Brückenkolloquium
kbr
2510-7895
expert verlag Tübingen
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Untersuchungen zur Schubrissbildung von Spannbetondurchlaufträgern mit baupraktischen Querschnittsabmessungen
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Sebastian Lamatsch
Oliver Fischer
Im Zuge der Nachrechnung von bestehenden Spannbetonbrücken ergeben sich häufig teilweise erhebliche Defizite beim Nachweis der Querkrafttragfähigkeit. Für eine vollumfassende, versuchstechnische Überprüfung und Weiterentwicklung bestehender Nachweiskonzepte existiert eine derzeit nur unzureichende Versuchsdatenlage. Insbesondere Versuche an großen, baupraktischen Querschnitten mit realistischen Längsbewehrungsgraden und einem sehr geringen Querkraftbewehrungsgrad sollen diese Lücke schließen. Dafür werden bei Spannbetonträgerausschnitten mit Vorspannung im nachträglichen Verbund zusätzlich die Vorspannung in Bezug auf die mittlere Drucknormalspannung sowie der Vordehnungsgrad der Spannglieder – und damit der mögliche Dehnungszuwachs – variiert, um den bisher geringen Kenntnisstand zum Einfluss der Vorspannung genauer zu untersuchen. In den Versuchen wird moderne Messtechnik basierend auf digitaler Bildkorrelation eingesetzt, die eine genaue Beurteilung des Rissverhaltens ermöglicht. Im Rahmen des Beitrags soll insbesondere auf das Schubrissverhalten der durchgeführten Versuche eingegangen werden.
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5. Brückenkolloquium - September 2022 459 Untersuchungen zur Schubrissbildung von Spannbetondurchlaufträgern mit baupraktischen Querschnittsabmessungen Sebastian Lamatsch M.Sc. Technische Universität München, Deutschland Prof. Dr.-Ing. Oliver Fischer Technische Universität München, Deutschland Zusammenfassung Im Zuge der Nachrechnung von bestehenden Spannbetonbrücken ergeben sich häufig teilweise erhebliche Defizite beim Nachweis der Querkrafttragfähigkeit. Für eine vollumfassende, versuchstechnische Überprüfung und Weiterentwicklung bestehender Nachweiskonzepte existiert eine derzeit nur unzureichende Versuchsdatenlage. Insbesondere Versuche an großen, baupraktischen Querschnitten mit realistischen Längsbewehrungsgraden und einem sehr geringen Querkraftbewehrungsgrad sollen diese Lücke schließen. Dafür werden bei Spannbetonträgerausschnitten mit Vorspannung im nachträglichen Verbund zusätzlich die Vorspannung in Bezug auf die mittlere Drucknormalspannung sowie der Vordehnungsgrad der Spannglieder - und damit der mögliche Dehnungszuwachs - variiert, um den bisher geringen Kenntnisstand zum Einfluss der Vorspannung genauer zu untersuchen. In den Versuchen wird moderne Messtechnik basierend auf digitaler Bildkorrelation eingesetzt, die eine genaue Beurteilung des Rissverhaltens ermöglicht. Im Rahmen des Beitrags soll insbesondere auf das Schubrissverhalten der durchgeführten Versuche eingegangen werden. 1. Einleitung Die über die Jahre zunehmende Verkehrsbelastung, der insgesamt in die Jahre gekommene Brückenbestand im deutschen Straßenverkehrsnetz und insbesondere die Weiterentwicklung der Normenansätze führen dazu, dass bei der Nachrechnung alter Brückenbauwerke regelmäßig rechnerische Defizite beim Nachweis der Querkrafttragfähigkeit durchlaufender Spannbetonbrücken festgestellt werden [1]. So fehlten zur Zeit der Errichtung eines Großteils dieser Brückenbauwerke explizite Vorgaben zu einer Mindestquerkraftbewehrung, weshalb diese häufig äußerst geringe Querkraftbewehrungsgrade aufweisen. Die Weiterentwicklung der Berechnungsmodelle zur Nachrechnung dieser Bauwerke stellt heute eine wichtige Aufgabe dar, um aufwändige Verstärkungsmaßnahmen und/ oder Ersatzneubauten zu verhindern bzw. auf diejenigen Bauwerke zu beschränken, die nicht nur ein rechnerisches, sondern ein tatsächliches Defizit aufweisen. Verfeinerte Modelle berücksichtigen neben den bekannten Traganteilen der Bügelbewehrung und des vertikalen Anteils der Spannglieder häufig einen zusätzlichen Betontraganteil bzw. eine Druckbogenwirkung. Diese ist insbesondere von der Schubrissbildung, der Vorspannung und der Größe der Druckzone abhängig [2]. Ausgehend von dieser Problemstellung soll deshalb im vorliegenden Beitrag genauer auf die Schubrissbildung von zwei ausgewählten Spannbetonträgern mit realistischen Bauteilabmessungen und Bewehrungsgraden eingegangen werden und die Rissbildung und das Tragverhalten in Bezug auf die unterschiedlich hohe Vorspannung diskutiert werden. 2. Versuchsaufbau Im Rahmen des laufenden Forschungsvorhabens „Experimentelle und theoretische Untersuchungen zur Querkraft und Torsionstragfähigkeit von Betonbrücken im Bestand“ (FE 15.0664/ 2019/ DRB) wurden Querkraftversuche an vorgespannten Substrukturen großformatiger Brückenträger an der Technischen Universität München (TUM) durchgeführt. Hierzu wird in einem innovativen Versuchsstand (vgl. [3, 4]) aus dem globalen System eines Durchlaufträgers der zu untersuchende Bereich zwischen Mittelauflager und Feldbereich betrachtet und der Ausschnitt unter Erhalt der an den Schnittufern vorherrschenden Randbedingungen des globalen Systems eines durch Einzellasten beanspruchten Mehrfeldträgers geprüft (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Ableitung der Substrukturgeometrie und zugehöriger Momentenverlauf an einem Referenz-Durchlaufträger unter Einzellast im Feld Die in der Realität beim Durchlaufträger vorliegenden Randbedingungen des Feldbereichs werden aufgrund der Wahl des Schnittufers abseits des maximalen Feldmoments über eine planmäßige Rotation der Lastplatte in Abhängigkeit des Momenten-Querkraft-Verhältnisses aufgezwungen. Die Belastung erfolgt durch die Regelung des globalen vertikalen Kraftvektors bestehend aus den Vertikalanteilen der vier horizontalen und der beiden ver- 460 5. Brückenkolloquium - September 2022 Untersuchungen zur Schubrissbildung von Spannbetondurchlaufträgern mit baupraktischen Querschnittsabmessungen tikalen jeweils servohydraulisch gesteuerten Zylinder des feldseitigen Schnittufers. Die Horizontalzylinder werden entsprechend der geregelten Querkraft so angesteuert, dass sich das gewünschte Momenten-Querkraft-Verhältnis ergibt. Unerwünschte äußere Normalkräfte und Torsionsmomente werden während der gesamten Versuchsdauer ausgeregelt. Die Schnittgrößen im Stützbereich stellen sich entsprechend den dort vorliegenden Randbedingungen einer passiven, starren Reaktionsplatte mit Schubnockengeometrie aus Gleichgewichtsgründen und ohne zusätzliche Regelung ein (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Substrukturstand der TUM Die Verankerung der Längsbewehrung und des Spannglieds hinter der Lasteinleitungsplatte ermöglicht, dass das Tragverhalten eines durchlaufenden Spannbetonbalkens realitätsnah abgebildet wird. Vergleiche mit baugleichen Durchlaufträgern und Belastungsversuchen an einem realen Brückenbauwerk bestätigen die Eignung der Substrukturtechnik [3-6]. Durch die Verwendung der Substrukturtechnik und der planmäßigen Rotation der Lasteinleitungsplatte im Feldbereich, ist es möglich eine baupraktische Querschnittshöhe von 1,20 m unter üblichen Randbedingungen (Schubschlankheit l ~ 3,0, Biegeschlankheit ~10,8) zu realisieren. Gleichzeitig wird ein geringer Längsbewehrungsgrad (ρ sl = 1,0 %) mit einer vergleichsweise hohen Vorspannung kombiniert, um signifikante Dehnungszuwächse im Spannglied hervorzurufen und die vorherrschenden Konstruktionsdetails realer Brückenbauwerke widerzuspiegeln. Abb. 3: Ansicht und Querschnitt der beiden Substrukturversuche mit Bewehrungsdetails 3. Versuchsträger Für die Validierung von Querkraftmodellen zur Nachrechnung von vorgespannten Brückentragwerken wurden in den letzten Jahren einige Versuche an Spannbetonbalken durchgeführt [4-10]. In Bezug auf die Querschnittshöhe liegt jedoch bisher ein noch sehr begrenzter Untersuchungsbereich vor. Mit den durchgeführten Versuchen an Trägern, die der 1,5-fachen Querschnittshöhe der bisher durchgeführten Trägerhöhen entsprechen, soll diese Lücke geschlossen werden. In Abb. 3 ist der Querschnitt der hier vorgestellten 4,50-m langen und 1,20-m hohen T-Trägerausschnitte dargestellt. In der Ansicht sind die auf 50- cm aufgeweiteten Vouten zu erkennen, welche zur Einleitung der Lasten einen deutlich höheren Bügelbewehrungsgrad aufweisen. Insgesamt ergibt sich dadurch ein Prüf bereich mit konstanter Querschnittsbreite von 3,50-m. Entsprechend alter Brückenbauwerke wurde der Querkraftbewehrungsgrad zu einem sehr geringen Grad von 0,09 % (ø 6 / 25 cm) festgelegt. Das entspricht unter Berücksichtigung der Materialkennwerte für den allgemeinen Fall dem 1,05-fachen Mindestquerkraftbewehrungsgrad nach [12]. In Kombination mit dem geringen Längsbewehrungsgrad von 1,0 % und der unterschiedlichen Vorspanngrade (Betondruckspannung aus Vorspannung s cp = 1,2 MPa und 1,9 MPa) werden hohe Längsdehnungen erzeugt. Ziel ist ein realitätsnahes Querkraftversagen mit deutlicher Beteiligung der Längsbewehrung nahe der Streckgrenze. Für die Betrachtungen der Rissbildung wird im Rahmen dieses Beitrags auf zwei unterschiedliche Trägerkonfigurationen eingegangen, welche in Tabelle 1 aufgeführt sind. Tabelle 1: Aufstellung der Trägerkonfiguration T-L5-S1.2 T-L5-S2.1 Bügel ø-6-/ -25-cm ø-6-/ -25-cm Längsbewehrung 6 ø-25-mm 6 ø-25-mm Betondruckspannung s cp 1,2-MPa 1,9-MPa 5. Brückenkolloquium - September 2022 461 Untersuchungen zur Schubrissbildung von Spannbetondurchlaufträgern mit baupraktischen Querschnittsabmessungen Beide Träger unterscheiden sich lediglich in der Höhe der aufgebrachten Vorspannung, alle anderen Parameter wurden konstant gehalten. Für die Vorspannung der Trägerausschnitte wurde ein Spannglied mit fünf Litzen (L5) in einem runden Stahlhüllrohr mittig geführt und stützseitig vorgespannt. Durch die kurze Trägerlänge von 4,50 m führt der auftretende Keilschlupf zu einem Durchschlagen der Spannkraft und folglich zu größeren Spannkraftverlusten, die messtechnisch mit vorgeschalteten Kraftmessdosen erfasst werden. 4. Materialparameter Zur Bestimmung der Betoneigenschaften wurden am Versuchstag Begleitversuche an Zylindern durchgeführt. Die Ergebnisse, mit in Klammern befindlicher Anzahl an Prüfungen, sind Tabelle 2 zu entnehmen. Die Materialkennwerte der Stahlproben von Bewehrung und Spannlitzen sind ebenfalls aufgeführt. Für beide Versuche wurde Stahl aus jeweils derselben Charge verwende, weshalb sich die Kennwerte der beiden Versuche entsprechen. Tabelle 2: Materialeigenschaften T-L5-S1.2 T-L5-S2.1 Betonfestigkeitsklasse C30/ 37 C30/ 37 Prüfalter 70 d 33 d f cm, cyl 150/ 300 [N/ mm 2 ] 47,6 (6) 47,7 (5) f ct, sp 150/ 300 [N/ mm 2 ] 3,17 (6) 3,19 (6) E cm [N/ mm 2 ] 29727 (3) 29641 (3) Bewehrungsstahl Bü. B500B B500B f p 0,2 ø6 [N/ mm 2 ] 536,6 (6) 536,6 (6) f u ø6 [N/ mm 2 ] 628,4 (6) 628,4 (6) E sm [N/ mm 2 ] 202908 (6) 202908 (6) Spannlitzen Y1860 Y1860 A p [mm 2 ] 150 150 f p 0,1 [N/ mm 2 ] 1630,2 (10) 1630,2 (10) f pu [N/ mm 2] 1890,8 (10) 1890,8 (10) 5. Ausgewählte Messtechnik Über die konventionelle Messtechnik (DMS, Wegaufnehmer und Kraftmessdosen) hinaus wurde mittels photogrammetrischer Messungen und digitaler Bildkorrelation (DIC) der gesamte Prüf bereich zwischen den Aufweitungen und unterhalb des Gurtes ausgewertet (vgl. Abb. 4). Für die Aufnahmen wurden zwei 2D Messsysteme mit jeweils 12,4 Megapixeln (4112 x 3008 Pixel Auflösung), für die Auswertung eine Größe der miteinander verglichenen Subsets (Pixelgruppen) von 20 x 20 px (10 x 10 mm) mit maximalem Abstand der Mittelpunkte von 8 px (4 mm), gewählt. Durch Abgleich einzelner im Referenzbild festgelegter Subsets des auf den Träger aufgetragenen Grauwertmusters mit jeder Laststufe lassen sich so die Verschiebungen der einzelnen Pixelgruppen über die gesamte Versuchsdauer flächendeckend und präzise erfassen. Durch eine vorgeschaltete Perspektivtransformation der Bilddaten werden die Aufnahmen in den Normalenvektor der betrachteten Bildfläche gerückt, um Einflüsse der Kameraausrichtung zu eliminieren. Abb. 4: Substrukturträger mit Grauwertmuster Bei einer Belastungsgeschwindigkeit von 0,2 kN/ sek wurden die Bilder über den Verlauf des Versuchs mit einer Frequenz von 0,2 Hz aufgezeichnet. Damit zeigt das letzte aufgezeichnete Bild vor Versagen den Träger bei maximaler Querkraft V max . Die optische Messmethode gibt Aufschluss über die Rissbildung und -kinematik in den kritischen Schubrissen der verschieden konzipierten Versuchskonfigurationen und lässt einen Vergleich des sich einstellenden Tragverhaltens zu. 6. Versuchsergebnisse In Abb. 5 ist die Querkraft der Durchbiegung beider Versuche zum Vergleich des Tragverhaltens gegenübergestellt. Dargestellt ist die Querkraft bezogen auf das Zwischenauflager, wobei das gesamte Trägereigengewicht und die Lasteinleitungsplatte (52,2 kN, 45 kN) addiert wurden. Die Durchbiegung ergibt sich als Differenz zwischen stütz- und feldseitiger Verformung des Trägers ab der Vorlast von 30 kN. Durch die Differenzverformung werden größere Einflüsse aus Versuchsstandverformungen und dem Anlegen der Schubnocken eliminiert. Abb. 5: Kraft-Weg Diagramm der Versuche 462 5. Brückenkolloquium - September 2022 Untersuchungen zur Schubrissbildung von Spannbetondurchlaufträgern mit baupraktischen Querschnittsabmessungen Es lässt sich im Anfangsbereich des Kraft-Weg-Diagramms - wie auch in [3-6] - kein eindeutiger Zustand-I erkennen, was dem Anlegen der Schubnocken und dem fehlenden Mitwirken des Betons auf Zug in den Schnittufern geschuldet ist. Insgesamt verhält sich Versuch TL5S2.1 erwartungsgemäß etwas steifer als der weniger hoch vorgespannte Träger, obwohl das Verhalten allgemein - trotz der deutlich gesteigerten Vorspannung - als sehr gleichartig beschrieben werden kann. Aufgrund der geringen Abweichungen der Druckfestigkeiten werden keine bezogenen Querkräfte dargestellt. Die maximale Querkraft ergibt sich zu 862,4 kN (TL5S1.2) und 902,0 kN (TL5S2.1), was einer Kraftsteigerung von 4,6 % bei 65 % höherer Vorspannung entspricht. Die teils über mehr als die halbe Querschnittshöhe einschießenden Risse führen im globalen Kraft-Weg-Verlauf zu nur geringen Lastabfällen, einzig das Auftreten einzelner Schubrisse bei ca. 700 kN und 833 kN führt zu einem weicheren Verhalten und Lastabfall von bis zu 15 kN. Beide in diesem Beitrag gegenübergestellten Versuchsträger weisen grundsätzlich ein vergleichbares Risswachstum auf. Ausgehend von primären Biegerissen, die oberhalb des optisch aufgenommenen Messbereichs im Gurt auftreten, bildet sich ein erster Biegeschubriss aus, der durch weitere fächerartig verlaufende Biegeschubrisse ergänzt und deren Neigung zum stützseitigen Zwischenauflager immer geringer wird. Im feldseitigen Bereich entstehen erwartungsgemäß deutlich weniger Risse, da die maximale Momentenbeanspruchung um 67,5 % geringer als im Stützbereich ausfällt. Die Querkraft ist aufgrund der feldseitigen Einzellast im gesamten Träger jedoch annähernd konstant (Eigengewicht vernachlässigt). Der kritische Schubriss tritt in beiden Fällen durch ein Überschreiten der Stegzugfestigkeit auf. Dieser dringt bereits bei der Entstehung bis in den Zuggurt vor und breitet sich in die stützseitige Druckzone aus. Aufgrund der geringen Schubrissneigung reicht der kritische Schubriss bei dem höher vorgespannten Träger bis in den feldseitigen Druckgurt und führt im Versagen zu einem Längsriss entlang der jeweiligen Druckbewehrung (vgl. Abb. 6). Entsprechend den Vorschlägen von [13] und [14] wird die Schrägrisslast in Tabelle 3 als die Querkraft definiert, bei der ein Biegeriss einen schrägen Verlauf annimmt und die Schwerachse kreuzt oder sich ein Stegzugriss ausbildet. Für Versuch TL5S1.2 beträgt die Schrägrisslast ca. 390 kN. Durch die höhere Vorspannung im zweiten Versuch ergibt sich der erste Schrägriss erst bei 478 kN. Bezogen auf die maximal erreichte Querkraft tritt der Riss somit bereits bei 45 % bzw. 53 % der maximalen Querkraft auf und entwickelt sich in beiden Versuchen aus einem Biegeriss im Stützbereich. Vergleicht man die Rissbilder bei maximaler Querkraft, lässt sich eine deutlich flachere Neigung des kritischen Schubrisses des höher vorgespannten Balkens erkennen, die im Mittel bei 21,2° (28,8° erste Hälfte, 13,5° zweite Hälfte) liegt. Für Träger TL5S1.2 ergibt sich dagegen eine mittlere Rissneigung von 25,4° (32,5° erste Hälfte, 18,2° zweite Hälfte). Tabelle 3: Charakteristika der Schubrisse T-L5-S1.2 T-L5-S2.1 Schubrissneigung a cr 25,4° 21,2° Schrägrisslast V cr 390 kN 478 kN Die Schubrisse laufen jeweils in die Druckzone des Stützbereichs und begrenzen die Druckzonenhöhe mit zunehmender Schubrissbildung massiv bis auf 80 mm (TL5S1.2) bzw. 40 mm kurz vor Versagen der Druckzone. Bereits bei 90 % der maximalen Querkraft ist die Biegedruckzone des Versuchs TL5S1.2 auf 80 mm (x/ d = 0,07) bzw. 134 mm (x/ d = 0,12) bei dem höher vorgespannten Versuch begrenzt. Aufgrund der sehr geringen verbleibenden Druckzonenhöhe in Kombination mit einer Stegbreite von nur 250 mm und der zum Zwischenauflager verlaufenden sehr flachen Rissneigung (α cr,min ~ 10°) des kritischen Schubrisses sind überwiegende Traganteile der Betondruckzone in diesem Versuch zumindest infrage zu stellen und werden gegebenenfalls durch das Mitwirken weiterer Bügel im Prüf bereich und einem Dehnungszuwachs im Spannglied ausgeglichen. Dies wird Gegenstand einer genaueren Analyse und Bewertung auf Grundlage der weiteren Messtechnik. Aus der flachen Rissneigung des kritischen Schubrisses in Versuch TL5S2.1 folgt eine Risslänge im Steg von 2810 mm. Insgesamt verläuft der Schubriss damit diagonal über die gesamte Breite des Prüf bereichs und dringt auch in die feldseitige Druckzone vor. Der Riss kreuzt alle Bügel im Prüf bereich und das Versagen tritt durch eine Zerstörung beider Druckzonen und das Abreißen der Bügelbewehrung auf. Bei dem weniger hoch vorgespannten Balken verhält sich der Riss ähnlich, bleibt jedoch im Bereich negativer Momente