eJournals

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2001
241-2
KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica ��r: ·; .: �J 01" l/ 2 An International Journal of Semiotics echnik als Ze · chensystem in Literatur un Medien n M1cha J itzn , nn gtlW Gunter Narr Verlag Tübinge-n KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 24 (2001) · No.1-2 Special Issue Technik als Zeichensystem in Literatur und Medien Herausgegeben von Michael Titzmann ARTICLES Michael Titzmann Zur Funktionalisierung von Elementen der "Technik" in Literatur und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Jan-Oliver Decker Körper/ Arzt/ Medizinffechnik. Fallbeispiele zur Konzeption der Person in der deutschen Literatur 1730-1830 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Katja Schneider I Gustav Frank Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938): Semiotische Voraussetzungen und sprachtheoretische Folgen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Karl Leydecker Die Technik im Drama des Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 HansKrah Atomforschung und atomare Bedrohung. Literarische und (populär-)wissenschaftliche Vermittlung eines elementaren Themas 1946-1959 . . . . 83 Addresses of Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Publication Schedule and Subscription Information The joumal appears 2 times a year. Annual subscription rate € 82,- (special price for private persons € 56,-) plus postage. Single copy (double issue) € 48,plus postage. Tue subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes ofthe journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2002 · Gunter Narr Verlag Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, sind vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form-durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren -reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendungen, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den privaten Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Nagel, Reutlingen Druck und Verarbeitung: ilmprint, Langewiesen ISSN 0171--0843 ISBN 3-8233-9955-1 KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 24 (2001) · No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Zur Funktionalisierong von Elementen der Technik in Literatur und Medien Michael Titzmann Die folgenden Beiträge wurden in ihrer ursprünglichen Form beim 9. Internationalen Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Semiotik im Oktober 1999 an der TH Dresden im Rahmen der Sektion Technik als Zeichensystem in Literatur und Medien zur Diskussion gestellt. Leider hat sich zwar nur ein Teil der Beiträger dieser Sektion zu einer ausgearbeiteten Fassung ihrer Vorträge entschließen können: aber dieser Teil verdient es, gedruckt zu werden, wenngleich zu bedauern ist, daß die Beiträge zu Film, Fernsehen und neuen Medien entfallen sind, zumal Elemente aus dem Bereich "Technik" ja im frühen Film der 20er Jahre eine erhebliche Rolle spielen. Obwohl vermutlich die meisten Leser des Kongreßprogramms beim Stichwort "Technik" vor allem an jene neuen Herstellungsverfahren und Instrumente gedacht haben werden, die in den westlichen Kulturen seit dem Beginn der Industrialisierung sukzessiv erfunden wurden, muß natürlich festgehalten werden, daß jede menschliche Kultur über ''Technik(en)" verfügt - und das gilt a fortiori für die europäische Zivilisation seit der Renaissance, die ja auch theoretische Diskurse über Technik hervorgebracht hat, so, um nur ein Beispiel zu nennen, etwa Agricolas De re metallica. Es ist insofern bedauerlich, daß die publizierten wie unpublizierten - Beiträge der Sektion überhaupt erst mit der Aufklärung einsetzen, daß das 19. Jahrhundert praktisch nicht vertreten ist, daß der Schwerpunkt eindeutig im 20. Jahrhundert lag. Heuristisch wird man wohl zwischen "techni/ ; chen Verfahren", den kulturellen Praktiken, mit deren Hilfe· Artefakte hergestellt werden, und "technischen Instrumenten" zur Herstellung solcher Artefakte unterscheiden können, wobei die letzteren natürlich ebenso den Faustkeil wie alle Formen von Maschinen umfassen. Mit Hilfe von Verfahren werden Instrumente hergestellt und die Verfahren können sich ihrerseits unterschiedlichster Instrumente bedienen. Das Endprodukt der Schritte des technischen Prozesses wären dann "Gebrauchsgüter", ob sie nun dominant ästhetischen, rituellen, kulinarischen, vestimentären, usw. Charakter haben oder selbst wiederum in anderer Weise als Nahrung und Kleidung dominant instrumentellen Charakter haben, so etwa die Instrumente der Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme, des Angriffs oder der Verteidigung, der Fortbewegung. Jedes "Instrument" kann natürlich selbst als Zeichen etwa ästhetische oder ideologische Werte transportieren; die Instrumente des Kochens wie die des Kriegs können auch ästhetische Objekte sein, die Instrumente der Fortbewegung mögen auch mit sozialen und ideologischen Werten korreliert sein (z.B. Wahl der Automarke). Natürlich haben die Verfahren und Instrumente der Technikebenso wie die Endprodukte dieser Technik, die konsumierten, benutzten Gebrauchsgüter, eine semiotische Komponente: Alles, was im Rahmen der kulturell verfügbaren Mittel und ohne Beeinträchtigung des Verwendungszwecks auch anders auf andere Weise geschehen oder anders gestaltetsein könnte, hat unvermeidlich zugleich zeichenhaften Status und trägt Bedeutung; 4 Michael Titzmann wo die Epoche/ Kultur unter ihren Alternativen, bewußt oder nicht, auswählt, bringt sie Bedeutung hervor, ihr bewußte oder nicht bewußte. Aber nicht darum, ob und inwiefern ein Element der "Technik"(= Verfahren oder Instrument) selbst schon welche Bedeutung in seinem kulturellen Kontext transportiert, ging es in dieser Sektion. Es ging darum, wie mit dem Bereich der epochal/ kulturell verfügbaren Technik (im oben vorläufig-vage umschriebenen Sinne) von jener Klasse sprachlicher Äußerungen, die man "Literatur" nennt (und die selbst schon Techniken, z.B. der Papierherstellung und des Drucks zu ihrer Distribution voraussetzt), und von Äußerungen anderer Medien (soweit die Epoche/ Kultur solche kennt) umgegangen wird. Der Fragestellungskomplex ließe sich, wiederum nur vorläufig und näherungsweise, wohl zumindest in die folgenden Teilfragen zerlegen (wobei ich im folgenden ''Text" für jede sprachliche oder nicht-sprachliche semiotische Äußerung verwende): 1. Ebene der Selektion gegenüber den je epochal/ kulturell verfügbaren Techniken: 1.1 Auf welche Elemente aus dem Bereich "Technik" nimmt ein Text bzw. Textk01pus überhaupt Bezug? Solche Bezugnahmen sind etwa in derper definitionem multimedialen - "Emblematik" der "Frühen Neuzeit" und ihren Applikationen in Literatur oder f? ildender Kunst ausgesprochen selektiv: sprachlich oder ikonisch werden etwa Instrumente der Geometrie (Zirkel, Winkelmaß, usw.), Elemente aus dem Bereich der Schiffahrt (Anker, Schiffe usw.) abgebildet. Wo hingegen Texte des Literatursystems "Realismus" überhaupt auf Technik rekurrieren, da geht es eher um die Herstellung oder Benutzung von (Dampf-)Maschinen (Züge, Schiffe, usw.), die die Beschränkungen der "Natur'' technisch überwinden (z.B. Spielhagen: Hammer und Amboß), oder um technische Installationen, die die Gefährdungen durch "Natur" fernhalten (sollen) (z.B.: Spielhagen: Sturmflut, Storm: Der Schimmelreiter); die durchaus relevante und folgenreiche Technik der chemischen Industrie spielt kaum eine Rolle (eine Ausnahme wäre z.B. Raabes Pfisters Mühle). 1.2 Welchen der im kulturellen Wissen der jeweiligen Epoche unterschiedenen Teilbereichen von Technik entstammen diese Elemente? So ist es offenkundig signifikant, daß der "Realismus" eher auf physikalische Mechanik und Dynamik rekurriert und vom Modell "Dampfmaschine" fasziniert ist, was im "Naturalismus" zu zwei bemerkenswerten Mythisierungen des Eisenbahnzugsführers wird (Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel und Emile Zolas unvergleichlich besserer - La Bete humaine). Was an technischer Nutzung der Elektrizität, des Elektromagnetismus im 19. Jahrhundert relevant wird, spielt literarisch kaum eine relevante ideologische Rolle (außer in Villiers de L'Isle-Adams L'Evefuture). Das von der Physik des 19, Jahrhunderts abstrahierte Konzept der ''Energie", insbesondere in der Form einer "Strahlung", wird zur Zeit des "Realismus" vielleicht nur in Bulwer-Lyttons The coming race wichtig, während energiereiche Strahlung in der "Frühen Modeme", einsetzend wohl mit Kurd Laßwitz' Auf zwei Planeten, ebenso in der Fantastik wie in der Science fiction eine zentrale Rolle spielen wird. Hübsch ist auch das Beispiel des U-Boots: vorgedacht in Einzeltexten des 17. Jahrhunderts (Bacon: Nova Atlantis) und der Goethezeit (Achim von Amim: Die Ehenschmiede) wird es in der Sciencefiction des Zur Funktionalisierung von Elementen der Technik in Literatur und Medien 5 19. Jahrhunderts bei Jules Veme wirklich kulturell signifikant. Ähnliches gilt für die Phantasien vom Fliegen im allgemeinen und vom Weltraumflug im besonderen: Im 17. und 18. Jahrhundert vorgedacht, werden sie im 19. und 20. Jahrhundert zumindest in Sciencefiction (Veme, Wells, Laßwitz, Dominik) literarisch relevant. Woraus folgt: 1.3 Wo "eifindet" dieLiteratur seit der "Frühen Neuzeit" neue Techniken, die ihre jeweilige Epoche/ Kultur noch gar nicht kennt? Das Phänomen ist natürlich eines, das normalerweise allenfalls in bestimmten Texttypen (z.B.: Sciencefiction, Fantastik, Utopie) auftritt. Der erste Text, der geradezu systematisch neue Techniken erfindet, ist Bacons Utopie der Nova Atlantis/ New Atlantis, der damit in den Utopien des 16. - 18. Jahrhunderts eine Sonderstellung einnimmt. Bacons Text antizipiert damit die möglichen, denkbaren Konsequenzen seines eigenen wissenschaftstheoretischen Programms des Novum Organum. 1.4 In welchen Klassen von Texten der Epoche (Texttypen, Gattungen, ... )findet solche Referenz auf/ Thematisierung von Elementen aus Technik überhaupt statt? In der Zeit vom 16. zum 18. Jahrhundert sind Texte, in denen tatsächlich Technik eine wesentliche Rolle spielt, wohl eher solche des Texttyps "Utopie"; spätestens im 19. Jahrhundert hingegen finden sich solche Bezugnahmen auch in Texten, die sich als "mimetischrealistisch" gerieren. 1.5 Auf welchen Textebenen finden sich solche Bezugnahmen? Ganz offensichtlich macht es einen fundamentalen Unterschied, ob Elemente aus dem Bereich "Technik" auf der Ebene des discours, sei es nun die Rede einer Erzählinstanz. oder die der Rede einer Figur, genannt, erwähnt, erörtert, als Zeichen für-anderes gebraucht werden oder ob Phänomene dieses Bereichs auf der Ebene der histoire der erzählten (z.B. Roman, Erzählung, Ballade, usw.) oder abstrahierbaren (z.B. Drama, Film, Gemäldezyklus) "Geschichte" eine Rolle spielen. Im Kontext rhetorischer oder anderer semiotischer Strategien kann ein technisches Element als Tropus, als Symbol, als sonstiges Zeichen für anderes punktuell verwendet werden: Aber wenn technische Elemente auf der Ebene der histoire eine Rolle spielen, können sie semantisch wie existentiell wesentlich relevanter werden: Es ist ein Unterschied, ob man Schiffahrt und Schiffbruch als Tropus auf der Rede-ldiscours-Ebene verwendet wie in unzähligen Texten der "Frühen Neuzeit" oder ob man sie auf der Geschichts-/ histoire-Ebene darstellt wie in den frühneuzeitlichen Utopien (z.B. Moros' Utopia, eines Anonymus L'Isle des Hermaphrodites, Andreaes Christianopolis, Veiras' Histoire des Sevarambes, usw.) oder in den "Robinsonaden" (Defoes Robinson Crusoe, Schnabels Insel Felsenburg usw.) bis hin zu Schiffbruchsgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts (Jordans Die Sebalds, Spielhagens Sturmflut, Hauptmanns Atlantis, Poes Arthur Gordon Pym, usw.)- und in jeder Epoche, vielleicht gar in jedem Text, bedeutet das Element etwas anderes. 6 Michael Titvnann 1.6 Mit Hilfe welcher semiotischer Techniken wird ein solches Element im Text präsentiert? Die Frage ist im gegebenen Kontext nur sehr partiell -d.h. durch Beispieleexplizierbar. Ein solches Element könnte z.B. ob es auf der Ebene des discours oder der der histoire funktionalisiert wird etwa durch bloße Namensnennung ebenso wie durch mehr oder minder einläßliche Deskription eingeführt werden. Texte etwa des Typs "Science fiction" müssen ihre neuen "Techniken" plausibilisieren, und das bedeutet, daß sie zumindest rudimentär eine "Theorie" skizzieren müssen, aus der, mehr oder minder glaubwürdig, die neue ''Technik" erklärbar wäre, und sie müssen diese, zumindest in ihrem Endprodukt einigermaßen abbilden, sei es, daß sie sie wie in Literatur "beschreiben", sei es, daß sie sie wie im Film "zeigen". 