Brückenkolloquium
kbr
2510-7895
expert verlag Tübingen
0925
2024
61
Schiffsanprall auf Brücken – für Planung, Bauzeit und Bestand
0925
2024
Claus Kunz
Schiffsstoßkräfte auf Brücken über Wasserstraßen basieren seit langem auf stochastischen Grundlagen und Überlegungen, womit nach aktuellem Zuverlässigkeitskonzept sichere und wirtschaftliche Bemessungen bei der Planung neuer Brückenbauwerke ermöglicht wird. Einige Hintergründe für die aktuellen Regelungen im Eurocode und dem zugehörigen Nationalen Anhang werden dargestellt. Neben der Planung neuer Brücken mussten in der Vergangenheit auch bestehende Brücken hinsichtlich Schiffsanprall bewertet werden. Hierfür wurde durch die Bundesanstalt für Wasserbau ein Konzept der Restnutzungsdauer etabliert, das unter Zuverlässigkeitsbetrachtungen für die Gesamt-Nutzungsdauer einer Brücke eine Reduzierung der Stoßlasten in Abhängigkeit der Restnutzungsdauer zulässt, sofern die Brücke hinsichtlich Schiffsanprall unauffällige ist. Die Methodik wird erläutert. Zwischen Planung (Neubau) und Bestand (Betrieb) einer Brücke liegt der Bau einer Brücke mit Baugruben und Baubehelfen (Hilfsstützen), die im Fahrwasser einer Wasserstraße angeordnet sind. Hierfür wird im Sinne temporärer Bauwerke auf der Methodik der Restnutzungsdauer aufgebaut und eine für eine spätere Normung beabsichtigte Vorgehensweise vorgestellt.
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6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 279 Schiffsanprall auf Brücken - für Planung, Bauzeit und Bestand Dipl.-Ing. Claus Kunz Bundesanstalt für Wasserbau, Karlsruhe Zusammenfassung Schiffsstoßkräfte auf Brücken über Wasserstraßen basieren seit langem auf stochastischen Grundlagen und Überlegungen, womit nach aktuellem Zuverlässigkeitskonzept sichere und wirtschaftliche Bemessungen bei der Planung neuer Brückenbauwerke ermöglicht wird. Einige Hintergründe für die aktuellen Regelungen im Eurocode und dem zugehörigen Nationalen Anhang werden dargestellt. Neben der Planung neuer Brücken mussten in der Vergangenheit auch bestehende Brücken hinsichtlich Schiffsanprall bewertet werden. Hierfür wurde durch die Bundesanstalt für Wasserbau ein Konzept der Restnutzungsdauer etabliert, das unter Zuverlässigkeitsbetrachtungen für die Gesamt-Nutzungsdauer einer Brücke eine Reduzierung der Stoßlasten in Abhängigkeit der Restnutzungsdauer zulässt, sofern die Brücke hinsichtlich Schiffsanprall unauffällige ist. Die Methodik wird erläutert. Zwischen Planung (Neubau) und Bestand (Betrieb) einer Brücke liegt der Bau einer Brücke mit Baugruben und Baubehelfen (Hilfsstützen), die im Fahrwasser einer Wasserstraße angeordnet sind. Hierfür wird im Sinne temporärer Bauwerke auf der Methodik der Restnutzungsdauer aufgebaut und eine für eine spätere Normung beabsichtigte Vorgehensweise vorgestellt. 1. Einführung Schiff-Brückenkollisionen mit festen Brücken sind im deutschen Wasserstraßensystem sehr seltene Ereignisse und die Folgen für die getroffenen Brücken beschränken sich bisher auf kleinere Schäden, wie z. B. lokale Schäden an Brückenpfeilern oder Überbauten. Dennoch können Kollisionen von Schiffen mit Brücken über Wasserstraßen die Tragfähigkeit von Brücken verletzen und zu einer Bedrohung für die Brückennutzer werden. Für neue Brücken sind in den Regelwerken, z. B. [1], Anprallkräfte als dynamische Bemessungslasten angegeben. Diese Schiffstoßlasten genügen in der Regel der mit den Eurocodes eingeführten (semi-)probabilistischen Vorgehensweise, die eine sichere und wirtschaftliche Bemessung ermöglichen. Für bestehende Brücken über Wasserstraßen, die mit Unterbauten in der Fahrrinne theoretisch schiffsstoßgefährdet sind, in Deutschland gibt es etwa 750 an der Zahl, existiert ebenfalls ein Merkblatt [2]. Ältere Brücken sind häufig