eJournals Brückenkolloquium 4/1

Brückenkolloquium
kbr
2510-7895
expert verlag Tübingen
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2020
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Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken

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Karl G. Schütz
Michael Schmidmeier
Aktuell erfolgt die Bewertung von bestehenden Brückenbauwerken auf Grundlage der Nachrechnungsrichtlinie [1]. Im folgenden Beitrag wird über weitere Anwendungen eines bereits in [2] vorgestellten messbasierten Verfahrens zur realitätsnahen Bewertung von Verkehrseinwirkungen im Bestand berichtet. Neue Ergebnisse, die im Rahmen von zwei weiteren Langzeitmessungen an einer Spannbetonbrücke und einer Stahlbrücke gewonnen wurden, werden vorgestellt. Abschließend werden diese neuen sowie auch bisherige eigene und zwischenzeitlich veröffentlichte Erkenntnisse zu dieser Thematik zusammengefasst und mit Blick auf die Fortschreibung der Nachrechnungsrichtlinie aufbereitet.
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4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 509 Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken Prof. Dr.-Ing. habil. Karl G. Schütz Dr.-Ing. Michael Schmidmeier DR. SCHÜTZ INGENIEURE - Beratende Ingenieure im Bauwesen PartG mbB An der Stadtmauer 13, 87435 Kempten (Allgäu) www.drschuetz-ingenieure.de Zusammenfassung Aktuell erfolgt die Bewertung von bestehenden Brückenbauwerken auf Grundlage der Nachrechnungsrichtlinie [1]. Im folgenden Beitrag wird über weitere Anwendungen eines bereits in [2] vorgestellten messbasierten Verfahrens zur realitätsnahen Bewertung von Verkehrseinwirkungen im Bestand berichtet. Neue Ergebnisse, die im Rahmen von zwei weiteren Langzeitmessungen an einer Spannbetonbrücke und einer Stahlbrücke gewonnen wurden, werden vorgestellt. Abschließend werden diese neuen sowie auch bisherige eigene und zwischenzeitlich veröffentlichte Erkenntnisse zu dieser Thematik zusammengefasst und mit Blick auf die Fortschreibung der Nachrechnungsrichtlinie aufbereitet. 1. Einleitung Zur Bewertung bestehender Straßenbrücken hinsichtlich ihrer Trag- und Ermüdungssicherheit ist aktuell die Nachrechnungsrichtlinie (NRR) des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) anzuwenden [1]. In Ergänzung dazu wurde von den Autoren ein messbasiertes Verfahren entwickelt, über das u.a. in [2] bereits berichtet wurde. Im Folgenden wird zunächst das Verfahren nochmals in knapper Form vorgestellt und anschließend über dessen weitere Anwendung an einer Spannbeton- und einer Stahlbrücke berichtet. Abschließend werden die bisher gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und mit Blick auf die aktuell beim BMVI laufende Fortschreibung der NRR aufbereitet. 2. Beschreibung des Verfahrens Durch die Vorgabe hoher Ziellastniveaus (z.B. LM 1 nach DIN-Fachbericht 101 bzw. nach DIN EN 1991-2) und durch den Ansatz des aktuellen Ermüdungslastmodells LM3 ergeben sich bei Nachrechnungen bestehender Brücken häufig rechnerische Defizite bei deren Trag- und Ermüdungssicherheit. Bei der Ergebnisbewertung ist allerdings zu beachten, dass die aktuellen Lastmodelle schweren Verkehr im Bundesfernstraßennetz bzw. den Hauptstrecken Europas zukunftssicher abbilden sollen. Deshalb ist zu erwarten, dass die damit einhergehenden Beanspruchungen insbesondere im untergeordneten