Brückenkolloquium
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2510-7895
expert verlag Tübingen
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ANYTWIN – Identifikation wesentlicher Einflussparameter für – auf Grundlage von Auswertungen des Nachrechnungsbestandes – ausgewählte Versagensmechanismen
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Marco Maibaum
Zheng Li
Lydia Puttkamer
Infolge des schlechten Zustands zahlreicher Straßenbrücken und zunehmender Verkehrslasten in Deutschland müssen viele Bestandsbauwerke neu bewertet werden. Die Nachrechnungsrichtlinie ermöglicht ab Nachweisstufe 3 die Berücksichtigung von Messdaten. Geregelte Vorgaben für die Erhebung und Auswertung existieren allerdings bislang nicht, was zu heterogenen Vorgehensweisen bei den Nachrechnungen führt. Ein Ziel des Forschungsvorhabens ANYTWIN ist es, für fünf ausgewählte Versagensmechanismen standardisierte Mess- und Auswertekonzepte zu entwickeln. Die Auswahl der Versagensmechanismen erfolgt durch Analyse des Nachrechnungsbestands hinsichtlich aufgetretener Nachweisdefizite. Im Anschluss werden Zustandsfunktionen aufgestellt und untersucht, wie sensitiv sich die enthaltenen, messbaren Komponenten auf den Auslastungsgrad auswirken. Sensitive Parameter bilden die Grundlage für die Entwicklung der Messkonzepte. In diesem Beitrag wird die Vorgehensweise bis zur Identifikation der Parameter exemplarisch an den Versagensmechanismen Beulen und Koppelankerermüdung erläutert.
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6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 399 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für - auf Grundlage von Auswertungen des Nachrechnungsbestandes - ausgewählte Versagensmechanismen Marco Maibaum, M.-Sc. Technische Universität Berlin, Fachgebiet Entwerfen und Konstruieren - Stahlbau Dr.-Ing. Zheng Li Technische Universität Berlin, Fachgebiet Entwerfen und Konstruieren - Stahlbau Lydia Puttkamer, M.-Sc. Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach Zusammenfassung Infolge des schlechten Zustands zahlreicher Straßenbrücken und zunehmender Verkehrslasten in Deutschland müssen viele Bestandsbauwerke neu bewertet werden. Die Nachrechnungsrichtlinie ermöglicht ab Nachweisstufe 3 die Berücksichtigung von Messdaten. Geregelte Vorgaben für die Erhebung und Auswertung existieren allerdings bislang nicht, was zu heterogenen Vorgehensweisen bei den Nachrechnungen führt. Ein Ziel des Forschungsvorhabens ANYTWIN ist es, für fünf ausgewählte Versagensmechanismen standardisierte Mess- und Auswertekonzepte zu entwickeln. Die Auswahl der Versagensmechanismen erfolgt durch Analyse des Nachrechnungsbestands hinsichtlich aufgetretener Nachweisdefizite. Im Anschluss werden Zustandsfunktionen aufgestellt und untersucht, wie sensitiv sich die enthaltenen, messbaren Komponenten auf den Auslastungsgrad auswirken. Sensitive Parameter bilden die Grundlage für die Entwicklung der Messkonzepte. In diesem Beitrag wird die Vorgehensweise bis zur Identifikation der Parameter exemplarisch an den Versagensmechanismen Beulen und Koppelankerermüdung erläutert. 1. Einleitung Zahlreiche Straßenbrücken in Deutschland befinden sich in einem ungenügenden Zustand. Die Gründe dafür sind einerseits auf einen zum Zeitpunkt der Erstellung eingeschränkten Wissensstand über die Versagensmechanismen, andererseits auf die Unterschätzung von Einwirkungen zurückzuführen. Eingetretene Schäden veranlassten die Infrastrukturbetreiber zu routinemäßigen Nachrechnungen von Bestandsbrücken auf Grundlage fortgeschrittener Normen und Richtlinien. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei die Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand (NRR) [1]. Da sich insbesondere bei Bestandsbrücken unterschiedlich große Herausforderungen bei der Nachweisführung ergeben, können die Nachweise in vier verschiedenen Stufen geführt werden, wobei die Komplexität mit jeder Stufe zunimmt. Die erste Stufe sieht eine Nachweisführung nach Eurocode oder DIN-Fachbericht vor. Die zweite Stufe ergänzt die erste mit weiterführenden Regelungen aus der NRR. In der dritten Stufe können Bauwerksmessungen berücksichtigt und in der vierten wissenschaftliche Methoden angewendet werden. Im Rahmen des Forschungsprojekts ANYT- WIN wird an die Stufe 3 der NRR angeknüpft. Das Forschungsvorhaben begann im September 2023 und wird für 3 Jahre vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) gefördert. Wesentliche Aufgabe ist es, die messwertgestützte Nachweisführung zu standardisieren und weiterzuentwickeln. Für fünf ausgewählte Versagensmechanismen werden dafür Messkonzepte und Vorgehensweisen für eine automatisierte Datenauswertung im digitalen Zwilling entwickelt. Die entwickelten Konzepte werden u.