nicht auf Schiffsanprall nachgewiesen.. Eine Instandsetzung wäre zudem teuer und angesichts der Seltenheit des Anprallereignisses möglicherweise ineffizient, weshalb in [2] Zuverlässigkeitsaspekte für eine ebenfalls sichere und wirtschaftliche Bewertung bestehender Brücken hinsichtlich Schiffsanprall verankert wurden. Für Baugruben oder Baubehelfe im Zusammenhang mit dem Bau neuer Brücken, häufig auch über externe Sicherungskonstruktionen bewerkstelligt, gibt es derzeit keine Regelungen. Vielmehr liegen gutachtliche Untersuchungen vor, die mit dem Ziel einer normativen Regelung künftig verallgemeinert werden sollen. Der Beitrag zeigt für Binnenwasserstraßen die mechanischen und probabilistischen Hintergründe und Regelungen für Schiffsanpralllasten für die Planung von neuen Brücken sowie davon abgeleitete Hintergründe und Regelungen für Schiffsanpralllasten für Unterbauten bestehender Brücken, die auf dem Konzept der Restnutzungsdauer basieren, auf. Folgerichtig werden auch Regelungen für Bauzustände über die Zuverlässigkeit entwickelt, so dass der Schiffsanprall für Planung, Bauzeit und im Bestand auf einer konsistenten zuverlässigkeits-theoretischen Grundlage beruhen wird. Sinngemäß können auch Seeschifffahrtsstraßen behandelt werden. Anprall auf Überbauten wird nachfolgend nicht behandelt, ist aber in [1] und [2] behandelt. 2. Schiffsanprall als außergewöhnliche Einwirkung 2.1 Theoretischer Hintergrund des Schiffsanpralls Die Modellierung von außergewöhnlichen Einwirkungen durch ungünstige deterministische Werte wurde kaum genutzt, da bei der Größe der Kräfte immer auch Aspekte des Risikos und der Wirtschaftlichkeit berücksichtigt werden sollten [3]. Später wurden stochastische Methoden für die Behandlung von Schiffskollisionen auf deutschen Binnenwasserstraßen entwickelt [4], [5]. Die Anprallbelastung bzw. Anprallenergie unterliegt streuenden natürlichen und verkehrsbedingten Einflüssen, weshalb die Auswirkungen durch Verteilungen beschrieben werden. Für die Behandlung des Schiffsanpralls wurde ein probabilistisches Belastungsmodell mit einem probabilistischen Kollisionsmodell verknüpft, um eine Verteilung der wahrscheinlichen Anpralllasten zu erhalten, mit der der Bemessungswert unter Verwendung von genormten oder akzeptablen Risikokriterien bestimmt wird. 2.1.1 Lastmodell Umfassende Studien zur Last-Verformung für Binnenschiffe wurden durch physikalische, analytische und numerische Untersuchungen durchgeführt [6], [7]. Der Unterbau einer Brücke, d. h. die Brückenpfeiler, können durch einen Frontalstoß „FF“, meist parallel zur Pfeilerlängsachse und parallel zur Fahrtrichtung der Schiffe, und durch einen Flanken Stoß „FL“, meist senkrecht 280 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Schiffsanprall auf Brücken - für Planung, Bauzeit und Bestand zur Pfeilerlängsachse und senkrecht zur Fahrtrichtung der Schiffe, getroffen werden. Für beide Aufprallszenarien wurde eine bi-lineare elastisch-plastische Last-Verformungs-Funktion ermittelt, die die Verformung des Schiffes beim Aufprall auf eine starre Struktur beschreibt (harter Stoß). Die Lastgrößen beruhen im Allgemeinen auf einer Deformationsenergie E def . Zur Ermittlung der dynamischen Lasten für Frontal- und Flankenstoß sowie des Last-Zeit- Verlaufs wird die Impulsgleichung verwendet, wobei kinetische Energie, Reibungsenergie und Verformungsenergie getrennt behandelt werden. Die dynamische Stoßbelastung F dyn in MN kann für ein E def ≤ 0,21 MNm (elastischer Stoß) durch: [1] und für E def > 0,21 MNm (plastischer Stoß) durch: [2] bestimmt werden. E def ist dabei die entsprechende Verformungsenergie für Frontalund/ oder Flankenstoß in MNm. Für die Verwendung in dynamischen Berechnungen wurden charakteristische Last-Zeit-Verlaufsfunktionen des kollidierenden Schiffes entwickelt. Die durch die BAW entwickelte Vorgehensweise war europäisch in [1] übernommen worden. 