eJournals Brückenkolloquium 4/1

Brückenkolloquium
kbr
2510-7895
expert verlag Tübingen
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2020
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Neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten bestehender Spannbetonbrücken aus aktuellen Labor- und Feldversuchen

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Oliver Fischer
Nicholas Schramm
Sebastian Felix Gehrlein
Aufgrund der ansteigenden Verkehrslasten und der Fortschreibung der Nachweisformate für die Bauwerkswiderstände ergeben sich bei der Nachrechnung bestehender Brückenbauwerke mit aktuellen Regelwerken in vielen Fällen große rechnerische Defizite, vor allem in Bezug auf den Nachweis einer ausreichenden Querkrafttragfähigkeit. Während eine Berücksichtigung von Reserven bei der Planung von neuen Bauwerken sinnvoll ist und nur zu moderaten Zusatzkosten führt, ergeben sich dadurch im Bestand in der Regel aufwändige Ertüchtigungsmaßnahmen und Behinderungen des vorhandenen Verkehrs. Für die Nachrechnung und Beurteilung bestehender Brückenbauwerke kommt daher wirklichkeitsnahen Ansätzen und Modellen erhebliche Bedeutung zu. Als Grundlage für die Verfeinerung der Modellansätze dienen hierbei die Ergebnisse von entsprechenden experimentellen Untersuchungen. Der vorliegende Beitrag stellt diesbezüglich aktuelle experimentelle Forschungsvorhaben im Labor und in-situ an realen Bauwerken vor. Hierbei werden ausgewählte Ergebnisse der jeweiligen experimentellen Untersuchungen vorgestellt und diskutiert. Für die Versuche wurde der Fokus dabei auf Prüfkörper mit wirklichkeitsnahen baupraktischen Abmessungen gelegt.
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4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 149 Neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten bestehender Spannbetonbrücken aus aktuellen Labor- und Feldversuchen Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Oliver Fischer Technische Universität München, Lehrstuhl für Massivbau, München, Deutschland Nicholas Schramm, M.Sc. Technische Universität München, Lehrstuhl für Massivbau, München, Deutschland Sebastian Felix Gehrlein, M.Sc. Technische Universität München, Lehrstuhl für Massivbau, München, Deutschland Zusammenfassung Aufgrund der ansteigenden Verkehrslasten und der Fortschreibung der Nachweisformate für die Bauwerkswiderstände ergeben sich bei der Nachrechnung bestehender Brückenbauwerke mit aktuellen Regelwerken in vielen Fällen große rechnerische Defizite, vor allem in Bezug auf den Nachweis einer ausreichenden Querkrafttragfähigkeit. Während eine Berücksichtigung von Reserven bei der Planung von neuen Bauwerken sinnvoll ist und nur zu moderaten Zusatzkosten führt, ergeben sich dadurch im Bestand in der Regel aufwändige Ertüchtigungsmaßnahmen und Behinderungen des vorhandenen Verkehrs. Für die Nachrechnung und Beurteilung bestehender Brückenbauwerke kommt daher wirklichkeitsnahen Ansätzen und Modellen erhebliche Bedeutung zu. Als Grundlage für die Verfeinerung der Modellansätze dienen hierbei die Ergebnisse von entsprechenden experimentellen Untersuchungen. Der vorliegende Beitrag stellt diesbezüglich aktuelle experimentelle Forschungsvorhaben im Labor und in-situ an realen Bauwerken vor. Hierbei werden ausgewählte Ergebnisse der jeweiligen experimentellen Untersuchungen vorgestellt und diskutiert. Für die Versuche wurde der Fokus dabei auf Prüfkörper mit wirklichkeitsnahen baupraktischen Abmessungen gelegt. 