und weist eine geringere Länge von 2240 mm auf. Bügel im Bereich positiver Momente werden so nicht vom kritischen Schubriss gekreuzt. Die Druckzone wird ausschließlich im Bereich negativer Momente zerstört. Abb. 6: Rissbild kurz vor dem Versagen (oben: T-L5-S1.2; unten: T-L5-S2.1) Auch die Stegzugrisse im Feldbereich, der aufgrund des geringen M/ V-Verhältnis nur wenig Biegerisse aufweist, zeigen den Einfluss der Vorspannung auf die Rissneigung deutlich auf. Durch die geringere Längsdehnung tritt die 5. Brückenkolloquium - September 2022 463 Untersuchungen zur Schubrissbildung von Spannbetondurchlaufträgern mit baupraktischen Querschnittsabmessungen Mehrheit der Schrägrisse im Feldbereich erst nach dem kritischen Schubriss auf und orientiert sich damit entsprechend der nach Auftreten des kritischen Schubrisses vorliegenden Hauptspannungsrichtung. Insbesondere bei Versuch T-L5-S2.1 schränkt der kritische Schubriss die Hauptspannungsrichtung ein und es kommt zu einer Umlagerung und infolgedessen zu steiler geneigten Schubrissen im Feldbereich. Es lassen sich bei beiden Versuchen zwei Schubrisse mit ausgeprägter Kinematik identifizieren. Entsprechend des Auftretens sind diese in Abb. 7 mit C1 und C2 bezeichnet. Dabei ist die Rissöffnung entlang der Risse in Normalenrichtung zur Rissflanke aufgetragen. Die dargestellten Stufen sind mit der zu dem Zeitpunkt vorherrschenden Querkraft benannt und werden ab Auftreten in 10 % Schritten dargestellt. Bei beiden Versuchen entsteht der kritische Schubriss C2 aufgrund der Überschreitung der Stegzugfestigkeit. Dabei erfolgt die Rissbildung sehr plötzlich über eine große Länge und setzt sich schließlich an der Rissspitze in Richtung gedachtem Zwischenauflager fort. Die Rissöffnung wächst danach durch die Rotation um die Rissspitze relativ gleichmäßig an. Die an der Rissspitze aufgetragene Rissöffnung kurz vor Versagen (vgl. Abb. 7) stellt nur die Rissöffnung innerhalb des DIC Messfelds dar, die eigentliche Rissspitze mit entsprechender Rissöffnung in der Stegaufweitung wird in dieser Darstellung nicht mitangedeutet. Der Riss C1 verhält sich in beiden Versuchen dagegen etwas unterschiedlich. Während bei dem hoch vorgespannten Träger kurz vor dem Versagen noch deutliche Zuwächse zu verzeichnen sind, beteiligt sich der Riss C1 bei Versuch T-L5-S1.2 wenig an der Kinematik, nachdem der kritische Schubriss aufgetreten ist. Gemein ist beiden Rissen jedoch, dass die Rissbreite in Riss C1 vor allem im auflagernahen Bereich anwächst, was darauf hindeutet, dass in diesem Bereich die Bügel bereits bis zur Fließgrenze beansprucht werden. Das spricht für ein ausgeprägtes Mitwirken der Bügel, das sich aufgrund der geringen Neigung des Risses einstellt. Für die genauere Analyse des Rissverhaltens ist in Bezug auf mögliche Rissreibungsansätze und das allgemeine Schubrissverhalten eine detaillierte Untersuchung der Rissöffnung normal zur Rissflanke und der Rissgleitung in tangentialer Richtung zum Riss zielführend. In Abb. 8 ist dafür die aus Risswinkel und Koordinatenverschiebung der Subsets berechnete Rissgleitung und Rissöffnung entlang des kritischen Schubrisses gegenübergestellt. Hier wurden die Laststufen aufgrund der spät auftretenden Risse im höher vorgespannten Versuch in Schritten von 5 % ab Entstehung dargestellt. Die bei der Auswertung verwendete, feine Diskretisierung der Schubrissgeometrie führt dabei zu Schwankungen der Rissneigung, die sich auch in dem Verlauf der beiden Kurven widerspiegelt. Abb. 7: Rissöffnung dargestellt an den maßgebenden Schubrisse der Versuche T-L5-S1.2 und