Straßennetz (Bundesstraßen, Landstraßen, etc.) in der Regel nicht erreicht werden. Aus dem Ansatz solcher Lastmodelle resultierende rechnerische Nachweisüberschreitungen sind somit in der Regel nicht mit tatsächlichen Standsicherheitsdefiziten gleichzusetzen. Eine Bewertung solcher Ergebnisse kann zwar aktuell über die gestufte Vorgehensweise der Nachrechnungsrichtlinie [1] erfolgen. Eine Differenzierung in Bezug auf den tatsächlich vorliegenden Verkehr ist dabei jedoch insbesondere im untergeordneten Straßennetz nur bedingt möglich. Zur Bewertung der Standsicherheit von bestehenden Brückenbauwerken wurde deshalb vom Ingenieurbüro DR. SCHÜTZ INGENIEURE, Kempten, ein auf Bauwerksmessungen basierendes alternatives Verfahren zur objektspezifischen Bewertung der tatsächlichen Verkehrsbeanspruchungen entwickelt. Durch Kombination des Verfahrens mit rechnerischen Untersuchungen und einer Kalibrierung des Tragwerksmodells mittels definierter Kurzzeitmessungen kann der Installations- und Messaufwand vor Ort minimiert werden. Über das Verfahren wurde bereits in [2] berichtet. Die Bewertung der Ermüdungssicherheit erfolgt dabei über eine Schädigungsermittlung nach Palmgren-Miner, bei der die Messdaten mittels Rainflow-Analyse ausgewertet und maßgebenden Kerbdetails gegenübergestellt werden. Zur korrekten Bewertung von tragsicherheitsrelevanten Belastungssituationen erfolgt eine Temperatur- 510 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken bereinigung der Messdaten unter Berücksichtigung von Stausituationen. Die Wahl von Annahmen zur Beschreibung und zur Zusammensetzung des vorliegenden Verkehrs, die im Vorfeld in der Regel „auf der sicheren Seite“ liegend gewählt werden müssen, sind bei diesem Verfahren nicht erforderlich. Dies stellt sich insbesondere im Vergleich zu der alternativen Herangehensweise über aufwändige Simulationsrechnungen bzw. Nachrechnungen mit dem Ermüdungslastmodell LM 4 als ein großer Vorteil in Bezug auf die Aussagegenauigkeit dar. Um die Messergebnisse mit charakteristischen Werten eines normativen Lastmodells vergleichen zu können, erfolgt eine statistische Auswertung in Anlehnung an DIN EN 1991-2. Um künftige Verkehrsentwicklungen mit zu erfassen, erfolgt zudem der Ansatz eines objektbezogenen Prognosefaktors. Für dessen Ermittlung und Zuschärfung ist der im Messzeitraum dokumentierte Verkehr hinsichtlich besonderer (Extrem-) Ereignisse auszuwerten (Erfassung von Überfahrten schwerer Einzelfahrzeuge / Mobilkräne, Sondertransporten, Unfallsituationen, etc.). Über Vergleichsrechnungen können abschließend unmittelbar zukunftssichere Aussagen über die Trag- und Ermüdungssicherheit des untersuchten Bauwerks getroffen werden. Über die Ableitung von Anpassungsfaktoren („ α -Werten“) kann auch ein quantitativer Vergleich zu den Beanspruchungen aus normativen Lastmodellen abgeleitet werden (z.B. α · LM 1). Über die Vorgehensweise und die Ergebnisse an zwei vor kurzem abgeschlossenen Langzeitmessungen wird im Folgenden berichtet. 