1. Einleitung Ein Großteil des Brückenbestands in Deutschland weist Nutzungsdauern von 40 bis 60 Jahren auf und wurde zumeist in Stahl- und Spannbetonbauweise errichtet. Als Teil der Brückenertüchtigung werden zur Zustandsbeurteilung dieser Bauwerke Nachrechnungen durchgeführt. Diese sind insbesondere vor dem Hintergrund von im Vergleich zum Errichtungszeitraum erhöhten Verkehrsbeanspruchungen, geänderter Bemessungsvorschriften aufgrund von technischen Weiterentwicklungen sowie zur Bewertung der Auswirkungen von ggf. vorhandenen Schäden auf die Tragfähigkeit erforderlich. Bei der Nachrechnung von Spannbetonbrücken zeigen sich dabei häufig ausgeprägte rechnerische Defizite beim Nachweis der Querkrafttragfähigkeit (vgl. [1], [2]), wenngleich bei Brückenprüfungen nur selten damit korrelierende Schadensbilder festgestellt werden können. Aufgrund dieser Nachweisdefizite werden oftmals aufwändige Verstärkungsmaßnahmen bis hin zu Neubauten der Brücken gerechtfertigt, die eine erhebliche volkswirtschaftliche Belastung darstellen. Der Entwicklung von realitätsnäheren Ingenieurmodellen zur Ermittlung der Querkrafttragfähigkeit von Brücken im Bestand kommt daher eine besondere Rolle zu. Vor diesem Hintergrund bilden wissenschaftliche Untersuchungen zur Querkrafttragfähigkeit auch heute noch einen wichtigen Schwerpunkt nationaler und internationaler Forschung. Zur Fortschreibung der Nachrechnungsrichtlinie für Straßenbrücken sind experimentelle Untersuchungen als Grundlage für die (Weiter-)Entwicklung realitätsnaher Querkraftmodelle von großer Bedeutung. Hierbei sind insbesondere großformatige Bauteilversuche mit baupraktisch relevanten Querschnittsabmessungen sowie gezielte Untersuchungen zu ausgewählten für Bestandsbrücken charakteristischen Merkmalen von großer Relevanz. Mit Blick auf die Ergebnisse diverser Nachrechnungen und bisher durchgeführter Versuche (vgl. [3]) wurde das Querkrafttragverhalten im Bereich der Innenstütze durchlaufender Spannbetonbrücke bisher nur unzureichend experimentell untersucht. Dies ist vor allem damit begründet, dass entsprechende Versuche im Labor in der Regel einen erheblichen Aufwand nach sich ziehen. Am Lehrstuhl für Massivbau der TUM wurden vor diesem Hintergrund im Rahmen zweier Forschungsvorhaben nicht-konventionelle Versuchskonzepte verfolgt, 150 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten bestehender Spannbetonbrücken aus aktuellen Labor- und Feldversuchen um Querkraftversuche im Bereich der Innenstütze von durchlaufenden Spannbetonträgern durchzuführen. So wurden einerseits in-situ Versuche an einem realen Bauwerk und andererseits spezielle Laborversuche an Teilsystemen (sog. Substrukturversuche) durchgeführt. Der vorliegende Beitrag stellt diese Konzepte kurz vor und geht auf ausgewählte neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten aus den Versuchen ein. 2. Aktuelle Forschung 2.1 Substrukturversuche im Rahmen des BASt-Forschungsvorhabens „Beurteilung der Querkraft- und Torsionstragfähigkeit von Brücken im Bestand erweiterte Bemessungsgrundsätze“ Im Rahmen eines größeren Verbundforschungsprojektes (vgl. hierzu auch [4]-[9]) wurden an der Technischen Universität München umfangreiche experimentelle Untersuchungen zum Einfluss nicht mehr zugelassener Bügelformen, sowie generell von einem geringen Querkraftbewehrungsgehalt, auf die Querkrafttragfähigkeit durchgeführt (für weiterführende Informationen und Details wird auf [10], [11], [12] verwiesen). Um möglichst viele Einzelversuche mit vergleichsweise geringem Aufwand durchführen und gleichzeitig die Beanspruchungsverhältnisse im Bereich der