2. Ebene der Kombination/ Ebene der Funktionalisierung bzw. Semantisierung: 2.1 In welchem Umfang übernimmt ein Text oder Textkorpus, der/ das auf Elemente der "Technik" referiert, die im (prätextuellen) kulturellen Wissen der Epoche bewußt oder unbewußt-mit diesem (zugleich als Zeichen fungierenden) Element verbundenen Bedeutungen? Und umgekehrt: in welchem Umfang ordnen Texte bzw. Textkorpora diesem technischen Element neue Bedeutungen zu, die mit den prätextuellen Bedeutungen kompatibel, d.h. zu ihnen komplementär, oder mit ihnen inkompatibel, d.h. zu ihnen oppositionell sind? In allen Texten des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, die zur Fantastik tendieren, angefangen mit Villiers de L'Isle-Adams L'Eve future, über Spundas Devachan und Der weiße und der gelbe Papst bis hin zu z.B. - Bergengruens Das Gesetz des Atum, werden mehr oder minder technische Phänomene, ihrerseits mehr oder minder "real" bzw. dem Bereich "Sciencefiction" zugehörig, auf eine Weise semantisiert, d.h. durch den Kotext mit zusätzlichen Merkmalen/ Implikationen versehen, die nicht nur über den Bereich des ''naturwissenschaftlich" Legitimierbaren hinausgehen, sondern denjeweiligen wissenschaftstheoretisch-methodologischen Prämissen von "Naturwissenschaft" widersprechen. Die Strategien solcher zusätzlicher Semantisierungen additiv zur vorgefundenen Semantik oder oppositionell zu ihr sind nicht für die Fragestellung spezifisch, sondern Teil der allgemeinen Semiotik. Immerhin würde sich für die jeweilige Epoche fragen: 2.2 Weist die jeweilige Epoche eine spezifische Auswahl aus den logisch denkbaren Strategien zusätzlicher Semantisierung auf? Für die Texte der "Frühen Modeme" (z.B. die obenerwähnten Autoren Spunda, Bergengruen, und andere) ließe sich möglicherweise zeigen, daß es solche Strategien gibt. Auch ein Autor wie Ernst Weiß, der Techniken der physikalischen Radiologie (Die Galeere) oder der bakteriologischen Medizin (Georg Letham. Arzt undMörder) inszeniert, schreibt ihnen zusätzliche Bedeutungen -die Psyche des Individuums oder das Sozialsystem der Gesellschaft betreffend zu, und es kann interpretiert werden, wie, d.h. mit welchen semiotischen Mitteln, er das macht. Zur Funktionalisierung von Elementen der Technik in Literatur und Medien 2.3 Welchen Ort im semantisch-ideologischen System nimmt das Element aus dem Bereich "Technik" im Text bzw. Textkorpus ein? Mit welchen Elementen/ Strukturen der Textideologie wird es positiv (als äquivalent,. impliziert, inkludiert), mit welchen wird es negativ (als oppositionell) korreliert? 7 Die Elemente der Technik in Bacons Nova Atlantis repräsentieren eine für den Text zentrale Hoffnung auf wissenschaftlichen "Fortschritt" und daraus resultierenden sozialen "Fortschritt": auf Verbesserung der materiellen Lebensumstände und auf konfliktfreie soziale Harmonie. InRaabesPfisters Mühle sind die Elemente chemischer Technik hingegen ambivalent bewertet: sie begünstigen neue (''kapitalistische") Lebensformen und zerstören alte ("handwerkliche"); sie bringen Vereinfachung und Verbesserung des Alltags aber sie ruinieren die Umwelt. In Schillers Der Geisterseher - und in einer Vielzahl verwandter goethezeitlicher Romane-wird die technische Verwendung naturwissenschaftlichen Wissens zum okkultistischen Betrug, zur Vortäuschung magischer "Wunder", mißbraucht. Es fragt sich somit: 2.4 Mit welchen Bereichen der epochalen bzw. text- oder textkorpusspezijischen Ideologie ist die jeweilige Semantisierung technischer Elemente verträglich oder nicht? Welche Ideologeme der Epoche, des Textes, des Textkorpus werden ihr über- oder untergeordnet? Welchen Platz nimmt sie in Anthropologie bzw. Ideologie von Text, Textkorpus, Epoche ein? In Bacons NovaAtlantis ist ''Technik" das erstrebenswerte Ziel rationalen, wissenschaftlichen Wissens: eine unbestrittene Verbesserung und Optimierung der Bedingungen menschlicher Existenz. In Huxleys Brave New World, in Orwells 1984, in unzähligen amerikanischen Filmen der letzten 20 Jahre ist neue ''Technik" eine Bedrohung menschenwürdiger Existenz. Ich belasse es bei diesem Fragenkatalog und füge nur mehr zwei Metafragen hinzu: 3. Auswertung der Fragen 1. und 2. 3.1 Bei jeder der Teilfragen aus 1. und 2. wäre zu fragen: und was läßt sich aus den Ergebnissen semantisch-ideologisch folgern? 3.2 Lassen sich für das jeweilige epochale/ kulturelle Teilsystem aus den Interpretationsergebnissen zu Texten/ I'extkorpora Regularitäten ableiten? Formuliert wäre hier natürlich auch eine Menge möglicher literarhistorisch-semiotischer Forschungsprogramme; jeder der Beiträge in dieser Sektion deckt natürlich nur einen Teilbereich der als sinnvoll denkbaren Fragestellungen ab: aber jeder bietet insofern auch eine Basis für potentielle weitere Forschung. Der Fragestellungskomplex insgesamt verspräche jedenfalls relevante Beiträge zu einer Literaturwissenschaft, verstanden als historische Ethnologie. - UTB Linguistil< Kirsten Adamzik Sprache: Wege zum Verstehen UTB 2172 M, 2001, VIII, 334 Seiten, 16 Abb., 4 Tab., EUR 17,90/ SFr 30,50 UTB-ISBN 3-8252-2172-5 Das Buch stellt eine allgemein verständliche Einführung in das Phänomen Sprache und die Wissenschaft davon dar. Es setzt an alltäglichen Fragen und Erfahrungen an und führt von da zu zentralen Konzepten, die in der Sprachwissenschaft entwickelt worden sind. Im Vordergrund stehen die Bereiche Semiotik, Kommunikation, Soziolinguistik, Pragmatik, Semantik, Lexikologie, Grammatik und Textlinguistik. Erkenntnisse, die in diesen Forschungszweigen vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erarbeitet wurden, bilden den theoretischen Hintergrund der Darstellung; in den Vordergrund werden jedoch die sprachlichen Einheiten selbst gerückt. Für Studierende ist der Darstellung ein Glossar zum Nachschlagen wissenschaftlicher Termini und ein Verzeichnis grundlegender Literatur beigegeben. Eine Reihe von literarischen und journalistischen Texten über Sprache ergänzt und illustriert die Ausführungen und macht den Band zugleich zu einem kleinen Sprach-Lesebuch. A. Francke Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 24 (2001) · No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Fallbeispiele zur Konzeption der Person in der deutschen Literatur zwischen 1730-1830 Jan-Oliver Decker Tbis article examines the function of medical technics and of physicians using them in paradigmatic examples of german literature during the gennan 'Aufklärung' and 'Goethezeit'. The thesis is, that dealing with medical technics and physicians indicates both the exclusion of the physical body and of sexuality from the cop.cept of person in the 'Aufklärung'. The discourse of medical technics allows the topic of the sexual body and at the same time the failure of physicians facilitate to exclude it form the concept of person. The norm to be shown is, that reason dominates the physical body and inner conflicts with emotion and sexuality. Because of the body representing conflicts conceming the concept of person the physical therapies of physicians have to fall just as their attempts to solve the inner and the social problems of their patients. The examples demonstrate the medical technics as a neglecting kind of 'social work', so the physicians looses with the progression of 'Aufklärung' more and more importance in literary texts of the german 'Goethezeit'. At this point of less importance is in the German 'Klassik' a reevaluation of the 'social work' of physiscians in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre invented. This text tries to solve the contradictions evoluted in the thinking of 'Aufklärung' and the literature of 'Aufklärung' and 'Sturm und Drang' regarding the concept of person. In the Wanderjahre the rote of physician is restructured on the basis of 'Aufklärung' as well as the discourse of medical technics, so that a scuccessful kind of 'social work' is modelled. Vorbemerkungen Untersuchungen belegen, dass medizinisches Wissen einen relevanten systematischen Bezug zwischen dem Denken und der Literatur der deutschen Aufklärung (1730-1770) und dem Denken und der Literatur der Goethezeit (1770-1830) stiftet 1 (vgl. exemplarisch Mauser 1988 und vor allem Wernz 1993)2. Im Zentrum stehen als Ergebnis dabei vor allem Aussagen, wie sich Teilbereiche des Denksystems wie der medizinische Diskurs zum Literatursystem funktional zueinander verhalten. 3 In diesem Rahmen wird im Folgenden eine Perspektive eingenommen, bei der an Fallbeispielen untersucht wird, wie Elemente des Medizin-technischen Diskurses den Normen der Literatursysteme zur Zeit der Aufklärung unterworfen werden und welche Funktionen die Elemente des medizintechnischen Diskurses in den konkreten Textbeispielen übernehmen. Unter medizintechnisch werden dabei diejenigen Elemente verstanden, die eine institutionalisierte Medizin betreffen, wie Arztrolle, Diagnostik und Heilmethoden. Der medizintechnische Diskurs ist dabei als ein Teildiskurs in den übergeordneten medizinischen Diskurs eingebettet. 4 10 Jan-Oliver Decker Die aus den Fallbeispielen abgeleiteten Ergebnisse sind als Eckwerte zu verstehen, die den Umgang mit medizintechnischem Diskurs und Arztrolle im Drama der Aufklärung vorstellen und seine Entwicklung exemplarisch anzeigen. Im Zentrum stehen dabei Christlob Mylius' Die Aerzte. Ein Lustspiel infuenf Aufzuegen von 1745 und Christian Felix Weißes Romeo und Julie. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von 1767. Abschließend wird schlaglichtartig Johann Wolfgang Goethes Roman Wil"helm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden von 1829 unter dem Aspekt der Arztrolle beleuchtet, um aufzuzeigen, wie die anhand des Dramas der Aufklärung vorgestellten Funktionen des medizintechnischen Diskurses und der Arztrolle am Ende der Goethezeit in neue Kontexte integriert werden. Primär steht in den untersuchten Texten durch die explizite Thematisierung von Elementen institutionalisierter Medizin der faktisch oder scheinbar erkrankte Körper im Vordergrund, der als Problem nicht mehr vom betroffenen Subjekt bewältigt werden kann. Damit eröffnen sich zwei miteinander verbundene Zusammenhänge in den untersuchten Texten: 1. Der Körper wird mit Hilfe des medizintechnischen Diskurses als Problemfeld aufklärerischer Werte und Normen thematisch. Das Körperliche steht zeichenhaft für .etwas, was das Subjekt nicht bewältigen kann. Damit wird in den Texten eine Konzeption der Person deutlich, bei der einem als 'Außen' gedachten Körper ein metaphorisch bezeichnetes 'Innen' des Subjekts entgegen steht, sei es ein internalisiertes 'Außen' sozialer Werte und Normen oder ein das Subjekt fundamental bedrohendes Inneres. Wenn das Körperliche aber nicht das eigentlich zentrale Problem ist, das gelöst werden muss, dann gelingt dariiber hinaus durch die Problematisierung des Körpers die fundamentale Ausgrenzung von Körperlichem als relevante Kategorie bei der Konzeption der Person. Wenn der Körper immer nur ein zu lesender für ein zu korrigierendes Inneres ist, dann wehren die Texte eine denkbare Unabhängigkeit und Unmittelbarkeit des Körperlichen ab. 2. Die Elemente des medizintechnischen Diskurses wie Arztrolle, Diagnostik und Heilmethoden werden typischen Kriterien des Denkens undArgumentierens unterworfen. Eine Funktion ist dabei, mögliche konkurrierende Wissensmengen im medizinischen Diskurs jenseits desselben durch die Ereignisstruktur des literarischen Textes untereinander zu hierarchisieren und zu favorisieren. 5 Die Handlung der Texte belegt gleichsam die 'richtigen' und relevanten Wissensmengen im medizintechnischen Diskurs. 6 Darüber hinaus haben auch die vorgeführten Diagnose- und Heilmethoden des zeichenhaft problematischen Körpers eine metaphorische Funktion. 'Richtige' oder 'falsche' Diagnose stehen ebenso wie gelingende und misslingende Heilmethoden für adäquate oder inadäquate Strategien der Lösung des im Körper bezeichneten Problematischen. Insgesamt lassen sich daraus wiederum auch Rückschlüsse über die Konzeption einer idealen Arztrolle ziehen. Wenn das Körperliche nicht das zentrale Problem ist, dann ist die rein berufliche Rolle des Arztes als Heiler körperlicher Krankheit in der Literatur entweder von geringer Bedeutung oder aber die Arztrolle wird über das Kurieren körperlicher Krankheit hinaus zur Rolle eines fundamentalen Problemlösers aufgewertet. Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik ■ Das Fallbeispiel Die Aerzte. Ein Lustspiel in fuenf Aufzuegen (1745) von Christlob Mylius Zum Kontext der Ärztesatire in der Frühautldärung 11 Zur Zeit der von Gottsched mit dem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) angestrebten Theaterreform war der Barbier eine beliebte Figur der Hanswurstiaden und des derb-sinnlichen Volkslustspieles. 