2.1.2 Kollisionsmodell Die Wahrscheinlichkeit einer Kollision auf Brückenpfeiler wird durch ein Kollisionsmodell bestimmt, das die Geometrie der Wasserstraße und der getroffenen Struktur, die Fahrrinne sowie das Unfallverhalten und das Bremsvermögen der Schiffe berücksichtigt. Ein spezifisches Kollisionsmodell für Wasserstraßen ist in Abbildung-1 dargestellt und wird mathematisch beschrieben durch: l = ΣN i * ò (dlx/ ds) * W 1 (s) * W 2 (s) ds [3] mit: l die Kollisionsrate pro Jahr ΣN i die jährliche Anzahl der passierenden Schiffe, ggf. nach Klassen unterteilt (dlx/ ds) die streckenbezogene Unfallrate W 1 (s) = F φ ( φ 1 ) - F φ ( φ 2 ), die bedingte Wahrscheinlichkeit eines Kollisionswegs, W 2 (s) = 1 - F x (s), die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass die Kollision nicht vermieden werden kann. Die streckenbezogene Unfallrate wird aus Aufzeichnungen statistisch ausgewertet, wobei z. B. nur Kollisionen, die für Brückenunfälle relevant sind, berücksichtigt werden. Die Vermeidung einer Kollision hängt wesentlich vom Stoppverhalten der Schiffe ab, das aufgrund von Zulassungstests in Abhängigkeit von der Antriebsleistung und der technischen Ausrüstung ermittelt werden kann. Abb 1: Kollisionsmodell für Wasserstraßen 2.1.3 Verknüpfung von Last- und Kollisionsmodell Da Unfälle generell einer POISSON-Verteilung unterliegen, die auch als zutreffend für Schiffsunfälle nachgewiesen wurde [8], und die Zeitintervalle zwischen Unfällen negativ - exponentiell - verteilt sind, gilt [4] [5] Die Wahrscheinlichkeit der Stoßbelastung während eines Zeitintervalls wird durch die Verteilungsfunktion der Zeitintervalle zwischen den Ereignissen beschrieben. Mit F P (F) als der Verteilungsfunktion der Anprallbelastung ergibt sich [6] [7] wobei [8] die Wiederkehrperiode einer speziellen Stoßbelastung ist, [11]. Die Umformung in eine dimensionslose Form liefert [9] und ermöglicht eine einseitige dimensionslose Funktion, Abbildung 2. Abbildung 2 zeigt beispielhaft die Funktion für den Frontalstoß für ein untersuchtes Bauwerk in einer Wasserstraße der Klasse Vb, wie z. B in Main oder Mosel. 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 281 Schiffsanprall auf Brücken - für Planung, Bauzeit und Bestand Abb. 2: Stoßlastverteilungsfunktionen für den Frontalstoß „FF dyn “ in [MN] in Abhängigkeit von l* t R Nach der Bestimmung der objektspezifischen Kollisionsrate l und der Festlegung der Wiederkehrperiode zwischen den unerwünschten Versagensereignissen t R wird die dynamische Anprallbelastung über l* t R für die Bemessung oder Bewertung ermittelt. 2.1.4 Normative Regelung für die Planung Eine Vielzahl von untersuchten Brücken an deutschen Binnenwasserstraßen, für die von der Bundesanstalt für Wasserbau probabilistische Anpralllasten ermittelt wurden, führte zur generalisierten Analyse der daraus resultierenden Daten. Die europäische Klassifizierung der Binnenwasserstraßen nach CEMT-Klassen bot eine pragmatische Möglichkeit, typische Anpralllasten aus verschiedenen Untersuchungen an Wasserstraßen zusammenzufassen. Für jede relevante Wasserstraßenklasse wurden Stoßlasten ermittelt, Tabelle 1. Hierbei wurde auf eine für außergewöhnliche Einwirkungen einschlägig etablierte mittlere Wiederkehrperiode zwischen den unerwünschten Ereignissen t R = 10.000 Jahren zurückgegriffen, die einer Überschreitungs-Wahrscheinlichkeit p ü -=-10 -4 pro Jahr entspricht und im Nationalen Anhang zu DIN EN 1991-1-7 als Bestimmungs-Wahrscheinlichkeit angegeben ist [1]. Dieser Überschreitungs-Wert lässt sich im Übrigen auch mittels „Direct Value Method“ aus dem Sicherheitskonzept für CC-2-Bauwerke nach [9] ermitteln. Die