eJournals Brückenkolloquium 4/1

Brückenkolloquium
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expert verlag Tübingen
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2020
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Standsicherheitsbeurteilung der Ulmer Gänstorbrücke unter Berücksichtigung von Bauwerksschäden und Messungen – Hintergründe zum Alarmierungssystem

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Andreas Müller
Bei der 1950 in Ulm über die Donau errichteten Gänstorbrücke handelt es sich um eine der ältesten Spannbetonbrücken in Deutschland. Sie besteht aus zwei nahezu baugleichen Teilbauwerken. Bereits bei Untersuchungen in den 1980er Jahren zeigte sich, dass Spanngliedhüllrohre unvollständig verpresst wurden, der Spannstahl Korrosionserscheinungen aufweist und lokal Chlorideintragungen in den Beton stattgefunden haben. Im Jahr 2018 wurden bei umfangreichen Bauwerksuntersuchungen erhebliche, standsicherheitsrelevante Korrosionsschäden an Spanngliedern vorgefunden. Unter Berücksichtigung der festgestellten Schäden konnte die Standsicherheit nur unter Verwendung von Stufe-4-Nachweisverfahren (nichtlineare Berechnungen) für reduzierte Verkehrslasten nachgewiesen werden. Seit Juni 2018 ist je Teilbauwerk nur noch einer von zwei Fahrstreifen befahrbar. Da eine vollumfängliche Zustandsprüfung aufgrund der großen Anzahl an Spanngliedern nicht mit vertretbarem Aufwand möglich ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der Bauwerkszustand bis zur Realisierung eines Ersatzneubaus weiter verschlechtert, wurde ein Monitoring- und Alarmierungssystem in Betrieb genommen. Zur Kalibrierung des Messsystems und zur Festlegung von Alarmwerten wurde eine Probebelastung mit definierten Verkehrslasten durchgeführt. Im Rahmen dieses Beitrags wird schwerpunktmäßig die Vorgehensweise bei der Beurteilung der Standsicherheit und der Festlegung der Alarmwerte vorgestellt.
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4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 495 Standsicherheitsbeurteilung der Ulmer Gänstorbrücke unter Berücksichtigung von Bauwerksschäden und Messungen - Hintergründe zum Alarmierungssystem Andreas Müller Konstruktionsgruppe Bauen AG, Kempten, Deutschland Zusammenfassung Bei der 1950 in Ulm über die Donau errichteten Gänstorbrücke handelt es sich um eine der ältesten Spannbetonbrücken in Deutschland. Sie besteht aus zwei nahezu baugleichen Teilbauwerken. Bereits bei Untersuchungen in den 1980er Jahren zeigte sich, dass Spanngliedhüllrohre unvollständig verpresst wurden, der Spannstahl Korrosionserscheinungen aufweist und lokal Chlorideintragungen in den Beton stattgefunden haben. Im Jahr 2018 wurden bei umfangreichen Bauwerksuntersuchungen erhebliche, standsicherheitsrelevante Korrosionsschäden an Spanngliedern vorgefunden. Unter Berücksichtigung der festgestellten Schäden konnte die Standsicherheit nur unter Verwendung von Stufe-4-Nachweisverfahren (nichtlineare Berechnungen) für reduzierte Verkehrslasten nachgewiesen werden. Seit Juni 2018 ist je Teilbauwerk nur noch einer von zwei Fahrstreifen befahrbar. Da eine vollumfängliche Zustandsprüfung aufgrund der großen Anzahl an Spanngliedern nicht mit vertretbarem Aufwand möglich ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der Bauwerkszustand bis zur Realisierung eines Ersatzneubaus weiter verschlechtert, wurde ein Monitoring- und Alarmierungssystem in Betrieb genommen. Zur Kalibrierung des Messsystems und zur Festlegung von Alarmwerten wurde eine Probebelastung mit definierten Verkehrslasten durchgeführt. Im Rahmen dieses Beitrags wird schwerpunktmäßig die Vorgehensweise bei der Beurteilung der Standsicherheit und der Festlegung der Alarmwerte vorgestellt. 