Brückenkolloquium
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2510-7895
expert verlag Tübingen
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Brückenerhaltung in Baden-Württemberg – Zustandsentwicklung, Strategien und Innovationen
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Gundula Peringer
Tim Weirich
Trotz des im Jahr 2011 In Baden-Württemberg vollzogenen Paradigmenwechsels („Erhaltung vor Um-, Aus- und Neubau“) und der damit verbundenen Fokussierung auf Erhaltungsmaßnahmen befindet sich der Brückenbestand mit Blick auf die Substanz und die Tragfähigkeit in erheblichem Umfang in einem instandsetzungs- bzw. ertüchtigungswürdigen Zustand. In der Summe ist derzeit für rund jede zehnte Brücke in Baden-Württemberg eine Erhaltungsmaßnahme einzuleiten. Um der fortschreitenden Verschlechterung der Brückensubstanz effektiv entgegenzuwirken, müssen mittelfristig pro Jahr landesweit bis zu 100 Brücken im Bundes- und Landesstraßennetz grundhaft instandgesetzt, ertüchtigt bzw. neugebaut werden. Allerdings reichen die aktuell zur Verfügung stehenden Investitionsmittel, v. a. im Landeshaushalt, sowie personellen Ressourcen nicht aus, um die Anzahl an Erhaltungsmaßnahmen im erforderlichen Umfang zu erhöhen. Daher hat die Straßenbauverwaltung des Landes bereits verschiedene Maßnahmen angeschoben, um die Auswirkungen aus den fehlenden Ressourcen abzumindern. Ziel der Maßnahmen ist insbesondere die Planungs- und Bauzeit zu reduzieren und so die Zahl an Erhaltungsmaßnahmen insgesamt zu steigern. Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über den aktuellen Brückenzustand in Baden- Württemberg, sowie über die Strategien und Innovationen im Rahmen des Brückenerhaltungsmanagements.
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6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 123 Brückenerhaltung in Baden-Württemberg - Zustandsentwicklung, Strategien und Innovationen Dipl.-Ing. Gundula Peringer Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg, Leiterin Referat 24 Erhaltungsmanagement und Ingenieurbau Dr.-Ing. Tim Weirich Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg, Brückenreferent im Referat 24 Zusammenfassung Trotz des im Jahr 2011 In Baden-Württemberg vollzogenen Paradigmenwechsels („Erhaltung vor Um-, Aus- und Neubau“) und der damit verbundenen Fokussierung auf Erhaltungsmaßnahmen befindet sich der Brückenbestand mit Blick auf die Substanz und die Tragfähigkeit in erheblichem Umfang in einem instandsetzungsbzw. ertüchtigungswürdigen Zustand. In der Summe ist derzeit für rund jede zehnte Brücke in Baden-Württemberg eine Erhaltungsmaßnahme einzuleiten. Um der fortschreitenden Verschlechterung der Brückensubstanz effektiv entgegenzuwirken, müssen mittelfristig pro Jahr landesweit bis zu 100 Brücken im Bundes- und Landesstraßennetz grundhaft instandgesetzt, ertüchtigt bzw. neugebaut werden. Allerdings reichen die aktuell zur Verfügung stehenden Investitionsmittel, v. a. im Landeshaushalt, sowie personellen Ressourcen nicht aus, um die Anzahl an Erhaltungsmaßnahmen im erforderlichen Umfang zu erhöhen. Daher hat die Straßenbauverwaltung des Landes bereits verschiedene Maßnahmen angeschoben, um die Auswirkungen aus den fehlenden Ressourcen abzumindern. Ziel der Maßnahmen ist insbesondere die Planungs- und Bauzeit zu reduzieren und so die Zahl an Erhaltungsmaßnahmen insgesamt zu steigern. Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über den aktuellen Brückenzustand in Baden- Württemberg, sowie über die Strategien und Innovationen im Rahmen des Brückenerhaltungsmanagements. 