Brückenkolloquium
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2510-7895
expert verlag Tübingen
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Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke
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Thomas Lehmann
Die Vogelsangbrücke wird instandgesetzt, für das Ziellastniveau LM 1 ertüchtigt und mit einem Dauerüberwachungssystem ausgestattet, um eine Nutzung für weitere 20 Jahre trotz der Defizite aus der Nachrechnung und der vorhandenen spannungsrisskorrosionsgefährdeten Spannstähle zu ermöglichen. Das Überwachungskonzept baut systematisch auf der Nachrechnung der Vogelsangbrücke und den vorangegangenen Untersuchungen bezüglich der Handlungsanweisung Spannungsrisskorrosion (HA) auf. Der Umgang mit diesen nicht alltäglichen Instandsetzungs-, Ertüchtigungs- und Bauwerküberwachungsmaßnahmen ist Thema dieses Vortrags.
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4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 331 Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke Thomas Lehmann Leonhardt, Andrä und Partner Beratende Ingenieure VBI AG, Stuttgart Zusammenfassung Die Vogelsangbrücke wird instandgesetzt, für das Ziellastniveau LM 1 ertüchtigt und mit einem Dauerüberwachungs-system ausgestattet, um eine Nutzung für weitere 20 Jahre trotz der Defizite aus der Nachrechnung und der vorhandenen spannungsrisskorrosionsgefährdeten Spannstähle zu ermöglichen. Das Überwachungskonzept baut systematisch auf der Nachrechnung der Vogelsangbrücke und den vorangegangenen Untersuchungen bezüglich der Handlungsanweisung Spannungsrisskorrosion (HA) auf. Der Umgang mit diesen nicht alltäglichen Instandsetzungs-, Ertüchtigungs- und Bauwerküberwachungsmaßnahmen ist Thema dieses Vortrags. 1. Einführung Die Stadt Esslingen am Neckar ist mit drei großen Neckarbrücken an die Bundesstraße B10 und somit an das übergeordnete Straßennetz angebunden. Die Hanns- Martin-Schleyer Brücke wurde 1964 als erste der drei Brücken errichtet. Daraufhin folgte in den Jahren 1966 bis 1970 der Bau der Adenauerbrücke und von 1971 bis 1973 der Vogelsangbrücke. Die vorhandenen Bauwerksschäden, Defizite aus der Nachrechnung und das Vorhandensein von spannungsrisskorrosionsgefährdetem Spannstahl in den Brückenüberbauten führte nach weiteren Untersuchungen und Studien zu dem Ergebnis, dass für alle drei Brückenbauwerke ein Ersatzneubau erforderlich ist. Im nächsten Schritt wurde die Realisierbarkeit der umfangreichen Ersatzneubaumaßnahmen überprüft, insbesondere hinsichtlich des Aufrechterhalten des Verkehrs, der Leitungsverlegungen und Berücksichtigung der erforderlichen Planungs- und Genehmigungszeiträume. Ein zeitgleicher Neubau der drei Neckarbrücken sowie der weiterführenden Hochstraßen und Rampen ist aus logistischer und finanzieller Sicht nicht möglich. Um weiterhin einen sicheren Betrieb zu ermöglichen und die Standsicherheit und Verkehrssicherheit über diesen Zeitraum zu gewährleisten, wurde ein entsprechendes Konzept ausgearbeitet. Der Problematik spannungsrisskorrosionsgefährdeter Spannstahl und Defizite aus der Nachrechnung wird als Sofortmaßnahme mit Sonderprüfungen in regelmäßigen Abständen begegnet und die Überbauten werden hinsichtlich der Schadensankündigung untersucht. Wo möglich, erfolgten Entlastungen der Bauwerke durch Reduzierung von Fahrspuren. Bis zum Ersatzneubau wird die Vogelsangbrücke instandgesetzt, ertüchtigt und mit einem Dauerüberwachungssystem ausgerüstet, so dass diese noch über weitere 20 Jahre genutzt werden kann und die Standsicherheit und Verkehrssicherheit über diesen Zeitraum gewährleistet ist. In den folgenden Kapiteln werden die Besonderheiten und Maßnahmen im Zuge der Planung und Ausführung von Instandsetzungs-, Ertüchtigungs- und Dauerüberwachungsmaßnahmen am Beispiel der in 2019 und 2020 im Bau befindlichen Vogelsangbrücke vorgestellt. 