Überschreitungs-Wahrscheinlichkeit der Stoß-Einwirkung als außergewöhnliche Einwirkung liegt näherungsweise in der Größenordnung der Versagens- Wahrscheinlichkeit des gestoßenen Bauwerks. Durch Sicherheiten auf der Widerstandsseite ist das Bauwerk jedoch sicherer, als hat eine Versagens-Wahrscheinlichkeit p f -<-10 -4 / a. Tab. 1: Entwicklung von dynamischen Stoßkräften, hier Frontalstoß, für typische Verhältnisse in Binnenwasser-straßen Mit ingenieurmäßigen Ergänzungen für die unteren Wasserstraßenklassen wurden die in Tabelle 1 dargestellten Untersuchungen und Werte europäisch in [1] übernommen, dort Tabelle C.3, Tabelle 2. Die normativen Kraftgrößen wurden dabei in der Regel auf der sicheren Seite gegenüber Tabelle 1 aufgerundet. Tab. 2: Schiffstoßkräfte für Binnenschiffsverkehr, gemäß [1] Die ermittelten Stoßkräfte wurden seinerzeit mit zum Teil auch lokal geltenden Regelungen in europäischen Nachbarländern mit Binnenschifffahrt plausibilisiert. 3. Schiffsstoß für bestehende Brücken 3.1 Sicherheitskonzept der Eurocodes Grundlage der Eurocodes für die Bemessung von Bauwerken und Bauteilen ist ein bauart-übergreifendes Sicherheitskonzept nach [9]. Hintergrund des Sicherheitskonzeptes ist ein lebensdauerorientiertes Sicherheitskonzept, bei dem die Sicherheit von Bauwerken oder Bauteilen durch eine angestrebte Zuverlässigkeit β über die Bemessungslebensdauer T N gewährleistet werden muss, [10] und Abbildung 3. Die Sicherheit wird durch die Unsicherheiten der verwendeten Modelle (d. h. Modell für die Einwirkungsermittlung, für das statische System, für den Widerstand) und der streuenden Basisgrößen für Einwirkungen und Widerstände als zeitinvariante Einflüsse beschrieben, Abbildung 3. 282 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Schiffsanprall auf Brücken - für Planung, Bauzeit und Bestand Abb. 3: Lebensdauerorientierte Zuverlässigkeit, aus [10] [9] gibt Empfehlungen für die übliche Zielzuverlässigkeit β und die geplante Nutzungsdauer T N von Infrastrukturbauwerken, wie Brücken, an. Die geplante Nutzungsdauer für brücken liegt bei T N = 100 Jahren, Wird die Überschreitungs-Wahrscheinlichkeit für die Stoß-Einwirkung in den spezifischen Regelwerken [1] mit p ü = 10 -4 pro Jahr als angenäherte Versagens-Wahrscheinlichkeit interpretiert und mit der geplanten Nutzungsdauer T N = 100 Jahre zuverlässigkeits-theoretisch kombiniert, so ergibt sich nach [11] für Brücken die Gesamt-Versagenswahrscheinlichkeit P f = 0,01 während der geplanten Nutzungsdauer. 3.2 Restnutzungsdauerkonzept Unter Berücksichtigung des Zuverlässigkeitskonzeptes von [9] und [10] kann gefolgert werden, dass für die Bewertung eines bestehenden Bauwerks die verbleibende Zeit vom Bewertungszeitpunkt bis zum Ende der Nutzungsdauer betrachtet werden muss. Sofern zum Bewertungszeitpunkt in der vergangenen Betriebsdauer kein Versagen aufgetreten ist, die Brücke hinsichtlich Schiffsanprall unauffällig war, kann die geforderte Zuverlässigkeit für die verbleibende Nutzungsdauer unter Berücksichtigung der Streuungen der relevanten Einwirkungen angesetzt werden. Diese Zuverlässigkeit entspricht in etwa der für ein neues Bauwerk für die geplante Nutzungsdauer T N = 100 Jahre, die jetzt für weniger Jahre angesetzt wird. Die Methode entspricht dem Instandhaltungskonzept, dass Bauwerke innerhalb der Nutzungsdauer bis zum Zustand einer Grenz- oder kritischen Zuverlässigkeit (Ende der Nutzungsdauer) altern dürfen, ohne dass sie wesentlich instandgesetzt werden müssen. In Konsequenz des Zuverlässigkeitskonzeptes nach [9] und [10] muss dies zu niedrigeren charakteristischen Werten für zeitinvariante Einwirkungen, d. h. veränderliche und außergewöhnliche Einwirkungen führen. Im Falle eines Versagens in der verbleibenden Nutzungsdauer würde die ursprünglich angestrebte Zuverlässigkeit nicht verletzt werden. Das Ergebnis wäre auch im Falle eines Versagens sozial angemessen. 