-a. durch Versuche am geplanten open- LAB validiert. Mit diesem ganzheitlichen Ansatz soll die Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit von Bauwerken erhöht und somit ein Beitrag zum nachhaltigen Infrastrukturmanagement geleistet werden. Um einen Überblick über den aktuellen Stand der Verbreitung messwertgestützter Nachweisführung zu erhalten, führte die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) eine Umfrage durch. Befragt wurden Mitarbeitende von Infrastrukturbetreibern, die sich mit der Nachrechnung von Brückenbauwerken befassen. Im Ergebnis haben mehr als die Hälfte der Befragten (52,5-%) noch keine Erfahrungen mit messwertgestützter Nachrechnung sammeln können. Von den Befragten, die äußerten, bereits Erfahrungen gesammelt zu haben, gaben ca. 65-% an, dass sie durch regelmäßige bzw. dauerhafte Messungen als Kompensation vorhandener rechnerischer Defizite die weitere Nutzungsdauer von Bauwerken gewährleisten konnten. Weitere 23,5-% gaben an, dass die Nachweise der Nachrechnung unter Berücksichtigung von Bauwerksmessungen erbracht werden konnten und somit die Lebensdauer der Bauwerke verlängert werden konnte, vgl. Abb. 1. Der Bedarf an einer Optimierung der Nachweisformate auf Anwenderseite zeigte sich im Rahmen der Umfrage beispielsweise am Versagensmechanismus Koppelanker- 400 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen ermüdung: Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sie das Potential zur Verbesserung des Nachweisergebnisses durch zusätzliche messwertgestützte Informationen als erheblich einschätzen. Da den Versagensarten völlig unterschiedliche Mechanismen zugrunde liegen, müssen die Messkonzepte auf den jeweiligen Versagensmechanismus zugeschnitten sein. Vor diesem Hintergrund erfolgt im Rahmen von ANYT- WIN zunächst die Identifikation der Versagensmechanismen, die besonders häufig zu rechnerischen Defiziten in der Nachrechnung führen. Im Anschluss werden die Zustandsfunktionen aufgestellt und diese auf ihre messbaren, sensitiven Parameter untersucht. Insbesondere für die Parameter mit den höchsten Sensitivitäten ist eine genauere messtechnische Erfassung sinnvoll, da ihre Variation verhältnismäßig große Auswirkungen auf das Ergebnis der Zustandsfunktion hat. Im Rahmen dieses Beitrags werden die Versagensmechanismen Plattenbeulen als Tragfähigkeitsnachweis im Stahlbau und Koppelankerermüdung als Ermüdungsnachweis im Spannbetonbau in den Fokus genommen. Abb. 1: Umfrageergebnis zur verlängerten Lebensdauer bei messwertgestützter Nachrechnung 2. Auswertung des Nachrechnungsbestands Das Ziel der Auswertung des Nachrechnungsbestands ist es, Versagensmechanismen hinsichtlich der Häufigkeit der aufgetretenen rechnerischen Defizite auszuwählen und zu analysieren. Damit soll die Relevanz der gewählten Versagensmechanismen verdeutlicht und die Ursachen der Defizite ermittelt werden. Die fünf im Rahmen des Forschungsvorhabens ANYTWIN gewählten Versagensmechanismen (Koppelankerermüdung, Spannungsrisskorrosion, Querkraftversagen, Plattenbeulen, Stahlermüdung), führen in der Praxis häufig zu rechnerischen Defiziten ([2], [3]) und haben eine hohe Relevanz für Bauwerke im Bundesfernstraßennetz. Nach Einführung der NRR im Jahr 2011 wurden zunächst priorisierte Bauwerke nachgerechnet. Priorisierungskriterien waren das Bauwerksalter, die Zustandsnote sowie bei Spannbetonbrücken eine Mehrfeldrigkeit und das Vorliegen von spannungsrisskorrosionsgefährdetem Spannstahl. Die Ergebnisse der ersten Nachrechnungen wurden im Auftrag der BASt in Forschungsprojekten systematisch ausgewertet. Der Großteil der festgestellten Defizite von Stahl- und Stahlverbundbrücken ist demnach bei Nachweisen im Grenzzustand der Tragfähigkeit und der Ermüdung aufgetreten [2]. Erste Nachrechnungen von älteren Spannbetonbrücken führten in vielen Fällen in Stufe 2 der Nachrechnung zu erheblichen rechnerischen Defiziten beim Querkraft- und Torsionstragfähigkeitsnachweis sowie beim Ermüdungsnachweis im Bereich von Koppelfugen [3]. Insbesondere die Nachweise für Betonbrücken wurden durch die Einführung der ersten Ergänzung der NRR im Jahr 2015 [4] grundlegend angepasst. Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen von ANYTWIN eine erneute Auswertung des Nachrechnungsbestands durchgeführt. 2.1 Methodisches Vorgehen Für die Auswahl der Versagensmechanismen wurden zunächst die Forschungsberichte [2] und [3] im Hinblick auf die Überschreitungshäufigkeit der Nachweise ausgewertet und im Anschluss mögliche Gründe für die Entstehung von Defiziten herausgearbeitet. Dabei wurde die Historie der Regelwerke im Zusammenhang mit den statistischen Auswertungen der Nachrechnungen betrachtet. Ergänzend dazu wurde im Dezember 2023 eine Umfrage unter Mitarbeitenden der Straßeninfrastrukturbetreiber, die sich mit der Nachrechnung von Brückenbauwerken beschäftigen, durchgeführt. Die Umfrage wurde entwickelt, um u.-a. die aktuellen Erfahrungen mit den geltenden Regelwerken hinsichtlich der Defizithäufigkeit zu ermitteln und die Ergebnisse der Forschungsberichte mit aktuellen Erfahrungen vergleichen zu können. Einzelne Fragen konnten von den 54 Teilnehmenden übersprungen werden. Darüber hinaus wurden bei den Infrastrukturbetreibern Nachrechnungsunterlagen für seit 2016 durchgeführte Nachrechnungen von Stahl-, Stahlverbund- und Spannbetonbrücken der Bundesfernstraßen angefragt. Insbesondere Nachrechnungen mit den bereits herausgearbeiteten häufigsten Defiziten wurden gesammelt. Insgesamt konnten Nachrechnungen von 300 Teilbauwerken aus Beton und 30 Teilbauwerken aus Stahl- und Stahlverbund statistisch ausgewertet werden. 