eJournals Brückenkolloquium 6/1

Brückenkolloquium
kbr
2510-7895
expert verlag Tübingen
0925
2024
61

Systemidentifikation zur realitätsnahen Abbildung von Bestandsbrücken

0925
2024
Wassim Abu Abed
Olaf Jüntgen
Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die verschiedenen Ansätze der Systemidentifikation sowie die Einsatzmöglichkeiten dieser Methodik im Bereich der Erhaltungsplanung im Brückenbau. Des Weiteren wird ein neues Verfahren zur Systemidentifikation von Finite-Elemente-Tragwerksmodellen beschrieben. Das vorgestellte Verfahren setzt eine einfache und effiziente Methode der globalen Optimierung über kontinuierliche Räume ein. Die Anwendbarkeit des Verfahrens wird anhand dreier Beispiele erprobt und demonstriert. Ziel aller drei Beispiele ist die Ermittlung der im Tragwerk vorhandenen Biegesteifigkeit. Als erstes Beispiel dient ein linear elastischer Biegebalken. Bei dem zweiten Beispiel handelt es sich um eine mit Plattenelementen modellierte Straßenbrücke. Die Systemidentifikation wird in beiden Beispielen aufgrund von Verformungsdaten durchgeführt. Im dritten Beispiel wird eine dynamische Zugüberfahrt über eine Einfeldbrücke betrachtet. Ziel ist es hierbei, den Verlauf der Biegesteifigkeit aus Beschleunigungsdaten zu ermitteln.
kbr610341
6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 341 Systemidentifikation zur realitätsnahen Abbildung von Bestandsbrücken Überblick, Implementierung und Beispiele Dr.-Ing. Wassim Abu Abed InfoGraph GmbH, Aachen Dipl.-Ing. Olaf Jüntgen InfoGraph GmbH, Aachen Zusammenfassung Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die verschiedenen Ansätze der Systemidentifikation sowie die Einsatzmöglichkeiten dieser Methodik im Bereich der Erhaltungsplanung im Brückenbau. Des Weiteren wird ein neues Verfahren zur Systemidentifikation von Finite-Elemente-Tragwerksmodellen beschrieben. Das vorgestellte Verfahren setzt eine einfache und effiziente Methode der globalen Optimierung über kontinuierliche Räume ein. Die Anwendbarkeit des Verfahrens wird anhand dreier Beispiele erprobt und demonstriert. Ziel aller drei Beispiele ist die Ermittlung der im Tragwerk vorhandenen Biegesteifigkeit. Als erstes Beispiel dient ein linear elastischer Biegebalken. Bei dem zweiten Beispiel handelt es sich um eine mit Plattenelementen modellierte Straßenbrücke. Die Systemidentifikation wird in beiden Beispielen aufgrund von Verformungsdaten durchgeführt. Im dritten Beispiel wird eine dynamische Zugüberfahrt über eine Einfeldbrücke betrachtet. Ziel ist es hierbei, den Verlauf der Biegesteifigkeit aus Beschleunigungsdaten zu ermitteln. 1. Einführung Die Verfügbarkeit eines realitätsnahen Rechenmodells ist unverzichtbar für eine umfassende Methodik der Tragwerksdiagnostik von Bestandsbrücken. Im Rahmen einer periodischen oder dauerhaften Überwachung eines Bauwerks oder während der Durchführung von Belastungsversuchen werden lediglich die gemessenen Strukturantworten, z. B. Dehnungen und Verformungen erfasst. Die inneren Zustände des Tragwerks, die als Grundlage für die Beurteilung der Standsicherheit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerhaftigkeit sowie für die Planung von Erhaltungsmaßnahmen dienen, bleiben aber unbekannt. Mit Methoden der Systemidentifikation können die relevanten Parameterwerte eines Tragwerksmodells anhand von verfügbaren Messdaten so bestimmt werden, dass das Tragverhalten realitätsnah abgebildet werden kann. Erst mit dem identifizierten Tragwerksmodell können die inneren Zustände, die eine zuverlässige Beurteilung des Tragwerks erlauben, korrekt ermittelt werden. Im Folgenden wird ein Überblick über die verschiedenen Ansätze der Systemidentifikation im Bauwesen gegeben. Aus den aktuellen Regelwerken und Richtlinien werden die Einsatzmöglichkeiten postuliert. Ein neues Verfahren zum Finite Element Model Updating wird im Anschluss vorgestellt. Dieses Verfahren setzt die Shepard-Funktionen