Kolloquium Erhaltung von Bauwerken
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expert Verlag Tübingen
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2025
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Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk – Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden
0225
2025
Bernd Kister
Der Beitrag zeigt auf, welche maßgeblichen konstruktiven Eigenschaften Einfluss auf die Standsicherheit von Stützbauwerken aus Natursteinmauerwerk haben. Typische Schadensbilder bei Stützbauwerken aus Naturstein-mauerwerk werden benannt. Auf die Ermittlung konstruktiver Eigenschaften solcher Bauwerke mit verschiedenen Verfahren wird eingegangen und Messverfahren hinsichtlich ihrer Eignung zu Messung der Wandstärke werden diskutiert. Ebenfalls diskutiert wird die Problematik der Kennwerteermittlung von Mauerwerksteinen und Mauermörtel. An einem Beispiel wird anhand der angetroffenen Unterschiede beim Mauerverband eine forensische Analyse zur Bauwerksgeschichte durchgeführt. Am Beispiel einer Geschiebesperre wird die Problematik bei den Unterschieden zwischen den vorhandenen Unterlagen zu Instandsetzungsmaßnahmen und den tatsächlich ausgeführten Arbeiten aufgezeigt. Schließlich wird aufgezeigt, wie der Nachweis der Standsicherheit dieses Bauwerks mittels einer 3D-Betrachtung doch noch erbracht werden konnte.
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9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 195 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Dr.-Ing. Bernd Kister geotechnical engineering and research, Neckargemünd Zusammenfassung Der Beitrag zeigt auf, welche maßgeblichen konstruktiven Eigenschaften Einfluss auf die Standsicherheit von Stützbauwerken aus Natursteinmauerwerk haben. Typische Schadensbilder bei Stützbauwerken aus Naturstein-mauerwerk werden benannt. Auf die Ermittlung konstruktiver Eigenschaften solcher Bauwerke mit verschiedenen Verfahren wird eingegangen und Messverfahren hinsichtlich ihrer Eignung zu Messung der Wandstärke werden diskutiert. Ebenfalls diskutiert wird die Problematik der Kennwerteermittlung von Mauerwerksteinen und Mauermörtel. An einem Beispiel wird anhand der angetroffenen Unterschiede beim Mauerverband eine forensische Analyse zur Bauwerksgeschichte durchgeführt. Am Beispiel einer Geschiebesperre wird die Problematik bei den Unterschieden zwischen den vorhandenen Unterlagen zu Instandsetzungsmaßnahmen und den tatsächlich ausgeführten Arbeiten aufgezeigt. Schließlich wird aufgezeigt, wie der Nachweis der Standsicherheit dieses Bauwerks mittels einer 3D-Betrachtung doch noch erbracht werden konnte. 1. Einführung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Blütezeit des Baus von Stützbauwerken aus Natursteinmauerwerk. Für die zahlreichen Stützbauwerke, welche für die Straßen und Bahnstrecken erstellt werden mussten, wurde in der Regel das vor Ort vorhandene Material - Naturstein - eingesetzt. Daher sind die Bauwerke regional sehr unterschiedlich, sowohl was die Baustoffe, die Konstruktionsart als auch die Bauwerksgröße anbelangt (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Einige Beispiele für die Verschiedenartigkeit der Stützbauwerke und ihres Mauerwerks aus Naturstein 196 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Neben Stützbauwerken im Verkehrswegebau wurden in der Schweiz auch Geschiebesperren aus Natursteinmauerwerk mit zum Teil erheblichen Abmessungen erstellt (Abb. 32). In der Regel liegen für diese 100bis 150-jährigen Bauwerke keine oder allenfalls lückenhafte Plan-unterlagen vor, so dass die konstruktiven Eigenschaften der Bauwerke, wie z. B. Bauwerkshöhe, Wandstärke, Querschnittsform des Bauwerks, Art des Mauer-verbands oder die Frage ob ein ausreichender Quer-verbund des Mauerwerks vorhanden ist, vor Ort ermittelt werden müssen, wenn es Fragen zur Stand-sicherheit solcher Bauwerke gibt. Zu den konstruktiven Eigenschaften gehört auch der Mauerwerkstyp. Beim Mauerwerkstyp unterscheidet man zwischen Trockenmauerwerk, d. h. ein Mauerwerk ohne Mörtel in den Fugen, und vermörteltem Mauerwerk. Allerdings musste bei der Untersuchung einiger Bauwerke auch festgestellt werden, dass zwar die Fugen in der Ansichtsfläche des Bauwerks vermörtelt waren, die Vermörtelung der Fugen jedoch lediglich bis in eine geringe Tiefe von einigen Zentimetern reichte. D. h. es handelte sich hierbei um Trockenmauern, deren Fugen in der Ansichtsfläche wahrscheinlich nachträglich vermörtelt wurden. Dies ist in der Regel durch eine rein visuelle Bauwerksaufnahme nicht erkennbar. Eine weitere konstruktive Eigenschaft ist die Art des Mauerverbands. Für die Stabilität und Tragfähigkeit eines Mauerwerks kommt es z. B. darauf an, ob es sich um ein Bruchsteinmauerwerk mit unbearbeiteten Lagerflächen oder um ein gerichtetes Mauerwerk mit bearbeiteten Lagerflächen handelt. Die Bestimmung des Mauerverbands in Bezug auf heutige Normen gestaltet sich jedoch oftmals nicht einfach. Vielfach ist die Beschreibung des Mauerverbands in älteren Regel-werken für diese alten Bauwerke zutreffender (Abb. 2). Abb. 2: Bezeichnungen für Bruchsteinmauerwerk nach den Richtlinien für die Ausführung von Natursteinmauerwerk entsprechend den besonderen Bestimmungen der SBB (SBV - SBB, 1946) Schließlich haben diese 100bis 150-jährigen Bauwerke in ihrer Lebenszeit auch einen Alterungs- und Abnutzungsprozess und eventuell auch Belastungs-änderungen erfahren, welche zu Schäden am Bauwerk geführt haben können (Abb. 3). Abb. 3: Zustandsentwicklung eines Bauwerks nach Suda & Rudolf-Miklau (2008) Für die Beurteilung der Tragsicherheit eines Stütz-bauwerks aus Natursteinmauerwerk sind somit sowohl die konstruktiven Eigenschaften des Bauwerks als auch sein Zustand zu betrachten. 2. Eigenschaften und Schadensbilder 2.1 Konstruktive Eigenschaften Zu den maßgeblichen konstruktiven Eigenschaften, die Einfluss auf die Standsicherheit von Stützbauwerken haben gehören: • Der Schlankheitsgrad und die Querschnittsform der Mauer, • die Einbindetiefe und der Neigungswinkel der Gründungssohle, • sowie die Festigkeit des Mauerwerks. Unter dem Schlankheitsgrad eines Stützbauwerks versteht man das Verhältnis von Wandstärke am Fuß B zu Bauwerkshöhe H. Im GBC Report on Study of Old Masonry Retaining Walls (Chan, 1996) wird darauf hingewiesen, dass Stützbauwerke aus Naturstein-mauerwerk mit einem Schlankheitsgrad kleiner 0.33 häufig von Schäden betroffen waren und wieder abgerissen werden mussten bzw. sogar kollabierten. Bauwerke, deren Schlankheitsgrad grösser als 0.33 war, blieben hingegen in der Regel stabil. Untersuchungen von Burgoyne aus dem Jahr 1834 an vier verschiedenen Mauerwerksquerschnitten haben gezeigt, dass auch der Querschnittsform des Stützbauwerks und der Neigung der Lagerfugen eine erhebliche Bedeutung bei der Stabilität des Bauwerks zukommt. Während die Mauern mit den Querschnitten A und B in Abb. 4 mit geneigten Lagerfugen sukzessive aufgebaut und vollständig hinterfüllt werden konnten, ohne dass Anzeichen einer Überbeanspruchung zu verzeichnen waren, versagten die Mauern mit den Querschnitten C und D mit horizontalen Lagerfugen. 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 197 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Abb. 4: Experiment von Burgoyne (1834): Bau und Hinterfüllung von vier Stützbauwerken aus Natursteinmauerwerk mit unterschiedlichen Querschnittsformen und Neigung der Lagerfugen, aber gleicher Wandstärke auf mittlerer Bauwerkshöhe (aus Chan, 1996) Abb. 5: Geöffnete Stützmauer auf der Großen St. Bernhardstraße, italienische Seite, erlaubt die Ermittlung des Mauerwerksauf baus, der Wandstärke, der Tiefenlage und des Neigungswinkels der Gründungssohle (Fontana et al., 2011) Die Tiefenlage und der Neigungswinkel der Gründungssohle eines Stützbauwerks stellen ebenfalls signifikante Einflussgrößen für die Standsicherheit einer Stützmauer dar. Schwing (1991) hat ausgeführt, dass bei den 25 von ihm untersuchten alten Stützmauern die Gründungstiefe sehr gering war oder allenfalls eine Steinhöhe betrug. Daraus ergibt sich, dass sich die Bauwerkshöhe in der Regel durch direkte Messung vor Ort mit einer ausreichenden Genauigkeit ermitteln lässt. Anders sieht es jedoch bei anderen konstruktiven Größen, wie z. B. Wandstärke und Querschnittsform des Bauwerks aus. Diese lassen sich oftmals nur mit einem erheblichen Aufwand ermitteln. Die Festigkeit des Mauerwerks wird sowohl