eJournals Kolloquium Erhaltung von Bauwerken 8/1

Kolloquium Erhaltung von Bauwerken
kevb
expert Verlag Tübingen
21
2023
81

Stadt- und Stützmauern interdisziplinär analysieren und bewerten

21
2023
Gabriele Patitz
Stadt- und Stützmauern aus Natursteinmauerwerk prägen das Bild unserer Städte und Gemeinden. Bedingt durch deren meistens sehr lange Nutzungs- und Lebensdauer sind die Konstruktion und Baumaterialien mehr oder weniger starken Veränderungen unterworfen. Fehlender oder falscher Mörtel, Risse, Ausbauchungen und Verschiebungen, zerstörte Steine oder Teileinstürze, starker Bewuchs oder Wurzelreste gehören zu den üblichen Zustands- und Schadenbildern. Im öffentlichen Raum muss diesen Prozessen Rechnung getragen werden. Nur temporär sind Absperrungen eine Lösung. Basis geplanter Instandhaltungs- und Ertüchtigungsarbeiten sind neben aktuellen Planunterlagen mit Verformungsangaben ausreichend Informationen zur vorhandenen Konstruktion, Bauausführung und dem Zustand der Baumaterialien. Mittels Bauradar können Hohlräume, Wandabmessungen, Wandaufbauten wie Mehrschaligkeiten und gelockerte Bereiche im Mauerinneren erkundet werden. Mit dieser Technik ist es möglich, schnell in wenigen Tagen vollflächig große Stützmauern, Burg- und Stadtmauern zu erkunden. Auf der Basis der gewonnenen Informationen könnten dann ganz gezielt einige wenige kalibrierende Kernbohrungen ausgeführt werden. Bei geplanten Vorher-Nachher Messungen ist es möglich, den Erfolg von Verpressarbeiten zur Qualitätskontrolle beim Hohlraumverschließen zu beurteilen. Diese interdisziplinären Bestandserfassungen und Bewertungen werden an Beispielen aus der Praxis vorgestellt.
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8. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2023 41 Stadt- und Stützmauern interdisziplinär analysieren und bewerten Dr.-Ing. Gabriele Patitz IGP Ingenieurbüro Bauwerksdiagnostik und Schadensgutachten, Karlsruhe Zusammenfassung Stadt- und Stützmauern aus Natursteinmauerwerk prägen das Bild unserer Städte und Gemeinden. Bedingt durch deren meistens sehr lange Nutzungs- und Lebensdauer sind die Konstruktion und Baumaterialien mehr oder weniger starken Veränderungen unterworfen. Fehlender oder falscher Mörtel, Risse, Ausbauchungen und Verschiebungen, zerstörte Steine oder Teileinstürze, starker Bewuchs oder Wurzelreste gehören zu den üblichen Zustands- und Schadenbildern. Im öffentlichen Raum muss diesen Prozessen Rechnung getragen werden. Nur temporär sind Absperrungen eine Lösung. Basis geplanter Instandhaltungs- und Ertüchtigungsarbeiten sind neben aktuellen Planunterlagen mit Verformungsangaben ausreichend Informationen zur vorhandenen Konstruktion, Bauausführung und dem Zustand der Baumaterialien. Mittels Bauradar können Hohlräume, Wandabmessungen, Wandauf bauten wie Mehrschaligkeiten und gelockerte Bereiche im Mauerinneren erkundet werden. Mit dieser Technik ist es möglich, schnell in wenigen Tagen vollflächig große Stützmauern, Burg- und Stadtmauern zu erkunden. Auf der Basis der gewonnenen Informationen könnten dann ganz gezielt einige wenige kalibrierende Kernbohrungen ausgeführt werden. Bei geplanten Vorher-Nachher Messungen ist es möglich, den Erfolg von Verpressarbeiten zur Qualitätskontrolle beim Hohlraumverschließen zu beurteilen. Diese interdisziplinären Bestandserfassungen und Bewertungen werden an Beispielen aus der Praxis vorgestellt. 