7 Als 'Chirurgus', der kleine medizinische Operationen wie Aderlassen und Zähneziehen durchführte, war er dabei nicht nur Figur auf der Bühne, sondern gelegentlich auch Betreiber einer solchen, um durch improvisierte, schauspielerische Einlagen seine medizinischen Künste auf dem Jahrmarkt anzubieten. 8 Der Barbier als mehr oder weniger qualifizierter medizinischer Fachmann war somit nicht nur als Figur auf der Bühne in einen von Gottsched abgelehnten Theaterkontext gestellt, sondern repräsentierte auch die von ihm abgelehnte Form des Theaters selbst. So erstaunt es zunächst, dass Mylius als Autor aus dem Gottsched-Umkreis in seinen den drei Einheiten verpflichtetenAerzten mit "Pillifex" und "Recept" zwei 'Doctores' vorführt, die mit ihrer Fehldeutung einer Schwangerschaft als falsch gesetztes Klistier eine Ebene derb-sexueller Komik, ähnlich den traditionellen Barbier-Figuren, im Stück etablieren. Diese Ebene scheint zunächst wie der tollpatschige Diener Matthes ein Reflex auf die literarischen Vorläufer des Lustspieles zu sein, der in der Frühaufklärung noch in das Lustspiel integrierbar ist. Pillifex und Recept finden ihre literarischen Vorläufer jedoch nicht nur in der Tradition des Volklustspieles, sondern auch in der französischen Lustspieltradition, deren prominentester Vertreter Moliere von den Gottscheds als Vorbild für ein genuin deutsches aufklärerisches Lustspiel adaptiert wurde. 9 Das Motiv der anmaßenden Ärzte in Mylius' Aerzten, die einen eingebildeten Kranken ausbeuten und als Ehepartner für anderweitig verliebte Töchter im Spiel sind, findet sich so auch schon vorbildhaft in Molieres Ärztesatiren L' amour Medecin (Die Liebe als Arzt) von1666 und Le malade imaginaire (Der eingebildete Kranke) von 1673. Handlungs-und Konfliktstruktur, Werte und Normen Trotzdem Mylius in seinenAerzten auf vorgefundene Stereotypen und etablierte Handlungsmuster zurückgreift, setzt er aber nicht die Tradition der Ärztesatire fort, in der allein die Karikierung des medizinischen Standes im Mittelpunkt steht. Vielmehr finden Arzt und Medizin als Inventar und Thema Eingang in die neue Aufklärungskomödie, die durch Vorführen und Sanktionieren exemplarischer Abweichungen übergeordnete Werte und Normen auf der Folie von Tugend vs. Laster propagiert, mit neuen sozialen Werten wie der Regelung des freundschaftlich-familiären Umganges miteinander und der Paarbildung kombiniert und gewissermaßen als Einübung in das aufklärerische Denksystem fungiert. 10 Dass Frau Vielgutin in die Fänge der verbrecherischen Ärzte Pillifex und Recept gerät, die ihr Krankheiten einreden und sie ständig medizinischen Pseudokuren unterwerfen, um sie finanziell ausbeuten zu können, bildet nur den Hintergrund für den eigentlichen Werte- Konflikt von Vertrauen vs. Misstrauen. Frau Vielgutin vertraut den Ärzten so sehr, dass sie ihre Tochter Luisgen an einen der beiden verheiraten möchte. Luisgen misstraut den Ärzten so sehr, dass sie niemals einen Arzt heiraten würde. Beide zeichnen sich damit durch einen 12 Jan-Oliver Decker unvernünftigen Eigensinn aus: die Mutter durch die irrationale Wertschätzung des Ärztestandes, die auch durch die absurdesten medizinischen Vorgehensweisen von Pillifex und Recept nicht erschütterlich ist; die Tochter durch die irrationale Abwertung des Ärztestandes, den sie in Pillifex und Recept in toto repräsentiert sieht. Beide müssen ihre an den Beruf des akademisch ausgebildeten Arztes gebundenen Vorurteile abbauen und belehrt werden: Die Mutter, weil sie sonst ihr Vermögen und ihre Tochter an Pillifex und Recept gleichermaßen verliert; denn beide haben einen "Contract" geschlossen, dass trotz der künftigen Ehe mit nur einem von ihnen sowohl das Geld der Mutter als auch der sexuelle Gebrauch von Luisgen geteilt werden. Die Tochter, weil sie sonst ihr Liebesglück mit Damon gefährdet, einem jungen Mediziner auf der Rückreise von der Universität, der seine Erbschaft antreten und sich den Doktortitel erwerben will, sich aufgrund von Luisgens Verachtung jedweden Mediziners ihr gegenüber aber als Jurist ausgibt. Ursache für das ausgenutzte Vertrauen der Frau Vielgutin ist letztlich die mehr als fünfjährige Abwesenheit ihres Mannes, des reichen Kaufmanns Vielgut, der während einer Ostindienreise als verschollen gilt. Das Motiv der zu vertrauensvollen Ehefrau, die während der Absenz des Familienoberhauptes der Familienführung nicht gewachsen ist, findet sich beispielhaft vorgeprägt in der Frau Glaubeleichtin in Luise Adelgunde Viktorie Gottscheds Lustspiel Die Pietisterey im Fischbeinrocke von 1736. Die Gefährdung des individuellen Glückes im Diesseits durch ein übersteigertes Misstrauen findet sich später paradigmatisch ausgearbeitet in Johann Friedrich von Cronegks Lustspiel Der Mißtrauische aus dem Jahr 1760. Die Handlung in Mylius' Aerzten wird durch den Plan von Frau Vielgutin initiiert, die Tochter gegen deren offen bekundete Abneigung nach einem medizinischen Wettstreit mit demjenigen Arzt zu verheiraten, der die Krankheit ihrer Köchin Dorchen richtig diagnostiziert und sie erfolgreich therapiert. Gleichzeitig bemühen sich Damon, Luisgen und Friedrich, Herrn Vielguts alter Diener, die kriminellen Motive und quacksalberischen Methoden von Pillifex und Recept zu entlarven und so Frau Vielgutin von der Scharlatanerie und Niedertracht ihrer Leibärzte zu überzeugen. Dies gelingt erst, als die von den Ärzten diagnostizierte Wassersucht Dorchens sich als Schwangerschaft herausstellt und diese dem Arzt Recept im Verlauf des Stückes einen Sohn gebärt. Frau Vielgutin kommt schließlich selbständig durch Akzeptieren des offensichtlich Wahrnehmbaren zur Erkenntnis; sie wird durch die Realität selbst belehrt. Demgegenüber scheitern die vorhergehenden Bemühungen von Damon, Luisgen und Friedrich, Frau Vielgutin durch Vorlage des von beiden Ärzten unterschriebenen "Contract [ ... ] die gemeinschaftliche Heyrath Jungfer Luisgens betreffend" (S. 70) 11 zu belehren. Dieser Handlungsstrang um die Aneignung des Vertrages und das Gespräch darüber hat vor allem die Funktion, Luisgen davon zu überzeugen, dass Damon aufgrund seiner Vernunft und seiner ehrlichen Zuneigung zu ihr liebenswert ist, so dass die von ihrer Unvernunft geheilte Frau Vielgutin schließlich der Verbindung von Luisgen und Damon zustimmt. Letztlich dient die Handlung vor allem dazu, neue Bedingungen der Paarbildung durchzusetzen und die elterliche Verfügungsgewalt über die Paarbildung der Kinder aufzuweichen: Auf der Basis von Vernunftgebrauch und gegenseitiger, höflich-freundschaftlicher Fürsorge wird der Partner nach Neigung gewählt. Erweist sich der künftige Partner dann noch als sozial gleichwertig und damit als angemessen, müssen die Eltern der Verbindung zustimmen. 12 Diese Aufweichung elterlicher Befehlsgewalt wird im 5. Akt noch einmal in Frage gestellt, als Herr Vielgut überraschend nach Hause zurückkehrt und die von Vater zu Vater beschlossene Verehelichung von Luisgen mit dem Sohn eines befreundeten Kaufmanns verkün- Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 13 det. Da sich jedoch dieser als der junge Mediziner Damon herausstellt, wird das am Ende des Lustspiels erreichte Gleichgewicht nicht mehr gestört. Der Vater stellt vielmehr als oberste Norminstanz zum einen symbolisch die Ordnung wieder her, die durch seine Abwesenheit gestört wurde und vertreibt nacheinander unter Androhung von Prügeln Pillefex und Recept, den er zur Ehelichung Dorchens zwingt. Zum anderen ist er die Autorität, die Luisgen von ihrem Eigensinn heilt, mit der absoluten Ablehnung jedes Arztes auch den nach allen Bedingungen der Neigung, des Standes und der elterlichen Wahl optimalen Partner Damon abzulehnen: Kannst Du wohl deinem Eigensinne zu Gefallen, die zaertliche Vorsorge deiner Aeltem, die zartliche Liebe deines vemuenftigen Liebhabers, und dein eignes Vergnuegen so gering schaetzen? Verachte alle unvemuenftigen Aerzte, und verehre die vernuenftigen; (S. 126, z. 13-18) Arztrolle und medizinische Techniken in aufklärerischer Kritik Grundsätzliche Merkmale der Ärzte Pillifex und Recept sind, wie in der Regel im Lustspiel der Frühaufklärung, verdeckter Eigennutz, kriminelles Vorgehen, Dummheit und vor allem Selbstüberheblichkeit und Anmaßung, wie sie vor allem aus folgenden Äußerungen Pillifex' ableitbar sind: Wenn werdet ihr doch aufhören, euch an den Werkzeugen der goettlichen Bannherzigkeit zu versuendigen? (S. 32, 2.1-4) und später: Sie [gemeint ist die Medizin] ist die allerschwerste Wissenschaft in der ganzen Welt. (S. 66, z. 3/ 4) Im Selbstverständnis von Pillifex sind die Ärzte also in einen übergeordneten göttlichen Kontext eingebunden, der sie rückwirkend als allmächtig und allwissend über alle anderen Menschen erhebt. Auf der Ebene ihrer spezifischen Rolle als Mediziner werden Pillifex und Recept zunächst vor allem durch ihre Sprache ausgegrenzt 13: Sie verwenden lateinische Fachausdrücke zur Diagnose, die auch übersetzt oft genug keinen zusammenhängenden Sinn ergeben. Die Unverständlichkeit ihrer Äußerungen verstößt dabei zum einen gegen die aufklärerische Konversationsnorm der vernünftigen Rede. Zum anderen dient die Verwendung des den akademischen Stand bezeichnenden Lateins als unangemessene Überhöhung über den Gesprächspartner. So wird die Gleichberechtigung der Redepartner auf der Ebene der verwendeten Sprache von Luisgen im Verlauf des Stücks immer wieder angemahnt: Luisgen: Nein, Nein, Teutsch wollte ichs gerne wissen: Lateinisch verstehe ich nicht (S. 52, z. 23/ 24) und die Fachsprache der Ärzte als unverständlich und irrational abgewertet und dämonisiert: Luisgen: Stets werfen sie Init abscheulichen barbarischen Woertern herum, nicht anders als ob sie Zaubereyen trieben und die eingebildeten Krankheiten meiner Mutter beschwoeren wollten. (S. 19, Z. 29 - S. 20, Z. 2) 14 Jan-Oliver Decker Die medizinische Sprache neigt dabei zu maßlosen Übertreibungen, die Frau Vielgutin in Angst und Schrecken versetzen und sie sich auch physisch schwerkrank fühlen lassen. So droht ihr Pillifex: Sie koennen unmoeglich laenger verziehen; es entsteht sonst obstructio vasorum, lentor humorum und ruptura vesicae urinariae daraus. (S. 42, Z. 22-25) also Gefäßverschluss, Zähflüssigkeit der Säfte und Harnblasenriss, wenn sich Frau Vielgutin nicht sofort zwecks Urinbeschau auf ihren Nachtstuhl begibt, was sogleich der Kritik der Diener Friedrich und Matthes unterzogen wird: FRIEDRICH: Sie kann es nicht alleyne und der Herr Doctor hat gerne seine Nase dabey. MA'ITIIES: Die Doctores muessen hier naerrisch seyn. Sie nehmen Dinge vor, die ich von meinem Herren und anderen Medicinern, mein Lebtage noch nicht gesehn und gehoert habe. (S. 43, Z. 15-21) Neben der Unsinnigkeit des traditionellen Diagnoseverfahrens der Urinbeschau manifestiert sich hier auch eine normverletzende Nähe der Ärzte, die ihren Patienten ganz konkret zu nahe zu Leibe rücken und natürliche biologische Vorgänge so an sich binden, dass diese nicht mehr von selbst ausgeführt werden können. Sie versetzen den Patienten tatsächlich durch das Einreden schlimmer Krankheiten in einen physisch angeschlagenen Zustand. Neben den Diagnoseverfahren steht besonders auch die Anwendung medizinischer Heilverfahren auf dem Prüfstand. So will Pillifex eben der Pillendreher nicht nur Frau Vielgutin und Luisgen sein angeblich universell wirkendes Allheilmittel, die "Merkurialpillen", beijeder Gelegenheit andrehen, sondern er schlägt auch Damon vor, der vorgibt einen Husten zu haben: PilLIFEX: Sie muessen purgieren. Ich will ihnen von den pillifexischen Merkurialpillen eine Dosin eingeben; und wenn dieses nicht hilft, so will ich ihnen ein Clystir setzen; und schlaegt auch dieses nicht an, so will ich ihnen ein Bomitiv setzen. (S. 64, Z. 22-27) Und als Damon einwendet, dass man seines Wissens nur funktional bei Erkrankungen des Magen-Darmtraktes Einläufe sowie Abführ- und Brechmittel einsetzt, offenbart Pillifex die ganze Irrationalität seines medizinischen Denkens: PilLIFEX: Sie sind gewiß ueber einen mechanischen Quacksalber gekommen, der ihnen weiß gemacht hat, der menschliche Koerper waere wie eine Muehle, und die Seele haette ihm nichts zu befehlen. Es gehet alles durch die Seele; und diese ist in toto corpore tota. Wenn sie nun macht, daß sie den Husten und Schnupfen haben muessen: so kann man ihr ueberall, hinten und vorne, oben und unten, beykommen und sie an ihre Pflicht erinnern und ein wenig zur raison bringen (S. 65, Z. 15-25) Ex negativo wird an Pillifex deutlich gemacht, dass das vom Text vertretene medizinische Ideal ein empirisch auf den Körper als defekte Maschine gerichtetes Diagnose- und Heilverfahren ist. Nur die Physis soll Gegenstand ärztlicher Kunst sein, nicht jedoch die Seele, die der Arzt durch Bestrafung und Züchtigung des Körpers manipulieren möchte. 