3.3 Schiffseinwirkung bei bestehenden Brücken während ihrer Restnutzungsdauer Einschlägige Regelwerke zur Berücksichtigung von Schiffsstößen als außergewöhnliche Einwirkungen für Neubauten und grundlegenden Instandsetzungen sind [1] und sein Nationaler Anhang. Im Nationalen Anhang werden ergänzende Betrachtungen für bestehende Bauwerke empfohlen, wenn die grundlegenden Methoden und Ziele der Grund-Norm erfüllt sind. Daher hat die Bundesanstalt für Wasserbau ein hierzu konsistentes Verfahren für Schiffsanprall auf bestehende Brücken entwickelt, das als Merkblatt [2] 2013 herausgegeben wurde und vom seinerzeitigen Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Abteilung Wasserstraßen und Schifffahrt, als technische Regel für die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung (WSV) eingeführt wurde, [11]. Soweit bekannt, orientieren sich auch die Fach-Öffentlichkeit außerhalb der WSV an [2]. Bei der Übertragung der Zuverlässigkeit für Schiffsanprall vom Planungsstatus in den Bewertungsstatus wird der mathematische Zusammenhang für begrenzte oder außergewöhnliche Ereignisse verwendet, für die typische POISSONund/ oder BINOMIAL-Verteilungen bekannt und erprobt sind. Die Gesamt-Versagenswahrscheinlichkeit P f aus dem stochastischen Risiko führt zu [10] mit T NR als Restnutzungsdauer und t R als Wiederkehrperiode zwischen den (unerwünschten) Ereignissen, die reziprok zur Überschreitungswahrscheinlichkeit p ü ist, [4]. Die Umrechnung ergibt [11] und ermöglicht die Bestimmung von Wiederkehrperioden (reziprok zu Überschreitungswahrscheinlichkeiten) entsprechend einer bestimmten Restnutzungsdauer. Im Weiteren wurden die Schiffsstoßkräfte herangezogen, die bereits für die Kalibrierung der dynamischen Anpralllasten für [1] ermittelt worden waren, vgl. Tabelle 1. Abbildung 4 zeigt die typische Schiffsstoßkraftverteilung für die deutsche Wasserstraßenklasse Vb, die etwa 70 % aller deutschen Wasserstraßen abdeckt. Für diese typische Bedingung wurden von der Bundesanstalt für Wasserbau repräsentative Kollisionsraten aus verschiedenen Gutachten analysiert. Ein exponierter Brückenpfeiler für eine typische Brücke wurde mit einer mittleren numerischen Kollisionsrate l von l FF = 0,0115 [1/ a] für den Frontalstoß und l Fl = 0,00276 [1/ a] für den Flankenstoß analysiert. Mit der oben erwähnten Gesamt-Versagenswahrscheinlichkeit über die Nutzungsdauer von P f = 0,01 als stochastischem Risiko, für die zuvor Anprallkräfte für geplante Bauwerke während der geplanten Nutzungsdauer bestimmt wurden, wurden dann mit Hilfe von Gleichung [11] Anprallkräfte für bestehende Bauwerke und ihre Restnutzungsdauer ermittelt. Für verschiedene Restnutzungsdauern T RN < 100 Jahre ergeben sich angepasste, reduzierte Anprallkräfte, die in Tabelle 3 für Frontal- und Flankenstoß dargestellt sind. Die Verringerung der Wiederkehrperiode in Abhängigkeit von der verbleibenden Restnutzungsdauer führt zu 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 283 Schiffsanprall auf Brücken - für Planung, Bauzeit und Bestand einer reduzierten Anprallkraft F = f(T NR ) bei gleicher Kollisionsrate l, Abbildung 5. Abb. 4: Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Schiffsstoßkräfte für die Wasserstraßenklasse Vb, Frontalstoß (WFF) und Flankenstoß (WFL) Tab. 3: Dynamische Frontal- und Flankenstoßlasten in Abhängigkeit von der Restnutzungsdauer, [2] und [11] T NR [a] t R [a] l FF * t R [-] FF dyn [MN] [%] l FL * t R [-] FL dyn [MN] [%] 100 10.000 115 6,3 100 27,6 3,3 100 75 7.500 86 6,0 95 20,6 2,9 88 50 5.000 58 5,75 91 13,9 2,3 70 25 2.500 29 5,3 84 7,0 1,2 36 10 1.000 12 4,4 70 2,9 0,63 19 1 100 1,2 0,5 8 0,3 0,17 5 Diese Schiffsstoß-Verteilungsfunktionen