1. Bauradar zur Bestandserkundung Der interdisziplinäre Einsatz von Bauradar zur Bestandserkundung gehört inzwischen zum Stand der Technik. Die heute vorliegenden Erfahrungen basieren auf einer jahrelangen Zusammenarbeit der Autorin als spezialisierte Bauingenieurin mit dem Geophysiker Markus Hübner der GGU mbH Karlsruhe. Aussagen zu den technischen Eigenschaften der vorhandenen Baustoffe sind mit dieser Technik nicht möglich. Allerdings können auf Basis der Radaruntersuchungen gezielte Öffnungs- und Beprobungsstellen wie Kernbohrungen angegeben werden. Dadurch reduziert sich zum einen die Anzahl der Öffnungen und zum anderen kann deren Position den örtlichen Gegebenheiten und der vorhandenen bzw. geplanten Nutzung gezielt angepasst werden. Mit den Radarsensoren wird zerstörungsfrei und rückstandslos direkt an den Oberflächen entlanggefahren. Als Hilfsmittel dienen Gerüste, Hebebühnen oder Abseilvorrichtungen. Dabei werden elektromagnetische Wellen in das Bauteil gesendet. Die an Schicht-, Konstruktions- und Materialwechseln auftretenden charakteristischen Reflexionen werden in sogenannten Radargrammen (Bild 10) aufgezeichnet und können ggf. vor Ort bereits ausgewertet werden. Auf Basis von Erfahrungswerten werden die erfassten Reflexionen interdisziplinär bewertet und interpretiert. Gelegentlich sind wenige kalibrierende kleinere Öffnungen erforderlich. Die vorhandene Gerätetechnik ist für Mauerwerksuntersuchungen ausreichend leistungsfähig. Es stehen Sensoren mit unterschiedlicher Eindringtiefe und Tiefenauflösung zur Verfügung. Die Bilder 1 bis 8 zeigen verschiedene Sensoren im praktischen Einsatz. Die Wahl der zu verwendenden Sensoren erfolgt final vor Ort nach einer ersten Sichtung und Beurteilung der Datenqualität und erzielbaren Reichweite. Daher ist es nicht unüblich, dass ergänzend verschiedene Sensoren eingesetzt werden. Die Eindringtiefe wird durch den Feuchte- und Versalzungsgrad und die Art der Natursteine beeinflusst. Daher können finale Entscheidungen hinsichtlich der einzusetzenden Technik nur vor Ort nach Sichtung und Bewertung der ersten Datensätze erfolgen. Bei ausreichender Erfahrung der Verfahrensanwender sind keine vorherigen Testmessungen nötig. Das Messraster an den Bauteilen richtet sich nach der Fragestellung und der gewünschten Aussagegenauigkeit. Hier muss gemeinsam mit dem Auftraggeber ein sinnvoller Mittelweg zwischen Messaufwand, Auswerteaufwand und Ergebnisgenauigkeit abgestimmt werden. Viele Radarprofile bedeuten nicht zwangsläufig eine höhere Ergebnissicherheit, aber auf jeden Fall erhöhte Kosten für den Auftraggeber. 42 8. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2023 Stadt- und Stützmauern interdisziplinär analysieren und bewerten Bild 1: Ermittlung der Einbindetiefe der Steinquader zur Beurteilung der Mauerwerksverzahnung, Horizontalmessung mit einem 900 MHz Sensors Bild 2: Ermittlung der Homogenität innerhalb einer Stadtmauer, Ortung von Hohlräumen und Schalenablösungen, Vertikalmessung mit 900 MHz Sensors Bild 3: Abseilen eines 400 MHz Sensors zur Hohlraumortung hinter der vorderen Mauerschale, Ermittlung der Wanddicken Bild 4: Abseilen eines 400 MHz Sensors zur Bestimmung der Wanddicken und Ortung von Ausspülungen zwischen Wand und anstehendem Fels Bild 5: händisches Führen eines 400 MHz Sensors Bild 6: Abseilen eines 1500 MHz Sensors zur Ortung von Ablösungen der Mauerschale bzw. Hohlraumsuche hinterhalb der vorderen Mauerschale 8. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2023 43 Stadt- und Stützmauern interdisziplinär analysieren und bewerten Bild 7: 1500 MHz Antenne am Mauerwerk zur Ermittlung der Steineinbindetiefen Bild 8: 150 MHz Sensor zur Wanddickenbestimmung 2. typische Datenbeispiele Bei den aufgenommenen Radardaten handelt es sich zunächst um Radargramme. Diese Datensätze zeigen entlang der horizontalen oder vertikalen Profillinie typische und signifikante Reflexionen, welche bewertet und in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Bauingenieur und Geophysiker interpretiert werden. So verursachen beispielsweise Hohlräume und Ablösungen im Vergleich zu ungeschädigten Mauerbereichen unterschiedlich stark erhöhte Reflexionsstärken. Im Bild 9 ist eine abgelöste Mauerschale zu sehen und exemplarisch die Darstellung des Hohlraumes in einem Musterradargramm in Bild 10. Bild 9: bereits gesicherte Mauerschalenablösung bei einer Stützmauer Bild 10: typisches Radargramm in dem sich eine Mauerschalenablösung bzw. ein Hohlraum durch erhöhte Reflexionen darstellt Üblicherweise werden Stützmauern weitgehend vollflächig mit Radar untersucht. Dann ist es möglich, die Radardaten als Zeitscheiben zu berechnen und darzustellen. 44 8. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2023 Stadt- und Stützmauern interdisziplinär analysieren und bewerten Das bedeutet, dass in den interessierenden Wandabschnitten und Wandtiefen alle Reflexionen farbcodiert dargestellt werden. Meistens handelt es sich um den Grenzbereich der vorderen Mauerschale zur Innenfüllung. Hier wird erfahrungsgemäß ein qualitativ schlechteres Mauerwerk erwartet und Bewuchs, eindringende Feuchtigkeit in Kombination mit fehlender Wartung und Pflege haben diese inneren Bereiche oft gelockert und/ oder drückt gegen die Mauerschale. Sinnvoll ist es, aktuelle Orthopläne mit Angabe der Verformungen als Höhenlinien ergänzend zu verwenden. In diese können die interpretierten Radarergebnisse eingetragen werden. Wichtig ist prinzipiell der Vergleich zwischen schadhaftem und nicht schadhaftem Mauerwerk. Sehr hilfreich können dafür auch bauhistorische Untersuchungen und Kartierungen sein. Bild 11 zeigt einen Mauerabschnitt einer ca. 8 m hohen Stützmauer im Orthofoto und Bild 12 die zugehörigen Radarergebnisse. Bild 11: Orthofoto einer ca. 8 m hohen Stützmauer Bild 12: Radarergebnisse als Zeitscheiben in dem Tiefenbereich oben ca. 0,2 m bis 0,5 m und unten ca. 1 m bis 2 m. Homogenes und kompaktes Mauerwerk wird blau und schwarz dargestellt. Bei den grünen / gelben / roten Bereichen handelt es sich um Verdachtsstellen für hohlraumreiches und gelockertes Mauerwerk. Diese Bereiche sind sowohl in der Tiefenlage als auch in deren Ausdehnung gut eingrenzbar. Die Lage von kalibrierenden Bohrungen wurde auf der Basis der Radardaten in diesen Abschnitten festgelegt. Bild 13: Interpretation der Radarergebnisse auf der Basis der Kernbohrungen 3. Interpretation der Radardaten Die interdisziplinäre Interpretation kann oftmals aufgrund der inzwischen vorhandenen Erfahrungen erfolgen und kann durchaus ausreichend sein. Diese Methode und Herangehensweise gehört seit mittlerweile ca. 25 Jahren zum Stand der Technik und des Wissens. 8. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2023 45 Stadt- und Stützmauern interdisziplinär analysieren und bewerten Nicht auszuschließen sind aber einige wenige kalibrierende Kernbohrungen, dessen Bohrmaterial ergänzend zur Ermittlung der technischen Eigenschaften der Mörtel und der Mauersteine genutzt werden kann. Voraussetzung ist eine lagegenaue Zuordnung und sorgfältige Dokumentation und Auf bewahrung des Bohrmaterials. Es können dann Bereiche unterschiedlichen Mauerzustandes beurteilt, auskartiert und angesprochen werden (Bilder 13). Für die Entnahme von Bohrkernen bietet es sich oft eine ergänzende Videoendoskopie an. Damit wird das Mauerwerk zusätzlich über eine visuelle Betrachtung der Bohrwandung beurteilt (Bilder 14 bis 16). Kleinere Bohrungen mit Endoskop bieten auch bereits gut verwertbare Informationen, wenn Bohrungen größer 100 mm nicht möglich sind. Bild 14: Befahren eines Bohrloches mit einer Videokamera Bild 15: Aufnahmetechnik für die Bohrlochvideoendoskopie Bild 16: Bilder der Bohrlochwandung aus einer Videobefahrung eines Bohrloches 4. Fazit Zahlreiche Praxisbeispiele zeigen, dass das Bauradar ein effektiv einzusetzendes zerstörungsfreies Verfahren zur Erkundung von Stütz- und Stadtmauern ist. Lokal und ganz gezielt sind einige wenige Öffnungen oder Bohrungen zu kalibrierenden Zwecken nötig, die umgehend wieder verschlossen werden können. Diese Voruntersuchungen bieten eine gute Basis für die Planungen und Ausschreibungen von Sanierungsarbeiten. Bei langen Stadtmauern ist es möglich, in Abhängigkeit von dem Mauerzustand und der Dringlichkeit die aktuell zu sanierenden Bereiche abzugrenzen und somit fundiert abschnittsweise vorzugehen. Unliebsame Überraschungen beim späteren Bauen lassen sich nicht ganz vermeiden, aber sehr stark eingrenzen. Das erforderliche bestandsorientierte Untersuchungskonzept kann aus Zeit- und Kostengründen nie vollumfänglich sein. Im Zuge des Projektverlaufes und Zugewinns an Informationen sollte das erstellte Untersuchungskonzept mit den projektbeteiligten Fachleuten regelmäßig auf den Prüfstand gestellt und weiterentwickelt werden. Das betrifft sowohl die Erkenntnis, dass manche Untersuchungen nicht mehr benötigt werden und andere dafür evtl. erforderlich werden. 46 8. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2023 Stadt- und Stützmauern interdisziplinär analysieren und bewerten Literatur [1] Patitz, Gabriele: Altes Mauerwerk zerstörungsarm mit Radar und Ultraschall erkunden und bewerten. Bauphysik-Kalender 2012, Verlag Ernst & Sohn Berlin, S. 203 [2] Patitz Gabriele, Grassegger Gabriele, Wölbert Otto (Hrsg.), Natursteinbauwerke Untersuchen - Bewerten - Instandsetzen. Arbeitsheft 29 des Landesamtes für Denkmalpflege Baden-Württemberg, Fraunhofer IRB Verlag und Theiss Verlag, 2014 [3] Sanierung historischer Stadtmauern, Planung, Ausführung - Wartung, 2015 Hrsg. Christine H. Bauer, Gabriele Patitz, Fraunhofer IRB Verlag ISBN 978-3-8167-9617-6 [4] Patitz, Gabriele; In unbekannte (Bauteil-)Tiefen schauen. B+B Bauen im Bestand Heft 7 / 2016 Seiten 24 - 29 [5] Patitz, Gabriele; Wellen in die Tiefe schicken. B+B Bauen im Bestand Heft 2 / 2021 Seiten 8 - 13 Bildquellen: Bild 9: Architekturbüro Bernd Säubert Karlsruhe Plan zur Bestandserfassung vom 19.12.2019, Schadenskartierung Stand Januar 2020 Bild 15: Geotechnisches Ingenieurbüro Prof. Fecker und Partner GmbH Ettlingen Alle anderen Bilder sind von der Autorin und Markus Hübner GGUmbH Karlsruhe.