Brückenkolloquium
kbr
2510-7895
expert verlag Tübingen
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2022
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Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte
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Oliver Fischer
Sebatian Thoma
Die Querkrafttragfähigkeit von vorgespannten Betonträgern mit geringem Querbewehrungsgrad ist ein aktuelles und fortwährendes Thema, insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung von bestehenden Betonbrücken. In diesem Beitrag werden Teile einer Versuchsreihe vorgestellt, die diesen Kontext aufgreift und gleichzeitig den Grad der Längsbewehrung im Sinne einer wirtschaftlichen Bemessung von Brückenquerschnitten deutlich reduziert, was im Einklang mit bestehenden Brückenquerschnitten und im Gegensatz zur großen Mehrheit der relevanten Versuchsreihen steht. Die konstruktive Durchbildung erlaubte in allen Versuchen ein Schubversagen des Systems bei teilweise plastischer Verzerrung der Längsbewehrung. Der Schwerpunkt der vorgestellten Inhalte liegt auf der lastabhängigen Risskinematik der Balkenelemente auf Grundlage der Messdaten aus digitaler Bildkorrelation. Es wird gezeigt, dass sich, in Abhängigkeit der Längsverzerrung des Querschnitts, Tragmechanismen, die auf den Gedanken der Rissreibung beruhen, mechanisch nur begrenzt begründen lassen und eine Erweiterung der plastizitätstheoretischen Vorstellungen einer Fachwerktragwirkung durch einen geneigten Druckgurt bzw. einen allgemeinen Betontraganteil der Druckzone konsistenter wirken.
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5. Brückenkolloquium - September 2022 69 Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Oliver Fischer Lehrstuhl für Massivbau, Technische Universität München Sebastian Thoma, M.Sc. Lehrstuhl für Massivbau, Technische Universität München Zusammenfassung Die Querkrafttragfähigkeit von vorgespannten Betonträgern mit geringem Querbewehrungsgrad ist ein aktuelles und fortwährendes Thema, insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung von bestehenden Betonbrücken. In diesem Beitrag werden Teile einer Versuchsreihe vorgestellt, die diesen Kontext aufgreift und gleichzeitig den Grad der Längsbewehrung im Sinne einer wirtschaftlichen Bemessung von Brückenquerschnitten deutlich reduziert, was im Einklang mit bestehenden Brückenquerschnitten und im Gegensatz zur großen Mehrheit der relevanten Versuchsreihen steht. Die konstruktive Durchbildung erlaubte in allen Versuchen ein Schubversagen des Systems bei teilweise plastischer Verzerrung der Längsbewehrung. Der Schwerpunkt der vorgestellten Inhalte liegt auf der lastabhängigen Risskinematik der Balkenelemente auf Grundlage der Messdaten aus digitaler Bildkorrelation. Es wird gezeigt, dass sich, in Abhängigkeit der Längsverzerrung des Querschnitts, Tragmechanismen, die auf den Gedanken der Rissreibung beruhen, mechanisch nur begrenzt begründen lassen und eine Erweiterung der plastizitätstheoretischen Vorstellungen einer Fachwerktragwirkung durch einen geneigten Druckgurt bzw. einen allgemeinen Betontraganteil der Druckzone konsistenter wirken. 