2. Allgemeines Die Vogelsangbrücke besteht aus 13 Teilbauwerken und überführt die Landstraße L1150 mit beidseitigen Gehwegen über den Neckar, den Neckartalradweg, Gleise der DB, die Ulmer Straße, die Ein- und Ausfahrt zum Parkhaus Pliensauturm, die Neckar Straße, die Vogelsangstraße sowie verschiedenste Parkplatzflächen. 332 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke Abbildung 1: Übersicht Teilbauwerke der Vogelsangbrücke Von Defiziten aus der Nachrechnung und dem Vorhandensein von spannungsrisskorrosionsgefährdetem Spannstahl sind die Überbauten der Neckarbrücke (TBW B1 und B2), der Hochstraßenbrücke (TBW C1 und C2) sowie der Rampenbrücken (TBW C3 und C4) betroffen. Bei der Konstruktion der Teilbauwerke B1 und B2 handelt es sich jeweils um einen Dreifeldträger mit angeschlossenem Kragarm, welcher auf Lehrgerüsten und als Spannbetonhohlkastenquerschnitt ausgeführt wurde. Die Überbaulänge liegt bei ca. 110 m, Stützweiten der einzelnen Felder sowie die Bauhöhen sind unterschiedlich. Die getrennten Überbauten (B1 und B2) weiten sich am südlichen Brückenende geringfügig auf. Abbildung 2: TBW B1 und B2, Grundriss, Längsschnitt, Regelquerschnitt Am nördlichen Brückenende schließen die Teilbauwerke C1 und C2 mit den seitlichen Rampen C3 und C4 als Hochstraße an die Teilbauwerke B an. Die Hauptbrücke (TBW C1 und C2) bildet sich aus zwei getrennten, 8-feldrigen Durchlaufträgern mit einer Gesamtlänge von 192,5 m. Die Stützweiten der einzelnen Felder sind unterschiedlich. Die Querschnitte sind als einstegige Plattenbalken mit Hohlquerschnitten (Verdrängungsrohren) ausgebildet. Der westliche Abzweig (TBW C3) bildet sich aus einem 5-feldrigem Durchlaufträger, welcher durch einen Übergangsbereich an die Hauptbrücke angeschlossen ist. Der östliche Abzweig (TBW C4) bildet sich aus einem 5-feldrigem Durchlaufträger welcher durch einen Übergangsbereich an die Hauptbrücke angeschlossen ist. Die Querschnitte sind als einstegige Plattenbalken mit Hohlquerschnitten (Verdrängungsrohren) analog den Teilbauwerken C1 und C2 ausgebildet. Abbildung 3: TBW C1 und C2, Grundriss, Längsschnitt, Regelquerschnitt 3. Bauwerksuntersuchungen 3.1 Bauwerksprüfungen Im Zuge der Bauwerksprüfungen nach DIN 1076 wird in einem ersten Schritt der Bauwerkszustand auf empirische Art und Weise festgestellt. Dabei ergeben sich nachfolgende Zustandsnoten für die Teilbauwerke. Teilbauwerk: B1 B2 C1 C2 C3 C4 Zustandsnote: 3,0 3,0 3,0 3,0 2,9 2,8 Die Ergebnisse, deren Ursachen und Bewertungen werden näher analysiert. Die meisten Schäden sind auf normale Abnutzung und Verschleiß zurückzuführen, für einige sind Ausführungsfehler und Unterhaltungsmängel ursächlich. Grundsätzlich gibt es jedoch keine Schäden, die sich nicht mit einer grundhaften Instandsetzung beheben lassen. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 333 Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke 3.2 Nachrechnung Im Rahmen dieser statischen Berechnung werden die Überbauten in Längs- und Querrichtung sowie die Lager und Pfeiler nach Stufe 1 bzw. 2 der aktuellen Fassung der Nachrechnungsrichtlinie Fassung (05/ 2011) mit einem Ziellastniveau LM1 nachgerechnet. Zum Abschluss der Nachrechnung erfolgt eine Empfehlung über die Einordnung des Bauwerks in eine Nachweisklasse, die Aufschluss über die Nachweisführung und über erforderliche Nutzungseinschränkungen gibt. Für Brücken mit empfindlichem Spannstahl gegenüber Spannungsrisskorrosion darf höchstens die Nachweisklasse B und unter Verwendung der speziellen Regelung für den Nachweis der Dekompression höchstens die Nachweisklasse C zugeordnet werden (vorläufig eingeschränkte Nutzungsdauer von 20 Jahren). Bei den Überbauten aller Teilbauwerke ergeben sich bei den Nachweisen Defizite und keines der Bauwerke kann einer Nachweisklasse zugeordnet werden. Dieses Ergebnis führt zu weiteren Untersuchungen. Die Machbarkeit von Ertüchtigungsmaßnahmen in Kombination mit Nutzungsänderungen wird untersucht und ausgearbeitet, um das Bauwerk der Nachweisklasse C mit einer vorläufig eingeschränkten Nutzungsdauer von 20 Jahren zuordnen zu können. 3.3 Spannungsrisskorrosion Beim Bau der Brücke ist Spannstahl Holzmann KA 141/ 40, Sigma oval 40 der Festigkeitsklasse St 145/ 160 und Holzmann/ Interspan KA 40 St 145/ 160 (Bezeichnung „Neptunbzw. Sigma-Stahl“) zur Anwendung gekommen. Dieser Spannstahldraht neigt zu wasserstoffinduzierter Spannungsrisskorrosion auch im alkalischen Umfeld des Hüllrohrs. Brücken, in denen der gefährdete Spannstahl eingebaut ist, können in sich ein Risiko bergen, wenn sich der Versagenszustand des Tragwerks nicht rechtzeitig ankündigen kann. Ein Versagen würde spontan erfolgen. Mit einem rechnerischen Nachweis zum Ankündigungsverhalten nach dem Riss-vor-Bruch-Kriterium lässt sich das Versagensrisiko eines Bauwerks beurteilen. Ein ausreichendes Ankündigungsverhalten und damit eine Risikominimierung sind gegeben, wenn sich bereits frühzeitig und unter Gebrauchslasten eine deutlich erkennbare Rissbildung einstellt, noch bevor unter voller Verkehrsbeanspruchung die Tragsicherheit auf ein unzulässig niedriges Niveau fällt. Anhand der Handlungsanweisung wird ein Nachweis des Ankündigungsverhaltens auf Querschnittsebene und der stochastische Nachweis des Ankündigungsverhaltens auf Systemebene untersucht. Die Überprüfung des Ankündigungsverhaltens erfolgt durch Berechnung mit den im Rahmen der Nachrechnung erzeugten Systemen. Dabei ist für den Nachweis des Ankündigungsverhaltens jenes Verkehrslastmodell zu berücksichtigen, welches der Ausführungsstatik zu Grunde liegt. Hier ist somit die Brückenklasse BK 60 nach DIN 1072 angesetzt. Dem vorliegenden Bauwerk kann auf Querschnittsebene kein ausreichendes Ankündigungsverhalten nachgewiesen werden. Die Gründe liegen zum einen in der nicht gegebenen Detektion der Stützbereiche und in der nicht gegebenen Restsicherheit von γp ≥ 1,1 auf die Verkehrsschnittgröße mit Ansatz der Restspannstahlfläche. Das vereinfachte Nachweisverfahren zur Überprüfung auf Systemebene wird zur Einschätzung des Gesamtbauwerks für alle Untersuchungsbereiche durchgeführt. In den Bereichen mit erforderlichem Monitoring (Stützquerschnitte) wird dieses als gegeben vorausgesetzt. Für die einzelnen Untersuchungsbereiche ergeben sich unterschiedliche Ergebnisse. Diese sind am Beispiel der Teilbauwerke B1 und B2 dragestellt. In dem dunkelgrünen Bereich kann der stochastische Nachweis ohne zusätzliche Dauerüberwachungsmaßnahmen (Stützbereiche) eingehalten werden, in den hellgrünen Bereichen sind Dauerüberwachungsmaßnahmen erforderlich um die geforderte Restsicherheit einzuhalten. In den orangen Bereichen kann der stochastische Nachweis nicht eingehalten werden und in den roten Bereichen sind nicht