1. Hintergründe Die am Ende des zweiten Weltkriegs zerstörte Donaubrücke beim Ulmer Gänstor wurde 1950 in veränderter Form - als integrales Spannbetonbauwerk - neu errichtet. Nachdem Biege- und Schrägrisse festgestellt wurden, folgten Anfang der 1980er Jahre umfangreiche Untersuchungen zum Bauwerkszustand. Unter Berücksichtigung der vorgefundenen Schäden wurde das Bauwerk gezielt verstärkt und von der ursprünglichen Brückenklasse 45 in die Brückenklasse 30 herabgestuft. Zwangsbeanspruchungen infolge von Temperaturunterschieden wurden bei der damaligen Nachrechnung nicht berücksichtigt. Bei den in der Folge durchgeführten Bauwerksprüfungen offenbarte sich ein zunehmender Sanierungs- / Handlungsbedarf. Zur Schaffung einer Grundlage für die Festlegung der weiteren Vorgehensweise wurde von den Städten Ulm und Neu-Ulm zunächst die Nachrechnung der Gänstorbrücke in Auftrag gegeben. In Anbetracht der bereits aus den 1980er Jahren bekannten Schäden war es unerlässlich, parallel zur Nachrechnung u.a. den Schädigungsfortschritt detailliert zu überprüfen. Aufgrund der im Sommer 2018 festgestellten Schäden (vgl. Abschnitt 3) und darauf aufbauenden Nachrechnungsergebnissen wurde der Verkehr auf der Gänstorbrücke eingeschränkt (vgl. Abschnitt 4). Jedes Teilbauwerk ist seither nur noch einstreifig (ein Fahrstreifen je Richtung, anstatt zwei) befahrbar. Da bzgl. des tatsächlichen Schädigungszustandes weiterhin Unsicherheiten bestehen und kaum vorhersehbar ist, wie sich der Zustand bis zur Fertigstellung eines Ersatzneubaus verändern wird, wurde das Tragverhalten im Rahmen einer Probebelastung (vgl. Abschnitt 6) untersucht und ein Brückenmonitoringsystem installiert, mit dem kontinuierliche Messungen und automatische Alarmierungen möglich sind. Wesentliche Ergebnisse der seit 2018 durchgeführten Untersuchungen wurden bereits in [1] veröffentlicht. Bevor im Rahmen des vorliegenden Beitrags neue Messergebnisse und ergänzende Überlegungen zur Festlegung von Stufe-2-Alarmierungsgrenzwerten vorgestellt werden, gilt es, die zum Verständnis wichtigen Grundlagen und Vorüberlegungen zusammenzufassen (siehe auch [1]). 496 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Standsicherheitsbeurteilung der Ulmer Gänstorbrücke unter Berücksichtigung von Bauwerksschäden und Messungen 2. Bauwerk und Historie Die 1950 errichtete Gänstorbrücke besteht aus einem gelenklosen Rahmen mit 82,40 m Spannweite und 15 m Höhe ab Unterkante Fundament bis Oberkante Fahrbahn. Die Rahmenstiele sind in Stabdreiecke aufgelöst, bestehend aus dem verlängerten Rahmenriegel, einer lotrechten Druckstütze und einer vorgespannten, schrägen Zugstrebe. In der Längsachse ist die 18,60 m breite Brücke durch eine Fuge in zwei gleiche Hälften geteilt. Die Gesamtlänge der Fahrbahn beträgt 96,10 m. Der Überbauquerschnitt jedes Teilbauwerks besteht aus einem 2-stegigen Plattenbalken. Die Konstruktionshöhe variiert zwischen ca. 1,20 m im Scheitel und ca. 4,20 m im Anschlusspunkt zu den Druckstützen. Der Überbau wurde in Längs- und Querrichtung beschränkt vorgespannt. Es wurden Stabspannglieder mit nachträglichem Verbund (Stabdurchmesser jeweils 26 mm bzw. Kernquerschnitt 25 mm im Bereich der Stabenden mit kaltgewalztem Gewinde; Spannstahlgüte St 60/ 90) verwendet. Je Träger (Steg + Fahrbahnplatte) befinden sich im Scheitel 36 Längsspannglieder, über den Druckstützen 92 und je Zugstrebe 80. Angewendete Bemessungsgrundsätze, Details zur Vorspannung und zur Spanngliedführung gehen z.B. aus [2] hervor. Bei umfangreichen, Anfang der 1980er Jahre durchgeführten Untersuchungen wurden u.a. Biegerisse in den Stegen im mittleren Drittel des Überbaus, Schrägrisse in den Außenstegen im Bereich der Pfeiler, zahlreiche unverpresste Hüllrohre und örtlich erhöhte Chloridgehalte im Beton (z.B. im Bereich der Zugstreben) festgestellt (vgl. [3]). Unter Berücksichtigung von rechnerischen Untersuchungen zur Standsicherheit wurden in den 1980er Jahren mehrere bauliche Maßnahmen umgesetzt. Hierzu zählen die Verstärkung der Zugstreben mittels Dauerankern (je Zugstrebe zwei parallel zur Zugstrebe verlaufende Anker, die jeweils unter den Fundamenten im Boden und in den Endquerträgern verankert sind) (vgl. [4]). Bei Untersuchungen im Jahr 1990 wurden im Scheitelbereich der Außenstege teilweise erhebliche Korrosionsschäden vorgefunden. Bei einzelnen Längsspanngliedern waren korrosionsbedingte Querschnittsschwächungen von bis zu 20 % festzustellen. In Summe wurde je Außensteg davon ausgegangen, dass die Querschnittsfläche der 36 Längsspannglieder im Scheitelbereich durch Korrosionsschäden um weniger als 10 % reduziert wurde [5]. Mit dem Ziel, den weiteren Korrosionsfortschritt zu unterbinden, wurden die im Bereich der Hüllrohre vorgefundenen Chloride mittels Höchstdruckwasserstrahlen entfernt und im mittleren Drittel über eine Länge von ca. 20 m eine Spritzbetonbeschichtung um die Außenstege aufgebracht (1990). Darüber hinaus wurde die Oberfläche (Brückenunterseite, Stege, Pfeiler) mit einem elastischen, rissüberbrückenden Material beschichtet (Fertigstellung 1992). 3. Aktuelle Bauwerksuntersuchungen Bei den in der Folge durchgeführten Bauwerksprüfungen offenbarte sich ein zunehmender Sanierungs- / Handlungsbedarf. Vermehrt wurden Risse und größere Hohlstellen in der Spritzbetonbeschichtung der Außenstege sowie Risse, Betonabplatzungen und freiliegende Bewehrungselemente in den Zugstreben festgestellt. Zur Schaffung einer Grundlage für die Festlegung der weiteren Vorgehensweise wurde zunächst die Nachrechnung der Gänstorbrücke gemäß [6] durchgeführt (Stufe 1 und 2, vgl. Abschnitt 4). Parallel dazu wurde der aktuelle Zustand detailliert untersucht. Hierzu zählen u.a.: • Bestimmung der noch vorhandenen Spannkraft je Daueranker neben den schrägen Spannbetonzugstreben (mittels BRIMOS-Methode) • Überprüfung des Ziellastniveaus + Bereitstellung von Angaben für Betriebsfestigkeitsnachweise auf der Grundlage von Verkehrszählungen und Simulationsberechnungen • Überprüfung der Eigenlasten mit Hilfe von detaillierten Vermessungsarbeiten (3D-Laserscan), Ultraschalldickenmessungen der Fahrbahnplatte, Betonrohdichtebestimmungen und Berechnungen der Wichte des bewehrten Betons • Bestimmung von weiteren Betonkennwerten (Betondruckfestigkeit, E-Modul, Temperaturausdehnungskoeffizient) • Überprüfung des Korrosionszustandes der Bewehrung mit dem Ziel, Schadensszenarien festzulegen, die bei der Nachrechnung zu berücksichtigen sind. • Dehnungsmessungen an Spanngliedern als Grundlage für Betriebsfestigkeitsnachweise Maßgeblich für die weiteren Schritte war die Erkenntnis, dass sich der Korrosionszustand der Bewehrung gegenüber den Feststellungen aus den 1980er und 1990er Jahren systematisch und deutlich verschlechtert hat. Details zu diesen und weiteren Untersuchungen gehen z.B. aus [1] und [7] hervor. 