2.2 Auswahl der Versagensmechanismen Plattenbeulen In der systematischen Auswertung der ersten durchgeführten Nachrechnungen von Stahl- und Stahlverbundbrücken nach Forschungsbericht [2] lag bei 4 von 5 untersuchten Teilbauwerken ein rechnerisches Defizit in Stufe 2 der NRR beim Nachweis des Gurtbeulens in Brückenlängsrichtung vor. Auch der Nachweis des Stegbeulens wurde bei 11 von 17 untersuchten Teilbauwerken nicht erfüllt. In Querrichtung der Teilbauwerke führte der Beulnachweis nur selten zu Defiziten. Neben den Normal- und Vergleichsspannungsnachweisen in den Hauptträgern sowie dem Nachweis des Biegeknickens und Biegedrillknickens ist das Beulen von Stegen und Gurten in Brückenlängsrichtung der Versagensmechanismus, der am häufigsten zu rechnerischen Defiziten führt. Das Baujahr, das statische System sowie die Querschnittsform sind nach [2] entscheidend für die Defizitwahrscheinlichkeit. Für Stahlbrücken mit Einfeld- und Durchlaufträgern sowie geschlossenen und offenen Querschnitten sind vor dem Baujahr 1976 Defizite bei den Beulnachwei- 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 401 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen sen für das Stegblech wahrscheinlich. Dagegen sind Defizite bei der Beulsicherheit des Bodenblechs - außer bei Durchlaufträgern mit geschlossenen Querschnitten vor dem Baujahr 1976 - weniger wahrscheinlich. Bei Stahlverbundbrücken weisen alle geschlossenen Querschnitte, die vor 1976 errichtet wurden, in beiden Beulnachweisen eine hohe Wahrscheinlichkeit für Defizite auf. Ab dem Baujahr 1984 (Stahlverbundbrücken) bzw. 1980 (Stahlbrücken) sinkt die Defizitwahrscheinlichkeit, wobei die höchste Wahrscheinlichkeit bei einem Baujahr vor 1976 erreicht wurde. Der Zusammenhang zwischen Baujahr und Defizit kann auf die Regelwerksanpassungen sowie die damals verwendeten Bauarten zurückgeführt werden. Abb. 2: Umfrageergebnis zur Häufigkeit rechnerischer Defizite bei Beulnachweisen In der durchgeführten Umfrage gaben über 50-% an, dass der Beulnachweis bei Stahlbrücken häufig bzw. häufig und mit großen Defiziten nicht erfüllt ist. Für die Stahlverbundbrücken gaben 2/ 3 der Befragten an, dass der Beulnachweis häufig bzw. häufig und mit großen Defiziten nicht erfüllt ist, siehe Abb. 2. Unter den seit 2016 durchgeführten Nachrechnungen lagen in Brückenquerrichtung zu 9 Teilbauwerken Ergebnisse zum Beulnachweis vor. Von den drei Stahlbrücken wies ein Teilbauwerk ein großes Defizit auf (70-% Überschreitung); bei zwei Teilbauwerken wurde der Nachweis noch knapp erbracht (100-% Ausnutzung). Jeweils eins der sechs Stahlverbundteilbauwerke wies kein Defizit, ein Defizit mit einer Überschreitung kleiner als 10-% und ein Defizit mit einer Überschreitung bis 20-% auf. Bei drei Teilbauwerken wurde eine Überschreitung von über 20-% festgestellt. Sowohl bei den Stahl- (Baujahre 1967 und 1974) als auch bei den Stahlverbundteilbauwerken (Baujahr 1986) haben die jeweils jüngsten Teilbauwerke kein rechnerisches Defizit. Sofern Angaben in den vorhandenen Daten gemacht wurden, wurden Beuldefizite an den Stegblechen oder in Rahmenecken festgestellt. Es konnte kein Zusammenhang mit der Querschnittsform festgestellt werden, was auch auf die geringe Datenmenge zurückzuführen sein kann. In Brückenlängsrichtung lagen für 20 Stahlverbundbrücken und 7 Stahlbrücken Ergebnisse zum Beulnachweis vor. Von den Stahlverbundbrücken wiesen lediglich zwei Teilbauwerke kein, zwei Teilbauwerke ein geringes (Überschreitung < 20-%) und 16 Teilbauwerke ein Defizit mit mehr als 20-% Überschreitung auf. Die Teilbauwerke aus Stahlverbund ohne oder mit geringem Defizit wurden alle nach dem Jahr 1971 gebaut. Unter den Teilbauwerken mit großem Defizit befanden sich jedoch auch Bauwerke späterer Baujahre. Bei zwei Teilbauwerken der untersuchten Stahlbrücken konnte der Beulnachweis erbracht werden, bei einem weiteren Teilbauwerk wurde die Tragfähigkeit um weniger als 20-% und bei vier Teilbauwerken um mehr als 20-% überschritten. Ein Zusammenhang mit dem Baujahr der Stahlbrücken konnte an dieser Stelle nicht festgestellt werden, was auf die geringe Anzahl der verfügbaren Nachrechnungen zurückzuführen sein kann. Bei gemeinsamer Betrachtung der Stahl- und Stahlverbundbrücken, wurde der Beulnachweis häufig deutlich überschritten, siehe Abb. 3. Zu 17 Teilbauwerken waren Angaben zum Ort des Beuldefizits verfügbar. In 12 Fällen war das Stegblech betroffen, in 4 Fällen das Steg- und Gurtblech und in nur einem Fall hatte lediglich der Gurt ein Defizit vorzuweisen. Zudem ließ sich in den Daten die leichte Tendenz erkennen, dass Hohlkastenbrücken eine geringere Defizithöhe aufweisen als offene Querschnitte. Die hohe Defizitwahrscheinlichkeit bzw. die große Defizithöhe im Nachweis des Beulens konnte durch alle drei Methoden (vergangene Auswertungen, Umfrage, aktuelle Auswertungen) bestätigt werden. Der Einfluss des Baujahres auf ein zu erwartendes Defizit konnte bei den statistischen Auswertungen ebenfalls validiert werden. In Brückenquerrichtung waren rechnerische Defizite durch Beulen seltener als in Brückenlängsrichtung und die Stegbleche wiesen häufiger ein Defizit auf als die Gurtbleche. Abb. 3: Anzahl der Teilbauwerke (Stahl- und Stahlverbund) mit Überschreitungen des Beulnachweises in Brückenlängsrichtung Koppelankerermüdung Im Zuge der Auswertung nach [3] wurden 126 Nachrechnungen von Spannbetonbrücken ausgewertet. In der Untersuchung wiesen 43-% der Bauwerke mit Koppelfuge ein rechnerisches Defizit der Ermüdung an den Koppelfugen auf. Damit führt der Ermüdungsnachweis von Koppelfugen am zweithäufigsten (nach dem Nachweis der Querkraft- und Torsionstragfähigkeit) zu rechnerischen Defiziten. Bei rund 88- % der