1. Einleitung Vor dem Hintergrund offener Fragestellungen zur Bewertung des Querkrafttragverhaltens von Spannbetonquerschnitten in Bestandsbrücken sind in jüngster Vergangenheit theoretische und experimentelle Bemühungen intensiviert worden [1-4], wobei insbesondere charakteristische Tragmechanismen vorgespannter Durchlaufträger zur Diskussion standen und einzelne Parameter isoliert betrachtet wurden. Ein Umstand, der diesen experimentellen Untersuchungen gemein ist, findet sich im vergleichsweise hohen Längsbewehrungsgrad der Prüfkörper, der ein vorzeitiges Biegeversagen zu Gunsten des gewünschten Schubversagens ausschließen soll. Eine Versuchsreihe, die in Auszügen nachfolgend vorgestellt wird, untersucht den Einfluss eines sukzessive reduzierten Längsbewehrungsgrades, der die mögliche Längsverzerrung wirtschaftlich bemessener Brückenbauquerschnitte besser approximiert. Einer kurzen Beschreibung des Versuchsprogramms und ausgewählten Aspekten zum Trag- und Bruchverhalten folgend, werden auf Basis der Schubrissbildung, die anhand der digitalen Bildkorrelation analysiert wird, verschiedene Gedanken zur Annahme einer Fachwerktragwirkung und Betontraganteilen aus Rissreibung im Kontext der Versuchsergebnisse kritisch diskutiert. 2. Experimentelle Untersuchungen 2.1 Versuchskonzeption Die vorgespannten Balkenelemente orientieren sich am globalen System eines Referenzdurchlaufträgers mit einer Einzellast je Feld. Das freigeschnittene Subsystem bildet den Bereich zwischen maximalem Feldmoment unter der Einzellast und Mittelstütze ab. Der hierfür konzipierte Versuchsstand erlaubt somit die Untersuchung realitätsnah skalierter Prüfkörper bei Reduktion auf den wesentlichen Trägerausschnitt unter Berücksichtigung der Verträglichkeitsbedingungen an den definierten Schnittufern. Abbildung 1 zeigt angreifende Kräfte am verformten Balkenelement. Die Bewehrung des gemischt bewehrten Zuggurts (schlaffer Betonstahl und girlandenförmig verlaufende Spannglieder) sind jeweils in der Zugzone aus äußerer Last rückseitig in den einfassenden Schubnockenplatten verankert. Druckkräfte werden über den trockenen Kontakt in der Schubnockenfuge übertragen. Die gesteuerte Lastplatte bildet den Feldquerschnitt ab und stellt neben der vertikalen Auflast auch das Momentengleichgewicht mittels horizontaler Zylinderpaare sicher. Weitere, ausführliche Erläuterungen zur genutzten Substrukturtechnik finden sich hier [5, 6]. 2.2 Versuchsprogramm Anhand von acht Substrukturversuchen wird der Einfluss des Längsbewehrungsgrades auf die Querkrafttragfähigkeit untersucht. Dabei werden drei abgestufte Längsbewehrungsgehalte mit geripptem Betonstahl an Rechteck- und Plattenbalkenquerschnitt bei ansonsten gleichen Randbedingungen untersucht. Die wesentlichen Daten sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Der profilierte Plattenbalkenquerschnitt erlaubt zudem Rückschlüsse auf den Traganteil der Gurte, der auch in Relation zur Steifigkeit des Zugbandes zu sehen ist. Die Länge der Trägerausschnitte beträgt inklusive der Vouten (optimierte Kontaktfläche für Lastübertrag via Schubnocken) 4,5-m 70 5. Brückenkolloquium - September 2022 Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte bei einer Querschnittshöhe von 80-cm. Damit ergibt sich eine Schubschlankheit von l ≈ 3. Darüber hinaus wird je Querschnitt ein Tastversuch mit glatter Längsbewehrung durchgeführt, die im Rahmen dieses Beitrags aber nicht weiter thematisiert werden. Alle Balkenelemente werden mit ca. 1,0-facher Mindestschubbewehrung ausgeführt. Alle Träger werden zudem mit Vorspannung im nachträglichen Verbund geprüft, wobei die Vorspannung erst nach Einbau in den Versuchstand aufgebracht wird. Tabelle 1: Auszug der Versuchsreihe, Variation des Längsbewehrungsgrades, Betonkennwerte [MPa], Vorspannung [MPa] und erreichte