durch den Mauerwerkstyp, d. h. vermörtelts Mauerwerk oder Trockenmauerwerk, als auch durch die Art des Mauerverbands bestimmt. Qualitativ lässt sich die Abhängigkeit der Festigkeit eines Mauerwerks von den verschiedenen Einflussfaktoren, wie Steinform, Anzahl der Steine, Fugenausbildung, etc. wie folgt beschreiben: Die Festigkeit des Mauerwerks ist umso grösser • je quaderförmiger die Mauerwerksteine sind, • je weniger Steine die Mauer bilden, • je rauer die Lagerflächen sind, • je kleiner die Fugen im Verhältnis zur Steinhöhe sind, • je höher die Mörtelfestigkeit ist und • je besser der Querverband des Mauerwerks ist. Auch das Verhältnis Höhe zu Breite der Mauerwerk-steine hat einen Einfluss auf die Festigkeit des Mauerwerks. Sogenannte „Steher“, d. h. Steine deren Höhe größer ist als ihre Breite beeinflussen die Festigkeit des Mauerwerks negativ. Einen Eindruck über den Einfluss des Mauerverbands auf die Festigkeit des Mauerwerks gibt Abb. 6. Abb. 6: Festigkeit des Mauerwerks in Bezug auf die Art des Mauerverbands nach Norm SIA 266/ 2 (2012) Eine wesentliche Größe für die Stabilität von Mauerwerk ist der sogenannte Querverband, d. h. die Verzahnung und Einbindung der Mauerwerksteine in die Tiefe. Bereits in den ersten Richtlinien zur Ausführung von Natursteinmauerwerk in der Schweiz aus den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Regeln für die Anzahl und die Verteilung der sogenannten Bindersteine, d. h. die Steine, die die vorderste Mauerwerksebene „zurückbinden“ bzw. nach hinten verankern, festgelegt. Danach sollten bei Natursteinmauerwerk die folgenden Regeln eingehalten werden (vgl. Abb. 7): • Bei einem unregelmäßigen Mauerwerkverband muss mindestens jeder 3. Stein ein Binder sein und der Binderabstand darf höchstens 1,80 m betragen. • Bei einem regelmäßigen Mauerwerkverband sollen sich Läufer und Binder abwechseln. Die Steinbreite der Binder soll mindestens das Doppelte der Steinhöhe betragen. • Die Steinüberragung der Binder muss mindestens 15 cm betragen. Bei Verkleidungen von Betonbau- 198 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden ten muss die Steinüberragung mindestens 25 cm betragen. • Für die Tiefe der Binder wird gefordert, dass sie mindestens das 1,5-fache der Steinhöhe plus 15 cm beträgt, d. h. bei einer Steinhöhe von 20 cm muss die Bindertiefe mindestens 45 cm betragen. Die tiefe der Läufer würde in diesem Falle mindestens das 1,5-fache der Steinhöhe, d. h. 30 cm, betragen. Abb. 7: Vorgaben für die Anzahl und Position von Bindersteinen in Natursteinmauerwerk gemäß der Richtlinie für die Ausführung von Natursteinmauerwerk von 1946 (SBV - SBB, 1946) Aussagen zum Querverband der Verbandsart B, Bruchsteinmauerwerk, unregelmäßig, fehlen in der heutigen Norm SIA 266/ 2 jedoch. Dies ist aber eine der am häufigsten vorkommenden Verbandsart bei den historischen Stützbauwerken im Verkehrswegebau. Wenn die Bindersteine zu kurz sind, die Anzahl der Bindersteine zu gering ist oder die Verbundwirkung infolge der Verwitterung des Mörtels nachlässt, kommt es zunächst zu Hohllagen, d. h. zur Ablösung der vordersten Steinlage. Setzt sich dieser Prozess fort, führt dies zu Ausbauchungen und letztendlich zum Wandausbruch. Abb. 8: Unzureichender Querverband bei einer nach einem Einsturz neu aufgebauten Mauer Abb. 9: Stützbauwerk mit massiver Ausbauchung am Furkapass, Schweiz 2.2 Schadensbilder Viele alte Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk weisen heute mehr oder weniger starke Beschädigungen auf. Typische Schadensbilder bei Stützbauwerken aus Natursteinmauerwerk sind z. B.: • Überhänge und Schiefstellungen (Abb. 10) • Ausbauchungen und Abplatzungen der Vorderschale (vgl. Abb. 9) • Risse und Setzungen (Abb. 11) • Teileinbrüche • Verwitterung und Erosion minderfester Gesteine und Fugen (Abb. 12) • Austreiben einzelner Steine und Auflockerung des Verbunds (Abb. 13) Abb. 10: Überhang eines Stützbauwerks an der alten Gotthardbahnstrecke 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 199 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Abb. 11: Durchgehende Risse in einer Stützmauer Abb. 12: Verminderung des statisch wirksamen Mauerquerschnitts durch Materialverlust im Haupt Die Ursachen solcher Schadensbilder sind nicht immer eindeutig zuzuordnen. Hinzu kommt, dass sich in der Regel mehrere Prozesse überlagern. Schwing (1991) beschreibt den Vorgang, der zu einem Ausbauchen des Mauerwerks und schließlich zum Ausknicken von Mauerwerksteilen führt, wie folgt: „Ständige Durchfeuchtung infolge des Niederschlagswassers haben die Struktur des Mauerwerkverbandes im Laufe der Jahrzehnte verändert; Mörtel wurde ausgewaschen, Bindemittel ausgelaugt. Bodenteilchen konnten über den Transport mit Wasser in die entstandenen Hohlräume einfließen. Die ehemals kompakte mineralische Verbindung der Steine mit dem Füllmörtel im Innern der Wand wurde gestört; die Festigkeit des Mauerwerkverbandes nahm ab. Hinzu kommen natürliche Alterungs- und Zerfalls-erscheinungen der Steine selbst und des Fugenmörtels. Die Verwitterung an ihrer Oberfläche geht mit einer Abnahme der Steindruckfestigkeit und dem Lösen des Fugenmörtels einher. Der geschwächte Bereich entzieht sich der Lastaufnahme, Umlagerungen in weiter rückwärts gelegene, steifere Bereiche sind die Folge. Gleichzeitig verringert sich die wirksame Dicke der Mauer. Frosteinwirkungen im Kernbereich können den Zerfall beschleunigen. Beim Übergang von darin eingeschlossenem Wasser zu Eis findet eine Volumenvergrößerung statt, Steine werden gesprengt und / oder herausgetrieben.“ Abb. 13: Auflockerung des Mauerwerkgefüges Die von Schwing so anschaulich beschriebenen Prozesse führen dazu, dass bei Stützbauwerken, die jahrzehntelang standsicher waren, durch die Abminderung der Festigkeit des Mauerwerks nun plötzlich auch ungünstige konstruktive Eigenschaften dieser Bauwerke eine Rolle für die Standsicherheit spielen können. Neben den vorstehend aufgeführten Aspekten können aber auch Laständerungen, wie z. B. Aufstau von Wasser hinter dem Bauwerk oder geänderte Verkehrslasten, zu Standsicherheitsproblemen bei den Stützbauwerken führen. Die vorstehend beschriebenen Schadensbilder stellen Schadensbilder dar, die das Mauerwerk direkt betreffen. Es finden sich jedoch auch Schadensbilder, die die unmittelbare Umgebung des Bauwerks betreffen. Zu ihnen gehören: • eine Absenkung in der Hinterfüllung sowie • eine Aufwölbung vor dem Mauerfuß. Daraus ergibt sich, dass es nicht ausreichend ist das Mauerwerk alleine zu betrachten, vielmehr ist das Bauwerk einschließlich der Umgebung, in die das Bauwerk eingebettet, ist zu betrachten. 3. Ermittlung konstruktiver Eigenschaften 3.1 Wandstärke Wie vorstehend ausgeführt kommt der Wandstärke eines Stützbauwerks eine hohe Bedeutung bei der Beurteilung der Tragsicherheit zu. Wenn bei älteren Stützbauwerken aus Natursteinmauerwerk keine Plan-unterlagen existieren, aus denen man die Wandstärke entnehmen kann, muss diese auf andere Weise ermittelt werden. Die Freilegung der Seitenflächen des Bauwerks und die Stärke der Mauerwerkskrone können einen ersten Hinweis auf die Wandstärke des Bauwerks geben (Abb. 14). Allerdings ist die Bauwerkshöhe an den Seiten-flächen 200 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden häufig am geringsten und die Bauwerke können entlang ihrer Abwicklung eine erhebliche Variation der Bauwerkshöhe besitzen, so dass es in den Bereichen mit einer größeren Bauwerkshöhe durchaus vorkommen kann, dass dort eine stärkere Wanddicke vorhanden ist. Abb. 14: Ermittlung der Querschnittsform bzw. der Wandstärke an den Seitenflächen des Mauerwerks bzw. der Bauwerkskrone Auch kann es sein, dass das Bauwerk nachträglich erhöht wurde und die Bauwerkserhöhung mit einer geringeren Wandstärke ausgeführt wurde (Abb. 15). Abb. 15: Erhöhungen sowie Maßnahme zur Stabilisierung eines Stützbauwerks an der Gotthardbahnstrecke Eine andere einfache Möglichkeit die Wandstärke zu ermitteln, ist die Tiefenmessung in Entwässerungs-einrichtungen. Hierbei ist jedoch darauf zu achten, dass eingetragenes Lockergestein die Tiefenmessung verfälschen kann. Führen die vorstehend aufgeführten Methoden nicht zum Ziel, werden häufig Kernbohrungen zur Ermittlung der Wandstärke ausgeführt. Mit diesem Verfahren lässt sich die Wandstärke in der Regel mit ausreichender Genauigkeit aus den Bohrkernen ermitteln. Aus Kostengründen ist man bei diesem Verfahren meist auf eine oder bei sehr großen