Bauwerke mit Koppelfugendefizit wurde die Ermüdungstragfähigkeit 402 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen um über 50-% überschritten. Alle untersuchten Bauwerke mit einem Defizit wurden vor dem Jahr 1978 gebaut. Dies ist darauf zurückzuführen, dass nach einem Schadensfall an der Hochbrücke Prinzenallee im Jahr 1976 die Regelwerke angepasst wurden und schon im Bau befindliche Bauwerke aufgrund schneller Übergangsregelungen (Mindestlängsbewehrung, linearer Temperaturgradient) angepasst wurden. Der Zusammenhang zwischen Baujahr und Schäden bzw. Schädigungspotential konnte bereits in weiteren Forschungsvorhaben festgestellt werden, siehe z. B. [5] und [6]. Ein signifikanter Zusammenhang mit der Querschnittsform des Überbaus konnte in [3] nicht festgestellt werden. Demnach wiesen 43-% der Hohlkastenquerschnitte und 40-% der Plattenbalkenquerschnitte ein rechnerisches Ermüdungsdefizit auf. In [5] dagegen wurde der tatsächliche Schaden am Bauwerk untersucht. Hohlkastenquerschnitte wiesen deutlich größere und breitere Risse in den Koppelfugen auf als Plattenbalkenüberbauten. Das Herstellungsverfahren hat nach [3] keinen Einfluss auf die Defizithäufigkeit. Nach [5] konnte eine vermehrte Schadensbildung bei Bauwerken, die mit Vorschubrüstung hergestellt wurden, feststellt werden. Bei der durchgeführten Umfrage gaben 45-% der Befragten an, dass der Nachweis der Ermüdung an Koppelfugen infolge Biegebeanspruchung häufig bzw. häufig und mit großen Defiziten nicht erfüllt ist. Ein weiteres Drittel schätzte die Häufigkeit der Defizite als gelegentlich ein. Die im Rahmen von ANYTWIN ausgewerteten Nachrechnungen wurden unter Berücksichtigung der ersten Ergänzung der NRR erstellt. Der Nachweis der Koppelfugenermüdung wurde bei 63 Teilbauwerken geführt, von den 33 Teilbauwerke Defizite aufwiesen. Bei 37-% der Nachrechnungen mit Koppelfugendefizit lag die Überschreitung des Ermüdungswiderstandes bei über 50-%, siehe Abb. 4. Die Teilbauwerke mit Koppelfugendefizit wurden alle vor 1979 errichtet. Bei Bauwerken mit späterem Baujahr wurde kein Defizit festgestellt. Der Anteil der Nachrechnungen mit und ohne Defizit war bei den Bauverfahren „auf Traggerüst hergestellt“ und „Abschnittsweise längsverschoben“ sowie „sonstige Bauverfahren“ ähnlich hoch (55-62-% mit Defizit). Lediglich bei Bauwerken, die im Freivorbau hergestellt wurden, lagen keine Defizite vor. In den vorliegenden Nachrechnungen waren jedoch nur drei Teilbauwerke mit diesem Herstellverfahren vorhanden, daher ist dieses Ergebnis vorsichtig zu bewerten. Insgesamt wiesen 64-% der Plattenbalkenbrücken bzw. Trägerrostbrücken und 50-% der Hohlkastenbrücken ein Defizit auf. Deutlicher wurde der Einfluss der Bauwerksart, wenn nur die Baujahre 1960-1974 betrachtet wurden. In diesen Baujahren wiesen die Plattenbalkenbzw. Trägerrostbrücken 20-% häufiger ein Defizit auf als Hohlkastenbrücken, siehe Abb. 5. Von anderen Bauwerksarten war die Anzahl der vorliegenden Nachrechnungen für eine Bewertung zu gering. Abb. 4: Anteil der Teilbauwerke mit Überschreitung des Ermüdungswiderstandes an Koppelfugen Abb. 5: Häufigkeit der rechnerischen Ermüdungsdefizite in den Koppelfugen für Teilbauwerke mit den Baujahren 1960-1974 nach Bauwerksart In den beiden statistischen Analysen konnte ein Zusammenhang zwischen Baujahr und Defizithäufigkeit festgestellt werden. Ab den Baujahren 1978/ 1979 kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass die Bauwerke in den Koppelfugen nicht ermüdungsgefährdet sind. Die Baujahre sind somit der wichtigste Einflussfaktor auf die Defizitwahrscheinlichkeit. Ein Zusammenhang mit der Bauwerksart oder dem Herstellverfahren konnte nicht eindeutig hergestellt werden. Die Nachweisformate für Ermüdung sind mit Bekanntgabe der ersten Ergänzung der NRR nur geringfügig modifiziert worden. Die Ergebnisse der Analysen der Nachrechnungen ab 2015 bestätigen im Allgemeinen die Ergebnisse der Auswertungen erster Nachrechnungen in [3]. 3. Identifikation wesentlicher Einflussparameter für die ausgewählten Versagensmechanismen Tragwerke werden in der Regel durch Zustandsfunktionen bewertet. Diese werden auf Grundlage mechanischer Zusammenhänge im Grenzzustand der Tragfähigkeit, im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit oder für die Ermüdung aufgestellt. Die Zustandsgleichungen beinhalten Einwirkungs- und Widerstandsbzw. Beanspruchungs- und Beanspruchbarkeitskomponenten. Ihr konkreter Aufbau ist vom betrachteten Mechanismus abhängig und für die Neubemessung - sowohl für den Hochals auch für den Brückenbau - in den derzeit gültigen Eurocodes fest- 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 403 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen geschrieben. Zustandsfunktionen für die Bewertung von Straßenbrücken im Bestand sind in der NRR enthalten. Sie entsprechen (z.-T. in modifizierter Form) in der Regel denen der Eurocodes (EC) oder der DIN-Fachberichte. 