ausreichend Einzelquerschnitte mit Ankündigung (Rissbildung bei gleichzeitiger Resttragfähigkeit) vorhanden um den stochastischen Nachweis zu führen. Der schwarz markierte Bereich umfasst zu wenig Nachweisquerschnitte zum Nachweis über das stochastische Verfahren. Abbildung 4: Einteilung in unterschiedliche Betrachtungs-bereiche Für die einzelnen Untersuchungsbereiche des Bauwerkes besteht kein durchgehendes, ausreichendes Ankündigungsverhalten. Um ein ausreichendes Ankündigungsverhalten und eine Restsicherheit für das Bauwerk zu erreichen, wird die Machbarkeit von Ertüchtigungsmaßnahmen und Dauerüberwachungsmaßnahmen untersucht und ausgearbeitet. 334 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke 4. Verstärkungsmaßnahmen Die Defizite aus der Nachrechnung und Bereiche ohne Ankündigungsverhalten bei Spannstahlausfall werden durch verschiedene Ertüchtigungsmaßnahmen und Nutzungsänderungen behoben. Bei den Teilbauwerken B1 und B2 erfolgt eine Ertüchtigung der Bodenplatte mit einer Aufbetonverstärkung von 20 cm über einen Bereich von knapp 20 m im Hohlkasten. Abbildung 5: Verstärkung Bodenplatte TBW B1 und B2 Bei den Teilbauwerken C3 und C4 werden die Torsionsdefizite durch Umbaumaßnahmen beseitigt. Durch Reduzierung der Fahrstreifenanzahl von 2 auf 1, Verschmälerung der Fahrbahn von 7 m auf 5,3 m und symmetrischen Anordnung zur Bauwerksachse lässt sich ein nachweisbarer Zustand erreichen. Den Torsionsdefiziten an den Überbauten der Teilbauwerke C1 und C2 wird durch eine geänderte Lagerung des Überbaus in den Achsen 8 und 9 begegnet. Im Bestand sind hier mittig unter dem Überbau Einzelstützen mit querfesten Topflagern angeordnet. Die Stützenköpfe werden umgebaut und mit einem Spannbetonhammerkopf versehen, auf dem jeweils zwei neue Brückenlager angeordnet werden. Abbildung 6: Umbau Stützenkopf Bereiche ohne ausreichendes Ankündigungsverhalten werden verstärkt. Generell ist die Verstärkung so zu dimensionieren, dass ein ausreichendes Sicherheitsniveau ohne Mitwirkung des spannungsrisskorrosionsgefährdeten Spannstahls in allen Querschnitten gegeben ist. Die Verstärkungsmaßnahmen zur Absicherung des Ankündigungsverhaltens lassen keine Rückschlüsse auf die zu erwartende Restnutzungsdauer zu. Es muss davon ausgegangen werden, dass der spannungsrisskorrosionsgefährdete Spannstahl jederzeit ausfallen kann. In diesem Fall ist jedoch durch die Verstärkungsmaßnahmen eine ausreichende Restsicherheit und ein duktiles Tragwerksverhalten gewährleistet. Sobald sich jedoch ein Spannstahlausfall ankündigt, sind Sofortmaßnahmen, Spannstahluntersuchungen sowie ggf. zusätzliche Verstärkungsmaßnahmen oder ein Ersatzneubau notwendig. Mit Hilfe der durchzuführenden Voruntersuchungen (Untersuchung auf Rissbildung) kann jedoch eine bereits vorhandene und bisher unbemerkte Vorschädigung des Spannstahls ermittelt werden und in Abhängigkeit vom Ergebnis der Voruntersuchungen das ökonomische Risiko der Verstärkungsmaßnahme bewertet werden. Es gibt jedoch keine gesicherten Erkenntnisse über einen Zusammenhang zwischen dem Vorschädigungsgrad des Spannstahls und dessen zukünftigen Ausfallrisiko. Abbildung 7: zu verstärkende Bereiche bei TBW C1 und C2 ohne Ankündigungsverhalten Die Verstärkung erfolgt über CFK-Lamellen, so dass die Steifigkeit des Querschnittes nur geringfügig beeinflusst wird. Dabei sind einige Feldquerschnitte zu verstärken. Der erste Querschnitt ist soweit zu ertüchtigen, dass die Restsicherheit bei der Rissbildung erfüllt wird, der zweite Querschnitt ist lediglich soweit zu verstärken, dass die erforderliche Restspannstahlfläche auf ein verträgliches Maß zum Nachweis der Versagenswahrscheinlichkeit des Spannabschnittes eingehalten wird. Ein Nachweis der Restsicherheit bei Rissbildung ist für diesen Querschnitt nicht zwingend erforderlich, da bereits 50% der Querschnitte über ein Ankündigungsverhalten verfügen. 