstab in der schrägen Länge gekreuzt, ist der Querkraftwiderstand für Beton ohne rechnerisch erforderlicher Querkraftbewehrung V Rd,c anzusetzen. Bild 1: Berechnung des Querkraftwiderstands in einem potentiellen Schubriss 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 143 Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen Die Risslänge l cr kennzeichnet jenen Bereich im potentiellen Schubriss, in welchem Bewehrungsstäbe aktiviert werden können und wird mit Gleichung (4) ermittelt. Der innere Hebelarm darf vereinfacht mit z = 0,9∙d berechnet werden. Die Rissneigung β cr beträgt 45° und kann auf 36° abgemindert werden, wenn in einem Nachweisschnitt A-A in Bild 1 eine gerippte Aufbiegung geschnitten wird oder eine Mindestbügelbewehrung nach [ 1 ] vorhanden ist. (4) mit dem inneren Hebelarm z und dem Winkel β cr zwischen der Rissebene und der Schwerachse der Platte oder des Balkens. Der Querkraftwiderstand V Rd in einem potentiellen Schubriss wird mit Gl. (5) ermittelt. (5) mit dem Querkraftwiderstand der Stahleinlagen V Rd,s , dem Querkraftwiderstand des Betons V Rd,c und dem Interaktionsfaktor k i . Der Querkraftwiderstand der Stahleinlagen V Rd,s kann nach Gleichung (6) ermittelt werden. (6) und mit der Querschnittsfläche des Bewehrungsstabs A s,i , dem Bemessungswert der Stahlspannung eines Bewehrungsstabs σ sd,i , dem Winkel zwischen der Achse eines Bewehrungsstabs und der Schwerachse der Platte oder des Balkens αi, dem Bemessungswert der Streckgrenze eines Bewehrungsstabs f yd,i , der vorhandenen Verankerungslänge eines Bewehrungsstabs im Beton l b,eff nach Bild 1und dem Bemessungswert der Verankerungslänge l bd . Für Stäbe, welche die Mindestanforderungen an die bezogene Rippenfläche f R nach EC2 [1] erfüllen, kann der Bemessungswert der Verankerungslänge l bd nach EC2 [1] ermittelt werden. Für andere Stäbe können diese Werte vereinfacht mit dem Faktor 2,25 multipliziert werden (glatter Betonstahl). Alternativ dazu kann die Verankerungslänge mit anderen rechnerischen oder experimentellen Verfahren ermittelt werden, wenn diese die tatsächlichen Verbundeigenschaften des verwendeten Stahls besser abbilden können. Zur Vermeidung einer Spaltung in Längsrichtung ist bei aufgebogenen Längsstäben die Einhaltung der Mindestbiegeradien zu kontrollieren, welche sich unter Berücksichtigung der Mindestbiegerollendurchmesser nach EC2 [1] ergeben. Bei Einhaltung der historischen normativen Regelungen in der Bauausführung, sollte dies gewährleistet sein [15]. Der Querkraftwiderstand des Betons V Rd,c kann nach Gleichung (7) ermittelt werden. (7) mit dem Teilsicherheitsfaktor für Beton γ c , der Bauteilbreite b w [mm], der statischen Nutzhöhe d [mm], dem Längsbewehrungsgrad ρ an der Schnittstelle des Schubrisses mit der Längsbewehrung nach Bild 1 der charakteristischen Druckfestigkeit f ck , dem Beiwert zur Berücksichtigung der Rauigkeit im Schubriss d dg = 16+d g < 40 wobei der maximale Korndurchmesser d g [mm] für höherfeste Betone aufgrund von Kornbruch (f c > 60 MPa) mit d g ·(f c / 60) 2 abzumindern ist. Der Interaktionsfaktor k i zur Überlagerung der Stahltragwirkung V Rd,s mit einer Betontragwirkung V Rd,c ist bei Verwendung von Stäben, welche die Mindestanforderungen an die bezogene Rippenfläche f R nach EC2 [2] erfüllen mit Gl. (8) zu ermitteln. (8) Für Stäbe mit geringeren Werten der bezogenen Rippenfläche (Glatte Stäbe, Torstahl) ist der Beiwert k i = 0,0 zu setzen. 