Brückenkolloquium
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2510-7895
expert verlag Tübingen
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Intelligente Brücke: Datenaufbereitung und -analyse mittels modell- und datenbasierter Ansätze
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Sarah Dabringhaus
Ziel des bei der BASt eingerichteten Themenschwerpunkts „Intelligente Brücke“ ist die Entwicklung von Lösungen, die es gestatten, relevante Informationen direkt am Bauwerk zu erfassen sowie ganzheitlich zu bewerten und für ein prädiktives Erhaltungsmanagement bereitzustellen. Voraussetzung dafür ist die Erzeugung hochqualitativer und plausibler Daten. Sowohl modell- als auch datenbasierte Ansätze können dazu ihren Beitrag leisten. Durch eine Kombination beider
Ansätze sollen zukünftig die Stärken eines jeden Ansatzes weit möglichst durch die Potenziale des anderen Ansatzes unterstützt werden.
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4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 227 Intelligente Brücke: Datenaufbereitung und -analyse mittels modell- und datenbasierter Ansätze Sarah Dabringhaus Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), Bergisch Gladbach, Deutschland Zusammenfassung Ziel des bei der BASt eingerichteten Themenschwerpunkts „Intelligente Brücke“ ist die Entwicklung von Lösungen, die es gestatten, relevante Informationen direkt am Bauwerk zu erfassen sowie ganzheitlich zu bewerten und für ein prädiktives Erhaltungsmanagement bereitzustellen. Voraussetzung dafür ist die Erzeugung hochqualitativer und plausibler Daten. Sowohl modellals auch datenbasierte Ansätze können dazu ihren Beitrag leisten. Durch eine Kombination beider Ansätze sollen zukünftig die Stärken eines jeden Ansatzes weit möglichst durch die Potenziale des anderen Ansatzes unterstützt werden. 1. Einleitung Das Netz der Bundesfernstraßen (BfSt) umfasst derzeit knapp 40.000 Brücken mit einer Brückenfläche von rund 31 Mio. m² (Bundesanstalt für Straßenwesen 2020). Durch regelmäßige Bauwerksinspektionen, die vornehmlich aus visuellen Prüfungen zur Erfassung von Schäden und Mängeln bestehen, werden Bauwerke der BfSt hinsichtlich Standsicherheit, Verkehrssicherheit und Dauerhaftigkeit bewertet und ggf. erforderliche Maßnahmen zur Sicherstellung der Verfügbarkeit abgeleitet. Ein Großteil von Schäden entsteht im Inneren der Brückenkonstruktion. Diese werden meist erst bei fortschreitender Schädigung sichtbar und damit für einen Bauwerksprüfer als Grundlage für die Erhaltungsplanung erfassbar. Aus diesem Grund wird das derzeitige Erhaltungshaltungsmanagement für Brücken als reaktiv bezeichnet (Dabringhaus und Haardt 2019). Zu den aktuellen Herausforderungen der BfSt gehören vor allem steigende verkehrsbedingte und klimatische Einwirkungen sowie die Altersstruktur der Brücken, die mehrheitlich in den 1960er und -80er Jahren errichtet wurden (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2015). Um die Verfügbarkeit von Verkehrswegen langfristig bestmöglich sicherzustellen und den wachsenden Mobilitätsanforderungen gerecht werden zu können, gilt es vor allem den Herausforderungen adäquat zu begegnen und Voraussetzungen für vorausschauendes Handeln zu schaffen (Dabringhaus und Haardt 2019). Dafür wurde in der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) 2011 der Forschungsclusters „Intelligente Brücke“ ins Leben gerufen. Seither werden hierzu umfassende Konzeptionen und Machbarkeitsstudien erstellt, Messsysteme und Strategien zur Auswertung der erfassten Daten entwickelt, unter Realbedingungen erprobt, bewertet und weiterentwickelt. Dabei gilt es vor allem auch die durch die digitale Transformation entstehenden technologischen Entwicklungen für die Intelligente Brücke im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit zu bewerten. Moderne Datenanalyseverfahren bzw. ihre Kombination mit klassischen Methoden der Datenanalyse und -bewertung gewinnen dabei zunehmend an Bedeutung. 