verhalten sich für die verschiedenen Wasserstraßenklassen ähnlich, so dass sich auch die verbleibende Restnutzungsdauerabhängige Reduzierung der Anprallkräfte ähnlich verhält. Zur Verallgemeinerung wurden die Kräfte mit Prozentsätzen dargestellt. Aus Sicherheitsgründen wurde als untere Grenze ein Verhältnis von 40 % festgelegt, das für den Frontalstoß den Stoßkräften für eine Restnutzung von ca. 3 Jahren und für den Flankenstoß den Stoßkräften für eine Restnutzung von ca. 25 Jahre entspricht, Abbildung 5. Abb. 5: Anpassung der Schiffsstoßlasten F = f (T NR ), [2] Für die praktische Anwendung im Rahmen einer Bewertung einer bestehenden Brücke hinsichtlich des Schiffsanpralls wird die wasserstraßenklassenbezogene dynamische Stoßkraft aus [1], Tabelle 2, entnommen und mit dem verbleibenden Restnutzungsdauer-bezogenen prozentualen Anteil nach [2], hier auch Abbildung 5, verrechnet. Das Ergebnis wurde damit für die Anwendung mit tabellierten Stoßkraft-Größen verallgemeinert. Das Ergebnis sind an die Restnutzungsdauer angepasste dynamische Anprallkräfte. Für alte Brücken, bei denen die geplante Nutzungsdauer in früheren Regelwerken nicht definiert war, wird nachträglich eine ursprüngliche Nutzungsdauer von T N = 100 Jahren angenommen. Neben den an die Nutzungsdauer angepassten dynamischen Anprallkräften gibt [2] für bestehende Brücken zusätzlich Empfehlungen für den Tragfähigkeitsnachweis, für Teilsicherheitsbeiwerte, für die Ermittlung von Kennwerten für ältere Materialien und für eine Risikobewertung, z. B. über Nutzen-Kosten-Analysen, die in Abhängigkeit von einem Erfüllungsgrad durchgeführt werden kann. Hierbei lehnt sich [2] an [12] an, die hinsichtlich Straßenfahrzeug-Anprall eine plausible Methodik für die letztendliche Bewertung von Verstärkungsmaßnahmen an anprallgefährdeten Bauwerken in Abhängigkeit eines Erfüllungsfaktors enthält. Dadurch könnten einige oft teure und ineffiziente Instandsetzungen, die durch Schiffsanprallbewertungen induziert würden, zurückgestellt werden, während Sicherheitsdefizite priorisiert werden. 4. Schiffsstoß auf Baugruben oder deren Sicherung 4.1 Problemstellung Für den Bau einer neuen Brücke sind Baugruben für Brückenpfeiler oder auch Hilfsstützen erforderlich, die als Behelfskonstruktionen mitunter eine deutlich kürzere Nutzungsdauer haben als das eigentliche Brückenbauwerk. Eine Bemessung dieser Baubehelfe für eine Anpralllast wie bei einer Brücke mit langer Nutzungsdauer wäre unwirtschaftlich und in manchen Fällen auch nicht durchführbar, [13]. Die Sicherung von Baugruben oder Hilfskonstruktionen kann durchaus 5 % der Baukosten der geplanten neuen Brücke kosten. Daher ist eine entsprechende Aufmerksamkeit angeraten. Hierzu wird ein Konzept zur Bemessung von Baugruben und auch Schutzkonstruktionen gegen Schiffsanprall benötigt. Oftmals ist es nicht möglich, die eigentliche Baugrube gegen Schiffsanprall auszulegen, sondern ein vorgelagertes Schutzbauwerk muss diese Funktion übernehmen, das der gleichen Problematik unterworfen ist. Abbildung 6 zeigt ein Beispiel für eine solche Baugrube und deren Sicherung. Gezeigt wird als Beispiel eine Draufsicht mit einer gepunkteten Baugrube für einen neuen Brückenpfeiler und einer umgebenden polygonalen Schutzstruktur auf der rechten Seite. Der bestehende Brückenpfeiler der alten Brücke befindet sich auf der linken Seite. Die Baugrube befindet sich in der Fahrrinne. 