Innenstütze möglichst realitätsnah abbilden zu können, wurde ein neuartiges Versuchskonzept angewendet. Dabei wurden lediglich ausgewählte Ausschnitte von Spannbetonträgern (sogenannte Substrukturen) geprüft. Abbildung 1 zeigt eine Animation des Versuchsstands und eine Darstellung des „Prüfbereichs“. Mit diesem Versuchskonzept können nahezu beliebige Momenten-Querkraft-Interaktionen für großmaßstäbliche Versuchskörper geprüft werden. Aufgrund des vergleichsweise geringen Aufwands bei der Versuchsdurchführung lassen sich zudem mehr Versuche durchführen. Abbildung 1: Versuchsanlage für die Prüfung von Balkenelementen nach dem Prinzip der „Substrukturtechnik“ [13] 2.2 Feldversuche „Saalebrücke Hammelburg“ Neben den Laborversuchen bilden in-situ Versuche am realen Bauwerk einen weiteren wichtigen Baustein zur Beurteilung des Querkrafttragverhaltens bestehender Spannbetonbrücken. Zum einen können mittels einzelner Feldversuche die Ergebnisse aus umfangreichen Testserien im Labor unter wirklichkeitsnahen Bedingungen überprüft und bestätigt werden. Zum anderen können am bestehenden Bauwerk weitere Parameter wie etwa Maßstabseffekte oder der Einfluss des Längsbewehrungsgrades untersucht werden, die unter Laborbedingungen oft nicht ausreichend darstellbar sind. Nach intensiver Recherche und umfangreichen Vorbereitungen konnte der Lehrstuhl für Massivbau der Technischen Universität München auf Initiative und mit Förderung des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) sowie der Obersten Baubehörde im bayerischen Staatsministerium des Inneren im Jahr 2017 Feldversuche an einer stillgelegten Brücke in der Nähe der fränkischen Stadt Hammelburg durchführen. An der 1955 fertiggestellten Spannbetonbrücke (dreistegiger Plattenbalkenquerschnitt) konnten aufgrund der gegebenen Randbedingungen in fünf der sieben Felder Belastungsversuche bis in den Nachbruchbereich verwirklicht werden. Die dazu notwendigen Lasten, die in allen untersuchten Feldern zu einem auflagernahen Querkraftversagen des mittleren Steges führten, wurden mittels einer über die jeweiligen Felder spannenden Belastungseinrichtung mit insgesamt sechs weggesteuerten Hydraulikzylindern aufgebracht (vgl. Abbildung 2). Um klare Randbedingungen zu schaffen, wurde für die Versuchsdurchführung der Mittelsteg mittels Trennschnitten von den äußeren Randstegen gelöst. Der untersuchte Plattenbalkenquerschnitt hatte somit eine Gesamtbreite von 3,95 m, eine Höhe von 1,10 m und eine Stegbreite von 0,70 m (Feldbereich) bis 1,20 m (Stützbereich). Die Stützweite der untersuchten Felder betrug 20,0 m (Randfelder) bzw. 24,6 m (Innenfelder). Der Querkraftbewehrungsgrad lag im kritischen Bereich der Stege bei lediglich 30,7% bis 36,5% der aktuell nach DIN EN 1992-2 geforderten Mindestquerkraftbewehrung. Sowohl die Ausführung der Bügel aus glattem Stahl, die Bügelform (zweiteilige Bügel mit Endhaken) als auch der geringe Querkraftbewehrungsgrad sind typisch für die Konstruktionszeit der Bestandsbrücke. Die Materialeigenschaften der Längs- und Querkraftbewehrung, des verwendeten Betons und der Vorspannung wurden anhand von Begleitversuchen bestimmt. Die Streckgrenze des Betonstahls wurde mit 273,8 N/ mm² und die mittlere Vorspannung der Spannglieder mit 630 N/ mm² ermittelt, der Ortbeton des Überbaus wurde anhand der gemessenen Druck- und Spaltzugfestigkeiten in die Betonklasse C45/ 55 eingestuft. Weitere Angaben zur Konzeption der Versuche, zum Versuchsaufbau, dem Messprogramm sowie zu weiteren 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 151 Neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten bestehender Spannbetonbrücken aus aktuellen Labor- und Feldversuchen Parametern der untersuchten Bestandsbrücke sind [14], [15], [16] zu entnehmen. Abbildung 2: Querschnitt der untersuchten Plattenbalkenbrücke sowie der Belastungseinrichtung [14] 3. Erkenntnisse aus Labor- und Feldversuchen zur Querkrafttragfähigkeit von Spannbetonbrücken 3.1 Allgemeines Die im Rahmen der Forschungsvorhaben durchgeführten Versuche zielten insbesondere auf die Untersuchung der Einflüsse von für Bestandsbrücken typischen Charakteristika an großmaßstäblichen Versuchskörpern ab. Nachfolgend werden ausgewählte Ergebnisse der jeweiligen Versuchsreihen dargestellt. 3.2 Laborversuche an großformatigen Trägerausschnitten Abbildung 3 und Abbildung 4 zeigen beispielhafte Bruchbilder von Spannbeton-Durchlaufträger-elementen mit Rechteck und Plattenbalkenquerschnitt. Für beide Versuchskörper ist die klare Lokalisierung eines diskreten kritischen Schubrisses erkennbar. Abbildung 3: Bruchbild eines Spannbeton-Durchlaufträgerelements mit rechteckigem Querschnitt (h = 80 cm, σ cp = 2,5 MPa, ρ w = 0,905 ‰) [13] Abbildung 4: Bruchbild eines Spannbeton-Durchlaufträgerelements mit T-Querschnitt (h = 110 cm, σ cp = 2,0 MPa, ρ w = 1,005 ‰) [12] Ein Vergleich der bezogenen Betontraganteile der Querkrafttragfähigkeit (auf die statische Nutzhöhe, die Betondruckfestigkeit und die Querschnittsbreite bezogene und um den Bügeltraganteil sowie Vertikalanteil der Vorspannung bereinigte Querkrafttragfähigkeit) zeigt, dass dieser bei den Versuchskörpern mit Plattenbalkenquerschnitt um bis zu 22 % höher liegt als für Rechteckquerschnitte. Dies bestätigt somit eine generelle Erhöhung der Querkrafttragfähigkeit durch seitliche Flansche, die auch aus weiteren experimentellen Untersuchungen der Literatur weitestgehend bekannt ist. Bei T-Querschnitten bewirken die oben genannten Umstände, dass der kritische Schubriss mit fortschreitender Rissbildung oftmals als horizontaler Deliminationsriss entlang der Unterkante des Flansches verläuft, was auf eine deutliche Rotation des kritischen Schubrisses sowie eine Biegebeanspruchung des Flansches hindeutet. Dieser typische Rissverlauf konnte für alle Versuche mit Plattenbalkenquerschnitt beobachtet werden. Dabei zeigte sich ein seitliches Ausstrahlen des Risses in den Flansch. Im Vergleich zu den Trägern ohne Flansch war das Versagen duktiler, es kam zu keiner schlagartigen Lokalisierung des kritischen Schubrisses und durch die lastverteilende Wirkung des Flansches bildeten sich tendenziell mehr Risse aus. Darüber hinaus verfügten die Träger mit Plattenbalkenquerschnitt über höhere Restquerkraftwiderstände nach dem Bruch. Es zeigt sich somit ein deutlicher Einfluss der Querschnittsform, der in den meisten aktuellen Querkraftmodellen jedoch nicht oder nur unzureichend erfasst wird. Abbildung 6 stellt einen Vergleich der Rissbildung für einen Träger ohne Querkraftbewehrung (Abbildung 6a-c) und einen Versuchskörper mit einem Querkraftbewehrungsgehalt von ρ w = 2,513 ‰ (Abbildung 6d-f) für jeweils gleiche Laststufen dar. Bei einer Querkraft von 420 kN (Abbildung 6a und d), kurz nach Einsetzen einer ersten Schrägrissbildung, lag zunächst ein relativ ähnliches Rissbild vor. Bei weiterer Laststeigerung zeigte sich bei dem nicht querkraftbewehrten Träger jedoch eine weitaus stärkere Rissbildung und nach der deutlichen Ausbildung von Schrägrissen war nur noch eine vergleichsweise geringe Laststeigerung bis zum Bruch 152 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten bestehender Spannbetonbrücken aus aktuellen Labor- und Feldversuchen möglich. Diese Laststeigerung lässt sich auf einen Spannungszuwachs im Spannglied zurückführen, der sich auch in den Ergebnissen der kamerabasierten optischen Messungen (vgl. Abbildung 6c) in Form von Dehnungsänderungen entlang der Spanngliedachse deutlich zeigt. Für den Versuchsträger mit vergleichsweise hohem Bügelbewehrungsgehalt war nach Schrägrissbildung, durch die Aktivierung der Bügelbewehrung, noch eine deutliche Laststeigerung möglich. Der Vergleich verdeutlicht den Einfluss des Querkraftbewehrungsgehaltes auf die Schubrissbildung. Dieser spiegelt sich auch in unterschiedlichen Werten für die Rissöffnung und -gleitung wieder. So liegen im Bruchzustand für Träger mit geringem Bügelbewehrungsgrad (ρ w = 0,5-1,0 ρ w,min , wie bei Bestandsbrücken üblich) im Vergleich zu Trägern mit hohem Querkraftbewehrungsgrad große Rissöffnungen vor. Dies führt wiederum dazu, dass der Querkrafttraganteil der Rissreibung in diesem Fall in Frage zu stellen ist. Abbildung 6: Vergleich der Rissbildung (dargestellt über die Hauptformänderung) für zwei Versuchsträger mit unterschiedlichem Querkraftbewehrungsgehalt [13] Ein Vergleich der Bruchlasten für die untersuchten Spannbetonträgerelemente mit Rechteckquerschnitt in Abhängigkeit des Querkraftbewehrungsgrades (vgl. Abbildung 5) verdeutlicht, dass die restlichen Traganteile neben denen der Bügelbewehrung sehr dominant sind. Neben eher untergeordneten Traganteilen sowie der Mitwirkung der geneigten Spannglieder basiert der Querkraftwiderstand der untersuchten Trägerelemente daher insbesondere auf dem Betontraganteil. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 153 Neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten bestehender Spannbetonbrücken aus aktuellen Labor- und Feldversuchen Abbildung 5: Einfluss des Querkraftbewehrungsgehaltes auf die maximale Querkrafttragfähigkeit für Spannbetonträgerelemente mit Rechteckquerschnitt [13] Ein Betontraganteil wird bei der Querkraftbemessung gemäß Fachwerkmodell nach EC 2 aktuell jedoch nicht explizit, sondern lediglich indirekt und in geringerem Maße über einen (für geringe Querkraftbewehrungsgrade fraglichen) Anteil aus Rissreibung berücksichtigt. Somit können aktuellere Modellvorstellungen, die einen „Betontraganteil“ explizit berücksichtigen, die Querkrafttragfähigkeit von Bestandsbrücken weitaus zutreffender beschreiben. Der Betontraganteil wird dabei in diesen Modellen entweder empirisch angesetzt, über das Tragverhalten eines Druckbogens beschrieben, oder der Druckzone zugesprochen. 3.3 Feldversuche an der Saalebrücke Hammelburg In Abbildung 7 ist exemplarisch die Rissbildung in den Mittelstegen für zwei der untersuchten Felder der Bestandsbrücke zum Zeitpunkt der maximalen Belastung dargestellt. Sowohl der kritische Schubriss als auch die sekundären Biegerisse im Bereich der Lasteinleitung sind deutlich erkennbar. Die Versuche in den Randfeldern wiesen einen deutlich flacheren Verlauf des kritischen Schubrisses auf, der mit einem etwas duktilerem Versagen dieser Träger korrelierte (vgl. Abbildung 7). Bedingt durch den flacheren Rissverlauf konnte bei diesen Versuchen - und analog zu den in Kapitel 3.2 beschrieben Laborversuchen - ein Teil der freiwerdenden Bruchlast durch Spannungszuwächse in den kreuzenden Spanngliedern aufgenommen werden. Eine deutliche Laststeigerung nach dem ersten Auftreten des kritischen Schubrisses war jedoch bei keinem Versuch zu beobachten. Bei den Versuchen in den Innenfeldern