als kontinuierliche Interpolationen zur Effizienzsteigerung einer auf populationsbasierten Optimierungsmethode ein. Die Anwendbarkeit des Verfahrens wird anhand dreier Beispiele erprobt und demonstriert. Für die Verifizierung des Verfahrens werden die verwendeten Messdaten vorab im Rahmen numerischer Simulationen künstlich generiert. Ziel aller drei Beispiele ist die Ermittlung der im Tragwerk vorhandenen Biegesteifigkeit. Als erstes Beispiel dient ein linear elastischer Biegebalken von 10 m Länge. Bei dem zweiten Beispiel handelt es sich um eine mit Plattenelementen modellierte Straßenbrücke mit den Abmessungen 16,6 m Länge und 9 m Breite. Die Systemidentifikation wird in beiden Beispielen aufgrund von Verformungsdaten durchgeführt. Im dritten Beispiel wird eine dynamische Zugüberfahrt über eine Einfeldbrücke betrachtet. Die Spannweite der Brücke beträgt 32 m. Ziel ist es hierbei, den Verlauf der Biegesteifigkeit aus Beschleunigungsdaten zu ermitteln. 2. Systemidentifikation Der Begriff der Systemidentifikation wird im Allgemeinen als die mathematische Modellierung von Systemen aus experimentellen Daten definiert [1]. Ziel der Systemidentifikation ist es, das beobachtete Phänomen zu beschreiben, dabei zu erklären und zu verstehen. Einer der Vorreiter dieser Methodik ist Galileo Galilei, der seinerzeit die Natur durch die Kombination von Experimenten, Messungen und mathematischen Analysen erforschte. Im Besonderen fasst man unter Systemidentifikation eine Sammlung von mathematischen Methoden und Techniken zusammen, die sich nach der Art der gemessenen Daten und dem Modellierungsansatz unterscheiden. Im Bauwesen können die gemessenen Daten aus geplanten Belastungsversuchen am Bauwerk oder aus Messungen während der normalen Nutzung stammen. Es wird grundsätzlich zwischen Messwerten der statischen Antwort und Messwerten der dynamischen Antwort der 342 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Systemidentifikation zur realitätsnahen Abbildung von Bestandsbrücken Tragstruktur differenziert. Bei der Wahl des Modellierungsansatzes wird zwischen nicht-parametrischen und parametrischen Ansätzen unterschieden. Art und Umfang der Messungen und die Wahl des Modellierungsansatzes hängen von dem Ziel und der geforderten Genauigkeit der Systemidentifikation sowie dem gewünschten vertretbaren rechnerischen Aufwand ab [1]. Bezeichnendes Merkmal der Systemidentifikation ist die messdatenorientierte, iterative Herangehensweise. In Abb. 1 ist der Ablauf einer Systemidentifikation schematisch dargestellt. Bei jeder Iteration können Art und Umfang der gemessenen Daten und/ oder der Modellierungsansatz erweitert werden, um sich ein besseres Verständnis des untersuchten Systems zu verschaffen. Abb. 1: Ablauf der Systemidentifikation - modifiziert aus [1] Im Folgenden werden die Hauptmethoden der Systemidentifikation kurz zusammengefasst. 2.1 Methoden der Systemidentifikation Die wichtigsten Methoden nicht-parametrischer Modellierungsansätze sind die transiente Analyse, die Frequenzanalyse, die Korrelationsanalyse und die Spektralanalyse. Diese Methoden werden hauptsächlich zur Systemidentifikation aus Messungen dynamischer Antworten der Tragstruktur eingesetzt. In diesem Rahmen werden grundsätzlich entweder die theoretischen Formulierungen der Systemantwort oder die verschiedenen statistischen Ansätze angewandt. Diese Methoden sind einfache Werkzeuge, die eine grobe Abschätzung des Systemverhaltens liefern können. Nicht-parametrische Modellierungsansätze können eine Kurve oder Funktion sein, wie z. B. Impuls-Antwort- und Frequenzdiagramme. Ein parametrischer Modellierungsansatz ist ein mathematisches Modell mit einer Menge von Parametern, von denen die Ergebnisse dieses Modells abhängen. Bei parametrischen Modellen, die die Eingangswerte miteinbeziehen, wird von einer Input-Output-Parametrisierung gesprochen. Modelle ohne Bezug zu Eingangswerten werden