Stützmauern allenfalls auf einige wenige Bohrungen beschränkt. Eine Änderung der Wandstärke mit der Höhe oder entlang der Abwicklung des Bauwerks ist somit meist nicht zu erfassen. An der Hochschule Luzern wurde daher in einem Forschungsprojekt untersucht, inwieweit zerstörungsfreie Messverfahren mit akustischen oder elektromagnetischen Wellen hier Abhilfe schaffen können (Kister & Hugenschmidt, 2014; Kister & Hugenschmidt, 2017). Grundsätzlich ist anzumerken, dass zerstörungsfreie Messverfahren bei der Ermittlung der Wandstärke nur dann zu Ergebnissen führen, wenn es hinsichtlich der physikalischen Parameter einen signifikanten Unterschied zwischen Mauerwerk und Hinterfüllung gibt, d. h. bei akustischen Wellen muss ein Dichteunterschied beider Materialien vorhanden sein, bei elektromagnetischen Wellen muss die elektrische Leitfähigkeit beider Materialien verschieden sein. Weiterhin muss die Welle, die in das Bauwerk eingeleitet wird über ausreichend Energie verfügen, so dass sie das Bauwerk durchlaufen kann und die Reflexion des Signals von der Rückseite des Mauerwerks wieder das Messgerät am Haupt des Bauwerks erreicht. In dem Forschungsprojekt wurden die folgenden Messverfahren hinsichtlich ihrer Eignung zu Messung der Wandstärke untersucht. Akustische Wellen: • Impact-Echo Messverfahren • Ultraschall-Impuls Messverfahren • Spektralanalyse von Oberflächenwellen (Spectral Analysis of Surface Waves: SASW) Elektromagnetische Wellen: • Georadar Sowohl mit dem Impact-Echo Messverfahren als auch mit der Methode der Spektralanalyse von Oberflächen-wellen lässt sich die Wandstärke eines Stützbauwerks ermitteln, sofern es sich um vollvermörteltes Mauerwerk handelt. Bei Trockenmauerwerk, bei dem die Fugen lufterfüllt sind, findet keine ausreichende Energieübertragung innerhalb des Bauwerks statt. Für Trockenmauerwerk sind diese beiden Methoden daher meist nicht geeignet. Auch bei Mauerwerk, dessen Mörtel schon eine sehr starke Zersetzung aufweist, kann die Energieübertragung soweit reduziert sein, dass die Wandstärke dann mit diesen Verfahren mit akustischen Wellen nicht mehr ermittelt werden kann. Für das Ultraschall-Impuls Messverfahren wurde ein Niederfrequenz-Ultraschalldefektoskop mit Antennen- Array getestet. Dieses Gerät verwendet Scherwellen (S- Wellen) für die Messung. Für Wandstärken grösser 60 cm 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 201 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden konnten mit dem Gerät jedoch keine zufrieden-stellenden Ergebnisse für Mauerwerk erzielt werden. Für die Anwendung des Georadars auf Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk kommt, aufgrund des nur einseitigen Zugangs bei diesen Bauwerken, in der Regel nur die Reflexionsmessung in Betracht. Der Vorteil des Georadars besteht darin, dass sich elektromagnetische Wellen auch über die lufterfüllten Fugen des Trocken-mauerwerks ausbreiten, so dass dieses Verfahren auch auf die Trockenmauern angewendet werden kann. Abb. 16: Anordnung der Accelerometer und Schlagpunkte beim SASW-Versuch am Mauerwerksprobekörper an der Hochschule Luzern im Abschnitt vermörteltes Mauerwerk (Kister & Hugenschmidt, 2017, 2014) Abb. 17: Ergebnis einer Untersuchung mit der Methode der Spektralanalyse von Oberflächenwellen (SASW) mit der in Abb. 16 dargestellten Versuchsanordnung. Die Dispersionskurve zeigt einen deutlichen Abfall bei 0,6 m. Dies entspricht der Wandstärke des Mauerwerksprobekörpers in dieser Höhe (Kister & Hugenschmidt, 2017, 2014). Der Nachteil beim Georadar besteht darin, dass ein zunehmender Wassergehalt und Grad der Wasser-bindung im Gestein bzw. Fugenmörtel eine verstärkte Absorption der Radarwellen erzeugen, d. h. die Eindringtiefe der elektromagnetischen Welle kann dadurch signifikant reduziert werden. Für die Messungen mit Georadar an Bauwerken mit Wandstärken von 0,6 m bis zu ca. 2 m wurden Antennen mit Frequenzen im Bereich von 200 MHz bis 900 MHz verwendet. Die Wahl der Antenne richtet sich nach der erwarteten Wandstärke. Für hohe Wandstärken empfiehlt sich eher eine Antenne in der unteren Hälfte des angegebenen MHz-Intervalls. Abb. 18: Messung mit einer Georadar-Antenne am Mauerwerksprobekörper der Hochschule Luzern Der Erfolg bei der Bestimmung der Wandstärke der Mauer mit dem Georadar hängt vor allem vom Kontrast zwischen Mauer und Hinterfüllung ab. Ergibt sich an der Grenze Mauer-Hinterfüllung eine klare Reflexion, kann die Wandstärke mit einer Genauigkeit von ca. 10 % ermittelt werden. Ansonsten können lediglich Schätzungen oder Mindestdicken angegeben werden. Als letztes Mittel zu Bestimmung der Wandstärke bleibt schließlich noch die Öffnung des Bauwerks. Diese zerstört jedoch zumindest lokal die Bausubstanz und ist mit hohen Kosten verbunden. Andererseits ist es damit möglich den Wandauf bau zu ermitteln (Abb. 5). 3.2 Querverband Die Frage nach dem Querverband, d. h. der Verzahnung und Einbindung der Mauerwerkssteine in die Tiefe, stellt sich, wenn das Risiko einer Ablösung der vorderen Wandebene besteht bzw. wenn überprüft werden soll, ob die Vorgaben für die Anzahl und Position von Bindersteinen im Natursteinmauerwerk eines Bauwerks eingehalten wurden (vgl. Abb. 7). Im Forschungsprojekt an der Hochschule Luzern wurde die Eignung der zerstörungsfreien Prüfverfahren zur Bestimmung der Steintiefe im Mauerwerk untersucht (Kister & Hugenschmidt, 2014; Kister & Hugenschmidt, 2017). Sowohl mit dem Impact-Echo-Verfahren als auch mit dem Georadar ist es gelungen die Steintiefe einzelner Mauerwerkssteine zu ermitteln und so Bindersteine zu identifizieren. Hierzu wurden Versuche am Mauerwerksprobekörper an der Hochschule Luzern und Versuche an einer bestehenden Stützmauer durch-geführt. Da diese Stützmauer zu einem späteren Zeitpunkt teilweise rückgebaut wurde, konnten die Abmessungen ein- 202 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden zelner Mauerwerkssteine auch direkt gemessen und mit den Steintiefen, welche mit den zerstörungsfreien Messverfahren ermittelt wurden, verglichen werden. Abb. 19: Steintiefe der Mauerwerkssteine ermittelt mit dem Impact-Echo-Verfahren, rot: ≥ 60 cm, blau: 40 bis < 60 cm, grün: < 40 cm Abb. 20: Radargramme von vertikalen Linienmessungen am gleichen Profil am Mauerwerksprobekörper der Hochschule Luzern mit zwei Georadarantennen, linke Seite: 900 MHz Antenne, rechte Seite 1.5 GHz Antenne (Kister & Hugenschmidt, 2014) Abb. 20 zeigt die Radargramme von vertikalen Linienmessungen am Mauerwerksprobekörper der Hochschule Luzern mit zwei Georadarantennen, der 900 MHz Antenne auf der linken Seite und der 1.5 GHz Antenne auf der rechten Seite. In beiden Fällen lassen sich die Reflexionen einzelner Steine erkennen. Allerdings ergibt sich für die 1,5 GHz Antenne eine deutlich bessere Auflösung für die Steintiefen. In dem Radargramm der 900 MHz Antenne lassen sich hingegen auch noch die Reflexionen der dreistufigen Bauwerksrückseite erkennen. In dem Radargramm der 1,5 GHz Antenne sind keine Reflexionen von der Bauwerksrückseite mehr zu erkennen, was an der geringeren Eindringtiefe der Radarwellen mit den höheren Frequenzen liegt. 4. Ermittlung von Kennwerten des Mauerwerks bzw. seiner Elemente Die Druckfestigkeit von Natursteinmauerwerk ist nicht nur von der Druckfestigkeit der Mauerwerksteine und der Verbandsart (Form und Anordnung der Steine) abhängig. Auch die Größe der Steine absolut und im Verhältnis untereinander im Bauwerk, die Ausbildung der Lagerfugen, Zugfestigkeit der Mauerwerksteine und die Mörteleigenschaften spielen eine Rolle (vgl. hierzu z. B. Warnecke, 1995). Nachfolgend soll lediglich auf die Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten, bei der Ermittlung von Parametern für die Mauerwerkskomponenten Stein und Mörtel eingegangenen werden. Dabei liegt der Schwerpunkt auf einfachen und kostengünstigen Untersuchungsmethoden. Abb. 21: Stützmauer mit einem sehr unregelmäßigen Auf bau 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 203 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden 4.1 Mauerwerksteine Eine einfache Möglichkeit die einaxiale Druckfestigkeit der Mauerwerksteine abzuschätzen ist die Hammerschlagmethode. Bei der Hammerschlagmethode wird mit einem Hammer auf die Mauerwerksteine geschlagen. Schon aufgrund des dabei entstehenden Klangs lässt sich eine grobe Einschätzung hinsichtlich der einaxialen Druckfestigkeit der Steine vornehmen (Tab. 1). Mit diesem Verfahren lassen sich auch