2. Die Intelligente Brücke Die „Intelligente Brücke“ ist ein modulares System, das permanent in nahezu Echtzeit maßgebliche Messgrößen hinsichtlich Bauwerkseinwirkungen und -reaktionen erfasst, analysiert und ganzheitlich bewertet. Die hiermit gewonnenen Informationen können als Grundlage für ein prädiktives Lebenszyklusmanagement dienen. Die Realisierung einer Intelligenten Brücke ist sowohl beim Neubau als auch bei Bestandsbauwerken mit ausreichend hoher Restnutzungsdauer möglich. Hierbei stehen Brückenbauwerke mit großer Bedeutung für das Bundesfernstraßennetz und/ oder repräsentative Bauwerke im Vordergrund. Die Intelligente Brücke behandelt vordergründig objektspezifische Fragestellungen. Bestimmte Erkenntnisse können dabei ggf. auch auf den Teil-/ Gesamtbestand übertragen werden. Das Konzept der Intelligenten Brücke hebt sich vor allem durch eine ganzheitliche Bewertung und eine im Rahmen der Nutzungsdauer zeitlich unbegrenzte Bauwerksüberüberwachung vom herkömmlichen Bauwerksmonitoring ab. Der Begriff „Monitoring“ beschreibt hingegen den Gesamtprozess zur Erfassung, Analyse und Bewertung von Bauwerksreaktionen und einwirkenden Größen über einen repräsentativen Zeit- 228 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Intelligente Brücke: Datenaufbereitung und -analyse mittels modell- und datenbasierter Ansätze raum (Deutsche Beton- und Bautechnik-Verein E.V. 2018). In der Regel stehen die Überwachung bekannter Schäden im Fokus mit dem Ziel der Bewertung der Zuverlässigkeit und des Risikos der Bauwerksnutzung (Structural Health Monitoring). Zu den Kernkomponenten des Konzepts der Intelligenten Brücke zählt die Sensorik, Datenaufbereitung, -analyse, -bewertung und -management sowie eine Informationsplattform für den Betreiber. Das grundlegende Zusammenwirken dieser Komponenten ist in Bild 1 schematisch dargestellt. Mittels installierter Sensoren können Bauwerksreaktionen erfasst werden und Einwirkungen sowie das Widerstandsverhalten abgeleitet werden. Hierbei können sowohl drahtgebundene als auch drahtlose Sensornetzwerke zum Einsatz kommen. Zusätzlich können auch Sensordaten herangezogen werden, die nicht am Bauwerk installiert sind, wie z.B. Wetterdaten einer nahegelegenen Wetterstation. Die Aufbereitung und Analyse von Daten mit dem Ziel der Erzeugung hochqualitativer, plausibler Daten ist für die Bewertung der Daten von großer Bedeutung. Hierbei können sowohl physikalische Modelle als auch statistische Methoden zum Einsatz kommen. Durch die Einbindung aufbereiteter und analysierter Messdaten in Ingenieurmodelle können der Zustand und die Zuverlässigkeit eines Bauwerks und seiner Bauteile bestimmt und Aussagen über die Restlebensdauer abgeleitet werden. Anhand einer Informationsplattform sollen alle für den Betreiber relevanten Informationen zum Zustandsverlauf des Bauwerks und seiner Bauteile angezeigt werden. Bei relevanten Veränderungen soll der Bauwerkstreiber zeitnah beispielsweise per Mail oder SMS informiert werden. Ein Datenmanagement für die Intelligente Brücke ist unerlässlich, um im laufenden Betrieb eine optimale Nutzung der Daten in Bewertungsmodellen in nahezu Echtzeit gewährleisten zu können. Bei der Intelligenten Brücke fallen große Datenmengen an, die in unterschiedlichen Prozessschritten zu verarbeiten sind, bevor sie in Bewertungsmodellen eingesetzt werden können. Ein geeignetes Datenmanagement soll sämtliche Aspekte des Datenlebenszyklus der Intelligenten Brücke, u.a. Datenerfassung, -verarbeitung, -bewertung, -speicherung und -archivierung berücksichtigen. Darüber hinaus umfasst dieses auch die Aspekte der Datenqualität, -sicherung und -schutz (Dabringhaus und