als Output-only-Parametrisierung bezeichnet. Dabei wird zwischen Blackbox- und Graybox-Modellierungsansätzen unterschieden. Unter Blackbox-Ansätzen versteht man eine Gruppe von Modellen, deren Parameter keine physikalische Bedeutung besitzen. Vertreter dieser Ansätze sind in den Methoden der Zeitreihenanalyse zu finden. Polynome, die die Antwort des Systems in Form von Transfer-Funktionen abschätzen, werden durch deren Koeffizienten als Parametervektoren definiert. Bei den Methoden der Zeitreihenanalyse kommen hauptsächlich Messungen der dynamischen Antwort der Tragstruktur zum Einsatz. Graybox Ansätze sind Modelle, deren Parameter eine physikalische Interpretation besitzen. Wichtige Vertreter dieser Ansätze sind Modelle, die mit Differentialgleichungen das Verhalten der Tragstruktur abbilden. In der Regel wird die Methode der finiten Elemente zur Approximation der Lösung dieser Differentialgleichungen eingesetzt. Bei der Verwendung eines Graybox-Modellierungsansatzes kommen sowohl Messungen der statischen als auch Messung der dynamischen Antwort der Tragstruktur zum Einsatz. Bei einem parametrischen Modellierungsansatz sind die Parameter des Modells so zu bestimmen, dass die Ergebnisse des Modells und die entsprechenden gemessenen Werte bis auf minimale Abweichungen übereinstimmen. Man spricht dann von einer Prediction-Error-Funktion, die die Abweichungen zwischen den errechneten und den gemessenen Werten in Relation zum gesuchten Parametervektor aufstellt. Der Parametervektor wird als der Punkt mit dem global minimalen Wert der Prediction- Error-Funktion bestimmt. Der einfachste Vertreter dieses Vorgehens ist die Methode der kleinsten Quadrate. Die Anwendung dieser Methode ist nur sinnvoll, wenn die Prediction-Error-Funktion linear vom Parametervektor abhängt. Ist aber diese Abhängigkeit nicht linear, bedarf es einer numerische Optimierungsmethode zur Bestimmung des Punkts mit dem globalen minimalen Wert. Wird ein auf Differentialgleichungen basierendes Modell mit der entsprechenden Finite-Elemente-Approximation als parametrischer Modellierungsansatz zur Systemidentifikation eingesetzt, spricht man vom Finite Element Model Updating (Kurz: FEM-Updating). Man unterscheidet zwischen deterministischem und stochastischem Vorgehen. Beim stochastischen FEM-Updating werden im Gegensatz zum deterministischen die Unsicherheiten, die mit der Durchführung der Experimente, der Erfassung von Messdaten und der Modellierung einhergehen, quantifiziert und zusammen mit dem Parametervektor bestimmt. Ausführliche Beschreibungen der in diesem Abschnitt zusammengefassten Methoden und Techniken sind in [1], [2], [3] und [4] zu finden. 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 343 Systemidentifikation zur realitätsnahen Abbildung von Bestandsbrücken 2.2 Regelwerke und Einsatzmöglichkeiten Die Vorgehensweise der Systemidentifikation ist der Bauwerkszustandserfassung inhärent. Der Zustand eines Bauwerks wird durch regelmäßige visuelle Einzelprüfungen erfasst. Diese Art der Einzelprüfungen führt in der Regel zu qualitativen und meistens subjektiven Ergebnissen. Für eine quantitative und objektive Bauwerkszustandserfassung ist der Einsatz von Messungs- und Überwachungssystemen erforderlich. Diese können im Rahmen von experimentellen Belastungsversuchen oder durch regelmäßige oder dauerhafte Bauwerkszustandsüberwachung (engl. Structural Health Monitoring) eingesetzt werden [5][6][7][8]. Regelwerke, Leitfäden und Richtlinien, die die Erfassung und Beurteilung des Bauwerkszustands steuern, finden sich unter [9], [10], [11], [12], [13] und [14]. An deren Aktualisierung und Erweiterung wird zurzeit intensiv gearbeitet. Insbesondere wird die DIN 1076 überarbeitet, um sie hinsichtlich neuer und digitaler Prüfmethoden und -verfahren zu öffnen [15]. Des Weiteren wird in der geplanten zweiten Ausgabe der Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand u. a. die