1. Einführung Aufgrund der topographischen Randbedingungen befinden sich in Baden-Württemberg rd. 4.000 Brücken im Zuge von Bundes- und rd. 3.300 Brücken im Zuge von Landesstraßen. Die Brücken stellen die Achillesferse der Straßeninfrastruktur dar und bekommen die in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Verkehrslasten in besonderem Maße zu spüren. Der Brückenbestand befindet sich mit Blick auf die Substanz und die Tragfähigkeit in erheblichem Umfang in einem instandsetzungsbzw. ertüchtigungswürdigen Zustand. Die Grundlage für die Bewertung des Brückenbestandes bilden dabei sowohl die Zustandsnote, die den baulichen Zustand der Brücke widerspiegelt, als auch der Traglastindex, durch den die Tragfähigkeitseigenschaften bewertet werden. Für die Berechnung der Zustandsnote werden im Zuge der alle drei Jahre durchgeführten Bauwerksprüfung die Schäden und Mängel aufgenommen und der Zustand unter Berücksichtigung der Standsicherheit, Verkehrssicherheit sowie Dauerhaftigkeit beurteilt. Die Ergebnisse werden zu einer Zustandsnote zwischen 1,0 (sehr gut) und 4,0 (ungenügend) zusammengefasst. Abb. 1: Schäden an der L 277 Donaubrücke Tuttlingen (Quelle: Regierungspräsidium Freiburg) Der Traglastindex stellt hingegen die Diskrepanz zwischen erforderlicher Brückentragfähigkeit (Ziellastniveau) und vorhandener Tragfähigkeit dar. Die Klassifizierung der Bauwerke erfolgt in fünf Bewertungsstufen von I bis V, wobei Stufe I jene Bauwerke kennzeichnet, welche die geforderten statischen und konstruktiven Anforderungen erfüllen. In der Stufe V sind die Brücken vertreten, die mit einem Alter von 50 Jahren und mehr den Zenit ihrer geplanten Nutzungszeit überschritten haben, nicht nach aktuellem Regelwerk geplant sowie gebaut wurden und bei denen aufgrund des seinerzeitigen Stands der Technik im Vergleich zu den heutigen Anforderungen die meisten statisch-konstruktiven Defizite auftreten. 124 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Brückenerhaltung in Baden-Württemberg - Zustandsentwicklung, Strategien und Innovationen Während die Zustandsnote insbesondere ein Instrument für die kurzfristige Priorisierung von Erhaltungsmaßnahmen darstellt, weist der Traglastindex auf die Dringlichkeit einer Erhaltungsmaßnahme hin und stellt somit ein Instrument für eine mittelfristige Prognose dar. 2. Zustand der Brücken 2.1 Zielvorgaben Grundsätzlich ist ein Brückenzustand sicherzustellen, der die gestellten Anforderungen an die Tragfähigkeit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerhaftigkeit mit ausreichender Zuverlässigkeit erfüllt. Hierzu sind die folgenden Zielvorgaben aus der „Richtlinien für die strategische Planung von Erhaltungsmaßnahmen an Ingenieurbauwerken (RPE-ING)“ und der „Zusätzlichen Technischen Vertragsbedingungen und Richtlinien für Funktionsbauverträge von Ingenieurbauten (ZTV-Funktion-ING)“ einzuhalten. Die RPE-ING gibt vor, dass - bezogen auf die Brückenfläche, • die mittlere Zustandsnote im Bereich von 2,0-2,4, • der Zustandsnotenbereich „3,0 bis 4,0“ unter 10 % des Gesamtbrückenbestandes, • der Zustandsnotenbereich „3,5 bis 4,0“ unter 1,0 % des Gesamtbrückenbestandes liegen soll. Die ZTV-Funktion-ING setzt als Randbedingung, dass • die Zustandsnote (ZN) grundsätzlich nie schlechter als 2,9 sein darf, • den Zustand verbessernde Maßnahmen zu planen und so rechtzeitig durchzuführen sind, dass die ZN < 2,9 jederzeit eingehalten werden kann. Um die Forderungen an die Brückentragfähigkeit einzuhalten, steht zudem der Traglastindex als weiteres Bewertungsinstrument zur Verfügung. Ziel der Erhaltungsplanung ist ein möglichst kleiner Traglastindex. Brücken mit einem hohen Traglastindex sollten somit bevorzugt in der Erhaltungsplanung berücksichtigt werden. Bei Brückenbauwerken, die mit einem Traglastindex von IV oder V belegt sind, ist davon auszugehen, dass eine Instandsetzung kombiniert mit einer Ertüchtigung entweder technisch nicht möglich und/ oder nicht wirtschaftlich ist, d. h. es ist in der Regel ein Ersatzneubau erforderlich. 