5. Dauerüberwachung 5.1 Problematik Das Überwachungskonzept baut systematisch auf der Nachrechnung und der vorangegangenen Untersuchungen auf. Die in der nachfolgenden Abbildung markierten Stützbereiche sind nicht einsehbar und es kann nach HA kein Ankündigungsverhalten nachgewiesen werden. Eine Ankündigung des Bruchversagens durch Spannungsrisskorrosion in Form von Betonbiegerissen würde in diesen Bereichen an der Bauteiloberseite unter dem Belag auftreten, daher ist eine visuelle Überwachung unmöglich. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 335 Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke Abbildung 8: Bereiche mit Ankündigungsverhalten aber ohne Möglichkeit der visuellen Überwachung Rechnerisch stellt sich in den Querschnitten des Bauwerks überwiegend eine Ankündigung des Versagens durch das „Riss vor Bruch Verhalten“ ein. Die folgenden Abbildungen zeigen die vorhandene Restspannstahlfläche bei Rissbildung und bei Bruch nach HA. Die schwarzen Quadrate stellen die Position der Stützenachsen dar. Die übrigen Teilbauwerke zeigen einen vergleichbaren qualitativen Verlauf und sind deshalb hier nicht aufgeführt. Abbildung 9: Restvorspannung TBW B2, Riss/ Bruch In den Stützbereichen müssen demnach 30-50 % der Spannstahlfläche ausfallen bis zur Rissbildung nach HA unter der häufigen Einwirkungskombination (1.0*G + 0.5 Q). Die Querschnitte weisen bei Rissbildung überwiegend eine Restsicherheit bis zum Bruch auf, sodass sich eine Versagensankündigung (Riss vor Bruch) einstellen kann. Bis zum Versagen nach HA unter erhöhter Bruchlast (1.0*G + 1.1 Q) müssen 50-70% der Spannstahlfläche ausfallen. Abbildung 10: Restvorspannung TBW C3, Riss/ Bruch 5.2 Ziele und Maßnahmen Bisher wurde die ungeschädigte Spannstahlfläche der Längsbewehrung nur rechnerisch gemäß HA ermittelt. Allerdings handelt es sich bei den Berechnungen um eine konservative Annahme und die Bauwerksuntersuchungen (2018) deuten nicht auf Schäden infolge Spannungsrisskorrosion hin. Resultierend wird die tatsächliche ungeschädigte Spannstahlfläche höher eingeschätzt. Eine solche Einschätzung des aktuellen Bauwerkszustands mit Bezug auf die Berechnungen nach HA und Risikobewertung des Versagens durch Spannungsrisskorrosion soll erfolgen, um ein zusätzliches Sicherheitsniveau für die Überwachung des Bauwerks über die Restlebensdauer zu schaffen. Zusätzlich soll eine Überwachung des gesamten Überbaus für die Restlebensdauer von 20 Jahren bezüglich zukünftigen Schäden und Versagensankündigung durch Spannungsrisskorrosion erfolgen. Ein stufenweiser Maßnahmenplan im Umgang mit der Problematik der Spannungsrisskorrosion an der Vogelsangbrücke wird für das Überwachungskonzept formuliert: 1. Probebelastung zur Identifikation von Tragwerksreserven bezüglich der Restspannstahlfläche vor Beginn der Instandsetzungsmaßnahme 2. Detaillierte Bestandserfassung bezüglich Spannungsrisskorrosion mit Rissuntersuchung und magnetsicher Streufeldmessung während den Bauphasen der Instandsetzungsmaßnahme 3. Monitoringsystem zur Überwachung des Bauwerkzustands bezüglich zukünftigen Schädigungen des Bauwerks durch Spannungsrisskorrosion für die Restlebensdauer von 20 Jahren 5.3 Probebelastung zur