3.1 Theoretische Grundlagen Plattenbeulen Bestehende Stahlbrücken weisen häufig Beulprobleme auf, da die damaligen Stabilitätsnachweise nicht das heute geforderte Sicherheitsniveau erreichen und die Zunahme der Verkehrslasten unterschätzt wurde. Das wichtigste Merkmal des Plattenbeulens, das es vom Stabknicken und Schalenbeulen unterscheidet, ist das überkritische Tragverhalten (siehe Abb. 6). Im Jahre 1932 schlug von Kármán [7] auf der Grundlage experimenteller Erkenntnisse eine halbempirische Methode zur Lösung dieses Problems in der Praxis vor, die später von Winter [8] verbessert wurde. Dieses Verfahren hat sich für praktische Anwendungen als geeignet erwiesen. Im Wesentlichen kombiniert der Ansatz die aus der linearelastischen Theorie erhaltenen kritischen Spannungen mit Abminderungsfaktoren, die durch phänomenologische Annahmen des Modellkonzepts und experimentelle Daten bestimmt werden, und stellt somit eine halbempirische Theorie dar. Für die Bemessung z.-B. nach Eurocode (EC)-315 [9] wird auf diesen Ansatz zurückgegriffen und die über die Plattenbreite ungleichmäßige Spannungsverteilung im Nachbeulbereich auf zwei Arten vereinfacht: a) Methode der reduzierten Spannungen: Bei dieser Bemessungsmethode wird eine gegenüber der Streckgrenze abgeminderte Grenzspannung über die gesamte Breite des Beulfeldes zugelassen; b) Methode der wirksamen Breiten: Bei diesem Bemessungsverfahren wird davon ausgegangen, dass die Spannung im Bereich der steiferen Plattenränder über eine wirksame Breite verteilt ist, wobei die Streckgrenze erreicht werden darf. Generell werden mit der Methode der effektiven Breiten unter Biegebeanspruchungen höhere Tragfähigkeiten erreicht, da Effekte der Spannungsumlagerung berücksichtigt werden. Sie darf im Brückenbau allerdings nur im Einzelfall angewendet werden. Beide Verfahren berücksichtigen den Einfluss der Vorverformung - allerdings nicht direkt, sondern über empirische Ansätze - und das überkritische Tragverhalten über den Abminderungsfaktor. Der Tragfähigkeitsnachweis für Bestandsbrücken aus Stahl und Stahlverbund erfolgt in Stufe 1 nach DIN-Fachbericht 103 und in Stufe 2 unter Berücksichtigung zusätzlicher Regelungen der NRR. In einer höheren Nachweisstufe darf bei Überschreitung der Toleranzanforderungen nach ZTV-ING, Teil 4 [10] in Abstimmung mit der Straßenbauverwaltung der Nachweis nach EC-315, Anhang C geführt werden. Der Nachweis erfolgt mittels Finite- Elemente-Methode (FEM), wobei die tatsächlich vorliegenden geometrischen Imperfektionen mithilfe von Messungen erfasst werden. Eine bei toleranzüberschreitender Verformung gegenüber der FE-Berechnung vorgelagerte Vorgehensweise wird im Obmann-Schreiben vom März 2023 [11] vorgestellt. Im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens können längsausgesteifte Beulfelder durch Modifizierung der Abminderungsfaktoren nach EC-315 nachgewiesen werden. Alternativ wird auch im Obmann- Schreiben auf EC-315, Anhang C verwiesen. Abb. 6: Darstellung des Tragverhaltens beim Stabilitätsproblem Plattenbeulen Zur Lösung nichtlinearer Zusammenhänge wird die FEM als ein leistungsfähiges Werkzeug verwendet. Das Grundprinzip besteht darin, eine lineare Analyse in sehr kleinen Inkrementen durchzuführen, um die nichtlinearen Zusammenhänge näherungsweise zu erfassen. Seit Ende der 80er Jahre wird die geometrisch-materiell-nichtlineare Analyse unter Berücksichtigung von Imperfektionen (GMNIA) verwendet, die Ergebnisse liefert, die sehr gut mit experimentellen Daten übereinstimmen. Durch kontinuierliche iterative Berechnung wird sich dem realen Ergebnis schrittweise angenähert, wodurch die Beziehung zwischen der Verformung aus der Ebene und dem Spannungszustand genau erfasst werden kann. Um bewerten zu können, welche Parameter (Beulfeldabmessungen, Spannungsverhältnisse, Steifenanor-dnung, Streckgrenze) sich sensitiv auf den Beulnachweis auswirken, sodass eine Messung am Bauwerk einen sinnvollen Mehrwert darstellt, wird im Rahmen der Sensitivitätsanalyse auf die GMNIA zurückgegriffen. Koppelankerermüdung Die Ermüdungsprobleme an Koppelankern von Spannbetonbrücken, die vor 1980 erbaut wurden, resultieren einerseits aus dem Einbau von zu wenig schlaffer Bewehrung, andererseits aus der Nichtberücksichtigung des Temperaturgradienten bei der Bemessung [12]. Aus der Vernachlässigung des Temperaturgradienten resultiert eine Unterschätzung des Grundmomentes. Infolgedessen kann der Querschnitt ggf. unplanmäßig bereits unter Gebrauchslasten in den gerissenen Zustand übergehen. Insbesondere bei geringem Bewehrungsgrad nimmt die Spannstahlspannung in diesem Fall überproportional zu, was sich signifikant auf die Ermüdungsbeanspruchung auswirkt. Der Einfluss unterschiedlicher Grundmomente auf die Spannungsschwingbreite des Spannstahls ist in Abb. 7 dargestellt. 404 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen Abb. 7: Zusammenhang zwischen einwirkendem Moment und Spannstahlspannung [13] Die Ermüdungsnachweise werden nach Eurocode, DIN- Fachbericht und NRR entweder auf Grundlage einer schadensäquivalenten Schwingbreite oder der linearen Schadensakkumulation nach Palmgren-Miner geführt. Für eine messwertgestützte Nachweisführung bietet sich die lineare Schadensakkumulation an, da die messbaren Parameter (Schwerverkehrs- und Temperaturzusammensetzung) in der Zustandsfunktion (Gl. 3) nach NRR direkt enthalten sind. Die Fahrzeugtypen basieren auf dem Ermüdungslastmodell 4 (ELM-4) nach EC 1-2 [14]. Die aufgestellte Zustandsfunktion wird um die Berücksichtigung des Tagesverlaufs von Schwerverkehrsaufkommen und Temperaturbeanspruchung entsprechend (Gl. 4) erweitert und basiert damit auf einem Ansatz nach Zilch [15]. Schwerverkehrszusammensetzung, Jahresaufkommen des Schwerverkehrs (SV) sowie Tagesverlauf von Schwerverkehrsaufkommen