Haardt 2019). Aspekte wie der Datenschutz sind z.B. bei der Erfassung von Bild/ Videoaufnahmen zur Verifikation der Fahrzeugerfassung relevant. Der Nutzen der Intelligenten Brücke besteht ergänzend zur Bauwerksprüfung vor allem im Zugewinn an Objektivität und Sicherheit, in der Verbesserung der Verfügbarkeit von Bauwerken sowie der frühzeitigen Erkennung von Verhaltensänderungen, die als Indikator für eine zuverlässigkeitsbasierte Bauwerksprüfung dienen können. Damit wird eine Grundlage für ein optimiertes, prädiktives Lebenszyklusmanagement geschaffen. Anhand gewonnener Informationen können Systemannahmen sowie das Bauteil- und Bauwerksverhalten verifiziert werden und Ingenieurmodelle überprüft werden. Ggf. können daraus Anpassungen an Bemessungsnormen erfolgen. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 229 Intelligente Brücke: Datenaufbereitung und -analyse mittels modell- und datenbasierter Ansätze Bild 1 Schema der Intelligenten Brücke 3. Datenaufbereitung und -analyse Die Datenaufbereitung und -analyse sind essenziell für die Intelligente Brücke zur Erzielung des in Kapitel 2 beschriebenen Nutzens. Zu den wesentlichen Schritten der Datenaufbereitung und -analyse zählen u.a. die Datenreduktion, die zeitliche Synchronisierung von Messdaten unterschiedlicher Messsysteme zur gemeinsamen Auswertung, die Transformation und Fusion von Messdaten sowie die Datenplausibilisierung. Um zuverlässige Aussagen über den Zustand eines Bauwerks treffen zu können, müssen vor allem plausible Daten für die Einbindung in Bewertungsmodellen vorliegen. Ziel einer Plausibilisierung ist es, Anomalien in einem Datenstrom sicher zu erkennen und diesen ggf. geeignet zu bereinigen. Zu den gewöhnlichsten Anomalien von Sensordatenströmen zählen u.a. fehlende Daten, Ausreißer und Drifts. Um eine erkannte Anomalie bewerten zu können und ggf. Schlussfolgerungen für das Bauwerk oder das Messsystem ableiten zu können, ist es wichtig, die Ursache der Anomalie zu kennen (Bao et al. 2019). Ein Sensorsignal wird in der Regel durch Bauwerksreaktionen, welche von Bauwerkseinwirkungen und -widerstand beeinflusst werden, Umwelteinflüssen sowie dem Sensorzustand und -eigenschaften bestimmt. Um Anomalien durch Sensorsignalfehler wie z.B. Sensorausfall, Alterung von Sensoren und Störeinflüsse zu erkennen, werden in der Regel bei Monitoringanwendungen redundante Messungen durchgeführt (Sawo et al. 2015). Relevante Bauwerkseinwirkungen wie Verkehr und klimatische Einflüsse werden beim Bauwerksmonitoring u.a. ermittelt, um deren Effekte in Messdaten zu kompensieren und die Messdaten zu glätten. Von besonderer Bedeutung sind die Anomalien in Messdaten, die Veränderungen im Bauwerk repräsentieren. Für die Erkennung von u.a. Anomalien können zwei grundlegend verschiedenen Vorgehensweisen, das modellbasierte sowie das rein datengetriebene und modellfreie Verfahren, unterschieden werden. 3.1 Modellbasierte und rein datenbasierte Ansätze Die konventionelle Herangehensweise ist das modellbasierte Verfahren. Hierbei stehen zur Abbildung eines Prozesses physikalische Zusammenhänge und Eigenschaften im Vordergrund. Der größte Vorteil der modelbasierten Verfahren liegt in der Nachvollziehbarkeit ihrer Ergebnisse, was vor allem für sicherheitsrelevante Bereiche der Bauwerksüberwachung von größter Bedeutung ist. Grundvoraussetzung für diese Herangehensweisen ist jedoch die Verfügbarkeit physikalischer Modelle, die die Realität möglichst genau abbilden. Entsprechende Modellierungen können zum Teil mit sehr hohem Aufwand und teilweise unbekannten Parametern verbunden sein 230 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Intelligente Brücke: Datenaufbereitung und -analyse mittels modell- und datenbasierter Ansätze (Sawo et al. 2015). Für manche Prozesse existieren derzeit noch keine Modelle, da