2.2 Nachweisführung Für jeden Nachweisschnitt A-A in Bild 1 und Bild 2 wird der Schubriss (A-B) entsprechend der vorhandenen Querkraftbewehrung im Schnitt A-A konstruiert (β cr , l cr ). In jedem Nachweisschnitt wird der Widerstand V Rd,s der Stahleinlagen (Gl. 6) und des Betons V Rd,c (Gl. 7) ermittelt. Die Querkraftdeckungslinie (siehe Bild 2) ergibt sich aus den entlang einer Platte oder eines Balkens ermittelten Widerständen unter Beachtung von Gleichung (5). Die Bemessungsquerkraft muss nicht näher als im Abstand l cr vom Auflager nachgewiesen werden. Zusätzlich ist nachzuweisen, dass die Querkraft am Auflager die Tragfähigkeit der Druckstrebe V Rd,max nach EC2 [1] bzw. an den Aufbiegepunkten 1/ 3∙V Rd,max nicht überschreitet. Für den Druckstrebenwinkel θ ist der Risswinkel β cr einzusetzen. 144 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen 3. Modellanwendung bei der Nachrechnung einer bestehenden Stahlbetonbrücke 3.1 Bauwerksbeschreibung Das Brückenobjekt besteht aus zwei getrennt hergestellten Überbauten, welche als Plattenbrücken im Jahr 1979 ausgeführt wurden. Das Einfeldsystem weist eine Stützweite von 10,75 m auf und der Querschnitt ist konstant 75 cm hoch (Bild 3). Die Tragwerke haben an der Plattenunterseite eine Plattenbreite von b = 4,89 m, welche nach oben hin einseitig breiter wird. Die ursprüngliche Querkraftbemessung erfolgte auf Basis des schweren Lastentzug „S-Zug“ nach [16] und es sind lediglich Aufbiegungen am Auflagerrand ausgeführt worden. Der Nachweis wird für einen Plattenstreifen mit einer Breite von 1,0 m geführt. Das Tragwerk wurde mit einer Betongüte B400 hergestellt. Dies entspricht in Anlehnung an die ÖNORM B4008-2 [11] in etwa einer Betongüte C25/ 30 nach EC2. Als Bewehrungsstahl wurde Rippentorstahl 50 verwendet. Bild 2: Ermittlung der Querkraftdeckungslinie durch das Verschieben des Schubrisses entlang einer Platte oder eines Balkens Tabelle 1: Materialkennwerte der verwendeten Baustoffe nach ÖNORM B4008-2 Baustoff Druck Zug E-Modul [-] [MPa] [MPa] [kN/ mm²] Beton B400 f ck = 26,4 f ctk,0.05 = 1,9 E cm = 31,9 Rippentorstahl 50 f yk = 500,0 E s = 205,0 Die Querkraftbewehrung im unmittelbaren Auflagerbereich besteht aus zwei Reihen von aufgebogenen Längsstäben (jeweils Ø30/ 360 mm, Bild 3). Für den Plattenstreifen können daher 2,78 aufgebogene Stäbe je Meter berücksichtigt werden. Zusätzlich wurden Ø30/ 180 mm durchgehend verlegt. Der untere Biegepunkt der ersten Reihe ist 1,22 m von der Auflagerachse entfernt, während der Abstand der Aufbiegungen untereinander 0,87 m beträgt (ρ w ≈ 0,16 %). Dieser ist somit höher als die statische Nutzhöhe von ca. 0,7 m, weshalb beim Querkraftnachweis nach EC2 nur der Betonwiderstand nach (Gl. 1) angesetzt werden kann (siehe Abschnitt 1 Eine zusätzliche Bügelbewehrung ist nicht vorhanden. In Querrichtung wurde eine Bewehrung Ø16/ 125 mm angeordnet, welche oberhalb der Hauptbewehrung liegt. Hier wurde ebenfalls jeder zweite Stab aufgebogen. Ein Bewehrungsnetz an der Plattenoberseite ist zudem vorhanden (längs: Ø16/ 170 mm, quer: Ø10/ 200 mm). 