messwertgestützte Berechnung nach Stufe drei weiter spezifiziert [16][17]. Aus den oben angeführten Regelwerken können bereits drei Kategorien der Einsatzmöglichkeiten benannt werden. Diese sind: • Monitoring aus besonderem Anlass als Kompensationsmaßnahme zur Gewährleistung einer ausreichenden Stand- und Verkehrssicherheit sowie Dauerhaftigkeit. • Monitoring zur kontinuierlichen Zustands-überwachung als Ergänzung zur regulären Bauwerksprüfung. • Messdatengestützte Tragfähigkeitsnachweise. In [18], [19] und [20] sind Anwendungsfälle für den in Deutschland aktuellen sowie zukünftigen Einsatz von Monitoring dargestellt. Diese Einsatzmöglichkeiten sind wie im Folgendem nach drei Kategorien unterteilt. Häufige und verbreitete Anwendungsfälle: • Monitoring bei bekannten lokal verorteten Schäden. • Monitoring bei bekannten Defiziten aus Nachrechnung oder Konstruktion. • Monitoring zur Ermittlung von Einwirkungen. Anwendungsfälle mit ersten Einsatzbeispielen: • Monitoring zur Begleitung bedeutender Bauwerke. • Monitoring zur Unterstützung der Bauwerks-prüfung. Zukünftige Anwendungsfälle: • Monitoring im prädiktiven Lebenszyklus-management • Geburtszertifikat. 3. Ein Verfahren für das FEM-Updating Das FEM-Updating als parametrischer Modellierungsansatz zur Systemidentifikation ist im Grunde eine Optimierungsaufgabe mit einer Prediction-Error-Funktion, die durch gegeben ist. Dabei ist u die gemessene und die berechnete Antwort des Systems. x ist der anzupassende Vektor der Modellparameter. Bei einem Vektor von Parametern x aus einem bestimmten Definitionsbereich D besteht das Ziel der Optimierung in der Minimierung des Fehlers E. Dieses Ziel kann somit wie folgt formuliert werden: Bei einem FEM-Updating hängt die Prediction-Error- Funktion von dem Parametervektor meistens nicht linear ab. Für die Bestimmung des Parametervektors mit dem global minimalen Wert der Prediction-Errror-Funktion ist die Anwendung einer numerischen Optimierungsmethode notwendig. Für die Lösung des vorliegenden Minimierungsproblems wird ein evolutionärer Algorithmus, die sogenannte Differential Evolution (Kurz: DE), verwendet. Die DE ist ein einfaches und effizientes adaptives populationsbasiertes Verfahren zur globalen Optimierung über kontinuierliche Räume [21]. Populationsbasierte Optimierungsverfahren sind berechnungsintensiv. Die Laufzeit des hier verwendeten DE-Algorithmus hängt von der Anzahl der FEM-Berechnungen ab, die durchgeführt werden müssen, um den optimalen Parametervektor zu finden. Diese Zeit berechnet sich aus NUM fem = N · g, wobei N die Anzahl der Vektoren in der Population und g die Anzahl der Anpassungszyklen bis zum Erreichen des Optimums ist. Eine Verringerung entweder der Anzahl der Vektoren N oder der Anzahl der Zyklen g bzw. idealerweise beider wird die Berechnungszeit effektiv reduzieren. Bei der DE ist die Anzahl der Vektoren N proportional zur Dimension des Suchraums d, d. h. der Anzahl der im Parametervektor anzupassenden Werte. Somit ist eine Verringerung von d gleichbedeutend mit einer Verringerung von N. Eine oder mehrere Komponenten des Parametervektors entsprechen einem oder mehreren Parametern eines finiten Elementes im FEM-Modell der betreffenden Struktur. Durch eine Verringerung der Anzahl der finiten Elemente kann die Dimension des Suchraums ebenfalls reduziert werden. Dies kann jedoch nur bis zu einer bestimmten Grenze erfolgen, damit die Genauigkeit der FEM-Lösung akzeptabel bleibt. In der Regel muss immer noch eine beträchtliche Anzahl von Elementen und damit die entsprechenden Parameterwerte angepasst werden. Eine Vereinfachungsmaßnahme, die die Dimension d des Suchraums reduziert, ist die Verwendung von kontinuierlichen Interpolationsfunktionen mit wenigen Stütz- 344 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Systemidentifikation zur realitätsnahen Abbildung von Bestandsbrücken punkten. An den Stützpunkten werden die Werte der Parameter angepasst und dann für jedes finite Element interpoliert. Dadurch reduziert sich die Dimension des Suchraums. Die Shepard-Interpolationsmethode [22] bietet hierfür einfache netzfreie Interpolationsfunktionen. Diese Funktionen sind mindestens stetig und im allgemeinen Fall glatt, d. h. stetig differenzierbar. Für eine detaillierte Beschreibung und Diskussion von Shepard-Interpolationsfunktionen werden die Referenzen [22] und [23] empfohlen. 