2.2 IST-Zustand Landesweit werden die Vorgaben der RPE-ING für den Zustandsnotenbereich „3,0 bis 4,0“ mit einem Wert von 10,81 % im Zuge von Bundesstraßen etwas überschritten und 9,64 % im Zuge von Landesstraßen knapp eingehalten. Auch für den Zustandsnotenbereich „3,5 bis 4,0“ wird die Vorgabe der RPE-ING für den Bereich der Bundesstraßen mit 0,69 % knapp eingehalten und im Zuge von Landesstraßen mit einem Wert von 1,34 % leicht verfehlt (siehe Abb. 2). Allerdings weisen 396 Brücken (Bund: 200 Brücken, Land: 196 Brücken) eine Zustandsnote schlechter als 3,0 auf, d. h. für diese Brücken sind Erhaltungsmaßnahmen einzuleiten. Darüber hinaus weisen im Bundes- und Landesstraßennetz rund 330 Brücken (Bund: 183 Brücken, Land: 144 Brücken) den schlechtesten Traglastindex von V auf (siehe Abb. 3). Diese Brücken sind durch die Straßenbauverwaltung genauer zu untersuchen. Für die Mehrheit dieser Brücken wird jedoch ein Ersatzneubau erforderlich sein. Abb. 2: IST-Zustand Zustandsnote (bezogen auf die Brückenfläche) 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 125 Brückenerhaltung in Baden-Württemberg - Zustandsentwicklung, Strategien und Innovationen Abb. 3: IST-Zustand Traglastindex 2.3 Aktuelle Zustandsentwicklung Trotz des im Jahr 2011 vollzogenen Paradigmenwechsels des Landes („Erhaltung vor Um-, Aus- und Neubau“) und der damit verbundenen Fokussierung auf Erhaltungsmaßnahmen hat sich der Zustand der Bundes- und Landesstraßenbrücken aufgrund der vorhandenen Altersstruktur sowie der gestiegenen Anforderungen an deren Tragfähigkeit im Laufe der letzten Jahre kontinuierlich verschlechtert (siehe Abb. 4 und Abb. 5). Abb. 4: Zustandsentwicklung Bundesstraßenbrücken 126 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Brückenerhaltung in Baden-Württemberg - Zustandsentwicklung, Strategien und Innovationen Abb. 5: Zustandsentwicklung Landesstraßenbrücken Ein Großteil der vorhandenen Bundes- und Landesstraßenbrücken weist ein durchschnittliches Bauwerksalter von rund 50 Jahren auf. Landesweit sind rund 653 Brücken im Bundes- und Landesstraßennetz durch einen Neubau zu ersetzen oder instandsetzungs-/ ertüchtigungsbedürftig. Somit ist derzeit etwa für jede zehnte Brücke in Baden-Württemberg eine Erhaltungsmaßnahme einzuleiten. Allein 70 Brücken davon weisen sogar den schlechtesten Traglastindex von V und gleichzeitig einen „kritischen Bauwerkszustand“ (Zustandsnote von 3,0 oder schlechter) auf, so dass hier ein dringender Handlungsbedarf vorliegt. 3. Strategien und Innovationen im Brückenerhaltungsmanagement 3.1 Ausgangslage Eine nachhaltige Strategie zur Brückenerhaltung erfordert sowohl die Berücksichtigung des Brückenzustandes als auch etwaiger Tragfähigkeitsdefizite. So ist bei Brücken in einem „kritischen Bau-werkszustand“ oder schlechter (d. h. ab Note 3,0 gem. DIN 1076) eine Erhaltungsmaßnahme einzuleiten. Tragfähigkeitsdefizite liegen insbesondere bei Brücken mit dem schlechtesten Traglastindex V vor. Diese Bauwerke sind somit prioritär zu behandeln. Zudem sind Brücken mit bauart- und materialbedingten Defiziten, wie Brücken mit spannungsrisskorrosionsgefährdetem Spannstahl, Brücken mit Verdrängungskörpern (Hohlkörperplatten), Brücken mit sprödbruchgefährdeten Edelstahl-rollenlagern, Brücken mit Koppelfugen usw. ebenfalls kurzfristig durch einen Neubau zu ersetzen. Um der fortschreitenden Verschlechterung der Brückensubstanz entgegenzuwirken, müssen mittelfristig pro Jahr landesweit bis zu 100 Brücken im Bundes- und Landesstraßennetz grundhaft instandgesetzt, ertüchtigt bzw. neugebaut werden. Die aktuell zur Verfügung stehenden Investitionsmittel sowie personellen Ressourcen reichen hierfür allerdings nicht aus. Neben einer Erhöhung der Investitionsmittel ist für ein zukunftsfähiges Straßennetz insbesondere ein Personalaufwuchs in den kommenden Jahren erforderlich um das aktuelle Erhaltungsdefizit in Höhe von rund 1,5 Mrd. Euro für die Brücken in Baden-Württemberg (Bund: 1,020 Mrd. Euro; Land: 0,480 Mrd. Euro) wirtschaftlich und nachhaltig zu bewältigen. 