284 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Schiffsanprall auf Brücken - für Planung, Bauzeit und Bestand Abb. 6: Beispiel einer Baugrube für einen Brückenpfeiler in der Fahrrinne, [13] 4.2 Konzept Schiffsstoß für Baugruben Dem Konzept für bestehende Brücken folgend kann für die kürzeren Standzeiten von Baugruben die Wiederkehrperiode standortspezifisch angepasst werden. Die Anwendung von Gl. [11] ermöglicht die Bestimmung von Wiederkehrperioden (reziprok zu jährlichen Überschreitungswahrscheinlichkeiten), die einer bestimmten bauzeiten-abhängigen Nutzungsdauer TN spec entsprechen. Aus Projekt-Erfahrung der Vergangenheit mit dem Neubau von Brücken über deutsche Wasserstraßen haben Baugruben für Brückenpfeiler oder für temporäre Hilfspfeiler oft eine Nutzungsdauer von bis zu 5 Jahren, was für eine probabilistische Behandlung sehr kurz ist. Aus Sicherheitsgründen wurde daher in den Gutachten der Bundesanstalt für Wasserbau (BAW) ein Erweiterungsfaktor von „4“ als Multiplikationsfaktor auf die vorgegebene temporäre Bauzeit TN temp verwendet. Dadurch wird mit Blick auf Gl. [11] TN spec = (4 * TN temp ). 4.3 Schutzvorrichtung für den Rückbau eines Pfeilers der ehemaligen Rheinbrücke Wesel Im Jahr 2016 wurde ein alter Brückenpfeiler der ehemaligen Straßenbrücke über den Rhein in Wesel bei Rheinkilometer 814 zurückgebaut, nachdem 2009 eine neue, parallel dazu verlaufende Brücke in der Wasserstraße errichtet worden war. Für den Rückbau des alten Pfeilers wurde eine temporäre Spundwandbaugrube mit L-x-B-=-47 × 21 m oberstrom vor Kopf des Pfeilers im Wasser errichtet, die durch ein Bauwerk geschützt werden musste, Abbildung 7, [14]. Der abzubrechende Brückenpfeiler grenzt an die Fahrrinne und wäre im Falle eines Schiffsunfalls direkt anprallgefährdet. Die Spundwandbaugrube reichte bis in eine Tiefe von 4,5 m unter das Rheinbett. Die Menschen, die in der späteren trockenen Baugrube arbeiten sollten, mussten vor einer Schiffskatastrophe mit unkontrollierbaren Wassereinbrüchen ohne Vorwarnung geschützt werden. Abb. 7: Baugrube für den Rückbau des alten Pfeilers der Rheinbrücke Wesel und Sicherungsbauwerke, eines vor Kopf und eines seitlich, [14] Das Sicherungsbauwerk vor Kopf wurde als Pfahl-Riegel-Konstruktion konzipiert, während das seitliche Sicherungsbauwerk mit Einzelpfählen errichtet wurde. Die dynamische Anpralllast von Schiffen für den Frontalaufprall wurde durch die BAW mit FF dyn = 6 MN bestimmt, was einer Aufprallenergie von E def = 3,4 MNm entspricht. Für den Flankenstoß wurden nur FL dyn =- 0,5-MN ermittelt, was einer Anprallenergie von E def = 0,02-MNm entspricht. Grundlage waren die Daten von etwa 1.000-vorbeifahrenden Schiffen pro Tag, eine Unfallrate von 1-* -0 -5 [Unfälle/ (km*Schiff)], Massen der Schiffe bis zu 15.000-Tonnen und eine mittlere Geschwindigkeit von 20-km/ h bei stromabwärts gerichteter Fahrt mit einer Standardabweichung von 2 km/ h. Die Fahrrinne hat eine Breite von etwa 150-m und die Baugrube befindet sich direkt neben der Fahrrinne. Es wurde ein TN spec mit 10 Jahren angenommen und die Wiederkehrperiode t R wurde zu t R = 1.000-Jahre bestimmt, Gleichung [11]. Der Rhein ist in diesem Abschnitt der Wasserstraßenklasse VII zugeordnet. Das Sicherungsbauwerk vor Kopf wurde mit 12 Stahlrohren mit einem Durchmesser von 1220 mm und einer Wandstärke von 36 mm realisiert [14], Abbildung- 8. Die Rohre sind jeweils 28 m lang und haben ein Einzelgewicht von 29 t. Die Riegelkonstruktion besteht aus 5 horizontalen Kastenprofilen 750 × 690 mm mit einer Wandstärke von 25 mm, Abbildung 8. Das seitliche Sicherungsbauwerk besteht aus 22 Stahlrohren mit einer Wandstärke von 12,5 mm. Sie sind 22 m lang und haben ein Einzelgewicht von 22 Tonnen. Bei der Planung und Konstruktion musste der hydrologisch stark schwankende Wasserstand des Rheins von etwa 11 Metern berücksichtigt werden. 