3. Beispiel 1: Spannbetonbrücke 3.1 Vorgeschichte Im Zuge einer Nachrechnung des Bestands nach [1] wurden in den Stufen 1 und 2 erhebliche rechnerische Defizite im Bereich der Trag- und Ermüdungssicherheit festgestellt. Als besonders kritisch wurde demnach die Ermüdungssicherheit der durch Querkraftabtrag beanspruchten Schubbügel in den Hauptträgern eingestuft. Zum weiteren Vorgehen wurde von den Planern ein mehrjähriges Monitoring mit insgesamt rund 150 (! ) Sensoren sowie umfangreiche weitere Berechnungen in Anlehnung an die Stufen 3 und 4 nach [1] vorgeschlagen. Die Autoren wurden auf Grundlage ihrer messtechnischen Erfahrungen (prüfseitig) zu den Untersuchungen hinzugezogen. Zur unabhängigen Bewertung erfolgten zunächst rechnerische Untersuchungen, aus denen wiederum eine minimierte Messanlageninstallation und Datenauswertung an einem Teilbauwerk abgeleitet wurde. 3.2 Beschreibung des Bauwerks Das Bauwerk überführt die Bundesstraße B4 über die Callenberger Straße und einen Bach im Stadtgebiet von Coburg. Es setzt sich aus mehreren Teilbauwerken zusammen, die in den Jahren 1978 bis 1980 errichtet wurden. Die nachfolgend beschriebenen messtechnischen Untersuchungen erfolgten am Teilbauwerk Überbau Ost. Bild 1: Längsschnitt durch Überbau Ost Der Überbau Ost ist als Spannbetontragwerk mit einer Gesamtbreite von 9,73 m als Zweifeld-Durchlaufträger mit 2 x 52,6 m Spannweite ausgebildet. Der massive Pfeiler in Bauwerksmitte ist biegesteif mit dem Überbau verbunden. Bild 1 zeigt einen Längsschnitt durch das Teilbauwerk. Im Regelquerschnitt besteht der Überbau aus einem zweistegigen Plattenbalken, der im Bereich der Auflagerungen in massive Querträger einbindet. Die Konstruktionshöhe der Plattenstege beträgt 2,00 m bzw. 2,12 m. Bild 2 zeigt den Querschnitt des östlichen Überbaus im Bereich des Mittelpfeilers. Der Überbau Ost überführt zweispurigen Richtungsverkehr mit nördlicher Fahrtrichtung. Der DTV-SV liegt gemäß einer Verkehrszählung aus dem Jahr 2015 bei rund 750. Nach den Angaben der Straßenbauverwaltung ist der Verkehr einer „Mittleren Entfernung“ nach [1] zuzuordnen. Die ursprüngliche Bemessung des Bauwerks erfolgte für die Brückenklasse 60/ 30 nach DIN 1072. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 511 Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken Bild 2: Querschnitt Überbau Ost 3.3 Durchführung der Messungen Entscheidend bei der Konzeption der prüfseitigen Messanlage war die rechnerisch abgeleitete Erkenntnis, dass der Überbau unter den tatsächlichen (Verkehrs-) Einwirkungen im Zustand 1, also in einem überdrückten / ungerissenen Zustand verbleibt. Im Gegensatz zu den über ein Fachwerkmodell unter Annahme von gerissenem Beton, d.h. im Zustand 2, ermittelten planungsseitig berechneten (hohen) Werten, wurden deshalb insbesondere in den Schubbügeln keine nennenswerten ermüdungsrelevanten Beanspruchungen erwartet. Zum messtechnischen Nachweis wurde dem entsprechend auch nur an einem auflagernahen Schubbügel eine Spannungsmessung vorgesehen. Als zentrale Bewertungsgröße wurden prüfseitig die Spannungen in der Längsbewehrung im Feldbereich angesehen. Hier wurden (insbesondere aus Gründen der Redundanz in Verbindung mit der schwierigen Zugänglichkeit) an zwei Längseisen des äußeren Hauptträgersteges Dehnmessstreifen (DMS) angebracht. In der Summe erfolgte somit die Bauwerksüberwachung über lediglich drei Messkanäle, in denen jeweils über zwei entsprechend verschaltete DMS die Normalspannungen in den beschriebenen Bewehrungseisen gemessen wurden. Zur Kalibrierung des Tragwerksmodells wurden Kurzzeitmessungen durchgeführt. Dabei wurde das Bauwerk mit einer rund 49 to schweren Fahrzeug-Anhänger-Kombination mit fünf belasteten Achsen befahren. Die rechnerischen Annahmen zum Tragverhalten wurden dabei in vollem Umfang bestätigt. Es ergab sich qualitativ und quantitativ eine sehr gute Übereinstimmung zwischen Rechnung und Messung unter Ansatz eines linear-elastischen Dehnverhaltens des vorgespannten Verbundquerschnitts aus Beton mit Spann- und Schlaffstahlbewehrung. Die Beanspruchungen in den Schubbügeln blieben den Erwartungen entsprechend vernachlässigbar. 