Identifikation von Tragwerksreserven Die Belastungsversuche werden vor Beginn der Instandsetzungsarbeiten durchgeführt. Das Konzept für den Belastungsversuch bezieht sich auf die Handlungsanweisung Spannungsrisskorrosion und die DAfStb Richtlinie: Belastungsversuche an Betonbauwerken. Die Probebelastung dient der Identifikation von Tragwerks- 336 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke reserven mit Bezug auf die Berechnungen nach der HA. Die Hypothese der Belastungsversuche lautet, dass mindestens 10% mehr Restspannstahlfläche der Längsvorspannung im Überbau ungeschädigt sein soll als nach HA anrechenbar. Diese Hypothese wird durch die anschließende Rissuntersuchung überprüft, somit kann ein zusätzliches Sicherheitsniveau für die Restlebensdauer und das Monitoringsystem geschaffen werden. Die Ziellast soll im betreffenden Querschnitt größer als 110% der häufigen EWK nach HA betragen. Wenn keine Rissbildung detektiert wird, können rechnerisch über 10% zusätzliche Restspannstahlfläche angesetzt werden. Die Probelast wird für die kritischen Stützenquerschnitte definiert. Das Biegemoment aus der Probebelastung unterschreitet das maximale Biegemoment aus der einfachen Verkehrsbelastung für BK60 an jeder Stelle. Der Puffer gibt an um welchen Prozentsatz die Spannungen am Querschnittsrand aus der häufige EWK durch die Ziellast überschritten werden. 5.4 Detaillierte Bestandserfassung Die detaillierte Bestandserfassung setzt sich aus der Rissuntersuchung und der magnetischen Streufeldmessung zusammen. Ziel der Rissuntersuchung ist die Überprüfung der Hypothese des Belastungsversuchs bezüglich der vorhandenen Restspannstahlfläche und Ziel der magnetischen Streufeldmessung ist eine zusätzliche Einschätzung über eventuelle Korrosionsschäden an den Spanngliedern. 5.4.1 Rissuntersuchung Nach dem Abtrag des Belags- und Abdichtungsaufbaus wird die Betonoberfläche gereinigt und angefeuchtet, so dass sich mögliche Risse, insbesondere auch mit sehr geringer Rissbreite abzeichnen und erkennen lassen. Sind nach der Probebelastung keine Biegerisse vorhanden, kann die rechnerische Restspannstahlfläche gemäß HA um 10% erhöht werden. 5.4.2 Magnetische Streufeldmessung Die Längsspannglieder werden soweit möglich (Betondeckung der Spannglieder maximal 25 cm) mittels Streufeldmessung auf Spannstahlbrüche untersucht. Sollten bruchartige Signale detektiert werden, so werden diese Bereiche vorsichtig geöffnet und das Spannglied auf Schäden untersucht. 5.4.3 Ergebnis der Bestandserfassung Aus den Ergebnissen der Bestandserfassung lässt sich der Bauwerkszustand und das Risiko der Spannungsrisskorrosion nun genauer abschätzen und die Ergebnisse liefern ein zusätzliches Sicherheitsniveau für das Überwachungssystem und die weitere Nutzung. Bei Rissfreiheit nach der Probebelastung können mindestens 10% mehr Restspannstahlfläche gegenüber den Berechnungen nach HA angesetzt werden, entsprechend erhöht sich auch die Resttragfähigkeit bis zum Bruch. Mit den Ergebnissen der magnetischen Streufeldmessung lassen sich zudem stochastische Auswertung der wahrscheinlichen Restspannstahlfläche tätigen. 