zeigte sich zudem ein sehr sprödes Versagen; mit oder kurz nach Bildung des ersten sichtbaren Schubrisses nahm die aufnehmbare Belastung schlagartig und deutlich ab. Abbildung 7: Vergleich der Rissbildung zwischen Auflagerachse und Hauptlasteinleitungspunkt für zwei der unter-suchten Mittelstege der Bestandsbrücke (Rand- und Innenfeld, vgl. [15]) Wie auch bei den Laborversuchen konnte bei allen in-situ Versuchen (in unterschiedlichem Umfang) ein horizontaler Deliminationsriss festgestellt werden. Dieser befand sich entweder zwischen Steg und Voute oder zwischen Voute und Flansch. Auch bei den Feldversuchen breiteten sich die Risse vom Deliminationsriss ausgehend sowohl schräg Richtung Lasteinleitung als auch diagonal Richtung Plattenrand aus. Anhand dieser Rissbildung im Flansch kann der an den Laborversuchen beobachtete Einfluss der Querschnittsform auf das Tragverhalten grundsätzlich bestätigt werden. In Abbildung 8 (oben) werden die Lastverformungskurven für vier der fünf durchgeführten Versuche (keine validen Messdaten für die Rissöffnung bei Versuch 4) dargestellt. Dazu wird die berechnete, über den Versuchsaufbau eingebrachte Querkraft am Ort des Hauptbelastungszylinders der vertikalen Verformung des Steges an dieser Stelle gegenübergestellt. Der deutliche Lastabfall nach Erreichen der Maximalkraft belegt das spröde Versagen, das bei den Querkraftversuchen an der Bestandsbrücke beobachtet werden konnte. Zudem zeigt sich das grundsätzlich ähnliche Verhalten der Versuche in den Rand- (V1 und V3) und Innenfeldern (V2 und V4). 154 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten bestehender Spannbetonbrücken aus aktuellen Labor- und Feldversuchen Die größere Steifigkeit der Versuche in den Randfeldern ist dabei hauptsächlich durch die geringere Feldlänge in den Randbereichen bedingt. Im unteren Teil von Abbildung 8 ist die zu der gemessenen Versuchskraft korrespondierende Rissöffnung des Steges wiedergegeben. Der dargestellte Wert bildet den mittleren Messwert von drei induktiven Wegaufnehmern ab, die die Höhenänderung des belasteten Steges aufzeichneten. Auch an dieser Messung lässt sich das spröde Versagen der Versuchsträger belegen. Für alle Versuche konnte erst unmittelbar vor oder mit Erreichen der maximalen Tragfähigkeit Rissöffnungen von mehr als 0,1 mm verzeichnet werden. Nach Auftreten der ersten messbaren Risse erhöhen sich diese Werte zudem schlagartig und deutlich. Die über die Höhenänderung des Stegs aufgenommenen, kritischen Schubrisse können dabei ab einem Lastniveau von 92,2 % (Versuch 5) bis 100 % (mit Erreichen der Traglast, Versuch 2) der maximalen Versuchslast verzeichnet werden. Der Mittelwert für das Lastniveau bei Schubrissbildung beträgt für die dargestellten Versuche 96,2 %. Speziell dieses hohe Lastniveau bestätigt einige der aus den Laborversuchen gewonnenen Erkenntnisse (vgl. Kapitel 3.1). Unter den gegebenen Randbedingungen der Versuche an einer bestehenden Brücke konnte kein signifikanter Einfluss aus Rissreibungseffekten auf die Querkrafttragfähigkeit festgestellt werden. Da sich die kritischen Risse erst kurz vor oder mit Erreichen der Maximallast bildeten, konnten über die zu diesem Zeitpunkt entstanden Risse im Maximalfall nur noch sehr geringe zusätzliche Lasten übertragen werden. Vielmehr resultiert die Laststeigerung nach Rissbildung aus einem Spannungszuwachs in den, den kritischen Schubriss kreuzenden, Spanngliedern. Ähnliches gilt für die, nur in sehr geringem Umfang vorhandene (vgl. Kapitel 2.2) Querkraftbewehrung. Aufgrund des geringen