3.2 Einwirkung Die Ermittlung der Schnittgrößen erfolgt mit Hilfe einer Excel-Berechnung, wobei die Belastung vereinfachend über die gesamte Plattenbreite gemittelt wurde. Die ständigen Lasten wurden dabei gemäß Originalplänen ermittelt und die spezifischen Wichten nach Eurocode angesetzt. Diese Lasten beinhalteten das Eigengewicht der Konstruktion sowie die Ausbaulasten aufgrund des Schotterbetts, des Randbalkens, der Geländer sowie der Kabeltrasse. Im Rahmen dieser Beurteilung wurde das Lastmodell 71 [17] einschließlich des anzusetzenden Laststeigerungsfaktors α = 1,21 für den Neubau angesetzt. Die einwirkenden Lasten wurden zudem mit dem dynamischen Faktor vergrößert, welcher für Gleise mit sorgfältiger Instandhaltung ermittelt wurde. Zudem wur- 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 145 Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen de die nach [17] zulässige gleichmäßige Verteilung der Einzellasten des Lastmodells 71 angewendet, um einen günstigeren Querkraftverlauf zu erzielen. Bild 4 zeigt den Querkraftverlauf für die Umhüllende aus ständigen und veränderlichen Lasten (rote Linie). 3.3 Widerstand nach dem PSC-Modell Nachfolgend wird exemplarisch der Widerstand nach PSC-Modell (Abschnitt 2) für die Querkraftdeckungslinie in Bild 4 für drei Punkte ermittelt. Zu Beginn wird überprüft, in welchen Nachweisschnitten A-A aufgebogene Längsstäbe geschnitten wird. In all diesen Querschnitten darf die idealisierte Rissneigung des potentiellen Schubrisses auf 36° abgemindert werden, wenn gerippter Betonstahl verwendet wird. Anschließend werden die potentiellen Schubrisse mit ihrer idealisierten Rissneigung für jeden Schnitt konstruiert (Beispiel Schnitt A-B in Bild 1). Der Fußpunkt liegt auf der Schwerachse der Bewehrung, während der Kopfpunkt am unteren Ende der Druckzone (d c ≈ 0,8·z = 0,72·d) liegt. Eine zur Schwerachse um die Rissneigung β cr geneigte Linie kennzeichnet nun den schrägen Part des potentiellen Schubrisses, welcher zum jeweiligen Nachweisschnitt A-A gehört. Dadurch kann zugleich die äußerste Nachweisstelle ermittelt werden. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der potentielle Schubriss durch den Rand der Auflagerplatte verläuft. Für die konstruierte schräge Linie (potentieller Schubriss) werden alle von der geneigten Linie geschnittenen Reihen von Bewehrungselementen (aufgebogene Längsstäbe und Bügel) zur Ermittlung des Querkraftwiderstands herangezogen. Für die Platte ergeben sich nun drei wesentliche Bereiche: Bereiche in dem keine, ein oder zwei aufgebogene Längsstäbe vom potentiellen Schubriss geschnitten werden. Bild 3: Beispielbrücke: (a) Querschnitt inkl. Randbalken und Aufbauten, (b) System in Längsrichtung, Details zur Querkraftbewehrung 146 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen 3.3.1 Bereiche, in denen keine aufgebogenen Längsstäbe vom potentiellen Schubriss geschnitten werden Im Bereich zwischen Schnitt 0, rechts in Bild 4 kann nach Gl. (5) lediglich der Betonwiderstand angesetzt werden (Gl. 7). In allen anderen Bereichen muss ebenfalls der Betonwiderstand berechnet werden, um den Gesamtwiderstand nach Gl. (5) zu ermitteln. Zu beachten ist, dass der Längsbewehrungsgrad, und somit der Querkraftwiderstand des Betons in Richtung des Auflagers, nach jeder Aufbiegung