4. Beispiele In diesem Abschnitt werden drei Beispiele zur Aktualisierung des Elastizitätsmoduls auf Grundlage von künstlich erzeugten Messdatensätzen vorgestellt. In den beiden ersten Fällen wird die Anwendbarkeit des Algorithmus anhand von Verformungen überprüft. Im dritten Fall erfolgt die Überprüfung auf Grundlage von Beschleunigungen. Hierbei wird die Funktion des mittleren absoluten Fehlers verwendet: u i ist ein gemessener, ist der berechnete Wert an der gleichen Sensorposition und n ist die Anzahl der gemessenen Werte. Wie schon erläutert ist der Berechnungsaufwand des FEM-Updating-Algorithmus proportional zur Anzahl der FEM-Berechnungen NUM fem . Da der größte Teil der Berechnungszeit auf die FEM-Berechnungen fällt, wird eine lineare Zeitkomplexität von O(NUM fem ) = NUM fem angenommen. Zur Beurteilung des Berechnungsaufwands für den Algorithmus wird im Folgenden der Wert von NUM fem anstelle der absoluten Berechnungszeit verwendet. 4.1 Balken In diesem Beispiel wird ein geschädigter Einfeldbalken von 10 m Länge betrachtet. Dieser hat eine Breite von 0,4 m und eine Höhe von 1,0 m und besteht aus Beton der Festigkeitsklasse C25/ 30. Die Schädigung wird durch eine Reduktion des E-Moduls in einem Bereich von 3 m auf der linken Seite des Trägers simuliert. Dazu wurde der E-Modul schrittweise von 31.000 MN/ m 2 auf 27.000 MN/ m 2 abgemindert. Abb. 2 zeigt schematisch die Größe und Lage des geschädigten Bereiches. Abb. 2: Balken mit Schädigung und Position der Sensoren Die Aufgabe besteht nun darin, den Verlauf des E-Moduls über die Balkenlänge so zu bestimmen, dass die Differenz der aufgrund einer äußeren Beanspruchung gemessenen Verformungen und die berechneten Verformungen minimiert wird. Die ‚gemessenen‘ Verformungen werden zunächst mit Hilfe einer FEM-Berechnung (Einfeldbalken mit 10 Stabelementen) künstlich erzeugt. Wie in Abb. 3 dargestellt, werden dazu an den vier ‚Sensor-Orten‘ die Verschiebungen u z aufgrund einer Einzellast F=100 kN ermittelt. Die dort berechneten Verformungen sind in Abb. 3 aufgetragen. Abb. 3: Einzellast und ‚gemessene‘ Verformungen In den FEM-Updating-Algorithmus gehen nun lediglich das FEM System und die 4 ‚gemessenen‘ Verformungen ein. Der E-Modul und dessen Verlauf werden gesucht. Abb. 4a zeigt den Verlauf des E-Moduls über die Trägerlänge wie sie durch den Algorithmus ermittelt wurde (Suchraumdimension d = 3, Shepard-Stützpunkte {0.5,2.5,4.5}). Der Mittelwert des absoluten Fehlers beträgt E ⩽ 10 -6 . Die Zeitkomplexität ist NUM fem ≃ 15·111. Der Verlauf ist eine nahezu exakte Abbildung des gesuchten E-Modul Verlaufes. Abb. 4a: Ermittelter E-Modul mit d = 3 Abb. 4b: Ermittelter E-Modul mit d = 10 Die Auswirkung der Reduzierung der Suchraumdimension d wird durch die Anwendung desselben Algorithmus mit d = 10 und den Shepard-Stützpunkten {0.5, 1.5, 2.5, 3.5, 4.5, 5.5, 6.5, 7.5, 8.5, 9.5} demonstriert. Dies entspricht einem Parameter je finitem Element. Abb. 4b zeigt die resultierende Verteilung des Elastizitätsmoduls. Der Mittelwert des absoluten Fehlers beträgt ebenfalls E ⩽ 10 - 6 . Die Zeitkomplexität beträgt NUM fem ≃ 50·200. Die aktualisierte Verteilung ist nützlich, aber nicht exakt. Für d=10 waren die Verteilungen aus wiederholten Versuchen der Aktualisierung des E-Moduls nicht eindeutig und schwankten um die erwartete Verteilung. 