u.a. noch kein ausreichendes Prozessverständnis zur Beschreibung von Modellen vorliegt (Thöns et al. 2015). Im Gegensatz zu den modelbasierten Verfahren liegen den rein datengetriebenen Ansätzen keine physikalischen Modelle sondern Datenmodelle zugrunde. Die Datenmodelle werden mittels Trainingsdaten aufgebaut. Grundlage für die Anwendung dieses Verfahrens ist die Verfügbarkeit großer Datenbestände, um anhand umfangreicher Trainingsdaten Datenmodelle zu erzeugen, die die Wirklichkeit so gut wie möglich abbilden und um die erzeugten Modelle evaluieren zu können. Der Einsatz von datengetriebene Ansätze bietet großes Potenzial, wenn sich die physikalischen Gesetzmäßigkeiten eines Bauwerks nicht oder nur mit einem hohem Auswand modellieren lassen. Datengetriebene Verfahren lassen sich in „überwachte“, „nicht überwachte“ und „semi-überwachte“ Verfahren unterscheiden. Beim „überwachten“ Verfahren werden die Datenmodelle anhand von Trainingsdatensätzen, deren Klassenzugehörigkeit bekannt ist, gelernt. Ein Beispiel hierfür ist die Erkennung von Schäden auf Fotos mittels eines Algorithmus, dessen Datenmodell mit Schadensfotos und den zugehörigen Schadensarten erstellt wurde. Werden Trainingsdaten ohne Label zur Erzeugung von Datenmodellen verwendet, handelt es sich um ein „nicht überwachtes“ Verfahren. Durch Mustererkennung können mit diesem Verfahren Anomalien, Defekte innerhalb eines Datenstroms sowie Zusammenhänge zwischen verschiedenen Datenströmen gefunden werden (Smarsly et al. 2016). Beispiele für datengetriebene Ansätze sind z.B. Gaußprozesse, statistische Lerntheorien, künstliche neuronale Netze, Data Mining sowie weitere maschinelle Lernalgorithmen. Für die aufgezählten Verfahren ist wenig Prozesswissen erforderlich. Jedoch ist mit diesen Verfahren eine Rückverfolgbarkeit der Ergebnisse nicht möglich. Eine weitere Herausforderung besteht in der geringen Verfügbarkeit von Daten, die einen Schädigungsfall abbilden (Sawo et al. 2015). 3.2 Simulierte Messdaten einer geschädigten Brücke Ein wesentliches Ziel des Brückenmonitorings ist die frühzeitige Erkennung relevanter Strukturveränderungen. Aufgrund des wechselnden Betriebszustandes von Brücken, der durch eine komplexe Ausprägung der Messdaten wiedergespiegelt wird, ist die Unterscheidung zwischen planmäßigen und unplanmäßigen Verhalten eine Herausforderung. Hierfür kann sowohl ein modellbasierter als auch ein rein datengetriebener Ansatz herangezogen werden. Beim modellbasierten Verfahren dienen Sensordaten zur kontinuierlichen Aktualisierung eines Finite-Elementen-Modells und ermöglichen damit eine solide Strukturanalyse. Ferner können sie auch für eine Schadenserkennung herangezogen werden. In Rahmen des mFund-Projekts „Online Sicherheitsmanagement für Brücken“ (OSIMAB) wurde u.a. eine Methode zur Modellierung von Litzen- und Spanngliedbrüchen entwickelt, die sich in ein Finite-Elemente-Modell integrieren lässt. Hierbei wurde die Wiederverankerung der Vorspannelemente berücksichtigt (Seiffert und Jansen 2019). Bei der rein datengetriebenen Vorgehensweise werden keine physikalischen Modelle für die Anomalieerkennung in Datenströmen herangezogen. Allein auf der Grundlage von Sensordaten wird zunächst ein „Normal-Modell“ des ungeschädigten Bauwerkszustands erzeugt und dieses im Laufe der Nutzungsdauer mit aufgezeichneten Sensordaten abgeglichen (Kleinert und Sawo 2020). Bei der Erstellung des „Normal-Modells“ sollten Daten über einen Überwachungszeitraum von mindestens einem Jahr herangezogen werden, um den temperaturbedingten Jahreszyklus abzudecken. Zur Unterscheidung der Ursache einer erkannten Anomalie und zur Überprüfung der Zuverlässigkeit von entwickelten Algorithmen können Daten, die während des Bauwerksbetriebs eine definierte Schädigung beschreiben, dienen. Dieser Zustand ist jedoch absichtlich