Bruchlasten ID ρ sl [-] (abs.) f c,cyl f ct,sp E cm s cp V max [kN] R25 0,016 (6D25) 41,9 3,03 28.810 2,50 484 R22 0,012 (6D22) 40,3 3,04 29.480 2,50 517 R18 0,008 (6D18) 44,4 3,04 28.630 2,50 585 T25 0,016 (6D25) 41,9 3,54 27.960 2,50 510 T22 0,012 (6D22) 53,7 3,67 31.260 2,50 609 T18 0,008 (6D18) 43,8 3,84 28.590 2,50 579 Abbildung 1: a) Schematische Darstellung der Substrukturtechnik, b) resultierende, qualitative Schnittgrößenverläufe 2.3 Charakteristisches Trag- und Bruchverhalten Alle Träger der Versuchsserie mündeten in einem Schubversagen. Das Versagen kann unter Berücksichtigung der gesamten Belastungshistorie ausnahmslos als klassisches Biegeschubversagen klassifiziert werden. Unter starker Rissöffnung kommt es zu einem Reißen der Querkraftbewehrung und gleichzeitiger Einschnürung der Druckzone. Insbesondere die Plattenbalkenquerschnitte zeigen vor Erreichen der Bruchlast aber auch vermehrt unmit- 5. Brückenkolloquium - September 2022 71 Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte telbare Schubzugrisse in bereits gerissenen Druckspannungsfeldern in Feld- und Stützbereichen. Mit Erreichen der Bruchlast lokalisiert sich in einem kritischen Biegeschubriss bzw. einschießendem Schubzugriss die finale Bruchkinematik. Die freiwerdende Energie wird kann nur durch die Steifigkeit der Gurte bzw. das kreuzende Spannglied gedämpft werden, weshalb der Bruch der Versuche mit geringstem Längsbewehrungsgrad besonders abrupten Charakter zeigt. Im Rahmen der betrachteten Versuchsreihe beeinflusst ein reduzierter Längsbewehrungsgrad die Schubtragfähigkeit nicht nachteilig. Dies wird durch einen signifikanten Dehnungszuwachs der initial moderat vorgespannten Spannglieder ermöglicht. Das innere Kräftegleichgewicht im Bruchzustand ist von allgemeiner Systemverzerrung, den Steifigkeitsverhältnissen in den Zuggurten und dem gerissenen Druckspannungsfeld im Steg in Interaktion mit kreuzender Bewehrung und Spanngliedern abhängig. Der Dehnungszuwachs in den Spanngliedern erlaubt das innere Gleichgewicht der Kräfte in den Schnittufern unter maximaler Biegung aufrecht zu erhalten, sodass selbst bei plastischer Verzerrung der schlaffen Bewehrung der Lastpfad durch ein Schubversagen final definiert wird. Die Neigung kritischer Schubrisswinkel verläuft bei allen Versuchen flacher als der Schubrisswinkel br nach Gl. 12.13 (Abs. 12.4.3.3) der Nachrechnungsrichtlinie zulässt (cot- b r -≤ -2,25; b r ≤-25,45-°). Der Versuch T18 erreicht final einen Schubrisswinkel von 15,0 Grad. Die Mobilisierung eines derart flach geneigten Druckspannungsfeldes ermöglicht die unter Abschnitt 3.5 ausgewiesenen erreichten Traglasten. Vor dem Hintergrund der Nachrechnung von Bestandsbrücken ist - neben der begrenzten Datengrundlage - von einer weiteren Anpassung hin zu flacher ansetzbaren Schubrisswinkeln abzusehen, da damit implizit eine ausreichende Duktilität der Querkraftbewehrung angenommen wird. Dieser Umstand wird aber nicht geprüft, meist ist dies auf Basis der Bestandsunterlagen ohnehin nicht möglich. 