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 345 Systemidentifikation zur realitätsnahen Abbildung von Bestandsbrücken Im Vergleich dazu wurde der Algorithmus mit d=3 angewandt, um bei wiederholten Aktualisierungsversuchen mit deutlich geringerem Zeitaufwand dieselbe genaue Verteilung zu finden. Hieraus lässt sich schließen, dass die Verringerung der Dimension des Suchraums die Konvergenz beschleunigt und die Zuverlässigkeit der Suche nach einer genauen Lösung in diesem Fall verbessert. Um zu zeigen, dass die Erhöhung der Anzahl der gemessenen Daten die Genauigkeit der resultierenden Verteilung des aktualisierten Parameters verbessert, wird ein zweiter Lastfall betrachtet. Hierfür wird eine bewegliche Einzellast angenommen. Die Last hat die gleiche Ordinate und Richtung wie in Abb. 3. Allerdings bewegt sich der Lastangriffspunkt über die gesamte Trägerlänge. Es werden jetzt 9 Laststellungen im Abstand von 1 m betrachtet, siehe Abb. 5a. Die künstlich erzeugten ‚gemessenen‘ Deformationen sind in Abb. 5b für jeden Sensor in Abhängigkeit von der Position der Einzellast aufgetragen. Abb. 5a: Laststellungen der Einzellast+ Abb. 5b: Verformungen Auf Grundlage dieser ‚Messdaten‘ wird der in Abb. 6b abgebildete Verlauf des E-Moduls durch den FEM- Updating-Algorithmus mit d = 10 ermittelt. Der Verlauf ist eine exakte Abbildung der ursprünglichen Ausgangssituation. Der Mittelwert des absoluten Fehlers beträgt E ⩽ 10 -6 . Die Zeitkomplexität beträgt NUM fem ≃ 50·400. Hierbei ist zu erkennen, dass die Genauigkeit im Vergleich zu dem in Abb. 4b dargestellten Fall, bei dem der Update-Algorithmus ebenfalls d = 10 für die Dimension des Suchraums betrug, der aber weniger Messdaten verwendete, deutlich zugenommen hat. Die vom Algorithmus mit d = 3 für denselben Lastfall gefundene Verteilung ist wiederum eine nahezu exakte Reproduktion der ursprünglichen Verteilung, siehe Abb. 6a. Der Mittelwert des absoluten Fehlers beträgt E ⩽ 10 - 6 . Die Zeitkomplexität beträgt NUM fem ≃ 15·100. Auch hier hat die Reduzierung der Suchraumdimension eine Beschleunigung der Konvergenz bewirkt, ohne die Zuverlässigkeit der Lösungsfindung oder deren Genauigkeit zu gefährden. Abb. 6a: Ermittelter E-Modul mit d = 3 - Bewegliche Einzellast Abb. 6b: Ermittelter E-Modul mit d = 10 - Bewegliche Einzellast 4.2 Straßenbrücke In diesem Abschnitt wird eine einfeldrige Plattenbrücke aus Beton [24] betrachtet, siehe Abb. 7. Die Fahrbahnplatte ist 14,6 m lang, 9 m breit und 0,85 m dick und ist auf vier Stützen gelagert. Sie besteht aus Beton der Festigkeitsklasse C30/ 37. Die Schädigung wird durch eine abschnittsweise Reduzierung des E-Moduls in einem Bereich von 2,84 m x 2,44 m simuliert. Die Lage des geschädigten Bereiches ist in Abb. 7 zu erkennen. Der E- Modul wird vom ursprünglichen Bemessungswert 33.000 MN/ m 2 in 2 Stufen auf 30.000 MN/ m 2 bzw. 27.000 MN/ m 2 zur Mitte hin reduziert. Bei einer Belastung und den daraus resultierenden Verschiebungen geht es hier wiederum um die Bestimmung und Verteilung des E-Moduls. Als Belastung wird ein Lastfall mit 8 Flächenlasten mit jeweils 0,4 x 0,4 m und der Ordinate q z = 375 kN/ m 2 angenommen. Die Lage und Anordnung der Lasten sind ebenfalls in Abb. 7 dargestellt. Die sechs Sensoren, die die Verformung der Brückenplatte aufnehmen, sind auch in Abb. 7 abgebildet. Das zur Berechnung der Brücke verwendete FEM-System besteht aus 792 Plattenelementen und vier gelenkigen Lagern. Abb. 7: Einfeldrige Straßenbrücke mit Schädigung, Belastung und Positionen der Sensoren 346 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 Systemidentifikation zur realitätsnahen Abbildung von Bestandsbrücken Die mit Hilfe der FEM-Analyse an den Sensoren ermittelten Verformungen sind in Tab. 1 in [mm] angegeben und werden als Messdaten für das nachfolgende FEM- Updating verwendet. Tab. 1: Deformationen in [mm] an den Sensorpositionen MS1 MS2 MS3 MS4 MS5 MS6 0.265 0.863 0.252 0.197 0.586 0.184 Die durch den Aktualisierungsalgorithmus bestimmte E- Modul-Verteilung ist in Abb. 8 dargestellt. Hierbei wurden