4. Nachrechnung Obwohl bei der Nachrechnung in Stufe 1 und 2 alle planmäßig vorhandenen Bewehrungselemente voll mitwirkend angesetzt wurden, d.h. ohne Schädigungen und mit vollem Verbund zwischen Stahl und Beton, konnten für das Ziellastniveau BK 30/ 30 wesentliche Nachweise nicht erfolgreich geführt werden. Hierzu zählen z.B. die GZT-Nachweise für Querkraft und Torsion (Brückenlängsrichtung), die Ermüdungsnachweise für die Längsspannglieder und der GZG-Dekompressionsnachweis. Es sei erwähnt, dass in der Bestandsstatik z.B. Zwangsbeanspruchungen aus Temperatureinwirkungen nicht berücksichtigt wurden. Die Querkraftbewehrung besteht im mittleren Drittel je Steg aus 2-schnittigen Bügeln mit ∅ 8 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 497 Standsicherheitsbeurteilung der Ulmer Gänstorbrücke unter Berücksichtigung von Bauwerksschäden und Messungen alle 30 cm. Heutige Anforderungen, z.B. an die Mindestquerkraftbewehrung, werden nicht eingehalten. Nach dem Bekanntwerden der in Abschnitt 3 erwähnten Korrosionsschäden wurden ergänzende Berechnungen unter Berücksichtigung folgender Annahmen durchgeführt: • Längsspannglieder: Reduktion A p um 15% • Querspannglieder: Reduktion A p um 10% • Zugstrebenspanngl.: Reduktion A p um 20% • Betonstahlstäbe in den Zugstreben: Reduktion A s um 50% • Kein Festigkeitszuwachs bei Spannstahldehnung > 2,5 ‰ aufgrund des schlechten Verbunds: σ p,max,d = 590 / 1,15 = 513 MPa. Es zeigte sich, dass die Biegetragfähigkeit in Längsrichtung nur für eine reduzierte Verkehrslast nachgewiesen werden kann - und zwar nur dann, wenn keine Zwangsbeanspruchungen aus Temperatur und Setzungen angesetzt werden. Für die Nachweise wurden Berechnungen an einem Stabwerk- und einem Faltwerkmodell durchgeführt. Bei den Faltwerksberechnungen konnten unter Zugrundelegung eines physikalisch nichtlinearen Materialverhaltens Umlagerungsmöglichkeiten und Gleichgewichtszustände nachgewiesen werden - d.h., dass Zwangsbeanspruchungen im Grenzzustand der Tragfähigkeit in erheblichem Maß durch Rissbildungen abgebaut werden und die oben erwähnte Annahme vertretbar erscheint. Auf der Grundlage der Nachweise der Biegetragfähigkeit wurde am 28.06.2018 die Teilsperrung der Gänstorbrücke umgesetzt. Seit diesem Tag ist je Teilbauwerk, der jeweils linke Fahrstreifen über dem Innensteg für den Verkehr gesperrt. Zwischenzeitlich wurden die Schadensszenarien erweitert und auch der komplette Ausfall von kurzen Längsspanngliedern im Rechenmodell berücksichtigt (vier je Steg). Die Spannanker dieser Spannglieder sind jeweils durch chloridinduzierte Korrosion stark geschädigt. Es ist davon auszugehen, dass über Undichtigkeiten im Bereich der ÜKOs in den Beton eingetragene Chloride zu einem Fortschreiten der Schädigung führen werden und diese Spannglieder kurzfristig ausfallen können. Über ergänzende geometrisch und physikalisch nichtlineare Berechnungen (Theorie 2. Ordnung + nichtlineares Materialverhalten) wurden diese Schadensszenarien für Beurteilungen der Standsicherheit angesetzt. Dabei zeigte sich, dass für die Lastfallkombination „maximales Feldmoment in Feldmitte“ das Sicherheitsniveau am kleinsten ist