schnell größere Bereiche einer Mauer untersuchen und so auch Schwächezonen im Mauerwerk erkennen und eingrenzen. Tab. 1: Hammerschlagmethode Beschreibung einaxiale Druckfestigkeit [MN/ m 2 ] zerbricht nur bei einer Vielzahl von kräftigen Hammerschlägen, dabei sehr heller Klang sehr fest über 100 zerbricht erst bei mehr als einem kräftigen Hammerschlag, dabei heller Klang fest 50 - 100 zerbricht bei einem kräftigen Hammerschlag, kann mit dem Taschenmesser nicht mehr geritzt werden mittelfest 25 - 50 flache Einkerbungen beim Schlag mit der Hammerspitze, kann mit dem Taschenmesser geritzt werden, beim Schlag dumpfer Klang mässig fest 5 - 25 zerbröckelt bereits bei einem leichten Hammerschlag, kann mit dem Taschenmesser eingeschnitten werden wenig fest 1 - 5 mit dem Fingernagel ritzbar entfestigt < 1 Aufwendiger sind Messungen mit dem Schmidt-Hammer, da bei diesen Messungen die Messstellen einer gewissen Vorbereitung bedürfen, d. h. die Messstellen sollten eben sein und keine Risse oder ähnliches aufweisen (Abb. 22). Die Messung mit dem Schmidt-Hammer liefert jedoch lediglich einen Rückprallwert R und keine Druck-festigkeit des Gesteins. Vorschläge für die Umrechnung dieses Rückprallwerts in die einaxiale Druckfestigkeit von Gestein wurde von verschiedenen Autoren gemacht (siehe Abb. 23 oder z. B. Kahraman, 2001; Aydin & Basu, 2005). Abb. 22: Messung mit dem Schmidt-Hammer Für den Helvetischen Kieselkalk konnte z. B. eine gute Übereinstimmung mit dem Korrelationsmodell von Deere & Miller festgestellt werden. Auf den Berner Sandstein ließ sich dieses Modell sowie einige andere Modelle hingegen nicht anwenden (Abb. 23). Hier wurde aufgrund eigener Versuche ein anderes Korrelationsmodell vorgeschlagen. Zur Überprüfung der Anwendbarkeit solcher Korrelationsmodelle empfiehlt sich daher auch immer die Durchführung einiger einaxialer Druckversuche an Bohrkernen. Abb. 23: Korrelationsmodelle zu Rückprallwert R und einaxiale Druckfestigkeit nach verschiedenen Autoren sowie aus Versuchen für den Berner Sandstein abgeleitet (rote Markierungen bzw. rote Linie) 4.2 Mörtel Eine Aussage zu den Kennwerten der an den alten Bauwerken verwendeten Mörtel ist schwierig. Zum einen sind die direkt zugänglichen Proben meist abgefallene Mörtelstücke (Abb. 24), von denen oftmals nicht bekannt ist, ob sie • mit dem im Mauerwerksinnern verwendeten Mörtel übereinstimmen oder lediglich einen Fugenmörtel für die Mauerwerksoberfläche darstellen (vgl. Abb. 25) • aus der Zeit des Baus stammen oder auf Instandsetzungsversuche zu späteren Zeit-punkten zurückzuführen und daher nicht repräsentativ für den Bauwerksmörtel sind. 204 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Zum anderen variieren die angetroffenen Mörtel sehr stark bezüglich Zusammensetzung, Größe des Zuschlagkorns, Porosität, etc. (vgl. Abbildungen 25 bis 27). Abb. 24: Eingesammelte Mörtelproben von der Geschiebesperre IVa im Lammbachgraben Abb. 25: Grober Mauerwerksmörtel und darüber aufgebrachter feinkörnigerer Fugenmörtel an einer Stützmauer Für die Festigkeitsermittlung von Fugenmörtel am Bauwerk werden in der Literatur verschiedene Verfahren vorgeschlagen, z. B.: • Nadelpenetrometer • Screw (helix) pull-out method • Torque penetration test • Schmidt-Hammer oder Pendelhammer Aufgrund der unebenen Wandoberfläche bei Natursteinmauerwerk und dem grobkörnigen Zuschlagmaterial einerseits sowie der Verfügbarkeit der entsprechenden Messgeräte und vorhandener Referenzmessdaten andererseits wurde entschieden einen Schmidt-Hammer für Messungen am Fugenmörtel zu verwenden. An der Materialprüfstelle der Hochschule Luzern wurde in einem umfangreichen Evaluationsprozess mit Mörtelproben mit drei unterschiedlichen Zementgehalten Umwertungskurven für einen Schmidt-Hammer Typ LD ermittelt (Abb. 26). Hierzu wurden zunächst würfelförmige Prüfkörper erstellt und Messungen an diesen Prüfkörpern sowohl an den Schalungsflächen als auch an den Einfüllflächen mit dem Schmidt-Hammer durchgeführt. Danach wurden die Oberflächen der Prüfkörper geschliffen und die Versuche wurden wiederholt. In einem zweiten Schritt wurden Prüfzylinder aus diesen Würfeln ausgebohrt und an diesen einaxiale Druckversuche durchgeführt. Abb. 26: Umwertungskurven für einen Schmidt-Hammer Typ LD aus Versuchen Mit diesem Schmidt-Hammer Typ LD wurden an den Geschiebesperren im Lammbachgraben insgesamt 38 Versuche durchgeführt. Dabei ergaben sich mittlere Rückprallwerte R zwischen 23 und 54. Der aus diesen Messungen abgeleitete Mittelwert für die Mörtel-festigkeit ergab sich zu 49 MN/ m 2 . Es ist zu beachten, dass lediglich Mörtelpartien geprüft werden konnten, die in einem guten bis sehr guten Zustand waren und zudem eine ausreichende Fugen-breite aufwiesen. In Mörtelfugen, die bereits deutliche Verwitterungsanzeichen aufwiesen konnte dieses Verfahren nicht angewendet werden. Aus zwei ausgeführten Kernbohrungen an den Sperren IV und IVa im Lammbachgraben konnten 2 Proben für einaxiale Druckversuche gewonnen werden. Die einaxialen Druckversuche an diesen beiden Kernproben wiesen mit 6,2 MN/ m 2 und 17,7 MN/ m 2 deutlich niedrigere Festigkeiten auf als die mit dem Schmidt-Hammer an den Bauwerksoberflächen der Sperren erzielten Werte. Im Inneren der geprüften Proben wurden deutliche Verfärbungen des Mörtels festgestellt (Abb. 27, rechts). Die braunen Verfärbungen im Mauerwerksmörtel weisen auf eine Durchsickerung des Mörtels bzw. der Bauwerke hin. 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 205 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Abb. 27: Probe P1 aus der Bohrung SB3, Sperre IVa, vor und nach dem Versuch 5. Forensische Analyse eines Stützbauwerks Abb. 28 zeigt ein Stützbauwerk, welches den Geländesprung zwischen einer Bahnstrecke und einer Straße sichert. Die Gesamtlänge des Bauwerks beträgt ca. 30m, seine maximale Höhe beträgt 3,20 m über GOK. Im Bauwerk integriert sind 2 Entwässerungsrohre und 10 Entwässerungsschlitze. Die große Anzahl an Entwässerungseinrichtungen, insbesondere im unteren Drittel der Wandhöhe, lässt auf einen entsprechend hohen Wasserandrang aus dem Bereich hinter der Mauer schließen. Die visuelle Bauwerksaufnahme zeigt eine Stützmauer aus vermörteltem Natursteinmauerwerk. Aufgrund von Unterschieden beim Mauerverband lassen sich drei Homogenbereiche HB 1, HB 2 und HB 3 unterscheiden (Abb. 28). Im Homogenbereich HB1 sind die größten Steine zu finden. Das Fugenbild ist weitgehend unregelmäßig und es wurden kleinere Steine zum Ausfüllen, d. h. „Auszwicken“, von Hohlräumen eingesetzt. Dies ist eigentlich eine Maßnahme, die bei Trockenmauerwerk angewendet wird. Nach den „Richtlinien für die Ausführung von Natursteinmauerwerk entsprechend den besonderen Bestimmungen der SBB“ von 1946 handelt es sich bei dem Mauerwerk um Bruchsteinmauerwerk, unregel-mäßig (vgl. Abb. 2). Nach der Empfehlung SIA V 178 von 1996 ist das Mauerwerk als Bruchstein-Zyklopenmauerwerk, Typ B1 anzusprechen. Nach der Norm SIA 266/ 2 handelt es sich um Bruchstein-mauerwerk, Verbandsart B. Abb. 28: Stützbauwerk bestehend aus drei Homogenbereichen HB 1, HB 2 und HB 3. Homogenbereich HB2 umfasst im Wesentlichen den mittleren Teil des Bauwerks (Abb. 28). Die Lagerfugen sind in diesem Homogenbereich durchlaufend, die Schichthöhen ± gleichmäßig. Die Steine sind in der Regel kleiner als die im HB1, die Fugen im Haupt weisen noch überwiegend Mörtel auf. Im Mauerwerk ist eine geneigte Lagerfuge erkennbar, die eine ehemalige Mauerkrone sein dürfte und die die Grenzlinie nach oben zum HB3 darstellt. Gemäß den Richtlinien von 1946 handelt es sich im HB2 um ein Bruchstein-mauerwerk, schichtenartig (vgl. Abb.2), nach der Empfehlung SIA V 178 um ein regelmäßiges Schichten-mauerwerk, Typ G4, nach der Norm SIA 266/ 2 um ein Bruchsteinschichtenmauerwerk, Verbandsart C. Für eine Einordnung als Schichtenmauerwerk, Verbandsart D, nach der Norm SIA 266/ 2 müsste der Nachweis erbracht werden, dass die Lagerfugen nicht nur in der Ansicht, sondern im gesamten Querschnitt des Mauerwerks einen horizontalen Verlauf haben. Dies wäre allenfalls durch Öffnen der Mauer zu erbringen. Unter dem Homogenbereich HB3 werden der oberste Teil des Mauerwerks sowie der nördlichste Teil des Bauwerks zusammengefasst (Abb. 28). Der nördlichste Teil des Bauwerks zeichnet sich gegenüber den beiden anderen Homogenbereichen vor allem durch einen erhöhten Anteil von sogenannten „Stehern“ aus. Darunter versteht man Mauerwerkssteine mit