14 Die Seele wird damit der Verfügbarkeit der medizinischen Autorität entzogen. Dieses Merkmal teilt die Kritik des medizinischen Diskurses dabei in Mylius' Aerzten mit dem Kampf gegen die spiritistisch-pietistischen Schwärmer in der Pietisterey im Fischbeinrocke der Gottschedin. Hier wie dort gilt die aufldärerische Kritik dem unvernünftigen Denken und Argumentieren von Institutionen, aus denen sich der einzelne durch Vernunftgebrauch zu befreien hat. Implizit legt das Stück nahe, dass sich der medizinische Diskurs in Mylius' Aerzten wie der Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 15 theologische in der Pietisterey der Gottschedin gemäß den aufklärerischen Normen der Rationalität und empirischer Überprüfbarkeit zu strukturieren hat. 15 Der Irrsinn von Pillifex und Rezept gipfelt letztlich in der Fehldiagnose, dass Dorchens, statt schwanger zu sein, die Wassersucht hätte. Ihre Diagnose gewinnen die Ärzte wider besseres Wissen zumal von Recept als Vater des Kindes durch reine Spekulation, in~ konsequente Syllogistik und bloßes Befragen der sich zierenden Dorchen, die genau weiß, wie es um sie bestellt ist. So bewusst Pillifex, eher wegen des Geldes, und Recept, eher wegen des Auslebens seiner Wollust mit Luisgen, Frau Vielgutin betrügen und ihr Krankheiten einreden, so dumm und einfältig glauben sie an eine vermeintliche Krankheit Dorchens, als diese die Fassade ihrer Jungfräulichkeit aufrechterhält, um ihre Schande zu verbergen. 16 Dabei werden letztlich Dorchen, die Frau aus der Unterschicht, und Recept, als Mediziner Vertreter der akademischen Schicht, einander im in der Epoche kriminalisierten außerehelichen Sexualakt angenähert und zugunsten und auf der Folie der nicht durch ihre Sexualität, sondern durch ihre Neigung definierten Liebenden Damon und Luisgen abgewertet. Insgesamt werden auf der Basis aufklärerischer Werte und Normen in Mylius' Aerzten also einerseits traditionelle Elemente des medezintechnischen Diskurses wie die Urinbeschau, aber auch ein Leib-Seele-Konzept, bei dem sich Körper und Seele unmittelbar aufeinander beziehen, durch die kriminalisierten Ärzte Pillifex und Recept ausgegrenzt. Deutlich wird in Mylius' Aerzten auf der Folie konkurrierenden medizinischen Wissens in der Epoche das Konzept der totalen Trennung von Körper und Seele als das gültige Modell in der Medizin propagiert. Verwunderlich bleibt, warum das Stück nur ex negativo auf ein Ärzteideal referiert, zumal mit Damon als vernünftigem Mediziner ein positives Gegenmodell von Arztrolle und Rekonfiguration des medizinischen Diskurses in der Auseinandersetzung mit Pillifex und Recept vorliegen könnte, dieses Potenzial im Text aber weitgehend ungenützt bleibt. . Körperlichkeit, Konzeption der Person und das 'Vernunftsomatische' Die weitgehende Leerstelle der im Sinne der Aufklärung positiven Modelle von Arztrolle und medizinischen Verfahren liegt in Mylius' Aerzten darin begründet, dass der Körper als ein potenziell relevanter Teil der Konzeption der Person in der Frühaufklärung ausgegrenzt werden muss. Diese Ausgrenzung funktioniert nur dann, wenn eine mögliche Relevanz des Körperlichen als absurd und unvernünftig dargestellt und durch die Anbindung an negative Figuren der Lächerlichkeit als irrelevantes Problem preisgegeben werden kann. Mit dem aufklärerischen Primat der Diesseitsorientierung, dem Versprechen einer individuellen Sinnbestätigung und Daseinserfüllung im KontextderTheodicee-Diskussion, 17 könnte der Körper als Ort körperlicher Funktionen bei der Erfüllung von innerirdischer Glückseligkeit eine elementare Qualität bei der Konzeption der Person werden. Demgegenüber ist in der Aufklärung jedoch zu beobachten, dass die im dominanten theologischen Diskurs vorhandene traditionelle Spaltung der Person in ein vom Subjekt distanziertes körperliches 'Außen' und ein das Subjekt definierendes 'Innen' aufrecht erhalten bleibt. Nur das 'Innen' wird in der Aufklärung bei der Konzeption der Person ausgetauscht: Der diesseits ausgerichtete Verstand substituiert die auf das Seelenheil im Jenseits orientierte Seele. 18 Im Verlauf des Dramas der Aufklärung wird geradezu vorgeführt, wie vor allem das Verhaftetsein von Figuren an das an den Körper gebundene Sexuelle immer stärker zu Lastern und damit zwangsläufig zum Sinnverlust und zum Scheitern der Person führt. So z.B. Johann 16 Jan-Oliver Decker Gottlob Benjamin Pfeils Lucie Woodvil (1756), deren vorehelicher Sexualakt als nichtgewusster Inzest zu Hass, Wahnsinn und schließlich zu Mord und Selbstmord führt oder auch Lessings Miss Sara Sampson (1755), die im Sinne der positiv vom Text bewerteten Protagonistin schließlich verdientermaßen für ihren außerehelichen Geschlechtsverkehr mit Mellefont mit der Ermordung durch dessen ehemalige Geliebte Marwood bestraft wird. Die traditionelle Sexualmoral wird im Verlauf des Dramas der Aufklärung neu begründet und zementiert, bis mit dem Einsatz der 'Empfindsamkeit' jedwede Körperlichkeit weitgehend aus den Dramen verbannt ist. 19 Demgegenüber finden sich im Lustspiel der Frühaufklärung einige Texte, die die mögliche Relevanz des Körperlichen problematisieren. Am deutlichsten tun dies die Dramen, die das Thema des eingebildeten Kranken mehr oder weniger dominant diskutieren. So paradigmatisch in Theodor Johann Quistorps Der Hypochondrist, aber auch z; B. an der Figur der Frau von Tiefenborn in Das Testament der Gottschedin, beide von 1745. Auffällig ist, dass, wenn Krankheit und medizinischer Diskurs im Drama derAufklärung präsent sind, niemals ernsthaft physisch Kranke vorgeführt werden. Die negativ von den Texten bewerteten Veränderungen der Person gehen in der Regel nie vom Körper der Person aus, sondern vom Innenleben der Person. An den hypochondrischen Figuren wird als negativ gerade vermittelt, dass sie ihrem Körper zu viel Aufmerksamkeit widmen, dass dieses 'Zuviel' an Relevanz des Körperlichen zwangsläufig ein 'Zuwenig' an Vernunft bedeutet, wie an Frau Vielgutin in Mylius' Aerzten beispielhaft vorgeführt wird. Grundsätzlich lassen sich damit solche niemals primär physisch Kranken pointiert als 'vemunftsomatisch' Kranke klassifizieren. Was wieder hergestellt werden muss, ist die Dominanz eines durch Vernunftgebrauch definierten 'Innen' der Person und die Abwehr des als distanziertes 'Außen' gedachten Körperlichen und damit nicht weniger als die Herstellung einer harmonischen Ordnung der Person: LUISGEN [zu ihrer Mutter]: Und es hat auch nicht anders kommen koennen, da sie ihnen immer hunderterley Arzeneyen untereinander eingegeben und ihre Natur aus der Ordnung gebracht haben. (S. 81, Z. 1-4) In diesem Kontext wird erklärbar, warum.in Mylius' Aerzten Damon nicht als positiver Vertreter seiner Zunft herausgearbeitet wird. Da weder Frau Vielgutin noch Dorchen wirklich körperlich erkrankt sind und das vom Text positiv bewertete Konzept der Medizin nur den Körper der Berufsrolle des Arztes unterstellt, darf Damon gar nicht als Arzt in den Heilungsprozess von Frau Vielgutin eingreifen. Demgegenüber versagen die Ärzte Pillifex und Recept, per se ja eigentlich Spezialisten der Deutung von Körperlichkeit und qua Berufsrolle auf die Relevanz der Wahrnehmung von Körperlichkeit trainiert, kläglich. Beide demonstrieren zusammen mit Frau Vielgutin im Textverlauf die negativen Folgen, zu denen die Fokussierung auf den Körper und seine Funktionen führt. Durch die Strategie, die ausgeübte Arztrolle im Text abzawerten, wird vom Text das Körperliche als relevante Kategorie für die Konzeption der Person ausgegrenzt. Im Fall der vernunftsomatisch kranken Frau Vielgutin muss die gestörte Ordnung der Natur der Person durch Belehrung von außen und durch eigenständigen Vernunftgebrauch wieder hergestellt werden. Damon als positiv vom Text bewerteter weil in diesem Fall nicht als Mediziner agierender-Arzt kann darauf vertrauen, dass Frau Vielgutin durch selbständigen Vernunftgebrauch von ihrer eingebildeten Krankheit geheilt wird und ihre Aufmerksamkeit von ihrem eigenen Körper ab- und dem Wohle ihrer Familie zuwendet. Dass mit der Irrelevanz des Körperlichen zeichenhaft vor allem die Irrelevanz des Sexuellen für die Konzeption der Person vorgeführt wird, demonstriert sich schon allein daran, dass Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 17 Damon und Luisgen während ihrer gemeinsamen Zusammenkünfte ohne andere Figuren alles Körperliche total ausblenden und emotional-freundschaftliche, auf gegenseitige Fürsorge gerichtete Dialoge führen, die ihre gegenseitige Sympathie ausdrücken. Die erste öffentliche körperliche Berührung am Ende des Dramas, Luisgen ergreift Damons Hand, muss sogar ausdrücklich von Mutter und Vater als Norminstanzen legitimiert werden. Dieser Händedruck ist dabei keine Geste zärtlicher Zuneigung, sondern besiegelt den freundschaftlichen Bund zwischen Damon und Luisgen, der durch ein öffentliches Eheversprechen legitimiert wird. Die Darstellung des Körperkontakts ist in der Frühaufklärung nur erlaubt, wenn dieser durch einen Sprechakt als Signifikat einer im Denk- und Literatursystem adäquaten Beziehung ausgewiesen wird. Demgegenüber ist die Sprache der Ärzte durch den Kontext von Dorchens Schwangerschaft als fehlgeschlagenes Klistier immer stark sexuell konnotiert: PILLIFEX: Hat sie etwan eine materiam tumificantem oder dickmachende Materie zu sich genommen? [... ]Hat sie sich etwan einmal ein Clystir geben lassen, welches so uebel angeschlagen? (S. 47, Z. 18-27) Durch den impliziten Vergleich der Klistierspritze mit dem Phallus wird das Merkmal des illegitim Sexuellen auf die von den Ärzten angewendeten medizinischen Techniken übertragen. Damit erscheint auch der medizinische Umgang mit Frau Vielgutin als normverstoßende sexuelle Belästigung, wenn Pillifex sie bei "offenem Leibe erhalten" (S. 32) will und Friedrich daraufhln reagiert: Und hat ihr zuweilen was gefehlet: Ist nicht das viele Einschuetten, Eingießen und Einspruetzen aller ihrer Quacksalbereien, hinten, vorne, oben und unten Schuld daran gewesen? (S. 32, Z. 29 -S. 33, Z. 1) Der männliche Arzt macht die Frau also krank, indem er sie durch alle möglichen Körperöffnungen mit Hilfe seiner medizinischen Instrumente penetriert und von ihm zubereitete Flüssigkeiten in ihren Innenraum ergießt. So, wie der männliche Samen im direkten sexuellen Kontakt Leben zeugend ist, sind die technisch-künstlich aufbereiteten Heilmittel des Arztes in Wirklichkeit die Inversion von Leben, die auch Luisgen droht: Da kommen sie mit Glaesern, Buechsen, Pulvern, Kraeutern, Pillen und hunderterley anderem naerrischem Zeuge gerennet, und schuetten es nicht nur meiner Mutter ein, sondern wollen auch mir ihr Geschmiere mit Gewalt einzwingen. (S. 20, Z. 3-8) Zeichenhaft bilden die medizinischen Techniken hier somit letztlich das ab, was Luisgen auch auf der Handlungsebene bevorsteht, wenn der Plan der Ärzte Erfolg hätte und Luisgen gemäß ihres beiderseitigen Vertrages sexuelle Verfügungsmasse für Pillifex und Recept sein soll. Mit den medizinischen Techniken und ihrer Abwehr durch Luisgen wird im Stück das Sexuelle, für das der medizinisch untersuchte und therapierte Körper stellvertretend steht, wahrnehmbar gemacht. Diese Strategie des Textes, das eigentlich Gemeinte des Sexuellen an den ausgegrenzten medizinischen Umgang mit dem Körper zu binden, gibt dabei gleichzeitig das Verfahren vor, wie das Körperliche und damit das Sexuelle aus der Konzeption der Person auszugrenzen ist: Das Sexuelle ist das potenziell Gefährliche und Gefährdende, das im als 'Außen' gedachten Körper sichtbar ist und von der Vernunft im 'Innen' der Person eigenständig durch Selbstkontrolle zu distanzieren ist. Es liegt eben in der Eigenverantwortung der Person, dass sie durch ihr Handeln die Grenze zwischen 'Innen' und 'Außen' aufrecht erhält und die innen wirkende Vernunft über das äußerlich Körperliche dominieren lässt. 