kaum zu erzeugen und steht darüber hinaus im Widerspruch zum Erhalt der Bauwerks- und Verkehrssicherheit. Angesichts fehlender realer Messdaten bei unplanmäßigem Verhalten werden im Rahmen eines Projektes der BASt Kenngrößen-Zeitverläufe einer im Betrieb befindlichen Spannbetonbrücke mit einer Finiten Element Simulation erstellt. Diese werden für den ungeschädigten Zeitraum unter Berücksichtigung der Einwirkungen infolge schwankender Temperaturbeanspruchungen und Verkehrsbeanspruchungen über einen Zeitraum von 1 Jahr simuliert. Darüber hinaus werden Kenngrößen-Zeitverläufe für folgende Schadensszenarien über einen Zeitraum von 1 Monat simuliert: • lokal begrenzte und schleichend zunehmende Schädigung : Korrosion der Bewehrung im Überbauquerschnitt • lokal begrenzte und plötzlich eintretende Schädigung: Bruch eines oder mehrerer Spannglieder im Verbund • global wirkende und schleichend zunehmende Schädigung: Lagerversteifung Die erzeugten künstlichen Messdaten für das planmäßige und unplanmäßige Verhalten sollen ein Hilfsmittel für weitere Forschung zur Entwicklung bzw. Weiterentwicklung bereits vorhandener datengetriebener Algorithmen sowie zur Validierung bezüglich ihrer Zuverlässigkeit zur Früherkennung von unplanmäßigen Veränderungen im Systemverhalten dienen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die simulierten Daten von der Güte des FE-Modells abhängen und die Realität nicht in Gänze wirklichkeitsgetreu abbilden können. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 231 Intelligente Brücke: Datenaufbereitung und -analyse mittels modell- und datenbasierter Ansätze 3.3 Konzept für die algorithmisch gestützte Sensordatenanalyse Mit einer Datenanalyse wird das Ziel verfolgt, relevante Informationen und Wissen aus Sensordaten abzuleiten. Datengetriebene Ansätze bieten ergänzend zu den konventionellen Methoden das Potenzial ohne explizites Vorwissen bisher unbekannte Zusammenhänge in Daten zu erkennen. Im Rahmen des von der BASt beauftragten Projekts „Intelligente Brücke - Verfahren zur Auswertung, Verifizierung und Aufbereitung von Messdaten“ wurde u.a. ein Konzept für die rein algorithmisch gestützte Sensordatenanalyse entwickelt mit dem Ziel, mögliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Datenströmen halbautomatisch zu erkennen ohne eine explizite Modellierung durch ein physikalisches Modell vorauszusetzen. Hiermit sollen Bauingenieure bei der Datenbewertung komplexer Bauwerksüberwachungen mit großen Datenbeständen zusätzlich zu den konventionellen Methoden unterstützt werden (Kleinert und Sawo 2020). Der schematische Ablauf des erarbeiteten Konzepts für die Analyse einzelner Datenströme ist in Bild 2 dargestellt. Bild 2 Ablauf der algorithmisch unterstützten Sensordatenanalyse (Kleinert und Sawo 2020) Voraussetzung für das erarbeitete Vorgehen ist die Verfügbarkeit von an einem Bauwerk erhobenen Messdaten, die in zeitlich synchronisierter Form und einem einheitlichen Format vorliegen. In einem ersten Schritt werden die zu untersuchenden Daten vorverarbeitet. Ziel der Vorverarbeitung ist die Extraktion relevanter Merkmale von Ausschnitten eines Datenstroms, die für eine vorliegende Fragestellung relevant sind. Bei dieser Vorgehensweise ist nur ein geringer Speicherbedarf und Rechenleistung erforderlich. Eine Herausforderung dahingegen besteht darin, eine minimale systematische Verzerrung (Bias) zu erzielen, so dass alle relevanten Merkmale erfasst werden. Zunächst werden die Signale einer Medianfilterung unterzogen, um Einflüsse von Prozessen mit zeitlich langsamer Veränderung zu separieren. Die Detektion von Merkmalen erfolgt durch die Bestimmung von lokal-dominanten Maxima im gefilterten Signal. Beim Schritt der Fensterung wird ein Ausschnitt des Signalverlaufs symmetrisch um das lokal-dominante Maximum ausgeschnitten. Die