einem Verhältnis von Steinhöhe h zu Steinlänge l grösser 1. „Steher“ wirken sich auf die Statik eines Mauerwerks eher ungünstig aus und sollten beim Mauerwerksbau möglichst vermieden werden. Häufig sind „Steher“ in der Mauerwerkskrone als Abschlusssteine anzutreffen, dort ist ihre statische Wirkung jedoch von geringer Bedeutung. Die Lagerfugen sind im Homogenbereich HB3 durchlaufend, die Schichthöhen ± gleichmäßig. Die Fugen im Haupt sind vollständig vermörtelt. Gemäß den Richtlinien von 1946 handelt es sich beim Mauerwerk im HB3 um ein Bruchsteinmauerwerk, schichtenartig, nach der Empfehlung SIA V 178 um ein regelmäßiges Schichtenmauerwerk, Typ G4, nach der Norm SIA 266/ 2 um ein Bruchsteinschichtenmauerwerk, Verbandsart C. 206 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Den oberen Abschluss des Bauwerks bildet eine aufgesetzte Betonkrone. Auf die Betonkrone aufgelagert ist eine Betonplatte mit Geländer. Im mittleren Bauwerksteil kragt diese Platte über das Mauerwerk aus (Abb. 28). Aus der Geometrie der Homogenbereiche lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen ziehen: Die beiden Teilbereiche, die als Homogenbereich HB 1 bezeichnet werden, stellen Bereiche des ursprünglichen Bauwerks dar. Dieses Bauwerk muss in seinem Mittelteil einen Verbruch erlitten haben, der vermutlich auf die Einwirkung von Wasser zurückzuführen ist. Dafür spricht die hohe Anzahl an Entwässerungseinrichtungen im Bauwerk. Der Mittelteil wurde wieder aufgebaut (HB 2), allerdings nicht in dem gleichen Mauerverband des alten Bauwerks. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde das Bauwerk verlängert und erhöht (HB 3). Letztendlich wurde die Betonkrone und die Betonplatte auf das Bauwerk aufgebracht. Zur Ermittlung der Wandstärke wurden Tiefen-messungen in den Entwässerungseinrichtungen durch-geführt. Aus diesen Messungen lässt sich auf eine Mauerwerksstärke von ca. 0.8 m bis 1.1 m schließen. Zur Erkundung der Wandstärke und des Auf baus des Mauerwerks sowie des Untergrunds hinter dem Bauwerk wurde im HB 1, nahe der Grenze zum HB 2, eine Horizontalbohrung ausgeführt. Die Bohrung bestätigte die Wandstärke von ca. 1 m (Abb. 29). Im Gegensatz zur visuellen Aufnahme des Bauwerks, bei der von einem vermörtelten Mauerwerk ausgegangen worden war, zeigte die Kernbohrung auf, dass diese Vermörtelung des Mauerwerks zumindest in diesem Homogenbereich nicht durchgängig ist. Durch Hineinfassen in die Bohrung ließ sich ebenfalls feststellen, dass hinter der ersten Steinreihe kein Mörtel vorhanden und der Fugenraum leer ist bzw. teilweise Lockermaterial in Form von Sand enthält. Abb. 29: Kernbohrung zur Ermittlung der Wandstärke. Das bräunlich gefärbte Hinterfüllmaterial grenzt sich deutlich von dem Grau der erbohrten Mauerwerksteine ab. Es wurde mittels der Bohrung weiter festgestellt, dass zwar die Steine in der Ansichtsfläche gerichtet waren, hinter der ersten Steinlage aber überwiegend gerundete Steine mit einer eher glatten Oberfläche verbaut worden waren. Die runde Steinform ließ sich auch in Bereichen beobachten, in denen der Mörtel ausgebrochen bzw. verwittert war (Abb. 30). Die gerundeten Mauersteine für den Bau der Stützmauer dürften im Wesentlichen aus dem nahegelegenen Flussbett stammen. Für die rechteckförmigen Entwässerungsschlitze wurden diese Steine jedoch entsprechend gerichtet. Abb. 30: Im Bereich des fehlenden Mörtels ist die glatte Unterseite des Mauerwerksteins sichtbar Möglicherweise wurde die Vermörtelung im Haupt oder besser die Ausfugung nicht direkt bei der Erstellung des Bauwerks, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt angebracht. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass es sich hier nicht um vermörteltes Mauerwerk, sondern um Trockenmauerwerk handelt. Bei den Mauerwerksteinen handelt es sich im Wesentlichen um Sandsteine mit calcitischem Bindemittel. Die Gesteinsfestigkeit der Mauerwerk-steine wurde durch Hammerschlag gemäß ISRM (1980) abgeschätzt und die Gesteinsfestigkeit kann überwiegend als fest, zum Teil als mittelfest eingestuft werden. Dies entspricht einer Gesteinsfestigkeit > 20 MN/ m 2 , d. h. die Mindestdruckfestigkeit für Natursteine im Mauerwerksbau ist gegeben. Vereinzelt wurden Mauerwerksteine mit Abschalungen und Absandungen angetroffen. Am Bauwerk wurden 4 Vertikalprofile aufgenommen. Die Messungen wurden mit einem Leica-Distometer A8 ausgeführt. Die beiden Profile, die sich rechts bzw. links der Sondierbohrung befinden, zeigen eine Ausbauchung des Mauerwerks. Bezogen auf eine Gerade mit einem Anzug von etwa 8,5: 1 ergibt sich ein Verformungs-betrag von ca. 7.5 cm im unteren Drittel der Mauer. Für die Instandsetzung des Stützbauwerks wurden zwei Verfahren vorgeschlagen: • Ertüchtigung des Mauerwerks durch Injektionen und Vernadelung bzw. • Ausführung einer luftseitigen Stützmaßnahme in Form von vorgesetzten, rückverankerten Stahlbetonriegeln. 6. Sperre IVa, Lammbachgraben Die Sperre IVa ist Teil eines systematischen Verbaus des Lammbachgrabens oberhalb der Ortschaften Brienz, Schwanden und Hofstetten in der Schweiz (Abb. 31). Mit dem systematischen Verbau des Lammbachgrabens wurde nach zwei katastrophalen Murgängen im Jahre 1896 begonnen und es wurden über 20 Sperren, die meisten aus Bruchsteinmauerwerk, erstellt. Seit dem Bau der Sperren 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 207 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden ist es im Lammbachgraben nicht mehr zu solchen katastrophalen Murgängen gekommen. 2005 kam es jedoch zu einem Murgang im Glyssibach, bei dem zwei Personen ums Leben kamen und acht Häuser in Brienz zerstört wurden. Aus dieser Katastrophe heraus folgte, dass die Gefahrenkarte der Region Brienz, Hofstetten, Schwanden überarbeitet werden musste. Hierbei stellte sich die Frage nach dem Zustand und der Standsicherheit der mittlerweile über 100-jährigen Geschiebesperren aus Natursteinmauer-werk im Lammbachgraben. Der Bau der Sperre IVa erfolgte im Zeitraum 1906 bis 1912. Das Bauwerk ist mit einer Kronenlänge von 90 m die Sperre mit der größten Spannweite im Lammbachgraben. Gemäß einem Bericht aus dem Jahre 1914 wurden für den Bau der Sperre IVa 6000 m 3 Mauerwerk verbaut. In dem gleichen Bericht wird angegeben, dass die Sperrenhöhe in der Mitte der Abflusssektion 19 m beträgt. Die freie Standhöhe der Sperre an der Abflusssektion beträgt immer noch ca. 13 m. Es liegen keine Originalpläne mehr zum Bauwerk vor, d. h. die Tiefenlage der Gründungssohle des Bauwerks ist mit Ausnahme der Angabe für die Mitte der Abflusssektion nicht bekannt. Abb. 31: Der Lammbachgraben oberhalb der Gemeinden Brienz, Hofstetten und Schwanden Im Jahr 1976 wurde, nach einem Ausbruch des Mauerwerks unterhalb der Ostseite der Abflusssektion mit einer Fläche von ca. 4,5 x 4,5 m 2 und einer Tiefe von ca. 1 m sowie zwei Rissbildungen, von denen die eine von diesem Ausbruch aus nach oben bis zur Krone verlief und die andere vom Ausbruch aus nach unten bis in eine Tiefe von ca. 13 m dokumentiert wurde, als Instandsetzungsmaßnahme eine Betonplatte von 20 m Breite und 13 m Höhe auf der Luftseite vorgesetzt und gemäß Planunterlagen mit 18 Ankern rückverankert. Die Wandstärke dieser Platte wird in den vorhandenen Planunterlagen von 1976 an der Plattenoberkante auf der Westseite der Platte mit 0,95 m, auf der Ostseite mit 0,75 m angegeben. Im Bereich des Ausbruchs beträgt die Plattenstärke an der Oberkante jedoch lediglich 0,3 m. Es liegt nahe, dass der Ausbruchsbereich mit Beton verfüllt wurde. Dies geht aber aus den noch vorhandenen Unterlagen nicht hervor. Gemäß den vorhandenen Schnitten nimmt die Stärke der Betonplatte nach unten hin zu, der Anzug wird mit 10: 1 angegeben. An der Rückseite der Sperre ist in den Planunterlagen ein Aushub eingezeichnet, der im Bereich des Ausbruchs bis in eine Tiefe von ca. 6,5 m reicht. In diesem Aushub ist an der Rückseite des Mauerwerks eine vertikale Betonplatte mit einer Stärke von 20 cm dargestellt, die bis zur Unterkannte einer Dole geführt ist. Am unteren Ende dieser Platte schließt eine von der Sperrenrückwand aus ansteigende ca. 3,5 m lange Betonplatte an, die ein Gefälle von 20 % aufweist. Die gesamte Konstruktion weist in lateraler Ausdehnung eine Trogform auf und soll anfallendes Wasser zur Dole hin ableiten. Die wasserführende Dole ist in der Bauwerksansicht in Abb. 32 deutlich zu erkennen. In den Planunterlagen aus dem Jahr 1976 waren im Bereich des Ausbruchs ursprünglich 4 Anker mit einer Tragkraft von je 84 t und auf gleicher Höhe im Bereich des östlichen Plattenrands 2 Anker mit einer Tragkraft von je 56 t vorgesehen. Handschriftlich vermerkt ist auf den Plänen, dass die Anzahl der Anker wohl reduziert wurde, d. h. lediglich 2 Anker mit je 84 t bzw. ein Anker mit 56 t. Die Länge der Anker ist mit 23 m angegeben. Eine zweite Instandsetzungsmaßnahme erfolgte im Jahr 2000 an den Sperrenflügeln nachdem dort Risse im Mauerwerk des Westflügels festgestellt worden waren. Als Instandsetzungsmaßnahme wurden hier rück-verankerte Betonriegel an beiden Sperrenflügeln erstellt und zwar drei am Ostflügel der Sperre und sieben am Westflügel (Abb. 32). 