3. Überlegungen zum Fachwerkmodell bei schwachem Schubbewehrungsgrad Die Wahl außerordentlich flacher Druckstrebenneigungswinkel erscheint problematisch, weil die Kompatibilität der Verzerrungen bei begrenzter Duktilität der Querkraftbewehrung nicht gewährleistet werden kann. Ein derart schwacher Querkraftbewehrungsgrad mit dünnen Bügelschenkeln DS-=-6-mm und gutem Verbund (Messung der bezogenen Rippenfläche f R,m -=-0,062) erlaubt nach initialer Rissöffnung nur eine geringfügige weitere Rissöffnung (max. w cr -=-0,3-mm) bevor die Stahldehnung im Riss sich der Maximaldehnung des Stahls im Verbund ohne weitere Kraftzunahme nähert und die Fachwerktragwirkung infolge Rissfortschritt noch vor Erreichen der Bruchlast lokal ausfallen kann. Begleitende Zugversuche zeigen eine Gesamtdehnung A gt -=-53,8 ‰, sodass im vertikalen Zuggurt eines Bügelschenkels in etwa von 8.8-‰ mittlere Stahldehnung möglich sind, bevor es zu einem Reißen der Bügel im Riss kommt [7, 8]. Dies lässt sich anhand der Betrachtung am Mohr’schen Verzerrungskreis nachvollziehen. ε z -=-ε 2 + (ε x ---ε 2 ) · cot 2 -q (1) Entsprechend der plastizitätstheoretischen Annahme, dass die statische Traglast gleichzeitig von Bügelbewehrung und Betondruckstrebe (effektive Festigkeit durch den Faktor k c reduziert) im Steg erreicht wird, kann ε 2 -=-ε c2 zur maximalen Betonstauchung gesetzt werden. Bei zunehmender Längsverzerrung und flachem Druckstrebenneigungswinkel wird der Querkraftbewehrung eine Verzerrung aufgezwungen, die nicht mit ihrer maximal möglichen plastischen Verzerrung vereinbar ist, die Kompatibilität kann nicht gewährleistet werden. Abbildung 2 zeigt beispielhaft die Auswertung der digitalen Bildkorrelation im Stützbereich des Balkens T22. Die ausgeprägte Biegerissbildung im Gurt des Plattenbalkenquerschnitts wird nicht von der DIC-Aufnahme erfasst, diese beschränkt sich auf die Stegebene. Aus den Biegerissen entwickeln sich unter zunehmender Last klassisch abdrehende Biegeschubrisse, wobei mit weiterer Entfernung vom maximalen Stützmoment die schiefen Hauptzugspannungen im Steg für die Rissbildung und -entwicklung eine immer dominantere Rolle einnehmen. Flach geneigte Schubzugrisse, die die Spangliedachse kreuzen (linker Rand des dargestellten Bereichs des DIC- Messfelds in Abbildung 2b) entfestigen das Druckspannungsfeld abrupt und definieren die finale Bruchlast. Zu diesem Zeitpunkt kann bereits abschnittsweise von einer reduzierten Fachwerktragwirkung ausgegangen werden, da auf Grundlage der DIC-Verzerrungen Bügeldehnungen jenseits der Maximalkraft oder sogar ein Reißen angenommen werden kann. 72 5. Brückenkolloquium - September 2022 Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte Abbildung 2: Beispielhafte Auswertung des Balkens T22 im Stützbereich unter 90 % V max ; a) Kontur der Schubrissbildung im Steg aus DIC-Auswertung, b) Vertikale Verzerrung in ausgewählten Schnitten Abbildung 3: Verzerrung in Richtung der Bügel in Abhängigkeit der Druckfeldneigung und variierender Längsverzerrung 4. Entwicklung der Risskinematik 4.1 Ansätze zur Auswertung der digitalen Bildkorrelation Die Daten eines Zeitschritts der digitalen Bildkorrelation werden einer Normalisierung des Wertebereichs unterzogen, um den Kontrast eines DIC-Schrittes zu erhöhen und somit eine bessere Extraktion der Risskontur zu ermöglichen. Dieser Schritt entfernt auch etwaiges Rauschen. Diese Vorgehensweise verfälscht zwar die Absolutwerte der gemessenen relativen Pixelverschiebungen, dient aber nur als Grundlage weiterer morphologischer Methoden [9] zur Extraktion der Risskontur. Die Auswertung der Hauptverzerrungen erfolgt auf Basis der unverfälschten Daten. Die über die Laststufen dargestellten Risse in Abbildung 5 variieren zum Teil leicht, da nur die Hauptrisse unter der jeweiligen Laststufe mit einem Schwellenwert in Abhängigkeit von Median und Standardabweichung einer Korrelationsstufe ausgewertet werden. Die