Fenstergröße wird automatisch über eine Skalenraumanalyse ermittelt und anschließend erfolgt eine Merkmalsextraktion. Der Einbettungsschritt beinhaltet eine Dimensionsreduktion und eine Transformation der Merkmalsdeskriptoren, so dass diese von den folgend eingesetzten Gruppierungsmethoden gut erkannt werden und Zusammenhänge in den Daten sichtbar werden. Vor allem Verfahren wie das „t-Distributed Stochastic Neighbor Embedding“ (t-SNE) oder das „Autoencoder“ Verfahren können nicht-lineare Zusammenhänge abbilden und sind als Einbettungsverfahren geeignet. Der nächste Schritt beinhaltet die Zusammenfassung von ähnlichen Merkmalen zu Gruppen. Die Anzahl an Gruppen kann auf die Anzahl an unterschiedlich ablaufenden Prozessen hindeuten. Sind keine scharf abgegrenzten Klassen erkennbar, weist dies auf eine geringe Güte der Einbettung hin. Geeignete Verfahren hierfür sind z.B.: „k-means“, „Dirichlet-Process means“ und „Density-based spatial clustering of aplications with noise” (DBSCAN). Der letzte Schritt wird als Attribuierung bezeichnet und beinhaltet die Einfärbung der eingebetteten Merkmale auf Grundlage einer weiteren Datenquelle. In diesem Schritt ist eine ausreichende zeitliche Synchronisation eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Attribuierung. Das vorgestellte Konzept wurde anschließend erweitert, um eine kombinierte Auswertung mehrere Sensorsignale zu realisieren. (Kleinert und Sawo 2020). Zur Demonstration des erarbeiteten Konzepts zur halbautomatischen Erkennung möglicher Zusammenhänge zwischen verschiedenen Datenströmen ohne eine explizite Modellierung (vgl. Bild 2) wurde ein einfaches und offensichtliches Beispiel ausgewählt. Für das Beispiel wurden Messdaten aus der Pilotstudie „Intelligente Brücke im digitalen Testfeld Autobahn“ herangezogen. Bei dieser Pilotstudie handelt es sich um ein 2016 neuerrichtetes Ersatzbauwerk im Autobahnkreuz Nürnberg, das mit verschiedenen im Rahmen der BASt-Forschung entwickelten Bausteinen zu Demonstrations- und Weiterentwicklungszwecken ausgestattet wurde. An dem Bauwerk wurde ein Bauwerksinformationssystem, ein drahtloses Sensornetzwerk, instrumentierte Lager und Fahrbahnübergang installiert. Eine Besonderheit des instrumentierten Fahrbahnübergangs ist, dass dieser für die zwei Fahrspuren getrennt ist. Im Rahmen von verschiedenen Forschungsprojekten werden u.a. Strategien zur Datenauswertung für die verschiedenen Messsysteme entwickelt. Beim instrumentierten Fahrbahnübergang stehen dabei v.a. die Ableitung von Informationen hinsichtlich des Verkehrs sowie dessen Funktionsüberwachung im Fokus. Für die Demonstration wurden Messdaten eines Beschleunigungssensors an einer Lamelle der linken 232 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Intelligente Brücke: Datenaufbereitung und -analyse mittels modell- und datenbasierter Ansätze Fahrspur herangezogen und zwei unterschiedliche Gruppierungsverfahren untersucht. Im ersten Fall wurde das t-SNE Verfahren auf vorverarbeitete Spektren angewendet und die Merkmalsvektoren damit in die Ebene abgebildet. Anschließend wurden die Merkmalsvektoren in Abhängigkeit von der Überfahrt auf der linken oder rechten Fahrspur eingefärbt, siehe Bild 3. Die Informationen über die Zuordnung der Fahrspur zur Einfärbung der Merkmalsvektoren wurden aus einem zusätzlichen Datensatz herangezogen. Das Maß an Übereinstimmung einer Einfärbungsfläche und eines Clusters kann auf die Güte des Zusammenhangs zwischen Einfärbungsattribut und durch den Cluster repräsentierten Signalverlauf hinweisen. Im zweiten Fall wurden die entsprechend zum ersten Fall eingebetteten Daten automatisch mittels des DBSCAN Algorithmus gruppiert, siehe Bild 4. Der Vergleich von Bild 3 und Bild 4 zeigt eine gute Übereinstimmung des Gruppierungsergebnisse sowie der gefundenen Fahrzeugüberfahrten