6. Grundlagen des Monitoringsystems 6.1 Allgemeines Das Monitoringsystem dient der Überwachung des Bauwerkszustands bezüglich Spannungsrisskorrosion für die Restnutzungsdauer von 20 Jahren. Nach den Verstärkungsmaßnahmen ist in allen Überbauquerschnitten eine ausreichende rechnerische Resttragfähigkeit bei Rissbildung bis zum Bruch gegeben, sodass ein plötzliches Versagen des Bauwerks ausgeschlossen werden kann. Im Rahmen der detaillierten Bestandserfassung wird ein erhöhtes Sicherheitsniveau von 10% neben der HA auf Basis des tatsächlichen Bauwerkszustands geschaffen. Bedingt durch die intensiven Voruntersuchungen wird das Monitoringsystem nicht als sicherheitsrelevantes Alarmsystem ausgelegt. Die Erfassung einer tendenziellen Schädigung ist daher ausreichend und kann als Vorwarnstufe dienen. Bei fortschreitender Schädigung mit Erreichen der Grenztragfähigkeit muss dennoch ein Hinweissignal ausgelöst werden. 6.2 Auswahl der Messgröße Für das Monitoringsystem ist die Überwachung der Verformungen des Bauwerks als Indikator für Schäden infolge Spannungsrisskorrosion vorgesehen. Insbesondere die Neigungsmessung mithilfe von Inklinometern stellt erfahrungsgemäß eine effiziente und sensible Überwachungsmöglichkeit dar. Diese globale Formänderungsgröße spiegelt im Gegensatz zu einer Dehnungsmessung alle Verformungsinformationen des Bauwerks wieder. Eine Messbasis ist für die Neigungsmessung nicht erforderlich. Über die Ergebnisse der Neigungsmessung [φ in m°] an den Endpunkten eines Untersuchungsbereiches lässt sich die mittlere Krümmung [m°/ m] des Bereiches [Δs] als globale Verformungsgröße bestimmen: 6.3 Dimensionierung der Systemgenauigkeit Das Messsystem muss für die kontinuierliche Überwachung des Tragwerkszustandes geeignet sein, um Schädigungen infolge Spannungsrisskorrosion flächig zu detektieren. Die erforderliche Genauigkeit des Messsystems ist so auszulegen, dass plastische Schädigungen 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 337 Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke des Bauwerks infolge Spannungsrisskorrosion frühzeitig identifiziert werden können. Im Folgenden wird die Schädigung beispielhaft über die Verformung des Bauwerks definiert. Der Schädigungsverlauf beginnt mit der Dekompression des Betons über die Rissbildung des Betons bis hin zum Versagen des Querschnitts und des Gesamtsystems. Die folgende Abbildung zeigt das allgemeine Last-Verformungs-Verhalten eines Spannbetonbalkens bis zum Versagen des Bauteils. Abbildung 11: Last-Verformungsverhalten eines Spannbetonbalkens (aus Betonkalender 2017) Gemäß der HA soll die Spannungsrisskorrosion bereits mit einsetzender Rissbildung des Betons detektiert werden. Resultierend muss die Sensorik in der Lage sein den Bereich der Rissbildung bis zum Fließen der Bewehrung zu identifizieren. Das Fließen der Bewehrung muss dabei den absoluten Grenzwert der Verformung darstellen und stellt das Erreichen der Grenztragfähigkeit dar. Für die Bestimmung der Messgenauigkeit wird das Last- Verformungsverhalten für drei Zustände der Vorspannung untersucht. • 100% Vorspannung: unbeschädigtes Bauwerk (0.9*P0) • 44% Vorspannung: Schaden durch Sprk aber keine Rissbildung unter häufigen Einwirkungen nach HA • 34% Vorspannung: Schaden durch Sprk und Rissbildung unter häufigen Einwirkungen nach HA Für die folgenden Abbildungen gilt: Dekompression/ Rissbildung (A), Fließen der Stahlbewehrung (B), Bruch des Querschnitts (C). Abbildung 12: Last-Verformungsverhalten am Beispiel von Teilbauwerk B 1 Entgegen den Berechnungen nach HA können die Querschnitt ein größeres Zwangsmoment aufnehmen, da das Mitwirken des Betons im Zugbereich berücksichtigt wurde. Die erforderliche Genauigkeit des Messsystems lässt sich aus der Verformung auf der X-Achse zwischen den Bereichen A und B ableiten. • Die erforderliche Genauigkeit des Messsystems bezüglich Neigung beträgt 1m° • Die erforderliche Genauigkeit des Messsystems