und Temperaturgradient haben einen direkten Einfluss auf die Zustandsfunktion. Die aufsummierten Teilschäden D i ergeben sich hingegen nach (Gl. 2) aus der Spannungsschwingbreite des Spannstahls. Die Größe der Schwingbreite ist von System- und Querschnittsabmessungen, der genauen Lage der Koppelfuge, Setzungen, Vorspannkraft, Temperaturgradient und Fahrzeugtyp abhängig. Zusätzlich beeinflussen auf Querschnittsebene der Bewehrungsgrad und der Hebelarm der inneren Kräfte die Spannstahlspannungen, weshalb auch der Vertikalversatz des Spannankers berücksichtigt werden muss. Die über die Schwingbreite in die Zustandsfunktion eingehenden Komponenten werden im Folgenden als indirekte Parameter bezeichnet. g(x)=D grenz - D ges [1] [2] [3] D grenz Grenzschadenssumme (= 1) N Anzahl der Fahrzeuge im Nutzungszeitraum l ∆T Auftretenswahrscheinlichkeit des Temperaturgradienten ∆T p i Anteil des Fahrzeugtyps i D ∆T,i Teilschaden des Fahrzeugtyps i bei gleichzeitigem Temperaturgradienten ∆T [4] l V,h Anteil des Schwerverkehrs während der Stunde h am gesamten Tagesaufkommen l ∆T,h Auftretenswahrscheinlichkeit des Temperaturgradienten ∆T zur Tagesstunde h 3.2 Sensitivitätsanalyse Für die Entwicklung standardisierter Messkonzepte werden als Vorarbeit mithilfe der Durchführung von Sensitivitätsanalysen die Parameter identifiziert, die sich sensitiv auf die Zustandsfunktion auswirken. Nur Parameter mit großem Einfluss auf die Zustandsfunktion können (bei großer Streubreite) auch sensitiv auf diese reagieren. Für Parameter mit geringer Sensitivität genügt es, sich auf näherungsweise Ansätze (z.-B. normative Angaben) zu beschränken. Für die Durchführung einer Sensitivitätsanalyse sind die in der Zustandsfunktion enthaltenen Parameter innerhalb realistischer Grenzen zu variieren. Die beiden zu analysierenden Versagensmechanismen weisen grundsätzliche Unterschiede auf. Beim Plattenbeulen wird ein Nachweis im Grenzzustand der Tragfähigkeit geführt. Die maximale Beanspruchung muss kleiner als die Grenztragfähigkeit bleiben, um den Nachweis zu erfüllen. Im Falle eines Ermüdungsnachweises mittels linearer Schadensakkumulation spiegelt die Zustandsfunktion hingegen einen kumulativen Schädigungsprozess wider. Hierbei akkumuliert sich der durch wiederholt aufgebrachte Lasten entstehende Schaden. Der Schadenssumme wird eine Grenzschadenssumme gegenübergestellt, die nach den im Bauingenieurwesen gültigen normativen Vorgaben bei 1,0 liegt. Vorgehensweise In der aktuellen Forschung der Bauingenieurwissenschaften wurden Abhängigkeiten zwischen Output- und Inputmodellen durch den Einsatz von Sensitivitätsanalysen untersucht [16]. Dabei wurde die globale Sensitivitätsanalyse (GSA) entwickelt, welche dazu beiträgt, den Einfluss von Inputparametern auf den Output bei komplexen Modellen zu identifizieren. Mithilfe der GSA können die sensitiven Parameter identifiziert und mittels Sobol-Index quantitativ bewertet werden. In der Regel ist es erforderlich, die nachweisrelevanten Beanspruchungen über ein FE-Modell zu bestimmen. Je nach Komplexität sind für die Durchführung einer FE-Simulation Rechenzeiten erforderlich, die bei mehreren Tausend Berechnungsdurchläufen zu viel Zeit in Anspruch nehmen, als dass eine effiziente GSA möglich wäre. Infolgedessen wird mittels Machine-Lear- 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 405 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen ning-Methoden aus dem physikalischen FE-Modell ein numerisches Ersatzmodell (Metamodell) abgeleitet, mit dem die GSA erheblich beschleunigt wird. Dafür werden auf Grundlage von FE-Modellen ausreichende Mengen an Trainingsdaten generiert. Das anschließende Training des Ersatzmodells mit den aus der FE-Berechnung gewonnenen Daten zielt darauf ab, das Verhalten des ursprünglichen, komplexeren Berechnungsmodells zu approximieren, was zu einer Reduzierung von Rechenressourcen und -zeit führt. Abb. 8: Schema für die Durchführung einer GSA in Verbindung mit einem Ersatzmodell Diese grundsätzliche Vorgehensweise (siehe Abb. 8) wird für alle im Rahmen des ANYTWIN-Projekts zu untersuchenden Versagensmechanismen angewendet. Die Besonderheiten der einzelnen Versagensmechanismen werden im Folgenden erläutert. Plattenbeulen Im Rahmen der GSA wurden Beulfelder mit und ohne Steifen untersucht und mit unterschiedlichen Längs-, Quer und Schubspannungen beansprucht. Zunächst wurde die FEM zur Modellierung verwendet und ca. 5000- Trainingsdatensätze erzeugt. Das Ersatzmodell wurde im Anschluss mit den Datensätzen trainiert. Beim Vergleich mit den 1000 Testdaten lagen die Abweichungen bei maximal 10-%. Abb. 9: Vergleich der Abminderungsfaktoren mittels Methode der reduzierten Spannungen und FEM Die Trainingsdaten wurden mit Ergebnissen verglichen, die sich bei einer Berechnung mit der Methode der reduzierten Spannungen ergaben. In Szenario 1 lieferten beide Verfahren ähnliche Ergebnisse, was die Gültigkeit der Methode der reduzierten Spannungen bestätigt, siehe Abb. 9. Bei Szenario 2 mit Längssteifen zeigten sich jedoch deutliche Unterschiede, deren Ursachen momentan noch analysiert werden. Die Heatmap in Abb. 10 zeigt die Ergebnisse einer GSA für Szenario 2. Da die Ergebnisse für Szenario 1 ähnlich ausfallen, wird auf ihre Darstellung verzichtet. Die Farbintensität stellt die Größe des Sobol-Index dar; höhere Werte bedeuten, dass der