18 Jan-Oliver Decker 'Semiologie' als 'Symptomatologie': Der Körper als Zeichensystem im Drama der Aufklärung Das Körperliche ist im Lustspiel der Frühaufklärung noch als zentrales Problem z.B. der hypochondrischen Charaktere oder im direkten Umgang mit Ärzten und Medizin präsent, wird jedoch zunehmend in den 1750er Jahren durch die Etablierung des 'empfindsamen' Diskurses ignoriert, der das Innenleben der Person als maßgeblich setzt. Mit Lessings Miss Sara Sampson (1755) wird dabei der grundsätzliche Umgang mit dem Körperlichen vorgeführt. Die ganze Handlung wird durch den außerehelichen Sexualakt von Sara und Mellefont ursächlich ausgelöst. Der konkrete körperliche Sexualakt wird jedoch als zentraler Normverstoß in die Vorgeschichte verbannt, während mit Dramenbeginn als Reaktion emotionale Befindlichkeiten ausgebreitet werden. Diese dienen letztlich dazu, das Körperliche in der Vorgeschichte zu nivellieren und die Dominanz des Innenlebens der Person über den Körper wieder herzustellen. Das zentrale Konfliktfeld ist von der Leitopposition Körper vs. Seele und ihrer räumlichen Semantik als außen vs. innen in das Innere der Person als Konflikt zwischen Gefühl vs. Vernunft verlagert worden. Das unmittelbar Körperliche ist als relevantes Problemfeld auch ganz direkt aus dem Drama der mittleren Aufklärung ausgegrenzt. 20 Die Kontrolle des Körpers wird, wie an Mylius' Aerzten paradigmatisch vorgeführt, in der Frühaufklärung an die Person und nicht an den traditionellen und institutionalisierten Diskurs der Medizin delegiert. Damit ergibt sich eine paradoxe Konzeption der Person, in der der Körper und seine Funktionen nicht primär zur Person gehören, diese das unmittelbar Körperliche aber abwehren und von der Vernunft als werthaftem Kern der Person distanzieren muss. Die Person erscheint implizit eben doch als irreduzibles, unteilbares Ganzes aus Körper und Seele. Logische Grundlage für diese paradoxe Konzeption ist dabei im Denksystem der Aufklärung das Postulat der sinnlichen und damit körperlichen Vermittlung empirischer Daten, auf denen der Vernunftgebrauch basieren soll. 21 Diese Medialisierung des Körpers ist das eigentlich zu bewältigende Problem, das in der Frühaufklärung virulent wird. Anhand des einen empirisch wahrnehmbaren Körpers manifestieren sich somit zwei Konzepte von Körperlichkeit: 1. das Konzept einer positiv bewerteten medialen Qualität des Körpers, die die Bereitstellung empirischer Daten als Grundlage des Vernunftgebrauchs garantiert und 2. das Konzept einer negativ bewerteten Körperlichkeit, die als Bedrohung durch den Selbstverlust an das Sexuelle immer als das die Einheit der Person Gefährdende und Gefährliche vom 'Innen' der Person eigenverantwortlich abgewehrt werden muss. Insofern der nur eine faktisch wahrnehmbare Körper in beiden Konzepten von Körperlichkeit auf das Innenleben der Pers.on und dessen Primat bezogen ist, verwundert es nicht, das in den Dramen der mittleren Aufklärung oftmals Dialoge gerade um die empirische Wahrnehmbarkeit und Deutung des faktischen Körpers kreisen. Dass der Körper grundsätzlich ein zu deutendes semiotisches Problem darstellt, aus dem Rückschlüsse aufdas Innenleben der Person ableitbar sind, wird dabei als Strategie direkt dem medizinischen Diskurs entlehnt. 22 Der Körper wird als Objekt einer Symptomatologie verstanden, bei dem körperliche Zeichen ursächlich auf Anderes verweisen. Der faktisch wahrnehmbare Körper offenbart in den literarischen Texten zwar keine physischen Krankheiten im Sinne des medizinischen Diskurses, dafür verweist er aber indexikalisch auf ein mögliches krankhaftes Innen der Person. 23 Dabei konzentriert sich die Deutung des faktischen Körpers und des in ihm manifesten Innenlebens stellvertretend an der Physiognomie, der Mimik und der Gestik einer Person, die als natürliche Zeichen im Sinne des unmittelbar Wahrnehmbaren und konkreten organisch-physischen Körpers gedacht werden und ihn substituieren. 24 Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 19 So forscht zu Beginn von Johann Gottlob Benjamin P{eils Lucie Woodvil (1756) ihr Vater Wilhelm ausführlich in Lucies Gesichtszügen, um zu priifen, ob sich in ihnen eine maßlos leidenschaftliche, normverstoßende, inzestuöse Liebe zu ihrem Bruder manifestiert. Da in der Vorgeschichte faktisch dieser inzestuöse Sexualakt stattgefunden hat, zeichnet sich gleichsam dieser Normverstoß körperlich in Lucies Gesicht ab, wenn ihr Vater feststellt: Aber Freund! Was für eine quälende Entdeckung habe ich für mich gemacht! Ihr Auge verrät seit einiger Zeit einen heimlichen Gram (S. 193) 25 Das Körperliche erscheint hier als zu interpretierendes und sprachlich zu dekodierendes Zeichensystem für das emotionale 'Innen' der Person. Was der Körper als Zeichensystem vermittelt, sindunkontrollierbare Affekte, leidenschaftliche Emotionen und soziale Normverstöße, die durch sprachliche Dekodierung objektiviert und lesbar und schließlich der sozialen Kontrolle durch das Familienoberhaupt unterworfen werden müssen. Auf die Beobachtung folgt unmittelbar Lucies inquisitorische Befragung durch den Vater. An Lucie manifestiert sich im weiteren Verlauf des Dramas auch eine neue Konzeption der Person. Lucie, die eininal das Körperliche nicht abwehren konnte, verliert immer mehr ihre emotionale Kontrolle und wird damit fortschreitend zu immer schwereren Normverstößen getrieben. Gleichzeitig erlangt sie jedoch eine Perfektion in der Kontrolle über ihren Körper: Sie wird zu einer Künstlerin der Verstellung. 26 Der Körper, seine Gestik und Mimik, werden als objektives Zeichensystem vom konkreten Körper getrennt und als manipulierbare Sprache funktionalisiert. Die unkontrollierte Emotion nimmt damit die Vernunft in den Dienst, um den Körper als Maske der Person und ihres normverletzenden Innenlebens zu gebrauchen. Das Körperliche, der einmalige konkrete Sexualakt in der Vorgeschichte, ist sozusagen durch seine sinnliche Wahrnehmung in das emotionale 'Innen' Lucies eingedrungen und als normverletzende inzestuöse Leidenschaft internalisiert worden. Das Innere der Person wird somit in Pfeils Text nicht mehr noch wie bei Mylius' Aerzten allein durch Vernunft, sondern durch Vernunft und Emotion definiert und differenziert. Die Vernunft ist dabei ex negativo die oberste Kontrollinstanz der Person. Das primär Gefährliche ist nicht mehr das konkrete körperliche 'Außen' sondern das emotionale Innenleben der Person. Die Verschiebung des Gefahrenpotentials vom Körperlichen als einem als ein faktisches 'Außen' des konkreten Körper gedachtes in das emotionale 'Innen' der Person verhält sich dabei reziprok zur Kontrolle des Körperlichen. Der konkrete Körper ist als bloßer Reflex des Inneren der Person soweit aus der Konzeption der Person ausgegrenzt, dass das Paradoxon eines äußerlich kontrollierten, innerlich emotional aber völlig aus der Kontrolle geratenen Subjekts entstehen kann, paradigmatisches Phänomen vor allem der gleichnamigen Hauptfiguren in den heroischen Trauerspielen Christian Felix Weißes Richard III. (1759) und Rosemunde (1761). Mit der radikalisierten Ausgrenzung des Körperlichen aus der Konzeption der Person und der Verlagerung des 'Innen' vs. 'Außen'-Konfliktes auf den Konflikt zwischen Vernunft und Gefühl im Inneren der Person tritt das Phänomen einer doppelten Abspaltung des Körperlichen auf: Vom werthaften Kern der Person, ihrer Vernunft, muss das Gefühl als zu kontrollierendes, gefährliches Potenzial des Körperlichen abgespalten werden, um das konkret körperlich-Sexuelle, das, was in der Regel den faktischen Normverstoß in den Dramen darstellt, weiterhin von der Person in einem abgespaltenen Zustand zu lassen. Letztlich tritt damit im Verlauf der Aufklärung im Drama eine zunehmende Differenzierung zwischen einem äußerlich wahrnehmbaren Körper als semiotisches Problem und einer abzuwehrenden Körperlichkeit als Problem bei der Konzeption der Person auf. 20 Jan-Oliver Decker An diesem Punkt findet sich in den Dramen der Aufklärung eine neue Relevanz von Elementen des medizinischen Diskurses, die, wie die traditionelle Säftelehre, sicherlich zu einem allgemeinen kulturellen Wissen der Epoche geworden sind Paradigmatisch fassbar ist diese neue Relevanz des medizinischen Diskurses in Christian Felix Weißes Trauerspiel Der Fanatismus oder Jean Calas (1780). Ursache für den handlungsauslösenden Selbstmord des Marc Antoine, dem Sohn von Jean Calas, ist ein "gallensüchtiges, störrisches Wesen" (S. 22) 27 , das in einer übersteigerten Einbildungskraft begründet wird. Das aus der Säfte- und Temperamentenlehre bekannte Modell des Melancholikers wird hier zur Pathologisierung der neuen psychischen Größe der Einbildungskraft funktionalisiert. Das konkrete, physische Körperliche scheint hier nicht das zentrale zu deutende oder zu bewältigende Problem zu sein. Marc Antoines Einbildungskraft wird im Text schließlich durch den Selbstmord verherrlichende Bücher falsch genährt und so seine eigene Selbsttötung motiviert. 28 Die Einbildungskraft, stellt damit eigentlich so etwas wie einen Kanal dar, der ein 'Außen', die Bücher, an das 'Innen' der Person vermittelt. Gleichzeitig ist die Einbildungskraft aber auch ein Teil des konstitutiven 'Innen' der Person, indem sie die Wahmehmungen aus dem 'Außen' filtert und mit den Emotionen der Person verbindet. Als Bestandteil des Innenlebens der Person ist die Einbildungskraft somit ein potenziell die Person Gefährdendes, das unter Kontrolle zu bringen ist. Sie ersetzt dabei das Konzept einer mediatisierten Körperlichkeit, die organischphysisch manifeste sinnliche Wahmehmung, und übernimmt den Status, den der konkrete Körper noch in der Frühaufklärung wie in Mylius' Aerzten übernommen hat. Die Einbildungskraft stellt damit das ambivalente Problem eines neu Abzuwehrenden und Abzuspaltenden in der Konzeption der Person, das zugleich wesentliche integrierende Funktionen im Inneren der Person übernimmt. 29 Als These lässt sich formulieren, dass die zunehmende Differenzierung und Problematisierung des 'Innen' bei dieser Konzeption der Person den konkreten Körper und das sexuell bedrohliche Körperliche als Problem auf eine Schwundstufe zurückführt. In dem Moment, wo diese Schwundstufe erreicht ist, können aus· der Körperlichkeit abgeleitete Bilder des medizinischen Diskurses, wie aus der traditionellen Säftelehre, in Weißes Jean Calas zur Stigmatisierung Marc Antoines und damit zur Pathologisierung von innerpersonellen Größen am Rande wieder Eingang in das Drama der Aufklärung finden. ■ Das Fallbeispiel Romeo und Julie. Ein bürgerliches Trauerspiel infü,nfAufzügen (1768) von Christian Felix Weiße Die Vorrede legitimiert den seinerzeit sehr erfolgreichen Text durch Orientierung an den Originalquellen, seine als realitätsnah postulierte Prosa und die Konzentration auf die Schlusskatastrophe implizit als Verbesserung der Shakespeareschen Vorlage, deren wesentliche Handlungsstränge (Feindschaft der beiden Häuser Capellet und Montecchio, heimliches Kennenlernen von Romeo undJulie, Ermordung Tebaldos durch Romeo, heimliche Hochzeit) als Vorgeschichte berichtet werden. Trotz der Behauptung, sich an die Originalquellen zu halten, nimmt Weiße zwei entscheidende Veränderungen vor. Zum einen führt er als Helferfigur für Romeo und Julie den Arzt Benvoglio ein. Zum anderen versucht er nach dem Tod der Kinder durch die Versöhnung der Väter Capellet und Montecchio über den Leichnamen der Kinder der Katastrophe einen Sinn zu geben. 30 Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 21 Handlungs- und Konfliktstruktur, Werte und Normen Der Text beginnt nach der Heirat von Romeo und Julie, von der die Eltern beider nichts wissen, mit Romeos heimlichen Abschied in die Verbannung nach Mantua. Julies Vater Capellet will sie, gegen den Widerstand seiner Tochter und deren Partei ergreifende Mutter, spätestens am nächsten Morgen mit dem Partner seiner Wahl, dem Grafen Paride von Lodrona, verheiraten. Benvoglio, Arzt beider Familien und Vertrauter des heimlichen Ehepaares, versetzt daraufhin Julie in den Scheintod, um ihr aus der Familiengruft die Flucht zu Romeo nach Mantua zu ermöglichen. Da Romeo sich nicht an den eigentlichen Fluchtplan hält und nie in Mantua ankommt, erfährt er nichts von Benvoglios Plan, wohl aber von Julies als wahr geglaubtem Scheintod. Er dringt in die Familiengruft, um sich aus Liebeskummer zu vergiften. Nach Einnahme des Giftes erwacht Julie und beide erkennen, dass ihr jeweils überstürztes Handeln selbstverschuldet in die Katatstrophe führte. Nach Romeos Tod kann der hinzukommende Benvoglio nicht verhindern, dass sich Julie in Romeos Degen stürzt. In den später weggelassenen letzten beiden Auftritten bekommt die Katastrophe einen Pseudo-Sinn. Montecchio und Capellet treffen am Grab der Kinder aufeinander, bereuen ihre Familienfehde als Ursache des Todes der Kinder und versöhnen sich. Ganz dem Aufklärungsdenken verhaftet, soll die Katastrophe eine bessernde und belehrende Funktion im Diesseits bekommen, obwohl unklar bleibt, welchen Sinn die Versöhnung der mit Romeo und Julie ausgestorbenen Familien am Ende noch haben soll. Die zentralen Werte des Stückes sind wie die aufgesetzte Sinngebung am Schluss ebenfalls relevanten Normen aufklärerischer Literatur verpflichtet: So bewertet der Text durch seine durchgehende Krankheitsmetaphorik Romeos und vor allem Julies extreme Leidenschaft als ein unvernünftiges 'Zuviel' an Emotion, das zwangsläufig zu individuellem Fehlverhalten und notwendig zu Sinnverlust und Scheitern der Protagonisten im Diesseits führen muss. Zugleich verwahrt sich der Text gegen den autoritären elterlichen Zwang der Partnerbestimmung, eigentlich zur Zeit der Textproduktion veraltetes Anliegen der Lustspiele in der Frühaufklärung. So tritt Julies Mutter vergeblich für ein längst in der Literatur etabliertes Modell der Paarbildung ein, bei dem der nach Neigung der Kinder gefallenen Partnerwahl zuzustimmen ist, wenn sich der Partner als sozial gleichwertig erweist. 