auf der rechten und linken Fahrspur mittels des DBSCAN-Algorithmus (Kleinert und Sawo 2020). Bild 3 Eingebettete Merkmale eingefärbt nach Fahrspur (grün: Überfahrt links, blau: Überfahrt rechts, rot: nicht zugeordnet), (Kleinert und Sawo 2020) Bild 4 Eingebettete Merkmale eingefärbt nach Gruppierung durch den DBSCAN Algorithmus (rot: Ausreißer), (Kleinert und Sawo 2020) Das Beispiel deutet darauf hin, dass das Beschleunigungssignal des linken Fahrbahnübergangs trotz der Trennung der beiden Fahrbahnübergänge sowohl von Überfahrten auf der linken als auch auf der rechten Fahrspur beeinflusst wird. Hierbei handelt es sich um einen offensichtlichen Zusammenhang. In der Regel sind die physikalischen Vorgänge in einem Bauwerk sehr komplex. Daher wird eine große Expertise bei der Interpretation von gefundenen möglichen Zusammenhängen und ihrer Evaluierung hinsichtlich der Plausibilität durch einen Ingenieur benötigt. 4. Fazit Der Einsatz von datengetriebenen Ansätzen wird in vielen verschiedenen Bereichen aufgrund der Verfügbarkeit gestiegener Rechenleistungen und Speicherplatz sowie dem verstärkten Einsatz des Internet of Things (IoT) und der damit verbundenen Verfügbarkeit großer Datenmengen zunehmend realistisch. Einsatzmöglichkeiten bestehen für diese neben den konventionellen Methoden auch bei der Datenaufbereitung und -analyse während des Bauwerksmonitorings. Hierbei steht unterstützend zur Bauwerksprüfung die Gewährleistung der Sicherheit im Fokus, weshalb die Nachvollziehbarkeit von Lösungswegen unerlässlich ist. Diese ist jedoch in der Regel bei derzeitigen datengetriebenen Ansätzen nicht gegeben. Ergebnisse, die mittels modellbasierten Verfahren ermittelt wurden, sind hingegen in der Regel sehr gut nachvollziehbar. Die Komplexität der physikalischen Vorgänge in einem Bauwerk erfordert im Allgemeinen tiefes Expertenwissen. Um die Stärken eines jeden Ansatzes weit möglichst durch die Potenziale des anderen Ansatzes zu unterstützen und eine Verbesserung der Bauwerksüberwachung zu erzielen, sollten in Zukunft hybride Ansätze verfolgt werden. Diese kombinieren datengetriebene Ansätze und vorhandenes Expertenwissen (z.B. Ingenieurmodelle) miteinander. Zur Entwicklung eines Konzepts eines hybriden Modells für das Bauwerksmonitoring sind auf Grundlage der Potenziale und Grenzen beider Ansätze Anwendungsgebiete für datengetriebene Ansätze beim Brückenmonitoring zu identifizieren, erforderliche Schritte zur zielgerichteten Verknüpfung von Expertenwissen und datengetriebenen Methoden zu erarbeiten und dafür notwendige Voraussetzungen zu definieren. Die Verwendung von simulierten Messdaten (siehe Kapitel 3.2), die mittels Expertenwissen erzeugt wurden, kann bei rein datengetriebenen Methoden neben anderen einen Teilaspekt eines hybriden Ansatzes darstellen. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 233 Intelligente Brücke: Datenaufbereitung und -analyse mittels modell- und datenbasierter Ansätze Literaturverzeichnis Bao, Yuequan; Chen, Zhicheng; Wei, Shiyin; Xu, Yang; Tang, Zhiyi; Li, Hui (2019): The State of the Art of Data Science and Engineering in Structural Health Monitoring. In: Engineering 5 (2), S. 234-242. DOI: 10.1016/ j. eng.2018.11.027. Bundesanstalt für Straßenwesen (2020): Brückenstatistik. Hg. v. Bundesanstalt für Straßenwesen. Online verfügbar unter https: / / www.bast.de/ BASt_2017/ DE/ Ingenieurbau/ Statistik/ statistik-node.html. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2015): Brückenmodernisierung im Bereich der Bundesfernstraßen. Hg. v. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Dabringhaus, Sarah; Haardt, Peter (2019): Infrastruktur im Wandel - Die Intelligente Brücke. 6. Kolloquium : Erhlatung von Brückenbauwerken. Hg. v. Technische Akademie Esslingen. 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