Standardabweichung wird zu s-=-0,33 angenommen, was sich als robuster Wert zur Isolierung der Risskonturen erwiesen hat. Auf dieser Basis kann jede Risskontur in ihrem Verlauf verfolgt und bei vergleichsweise feiner Diskretisierung der Normalenvektor beidseits aufgespannt werden. Die entsprechenden Vektoren c i und c j indizieren wiederum die lokalen Ergebnisse der digitalen Bildkorrelation, im Wesentlichen die Pixelrelativverschiebungen u und v. Diese lokal veränderlichen Informationen entlang eines Risspfades lassen Rückschlüsse auf die Relativbewegungen der Rissflanken zu, sodass anhand der Winkel zwischen Rissnormale c und resultierender Relativverschiebung r auf den Charakter der Bruchkinematik geschlossen werden kann, vgl. Abbildung 4. 5. Brückenkolloquium - September 2022 73 Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte Abbildung 4: Auswertung der lokalen Risskinematik; a) Morphologisch detektierter Risspfad vor Verlauf der Hauptverzerrung aus DIC-Daten und beidseitige rissnormale Vektoren, b) Bezeichnung einzelner verwendeter Vektorkomponenten zur Bestimmung der Winkel g, c) Klassifizierung der Winkel 4.2 Analyse der Rissuferverschiebungen Die Risskinematik und der Charakter der Bruchprozesse werden im Rahmen der vorgestellten Auswertung für den größten und den kleinsten Längsbewehrungsgrad für Rechteck- und Plattenbalkenquerschnitte behandelt. Abbildung 5 zeigt den Kehrwert der Differenzwinkel entlang signifikanter Risspfade für ein Lastniveau mit den Hauptdehnungen e 1 aus den DIC-Daten skaliert. Die Länge der roten Linien wächst also mit dem Kehrwert der lokalen Rissbreite und indiziert damit Rissabschnitte, deren Rissöffnung ausreichend klein ist, um Kräfte zu übertragen - sofern überhaupt eine dominante gleitende Rissuferverschiebung vorliegt. Das beschriebene Vorgehen aus Abschnitt 4.1 reduziert das Rissbild auf die wesentlichen Risskonturen und verfälscht nicht den Eindruck, sodass ein sekundärer Rissprozess und sein möglicherweise erhöhter Anteil an erfassten Rissverschiebung nicht zu einem globalen Traganteil der Rissreibung beitragen kann, wenn er durch stark öffnende Schubzugrisse im Steg flankiert wird. Die Balkenelemente R25 und T25 mit einem hohen Längsbewehrungsgrad können aus phänomenologischer Sicht noch Traganteile aus mobilisierter Rissverzahnung unter moderatem Lastniveau entwickeln; für den Plattenbalkenquerschnitt scheint dies sogar eher möglich zu sein. Auch vorrangig vertikale Rissabschnitte vor einsetzender Rotation der Risswurzel weisen größere Tangentialverschiebungen der Rissflanken auf. Unter zunehmender Belastung und bei Erreichen des Grenzzustands der Tragfähigkeit bewegen sich die Rissflanken fast ausschließlich senkrecht zur Rissebene entsprechend Modus I einer bruchmechanischen Betrachtung. Einzelne unstetige Maxima, die als Artefakte der der feinen Diskretisierung entlang des Rissverlaufs zu werten sind, haben keine mechanische Bedeutung. Eine relevante Größenordnung vorliegender Rissverzahnung zur Beschreibung darauf auf bauender Tragmechanismen auf Bruchlastniveau scheint nicht gerechtfertigt. Dies gilt umso mehr für R18 und T18, die einen vergleichsweise geringen Grad an Längsbewehrung aufweisen und für wirtschaftlich konstruierte Brückenquerschnitte repräsentativ erscheinen. Hier bilden sich Rissprozesse, die sich nicht vorrangig öffnen, nur in wenigen Fällen, meist in Übereinstimmung mit einem abnehmenden Gradienten im Bereich der Rissprozesszone ausgehend von