31 Julies Vater erhebt demgegenüber nicht nur den Anspruch, unumschränkt über seine Tochter, sondern auch über seine Frau zu herrschen. Ex negativo lässt sich damit aus dem Handlungsverlauf schließen, dass der Text für eine harmonische Paarbeziehung plädiert, bei der der Mann die Frau zwar dominiert, aber auf ihre vernünftigen Ratschläge eingeht und alle familiären Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. Erscheint auf dieser Folie Julies Widerstand gegen ihren Vater vielleicht noch legitim, bewertet der Text das Belügen der Mutter als relevanten Normverstoß Julies. Julie wird von ihrer sie verständnisvoll liebenden Mutter immer wieder genötigt, die wahren Gründe für ihre Ablehnung Parides offenzulegen. Julies mangelndes Vertrauen in die Liebe der Mutter führt zu einer Transformation ihrer Person, einem wahnhaft gesteigerten, generellen Misstrauen auch gegen die Figuren, die ihr helfen wollen. Sie erzählt ihrer sonst in alles eingeweihten Vertrauten Laura nichts vom Plan mit dem Scheintod, so dass Laura Romeos Diener von Julies vermeintlich faktischem Tod erzählt und Romeo schließlich mit Selbstmordabsicht an Julies Grab zurückholt. Selbst den Benvoglio verdächtigt sie schließlich, sie nicht nur in den Scheintod zu versetzen, sondern sie faktisch aus Selbstschutz ermorden zu wollen, da er vermeintlich Rache ihres Vaters für die Unterstützung von Julies Heirat mit Romeo fürchtet. Über die faktischen Zusammenhänge hinaus gesteigertes Misstrauen und Vorspielen des 22 Jan-Oliver Decker Scheintodes setzt der Text dann als die zentralen Normverstöße Julies schließlich in einen unmittelbaren Zusammenhang: Die Trauer um Julies Tod ist bei Vater und Mutter ungeheuer groß. Julies Mutter droht der Tod aus Kummer über den Verlust der Tochter, zumindest aber der ständige Selbstverlust durch andauernde und unvermeidbare Ohnmachtsanfälle. Julie ist zeichenhaft zur Muttermörderin geworden, die ihren vorgespielten Tod mit dem faktischen Tod bezahlen muss. Darüber hinaus löst Julies Scheintod beim Vater einen Lernprozess aus. Er bereut im Kreise der Familie und ihrer Vertrauten seine Härte und den Zwang, den er Julie angetan hat, als vermeintliche Ursache ihres Todes aus Erschöpfung und versucht Julies Seele in ihren Körper zurück zu holen, indem er ihr unumschränkt das Recht zur Partnerbestimmung einräumt. Insgesamt erweist sich ganz im Sinne aufklärerischen Denkens der unvernünftige Eigensinn aller Figuren als Ursache der Katastrophe. Die Kinder halten eigensinnig an ihrem 'Zuviel' an leidenschaftlichen Emotionen fest. Die Eltern, vor allem der Vater, halten eigensinnig an einem 'Zuwenig' an Emotionen gegenüber der Tochter und an einer unsinnigen und über die Generationen vererbten Familienfehde fest. Im Ganzen plädiert der Text damit für ein Mittelmaß an Emotionen durch eine vemunftgesteuerte, affektive Selbstkontrolle sowohl der Eltern als auch der Kinder, die beide gleichermaßen Schuld an der Zerstörung ihrer Familien haben. 32 Liebeskrankheit, körperliche Metaphorik und das 'Emotionssomatische' Mit Julie liegt am Anfang zunächst keine primär physisch Kranke vor, auch wenn sie im Verlauf des Stückes zu einer solchen wird, und sich blass, matt und abgeschlagen entweder auf ihre Vertraute Laura oder ihre Mutter stützen muss und schließlich von ihren Eltern auch ihr Scheintod als Tod aus Erschöpfung akzeptiert wird. Julies Krankheit ist ähnlich wie die vernunftsomatische Krankheit der Frau Vielgutin in Mylius Aerzten eine Krankheit, die ihre Ursache im Innern der Person hat: LAURA: Ihre Krankheit muß tiefer als des Tebaldo Grabe liegen: vielleicht in ihrem Herzen ... und ich fürchte, man wird es ihr zerreißen, wenn man ihr Übel herausgraben will. (S. 252, z. 14-17) 33 Julies körperliche Krankheit wird hier eindeutig als Zeichen für einen inneren emotionalen Konflikt der Personangesehen. Die Ursache dieser, pointiert als 'emotionssomatisch' benennbaren, Krankheit, liegt dabei in der Trennung vom Geliebten begründet. Julies "milzsüchtiger Gram" (S. 256), ihre Melancholie, ihre emotionalen Ausbrüche und Wahnvorstellungen steigern sich im Dramenverlauf mit der zeitlich wachsenden Trennung von Romeo. Julie wird somit vor allem durch ins Extreme gesteigerte Gefühle, durch eine leidenschaftliche Liebe zu Romeo definiert, wie sie selbst offenbart, als sie Laura gegenüber ihre Hoffnung ausspricht, dass ihre Liebe zu Romeo vielleicht die Familienfehde beenden könnte: JULIE: Unsere gegenseitige Leidenschaft, dachte das alberne Mädchen, kann vielleicht das Mittel zu einem festen und dauerhaften Frieden werden! (S. 242, Z. 9-11) Diese Liebe entwickelt sich nicht, wie noch die von Luisgen und Damon, sondern sie überwältigt die Person vom ersten konkreten Augenblick an: JULIE: Dm sehen und ihn lieben war eins. (S. 241, z. 16/ 17) Körper/ A,zt / Medizin/ Technik 23 Romeo ist dabei für Julie der eine und einzige optimale Partner, von dessen Erlangung für das Subjekt die Existenz vollständig abhängt. 34 Der geliebte Mensch ist dabei in folgender ambivalenter Stelle nicht nur als Vorstellung vollständig in das Innere der Person eingedrungen und wird gleichsam aus dem Inneren heraus selbst produziert, sondern der Geliebte ist zugleich auch ein genaues Abbild des eigenen Kerns der Person: JULIE: Romeo war wie ein Bild meiner Seele! (S. 242, Z. 18/ 19) Die Vorstellung des Geliebten 'Du' ersetzt das eigene 'Ich'. Genau diesen Selbstverlust soll Benvoglio auf der Handlungsebene durch die Wiedervereingung der Liebenden in der Gruft heilen: JULIE (zu Benvoglio): [...], haben Sie kein Mittel, mir das Leben zu erhalten? kein Mittel, diesen kranken Leib mit seiner Seele zu vereinigen? (S. 273,18/ 19) Doch genau gegen diesen Selbstverlust des Subjektes durch seine übersteigerte Leidenschaft schreibt der Text durch die Sanktionen im Handlungsverlauf an. In Julie manifestiert sich nicht nur durch die Trennung vom Geliebten eine Spaltung der Person, sondern das vom Text favorisierte Modell eines Gleichgewichts von emotionalem 'Innen' und körperlichen'Außen' gerät grundsätzlich durch die leidenschaftliche Liebe von Romeo und Julie verloren. 35 Dies manifestiert sich paradigmatisch in Julies Erzählung von ihrem gegenseitigen Liebesgeständnis: JULIE: Mit jedem Finger, der mich berührte, drückte er mir einen Pfeil der Liebe ins Herz. (S. 241, z. 24/ 25) Romeo dringt hier metaphorisch als personifizierter Liebesgott in das Innen von Julie. Diese Besitznahme durch Penetration wird im folgenden dann auch sexuell konnotiert: JULIE: Was er mir nur eingeben konnte, zerfloß wie Schneeflocken vor dem Hauche der wärmeren Luft und befruchtete die Liebe in dem Innersten meines Herzens. (S. 242, Z. 18/ 19) Durch Farbe und Konsistenz wird hier implizit eine Vergleichsebene zum männlichen Samen eingerichtet, der zielgerichtet eine gesteigerte Emotionalität der Frau verursacht. Der Mann gibt der Frau durch den Akt der emotionalen Penetration das Geschenk gesteigerten Lebens: JULIE: Von Romeos Lippen floß Balsam! meine Seele schwamm in einer unaussprechlichen Wollust! (S. 242, Z. 28/ 29) Dieses gesteigerte, allein der Emotion verpflichtete Leben wird hier metaphorisch auf genau den Höhepunkt getrieben, in dem der Kern von Julies Person droht, sich in der Hingabe an das Gefühl aufzulösen. Dieser Verlust der emotionalen Kontrolle und diese Lust an der Aufgabe der emotionalen Kontrolle führen schließlich dazu, dass Julies Einbildungskraft außer Kontrolle gerät und sie faktisch gegen Ende des Stückes zunehmend wahnsinniger wird: LAURA (über Julie): Ihre Phantasie spielet mit dem Grabe als wie mit ihrem Brautbette und malet ihr die Leichenfarbe als die schönste Farbe in der Natur vor. (S. 252, Z 1-3) Julie entwickelt eine faktische Todessehnsucht, die die Vereinigung mit Romeo in einem Grab schon zu Beginn des Dramas als endgültige Wiedervereinigung und Ziel beim Abschied· von Romeo vorformuliert: 24 Jan-Oliver Decker JULm: Sieh mich noch recht an - Du scheinst mir bleich wie das Grab! Scheine ich dir nicht auch so? - Oh Romeo, laß mich meine Seele in die deinige atmen! (Sie fällt ihm um den Hals.)- und sterben- (S. 249, Z. 8-11) Insgesamt repräsentiertJulie eine Konzeption der Person, bei der das auszugrenzende Gefährliche nicht mehr der konkrete körperliche Sexualakt wie noch in Mylius' Aerzten ist. Das Sexuelle wird in Weißes Romeo und Julie vielmehr auf das Emotionale als relevantem Kern der Person projiziert. Der emotionale Teil des Kernes der Person muss dabei von der Vernunft dominiert und unter Kontrolle gebracht werden, wie noch in der Frühaufklärung das konkrete Körperliche. Gelingt dies nicht, so demonstriert der Text an Julie, kommt es zu elementarem Kontrollverlust, eben jenen Wahnsinnsausbrüchen, die in einer nicht mehr in einem Gleichgewicht integrierbaren Einbildungskraft begründet werden. Diese Einbildungskraft vermittelt dabei zum einen das konkrete körperliche 'Außen' der Beziehung von Romeo und Julie an Julies emotionalen Kern im Inneren ihrer Person. Das körperlich Sexuelle wird in innere Bilder übersetzt. Zum anderen vermittelt Julies Einbildungskraft ihr gestörtes Gleichgewicht zwischen Emotion und Vernunft an das sie umgebende 'Außen', indem es Zeichen auf ihrem eigenen konkreten Körper hinterlässt. Diese Zeichen können nun als Krankheitszeichen wahrg~nommen und unter Referenz auf einen medizinischen Diskurs thematisiert und interpretiert werden. Es kommt zu einer symptomatologischen Diskussion des Sexuellen unter dem Aspekt einer inneren Krankheit der Person. Damit wird zum einen gewährleistet, dass eine konkrete körperliche Ebene ausgeblendet bleiben, sprachlich-zeichenhaftjedoch verbalisiert und pathologisiert werden kann. Zum anderen wird die Gefährlichkeit des körperlich Sexuellen als solches verschärft und radikalisiert. Dem Text geht es nicht mehr so sehr um den konkreten Sexualakt zwischen Romeo und Julie, beide sind, wenn auch ohne die Zustimmung der Eltern, immerhin verheiratet. Der Text behauptet vielmehr, dass die Internalisierung des körperlich-Sexuellen in den emotionalen Kern der Person die eigentlich relevante Gefahr für das Subjekt ist. Das, was eigentlich draußen bleiben muss, bemächtigt sich des Innenlebens der Person. Der Arzt als versagender Sozialhelfer In Weißes Romeo und Julie ist der Familienarzt Benvoglio letztlich die zentrale Figur, die in den eigentlich schützenswerten Raum der Familie eindringt und gleichsam katalysatorisch die in den Figuren angelegten Normverstöße in die chemische Reaktion der Handlung umsetzt. Rudimentär referiert Benvoglio noch auf das Stereotyp der abgewerteten Mediziner in Mylius Aerzten. Zwar fügt er nicht wie sie aus krimineller Absicht seinen Patienten Schaden zu, doch ähnlich wie sie hat er z.B. einen sprechenden Namen, 'Gutes Wollen', aber Böses schaffen, wie man ergänzen möchte. Ähnlich wie Pillifex und Recept maßt er sich unrechtmäßig eine übergeordnete, allwissende Position an, die er am Ende als Normverstoß erkennt: BENVOGLIO: Menschenweisheit war unnütze : ich glaubte den Gipfel der Vorsicht und Klugheit erstiegen zu haben: ...aber siehe, alles schlägt fehl! (S. 301, Z. 36- S. 302, Z. 1) Diese übergeordnete Position wird im Text mit Julies ärztlich erzeugtem Scheintod in der Handlung verbunden. Der auf den Scheintod folgende faktische Tod der Liebenden kennzeichnet Benvoglios ärztliche Kunst schließlich als Anmaßung der göttlichen Allmacht; Leben zu nehmen und zu geben. Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 25 Auch Benvoglio nützt ähnlich wie Pillifex und Recept die Familie aus, zwar nicht fmanziell, doch eignet er sich in der Vorgeschichte zunächst die Vaterstelle für Julie an: JULIE: Sie wissen, unter ihren Augen - Sie vertraten Vaterstelle habe ich' s ihm zugesagt. Der Pater Laurentius legte unsre Hände ineinander und die Lippen stammelten vor Freude ''Ja", [...] (S. 272, Z. 31-33) Was sich Benvoglio damit im Sinne des Textes widerrechtlich aneignen will, ist offenbar eine nicht vorhandene eigene biologische Familie, wie sich nach Romeos und kurz vor Julies Selbstmord herausstellt: BENVOGLIO: Um Gottes Willen meine Julie! meine Freundin! meine geliebteste Tochter! ... ja Sie sollen meine Tochter sein in meinem Herzen und in meiner Sorgfalt! - Verlassen Sie diese schwarzen Gedanken! folgen Sie mir! lch habe den Romeo wie einen Bruder, wie einen Sohn geliebt! das wissen Sie! mit Gefahr meines Lebens und meines Glücks habe ich an dem Ihrigen, an Ihrer Vereinigung, an der Erfüllung ihrer beiderseitigen Wünsche gearbeitet Rauben Sie mir nicht noch sich! (S. 301, Z 25-31). Damit wird, pointiert formuliert, die von Benvoglio vorangetriebene Ehe seiner quasi-Adoptivkinder rückwirkend als metaphorischer Inzest semantisiert und damit in der Literatur der Zeit per se zum Scheitern verurteilt. 36 Benvoglio wird vom Text somit grundlegend als von den geltenden Normen abweichende Figur ausgegrenzt und, ähnlich wie die Mediziner in Mylius' Aerzten, in seiner Funktion als Personifikation der medizinischen Praxis desavouiert. Er ist der Kurpfuscher, der, statt Leben zu erhalten, mit dem Scheintod Julies den Selbstmord seiner Patienten herbeiführt. Der Text bildet dabei eine grundsätzliche Strategie der von den Figuren favorisierten Heilmethoden auf der Ebene der Handlung ab: Quasi homöopathisch wird der Patient mit dem kuriert, wovon er eigentlich geheilt werden soll. 37 So ist die Ursache für Julies Liebeskrankheit ihr 'Zuviel' an Emotionen für Romeo, deren Ausleben sie als einziges Heilmittel akzeptiert. So favorisieren ähnlich die Eltern Julies eine Therapierung der Liebeskrankheit ihrer Tochter durch die Liebe zu Pari.de. So will Julie den Schmerz über die Trennung von Romeo hinwegkommen, indem sie mit Benvoglio immer über seine Abwesenheit spricht. Für Julie ist Benvoglio "itzt recht ein Arzt für unsre verwundeten Seelen! " (S. 242). Sie erwartet von ihm also keine Heilung ihres Körpers sondern ihrer Person. Julie delegiert mit ihrer Auslieferung an Benvoglio insgesamt einen Teil der Eigenverantwortung für ihr personelles Gleichgwicht an den sie behandelnden Arzt. Sie projiziert ihr intrapersonales Problem auf die Beziehung Arzt-Patient, die Benvoglio fast begierig und seine Position genießend annimmt. Benvoglio ist in seinem Selbstverständnis so etwas wie ein 'Sozialhelfer', der nicht nur Romeo undJulie zu ihrem Liebesglück verhelfen, sondern auch durch den im Hintergrund angeblich operierenden Prinzen von Verona die verfeindeten Familien versöhnen will. Der Text führt an Benvoglio aber insgesamt vor, dass seine 'Sozialhilfe' zum Scheitern verurteilt ist. Auf dieser Folie bekomnit auch die Vaterfunktion Benvoglios eine neue Bedeutung: Die zärtlich-fürsorgliche Familie, ist der einzig denkbare Raum, in dem das einzelne Subjekt die vernunftgemäße Kontrolle seines innerpersonellen Gleichgewichtes erlernen kann. Diese Aufgabe der Familie kann nicht an Vertreter institutionalisierter Diskurse z.B. der Medizin delegiert werden. Obwohl die Familie im konkreten Fall versagt, wird sie durch das Versagen des inadäquaten Vaterersatzes Benvoglio, der ja eben nur Gutes will, als soziales Regulativ der Kontrolle idealisiert und trotz des Scheiterns im vorgeführten Einzelfall als abstrakte Idee gegen denkbare Alt~rnativen immunisiert. 26 Jan-Oliver Decker In diesem ideologischen Zusammenhang bekommt auch die intertextuelle Komponente, der explizite Verweis auf Shakespeare in der Vorrede, eine übergeordnete Bedeutungsdimension. Die Shakespearesche Vorlage und der Bezug auf sie bedingt zwangsläufig das Scheitern der Liebesbeziehung von Romeo und Julie. Indem Weiße insoweit auf die Vorlage zurückgreift, aber ihr entgegengesetzt anstatt des Mönches die Rolle des Helfers mit dem Arzt Benvoglio besetzt, gelingt dem Text durch Aufgreifendes medizinischen Diskurses insgesamt die Abwehr von 'Sturm und Drang' -Tendenzen, wie der leidenschaftlichen Liebeskonzeption von Romeo und Julie. Der Text verwendet den medizintechnischen Diskurs, um darin in der Zeit antimoderne Ideologeme zu verpacken und sich zugleich durch Bezug auf die literarische Vorlage und ihre angebliche Verbesserung aufliterarische Autorität und Qualität abzusichern. Pointiert gesprochen kann man sagen, dass Christian Felix Weißes Trauerspiel Romeo und Julie in diesem Sinne als Schutzimpfung traditioneller aufklärerischen Ideologie gegen den Verlust traditioneller Werte und Normen und der Familie als ihrer Institution im Denk- und Literatursystem fungieren will. Zum Kontext von Arztrolle und medizinischem Diskurs in der Literatur der Spätaufldärung Die deutlich antimodernistischen Tendenzen in Weißes Romeo und Julie bedingen, dass das, was abgewehrt wird, eine systemische Relevanz in <1: er Literatur und im Denken beansprucht. Nur das, was als relevante Gefährdung bestehender Normierungen angesehen wird, ist es auch wert, so massiv ausgegrenzt zu werden. Implizit stellt Weißes Romeo und Julie damit einen Text dar, der die Schwelle zwischen dem Literatursystem 'Aufklärung' und dem Literatursystem 'Goethezeit' (1770-1830) markiert, indem er vorweg auf das unmittelbar folgende Literatursubsystem 'Sturm und Drang' reagiert. Der 'Sturm und Drang' ist dabei als ein System zu verstehen, das Elemente der vorangehenden 'Empfindsamkeit' radikalisiert. 38 Als solche Elemente erscheinen in Weißes Text: 1. Die extreme Leidenschaft Romeos und vor allem Julies. Als Selbstverwirklichung gilt im Text allein die erfüllte Liebesbeziehung mit dem einen, als unaustauschbar gedachten, optimalen Partner. Diese Leidenschaft behauptet damit einen Anspruch auf Erfüllung als einzigen Sinn des Individuums im Diesseits. Angesichts ihrer drohenden Nicht-Erfüllung wird die erfüllte Liebesbeziehung und damit die Sinnstiftung zwar ins Jenseits projiziert, bleibt aber als diesseitiger Wunsch und Anspruch bestehen. 2. Die Mitschuld der Vätergeneration am Scheitern der Liebesbeziehung ihre Bedrohung der Familie als die Ordnung garantierende Institution von innen heraus postuliert ein implizites Recht der Kinder auf Erfüllung ihrer Liebe im Diesseits. Gerade Julies Krankheit ist dabei eine weibliche Form der Auflehnung der Jugend und ihrer von der Elterngeneration nicht verstandenen Rechte gegen die Autorität des Vaters durch ihre Verweigerung, die Rolle als gehorsame Tochter zu erfüllen 3. Trotzdem Romeo und Julie scheitern, beanspruchen sie für sich das Recht, sich selbst zu helfen und sich autonom jenseits gültiger sozialer Ordnungen, sei es der Regierungsbezirk des Fürsten oder die Verfügungsgewalt der Väter, im fernen Mantua selbst zu verwirklichen. Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 27 Gerade die Abwehr dieser Tendenzen in Weißes Romeo und Julie durch die Bestrafung ermöglicht dabei, im Rückblick allgemeine Thesen zum Umgang mit Arztrolle und medizinischem Diskurs in der Aufklärung abzuleiten. 1. Die Abwehr der Ärzte bedeutet in den aufklärerischen Texten immer die Wiederherstellung des Primates der sozial im Idealfall durch den Vater repräsentierten traditionellen Ordnung und Autorität. Diese Ordnung manifestiert sich in der Person durch den Primat des Vernunftgebrauchs und die Abwehr des die Person gefährdenden Körperlich-Sexuellen. Die Abwehr der medizinisch-ärztlichen Autorität dient der Beweisführung für die Autorität der familiären Ordnung. In dem Moment, wo im 'Sturm und Drang' die Auflehnung gegen die väterlichen Autoritäten als legitime Durchsetzung der individuellen Selbstverwirklichung vorgezeichnet wird, verliert die Arztrolle damit an Bedeutung. Wenn die Abwehr der ärztlichen Autorität den Machtanspruch der väterlichen Ordnung kennzeichnet und in diesem Sinne eine eigene mediale Qualität hat, dann kann ihre Abwehr durch die Helden des 'Sturm und Drang' nicht mit der Abwehr der väterlichen Ordnung korreliert werden. Entgegengesetzt erscheint es entsprechend auch wenig sinnvoll, die Anerkennung ärztlicher Autorität zum Zeichen der Befreiung von der väterlichen Ordnung zu semiotisi~ren. 2. Die Opfer der Ärzte und die Personen, die eine bedrohliche Körperlichkeit abzuwehren haben, sind dominant Frauen. Körperliche Manifestation innerpersoneller Konflikte zwischen Vernunft und Gefühl ereignen sich als vermeintlich körperliche Krankheit, bei der ein Arzt eingreifen kann, bevorzugt in weiblichen Opfern. Dieser weibliche Opferstatus verknüpft das Konzept eines bedrohlich Sexuellen mit der weiblichen Geschlechterrolle. Zu vermuten ist, dass mit der Abwehr der Macht der Ärzte über die Frauen auch eine latente Abwehr der weiblichen Sexualität als Bedrohliches einhergeht. Das Weibliche steht exemplarisch damit für die Hingabe an das faktisch Körperlich-Sexuelle und damit auch für die Reduktion um den implizit männlichen Verstand auf den Körper, was die väterliche Ordnung wie in Mylius Aerzten oder in Weißes Romeo und Julie gefährdet. Dass die Konzentration auf den faktischen Körper implizit als weiblich semantisiert wird, beweist paradigmatisch Quistorps Hypchondrist, in dem Gotthard so in sich hineinhorcht und sein Gefühl über die Vernunft walten lässt, dass er sich grundlos für lasterhaft hält. Gotthards 'Zuviel' an Innerlichkeit und Gefühl lässt ihn dabei sozial unsicher werden und als Mann, als Freund und Liebhaber, versagen. Dem entgegen baut der 'Sturm und Drang' seine Handlungen aber auf den männlich tatkräftigen Helden auf, die sich auf sich selbst verlassen können und versuchen, sich selbstbestimmt jenseits der sozialen Ordnung autonom zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang kann, wenn überhaupt, faktisch körperliche Krankheit nur zum Zeichen des Anti-Helden im 'Sturm und Drang' werden. 3. Wenn der pathologisch relevante Körper eine ihm eigene mediale Qualität besitzt, bei der Probleme bei der Konzeption der Person bezeichnet werden, dann schwindet mit der zunehmenden Differenzierung des Innenlebens der Person in die Kategorien Vernunft, Emotion und Einbildungskraft und ihrer Konkurrenz untereinander; wie ausgeführt wurde, die Relevanz des faktischen Körpers und seiner für einen Arzt kurierbaren Funktionsstörungen. Wie erläutert wurde, wird das Sexuell-Körperliche in das Innenleben der Person als internalisierter emotionaler Konflikt verlagert und dabei zugleich der ambivalente Status des faktischen Körpers auf die subjektinterne Größe der Einbildungskraft projiziert. Damit müssen notwendig medizinische Heilverfahren, die sich auf den kon- 28 Jan-Oliver Decker k: reten Körper richten, scheitern. Im semantischen Zentrum der Zeichenfunktion des kranken und durch einen Arzt therapierten Körpers stehen eben genau die Konflikte, die eine geschlossene Konzeption der Person als in sich in allen Teilen harmonisches und sinnvolles Ganzes bedrohen. Insofern in den vorliegenden Texten der Medizin externe Qualitäten von Normen bei der Konzeption des Inneren der Person vorgelagert werden, scheitert die inadäquate Sozialhilfe Benvoglios in Weißes Romeo und Julie ebenso wie die Therapierung der eingebildeten Leiden der Frau Vielgutin in Mylius' Aerzten. Beide Therapien verschärfen darüber hinaus noch die eigentliche Konfliktlage. 4. Anzunehmen ist, dass zumindest im medizintechnischen Diskurs im Verlauf der Aufklärung moralische Konzepte kaum noch mit medizintechnischen Verfahrensweisen verbunden werden können. Dort, wo es im Schwerpunkt um die Optimierung von Operationstechniken und der Medikation geht, zählt allein der empirisch und wissenschaftlich abgesicherte Heilerfolg bei organisch-physischen Funktionsstörungen. Das Problem der Verbindung von kulturellen Werten und Normen mit dem medizinischen Diskurs ist insofern ein Problem des medizinischen Diskurses selbst, der im Verlauf der Aufldärung zu seiner Umstrukturierung führt, wie die wachsende Traktateliteratur der Zeit belegt. 39 Damit ist zumindest in der Dramenproduktion des 'Sturm und Drang' kaum noch Raum für dominante Konfliktfelder und Zeichenfunktionen im Bereich von Arztrolle und medizintechnischem Diskurs. Unbenommen von dieser Irrelevanz des medizintechnischen Diskurses übernehmen jedoch popularisierte Elemente des medizinischen Diskurses weiterhin eine indizierende Funktion. So verweisen Bilder aus der traditionellen Säftelehre gleichsam indexikalisch auf Konzepte Persönlichkeits-interner Störungen. Der Melancholiker ist, so wie ihn Marc Antoine in Weißes Jean Calas verkörpert, auch physisch-organisch als solcher erkennbar. Umgekehrt belegen die physisch-organischen Veränderungen, die durch die innere Gemütsstörung hervorgerufen werden, den pathologischen Status des verlorenen inneren Gleichgewichts und der harmonischen Ordnung des Inneulebens der Person. 