T-L5-S2.1 464 5. Brückenkolloquium - September 2022 Untersuchungen zur Schubrissbildung von Spannbetondurchlaufträgern mit baupraktischen Querschnittsabmessungen Es zeigt sich, dass sich in beiden Versuchen eine vergleichbare maximale Rissbreite einstellt. Diese beträgt mehr als 5 mm und konnte näherungsweise über einen größeren Bereich festgestellt werden. (TL5S1.2: 5,3 mm; TL5S2.1: 5,8 mm). Vergleichsweise große Rissöffnungen traten ebenfalls bei einzelnen Querkraftversuchen von Huber [2] auf. Die Rissgleitungen im Bereich von 5-6 cm fallen jedoch deutlich größer aus als in [8,10], wobei Herbrand et al. [10] bereits Risse mit ähnlich großem Rissöffnungszu Gleitungsverhältnis feststellte. Durch das Zusammensetzen zweier Bilder infolge der zwei 2D Messsysteme entsteht zwangsläufig eine Überschneidung, die lokal bei der Auswertung zu Scheindehnungen führen kann. Der Bereich der Überschneidung ist deshalb in der Darstellung zusätzlich zu dem Bereich, in dem der Schubriss das Spannglied kreuzt, grau markiert. In Versuch TL5S1.2 fällt der Kreuzungspunkt genau in den Störbereich, weshalb Einflüsse aus den Scheindehnungen nicht auszuschließen sind. Wie bereits in Abb. 7 zu erkennen ist, führt die Rotation um die Rissspitze insbesondere im Anfangsbereich des kritischen Schubrisses zu erhöhten Rissbreiten. Die Rissgleitung in Abb. 8 korreliert dagegen mit der Rissneigung und weist deshalb im auflagerfernen Bereich ihre Maxima auf. Dargestellt ist das Verhältnis von Rissöffnung und Rissgleitung an unterschiedlichen Orten verteilt über die Höhe der Träger. Einerseits an den Stellen, an denen der Schubriss das Spannglied (P) bzw. die Schwereachse (SP) kreuzt, andererseits auch an zwei exemplarischen Punkten in 250 - mm und 900 - mm Höhe. An den Stellen, an denen das Spannglied den Riss kreuzt, treten geringere Rissbreiten auf, auch wenn der Einfluss kleiner als erwartet ausfällt. Ursächlich könnten große Dehnungszuwächse im Spannglied aufgrund von Umlagerungen sein, die bereits bei moderaten Rissbreiten stattfinden. Die Rissgleitung dagegen steigt insbesondere in diesem Bereich maßgeblich an. Infolge des nahezu waagerechten Rissverlaufs des höher vorgespannten Versuchs treten im auflagernahen Bereich verhältnismäßig wenig Rissverschiebungen auf. In diesem Bereich wird nahezu keine Rissgleitung gemessen. Ersichtlich wird dieser Zusammenhang auch anhand von Abb. 9, in dem die Rissöffnung der Rissgleitung beider Versuche über die Versuchsdauer gegenübergestellt ist. Abb. 8: Rissöffnung und Rissgleitung des kritischen Schubrisses C2 der Versuche T-L5-S1.2 und T-L5-S2.1 5. Brückenkolloquium - September 2022 465 Untersuchungen zur Schubrissbildung von Spannbetondurchlaufträgern mit baupraktischen Querschnittsabmessungen Abb. 9: Einfluss des Rissbereichs auf die -kinematik Der höher vorgespannte Versuch weist im Mittel aufgrund seiner geringen Rissneigung ein kleineres Verhältnis von w zu s auf. Betrachtet man den Zusammenhang über die Höhe eines Versuchsträgers, wird deutlich, dass vor allem im Bereich flacher Risse die Rissöffnung überwiegt, wohingegen größere Rissgleitungen in vertikaler verlaufenden Rissabschnitten (h=900 mm) auftreten. Die Vorspannung beeinflusst dabei die Neigung der Schubrissbildung und dadurch indirekt die auftretenden Rissgleitungen. 