der Risswurzel aus [10]. Verschiedene bruchmechanische Ansätze können auch in diesem Bereich angewendet werden. Insbesondere neuere Untersuchungen mit Druckspannungen parallel zur Risskontur bieten hier einen möglichen Ansatz [11]. Vor diesem Hintergrund angestellter Untersuchungen und Auswertungen erscheint die Anwendung der weit verbreiteten, oft implizit angenommenen Traganteile aus Rissverzahnung (aggregate interlock) [12, 13] zur Ermittlung einer zugehörigen resultierenden globalen Tragfähigkeitskomponente bei der Formulierung des Querkraftwiderstandes nach Ansicht der Autoren nicht geeignet. Die Formulierung eines Querkrafttraganteils auf dieser Grundlage umgeht die Kontrolle des Systemgleichgewichts. Diese Vorgehensweise überschätzt im Zweifel den Beitrag aus Rissverzahnung und führt implizit zu einer falschen Denkweise in der Annahme einer Modellvorstellung in der Ableitung des inneren Tragverhaltens. Weitere Überlegungen und Diskussionen über die Grenzen des physikalischen Hintergrunds für einen Modellansatz zur Erfassung möglicher Phänomene aus Rissverzahnung finden sich auch in anderen neueren Studien [14-16]. Eine weitere Unschärfe in der Adaption möglicher Traganteile aus Rissreibung besteht im Charakter der skalierten Push-Off-Probekörper [12] zur Ableitung übertragbarer Schubspannungen in Abhängigkeit von Rissöffnung und Rissgleitung. Neben der vorgebrochenen Rissfläche erscheint vor allem die Annahme strikt konsekutiver Prozesse aus Rissöffnung und anschließender monotoner Rissgleitung nicht mit den Bruchmechanismen und inneren Umlagerungen praxisrelevanter Balkentragwerke vereinbar. Der Ansatz einer wirksamen Rissverzahnung erscheint für vorliegende vorgespannte Balkentragwerke bei geringem Schubbewehrungsgrad damit nicht konsistent. 74 5. Brückenkolloquium - September 2022 Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte Abbildung 5: R25, R18 und T25, T18: Bewertung der Bruchkinematik für dominante Risspfade auf der Grundlage lokaler Risswinkel, skaliert anhand auftretender Hauptverzerrung zur Gewichtung der Rissbreite 5. Modellvergleich Abschließend werden die experimentellen Bruchlasten der vorgestellten Versuche mit den Traglastprognosen zweier Modellvorstellungen verglichen. Abbildung 6 zeigt die normalisierte Schubtragfähigkeit der Balkenelemente, geordnet nach Querschnittsform und Längsbewehrungsgrad. Vergleichend wird die Tragfähigkeit nach dem Biegeschubrissmodell (FSCM) [17, 18] und der Modifizierten Druckfeldtheorie (MCFT) [19, 20] den Versuchen gegenübergestellt. Während letztere einen impliziten Betontraganteil auf der Annahme der Rissreibung begründet und um einige empirische Modellfaktoren ergänzt, erlaubt das FSC-Modell die Berücksichtigung einer tragenden Komponente der Betondruckzone aus Biegung, die durch ein biaxiales Versagenskriterium begrenzt wird. Der explizite Betontraganteil darf in Ansatz gebracht werden, wenn der Vorspanngrad des Längssystems ausreichend ist. Die allgemeine Vorgehensweise des FSC-Modells sieht eine iterative Bestimmung des Nachweisschnitts in Abhängigkeit vorliegender Randzugspannungen vor. Für die MCFT-Analyse werden Schnittgrößen, Materialverzerrungen und Spanngliedneigung in einem Abstand d vom Beginn der Voute im Auflagerbereich berücksichtigt. Eine deutlich bessere Approximation der Bruchlasten zeigt sich unter der Annahme, dass Schubspannungen in der Betondruckzone einen dominanten Traganteil in vorgespannten Balkentragwerken mit geringem