und sich das Versagen im Grenzzustand der Tragfähigkeit durch größere Verformungen in Feldmitte ankündigt. Ohne nennenswerte Spannungszuwächse in den Spanngliedern (bis zur Streckgrenze) könnten die GZT-Nachweise nicht erfolgreich geführt werden. Die fehlende Aussicht auf eine umfassende, mit vertretbarem Aufwand schnell realisierbare, dauerhafte Verstärkung bildete zusammen mit den oben erwähnten Berechnungen sowie weiteren Betrachtungen zur Robustheit (vgl. [8]) die Grundlage für die Konzeptionierung eines Monitoringsystems. 5. Monitoring- und Alarmierungskonzept Eine zuverlässige Abschätzung, inwieweit bereits Spannstahlbrüche aufgetreten sind und ob und in welcher Zeit zukünftig mit Spannstahlbrüchen gerechnet werden muss, ist unmittelbar anhand der vorliegenden Untersuchungsergebnisse nicht möglich. Für den fortlaufenden Betrieb der Brücke bis zu einem Ersatzneubau ist es deshalb erforderlich, weitergehende Schädigungen, wie z.B. Spannstahlbrüche und/ oder Rissbildung im Brückenquerschnitt, welche letztlich die Tragfähigkeit der Brücke in Frage stellen können, durch ein gesamtheitliches Monitoring dauerhaft und kontinuierlich zu überwachen. Das Monitoringkonzept umfasst folgende Einzelsysteme (vgl. [1]): • Schallemission zur Detektion von Spannstabbrüchen • Messung der Dehnungen am Spannstahl mittels Dehnmessstreifen • Messung der Verformung an der Unterseite der Stege zur Detektion zunehmender Verformungen infolge Spannstabausfall / Systemwechsel: Jeweils in Feldmitte an der Unterseite der vier Stege wurden integral verlängerte Wegaufnehmer montiert. Dabei überträgt ein 2 m langer CFK-Stab, der nur an einer Seite fest mit dem Bauwerk verbunden ist, Bewegungen auf einen induktiven Wegaufnehmer. Dadurch werden über die Länge des Stabes „verschmierte“ Dehnungen erfasst. • Messung der Temperatur in definierten Querschnitten Das Alarmierungssystem ist 2-stufig aufgebaut. Falls über das Schallemissionssystem Spannstabbrüche angezeigt oder definierte Stufe-1-Verformungsgrenzwerte in Feldmitte überschritten werden, wird ein ausgewählter Personenkreis automatisch per Email und SMS benachrichtigt. Maßnahmen, wie z.B. die Sperrung der Brücke für den Verkehr werden - falls erforderlich -erst nach einer sorgfältigen Prüfung der Messwerte durchgeführt. In der 2. Stufe des Alarmierungssystems soll - auf Wunsch des Bauherrn - durch die direkte Ansteuerung einer Ampelanlage im Bedarfsfall eine automatische, kurzfristige Sperrung des Bauwerks möglich sein. Maßgebend für diesen Alarmierungsfall ist der Vergleich der Verformungen in Feldmitte („verschmierte“ Dehnungen an den Stegunterseiten) mit Stufe-2-Grenzwerten. Da Fehlalarme vermieden werden sollen, sind die Stufe-2-Grenzwerte etwas großzügiger als die Stufe-1-Alarmwerte. Die Stufe-2-Alarmierung wurde bisher noch nicht aktiviert (Stand: Juni 2020), da zum einen die Steuerung der Ampelanlage durch das „Monitoringsystem“ hardware- 498 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Standsicherheitsbeurteilung der Ulmer Gänstorbrücke unter Berücksichtigung von Bauwerksschäden und Messungen technisch noch nicht möglich ist und zum anderen die Stufe-2-Grenzwerte noch nicht mit allen Entscheidungsträgern abgestimmt wurden. Die Festlegung der Stufe-2-Grenzwerte basiert zu einem großen Teil auf den Erfahrungen aus Kurzzeit- (siehe Abschnitt „Probebelastung“) und Langzeitmessungen (mindestens 1 Jahr, vgl. Abschnitt 6). 