Abminderungsfaktor für das Plattenbeulen sensitiv auf den Parameter reagiert. Die vier Diagramme veranschaulichen die Sensitivität der Parameter Vorverformung, Längszu Querspannungsverhältnis, Verhältnis von Schubspannung zu Normalspannung und Längsspannungsverhältnis. Auf der Abszisse ist jeweils der Schlankheitsgrad und auf der Ordinate das Seitenverhältnis des Beulfeldes aufgetragen. Die Analyse zeigt, dass bei einem Schlankheitsgrad unter ca. 1,5 der Abminderungsfaktor sehr sensitiv auf die Vorverformung reagiert. Bei höherem Schlankheitsgrad ist hingegen das Längszu Querspannungsverhältnis entscheidend. Andere Parameter wie das Schub- und Normalspannungsverhältnis sowie die Stahlgüte führen zu keiner sensitiven Reaktion des Abminderungsfaktors. Abb. 10: Ergebnis der GSA für Szenario 2 Koppelankerermüdung Die GSA erfolgte am Beispiel eines symmetrischen Zweifeldträgers mit konstantem Plattenbalkenquerschnitt (siehe Abb. 11). Für die Durchführung wurden die in Gleichung (Gl. 4) enthaltenen direkten und indirekten Parameter entsprechend Tab. 1 variiert. Die direkten Parameter wurden an [15] angelehnt, wobei die dort für jede Tagesstunde enthaltenen Auftretenshäufigkeiten des Temperaturgradienten für Plattenbalken durch eine Weibullverteilung und das über den Tag verteilte Schwerverkehrsaufkommen durch eine Normalverteilung beschrieben werden konnten. Für die Bestimmung der Schwingbreite wurde erneut auf ein Ersatzmodell zurückgegriffen. Die Trainingsdaten wurden aus einem Volumenmodell abgeleitet, da 406 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen die Schwingbreite auf Querschnittsebene neben dem Bewehrungsgrad vom Hebelarm der inneren Kräfte, der im Wesentlichen aus der mitwirkenden Breite resultiert, abhängig ist. Die üblichen Handrechnungsformeln zur Bestimmung der mitwirkenden Breite gelten allerdings nur für gleichmäßig verteilte Einwirkungen und sind insbesondere im Bereich der Momentennulldurchgänge, an denen in der Regel die Koppelfugen angeordnet werden, wenig aussagekräftig [17]. Für eine präzise Berechnung der Schwingbreite wurde aus diesem Grund das FE-Modell mit Volumenelementen und unter Berücksichtigung des CDP-Modells (Concrete Damage Plasticity) generiert, wobei die Betonzugfestigkeit in der Koppelfuge aufgrund des Bauablaufs auf eine vernachlässigbare Größe reduziert wurde. Die Vorspannkraft wird über den Dekompressionsnachweis nach heutigen Standards gesteuert. Dabei blieben die aus dem linearen Temperaturgradienten resultierenden Beanspruchungen - analog zu Bemessungen vor 1980 [12] - unberücksichtigt. Die ungünstigsten Laststellungen für die Fahrzeuge des ELM- 4 wurden näherungsweise in einem vorgelagerten Berechnungsschritt mithilfe der an einem Stabmodell ermittelten Einflusslinie bestimmt. Mithilfe dieses Ansatzes wurden für verschiedene Spannweiten und Querschnittsabmessungen für die fünf Fahrzeugtypen unter Berücksichtigung variabler Temperaturgradienten und Setzungen die Schwingbreiten der Spannstahlspannung am FE-Modell bestimmt und diese als Trainingsdaten für das Ersatzmodell genutzt. Zur Einschränkung des Umfangs der GSA wurden von den indirekten Parametern lediglich die Spannweite, der Vertikalversatz der Spannglieder in der Koppelfuge und die Setzung variiert. Die Aussagekraft der GSA ist somit zunächst auf diese konkreten Randbedingungen beschränkt. Abb. 11: Querschnitt des für die GSA verwendeten Zweifeldträgers Tab. 1: Parametereinschränkung als Grundlage für die GSA Parameter min. max. Parameter mit direktem Einfluss Temperaturgradient ΔT [K] -4 10 Zufallszahl für den Temperaturfaktor [-] 0,5 1,5 Zufallszahl für den Formparameter der Weibullverteilung von ΔT [-] 0,5 3 Zufallszahl für die Auftretenshäufigkeit je SV-Typ (Summe = 1) [-] 0 1 Tagesgang des SV Mittelwert (Normalverteilung) [h] 10 18 Tagesgang des SV Standardabweichung (Normalverteilung) [h] 2 8 Vorfaktor f für jährliches SV-Aufkommen (f · 5 · 10 5 ) [-] 0,8 1,2 Parameter mit indirektem Einfluss Spannweite [m] 15 45 L/ H-Verhältnis [-] 20 Lage der Koppelfuge [-] 0,18 · L Abstand zwischen Koppelanker und Schwerachse [mm] H/ 9 H/ 5 Setzung [mm] 0 10 Vorfaktor für die Vorspannkraft [-] 0,8 Auch für die Koppelankerermüdung wurde das Ersatzmodell mit 5000 Datensätzen des FE-Modells trainiert, von denen 1000 zur Überprüfung verwendet wurden. Es ergaben sich Abweichungen von bis zu 30-%, was im Vergleich zum Versagensmechanismus Beulen auf eine eingeschränkte Genauigkeit hindeutet. Begründen lässt sich dies mit der Wahl der Inputparameter, die in der Trainings- und Testphase größtenteils zu kleinen Schwingbreiten führten, was darauf hindeutet, dass die Rissschnittgröße in den meisten Fällen nicht überschritten wurde. Somit wurde das Ersatzmodell bereichsweise mit weniger Datensätzen trainiert. Des Weiteren können die Ungenauigkeiten aus der höheren Nichtlinearität resultieren, die sich aus dem inhomogenen Materialverhalten von Beton bei Beanspruchungen auf Druck und auf Zug sowie der Verwendung verschiedener Materialien (Beton, Betonstahl, Spannstahl) ergeben. Es ist davon auszugehen, dass die Genauigkeit des Ersatzmodells durch Steigerung des Trainingsdatenumfangs (insbesondere im Zustand II) deutlich erhöht werden kann. Trotz der Abweichungen wurde das Ersatzmodell für die Durchführung der GSA verwendet, da relevante Sensitivitäten auch bei einer bereichsweisen Ungenauigkeit erkennbar sind. 