abnimmt. Der Querkraftwiderstand des Betons für verschiedene Bereiche ergibt sich zu: 3.3.2 Bereiche, in denen eine einzelne Reihe aufgebogener Längsstäbe mit unterschiedlicher Neigung βcr des potentiellen Schubrisses geschnitten wird Im Bereich zwischen Schnitt 0 und 1 bzw. 2 und 3 in Bild 4 werden die Traganteile von Beton und Stahl kombiniert und die Ermittlung der Querkraftwiderstands erfolgt nach Gl. (5). Da gerippter Bewehrungsstahl verwendet wird, kann der Interaktionsfaktor k i für jede Stelle gemäß Gl. (8) ermittelt werden. Die Komponente des Querkraftwiderstands der Bewehrung ergibt sich zu: mit mit mit Der Bemessungswert der Verankerungslänge l bd zur Ermittlung des anrechenbaren Bemessungswerts der Stahlspannung σ sd ist nach EC2 zu ermitteln. Da ein aufgebogener Längsstab zur Stabachse um den Winkel α i = 45° geneigt ist, kann Verbundbereich 1 bei der Ermittlung von η 1 in Rechnung gestellt werden. Der Beiwert η 2 ist 1,0 für Stäbe mit einem Durchmesser ϕ ≤ 32 mm. mit Der Gesamtwiderstand ergibt sich somit zu: mit mit mit 3.3.3 Bereiche, in denen zwei Reihen von aufgebogenen Längsstäben unter dem Winkel βcr = 36° geschnitten werden Im Bereich zwischen Schnitt 1 und 2 in Bild 4 werden die Traganteile von Beton und Stahl kombiniert und die Ermittlung des Querkraftwiderstands erfolgt ebenfalls nach Gl. (9). Der Interaktionsfaktor wird durch die im Vergleich zum Betontraganteil größeren Stahlanteile geringer. mit mit Der Gesamtwiderstand ergibt sich somit zu: mit 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 147 Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen mit Bild 4: Berechnung des Querkraftwiderstands nach dem PSC-Modell 3.4 Beurteilung Bild 4 zeigt einen Vergleich des Querkraftwiderstands V Rd nach dem PSC-Modell (Schwarz) mit der einwirkenden Querkraft V Ed (Rot). Bei Ermittlung des Querkraftwiderstands nach EC2 ergibt sich ein rechnerisches Defizit im Auflagerbereich. Trotz des Vorhandenseins von aufgebogenen Längsstäben, kann lediglich der Betonwiderstand nach Gl. (1) angesetzt werden, da die zulässigen Abstände zwischen den Aufbiegungen nicht eingehalten werden. Während für dieses Brückenobjekt nach einer Beurteilung gemäß EC2 eine wirtschaftlich fragwürdige und aufwändige Schubverstärkung erforderlich wäre oder eine entsprechende Maßnahme für die Nutzung getätigt werden müsste, kann basierend auf dem in Abschnitt 2 erläuterten Nachweismodells eine ausreichende Querkrafttragfähigkeit V Rd bescheinigt werden (siehe Bild 4). Die Kombination der Tragmechanismen von Beton und Stahl (eine Reihe aufgebogener Längsstäbe) liefert die fehlende Schubtragfähigkeit zur Erfüllung des Nachweises im Auflagerbereich. Nur in einem kleinen Bereich können beide Reihen von aufgebogenen Längsstäben zum Nachweis angesetzt werden (1,60 ≤ x ≤ 1,90 in Bild 4). 4. Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde das normative Modell des potentiellen Schubrisses zur Ermittlung des Querkraftwiderstands von Balken und Platten mit Aufbiegungen vorgestellt. Der potentielle Schubriss wird grafisch konstruiert und teilt das Bauteil gedanklich in zwei Hälften. Der Querkraftwiderstand wird auf Basis eines vertikalen Kräftegleichgewichts am Schnittufer dieses Schubrisses ermittelt. Je nachdem ob innerhalb des schrägen Rissufers eine Bewehrungsstab geschnitten wird, ergeben sich querkraftbewehrte und -unbewehrte Bereiche, wobei für jeden Bereich ein eigenes Modell angewendet wird. Für Bereiche ohne Bewehrungsstäbe wird ein bestehender Ansatz verwendet, welcher an der EPFL Lausanne entwickelt wurde und die Grundlage für die Neufassung des Eurocode 2 bildet. Für Bereiche mit Bewehrungsstäben wurde dieser dehnungsbasierte Modellansatz erweitert, und eine Überlagerung eines Stahltraganteils mit dem Betontraganteil abgeleitet. Die statische Nachrechnung einer Plattenbrücke mit Aufbiegungen zeigt zudem das Potenzial des hergeleiteten Ansatzes auf. Während eine Beurteilung der Querkrafttragfähigkeit nach dem aktuellen Normenstand Eurocode 2 eine aufwändige Ertüchtigung ergeben würde, kann die Schubtragfähigkeit auf Basis der vorgeschlagenen Berechnungsmodelle am Auflager nachgewiesen werden. Zum jetzigen Zeitpunkt konnte dieser Ansatz aufgrund fehlender experimenteller Untersuchungen nur anhand von Schubversuchen mit gerippten Stäben verifiziert werden. Im nächsten Schritt soll das Berechnungsmodell auch für die häufig verwendeten glatten Stäbe erweitert werden. Danksagung Diesem Artikel liegen Teile des im Auftrag der ÖBB- Infrastruktur AG durchgeführten Forschungsprojekts „Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken aus dem Zeitraum 1950 bis 1990“ zugrunde. Den Auftraggebern wird für deren finanzielle Unterstützung und die produktive Zusammenarbeit im Rahmen dieses Forschungsvorhabens gedankt. 148 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Bestimmung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen Literatur [1] DIN EN 1992-2: Eurocode 2 - Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton- und Spannbetontragwerken - Teil 2: Betonbrücken - Bemessungs- und Konstruktionsregeln. DIN Deutsches Institut für Normung e. V., Berlin, Ausgabe April 2013. [2] DIN EN 1992-2/ NA: Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 2: Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton- und Spannbetontragwerken Teil 2: Betonbrücken - Bemessungs- und Konstruktionsregeln. DIN Deutsches Institut für Normung e. V., Berlin, Ausgabe April 2013. [3] Hegger, J., Karakas, A., Pelke, E., Schölch, U.: Zu Querkraftgefährdung bestehender Spannbetonbrücken Teil 1: Grundlagen. In: Beton- und Stahlbetonbau 104 (2009), Heft 11, S. 737 - 746. 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[13] Huber, T.: Beurteilung der Querkrafttragfähigkeit bestehender Stahlbetonplattenbrücken mit Aufbiegungen. Dissertation, TU Wien, 2019. [14] Huber, T., Huber, P., Fasching, S., Vill, M., Kollegger, J.: Querkrafttragverhalten von Stahlbetonbauteilen mit aufgebogenen Bewehrungsstäben auf Basis photogrammetrischer Messungen. In: Bauingenieur 95.6 (2020) [15] Huber, T., Huber, P., Kollegger, J.: Querkraftmodell für bestehende Stahlbetonbauteile mit aufgebogenen Längsstäben. Angenommen: Beton- und Stahlbetonbau 115(8) (2020) [16] ÖN B 4203: Berechnung und Ausführung der Tragwerke; Massivbau; Eisenbahnbrücken. Österreichisches Normungsinstitut, Wien, Ausgabe Juli 1963. [17] ÖN EN 1991-2: Eurocode 1: Einwirkungen auf Tragwerke - Teil 2: Verkehrslasten auf Brücken. Österreichisches Normungsinstitut Wien. Ausgabe März 2012.