3.4 Bewertung Ermüdungssicherheit Das Ergebnis der einjährigen Messung war im Hinblick auf die Bewertung der Ermüdungssicherheit eindeutig. So zeigten sich in den auflagernahen Schubbügeln in allen Belastungszuständen systematisch lediglich vernachlässigbare Spannungsschwingbreiten von unter 2 N/ mm². Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass das vorgespannte Tragwerk seit seiner Errichtung im Wesentlichen im Zustand 1 vorlag und deshalb bislang auch keine relevanten Ermüdungsbeanspruchungen aus der Querkraftableitung ertragen musste. Erfolgen keine gravierenden verkehrlichen Veränderungen und ergeben sich bei den handnahen Bauwerksprüfungen nach DIN 1076 keine Veränderungen (z.B. Rissbildung), so kann dieses aus Sicht der Ermüdung günstige Tragverhalten auch künftig unterstellt werden. Ein ähnlich positives Ergebnis zeigte sich für die Längsbewehrung im Feldbereich. Auch hier blieb die Höhe und die Häufigkeit der aufgezeichneten Schwingbreiten so weit unter der normativ anzusetzenden Kerbkategorie von 173 N/ mm², dass sich keine Einschränkungen hinsichtlich der Ermüdungssicherheit ergaben. Der Nachweis der Ermüdungssicherheit war damit für das Haupttragwerk messtechnisch erbracht. Weitere diesbezügliche Untersuchungen (insbesondere aufwändige Simulationsrechnungen auf Grundlage eines aus den Messungen abgeleiteten Ermüdungslastmodells LM 4) sind somit nicht erforderlich. Im Zuge weitergehender Auswertungen wurde das objektspezifische Niveau des Ermüdungslastmodells LM 3 nach DIN EN 1991-2 präzisiert. Unter Beibehaltung aller geforderten normativen Sicherheiten können die tatsächlichen Ermüdungsbeanspruchungen des Haupttragwerks zukunftssicher über ein auf 48 % abgemindertes ( λ -fach angesetztes) Ermüdungslastmodells LM 3 beschrieben werden. Diese Erkenntnis kann als Grundlage für die rechnerische Bewertung weiterer Tragelemente des gleichen Überbaus (z.B. der Fahrbahnplatte) bzw. zur Übertragung auf die weiteren Teilbauwerke und deren Bewertung verwendet werden. 3.5 Bewertung Tragsicherheit Wie bereits in Abschnitt 2 erläutert, sind die Messdaten zur Analyse der verkehrsbedingten Beanspruchungen zunächst um die Temperatureinflüsse zu bereinigen. Bei dieser Auswertung zwingend zu berücksichtigen sind jedoch auch Mittelwertveränderungen, die nicht temperaturbedingt sind, sondern auf Belastungseinflüsse zurückgehen (z.B. bei Stausituationen). Exemplarisch zeigt dazu Bild 3 die temperaturbereinigten 60-Sekunden-Maximalwerte im Juni 2020 (Kanal 0 = Längsbewehrung, Kanal 8 = Schubbügel). 