bezüglich Dehnung beträgt 0,1 mm/ m 6.4 Kalibrierung des Monitoringsystems Im Rahmen der Inbetriebnahme des Monitoringsystems ist eine Kalibrierung des Ausgangszustands erforderlich. Eine 50t Verkehrslast wird als Referenz das Bauwerk überfahren. Die resultierenden Querschnittsspannungen liegen unter der häufigen EWK, und stellen somit zu keinem Zeitpunkt ein Risiko für die Tragsicherheit dar. Das zugehörige Tragwerksverhalten wird über die Messeinrichtung aufgenommen und dient als Ausgangszustand für das Monitoringsystem. Die resultierenden Neigungen (mrad) im Messbereich des TBW B1 Achse 2 sind in der Abbildung beispielhaft für eine Belastung in Feldmitte dargestellt. 338 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Erhöhung der Restnutzungsdauer am Beispiel der Vogelsangbrücke Abbildung 13: Darstellung der resultieren Neigung Diese Berechnung soll nur ein Beispiel zur Veranschaulichung der Machbarkeit zeigen. Die exakten Verformungen werden sich aus den Messwerten ergeben. 6.5 Betrieb des Messsystems Das folgende Beispiel soll den Regelbetrieb und den Alarmplan verdeutlichen. Im Rahmen des planmäßigen Verhaltens wird der Krümmungs-Zeit-Verlauf ausgelesen (folgende Abb.). Die Vorwarnstufe wird eingeleitet. Im Fall einer tendenziellen Schädigung des Tragwerks stellt sich unter gleichen Randbedingungen eine veränderte mittlere Krümmung im Überwachungsbereich ein. Eine erneute Probebelastung mit 50t wird durchgeführt und die resultierende mittlere Krümmung des Überwachungsbereichs wird mit dem Ausgangswert der Kalibrierung verglichen. Abweichende Randbedingungen müssen bei dem Vergleich berücksichtigt werden. Eine Alarmierung erfolgt stufenweise. Abbildung 14: beispielhafte Aufzeichnung der Neigung über den Jahresverlauf 6.6 Ausführung des Messsystems Die Sensoren und die Verkabelung werden abschnittsweise mit der Instandsetzungs- und Ertüchtigungsmaßnahme am Bauwerk jederzeit zugänglich an der Überbauunterseite angebracht. Nur im Bereich über der Bahn werden die Sensoren in Nischen in der Fahrbahnplattenoberseite und über dem Neckar an der Fahrbahnplattenunterseite im Hohlkasten montiert. Die Basisstation wird im Widerlager der Teilbauwerke B1 und B2 installiert. Die Installation soll bis Anfang 2021 abgeschlossen werden und anschließend die Kalibrierung und Testphase starten. Zum Ende 2021 soll die Dauerüberwachungsanlage in den Regelbetrieb gehen. 7. Fazit Am Beispiel der Vogelsangbrücke wird deutlich, wie mit ingenieurmäßigem Verstand Möglichkeiten zu einem sinnvollen Umgang mit dem Brückenbestand eingesetzt werden können. Durch die Verwendung und Kombination von Werkzeugen zur Instandsetzung und Ertüchtigung, gepaart mit der Dauerüberwachung, lassen sich verborgene Resourcen aktivieren und das Bauwerk für weitere 20 Jahre sicher nutzen. Dadurch kann, wie in vorliegendem Fall wichtige Zeit verschafft werden, um der großen Aufgabe zur Planung und Ausführung eines Ersatzneubaus, ohne zeitliche Zwänge und Nutzungsausfälle zu begegnen. Literatur [1] DIN-Fachbericht 101 - Einwirkungen auf Brücken, März 2019 [2] Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand (Nachrechnungsrichtlinie). Ausgabe Mai 2011 mit Ergänzung April 2015. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur [3] Handlungsanweisung zur Überprüfung und Beurteilung von älteren Brückenbauwerken, die mit vergütetem, spannungsrisskorrosions-gefährdetem Spannstahl erstellt wurden (Handlungsanweisung Spannungsrisskorrosion). Ausgabe Juni 2011, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur