Brückenkolloquium
kbr
2510-7895
expert verlag Tübingen
0925
2024
61
Gänstorbrücke – Ersatzbauwerk für einen Meilenstein
0925
2024
Thomas Klähne
Bastian Sweers
Timo Roth
Henry Ripke
Die neue Gänstorbrücke ist ein einfeldriges integrales Verbundrahmenbauwerk über die Donau, das die alte, von Ulrich Finsterwalder geplante Brücke ersetzen wird. Mit einer lichten Weite von 86,50 m ist sie eines der längsten Rahmenbauwerke in Deutschland. Sie verbindet die Städte Ulm und Neu-Ulm und wird neben dem Auto-, Rad- und Fußgängerverkehr auch Lasten einer möglichen Straßenbahntrasse aufnehmen können. Der Entwurf geht aus einem 2019/2020 ausgeschriebenen Realisierungswettbewerb hervor. In Anlehnung an die alte, als herausragendes Beispiel für die Ingenieurbaukunst aus den frühen 50er Jahren geltende Spannbetonbrücke besticht der Entwurf durch sein schlankes Erscheinungsbild. Sowohl Rückbau des vorhandenen als auch Herstellung des neuen Bauwerks sind wegen der innerstädtischen und umwelttechnischen Randbedingungen sehr anspruchsvoll. Im Sinne der Nachhaltigkeit werden für den Abbruch des Bestandsbauwerks und die Montage des neuen Überbaus die noch vorhandenen Pfeilerfundamente eines Vorgängerbaus aus dem Jahr 1912 verwendet.
kbr610027
6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 27 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein Dr.-Ing. Thomas Klähne KLÄHNE BUNG Beratende Ingenieure im Bauwesen GmbH, Berlin Bastian Sweers KLÄHNE BUNG Beratende Ingenieure im Bauwesen GmbH, Berlin Timo Roth Stadt Ulm, Hauptabteilung Verkehrsplanung und Straßenbau, Grünflächen, Vermessung; Sachgebiet Ingenieurbauwerke, Ulm Prof. Henry Ripke KRP Architektur Berlin GmbH, Berlin Zusammenfassung Die neue Gänstorbrücke ist ein einfeldriges integrales Verbundrahmenbauwerk über die Donau, das die alte, von Ulrich Finsterwalder geplante Brücke ersetzen wird. Mit einer lichten Weite von 86,50 m ist sie eines der längsten Rahmenbauwerke in Deutschland. Sie verbindet die Städte Ulm und Neu-Ulm und wird neben dem Auto-, Rad- und Fußgängerverkehr auch Lasten einer möglichen Straßenbahntrasse aufnehmen können. Der Entwurf geht aus einem 2019/ 2020 ausgeschriebenen Realisierungswettbewerb hervor. In Anlehnung an die alte, als herausragendes Beispiel für die Ingenieurbaukunst aus den frühen 50er Jahren geltende Spannbetonbrücke besticht der Entwurf durch sein schlankes Erscheinungsbild. Sowohl Rückbau des vorhandenen als auch Herstellung des neuen Bauwerks sind wegen der innerstädtischen und umwelttechnischen Randbedingungen sehr anspruchsvoll. Im Sinne der Nachhaltigkeit werden für den Abbruch des Bestandsbauwerks und die Montage des neuen Überbaus die noch vorhandenen Pfeilerfundamente eines Vorgängerbaus aus dem Jahr 1912 verwendet. 1. Einleitung Die Gänstorbrücke überspannt die Donau und verbindet damit nicht nur die Städte Ulm und Neu-Ulm, sondern damit auch die Länder Baden-Württemberg und Bayern (Abb. 1). Sie wurde 1950 als eine der ersten Spannbetonbrücken in Deutschland errichtet - der Bauwerksentwurf stammt von keinem Geringeren als Ulrich Finsterwalder [1]. Abb. 1: Lage der Gänstorbrücke, Quelle: google maps Die Brücke erlitt in der Vergangenheit eine Reihe von Spannstahlbrüchen und es erfolgte ein umfangreiches Monitoring, um die Verkehrssicherheit bis zur Herstellung eines Ersatzneubaus sicherzustellen [2], [3]. Für die Erneuerung der Gänstorbrücke wurde durch die Städte Ulm und Neu-Ulm 2019 ein Realisierungswettbewerb nach RPW 2013 ausgelobt, dem 2020 ein Planerauswahlverfahren nach VgV folgte [4]. Von den zehn eingeladenen Ingenieurbüros bzw. Bietergemeinschaften setzte sich ein Entwurf im Wettbewerb und im nachfolgenden Auswahlverfahren durch, der in seiner Gestaltung sehr an die „Finsterwalderbrücke“ erinnert [5]. Das neue Bauwerk wurde ebenfalls als eingespanntes Rahmenbauwerk konstruiert, wobei zur Erlangung einer möglichst geringen Bauhöhe hinsichtlich Material, Konstruktion und Herstellungsreihenfolge die Grenzen des technisch Machbaren bei Beibehaltung des Regelwerkes ausgelotet wurden. Die Planung des Ersatzneubaus und des Rückbaus der vorhandenen Brücke erfolgte in den Jahren 2020-2023, wobei in dieser Zeit die Leistungsphasen 1-7 der HOAI vollständig bearbeitet wurden. Die Ausschreibung der Bauleistung beinhaltete damit bereits sämtliche Ausführungsunterlagen für den Abbruch und den Ersatzneubau. Im Mai 2024 wurde der Bauauftrag vergeben. Es ist vorgesehen, dass die gemäß vorgezogener Ausführungsplanung geplanten Bauabläufe des Rückbaus und des Ersatzneubaus umgesetzt werden. 2. Die Bestandsbrücke von Finsterwalder Die Vorgängerbrücke der heutigen Brücke - eine dreifeldrige Steinbogenbrücke (1912) wurde am Ende des 2.- Weltkrieges 1945 zerstört. Um einen technisch und wirtschaftlich optimalen Entwurf zu erhalten, wurde 1949 ein Wettbewerb ausgeschrieben. Von den insgesamt 38 Entwürfen wurde der Entwurf von Ulrich Finsterwalder - eine Rahmenbrücke in Bogenform - zur Ausführung ausgewählt (Abb. 2). 28 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein Abb. 2: Brücke von Finsterwalder, Quelle: Autor Das Bauwerk war zu dieser Zeit das schlankeste seiner Art, was durch verschiedene konstruktive Maßnahmen erreicht werden konnte: Zum einen wurde erstmalig ein gelenkloser Rahmen konstruiert. Dabei wurde der Scheitel sehr schlank gemacht, um die Biegemomente zu reduzieren; zum anderen wurden die Kämpfer als schlankes Stabsystem aufgelöst, womit die Stützkraft auch bei Temperaturbeanspruchungen im Kern der Fundamentsohle verbleiben konnte und damit in der Fundamentsohle nahezu gelenkig ausgebildet wurde. Insgesamt besteht das Bauwerk aus zwei Teilbauwerken. Der Querschnitt ist je Teilbauwerk ein zweistegiger Plattenbalken mit obenliegender Fahrbahnplatte. Bei einer Spannweite von 82,40-m und einer Fahrbahnbreite von 2 × 9,00 m-= 18,00 m betrug die Bauhöhe 1,20 m im Brückenscheitel und 4,28 m am Kämpfer. Wesentlich für die mögliche Schlankheit in der Brückenmitte war die Vorspannung und die damit einhergehende (nach Normenentwurf DIN 4227 von 1950 mögliche) Erhöhung der zulässigen Druckspannungen, die die enorme Schlankheit von l/ f = 81,3 m/ 3,67 m = 22,1 zuließ. Die beiden Plattenbalken wurden in Längsrichtung, die Fahrbahnplatte in Querrichtung mit Spanngliedern aus St 60/ 90 d = 26 mm (Zugfestigkeit 90 kg/ mm 2 ; Streckgrenze 60 kg/ mm 2 ) vorgespannt. Die Spannglieder wurden über die Breite relativ gleichmäßig verteilt; dies entsprach einer „beschränkten Vorspannung mit nachträglichem Verbund“ [1]. Merkmal dieser Vorspannung ist, dass Zugspannungen im Beton bis zur Rissgrenzspannung zugelassen werden. Schlaffe Bewehrung ist sowohl in Längsals auch in Querrichtung quasi gar nicht - lediglich zur Sicherung der Tragfähigkeit im noch ungespannten Zustand und zur Sicherung der Geometrie für die Hüllrohre - zum Einsatz gekommen (Abb. 3). Wie aus Vorgenanntem deutlich wird, hatte Finsterwalder großes Vertrauen in die neue Bauweise - sowohl die später auftretenden Verkehrslasten als auch Ermüdungsprobleme der Spannbewehrung oder Unsicherheiten in der Verpressung der Hüllrohre waren nicht bekannt. Allerdings sind genau diese Themen Gründe für die spätere deutliche Verschlechterung des Zustandes der Brücke. Zu Beginn der 1980er Jahre wurden Risse festgestellt und eine Sanierung erforderlich. Im Rahmen der Sanierung des Bauwerks wurden 1983 Daueranker parallel zu den Zugstreben des Widerlagers eingebaut. Dadurch wurden die Zugstreben noch einmal extern vorgespannt. Zusätzlich wurden die Abdecksteine der Längsfuge durch eine einzellige Fugenkonstruktion ausgetauscht. Ende der 1980er Jahre wurden in der Brückenmitte aufgetretene Risse mit einer 25 mm Spritzbetonschichtung behandelt. Im Laufe der weiteren Jahre wurden weiterhin Schäden am Bauwerk festgestellt. In [2] wird dementsprechend auch von den Schäden berichtet, die im Zuge vertiefter Untersuchungen im Vorfeld einer Nachrechnung im Jahre 2018 festgestellt wurden. Es handelt sich im Wesentlichen um Verpressfehler bei Längs- und Quervorspannung und den Zuggliedern des Stabsystems hinter den Kämpfern, um Korrosionsschäden bei Spannstabkopplungen und Spannköpfen, aber auch der Spannbewehrung auf freier Strecke. Da die Schäden nicht mehr instandsetzbar und eine dauerhafte Verstärkung nicht möglich war, wurde die Entscheidung für einen Ersatzneubau getroffen. Neben einer deutlichen Verkehrsreduzierung durch Sperrung einer Fahrspur je Plattenbalken wurde ein Monitoring implementiert, um für die Übergangszeit einen sicheren Verkehr zu gewährleisten [3]. Das Monitoring zeigte nach Aussage des Betreibers der Anlage in der Zwischenzeit mehrere detektierte Spanngliedbrüche. Abb. 3: Spanngliedführung, Quelle: Der Bauingenieur, 26. Jahrgang, 1951, S. 291 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 29 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein 3. Der Wettbewerbsentwurf Von der Ausloberin wurde ein Entwurf erwartet, der - aus der Historie und der Lage im Stadtgebiet heraus - dem „besonderen Anspruch an Gestaltung und Einbindung in die Umgebung“ [4] gerecht wird, die Nutzungsansprüche erfüllt und wirtschaftlich und nachhaltig ist. Dabei sollten alle Verkehrsbeziehungen (Straße, Straßenbahn, Fuß- und Radverkehr auf und unter der Brücke, Schiffsverkehr) optimal berücksichtigt werden. Im Rahmen des Wettbewerbs wurden 10 Entwürfe eingereicht, davon vier mit oben liegendem Tragwerk in Form von Bogentragwerken, drei mit unten liegendem Tragwerk als aufgeständerter Bogen oder Sprengwerk und drei Rahmenbrücken [5]. Abb. 4: Siegerentwurf der Gänstorbrücke, Quelle: KRP Der Siegerentwurf war eine Rahmenbrücke, die in Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur entstand. Diese Zusammenarbeit geschah auf Augenhöhe, wobei zunächst die maßgeblichen Überlegungen hinsichtlich Geschichte, Ort und städtebaulichem Kontext vom Architekten kamen. Das Leitbild des Siegerentwurfes bestand im Fortschreiben der Geschichte, also um die Aufnahme der Gedanken von Finsterwalder hinsichtlich des Konstruktionsprinzips, der Übernahme der Silhouette und auch der Weiterverwendung baulicher Relikte. Selbstverständlich fand dann - vornehmlich nun durch den Ingenieur - eine Übersetzung dieser Gedanken mit der Verwendung neuerer Konstruktions- und Herstellungsprinzipien, moderner Materialien und leistungsfähiger rechnerischer Methoden statt (Abb. 4). Im Erläuterungsbericht zum Siegerentwurf wird das Bauwerk wie folgt beschrieben [6], siehe auch Abb. 5: „Das Tragwerk der neuen Gänstorbrücke lehnt sich ganz an die alte Finsterwalderbrücke an. Es besteht aus einem eingespannten Rahmen, dessen Rahmenriegel als Stahlverbundquerschnitt ausgebildet wird. Durch die verbesserte Wegeführung der beiden zu überbrückenden, die Donau begleitenden Geh- und Radwege erhöht sich die Spannweite des Rahmens auf 86,45 m. Wegen der erhöhten Verkehrslastanforderungen gegenüber der Entstehungszeit der Finsterwalderbrücke und der größeren Spannweite sowie dem Wunsch einer geringeren Bauhöhe an den Einspannpunkten des Rahmenriegels sind moderne konstruktive und statische Antworten erforderlich. Diese sind in der Materialwahl, der Querschnittsgestaltung und der Herstellungstechnologie zu finden. Zunächst wird der Konstruktionsstahl S 460 NL für das