512 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken Bild 3: Auszug Messintervall M-06 mit temperaturbereinigten 60-Sekunden-Maximalwerten Wie bereits erläutert, zeigt sich das insgesamt vernachlässigbare Niveau der verkehrsbedingten Spannungen in den Schubbügeln (grüne Maximalwerte des Kanal 8 im Bereich < 1 N/ mm²). Anhand der Messdaten von der Längsbewehrung (Kanal 0, schwarze Maximalwerte) können dagegen anschaulich die folgenden Erkenntnisse aufgezeigt werden. Zum ersten werden die häufigen Überfahrten durch schwerere Fahrzeuge mit einem Beanspruchungsniveau bis etwa 16 N/ mm² erkennbar (blaue Grenzlinie). Dies entspricht bei kompakter Geometrie - Lkw’s und Sattelschleppern mit etwa 40 to Gesamtgewicht. Regelmäßig, aber in der Summe deutlich seltener treten höhere Beanspruchungen von bis zu rund 25 N/ mm² auf (orange Grenzlinie). Diese Ereignisse gehen in der Regel auf Überholvorgänge mit zwei beteiligten Lkw zurück. Abschließend findet sich im vorigen Mitschrieb auch das Maximalereignis der einjährigen Messung (roter Rahmen). Den zu letzterem zugehörigen Spannungs-Zeit-Verlauf zeigt Bild 4. Bild 4: Überfahrt eines rund 97 to schweren Fahrzeugs Die detaillierte Auswertung und der Vergleich mit der Kalibriermessung führte zu dem Schluss, dass es sich dabei vermutlich um die Einzelüberfahrt einer rund 97 to schweren Fahrzeugkombination gehandelt hat. Rechnerisch blieb das Haupttragwerk auch während dieser Überfahrt im Zustand 1. Informativ sind in der vorigen Abbildung auch die zugehörigen Normalspannungen im Schubbügel (rote Linie, Kanal 8, Werte zwischen + 0,35 N/ mm² bzw. - 0,60 N/ mm²) eingetragen. Für die Extrapolation der Messdaten auf charakteristische Werte erfolgte eine statistische Auswertung der Messdaten im hier interessierenden Extremwertbereich. Herangezogen wurden für diese Auswertung die insgesamt knapp 200 extremalen Einzelereignisse aus der einjährigen Messung (ohne das obige Extremereignis), die mittels Normalverteilung angenähert und hinsichtlich ihres 99,9 % - Fraktilwertes ausgewertet wurden. Der daraus für die maßgebende Messstelle K4 abgeleitete Beanspruchungswert (29 N/ mm²) wurde zur Berücksichtigung zukünftiger Verkehrszunahmen um 36 % erhöht. Dieser aus veröffentlichten Untersuchungen abgeleitete Wert ist als insgesamt deutlich auf der sicheren Seite liegend anzusehen. Als zukunftssichere charakteristische Beanspruchungshöhe resultierte daraus ein Wert von 39 N/ mm², der damit auch das einmalige Maximalereignis und die Überfahrt von extrem schweren Einzelfahrzeugen bis rund 100 to abdeckt. Ursprünglich bemessen wurde das Bauwerk für die Brückenklasse 60/ 30 nach DIN 1072. Rechnerisch resultiert daraus ein unmittelbar vergleichbarer Beanspruchungswert aus den Verkehrslasten von 56 N/ mm². Somit erreicht die aus Messung abgeleitete zukunftssichere Verkehrsbeanspruchung hierzu im Vergleich lediglich einen Anteil von rund 70 %. Bezogen auf das aktuelle Lastmodell LM 1 nach DIN EN 1991-2 reduziert sich dieser Wert auf rund 47 %. Die objektspezifische Abminderung der charakteristischen Verkehrseinwirkungen kann - analog zum vorigen Ergebnis bei der Ermüdungsbewertung - im Rahmen von weiteren Standsicherheitsnachweisen (der Fahrbahnplatte, der weiteren Teilbauwerke, etc.) angesetzt werden. 4. Beispiel 2: Stahlbrücke 4.1 Vorgeschichte Aufgrund vorhandener Schäden am Bauwerk erfolgte zunächst dessen Nachrechnung mit dem Schwerpunkt auf Fragestellungen zur Ermüdungssicherheit der Rundstahlhänger und des Überbaus. Dabei zeigten sich verschiedene Defizite, zu deren weiterer Bewertung ein einjähriges Monitoring am Bauwerk erfolgte. Im Zuge dieser Untersuchungen wurden ergänzende Überlegungen zum tatsächlichen Verkehrsaufkommen und zur realitätsnahen Bewertung der Trag- und Ermüdungssicherheit des Überbaus angestellt. 4.2 Beschreibung des Bauwerks Bei dem Bauwerk handelt es sich um die Neue Deichbrücke in Eisenhüttenstadt. Sie ist als eine Durchlaufträger- 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 513 Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken brücke in Ganzstahlbauweise über drei Felder konzipiert. Der Überbau wurde im Jahr 1996 nach Abbruch des Vorgängerbauwerks auf den bestehenden Unterbauten neu errichtet. Das Mittelfeld (58,50 m) ist als Stabbogenbrücke ausgebildet. Der Versteifungsträger des Überbaus wurde als durchlaufend ausgebildete Deckbrücke in die beiden Randfelder (je 19,50 m) verlängert. Bild 5 zeigt eine Ansicht des Bauwerks von der Deichseite aus. Bild 5: Ansicht der Neuen Deichbrücke in Eisenhüttenstadt Das Bauwerk überführt eine innerstädtische zweispurige Straße (Breite 5,50 m) mit örtlichem Verkehr und sehr geringem Schwerverkehrsanteil über den Spree-Oder- Kanal („Ortsverkehr“ nach [1]). Zuständiger Baulastträger ist die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung (WSV). Den Regelquerschnitt des Überbaus im Bereich des Stabbogens zeigt Bild 6. Bild 6: Regelquerschnitt Neue Deichbrücke Mittelfeld Die Bemessung des Überbaus erfolgte für die Brückenklasse 30/ 30 nach DIN 1072. 4.3 Durchführung der Messungen Unter Berücksichtigung der vorhandenen Schäden am Tragwerk im Anschlussbereich der Rundstahlhänger und der Ergebnisse der Nachrechnung erfolgte die Installation einer Messanlage mit insgesamt 16 DMS (9 DMS im Bereich von vier Hängern, 7 DMS im Bereich des Haupt- und Quertragwerks). Nach der Installation wurden zunächst Kurzzeitmessungen durchgeführt. Dabei wurden zum einen die Eigenfrequenzen der Hänger ermittelt. Zum anderen wurden die Tragwerksbeanspruchungen aus der Überfahrt eines vermessenen und verwogenen Lkw’s (42 to, 5 Achsen) bestimmt und damit im Rahmen von Vergleichsrechnungen die Funktionsfähigkeit und Genauigkeit des Tragwerksmodells nachgewiesen. Es zeigten sich dabei bereits verschiedene Auffälligkeiten am Bauwerk: - erhebliche Abweichungen bei der Verteilung der Hängerkräfte mit zum Teil daraus resultierenden sehr niedrigen Hänger-Eigenfrequenzen, - Auffälligkeiten bei der Lastabtragung im Bereich der zum Teil bereits mehrfach wiederverschweißten Schadensstellen im Bereich der Hänger-Durchdringungen durch das Fahrbahnblech, - eine deutliche Schwingungsanfälligkeit des Bauwerks und der Hänger bei Überfahrten mit höheren Geschwindigkeiten. 514 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken 4.4 Bewertung Ermüdungssicherheit Die bereits rechnerisch nicht ausreichende Ermüdungssicherheit der Hänger und ihrer Anschlussbereiche wurde durch die Messungen bestätigt. Als geringste Restnutzungsdauer ergaben sich aus der Messung an einer Stelle nur noch 39 Jahre. Hierfür mitentscheidend waren: - Anregung von Hängern durch wirbelerregte Querschwingungen, - Systematische, resonanzartige Anregung der Hänger durch überquerende Fahrzeuge, mutwilliges Handaufschaukeln der (gut erreichbaren) längeren Hänger. Exemplarisch für den zuvor genannten zweiten Punkt ist in Bild 7 die Anregung eines Hängers durch die Überfahrt eines rund 12 to schweren Fahrzeugs dargestellt, das mit geringer Geschwindigkeit (< 20 km/ h) das Bauwerk quert. Bild 7: Anregung eines langen Hängers durch Fahrzeugüberfahrt Bereits während der Überfahrt des Fahrzeugs (Kanal 10, schwarze Linie, Spannungsverlauf im Versteifungsträger) schaukelt sich eine im Anschluss mehrminütig andauernde Schwingung in der ersten Eigenfrequenz des Hängers von ca. 3,5 Hz auf (Kanal 1, rote Linie). Durch den insgesamt geringen Verkehr auf dem Bauwerk konnte hingegen der Ermüdungsnachweis des restlichen Haupt- und Quertragwerks durch die Messung ohne Einschränkungen erbracht werden. Aus der einjährigen Messung konnte ein objektspezifisches Ermüdungslastniveau für den Straßenverkehr von lediglich 15 % des normativen Ermüdungslastmodells LM 3 (inklusive λ -Faktoren) ermittelt werden. Für die Instandsetzung des Bauwerks wurden konstruktive Veränderungen im Hängeranschlussbereich sowie ein Austausch der derzeitigen Rundstahlhänger (mit Ø 85 mm) gegen Seilhänger (mit Ø 40 mm) vorgeschlagen. Mit dieser Maßnahme werden sowohl die Eigenfrequenzen als auch die Dämpfung der Hänger signifikant erhöht. Zudem können damit die aus einer nicht fachgerechten Montage des Bauwerks herrührenden Schadensbereiche an der Durchdringung der Knotenbleche durch die Fahrbahnbleche dauerhaft beseitigt werden. Auf Grundlage des WSV-internen Erlasses [3] kann der Einsatz von Seilhängern ohne eine gesonderte Zustimmung im Einzelfall erfolgen. 4.5 Bewertung Tragsicherheit Ergänzend zu den Ermüdungsuntersuchungen erfolgte auch eine Ermittlung des objektspezifischen Niveaus der Verkehrslastbeanspruchungen. In der Summe konnte die Einstufung des Verkehrs in einen „Ortsverkehr“ nach [1] bestätigt werden. Als Extremereignis wurde die Überfahrt eines Mobilkrans mit rund 58 to Gesamtgewicht dokumentiert. Aus der statistischen Auswertung der einjährigen Messung unter Ansatz eines abgeleiteten Prognosefaktors von 1,20 für zukünftige Verkehrszunahmen wurden wie zuvor erläutert die charakteristischen Werte der Verkehrsbeanspruchung ermittelt. Dabei ergab sich zunächst ein Niveau von rund 32 % bezogen auf das Lastmodell LM 1 nach DIN EN 1991-2. Um beim vorliegenden (verkehrlich geringer belasteten) Bauwerk auch messtechnisch nicht erfasste ungünstige Belastungskonstellation mit abzudecken, erfolgten weitergehende Überlegung zu Unfall- und Stauszenarien. Auf dieser Grundlage wurde abschließend ein objektspezifisches Niveau von 43 % des LM 1 nach DIN EN 1991-2 abgeleitet und für künftige Tragsicherheitsbewertungen empfohlen. 5. Verallgemeinerung der Erkenntnisse In [2] wurden auf Grundlage von Messungen an vier Bauwerken Anpassungsfaktoren für den Trag- und Ermüdungsnachweis in Abhängigkeit des Kennwertes DTV-SV vorgeschlagen. Hintergrund dabei war die Erkenntnis, dass die in [1] definierten Verkehrslastvorgaben insbesondere für Bauwerke im untergeordneten Straßennetz in der Regel die tatsächlichen Verkehrsverhältnisse deutlich überschätzen. Diese Erkenntnisse sowie auch die Ergebnisse weiterer Untersuchungen (u.a. [4, 5]) sollen nun bei der Fortschreibung der Nachrechnungsrichtlinie berücksichtigt werden. Im Zuge der Überarbeitung ist aktuell auch vorgesehen, die bisherigen Bewertungsstufen mit Bezug auf die „alten“ Lastmodelle nach DIN 1072, nach DIN-Fachbericht 101, etc. durch den alleinigen Bezug auf das aktuelle Lastmodell LM 1 nach DIN EN 1991-2 (nachfolgend als „LMM“ bezeichnet) zu ersetzen. Hierzu sollen Anpassungsfaktoren („ α -Werte“) eingeführt werden, die eine objektbezogene Bewertung auch für geringere Verkehrsanforderungen unter Ansatz des LMM erlauben. Seitens der Autoren wurden dazu die bislang vorliegenden Untersuchungsergebnisse zusammengefasst und den aktuellen Regelungen in der NRR gegenübergestellt. Bild 8 zeigt dazu die Ergebnisse zur Tragsicherheitsbewertung bei „Ortsverkehr“ und „Mittlerer Entfernung“. 