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 407 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen Abb. 12: Ergebnis der GSA für direkte und indirekte Parameter der Zustandsfunktion (Gl. 4) Die Auswertung wurde erneut mittels Heatmap durchgeführt (siehe Abb. 12). In allen Diagrammen ist auf der Abszisse die Spannweite und auf der Ordinate der Vertikalversatz des Spanngliedes aufgetragen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass in Hinblick auf Gleichung (Gl.-4) weder die Spannweite noch der Vertikalversatz des Spanngliedes die Sensitivität der betrachteten Parameter beeinflussen, da die Farbgebung der Diagramme nahezu konstant ist. Der normierte Sobol-Index liegt parameterübergreifend zwischen 8,5-% und 31,2-%. Aus diesem Grund existieren - im Gegensatz zum Versagensmechanismus Beulen - keine geometrischen Randbedingungen, bei der nur ein Parameter dominiert. Die Zustandsfunktion reagiert mit im Mittel 30-% besonders sensitiv auf die Verteilung des linearen Temperaturgradienten. In ähnlicher Größenordnung befindet sich mit 29-% der Sobol Index für die Verteilung des Schwerverkehrsaufkommens über den Tag. Es folgen die Parameter Setzung (ca. 19-%), Schwerverkehrszusammensetzung (ca. 13-%) und das jährliche Schwerverkehrsaufkommen (ca. 9,5-%). In selbiger Reihenfolge ist nach aktuellem Kenntnisstand die Priorisierung der messtechnischen Erfassung sinnvoll. 4. Zusammenfassung und Ausblick Die Auswertung von Nachrechnungen hat ergeben, dass die Versagensmechanismen Koppelfugenermüdung von Spannbetonbrücken sowie Plattenbeulen von Stahl- und Stahlverbundbrücken häufig zu rechnerischen Defiziten in der Nachrechnung führen. In ANYTWIN wird das Potential der Verbesserung des Nachweisergebnisses durch zusätzliche messwertgestützte Informationen genutzt und es werden Handlungsempfehlungen für die messwertgestützten Nachweise entwickelt. Die Versagensmechanismen werden mithilfe von Zustandsfunktionen beschrieben, deren Parameter sich in Abhängigkeit gegebener Randbedingungen unterschiedlich sensitiv auf die Funktionen auswirken. Für eine effiziente Messkonzeptgestaltung sollten insbesondere die sensitiven Parameter messtechnisch erfasst werden. Beim Beulen deuten erste Untersuchungsergebnisse sowohl für längs ausgesteifte als auch nicht ausgesteifte Platten darauf hin, dass sich die Vorverformung und das Längszu Querspannungsverhältnis insbesondere in Abhängigkeit vom Schlankheitsgrad sensitiv auf die Zustandsfunktion auswirken. Bei geringeren Schlankheitsgraden dominiert die Vorverformung und bei größeren Schlankheitsgraden das Spannungsverhältnis. Die GSA für den Versagensmechanismus Spannstahlermüdung im Bereich der Koppelfugen wurde anhand eines ungevouteten, symmetrischen Zweifeldträgers mit Plattenbalkenquerschnitt durchgeführt. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass Spannweite und Vertikalversatz des Spannglieds keinen nennenswerten Einfluss auf die Sensitivität der Parameter haben. Die Zustandsfunktion reagiert am sensitivsten auf die Verteilung des linearen Temperaturgradienten. Allerdings liegt die Sensitivität aller Parameter zwischen 10-% und 30-%, ohne dass sich in Abhängigkeit geometrischer Randbedingungen vergleichbare Dominanzen wie beim Versagensmechanismus Beulen ergeben. Die Untersuchungen sind noch nicht abschließend. Beim Versagensmechanismus Beulen werden weitere Analysen für das quersteifenübergreifende Gesamtfeldbeulen und bei der Koppelfugenermüdung eine Verallgemeinerung der Sensitivitätsanalyse angestrebt. Insbesondere sollte der Faktor für die Vorspannkraft reduziert werden, um bewerten zu können, inwieweit mehr Ergebnisse im Zustand II die GSA beeinflussen. Danksagung Dieser Artikel präsentiert Ergebnisse des Forschungsprojekts ANYTWIN (Entwicklung und Standardisierung von Methoden zur messdatengestützten Tragsicherheitsbewertung von Straßenbrücken und die Integration in digitale Zwillinge), gefördert durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr im Rahmen des mFUND-Förderprogramms (Förderkennzeichen: 19F2248A-F).- 408 6. Brückenkolloquium 2024 - Oktober 2024 ANYTWIN - Identifikation wesentlicher Einflussparameter für ausgewählte Versagensmechanismen Literatur [1] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand (Nachrechnungsrichtlinie). 2011. [2] W. Neumann und A. Brauer, Nachrechnung von Stahl- und Verbundbrücken: Systematische Datenauswertung nachgerechneter Bauwerke, Bd. B 144. in Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen - Brücken- und Ingenieurbau, vol. B 144. Bremen: Fachverlag NW in der Carl Schünemann Verlag GmbH, 2018. [3] O. Fischer, T. Lechner, M. Wild, A. Müller, und K. Kessner, Nachrechnung von Betonbrücken - systematische Datenauswertung nachgerechneter Bauwerke, Bd. B 124. in Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen - Brücken- und Ingenieurbau, vol. B 124. Bremen: Fachverlag NW in der Carl Schünemann Verlag GmbH, 2016. [4] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand, 1. Ergänzung (Nachrechnungsrichtlinie, 1. Ergänzung). 2015. [5] G. König, R. Maurer, und T. Zichner, Spannbeton-- Bewährung im Brückenbau. Analyse von Bauwerksdaten, Schäden und Erhaltungskosten. Frankfurt: Springer-Verlag, 1986. [6] M. Schnellenbach-Held, M. Peeters, und G. 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