7. Diskussion und Zusammenfassung Nach der genauen Untersuchung der Risskinematik kann festgehalten werden, dass die Schubrissbildung maßgeblich vom Vorspanngrad beeinflusst wird. Auch wenn bei beiden Trägern ein ähnliches Rissverhalten aufgezeichnet wurde, unterscheidet sich das Tragverhalten deutlich. Einerseits treten durch die gesteigerte Vorspannung Schrägrisse später auf, andererseits ergeben sich bei hoher Vorspannung sehr geringe Rissneigungen zum Zwischenauflager hin. Die Druckzonenhöhe und die Neigung der Druckstrebe werden dadurch wesentlich beschränkt. Trotzdem wird eine Traglaststeigerung von knapp 5 % erreicht, die mehrheitlich über die aufgrund der flachen Rissneigung zusätzlich aktivierten Bügel im Schubfeld und einen Dehnungszuwachs im Spannglied erzielt werden könnte. An den Bügeln angebrachte Dehnmessstreifen werden im Zuge der weiteren Auswertung genaueren Aufschluss darüber geben. Die sich einstellenden großen Längsdehnungen, die aufgrund des hoch ausgenutzten Zuggurts mit minimalem Längsbewehrungsgrad auftreten, beeinflussen in den beiden vorgestellten Versuchen mitunter die sich einstellenden großen Rissbreiten. Deshalb kommt der Rissreibung im Bereich der maximalen Querkraft - trotz ähnlich großer Rissgleitungen parallel zum Rissufer - keine maßgebliche Bedeutung zu und es muss davon ausgegangen werden, dass sich andere Tragmechanismen in größerem Maße am Querkraftabtrag beteiligen. Des Weiteren ist durch die geneigte Lage des Spannglieds am Schnittpunkt mit dem kritischen Schubriss und der großen Rissöffnungen mit einem erheblichen Spannungszuwachs im Spannglied zu rechnen. Die im Hüllrohr angeordneten faseroptischen Sensoren bieten die Möglichkeit auf den Dehnungszustand des Spannglieds zu schließen und somit mögliche Umlagerungen ins Spannglied zu quantifizieren. 8. Danksagung Unser besonderer Dank gilt der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) für die Gewährung von Fördermitteln für das Verbundforschungsprojekt „Experimentelle und theoretische Untersuchungen zur Querkraft- und Torsionstragfähigkeit von Brücken im Bestand“. Diesem Beitrag liegen Teile der im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, vertreten durch die Bundesanstalt für Straßenwesen, unter FE-Nr. 15.0664/ 2019/ DRB durchgeführten Forschungsarbeit zugrunde. Die Verantwortung für den Inhalt liegt allein bei den Autoren. Literatur [1] Fischer, O. et al.: Ergebnisse und Erkenntnisse zu durchgeführten Nachrechnungen von Betonbrücken in Deutschland. In: Beton- und Stahlbetonbau 109 (2014), Heft 2, S. 107-127 [2] Huber, P.; Kromoser, B.; Huber, T.; Kollegger, J.: Experimentelle Untersuchung zum Querkrafttragverhalten von Spannbetonträgern mit geringer Schubbewehrung. In: Bauingenieur 91 (2016) 6, S. 238-247 [3] Schramm, N.; Fischer, O.: Querkraftversuche an profilierten Spannbetonträgern aus UHPFRC. In: Beton- und Stahlbetonbau 114 (2019), Heft 9, S. 641-652 [4] Schramm, N.; Fischer, O.; Scheufler W.: Experimentelle Untersuchungen an vorgespannten Durchlaufträger-Teilsystemen zum Einfluss nicht mehr zugelassener Bügelformen auf die Querkrafttragfähigkeit. In: Bauingenieur 94 (2019), Heft 1, S. 1-12. [5] Fischer, O.; Hegger, J.; Thoma S. et al.: Weiterentwicklung der Nachrechnungsrichtlinie - Validierung erweiterter Nachweisformate zur Ermittlung der Schubtragfähigkeit bestehender Spannbetonbrücken. BASt Verbundforschungsprojekt FE 15.0661/ 2018/ FRB, Schlussbericht, 2021 [6] Fischer, O.; Schramm, N.; Gehrlein, S.: Labor- und Feldversuche zur realitätsnahen Beurteilung der Querkrafttragfähigkeit von bestehenden Spannbetonbrücken. In: Bauingenieur 92 (2017), Heft 11, S. 455-463. [7] Rupf, M.; Fernández Ruiz, M.; Muttoni, A.: Post-tensioned girders with low amounts of shear reinforcement: Shear strength and influence of flanges. 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