Stahlteil des Rahmenriegels gewählt, um höhere Festigkeiten und damit größere Schlankheiten erzielen zu können. Im Weiteren wird ein torsionssteifer Verbundquerschnitt gewählt, der mehrere Ziele verfolgt: Durch die Anordnung einer 25 cm dicken Stahlverbundplatte mit Beton C40/ 45 wird eine Steifigkeit des Gesamtquerschnitts erzielt, die ausreichend ist, um auch bei voller Verkehrsbelastung nur maximale Verformungen von ca. l/ 650 in der Mitte der Brücke zu erreichen und damit auch die Schwingungsanfälligkeit ausreichend zu dämpfen. Durch einen geschlossenen 5-zelligen Kastenquerschnitt und die Anordnung von Schotten im Abstand von ca. 4 m wird eine hervorragende Querverteilung der Lasten erzielt, so dass auch bei einseitiger Verkehrsbelastung der gesamte Querschnitt mitträgt. Zum Dritten hat der geschlossene Kasten eine ausreichende Torsionssteifigkeit und einen ausreichenden Wölbwiderstand, um auch bei einseitiger Verkehrsbelastung nur eine geringe Verwindung und in der Folge eine maximale vertikale Verformung am Querschnittsrand in Brückenmitte von ca. 6 cm zuzulassen. Die Herstellungsreihenfolge durch Herstellung der beiden Rahmenecken am Anfang führt dazu, dass das Feldmoment reduziert wird und damit in der Mitte der Brücke die Bauhöhe mit 1,75 m sehr schlank gehalten werden kann. Die genannten drei Maßnahmen führen in der Folge zu einem sehr schlanken Querschnitt mit Bauhöhen von 3,00 m an der Einspannstelle und 1,75 m in Feldmitte. Das entscheidende konstruktive Detail der Brücke stellt die Rahmenecke mit Übergabe der negativen Biegemomente und der Querkräfte dar. Sowohl ausführungstechnisch als auch statisch ist dieses Detail gelöst: Das Biegemoment wird aufgelöst in ein Kräftepaar; die im Obergurt zu übertragenden Zugkräfte werden einerseits durch die Biegebewehrung der Platte direkt in die Widerlagerwand geleitet und andererseits durch an den Stahlobergurt angeschlossene GEWI- Stäbe zurückgehangen und durch die Gestaltung der Widerlagerkonstruktion über Zug- und Druckstreben in die Pfahlgründung geleitet. Die Rahmenstiele werden durch die 2,0 m dicken Widerlagerwände in Beton C50/ 60 gebildet. Zur Ableitung der hohen Anschlussschnittkräfte reichen diese nicht aus und werden durch eine in die Straßenbereiche fortgeführte verdickte Fahrbahnplatte sowie drei orthogonale Wände ähnlich Flügelwänden von Kastenwiderlagern verstärkt. Sowohl die Rahmenstiele als auch die Querwände sind biegesteif mit der 2,0 m dicken Pfahlkopfplatte und den darunter angeordneten Pfählen verbunden. Die Konstruktion ist dabei so austariert, dass keine Zugpfähle entstehen.“ 30 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein Abb. 5: Längsschnitt, Querschnitt (Brückenmitte) des Siegerentwurfs Die Hauptbauphasen wurden im Entwurf bereits ausgearbeitet und im weiteren Planungsprozess auch nicht mehr geändert. Nach Herstellung der Hilfspfeiler auf den bestehenden Bogenfundamenten der Brücke von 1912 erfolgt zunächst der Rückbau des westlichen Brückenbauwerks und Herstellung des westlichen Ersatzneubaus sowie nachfolgend Rückbau und Neubau auf östlicher Seite. Der Verkehr wird auf dem jeweils vorhandenen Überbau geführt, also nicht unterbrochen. Die Hauptbauphasen gliedern sich demnach wie folgt: - Phase 1.1: Abbruch Bestand Überbau West, Verkehrsführung über Bestand Überbau Ost - Phase 1.2: Neubau Überbau West, Verkehrsführung über Bestand Überbau Ost - Phase 2.1: Abbruch Bestand Überbau Ost, Verkehrsführung auf Neubau Überbau West - Phase 2.2: Neubau Überbau Ost, Verkehrsführung auf Neubau Überbau West 4. Ausführungsplanung des Ersatzneubaus 4.1 Tragverhalten Das Tragverhalten von Rahmenbrücken ist hinreichend bekannt. Die als integrale Brücken bezeichneten Rahmenbauwerke zeichnen sich durch die gelenklose Rahmenbauweise aus, bei der die gesamte Tragwerksstruktur eine monolithische Einheit bildet [9]. Neben einer Reihe von zu klärenden Aufgabenstellungen stellen sich bei diesem Brückentypus immer wieder die Aufgaben der Berücksichtigung der Interaktion zwischen Tragwerk und Baugrund sowie die Beherrschung der Rahmenecke in statisch-konstruktiver Hinsicht. 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 31 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein Abb. 6: Längsschnitt und Draufsicht 4.2 Beschreibung des Ersatzneubaus Der Ersatzneubau besteht aus zwei Teilbauwerken, die durchgehend durch eine Bauwerksfuge getrennt sind. Es handelt sich um ein Rahmenbauwerk mit einer Gesamtlänge von 120,50 m zwischen den beiden Widerlagerhinterkanten und einer lichten Weite von 86,50 m sowie einer Gesamtbreite zwischen den Bauwerksaußenkanten von 27,64 m in Brückenmitte und 25,42 m am Widerlager. Der Überbau wird als Stahlverbundüberbau ausgeführt, der je Teilbauwerk aus einem 5-zelligen stählernen torsionssteifen Querschnitt mit einer 25 cm dicken Ortbetonplatte besteht. Der Querschnitt ist sowohl in seiner Höhe von 1,85 m in Brückenmitte und 2,94 m am Widerlageranschnitt als auch in seiner Breite mit 13,77-m in Brückenmitte und 12,66 m am Widerlageranschnitt variabel. Der Überbau ist in die Widerlager eingespannt, welche mit Pfählen d = 1,50 m und Pfahllängen von 23-m beim Widerlager Ulm und 18-m beim Widerlager Neu-Ulm tief gegründet sind. Die Widerlager selbst sind je Teilbauwerk als Kastenwiderlager ausgebildet, wobei im Gegensatz zu klassischen Kastenwiderlagern zwischen den beiden Flügelwänden eine weitere mittlere Wand ausgebildet wird und die im Endbereich des Überbaus aufgedickte Platte von 50 cm über die gesamte Widerlagerlänge durchgezogen wird. Das Bauwerk ist in Abb. 6 und Abb. 7 dargestellt. Das Bauwerk wird mit seiner lichten Weite nach Kenntnis der Verfasser das Rahmenbauwerk mit der längsten Spannweite in Verbundbauweise in Deutschland sein; in [10] wird von der bisher längsten Verbundbrücke bei Merseburg mit einer Länge von 55,40 m berichtet; inzwischen wurde eine weitere Verbundbrücke mit einer lichten Weite von 69,44 m als Wirtschaftswegbrücke über die A6 errichtet. 4.3 Modellbildung für die Standsicherheitsnachweise Die Grundlage der Standsicherheitsnachweise bildete das mit dem Programmsystem SOFISTIK erstellte Gesamtmodell. Mit diesem Modell wurden sowohl alle Schnittkräfte und Verformungen im Endzustand als auch im Bauzustand ermittelt. Zur Verifizierung des im Standsicherheitsnachweis verwendeten Modells wurden Voruntersuchungen an einem 32 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein Einstabmodell und einem FEM-Flächenmodell durchgeführt. Es war klar, dass die Verwendung eines Flächenmodells für die Gesamtberechnung und Auswertung aller Lastzustände und -kombinationen und insbesondere aller Montagezustände hinsichtlich Datenmenge und Rechenzeiten zu aufwändig werden würde. Der Vergleich beider Modelle für ausgewählte Lastfälle zeigte aber, dass das Einstabmodell ausreichend leistungsfähig und zielgenau war, womit es für die Globalberechnung verwendet werden konnte (Abb. 8). Abb. 7: Querschnitt Widerlager Brückenmitte Der Überbau und die Pfähle wurden dabei durch Stabelemente, die Widerlager mit Flächenelementen abgebildet. Bei der Kopplung des Überbaus und der Pfähle an die Widerlager, aber auch für die Kopplung der einzelnen Widerlagerelemente, wurden die entsprechenden Querschnitte berücksichtigt. Der für die Spannungsverteilungen wichtige Bauablauf wurde über einen Construction- Stage-Manager (CSM) berücksichtigt. Abb. 8: Verwendetes Modell für globale Berechnung Wesentlich für die Berechnung von integralen Brücken ist die Boden-Bauwerks-Interaktion. Hierzu sind Grenzwerte für die Bettungen sowie für die anzusetzenden Erddrücke in Sommer- und Winterstellung zu berücksichtigen. Es handelt sich hierbei also nicht nur um variable Lagerungseigenschaften, sondern auch um variable Einwirkungen. Die entsprechenden Ansätze wurden auf Grundlage der RE-ING und in Abstimmung mit dem Baugrundgutachter und geotechnischen Prüfsachverständigen getroffen. Die Schnittgrößen im Überbau und in der Rahmenecke wichen für eine weiche und eine steife Bettung nur sehr gering voneinander ab. Der Vollständigkeit halber wurden dennoch beide Systeme überprüft. Für die Bohrpfähle der Tiefgründung ergaben sich jedoch große Unterschiede. So ergaben sich bei der weichen Bettung z. B. deutlich größere Auflagerkräfte. Im Bereich der Rahmenecke war durch die unterschiedliche Steifigkeitsverteilung des Überbaus infolge variabler Bauhöhe über die Breite und des Widerlagers infolge der drei an die Widerlagerwand anschließenden Flügelwände nicht sofort ersichtlich, ob sich das Rahmeneckmoment gleichmäßig über die Widerlagerbreite verteilt. Aus diesem Grund wurde für diesen Sachverhalt ein lokales Modell erstellt, welches aus Flächenelementen bestand, siehe Abb. 9. Abb. 9: Modell Rahmenecke Die Ergebnisse zeigten, dass sich die Spannungen aus den Beanspruchungen gleichmäßig über den Querschnitt verteilten. Eine Durchlaufwirkung ergab sich nicht. 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 33 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein 4.4 Konstruktion des Stahlverbundüberbaus Der Stahlverbundüberbau wird durch den 5-zelligen Kastenquerschnitt und die schubfest angeschlossene Fahrbahnplatte gebildet. In Querrichtung werden zusätzlich im Abstand von 4 m Querschotte vorgesehen. Die Aufgabe, einen möglichst schlanken Überbau - in Analogie zur Vorgängerbrücke von Finsterwalder - herzustellen, führte zur Überlegung, ihn auch statisch in voller Breite mitwirken zu lassen, wodurch mehrere Längsträger mit ihren mitwirkenden Breiten entstehen. Abb. 10: Draufsicht auf den westlichen Überbau mit offenen (grau) und luftdicht verschweißten Zellen Gleichzeitig musste der Querschnitt in Querrichtung ausreichend torsionssteif sein, um Querverdrehung infolge einseitigen Verkehrs zu verhindern - woraus die Hohlkastenlösung folgte. Um aber auch die Durchbiegungen ausreichend zu begrenzen, musste Steifigkeit geschaffen werden, woraus die Verbundlösung entstand. Da auch Leitungen zu überführen sind und auch die Entwässerungseinläufe einsehbar sein müssen, muss die Begehbarkeit gewährleistet sein, womit eine Mindesthöhe in Brückenmitte erforderlich ist. Die Lösung hierfür bestand darin, die mittlere Zelle durchgängig und die mit den Entwässerungsöffnungen versehenen Zellen begehbar zu gestalten und ansonsten alle weiteren Zellen luftdicht zu verschweißen. In Abb. 10 ist dargestellt, welche Zellen somit begehbar und welche luftdicht verschweißt werden. Der Stahlbau wird in je 5 Segmenten je Teilbauwerk montiert. Die Segmente 1 und 5 sind 13 m lang, die Segmente 2 und 4 sind 17 m lang und Segment 3 in Brückenmitte ist 26,50-m lang. Der Obergurt muss zur Sicherung der Geometrie beim Betonieren mit Flachsteifen versehen werden. Aus optischen Gründen wird bei der Fertigung im Werk darauf zu achten sein, dass die Herstellung der Segmente in Positivlage erfolgt, indem zunächst der Untergurt ausgelegt wird, die Stege und Querschotte aufgesetzt und verschweißt werden und dann der mit den Steifen verschweißte Obergurt in Teilstücken und mit Fenstern aufgesetzt wird, damit sowohl Stege und Schotte vollständig (und ggf. einseitig) angeschlossen werden können. Die Konstruktion besteht in weiten Teilen aus S355 J2. Aufgrund der großen Schlankheit und der großen Beanspruchungen