d = 7 und die Shepard-Stützpunkte {(0.0, 0.0), (9.0, 0.0), (12.2, 0.0), (4.6, 0.0), (4.4, 3.5), (7.3, 4.5), (12.6, 4.5)} verwendet. Der Mittelwert des absoluten Fehlers beträgt E ⩽ 10 -9 . Die Zeitkomplexität beträgt NUM fem = 42·550. Der gefundene Verlauf des E-Moduls ist auch hier eine sehr gute Reproduktion der ursprünglichen Annahme. Abb. 8: Ermittelter Verlauf des E-Moduls - Straßenbrücke 4.3 Dynamische Zugüberfahrt Zur weiteren Überprüfung des hier vorgestellten Updating-Algorithmus wird nun im Rahmen einer dynamischen Strukturanalyse eine 32 m lange, einfeldrige Eisenbahnbrücke betrachtet. Die Brücke wird wieder als Einfeldbalken mit einem Rechteckquerschnitt von 4,5 m Breite und 1,5 m Höhe modelliert. Als Material wird Beton mit der Festigkeitsklasse C50/ 60 gewählt. Die fiktive Schädigung wird hier leicht ausmittig in einem Bereich von 4,8 m angenommen. Dazu wird der E-Modul wieder in 2 Schritten von 37.000 auf 27.000 MN/ m 2 reduziert. Alle Angaben sind in Abb. 9 zu erkennen. Abb. 9: Brücke mit dynamischer Zuglast (Zugüberfahrt) Auch bei diesem Beispiel geht es um die Ermittlung des E-Modul-Verlaufes über das Tragwerk. Hier jedoch aufgrund ‚gemessener‘ Beschleunigungsdaten von 3 Sensoren. Das System ist mit seinen Abmessungen, der Zuglast und den Orten der Sensoren in Abb. 9 dargestellt. Für eine vollständige Spezifikation der Zuglast siehe [25]. Die Messdaten für die 3 Sensoren werden wieder mit Hilfe einer FEM-Berechnung erzeugt. Hierbei wird die Systemantwort eines ICE 1-Zuges, der die Brücke mit 200 km/ h überquert, berechnet. Die bei der Simulation errechneten Beschleunigungen an den Orten der Sensoren werden als Messreihen aufgefasst. Für die FEM-Berechnung wird ein beidseitig gelenkig gelagerter Balken mit 20 Stabelementen betrachtet. MS1 MS2 MS3 Abb. 10: Beschleunigungen an den Sensoren MS1, MS2 und MS3 Die Zugüberfahrt wird mit Hilfe der modalen Zeitschrittberechnung des Modells durchgeführt. Das Lehr‘sche Dämpfungsmaß wird dabei mit D = 1,5 % angenommen. Die Masse aus dem Eigengewicht wird berücksichtigt. Die Beschleunigungsdaten werden mit einer Abtastfrequenz von 200 Hz aufgenommen. Abb. 10 zeigt die berechneten Beschleunigungen an allen drei Sensororten, die in das FEM-Updating eingehen. Das FEM-Updating wird mit der Dimension des Suchraums d = 3 und den Shepard-Stützpunkten {12.0, 15.2, 18.4} durchgeführt. Der Mittelwert des absoluten Fehlers beträgt E ⩽ 10 -4 bei einer Zeitkomplexität von NUM fem = 15·192. Der hiermit berechnete Verlauf des E-Moduls ist in Abb. 11 aufgetragen. Dies zeigt eine sehr gute Übereinstimmung mit dem ursprüglichen Verlauf. Abb. 11. Ermittelter Verlauf des E-Moduls - Zugüberfahrt 5. Fazit und weitere Entwicklung In diesem Beitrag wurden verschiedene Ansätze der Systemidentifikation dargestellt. Die Einsatzmöglichkeiten dieser Methodik wurden aus den aktuellen Regelwerken, Richtlinien und Publikationen festgestellt. Ein FEM-Updating-Algorithmus auf der Grundlage der Differential Evolution wurde vorgestellt. Die Ergebnisse der Überprüfung des Algorithmus wurden anhand von drei unterschiedlichen Studienfällen demonstriert. Dabei wurde gezeigt, dass die Reduzierung der Dimension des Suchraums durch die Verwendung von Shepard-Interpolationsfunktionen die Konvergenz beschleunigt und die Zuverlässigkeit bei der Suche nach einer genauen Lösung erhöht. Außerdem wurde erwartungsgemäß gezeigt, 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 347 Systemidentifikation zur realitätsnahen Abbildung von Bestandsbrücken dass im allgemeinen Fall die Erhöhung der Menge der Eingangsdaten die Genauigkeit der Lösung verbessert. Weitere Entwicklungen werden darin bestehen, zusätzliche Varianten der Methode der Differential Evolution zu implementieren und die optimale Kombination der Hyperparameter des Algorithmus selbst unter Verwendung des Konzepts des Phasenportraits [21] zu finden. Dies wird letztendlich die Leistung