6. Probebelastung Erste wichtige Anhaltspunkte für die Festlegung der Verformungsgrenzwerte lieferte im Herbst 2018 eine Probebelastung. Als Probebelastung wird hier die Überfahrt eines Fahrzeuges mit definierten Rad- und Achslasten über ein Teilbauwerk bezeichnet. Es wurden mehrere Überfahrten mit drei unterschiedlichen Fahrzeugen durchgeführt. Durch den Vergleich zwischen rechnerischen Dehnungen und Verformungen unter definierten äußeren Beanspruchungen mit Messwerten konnte u.a. eine Modellkalibrierung durchgeführt werden. Markant war, dass sich während der Überfahrten der Probebelastungsfahrzeuge beim östlichen Teilbauwerk systematisch größere vertikale Verformungen und größere Schwingbreiten bei den “verschmierten” Dehnungen in Feldmitte ergaben als beim baugleichen westlichen Teilbauwerk. Als Ursache für das unterschiedliche Tragverhalten der beiden Teilbauwerke kommen z.B. abweichende eingeprägte Zwangsbeanspruchungen oder vorhandene Schädigungen, wie z.B. Spannstabbrüche, in Frage. An einer einzelnen DMS-Messstelle an einem Längsspannglied im Überbau wurde während der Probebelastung eine bleibende Dehnung registriert (vgl. [1]). Diese resultiert vermutlich auf einer Rutschung (Überwindung der Haftreibung am Kontaktpunkt zum Hüllrohr) des Spannstahls innerhalb des Hüllrohrs, das über eine Länge von mehreren Metern nicht verpresst war. Weitere Informationen zur Probebelastung können [1] entnommen werden. Vorläufige Stufe-1-Alarmwerte für die „verschmierten“ Dehnungen in Feldmitte wurden im Dezember 2018 auf der Grundlage der Ergebnisse der Probebelastung definiert. Seit dem 21.12.2018 ist die Stufe-1-Alarmierung funktionsfähig. 7. Monitoring 7.1 Stufe-1-Alarmierung Die Stufe-1-Alarmierung basierte zunächst ausschließlich auf dem Vergleich zwischen einem temperaturabhängigen Grenzwert und dem Extremwert der je 10-min-Intervall gemessenen „verschmierten“ Dehnung (hier vorzeichenbedingt „Min“-Wert). Über einen Zeitraum von ca. 15 Monaten sind in Bild 1 die relevanten 10-min-Werte für den Sensor 1 dargestellt, d.h. für den Außensteg des westlichen Teilbauwerkes. Aus dem Vergleich zwischen den Durchschnittswerten (avg) und den „Min“-Werten lässt sich der Einfluss von Verkehrslasten auf die Verformungswerte erkennen. Durch Temperatureinwirkungen veränderten sich die mittleren Verformungen (avg) im betrachteten Zeitraum deutlich. Zusätzlich dargestellt ist in Bild 1 der „vorläufige“ Alarmierungsgrenzwert für den Sensor 1, der in Abhängigkeit von der am Sensor gemessenen Temperatur angepasst wird. Der Grenzwert enthält drei Anteile: 1. Extremwert der verschmierten Dehnung aus der Probebelastung (max. Fahrzeugmasse: 48 t) 2. (Lineare) Anpassung in Abhängigkeit von der am Sensor gemessenen Temperatur 3. Pauschaler Zuschlag zur Berücksichtigung des Verformungsanteils aus einem ungünstig wirkenden Temperaturunterschied zwischen der Brückenober- und -unterseite Anhand der Temperaturmessungen ist eine verfeinerte Temperaturbereinigung möglich. Hierzu werden aus den je Teilbauwerk an (mindestens) sechs Temperaturmessquerschnitten aufgezeichneten Temperaturen ingenieurmäßig eine Bauwerkstemperatur T N und ein Temperaturgradient ∆ T M zwischen der Ober- und Unterseite abgeschätzt. In Bild 2 sind die temperaturbereinigten extremalen Verformungswerte für den Sensor 1 dargestellt („Min“-Werte je 10-min-Intervall) - und zwar über den gleichen Zeitraum wie in Bild 1. Zusätzlich dargestellt