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 285 Schiffsanprall auf Brücken - für Planung, Bauzeit und Bestand Abb. 8: Einbau der unteren Riegelschicht für die Vor- Kopf-Sicherungskonstruktion; [14] 5. Schlussfolgerung Der Schiffsstoß ist nicht nur für den Entwurf neuer Brücken oder die Nachrechnung bestehender Brücken von Bedeutung, sondern auch für die temporäre Bemessung von Brückenpfeiler-Baugruben oder Hilfsstützen in Wasserstraßen. Die probabilistisch basierte Methodik zur Ermittlung von Einwirkungen für die Planung neuer Bauwerke nach [1] und dessen Zuverlässigkeitskonzept wurde auch auf die Nachrechnung bestehender Brücken, [2], [8], dort für Restnutzungsdauern, und auch für weit kürzere bauzeit-bedingte Nutzungsdauern, wie sie für Baugruben gegeben sind, angepasst, [14]. Neben der probabi-listischen Behandlung schiffseinwirkungsrelevanter Daten, wie Schiffsmassen, Schiffsgeschwindigkeiten, Strömungsgeschwindigkeiten, Anprallwinkel, Kolli-sionsraten usw. ist die akzeptable Risikogrenze von großer Bedeutung. Die Risikogrenze in Form einer zulässigen Gesamt-Versagenswahrscheinlichkeit beim Schiffsanprall für den Entwurf neuer Brücken, die sich zu P f -=-0,01 für die geplante Nutzungsdauer errechnet, wurde auf das Problem der kürzeren (Rest-)Nutzungsdauern übertragen. Eine normative Regelung für die Bestimmung von Schiffsstoßkräften auf Baugruben bzw. deren Sicherungen ist in Arbeit. Eine Priorisierung von sicherheitsgefährdeten Tragwerken an sich, auch mit weitergehenden risikoanalytischen Methoden, ist seit langem fester Bestandteil der modernen Sicherheitsphilosophie. In einem Gesamtsystem „Bauwerksbestand“ oder auch „temporäre Bauwerke“ lässt sich so bei begrenzten Ressourcen eine optimale Entscheidung treffen und damit insgesamt zu einem Mehr an Gesamt-Sicherheit verhelfen, vgl. auch [15]. Literatur [1] DIN EN 1991-1-7 (2010): Einwirkungen auf Tragwerke - Teil 1-7: Allgemeine Einwirkungen - Außergewöhnliche Einwirkungen, einschließlich Nationalem Anhang (2019). Beuth-Verlag, Berlin. [2] Bundesanstalt für Wasserbau (2013): Merkblatt: Nachweis bestehender Brücken auf Schiffsanprall (MNaBS), Karlsruhe, 2013. [3] Krappinger, O.; Sharma, S.D. (1974): Sicherheit in der Schiffstechnik. In: Jahrbuch der Schiffbau-technischen Gesellschaft 68, 1974, p. 329-355. [4] Kunz, C. (1990): Risikoorientierte Last-Konzeption für Schiffsstoß auf Bauwerke. In: Mitteilungsblatt der Bundesanstalt für Wasserbau Nr. 67, 1990, Karlsruhe. [5] Kunz, C. (1998): Ship bridge collision in river traffic, analysis and design practice. In: Proceedings of the International Symposium on Advances in Ship Collision, Copenhagen/ Denmark, 10-13 May 1998, Balkema, Rotterdam, 1998. [6] Meier-Dörnberg K.-H. (1983): Schiffskolli-sionen, Sicherheitszonen und Lastannahmen für Bauwerke der Binnenwasserstraßen. In: VDI-Berichte Nr.-496, 1983, p. 1-9. [7] Biehl F., Kunz C., Lehmann E. (2007): Collision of Inland Waterway Vessels with Fixed Structures: Load-Deformation Relations and Full Scale Simulations. In: 4 th International Conference on Collision and Groundings of Ships. Hamburg, 2007. [8] Kunz C. (1994): Beurteilung der Sicherheit von Brücken hinsichtlich Schiffsstoß. In: Zeitschrift für Binnenschiffahrt und Wasserstraßen Nr. 6, 1994, Verlag Hansa, Hamburg. [9] DIN EN 1990 (2010): Eurocode - Grundlagen der Tragwerksplanung. Beuth-Verlag, 2010. [10] JCSS (2001): Probabilistic Model Code, Part 1 - Basis of Design. Joint Committee on Structural Safety. [11] Kunz, C. (2013): Bewertung von bestehenden Brücken hinsichtlich Schiffsanprall. In: Bautechnik 90 (2013), Heft 5, S. 280-285. [12] Bundesamt für Strassen (2005): Richtlinie „Anprall von Strassenfahrzeugen auf Bauwerksteile von Kunstbauten“, Ergänzung zur Norm SIA 261, Einwirkung auf Tragwerke, ASTRA (Schweiz), 2005. [13] Kunz, C. (2024): Ship impact loads on construction pits of bridges. In: IABSE Symposium Manchester 2024: Construction’s Role for a World in Emergency. Manchester, April 10-12, 2024. [14] Groß T., Neuhaus H. 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