Kolloquium Erhaltung von Bauwerken
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expert Verlag Tübingen
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Weiterbauen - im ländlichen Raum
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Christian Kaiser
Ein Grossteil des Baubestandes ist 40 Jahre alt oder älter und befindet sich im ländlichen Raum. Häufig werden diese bestehenden Gebäude entweder durch unpassende Materialwahl überformt und in ihrer Gestaltung beeinträchtigt oder durch unpassende Neubauten ersetzt. Dabei wäre die sanfte Weiterentwicklung der Bestandsbauten bei gleichzeitiger Modernisierung ein deutlich nachhaltigere Beitrag für klimagerechtes und ressourcenschonendes Bauen.
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7. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Juli 2021 283 Weiterbauen - im ländlichen Raum Dipl.-Ing. Christian Kaiser Zusammenfassung Ein Grossteil des Baubestandes ist 40 Jahre alt oder älter und befindet sich im ländlichen Raum. Häufig werden diese bestehenden Gebäude entweder durch unpassende Materialwahl überformt und in ihrer Gestaltung beeinträchtigt oder durch unpassende Neubauten ersetzt. Dabei wäre die sanfte Weiterentwicklung der Bestandsbauten bei gleichzeitiger Modernisierung ein deutlich nachhaltigere Beitrag für klimagerechtes und ressourcenschonendes Bauen. Die Gesellschaft ist sich einig, dass beim heutigen Bauen stets auch Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt werden müssen. Nur, welche Aspekte sind besonders wichtig und welche sind verzichtbar? Während die einen auf höchstmögliche Energieeinsparung setzen, ist für andere der Verzicht auf Materialien und Energieträger aus fossilen Rohstoffen prioritär. Während Nachhaltigkeitskriterien bei Neubauten oft mühsam umgesetzt werden, bieten Bestandsbauten vielfältige Möglichkeiten, wie ressourcenschonendes und klimagerechtes Bauen umgesetzt werden können. 1. Regionale Baukultur Gerade im ländlichen Raum dominiert eine lokale Baukultur, die heutige Nachhaltigkeitsaspekte auf selbstverständliche Weise berücksichtigt: Es dominieren vor Ort verfügbare Materialien, die geringe Grauenergiebilanzen aufweisen, wie z.B. Massivhölzer, Lehm, Kalk und gebrannte Ziegel. Der ökologische Baustoff Holz findet Anwendung in Konstruktion, Fassade und Innenausbau, während flankierende Baustoffe wie Lehm und Kalk für eine mängelfreie Langlebigkeit sorgen. Gleichzeitig wurden regionale Handwerkstechniken eingesetzt, die zur Herausbildung eigenständiger lokal verwurzelter Bautechnologien führten und die Wertschöpfung in der Region behielten. In Grösse, Ausrichtung und Konstruktion sind Bestandsgebäude vorbildlich in die kleinklimatische Umgebungssituation eingebunden. Vor allem aber im Hinblick auf einen möglichst nachhaltigen Lebenszyklus mit hoher Umbaufähigkeit sind Altbauten häufig im Vorteil. Im Gegensatz hierzu lassen konventionelle Neubauten diese regionale Verwurzelung oder auch nur die Einbindung in bestehende Strukturen vermissen, da diese aus ortsungebundenen industriell hergestellten Baustoffen unter dem Primat von Kosteneinsparung und schnellen Bauzeiten erstellt werden. In Funktion und Ausführung sind Neubauten nur auf die konkrete Bauaufgabe ausgerichtet und bieten nur geringe Optionen für eine spätere Umbaufähigkeit. Ein kurzer Lebenszyklus mit gleichzeitig hohem Müllaufkommen (beim Abbruch) ist damit Teil der Planungsgrundlage. 2. Hohes Umbaupotential im Bestand Dabei liegt ein grosses Potential gerade im Umbau und der Umnutzung von Bestandsbauten im ländlichen Raum. Leer stehende Scheunen, still gelegte Werksgebäude und Gaststätten, aber auch vielfach überdimensionierte Nutzgebäude in attraktiver Lage können mit geringem Aufwand für neue Nutzungen umgestaltet und auf ein technisch zeitgemässes Niveau gebracht werden. Dabei sollte jedoch darauf geachtet werden, dass die Eigen- und Besonderheiten des Bestandes nicht verloren gehen, sondern gestärkt werden. Immerhin prägen diese Gebäude das Erscheinungsbild der Ortschaften und gebauten Landschaften. Auch in der Materialisierung zerstören moderne und unpassende Baustoffe die bestehende Struktur. Daher empfehlen sich sensible Konzepte eines Umbaus mit gleichartigen Materialien - eben ein Konzept des „Weiterbauens“. So können bestehende Konstruktionen aus Holzblockbauweisen oder Fachwerk weitergeführt und mit natürlichen Materialien für moderne Gestaltung und zeitgemässen Komfort ertüchtigt werden. 3. Lerning from the past Am Beispiel einer durch Jahrhunderte geprägten Baukultur mit eigenständigen konstruktiven Techniken und streng ressourcenoptimierter Bau- und Handwerkskunst lässt sich ablesen, wie die Verbindung der vielfältigen Nachhaltigkeitsaspekte nicht nur gelingen kann, sondern auch zu einer identitätsstiftenden und verbindenden Klammer für unsere Siedlungen und Landschaften wird. Regionale Baukultur wird somit zum vorbildhaften Gegenentwurf zu einer beliebig gewordenen Planungskultur, die ohne Berücksichtigung und Kenntnis der kleinräumlichen und klimatischen Situation den immergleichen seriellen Bautypus an jedem beliebigen Ort dieser Welt planen und bauen kann. 284 7. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Juli 2021 Weiterbauen - im ländlichen Raum Zudem zeigt sich an alten Häusern, dass der Verzicht auf synthetische Materialien, Kunst- und Giftstoffe, sowie auf starren Beton zu einem sehr dauerhaften Bautypus führt, der noch dazu mit einem sehr guten Raumklima führt. Weiterhin bestechen die mit natürlichen Materialien umgebauten Altbauten mit einer hohen sinnlichen und hatischen Qualität der Innenräume und Oberflächen, die zu einer eigenen Identität der Gebäude führen. Gerade auch bei heutigen Umbauten alter Gebäude sollte daher nicht mit neuen ortsfremden Materialien eingegriffen werden, sondern die bestehende Konstruktion weitergeführt und für heutige Bedürfnisse verbessert werden. So können Altbauten auf nachhaltige Weise „weitergebaut“ werden. Dies erlaubt auch ergänzende An- und Umbauten, sowie ergänzende Neubauten. Gerade in Zeiten eines zunehmenden gesellschaftlichen Orientierungs- und Identitätsverlustes ist dies ein wichtiges Anliegen, um nicht den ererbten Schatz an Bauten, Ortsbildern und handwerklicher Kunst gegen eine austauschbare Baukultur der verputzten Dämmfassade zu verlieren.