sind die Verläufe der Temperaturänderungen gegenüber dem Sensornullstellungszeitpunkt (t0) kurz vor dem Start der Probebelastung: • ∆ T N (t t0) = T N (t) - T N (t0) (Der Index W im Diagramm steht für „westliches Teilbauwerk“.) • ∆ T M (t - t0) = ∆ T M (t) - ∆ T M (t0) Die ingenieurmäßig ermittelte Bauwerkstemperatur T N variierte im dargestellten Auswertungszeitraum zwischen -3 und 31 °C, der Temperaturgradient ∆ T M (obenunten) zwischen -4 und 10 K. Aus dem Verlauf der temperaturbereinigten Messdaten ist ersichtlich, dass trotz der vorgenommenen Temperaturbereinigung eine im hier betrachteten Messzeitraum tendenziell zunehmende Restverformung verbleibt. Da sich diese Tendenz lediglich beim Sensor 1 deutlicher zeigt, wird angenommen, dass die bereits in Abschnitt 5 erwähnten „Rutschungen“ zwischen Spannstab und Hüllrohr hierfür ursächlich sind. Im betrachteten Messzeitraum fanden z.B. mehrere unzulässige Überfahrten von Schwertransporten über das westliche Teilbauwerk statt. Dies konnte über eine Videoüberwachung und die Messungen (Dehnungen + verschmierte Dehnungen) dokumentiert werden (vgl. [1]). 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 499 Standsicherheitsbeurteilung der Ulmer Gänstorbrücke unter Berücksichtigung von Bauwerksschäden und Messungen Bild 1: Längenänderung am Sensor 1 in Feldmitte (Außensteg des westlichen Teilbauwerkes) mit Temperaturmesswerten am Sensor und dem „vorläufigen“ Stufe-1-Alarmierungsgrenzwert Bild 2: Temperaturbereinigte „Längenänderung“ in Feldmitte (hier: Außensteg des westlichen Teilbauwerkes) 500 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Standsicherheitsbeurteilung der Ulmer Gänstorbrücke unter Berücksichtigung von Bauwerksschäden und Messungen 7.2 Stufe-2-Alarmierung Auf der Grundlage der in Bild 2 dargestellten temperaturbereinigten Messwerte ließe sich im Grunde genommen auch eine Stufe-2-Grenzwertabfrage realisieren. Angesichts der erheblichen Auswirkungen einer automatischen Sperrung der Gänstorbrücke auf den städtischen Verkehr ist ein möglichst robustes, fehlerunempfindliches Stufe-2-System unerlässlich. Derzeit wird eine Lösung favorisiert, bei der die Temperaturbereinigung vereinfacht auf der Grundlage der Sensortemperaturen (in Feldmitte) durchgeführt wird. Alle relevanten Daten stammen bei dieser Variante aus einem einzigen Datenerfassungssystem. Die im ersten Jahr festgestellten maximalen Unterschiede zwischen der „genaueren“ und der „vereinfachten“ Temperaturbereinigung werden bei der Festlegung der Stufe-2-Grenzwerte berücksichtigt. Aufgrund der festgestellten Unterschiede wird je Stegsensor (in Feldmitte) ein sensorspezifischer Grenzwert definiert. Durch physikalisch nichtlineare Berechnungen können unter Berücksichtigung von Effekten aus der Theorie 2. Ordnung Versagensszenarien simuliert und „GZG“sowie „GZT“-Verformungen abgeschätzt werden. Die durchgeführten Berechnungen deuten darauf hin, dass sich die Schwachstelle beider Teilbauwerke in Feldmitte befindet und sich ein mögliches Versagen über größere Verformungen in Feldmitte ankündigen würde. Folgende Einschränkung ist allerdings zu beachten: Der genaue Schädigungszustand beider Teilbauwerke ist nicht bekannt. Durch Ausfälle von Zugstrebenspanngliedern kann sich die „Schwachstelle“ z.B. in Richtung Zugstreben verlagern. Anpassungen des Überwachungskonzeptes können dadurch notwendig werden. 