in der Rahmenecke werden die direkt an die Widerlager anschließenden Segmente 1 und 5, also je ca. 13 m, aus S460N hergestellt. Die Fahrbahnplatte über den Widerlagern bis 12 m über die Widerlagervorderkante hinaus - also über den Segmenten aus S460N - wird in C50/ 60 ausgeführt. In Brückenmitte wird ein Beton C40/ 50 ausgeführt. Die Betonplatte wird vollflächig über Kopf bolzen angeschlossen. Das Raster über Segment 3 in Brückenmitte beträgt dabei 400 × 250 mm. Direkt am Widerlager beträgt das Raster über Segment 1 und 5 für 7,25 m 125 × 250 mm, im weiteren Verlauf der Segmente dann 180 × 250mm. Über den Segmenten 2 und 4 beträgt das Raster über 9 m zunächst wieder 180 × 250mm, im weiteren Verlauf zur Brückenmitte dann 250 × 125 mm. Der Abstand von 250 mm in Brückenquerrichtung bleibt über die Länge der Brücke hin konstant. An den Enden des Überbaus werden die Dübelreihen über ca. 3,5 m lange Dübelleisten in das Widerlager fortgeführt. 4.5 Nachweisführung der Rahmenecke Die Rahmenecke bildet das Herzstück einer jeden Rahmenbrücke, ihre konstruktive Ausbildung verlangt besondere Aufmerksamkeit. Wegen der hohen Rahmeneckmomente wäre es gegebenenfalls sinnvoll gewesen, die Zugkräfte über hochfeste Spannbewehrung - ggf. sogar mit Vorspannung - aufzunehmen, wie dies z. B. bei der Rahmenbrücke Blossin erfolgte [10]. Verschiedene Gründe wie Begehbarkeit, Wartungsmöglichkeiten, statische Wirksamkeit infolge der Geometrie sprachen dagegen, sodass hierzu eine Lösung gefunden werden musste, die dauerhaft und ohne die Notwendigkeit von Inspektionen auskam. Die konstruktive Lösung der Rahmenecke ist in Abb. 11 dargestellt. Das Rahmeneckmoment wird wie üblich in ein Kräftepaar aufgeteilt. Die Druckkräfte werden über ein 150 mm dickes Druckblech in die 2,5 m dicke Widerlagerwand eingeleitet. In der Widerlagerwand selbst wird zusätzlich eine vertikale und horizontale Spaltzugbewehrung eingebaut. 34 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein Abb. 11: Rahmenecke Um die Zugkräfte aufzunehmen, musste von den Festlegungen der RE-ING [11] hinsichtlich der Beschränkung auf drei Bewehrungslagen abgewichen werden. Dies ist konstruktiv auch möglich, da zunächst die Betonfahrbahnplattendicke auf 50 cm erhöht wurde und damit wesentlich dicker ist als normale Fahrbahnplatten im Verbundbau. Ein Teil der Zugkraft wird noch im Bereich der Brücke in die Fahrbahnplattenbewehrung ausgeleitet, ein Teil der Zugkraft verbleibt im Obergurt des Überbaus und wird über Zahnbleche mit aufgesetzten Kopfbolzendübeln in das Widerlager geleitet und von dort über schlaffe Bewehrung aufgenommen. Die gesamte Zugkraft wird anschließend entsprechend den Steifigkeiten der Widerlagerwand und den Flügelwänden teilweise direkt in die Widerlagerwand und teilweise in die über das Widerlager hinaus fortgeführte Fahrbahnplatte geleitet, von der sie über die Flügelwände in die Pfahlkopfplatte geleitet wird. Wesentlich für die Bemessung der Rahmenecke war der Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit, nachdem die Rissbreite auf 0,2 mm zu begrenzen ist. Gegenüber dem GZT wurde die Bewehrung zur Abdeckung der Zugkraft auf um mehr als 40 % erhöht und lag bei 147,7 cm²/ m (Auslastung im GZT 70 % und im GZG 100 %). Aus Sicht der Verfasser wäre zu überlegen, ob nicht die Kombination einer erhöhten Betonüberdeckung und einer qualitativ hochwertigen langlebigen Abdichtung zu einer Abminderung der Forderung im GZG führen könnte. Das Ergebnis der nunmehr erforderlichen Bewehrung ist schematisch in Abb. 12 dargestellt. Bei der Ausführung sind daher hohe Ansprüche an die Qualität sowie an die Betontechnologie zu stellen. Die Abbildung ist dem aufgestellten 3D-Modell entnommen. In diesem Modell werden sowohl der Stahlbau als