Querkraftbewehrungsgrades können die mit Rissbildung freiwerdenden Kräfte nicht von den vorhandenen Bügeln aufgenommen werden. Bei genauer Betrachtung der aufgetretenen Risse zeigte sich, dass alle den Schubriss kreuzenden Bügel an dieser Stelle ein Zugversagen (Bruch der Bügelbewehrung, vgl. [15]) aufwiesen. Aufgrund des geringen Einflusses der Bügelbewehrung und anderer Mechanismen wie der Rissreibung auf die Querkrafttragfähigkeit der untersuchten Brücke, kann - zumindest unter den gegebenen Rahmenbedingungen (massiver Plattenbalkenquerschnitt) - davon ausgegangen werden, dass ein überwiegender Teil der aufgenommenen Querkraftbelastung über Betontraganteile wie etwa eine Druckbogenwirkung oder über die Betondruckzone aufgenommen wird. Somit belegen auch die am realen Bauwerk durchgeführten Versuche die Vorteile von Modellvorstellungen, die einen „Betontraganteil“ explizit berücksichtigen. Dies gilt speziell für die Nachrechnung von bestehenden Brücken, die oft in massiver Bauweise und mit geringen Querkraftbewehrungsgraden erstellt wurden. Abbildung 8: Rissöffnung im Vergleich zur Lastverformungskurve für vier exemplarische in-situ Versuche (vgl. [15]) 4. Zusammenfassung und Ausblick Die in diesem Beitrag vorgestellten nicht-konventionellen Versuchskonzepte, die im Rahmen zweier Forschungsvorhaben am Lehrstuhl für Massivbau der Technischen Universität München verwirklicht wurden, tragen dazu bei speziell das Querkrafttragverhalten von Bestandsbrücken im Bereich der Innenstützen noch realitätsnaher darstellen zu können. Dadurch können die Entwicklung von Ingenieurmodellen, die die Querkrafttragfähigkeit von bestehenden (Spannbeton-) Brücken möglichst exakt darstellen, vorangetrieben und damit auf wissenschaftlicher Basis die notwendige Fortschreibung der aktuell gültigen Nachrechnungsrichtlinie angestoßen werden. Die Substrukturversuche im Labor und die in-situ Versuche an einer bestehenden Brücke ergänzen sich dabei in vielfältiger Weise und belegen u.a. den Einfluss der Querschnittsform auf die Querkrafttragfähigkeit. Weiterhin zeigten beide Versuchsreihen, dass der Anteil der Querkraftbelastung, der über Betontraganteile wie die Druckbogenwirkung oder die Betondruckzone abgetragen werden kann, aktuell noch nicht genügend berücksichtigt wird. Weitere Aspekte und Fragestellungen, die sich aus den Ergebnissen der vorgestellten Versuche ergeben haben, werden aktuell oder im Rahmen zukünftiger Forschungsvorhaben bearbeitet. Im Zuge dessen werden u.a. die Auswirkungen des Längsbewehrungsgrades, der Querschnittsform, der Spanngliedlage und die des Spannkraftzuwachses auf die Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Brückenbauwerken untersucht. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 155 Neue Erkenntnisse zum Querkrafttragverhalten bestehender Spannbetonbrücken aus aktuellen Labor- und Feldversuchen Danksagung Unser besonderer Dank gilt dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) sowie der Obersten Baubehörde im bayerischen Staatsministerium des Inneren für die Ermöglichung der Großbelastungsversuche an der Saalebrücke in Hammelburg. Darüber hinaus bedanken wir uns vor allem auch beim staatlichen Bauamt Schweinfurt für die hervorragende und stets konstruktive Zusammenarbeit, ohne die die Realisierung der Versuche so nicht möglich gewesen wäre. Zudem danken wir der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) für die Gewährung von Fördermitteln für das Verbundforschungsprojekt [4] zur Entwicklung erweiterter Bemessungsansätze für Querkraft und Torsion. Literaturverzeichnis [1] Fischer, O., et al.: Ergebnisse und Erkenntnisse zu durchgeführten Nachrechnungen von Betonbrücken in Deutschland. Beton- und Stahlbetonbau 109 (2014), H. 2, S. 107-127 [2] Fischer O., et al.: Nachrechnung von Betonbrücken, systematische Auswertung nachgerechneter Bauwerke. Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), Bericht B 124, 2016 [3] Reineck, K.,H.; Kuchma, D.,A.; Fitik, B.: Erweiterte Datenbanken zur Überprüfung der Querkraftbemessung für Konstruktionsbetonbauteile mit und ohne Bügel, Deutscher Ausschuss für Stahlbeton, Heft 597, 2012 [4] J. Hegger, R. Maurer, O. Fischer, K. Zilch et al.: Beurteilung der Querkraft und der Torsionstragfähigkeit von Brücken im Bestand - erweiterte Bemessungsansätze; BASt Projekt FE 15.0591/ 2012/ FRB, Schlussbericht, 2020 [5] Hegger, J. et al.: Erweiterte Nachweise zur Querkrafttragfähigkeit im Haupttragsystem. Beiträge zum 4. Brückenkolloquium - Fachtagung über Beurteilung, Planung, Bau, Instandhaltung und Betrieb von Brücken, 2020 [6] Herbrand, M.; Hegger, J.: Querkrafttragfähigkeit von Spannbetondurchlaufträgern mit geringen Bügelbewehrungsgraden. Beiträge zum 4. Brückenkolloquium - Fachtagung über Beurteilung, Planung, Bau, Instandhaltung und Betrieb von Brücken, 2020 [7] Stakalies, E.; Maurer, R.: Zur Anrechenbarkeit von Spanngliedern auf die Torsionslängsbewehrung. Beiträge zum 4. Brückenkolloquium - Fachtagung über Beurteilung, Planung, Bau, Instandhaltung und Betrieb von Brücken, 2020 [8] Gleich, P; Maurer, R.: Querkraftversuche an Spannbetondurchlaufträgern mit Plattenbalkenquerschnitt. Bauingenieur 93 (2018), Heft 2, S. 51-61. [9] Herbrand, M.; Classen, M.; Adam, V.: Querkraftversuche an Spannbetondurchlaufträgern mit Rechteck- und I-Querschnitt. Bauingenieur 92 (2017), Heft 11, S. 465-473. [10] Schramm, N; Fischer, O.; Scheufler, W.: Experimentelle Untersuchungen an vorgespannten Durchlaufträger-Teilsystemen zum Einfluss nicht mehr zugelassener Bügelformen auf die Querkrafttragfähigkeit. Bauingenieur, Band 94, 2019, S. 9-20 [11] Fischer, O.; Schramm, N.; Gehrlein, S.: Labor- und Feldversuche zur realitätsnahen Beurteilung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Spannbetonbrücken. Bauingenieur 92, Heft 11, S. 455-463, 2017 [12] Schramm, N.; Gehrlein, S.; Fischer, O.: Querkrafttragverhalten von großformatigen Spannbetonbalkenelementen mit Plattenbalkenquerschnitt - Ergänzende Laborversuche zu den in-situ-Querkraftversuchen an der Saalebrücke Hammelburg. Beton- und Stahlbetonbau 115 (2020), H. 1, S. 2-12 [13] Schramm, N.: Zur Querkrafttragfähigkeit von Spannbetonbalkenelementen unter besonderer Berücksichtigung der Bügelform, Dissertation (in Bearbeitung), Technische Universität München, 2020 [14] Gehrlein, S.; Landler, J.; Oberndorfer T.; Fischer, O.: Großversuche zur Querkrafttragfähigkeit bestehender Spannbetonbrücken an der Saalebrücke Hammelburg. Teil 1: Konzeption, Beurteilung des Bestands und Durchführung der Versuche. Beton- und Stahlbetonbau 113 (2018), H. 9, Ernst & Sohn, Berlin, S. 667-675 [15] Gehrlein, S.; Fischer, O.: Großversuche zur Querkrafttragfähigkeit bestehender Spannbetonbrücken an der Saalebrücke Hammelburg. Teil 2: Messprogramm, Versuchsergebnisse, Vergleich mit verschiedenen Berechnungsansätzen. Beton- und Stahlbetonbau 113 (2018), H. 10, Ernst & Sohn, Berlin, S. 696-704 [16] Gehrlein, S.; Fischer, O.: Full-scale shear capacity testing of an existing prestressed concrete bridge. Civil Engineering Design, Volume 1 (2019), Issue 2, Ernst & Sohn, Berlin, S. 64-73