8. Zusammenfassung Beide Teilbauwerke der 1950 errichteten Gänstorbrücke weisen erhebliche, systematische, irreparable und standsicherheitsrelevante Schädigungen auf. Das normativ geforderte Standsicherheitsniveau kann unter Berücksichtigung der festgestellten Schädigungen nur für den Zustand der Teilsperrung durch den Einsatz von wissenschaftlichen Methoden (Stufe 4) nachgewiesen werden. Der genaue Schädigungszustand lässt sich aufgrund der Vielzahl an Spanngliedern durch zerstörungsfreie Prüfmethoden nicht allumfassend feststellen. Es gibt aktive, chloridinduzierte Korrosionsvorgänge, die sich kaum stoppen lassen und zu weiteren Schädigungen führen werden. Um das Bauwerk bis zur Fertigstellung eines Ersatzneubaus weiterhin nutzen zu können, wurde ein Monitoringsystem konzipiert und installiert. Durch das Monitoringsystem ist es möglich, Veränderungen des Bauwerkszustandes (z.B. Spannstabbrüche) und des Tragverhaltens (Verformungen / Dehnungen) kontinuierlich zu erfassen. Basierend auf den Ergebnissen einer Probebelastung wurden Alarmierungsgrenzwerte definiert. Seit Dezember 2018 ist die erste Stufe des Alarmierungssystems aktiv. Im Falle einer Stufe-1-Grenzwertüberschreitung wird seither ein ausgewählter Personenkreis automatisch per SMS / E-Mail informiert. Es musste festgestellt werden, dass wiederholt unzulässige Überfahrten von bis zu 77t-schweren Fahrzeugen stattgefunden haben. Dabei kam es z.B. an Messstellen in Feldmitte zu bleibenden Verformungen, die nach derzeitigem Stand auf Rutschungen zwischen Spanngliedern und den unzureichend verpressten Hüllrohren zurückzuführen sind. Zur Verhinderung von weiteren unzulässigen Überfahrten wurden von den Städten Ulm und Neu-Ulm im August 2019 Höhen- und im Februar 2020 Fahrstreifenbreitenbegrenzungsvorrichtungen mit einer Schrankenanlage für den Busverkehr und Rettungsfahrzeuge installiert. Durch diese Maßnahmen, die auch eine Gewichtsbeschränkung auf 3,5 t vorsehen, kann der verkehrslastbedingte Schädigungsfortschritt in den korrodierten Spanngliedern verringert werden. Der Ersatzneubau der für den städtischen und regionalen Verkehr sehr wichtigen Gänstorbrücke soll nach derzeitigem Stand bis 2024 fertiggestellt werden. Solange die beiden vorhandenen Teilbauwerke unter Verkehr stehen, bleibt das Monitoringsystem aktiv. Literaturverzeichnis [1] Müller, A., et al.: Die Gänstorbrücke in Ulm - Untersuchung, Probebelastung und Brückenmonitoring. Beton- und Stahlbetonbau 115 (2020), H. 3, S. 164-178 [2] Finsterwalder, U.; König, H.: Die Donaubrücke beim Gänstor. Der Bauingenieur 26 (1951), Nr. 10, S. 289-293 [3] Dyckerhoff & Widmann AG: EW-Bericht. Gänstorbrücke Ulm. München, 21.12.1981 (unveröffentlicht) [4] Dyckerhoff & Widmann AG: Gänstorbrücke Ulm. Konzept für die Sanierung. München, 21.07.1982 (unveröffentlicht) [5] Göhler, B.: Abschließende Stellungnahme zu den 1990 festgestellten Korrosionsschäden an der Gänstorbrücke und deren Sanierung. Schreiben an das Tiefbauamt der Stadt Ulm vom 18.01.1991 (unveröffentlicht) [6] BMVI: Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand (Nachrechnungsrichtlinie, 05/ 2011) mit 1. Ergänzung (04/ 2015) [7] Nowak, M.; Fischer, O.; Müller, A.: Realitätsnahe Verkehrslastansätze für die Nachrechnung der Gänstorbrücke über die Donau. Beton- und Stahlbetonbau 115 (2020), Nr. 2, S. 91-105 [8] Müller, A.: Nachrechnung der Gänstorbrücke Ulm - Zusatzbetrachtungen zur Robustheit. Münchener Massivbau Seminar 2017, München, 2017