Schubbewehrungsgrad in Ergänzung zu den vergleichsweise geringen Fachwerkmechanismen der Bügelbewehrung und der vertikalen Komponente der Spannglieder bilden. Es sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Vorhersage nicht als Maß für eine Erklärung oder eine Plausibilitätsprüfung geeignet ist, da man natürlich auch vordergründig präzise Vorhersagen aus einem falschen Modell ableiten kann. Nur mechanisch konsistente Modelle, die auf kausalen Zusammenhängen auf bauen, erscheinen sinnvoll, da der experimentelle Stichprobenumfang selbst bei expliziter Modellrestriktion nie ausreichend sein kann. Wie bereits anhand verschiedener Blickwinkel auf diverse Fragen, die auf eine Beschreibung der Schubtragfähigkeit und deren verantwortliche Mechanismen [14, 18, 21], gezeigt wurde, bildet die Beschreibung des Tragverhaltens auf der Grundlage des statischen und kinematischen Gleichgewichts den logischsten Ansatz ab. 5. Brückenkolloquium - September 2022 75 Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte Abbildung 6: Normierte Schubtragfähigkeit geprüfter Balkenelemente im Vergleich zu ausgewählten Modellvorstellungen 6. Fazit und Ausblick Die Versuche an vorgespannten Balkenelementen mit gestuft reduziertem Längsbewehrungsgrad erlauben die Untersuchung des Schubtragverhaltens bei repräsentativer Längsverzerrung im Querschnitt im Hinblick auf zu bewertende Bestandsbrücken. Die wesentlichen Erkenntnisse gliedern sich in folgende Aspekte: - Ein reduzierter Längsbewehrungsgrad beeinflusst die Schubtragfähigkeit nicht nachteilig, solange die Spannglieder entsprechenden Dehnungszuwachs mobilisieren können. - Die Annahme sehr flacher Druckstrebenneigungswinkel ist mit theoretisch einhergehender Verzerrung und vorhandener Duktilität der Bügelbewehrung nicht vereinbar. - Untersuchungen zur Risskinematik unterstreichen die vorherrschende Auffassung, dass Traganteile aus Rissreibung bei Spannbetonquerschnitten mit schwachem Schubbewehrungsgrad und entsprechender Entwicklung der Schubrissbreiten keine signifikante Rolle spielen können. - Die Annahme eines Betontraganteils, der der Druckzone aus Biegung zuzuordnen ist, bietet eine mechanisch plausible und quantitativ vielversprechende Möglichkeit zur additiven Formulierung den zu erwartenden Schubwiederstand unter Berücksichtigung des charakteristischen Trag- und Bruchverhaltens anzunähern. Literatur [1] N. 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Wiesbaden, Germany: Vieweg+Teubner Verlag, 2000. 76 5. Brückenkolloquium - September 2022 Einflüsse aus Schubrissbildung auf die Fachwerktragwirkung und vorgespannter Balkenquerschnitte [11] N. Hoang, P. Madura, R. Masoud, I. Mohsen, C. Gianluca und P. Bazant, „New perspective of fracture mechanics inspired by gap test with crack-parallel compression“, Proceedings of the National Academy of Sciences, Jg. 117, Nr. 25, S. 14015-14020, 2020, doi: 10.1073/ pnas.2005646117. [12] J. C. Walraven, Aggregate Interlock: A theoretical and experimental analysis. Delft University Press. [13] P. G. Gambarova und C. Karakoc, „A New Approach to the Analysis of the Confinement Role in Regularly Cracked Concrete Elements“, IASMiRT, S. 251-261, 1983. [Online]. Verfügbar unter: https: / / repository.lib.ncsu.edu/ handle/ 1840.20/ 26052. [14] A. Beck, „Paradigms of shear in structural concrete: Theoretical and experimental investigation“, ETH, Zu\elseü\firich, Switzerland, 2021. [15] M. Pundir, M. 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