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 515 Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken Die Ordinate zeigt dabei die α -Werte, die jeweils aus dem Bezug zum Lastmodell LMM nach DIN EN 1991-2 ermittelt wurden. Der rechnerische Ansatz des Lastmodells erfolgte dabei gemäß den normativen Vorgaben, das heißt also gegebenenfalls auch in querverschobener Lage auf dem Überbau. Analog dazu sind in Bild 9 aus Messungen abgeleitete Ermüdungsbewertungen den Vorgaben nach [1] gegenübergestellt. Die sich aus den zuvor dargestellten Langzeitmessungen ergebenden Datenpunkte sind in den beiden Bildern mit der Abschnittsnummer gekennzeichnet („3“ = Spannbetonbauwerk aus Abschnitt 3, „4“ = Stahlbrücke aus Abschnitt 4). Gestrichelt eingetragen sind in den Diagrammen die ungefähren α -Wert-Niveaus, die über Vergleichsrechnungen an drei zweispurigen Bauwerken entsprechend den Vorgaben in der NRR ermittelt wurden (gemäß Tabelle 10.1 für Richtungsverkehr bzw. Tabelle 10.2 für Begegnungsverkehr für DTV-SV bis 2.000 in [1]). Sowohl bei der Tragals auch insbesondere bei der Ermüdungssicherheit bestätigt sich zusammenfassend, dass bei Anwendung des aktuellen Regelwerks [1] insbesondere im Bereich geringer Schwerlast-Verkehrsstärken die tatsächlichen Verkehrseinwirkungen im Bestand rechnerisch nennenswert überbewertet werden. Bild 8: aus Bestandsuntersuchungen abgeleitete α LMM - Werte zur Tragsicherheitsbewertung im Vergleich zur NRR [1] Bild 9: aus Bestandsuntersuchungen abgeleitete α LM 3 - Werte zur Ermüdungsbewertung im Vergleich zur NRR [1] Eine Integration dieser Erkenntnisse ist bei der aktuell über die vom BMVI koordinierte Fortschreibung der Nachrechnungsrichtlinie vorgesehen. Die hierzu gehörigen Vorschläge zur Modifizierung der Lastannahmen in den Stufen 1 und 2 werden aktuell erarbeitet. Überdies hinaus sind auch Präzisierungen zur Vorgehensweise in Stufe 3 geplant. Dabei ist vorgesehen, diese Stufe explizit künftig auch für eine messtechnische Erfassung und Bewertung von Verkehren zu öffnen. Abschließend sind im Zuge der Fortschreibung textliche Ergänzungen und Präzisierungen insbesondere an Stellen vorgesehen, an denen sich bei der bisherigen Anwendung unterschiedliche Handhabungen und Interpretationen zeigten (z.B. bei der Ermittlung des DTV-SV, bei der Zuordnung / Auswahl von Verkehrszusammensetzungen, etc.). 516 4. Kolloquium Brückenbauten - September 2020 Weiterentwicklung eines messbasierten Verfahrens zur Bewertung von Straßenbrücken Literaturangaben [1] Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand (Nachrechnungsrichtlinie), Stand 05/ 11. [2] Schmidmeier, Schütz, Ehmann, Willberg: Nachrechnung bestehender Straßenbrücken auf Grundlage messbasierter Lastmodelle, Bauingenieur, Band 92, April 2017. [3] Erlass des BMVI mit dem Aktenzeichen WS 12/ 5257.14/ 11 vom 02.05.2018. [4] Ehmann: FuE-Abschlussbericht „Verkehrslastmodelle für WSV-Brücken“, B3951.01.04.70004, Bundesanstalt für Wasserbau, Karlsruhe, Mai 2019. [5] Geißler, Kraus, Steffens: Methodik zur Bestimmung des Ziellastniveaus für Brückenbauwerke im Landesstraßennetz in Ortsdurchfahrten und auf freier Strecke auf der Basis gemessener Lastkollektive, TU Berlin, Stand 17.09.2019.