208 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Abb. 32: Sperre IVa im Lammbachgraben bei Brienz, Schweiz Die Betonriegel haben eine Breite von 1,3 m. Der auf der Westseite äußerste Betonriegel wurde mit 4 m breiter ausgeführt und mit einem Gerinne versehen, so dass Oberflächenwasser dort kontrolliert über die Sperre abgeleitet werden kann. Zudem wurde die Sperrenkrone erneuert. Für die Rückverankerung der Betonriegel wurden insgesamt 33 Anker installiert, 26 am Westflügel und 8 am Ostflügel. Die Festsetzkraft der Anker wird mit jeweils 250 kN in den Planunterlagen angegeben. Bei den Ankern am Ostflügel der Sperre IVa ergaben sich bei den Spannproben folgende Probleme: • An dem der Betonplatte am nächsten liegenden Betonriegel wurden die Prüfkräfte von 538 kN bei der Spannprobe am 19.9.2000 bei keinem der Anker erreicht; die Anker wurden ausgezogen. Am 5.10.2000 ist eine zweite Spannprobe ausgeführt worden, bei der am obersten Anker bei der Laststufe 538 kN noch zu große Verformungen auftraten, so dass der Versuch abgebrochen werden musste. Darauf hin wurde die maximale Prüfkraft auf 400 kN festgelegt. Die Anker wurden mit 250 kN festgesetzt • Beim mittleren Anker des mittleren Betonriegels gelang es nicht eine Ankerkraft aufzubauen. Im Protokoll ist vermerkt: „Anker trägt keine Last.“ • Für die beiden Anker des äußeren Betonriegels wurde die Festsetzkraft auf 240 kN herabgesetzt Fünf der Anker wurden als Messanker installiert. Die Messanker befinden sich sämtlich im westlichen Sperrenflügel. Für den Zeitraum 2003 bis 2009 zeigen die Messanker eine Zunahme der Ankerkräfte auf. Bei einem Messanker wurden Ankerkräfte von 404 kN (zu Beginn der Messung am 23.10.2002) bis 431 kN (letztes zur Verfügung gestelltes Datenblatt vom 22.06.2008) gemessen, d. h. deutlich höhere Werte als die in den Planunterlagen angegebene Festsetzkraft. Allerdings ist tatsächlich keine Festsetzkraft für den Anker im Protokoll vermerkt. Für die Ablesung der Kraftmessdose am Spanntag werden jedoch 400 kN angegeben, was wieder mit den Folgeablesungen zusammenpasst. Eine Erklärung für die gemessenen Werte könnte sein, dass dieser Anker mit einer zu hohen Festsetzkraft von 400 kN anstatt 250 kN installiert wurde. In den vorliegenden 17 Bohrprotokollen für die Ankerbohrungen der Instandsetzung 2000 am West-flügel wird angegeben, dass Bruchsteinmauerwerk mit einer Stärke von 4,6 m durchbohrt wurde. Im Plan ist der Mauerquerschnitt mit einer vertikalen Linie auf der Luftseite und mit einer mit der Tiefe zunehmenden Wandstärke auf der Bergseite dargestellt. Die Kronenstärke wird mit 3,20 m angegeben. Gemäß einem Längsschnitt zur Verbauung des Lammbachgrabens aus dem Jahr 1913 ist hingegen die Mauerrückseite vertikal und die Mauervorderseite ist ab ca. 6 m unterhalb der Krone mit einem leichten Anzug dargestellt (Abb. 33). Abb. 33: Querschnittsformen der Sperre IVa nach verschiedenen Unterlagen und vermuteter tatsächlicher Querschnitt bei Betonriegel D, Westflügel der Sperre Sinniger (2000) hat in seinem Bericht zur Prüfung der vorgeschlagenen Instandsetzungsmaßnahmen für die Variante mit den Betonriegeln festgehalten: „Als Nachteil der Ankerlösung ist anzuführen, dass oberflächli- 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 209 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden che Schwachstellen der heutigen Mauer gezielt und einzeln behandelt werden müssten.“ Die im Bericht Sinniger (2000) aufgeführten Empfehlungen einer gezielten Behandlung oberflächennaher Schwachstellen wurden jedoch nicht ausgeführt. 6.1 Ausgeführte Untersuchungen und Bauwerksgeometrie Um den Bauwerkszustand und die Standsicherheit der Sperre IVa beurteilen zu können, wurden die folgenden Maßnahmen im Projektverlauf durchgeführt: • Auswertung der topographischen Veränderungen im Bereich der Sperre IVa im Laufe der Jahre. • Geodätische Vermessung der sichtbaren Sperrenteile. • Visuelle Aufnahme des Bauwerks und Beurteilung des Mauerwerks mit dem Luzerner Rating System. • Freilegung der Sperrenkrone und Ausführung von Baggerschürfen auf der Bergseite der Sperre. • Durchführung von Erkundungsbohrungen und Befahrung der Bohrungen mit einer Kamera. • Durchführung von Versuchen zur Ermittlung von Kennwerten am Bauwerk und im Labor. • Überprüfung der Existenz und des Zustands von zwei Ankerköpfen. Oberhalb der Sperre IVa befinden sich erhebliche Massenanlagerungen. Aus den fotogrammetrischen Auswertungen ergab sich für das Verlandungsgefälle oberhalb der Sperre IVa ein Wert von ca. 32 %. Dieser Wert liegt deutlich über dem für den Verbau des Lammbachgrabens erwünschten Gefälle in diesem Bereich von 14.5 %. Es liegt zudem auch deutlich über dem Gefälle, welches für den Lammbachgraben vor dem Verbau angegeben wird. Die theoretische Grenzneigung für die Auslösung von Murgängen in einem Gerinnebett bei einem Lockergestein mit einem Reibungswinkel von ca. 33 ° bis 37 ° wird mit etwa 21 % bis 30 % angegeben (vgl. Rickenmann, 2007), d. h. sowohl was die Materialmenge als auch das Gefälle betrifft, sind die Voraussetzungen für das Auslösen eines Murgangs im Bereich oberhalb der Sperre IVa gegeben. Der Lastfall Murgang ist somit bei Betrachtungen zur Standsicherheit des Bauwerks zu berücksichtigen. In den vorhandenen Unterlagen gab es unterschiedliche Angaben zur Geometrie des Bauwerks Sperre IVa (vgl. Abb. 33). Aufgrund der Vermessungsdaten, dem Freilegen der Sperrenkrone sowie der durchgeführten Baggerschürfe auf der Bergseite der Sperre lassen sich folgende Angaben zur Geometrie machen: • Das Freilegen der Hinterkante der Mauerkrone ergab für die Flügel eine Mauerwerksstärke zwischen 2,8 und 3 m an der Krone. Die Abflusssektion der Sperre IVa weist eine Verdickung auf. Das Vermessungsergebnis zeigt eine signifikante Zunahme der Sperrenstärke vom Westteil der Abflusssektion zum Ostteil der Abflusssektion hin. • Die Vermessungsdaten der Draufsicht zeigen einen nahezu geraden Verlauf beim Westflügel der Sperre und einen gekrümmten Verlauf beim Ostflügel. Beim Westflügel ist kein Anzug erkennbar, während der Ostflügel einen deutlichen Anzug aufweist. Über einen Anzug im Bereich der Abflusssektion, wie im Längsschnitt von 1913 angegeben, kann heute keine Aussage mehr gemacht werden, da im Rahmen des Bauprogramms 1976 dort eine Betonplatte vorbetoniert wurde. Die geodätische Vermessung liefert also hier lediglich den Anzug der vorbetonierten Betonplatte. • Die durchgeführten Baggerschürfe (Abb. 34 bzw. Abb. 35) zeigten eine vertikale Rückwand für die Sperre IVa, d. h. die Angaben bezüglich der Geometrie des Mauerquerschnitts in den Planunterlagen aus dem Jahr 2000 konnten nicht belegt werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass das Bauwerk auf der Westseite einen rechteckigen Querschnitt besitzt und der Querschnitt auf der Ostseite durch den Anzug nur geringfügig von einem rechteckigen Querschnitt abweicht. • In den Planunterlagen von 1976 ist ein Aushub eingezeichnet, der im Bereich des Ausbruchs bis in eine Tiefe von ca. 6.5 m reicht. In diesem Aushub ist an der Rückseite des Mauerwerks eine vertikale Betonplatte dargestellt, die über die gesamte Breite der Abflusssektion reicht. Die Baggerschürfe haben aufgezeigt, dass diese Betonplatte signifikant kleiner ausgeführt wurde als auf den Planunterlagen von 1976 dargestellt, denn auf der Westseite der Abflusssektion konnte die Betonplatte nicht nachgewiesen werden (Abb. 35). • Auch der Aushub bis in eine Tiefe von 6.5 m und die in den Planunterlagen dargestellte Trogform zur Ableitung des Wassers zur Dole hin wurde so nicht ausgeführt. Stattdessen wurde eine Betonsohle in ca. 2-m Tiefe angetroffen, die jedoch nicht über die gesamte Breite der Abflusssektion ausgeführt wurde. Weiterhin wurde festgestellt, dass hinter der Sperre im Bereich der Dole ein Rohr eingebaut wurde, welches vermutlich bis auf das Niveau der Dole hinabreicht und so der Entwässerung dient (Abb. 36). • Während im Baggerschurf auf der Westseite der Abflusssektion der Anker gemäß den Planunterlagen von 1976 angetroffen wurde (Abb. 35), fehlte das Gegenstück im Baggerschurf auf der Ostseite (Abb. 34). • Die Existenz des Doppelankers im Bereich des Mauerwerksausbruchs konnte durch Freilegen der Ankerköpfe nachgewiesen werden. Bei den angetroffenen Ankern handelt es sich um Litzenanker mit 6 Litzen mit einem Durch-messer von je 15 mm. Der Litzenüberstand betrug jedoch lediglich 1,4 bis 2 cm, so dass keine Prüfung der Anker durchgeführt werden konnte. 