auch der Massivbau inklusive Bewehrung dargestellt. Abb. 12: Bewehrungsführung in der Rahmenecke 5. Zusammenfassung und Ausblick Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass Wettbewerbe insgesamt gute Ergebnisse im Hinblick auf Gestaltung und Stadtbild liefern. Auch technisch werden anspruchsvolle Bauwerke entwickelt. Der Anspruch an die Planenden besteht daher nicht allein in die Erfüllung des Alltagsgeschäfts, sondern auch in der Anwendung kreativer und innovativer Lösungsansätze. So wurde im vorliegenden Fall durch die Wettbewerbsjury eine außergewöhnliche Rahmenbrücke gewählt, die sich in ihrer Gestaltung hervorragend in das Städtebild eingliedert, als auch konstruktiv die Grenzen des Machbaren testet. Die Gänstorbrücke hält sich in Ihrer Gestaltung deutlich zurück und besticht durch eine schlichte Form. Dennoch liefern gerade die vielen kleinen Details wie das geneigte Geländer, die Auftaktmaste oder auch die Gestaltung der Beleuchtung ein unverkennbares Bauwerk. Für die Städte Ulm und Neu-Ulm wird daher neben einer Verkehrsverbindung auch ein neuer Aufenthaltsraum mit Blick auf die Donau und die Stadtsilhouette geschaffen. Der feierliche Baubeginn der Gänstorbrücke erfolgte am 26.07.2024 um 13: 30 Uhr (Abb. 13). Mit der Fertigstellung des ersten Teilbauwerkes wird bis Anfang 2026 gerechnet. Die Fertigstellung des Gesamtbauwerkes ist für Herbst 2027 vorgesehen. Wir wünschen der Baufirma und allen Beteiligten für das Bauvorhaben viel Erfolg. Abb. 13: Einladungskarte zur Eröffnung, Quelle: Städte Ulm/ Neu-Ulm 6. Beteiligte Bauherr: Stadt Ulm/ Stadt Neu-Ulm Planer Entwurfs- und Ausführungsplanung: KRP Architektur GmbH/ KLÄHNE BUNG Beratende Ingenieure im Bauwesen GmbH 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 35 Gänstorbrücke - Ersatzbauwerk für einen Meilenstein Prüfingenieure: Prof. Dr.-Ing. M. Mensinger/ Dr.-Ing. A. Jähring Baufirma: Wolff & Müller Holding GmbH & Co. KG Bauüberwachung und Bauoberleitung: BUNG Baumanagement GmbH Quellen [1] Finsterwalder, U.: Die Donaubrücke beim Gänstor in Ulm. In: Der Bauingenieur 26 (1951) Heft 10. [2] Müller, A.; Sodeikat, C.; Schänzlin, J.; Knab, F.; Albrecht, L.; Groschup, R.; Obermeier, P: Die Gänstorbrücke in Ulm - Untersuchung, Probebelastung und Brückenmonitoring. In: Beton- und Stahlbetonbau 115 (2020), Heft 3, Ernst Sohn Verlag, Berlin 2020. [3] Knab, F.; Groschup, R.: Monitoring von Brücken - Hintergründe, technische Möglichkeiten und Umsetzung am Beispiel der Ulmer Gänstorbrücke, In: Tagungsband 4. Brückenkolloquium 8. und 9. September 2020, Technische Akademie Esslingen. [4] Neu-Ulm; Ulm: Auslobung, Ersatzneubau Gänstorbrücke Ulm/ Neu-Ulm: Planerauswahlverfahren nach VgV mit Realisierungswettbewerb nach RPW 2013; 26.09.2019. [5] Stadt Ulm: Neubau Gänstorbrücke Ulm/ Neu-Ulm, Planerauswahlverfahren nach VgV mit Realisierungswettbewerb nach RPW 2013. [6] Bietergemeinschaft KLÄHNE BUNG/ BUNG/ Kolb Ripke Architekten: Wettbewerbsunterlagen zum Realisierungswettbewerb Gänstorbrücke, Erläuterungsbericht, 2019, unveröffentlicht. [7] Klähne, T.; Owusu-Yeboah, M.; Weißbach, M.: Planung und Ausführung der neuen Extradosed-Brücke in Nürnberg. In: Bauingenieur 99 (2024). [8] Krill, A.; Lingemann, J.; Schacht, G.: Regelungsbedarf und Ansätze einer Rückbaurichtlinie für Brückenbauwerke. In: Beton- und Stahlbetonbau 118 (2023), Sonderheft Rückbau von Betonbrücken. [9] Geier, R.; Angelmaier, V.; Graubner, C., Kohoutek, J.: Integrale Brücken,Verlag Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin, 2017. [10] Pak, D.; Seidl, G.: Eine kurze Geschichte der Rahmenbücken in Deutschland. In: Stahlbau 89 (2020) . [11] Bundesministerium für Digitales und Verkehr: RE- ING, Teil 2 Brücken, Abschnitt 5 Integrale Bauwerke, Stand 2022.