3.2 Maßnahmen Aufgrund der aktuellen Lage am Arbeitsmarkt ist ein kurzfristiger Personalaufwuchs nicht realistisch. Daher hat das Verkehrsministerium bereits verschiedene Maßnahmen angeschoben, um die Auswirkungen aus den fehlenden Personalressourcen abzumindern. Ziel der Maßnahmen ist insbesondere die Planungs- und Bauzeit zu reduzieren und so die Zahl der notwendigen Brückenersatzneubauten spürbar zu steigern. Vor diesem Hintergrund hat das Ministerium für Verkehr bereits am 14.12.2022 ein Schreiben veröffentlicht, wonach „Ersatzneubauten im Regelfall an Ort und Stelle unter Vollsperrung herzustellen“ sind. Durch entsprechende gesetzliche Regelungen, die zum 01.01.2021 in Kraft traten, sind für die Umsetzung derartiger Ersatzneubauten die baurechtlichen Voraussetzungen grundsätzlich gegeben, so 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 127 Brückenerhaltung in Baden-Württemberg - Zustandsentwicklung, Strategien und Innovationen dass ein sehr zeitaufwendiges formelles Verfahren zur Erlangung des Baurechts (bspw. Planfeststellungs-, Plangenehmigungs- oder Bebauungsplanverfahren) oder die Feststellung der unwesentlichen Bedeutung i. d. R. entfallen und somit beschleunigt mit dem Bau begonnen werden kann. Sofern auf ein Genehmigungsverfahren nicht verzichtet werden kann, sollen klar vorgegebene Strukturen bei der Beteiligung bzw. Abstimmung mit Dritten den Planungsprozess straffen. In diesem Zusammenhang werden aktuell die „Ergänzenden Arbeitshinweise für die Planung von Brückenersatzneubauten in der Straßenbauverwaltung“ erstellt und in Abstimmung mit dem Ministerium für Umwelt eine Arbeitshilfe „Gewässerkreuzende Verkehrsanlagen“ erarbeitet. Eine weitere Effizienzsteigerung erhofft sich die Straßenbauverwaltung durch die Verkürzung bzw. Bündelung von Vergabeverfahren z. B., indem Bauleistungen funktional ausgeschrieben oder mehrere Brückenerhaltungsprojekte in einer Sammelausschreibung gebündelt werden. Zudem soll geprüft werden, ob künftig verschiedene Ingenieurleistungen in einem Open-House-Verfahren, wie sie bei der Autobahn des Bundes bereits zum Einsatz kommen, vergeben werden können. Der gezielte Einsatz von innovativen Bauweisen, wie z.- B. der modularen Bauweise oder der „Expressbauweise“, soll zu einer wesentlichen Reduzierung der Bauzeit beitragen. Hierbei kann durch einen hohen Vorfertigungsgrad eine Minimierung sowohl der Bauzeit als auch der verkehrlichen Einschränkungen erzielt werden. 3.3 Ausblick Eine gute Planung ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass ein Brückenersatzneubau rasch umsetzbar ist und im Ergebnis gut gelingt. Dazu gehört auch, dass die Maßnahme im Umfeld breite Akzeptanz erfährt, indem trotz den mit einer Baumaßnahme einhergehenden negativen Begleiterscheinungen, wie z. B. Verkehrseinschränkungen, Baulärm, sonstige Umweltauswirkungen etc., die Notwendigkeit anerkannt wird und auf diese Weise Konfliktpotential reduziert werden kann. Ein politisches Bekenntnis für die Brückenerhaltung im Allgemeinen genügt an dieser Stelle nicht. Vielmehr bedarf es ein klares Votum für jedes einzelne notwendige Brückenbauprojekt. Vor diesem Hintergrund wird aktuell eine Projektliste erstellt, die sämtliche anhand fachlicher Kriterien ausgewählte prioritären Brückenerhaltungsmaßnahmen in Baden-Württemberg enthält. Derzeit ist davon auszugehen, dass - unter Berücksichtigung eines politischen Abstimmungsprozesses - die Liste voraussichtlich bis Jahresende veröffentlicht werden kann. Sie ist regelmäßig gemäß der aktuellen Zustandsentwicklung zu überprüfen und ggf. anzupassen. Im Ergebnis soll die Anzahl von Brückenerhaltungsmaßnahmen, welche grundhafte Instandsetzungen, Ertüchtigungen und Ersatzneubauten umfassen, schrittweise auf rund 100 Projekte im Jahr erhöht werden.