und damit die Zuverlässigkeit und das Konvergenzverhalten nochmals verbessern. Literatur [1] T. Söderström und P. Stoica. System Identification. Prentice Hall International (UK) Ltd, 1989. [2] L. Ljung. System Identification: Theory for the User. 2nd Ed, Prentice Hall, Inc. 1999. [3] M. Brehm. Vibration-based model updating: Reduction and quantification of uncertainties. Dissertation. Bauhaus-Universität Weimar, 2011. [4] B. Karczewski. Strukturidentifikation von Massivbrücken auf Grundlage einer Dauerüberwachung. Dissertation. Universität Duisburg-Essen, 2016. [5] C. Siegert, A. Holst, M. Empelmann und H. Budelmann. Überwachungskonzept für Bestandsbauwerke aus Beton als Kompensationsmaßnahme zur Sicherstellung von Standsicherheit und Gebrauchstauglichkeit. BASt, Heft B 118. 2015. [6] U. Freundt, R. Vogt, S. Böning, D. Michael, C. Könke und H. Beinersdorf. Einsatz von Monitoringsystemen zur Bewertung des Schädigungszustands von Brückenbauwerken. BASt, Heft B 106. 2014. [7] M. Schnellenbach-Held, B. Karczewski und O. Kühn. Intelligente Brücke - Machbarkeitsstudie für ein System zur Informationsbereitstellung und ganzheitlichen Bewertung in Echtzeit für Brückenbauwerke. BASt, Heft B 105. 2014. [8] G. Morgenthal, S. Rau, N. Hallermann, K. Schellenberg, H. Martin-Sanz, M. Schubert und O. Kübler. Potenziale von Monitoringdaten in einem Lebenszyklusmanagement für Brücken. BASt, Heft B 190. 2023. [9] DIN 1076: 1999-11: Ingenieurbauwerke im Zuge von Straßen und Wegen - Überwachung und Prüfung. Berlin: Beuth Verlag. [10] Richtlinien für die Erhaltung von Ingenieurbauten (RI-ERH-ING) - Leitfaden: Objektbezogene Schadensanalyse (OSA). Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. [11] Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand (Nachrechnungsrichtlinie), Ausgabe 05-2011, BMVBS, Berlin/ Bonn, 2011. [12] Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand (Nachrechnungsrichtlinie), 1. Ergänzung, Ausgabe 2015, BMVBS, Berlin/ Bonn, 2015. [13] Merkblatt: Brückenmonitoring. DBV, 2018. [14] Merkblatt B 09 - Dauerüberwachung von Ingenieurbauwerken. DGZfP, 2022. [15] G. Marzahn. Überarbeitung der DIN 1076 - aktueller Sachstand. Tagungsband 32. Dresdner Brückenbausymposium, Technische Universität Dresden, 2023. [16] G. Marzahn. Erhaltungsstrategie des Bundes - Übersicht zur Fortschreibung der Nachrechnungsrichtlinie. Nachrechnung bestehender Brücken - Tagungsband 2021. BASt, 2021. [17] K. Geißler, J. Kraus und G. Marzahn. Lastmodelle und Ermüdungslastmodelle für Nachrechnung von Straßenbrücken in den Stufen 3 und 4. Nachrechnung bestehender Brücken - Tagungsband 2021. BASt, 2021. [18] I. Hindersmann, M. Müller und F. Kaplan. Strategischer Einsatz von Monitoring bei Ingenieurbauwerken mit Anwendungsbeispielen. 12. SEUB, Technische Universität Dresden, 2023. [19] I. Hindersmann. Monitoring von Straßenbrücken - aktueller Einsatz und zukünftige Anwendung. Fachtagung Bauwerksdiagnose 2024. [20] F. Wedel, S. Pitters, R Herrmann, R. Schneider, F. Hille and I. Hindersmann. Guideline for the strategic application of Monitoring of road bridges in Germany. EWSHM 2024. [21] K. Price, R. Storn and J. Lampinen. Differential Evolution: A Practical Approach to Global Optimization. Springer-Verlag, 2005. [22] D. Shepard. A two-dimensional interpolation function for irregularly-spaced data. ACM ’68: Proceedings of the 1968 23rd ACM national conference, Jan. 1968, pp. 517-524. [23] P. Milbradt. Algorithmische Geometrie in der Bauinformatik, Habilitationsschrift. Institut für Bauinformatik der Universität Hannover, 2001. [24] T. Bauer and M. Müller. Straßenbrücken in Massivbauweise nach DIN-Fachbericht - Beispiele prüffähiger Standsicherheitsnachweise. Stahlbeton- und Spannbetonüberbau nach DIN-Fachbericht 101 und 102. Bauwerk Verlag, 2003. [25] Richtlinie 804 - Eisenbahnbrücken (und sonstige Ingenieurbauwerke) Planen, Bauen und Instandhalten. Deutsche Bahn, 2003.