6.2 Mauerwerk Die Sperre IVa besteht aus Bruchsteinmauerwerk, welches im unteren Teil als unregelmäßig zu bezeichnen ist und eine höhere Variation in der Steingröße aufweist. Je weiter man zur Sperrenkrone nach oben geht, umso regelmäßiger erscheint das Mauerwerksbild. Im oberen Sperrenteil treten weit durchgehende Lagerfugen auf und die Variation der Steingröße nimmt ab. Der obere Sperrent- 210 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden eil entspricht somit in der Ansicht mehr einem regelmäßigen Bruchstein-Schichtenmauerwerk. Abb. 34: Baggerschurf auf der Ostseite der Abflusssektion der Sperre IVa mit einer Betonplatte hinter dem Mauerwerk und einer betonierten Sohle, aber fehlendem Anker. Abb. 35: Baggerschurf auf der Westseite der Abflusssektion ohne Betonplatte, aber mit dem Anker gemäß den Planunterlagen von 1976. Abb. 36: Eingebautes Rohr im Baggerschurf Ost. Allerdings gibt es auch Steinlagen geringerer Höhe im unteren Bauwerksbereich und Bereiche mit unregel-mäßigem Bruchsteinmauerwerk im oberen Bauwerks-bereich. Eine Unterteilung in Homogenbereiche wurde daher nicht vorgenommen. Neben kompakten Blöcken aus Helvetischem Kieselkalk wurden im Mauerwerk der Sperre IVa auch Mauerwerksteine mit einer blättrigen Struktur eingebaut, die eine höhere Verwitterungsanfälligkeit aufweisen als die kompakteren Kieselkalke. Die kompakteren Kieselkalke in der Sperre IVa weisen in der Regel noch eine hohe Druckfestigkeit von > 50 MN/ m 2 auf, d. h. es ergibt sich ein heller Klang beim Hammerschlag-Test. Bei den Mauerwerksteinen mit blättriger Struktur ergibt sich hingegen beim Hammerschlag-Test ein dumpfer Klang. Dies deutet auf Festigkeiten im Bereich zwischen 1 bis maximal 25 MN/ m 2 hin. Auch die Fugen zeigen zum Teil eine deutliche Auswitterung auf der Talseite des Bauwerks (Abb. 37). Abb. 37: Stark anwitterte Mauerwerkssteine mit blättriger Struktur und zu Lockergestein verwittertem Mörtel am Westflügel. Die im Bericht Sinniger (2000) aufgeführten Empfehlungen einer gezielten Behandlung oberflächen-naher Schwachstellen wurden bei der Instandsetzung im Jahr 2000, wie vorstehend erwähnt, nicht ausgeführt. Daher fanden sich auch Bereiche im Mauerwerk mit offenen Fugen, die zum Teil bis in Tiefen von 35 cm bis 50 cm reichten (Abb. 38). D. h. hier liegt eine Schwächung des Mauerquerschnitt von mehr als 10 % vor. Bei Steintiefen, die nicht wesentlich grösser sind als die offenen Fugen, ist langfristig mit Ausbrüchen im Mauerwerk zu rechnen. Die Inspektion des Mauerwerks in den Baggerschürfen auf der Bergseite der Sperre IVa ergab erwartungs-gemäß einen deutlich besseren Zustand des Mauerwerks in der Ansichtsfläche gegenüber dem Mauerwerk auf der Talseite. Die Fugen waren auch hier weit weniger tief ausgewittert. Dennoch gab es auch Bereiche, in denen der Mörtel an der Oberfläche verwittert war. Die Verwitterungsstufen reichten dabei von „stückig“ (Abb. 24) bis hin zu „zu Lockergestein verwittert“. 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 211 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Abb. 38: Bereiche mit offenen Mauerwerksfugen mit Tiefen von bis zu 50 cm (rechts), Sperre IVa 6.3 Kernbohrung und Kamerabefahrung Zur Erkundung des Sperreninneren sollte eine Kern-bohrung ausgeführt werden. Da zwischenzeitlich der Baggerschurf jedoch wieder weitgehend verfüllt war, sollte die Bohrung auf der Ostseite im ansteigenden Bereich der Abflusssektion oberhalb der Betonplatte ausgeführt werden. Die Bohrung SB 2 musste jedoch bereits nach ca. 1 m aufgegeben werden, da sich die Bohrung als nicht stabil herausstellte. Auch der Kerngewinn der Bohrung war gering. Die Befahrung dieser Bohrung mit einer Bohrlochkamera zeigte dann auch deutliche Ausbrüche in den Mörtelfugen. Etwas seitlich nach Osten versetzt konnte mit der Bohrung SB 3 die Sperre IVa vollständig durchörtert werden. Im Kerngewinn aus der Bohrung SB 3 überwiegen Bohrkernstücke aus den Mauerwerksteinen. Der Kerngewinn aus den Mörtelstrecken war gering. Abb. 39 zeigt eine Aufnahme aus der Kamerabefahrung dieser Bohrung etwa in der Mauermitte. Das Bild zeigt eine nahezu glatte Bohrlochwandung sowohl im Bereich der Mauerwerkssteine als auch im Bereich des Mörtels. Beim Mörtel sind die groben Komponenten des Zuschlagkorns deutlich in der Aufnahme zu erkennen. Die Aufnahmen zeigten zudem nur wenige Ausbrüche in den Mörtelstrecken. Durch die Kamerabefahrung der Bohrungen wurde einerseits deutlich, dass der Mörtelanteil im Mauerwerk der Sperre deutlich höher liegt als man es aufgrund des Kerngewinns aus den Bohrungen erwarten konnte. Andererseits zeigen die Aufnahmen auch, dass der Verbund zwischen Steinen und Mörtel im Innern der Mauer noch weitgehend gegeben ist. Die aus den Bohrungen gewonnen Mörtelproben zeigen aber auch, dass das Mauerwerk durchsickert wurde (Abb. 27). Abb. 39: Aufnahme aus der Kamerabefahrung der Bohrung SB3, Sperre IVa, ca. Mauermitte, links unten Stein, rechts oben Mörtel 6.4 Analyse des Schadensfalls 1976 Der Anlass für die Instandsetzungsmaßnahme mit der rückverankerten Betonplatte des Bauprogramms von 1976 war ein Mauerwerksausbruch von ca. 4,5 m Breite, ca. 4,5 m Höhe und ca. 1 m Tiefe. In den Planunterlagen, in denen der Ausbruch skizziert ist, ist mit der gleichen Signatur jeweils eine Linie in Richtung Abflusssektion bzw. in Richtung Fundation bis zur damaligen Geländeoberkante auf der Luftseite gezogen. Da die Linien die gleiche Signatur wie der Mauerwerks-ausbruch haben, ist davon auszugehen, dass sie einen Riss darstellen, der durch den sichtbaren Bereich der Mauer von oben bis unten verläuft. Eine Legende, die die Liniensignatur erläutert, fehlt aber leider auf dem Plan. Die Sperre IVa weist an der Ostseite der Abflusssektion eine signifikante Verdickung auf. Die Kronenstärke beträgt dort ohne die vorgesetzte Betonplatte 4.75 m. Andererseits besitzt die Betonplatte gerade im Bereich des Mauerausbruchs ihre geringste Stärke. Im Baggerschurf auf der Ostseite der Abflusssektion wurde der in den Planunterlagen eingetragene Anker nicht gefunden. Dies sowie noch vorhandene Skizzen deuten darauf hin, dass es nicht nur einen vertikalen Riss im Mauerwerk parallel zur Bachachse gegeben hat, sondern auch eine Öffnung im Mauerwerk senkrecht zur Bachachse, d. h. parallel zur Sperrenkrone, stattgefunden hat. Wenn man von den Skizzen ausgeht, war ca. 1,2 m hinter der luftseitigen Bauwerkskante der Abfluss-sektion eine klaffende Fuge mit ca. 50 cm Öffnungs-weite entstanden und die Vorderkante des Bauwerks dort entsprechend nach vorne geschoben worden. Dies würde einerseits die signifikante Verdickung der Mauerkrone in diesem Bereich erklären und andererseits auch erklären, warum bei den Instandsetzungsarbeiten auf den Anker in diesem Bereich verzichtet wurde. Welches Ausmaß die geöffnete Fuge hatte und inwieweit das umgebende Mauerwerk Schaden genommen hat, ist nicht bekannt, da eine über die Skizzen hinausgehende Dokumentation des Schadens an der Sperre IVa oder Fotos dazu nicht vorliegen. Das Fehlschlagen der Boh- 212 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden rung SB 2 kann aber auch als Hinweis auf eine Störung des Mauerverbands über die Ausdehnung der Betonplatte hinaus gedeutet werden. 6.5 Statische Berechnungen Weder aus der Entstehungszeit der Sperre noch aus der Zeit der ersten Instandsetzung im Jahr 1976 liegen statische Nachweise zur Sperre IVa vor. Sinniger (2000) führt eine „Berechnung der vorhandenen Sanierung 1977“ aus dem Jahre 1999 an, bei der angenommen wurde, dass die gesamte Mauer aus Kies mit einem Reibungswinkel von lediglich 33° besteht. Die Schlussfolgerung aus diesem Ansatz war: „Die Standsicherheit der Sanierung von 1977 ist nicht gewährleistet.“ Welche Bauwerksgeometrie diesen Berechnungen zugrunde gelegt wurde ist jedoch nicht angegeben. Weiter führt Sinniger (2000) aus, dass das Rechenmodell der Sperre einerseits die Geometrie der Sperre und andererseits deren Materialauf bau berücksichtigen muss, so dass die Stabilität der Sperre, wenn auch mit kleinem Sicherheitsfaktor, nachgewiesen werden kann. Er schlägt den in Abb. 40 dargestellten Bauwerksquerschnitt vor. Ein solcher Bauwerks-querschnitt muss jedoch aufgrund der vorliegenden Unterlagen zu den Sperren im Lammbach als untypisch angesehen werden. In den vorhandenen Unterlagen sind die Sperren mit schlanken, annähernd rechteckigen Querschnitten dargestellt. Abb. 40: Der von Sinniger (2000) vorgeschlagene Bauwerksquerschnitt zur Überprüfung der Instand-setzungsmaßnahmen. Für die von Sinniger veranlassten Berechnungen wurde ein Programm verwendet, welches die Trapezform des vorgeschlagenen Querschnitts in Abb. 40 nicht berücksichtigen konnte. Stattdessen wurde ein Querschnitt mit einer vertikalen Rückwand gewählt. Um das Modell flächengetreu zu gestalten, ergibt sich dann jedoch eine Kronenstärke von 5,5 m für dieses Modell (Abb. 33). Die an der Sperre IVa ausgeführten Untersuchungen haben hingegen aufgezeigt, dass die Kronenstärke, mit Ausnahme der Abflusssektion 3 m beträgt. Mit Hilfe der Baggerschürfe konnte auch eine Trapezform des Mauerquerschnitts ausgeschlossen werden. Vielmehr ist aufgrund der alten Planunterlagen sowie der vorstehend genannten Untersuchungen am Bauwerk von einem nahezu rechteckigen schlanken Querschnitt des Bauwerks auszugehen. Geht man von einem alten Foto der Sperre IVa aus, so ist auch die Bauwerkshöhe in dem von Sinniger betrachteten Querschnitt deutlich größer (Abb. 33). Mit Berechnungen in 2D mit einem solchen Querschnitt konnte allerdings die Standsicherheit des Bauwerks nicht nachgewiesen werden. Die Sperre IVa weist in ihrem Verlauf eine leichte Krümmung auf. Es war daher davon auszugehen, dass eine dreidimensionale Betrachtung der Sperre zu anderen Ergebnissen führen würden als die 2D-Betrachtungen. Sowohl aufgrund ihrer Bedeutung für das Gesamtsystem „Verbauung Lammbach“ als auch aufgrund ihrer Komplexität in Geometrie und bezüglich der Baustoffe wurden zur Untersuchung des Tragverhaltens der Sperre IVa numerische 3D-Berechnungen nach der Methode der Finiten Elemente (FEM) durchgeführt (Abb. 41). In diesen Simulationen wurde versucht die Bauabläufe und Lastfälle möglichst realitätsnah nachzubilden. Andererseits mussten aber auch Vereinfachungen hingenommen werden, damit die Modelle noch handhabbar waren. So wurde z. B. für die Betonplatte und die Betonriegel jeweils eine konstante Dicke von einem Meter im Modell angenommen. Auch musste die Art der Anker auf zwei Typen reduziert werden. In den Berechnungen wurde dem Untergrund ein elastisches Verhalten zugewiesen. Für das Sperrenbauwerk wurde das Bruchgesetz nach Mohr- Coulomb verwendet. Zudem wurde für das Mauerwerk eine Zugspannungsbegrenzung (tension cut-off) eingeführt und deren Größe variiert, um den Einfluss auf das Tragverhalten des Bauwerks zu untersuchen. Das Tragverhalten der Sperre wurde sowohl für den Lastfall „Volleinstau“ als auch für den Lastfall „Überströmung durch Murgang“ untersucht. Dabei konnte gezeigt werden, dass dem Lastfall „Volleinstau“ eine wesentliche Bedeutung zukommt, da er zu einem großen Teil zu den Verformungen des Systems „Sperre IVa“ beiträgt. Der zusätzliche Beitrag durch einen anschließenden Lastfall „Überströmung durch Murgang“ ist dagegen vergleichsweise gering. 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 213 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Abb. 41: 3D-FE-Netz der Sperre IVa bestehend aus 25‘160 3D-Elementen, 49 Ankerelementen. 1‘393 Interface Elementen und 20 Materialien. Die durchgeführten Berechnungen haben ergeben, dass bei einer Mauerwerkskohäsion von 400 kN/ m 2 oder mehr und einem Reibungswinkel von 40° die Standsicherheit sogar noch dann gegeben ist, wenn eine Zugspannungsbegrenzung f t von lediglich 10 kN/ m 2 vorausgesetzt wird. Zwar treten große plastische Zonen am Bauwerk auf, die als lokale Schädigungen des Mauerwerks bzw. lokale Verschiebungen der Mauerwerksteine verstanden werden können, aber die Verformungen insgesamt sind begrenzt. In den Berechnungen haben sich für das Bauwerk Maximalverformungen von kleiner 8 cm ergeben. Im Fall von Volleinstau und Murgangsüberströmung kommen Ankerkräfte zwar nahe an die zulässige Ankerkraft heran, diese wird jedoch nicht überschritten. 7. Schlussfolgerungen Zur Beurteilung der Standsicherheit von Stützbauwerken aus Natursteinmauerwerk werden sowohl die Geometrie der Bauwerke als auch aktuelle Materialeigenschaften benötigt. Oftmals stehen jedoch keine oder nur lückenhafte Planunterlagen zur Verfügung und Informationen zu den Baustoffen, Mauerwerksteine und Mörtel, fehlen ganz. Da Stützbauwerke nur von einer Seite zugänglich sind, ist, wenn keine Pläne vorhanden sind, die Ermittlung der Bauwerksgeometrie oftmals sehr aufwändig. Der Schlankheitsgrad der Mauer und die Querschnittsform der Mauer sind für die Beurteilung der Stand-sicherheit von großer Bedeutung. Während sich die Bauwerkshöhe meist mit ausreichender Genauigkeit direkt messen lässt, gestaltet sich die Ermittlung der Wandstärke bzw. der Querschnittsform meist deutlich aufwändiger. Zerstörungsfreie Messverfahren können bei der Ermittlung der Bauwerksgeometrie hilfreich sein. Es ist dabei jedoch zu beachten, dass ein ausreichender Kontrast zwischen Bauwerk und Hinterfüllung vorhanden sein muss. Messverfahren mit akustischen Wellen sind bei Trockenmauerwerk in der Regel ungeeignet. Mehrfach musste bei Bauwerken festgestellt werden, dass diese aus Trockenmauerwerk bestehen, dessen Fugen nachträglich im Haupt mit Mörtel verfüllt wurden. Die rein visuelle Beurteilung solcher Bauwerke oder Bauwerksteile führt dann zu dem Fehlschluss, dass es sich hierbei um vermörteltes Mauerwerk handelt. In solchen Fällen können auch Messverfahren mit akustischen Wellen keine brauchbaren Ergebnisse liefern. Werden Bohrungen an einem Stützbauwerk ausgeführt, empfiehlt es sich diese Bohrungen auch mit einer Kamera zu befahren. Die Aufnahmen der Kamera geben in der Regel das Verhältnis von Mörtel zu Mauerwerk-steinen besser wieder als der Kerngewinn aus der Bohrung. Auch lässt sich der innere Zusammenhalt des Mauerwerks so besser einschätzen. Die Ermittlung des Anteils und die Positionen von Bindersteinen im Mauerwerk können mit zerstörungs-freien Prüfverfahren ermittelt werden. Sind Planunterlagen von früheren Instandsetzungs-arbeiten vorhanden, so empfiehlt es sich diese Unterlagen kritisch zu hinterfragen. Es kann durchaus vorkommen, dass die durchgeführten Arbeiten signifikant von den vorhandenen Planunterklagen abweichen. Bei einfachen Stützbauwerken aus Natursteinmauer-werk kann die Festigkeit der Steine meist mit ausreichender Genauigkeit mit der Hammerschlag-methode ermittelt werden. Die Methode erlaubt es auch, rasch einen Überblick über eventuelle Schwächezonen im Mauerwerk zu bekommen. Bei der Ermittlung der Steinfestigkeit am Bauwerk mit dem Schmidt-Hammer ist bei einer Umrechnung der Rückprallwerte in Festigkeitswerte auf die Verwendung eines auf den Gesteinstyp abgestimmten Berechnungsansatzes zu achten. Die Ermittlung von Mörtelkennwerten sowohl direkt am Bauwerk als auch an Proben aus dem Bauwerk bleibt problematisch. Zum einen können am Bauwerk nur Partien geprüft werden, die noch in einem guten bis sehr guten Zustand sind und damit in der Regel nicht repräsentativ für das Bauwerk sind. Zum anderen enthalten die Mörtel der alten Bauwerke häufig grobe Zuschlagstoffe, die sowohl bei der Prüfung am Bauwerk als auch im Labor zu unrealistischen Messergebnissen führen können. Wenn der Nachweis der Standsicherheit eines Stützbauwerks mit Hilfe von einfachen 2D-Modellen nicht gelingt, obwohl das Bauwerk seit Jahrzehnten besteht, kann oftmals der Nachweis durch eine dreidimensionale Betrachtung der Lastabtragung erbracht werden. 214 9. Kolloquium Erhaltung von Bauwerken - Februar 2025 Hundertjährige Stützbauwerke aus Natursteinmauerwerk - Kriterien zur Beurteilung der Stabilität, forensische Analyse und Untersuchungsmethoden Literatur AYDIN, A. BASU, A.: The Schmidt hammer in rock material characterization, Engineering Geology, 81, 2005 CHAN, Y. 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