40 ■ Das Fallbeispiel Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1829) von Johann Wolfgang Goethe Im Verlauf der 'Klassik' spielen Arztrolle und medizintechnischer Diskurs wie im 'Sturm und Drang' eine untergeordnete Rolle. 41 Umso erstaunlicher erscheint es damit zunächst, dass in Goethes Spätwerk Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1829) die Arztrolle - Wilhelm erlernt schließlich den Beruf des Wundarztes eine so große Rolle im Textzusammenhang erhält. Festhalten lässt sich, dass diese Berufsrolle Wilhelms vom Text durchweg positiv bewertet wird und somit oberflächlich nicht ohne Weiteres an die hier im Drama der Aufldärung dargelegten Funktionen von Arztrolle und medizintechnischem Diskurs anbindbar ist, zumal auch mit dem Roman eine ganz andere Gattung vorliegt. Als Hypothese sei hier vorformuliert, dass sich die Arztrolle in den Wanderjahren durchaus auf ähnliche Elemente bezieht wie im Drama der Aufldärung nur unter anderen Vorzeichen und in neuen Funktionszusammenhängen. Als die wichtigsten Elemente sind hier der Bezug auf ein abzuwehrendes Körperlich-Sexuelles und die Rolle des Arztes als Sozialhelfer zu nennen. Dabei wird in den Wanderjahren, anders als im Drama der Aufldärung, nicht gleichzeitig mit der Arztrolle ein Sexuell-Körperliches abgewehrt, sondern durch die Arztrolle ein Sexuell- Körperliches sublimiert. Desweiteren wird in den Wanderjahren durch Umstrukturierung des Kö,per / Arzt/ Medizin/ Technik 29 medizintechnischen Diskurses im Rahmen der Ausbildung zum Wundarzt die Artztrolle als positiv bewertete Sozialhilfe vorgestellt. Damit ergibt sich anhand der Arztrolle in den Wanderjahren insgesamt das Prinzip einer Renormierung einer traditionell aufklärerischen Körperlichkeitsproblematik unter dem Aspekt einer Reformulierung von Elementen aufklärerischer Literatur, wie sie mit medizintechnischem Diskurs und Arztrolle vorliegen. 42 Auf der Oberfläche _des Zusammenhangs der Wanderjahre als Fortsetzung von Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/ 96) lässt sich in diesem Kontext eine latente Abbildungsmetaphorik konstruieren: So, wie die Rolle des Theaters in Wilhelm Meisters Lehrjahren in den Wanderjahren mit der Berufsrolle des Wundarztes ausgetauscht wird, nämlich unter den Vorzeichen einer Um- und Neubewertung von Vorhergehendem, genau so wechseln Arztrolle und medizintechnischer Diskurs vom Drama der Aufklärung in einen goethezeitlichen Roman. 43 Aus dieser Perspektive soll im folgenden der Bezug der Wanderjahre auf die bisherigen Ergebnisse Rück- und Ausblick zugleich sein. Zum Status der dargestellten Welt Die Wande~jahre stellen insgesamt das Problem der Kohärenz der Textteile und damit des Gültigkeitsanspruch des Dargestellten. 44 In einer partiell offenen Rahmenerzählung mit mehreren in sich nicht _abgeschlossenen Nebenhandlungen stehen in sich geschlossene Binnenerzählungen und die Wiedergabe von in sich nicht direkt zusammenhängenden anderen schriftlichen Texten, die von einer unbestimmten Erzählinstanz arrangiert werden. Diese Erzählinstanz kommentiert häufig das Erzählte und das Erzählen an sich, wobei eine Distanzierung der Erzählinstanz und damit eine Relativierung des Erzählten vorgenommen wird: Indem wir nun diese ätherische Dichtung, Verzeihung hoffend, hiemit beschließen, wenden wir uns wieder zu einem terrerstrischen Märchen, wovon wir eine vorübergehende Andeutung gegeben. (S. 457, Z. 16-19) 45 Die poetologische Kennzeichnung des Erzählten, der Verweis auf eine Textsortenspezifik des Erzählten, aktiviert dabei ein textuelles Wissen und markiert die Wanderjahre als prinzipiell paratextuellen Text. 46 Doch durch diese Strategien des Erzählens ist per· se noch keine Relativierung des Erzählten gegeben. Dass das innerhalb der Diegese Dargestellte darüber hinaus auch einen Anspruch auf Gültigkeit jenseits der Textgrenzen erhebt, belegt u.a. folgende Textstelle: Hierauf schlossen beide Freunde einen Blind und nahmen sich vor, ihre Erfahrungen allenfalls auch nicht zu verheimlichen, weil derjenige, der sie als einem Roman wohl ziemende Märchen belächeln könnte, sie doch immer als Gleichnis des Wünschenswerten betrachten dürfte. (S. 450, z. 10-14) Damit erweist sich explizit, dass die Wanderjahre ein als über den Text hinaus gültig behauptetes Werte- und Normensystem in einer Tiefenstruktur unterhalb der Textoberfläche vorstellen. Dass Elemente auf der Textoberfläche diesen Anspruch verschleiern, kann in Bezug auf das zeitgenössische Denksystem nur die Funktion haben, dass das vorgestellte WerteundNormensystemnicht ohne weiteres widerspruchsfrei in aktuelle Diskurse einbindbar und dementsprechend radikal ist. Zugleich muss die indirekte Leseanleitung, dass das Dargestellte auf im Text tiefer Liegendes zu beziehen ist, auch auf Wilhelms Arztrolle 30 Jan-Oliver Decker übertragen werden. Der Text gibt selbst vor, dass die Arztrolle metaphorisch übergeordnete und abstrakte Werte und Normen abbildet, auch wenn sie im literarischen Kontext der Zeit noch so unkonventionell erscheinen mag. Die Konzeption der Person: Wilhelms Ausbildung zum Wundarzt Im 3. Kapitel des 3. Buches (S. 327-339) legt Wilhelm dar, wie er während seiner medizinischen Ausbildung eine höhere Aufgabe entdeckt, die er zur Reform der Gesellschaft verbreiten möchte. Wilhelm behauptet: Jeder Arzt, er mag mit Heilmitteln oder mit der Hand zu Werke gehen, ist nichts ohne die genauste Kenntnis der äußeren und inneren G"ijeder des Menschen, [...] (S. 336, Z. 30-32) Täglich soll der Arzt, dem es Ernst ist, in der Wiederholung des Wissens, dieses Anschauens sich zu üben, sich den Zusammenhang dieses lebendigen Wunders immer vor Geist und Auge zu erneuern alle Gelegenheit suchen. (S. 336, Z. 36 - S. 337, Z. 3) Je mehr man dies einsehen wird, je lebhafter, heftiger, leidenschaftlicher wird das Studium der Zergliederung getrieben werden. Aber in eben dem Maße werden sich die Mittel vermindern; die Gegenstände, die Körper, auf die solche Studien zu gründen sind, sie werden fehlen, seltener, teurer werden, und ein wahrhafter Konflikt zwischen Lebendigen und Toten wird entstehen. (S. 337, Z. 9-15) Grundlage jeder ärztlichen Kunst ist explizit die Anatomie. Implizit votiert Wilhelm damit für eine einheitliche medizinische Grundausbildung, die die ständische Differenzierung in Arzt und Wundarzt aufhebt. Desweiteren plädiert Wilhelm, dass das anatomische Wissen immer präsent bleiben muss. Damit spricht er sich implizit dafür aus, dass sich jede ärztliche Behandlung an (anatomisch) empirisch belegbare, und objektive Grundlagen hält. Diese Auffasung von der Notwendigkeit der Anatomie wird nun aber problematisiert, da Wilhelm einen Mangel an anatomischen Studienobjekten feststellt. Dieser Mangel ist im Text darin motiviert, dass nur verurteilte Verbrecher oder Selbstmörder zu anatomischen Studienobjekten gemacht werden und dementsprechend zu befürchten ist, dass Menschen ermordet werden, um zu medizinischen Studienobjekten zu gelangen. 47 Damit wird auf der Textoberfläche ein Konflikt konstruiert, der auf dem Wert der Unteilbarkeit der Person basiert. Körper und Innenleben machen nicht nur im Leben die ganze Person, sondern auch nach dem Tod gilt der unbelebte Körper als essentieller Teil der Person. Diesen Zusammenhang von Körper und Person erfährt Wilhelm auch ganz konkret bei seinen eigenen anatomischen Studien, bei denen er nicht dem "unnatürlichen wissenschaftlichen Hunger" (S. 229) nachgeben kann, als er den Arm einer schönen jungen Frau präparieren soll: Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht, es zu eröffnen; er stand und getraute nicht niederzusitzen. Der Widerwille, dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen, stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher sämtliche Umhersitzende Genüge taten. (S. 330, Z. 6-11) Grundlage der Schönheit der ganzen, unteilbaren Person ist hier die Natur, in der diese Konzeption der Person als universell gültiger Wert im Wortsinne organisch-physisch vorgefertigt angelegt ist. Dieser natürlichen Wertordnung steht die Norm der wissenschaftlichen Zerlegung entgegen, die von der sozialen Gruppe der anderen Studierenden befolgt wird Diese Grenzüberschreitung Wilhelms wird vom Text somit als legitim bewertet. Er folgt der Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 31 Natur, die anderen nicht. Eine ähnliche Auffassung der Natur als Reservoir allgemein gültiger Normen manifestiert sich in den Wanderjahren wie folgt: Denn das Gesetz haben sich die Menschen selbst auferelegt, ohne zu wissen, über was sie Gesetze gaben; aber die Natur haben alle Götter geordnet Was nun die Menschen gesetzet haben, das will nicht passen, es mag recht oder unrecht sein; was aber die Götter setzen, das ist immer am Platz, recht oder unrecht (S. 466, Z. 9-15) Hier werden menschliche und natürliche Wertordnung als prinzipiell oppositionell aufgefasst, wobei die in der Natur angelegte Wertordnung als von der inadäquaten menschlichen unabhängig und dieser universell gültig übergeordnet gedacht wird. In der Textstelle: Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühles, das im stillen längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt (S. 306, Z; 8-15) 48 manifestiert sich dann,. dass die Lösung des Konfliktes zwischen universeller natürlicher und mangelhafter menschlicher Ordnung ein Problem des subjektinternen Zuganges ist. Im Innern des Subjektes liegt in anthropologiesierter Form die natürliche Wertordnung vor. Was das Individuum Wertvolles und originär erfindet, gibt ihm die Stimme der inneren Natur ein, auf die das Subjekt nur hören muss. Ziel ist dabei letzlich, oppositionell Gedachtes miteinander zu harmonisieren. So, wie sich der Gegensatz zwischen menschlicher und natürlicher Ordnung im kreativen, erfindenden Individuum vereint, so wird auch durch Wilhelms Erfahrungen während des Anatomie-Studiums der Gegensatz von natürlichem Wert der ungeteilten Person und notwendiger anatomischer Wissenschaft vereint. Wilhelm geht bei einem "plastischen Anatom" (S. 336) in die Lehre, der die einzelnen organischen Strukturen des Körpers künstlich nachbildet und daraus das Modell eines vollständigen Menschen aufbaut. Durch die Umkehrung der traditionell mit der Arztrolle verbundenen medizinischen Technik der Anatomie in anatomisches Gestalten lernt Wilhelm aus der Rede seines Ausbilders, "[...] dass Aufbauen mehr belehrt als Einreissen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getötete noch weiter töten; " (S. 331, Z. 35 - S. 332, Z. 1) Damit nivelliert der Beruf des plastischen Anatom die fundamentale Grenze zwischen Leben und Tod, wobei diese Opposition in einem übergeordneten künstlerischen Zusammenhang aufgefangen wird: ''Der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen, widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wußten; solche göttlichen Gedanken muß er hegen, dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen[...] da wendete ich mich rückwärts, und da ich das, was ich verstand, nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich nützlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung." (S. 334, Z. 16-29) Der Künstler, der aufgrund moralischer Normen nicht den nackten Menschen darstellen darf, stellt den menschlichen Körper nackter als nackt dar, indem er ihn seiner Haut und bis ins kleinste organische Präparat eines vollständigen anatomischen Modells entkleidet. Dabei wird hier mit künstlerischen Mitteln und aus künstlerischen Motiven keine Kunst um ihrer selbst 32 Jan-Oliver Decker willen betrieben. Sie soll im Wesentlichen nützlich sein und verhindern, dass Personen um ihren Körper als essentiellen Teil beraubt werden. Der Nützlichkeitsaspekt ist dabei das entscheidende Kriterium, durch das selbst eine Harmonisierung von Kunst und Handwerk gelingt: Hieran schloß sich die Betrachtung, daß es eben schön sei zu bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Waage halten und so nah verwandt immer eine zu der andern sich hinneigt, so daß Kunst nicht sinken kann, ohne in löbliches Handwerk überzugehen, das Handwerk sich nicht steigern, ohne kunstreich zu sein. S. 335, Z. 1-6) Auch die Theater-Erfahrung Wilhelms wird in diesem Umfeld in den Wanderjahren auf ähnliche Weise direkt mit der Arztrolle korreliert (S. 328). Durch das Erlernen der Körpersprache, mit deren Hilfe die Schauspieler den sprachlichen Text umsetzen, erhielt Wilhelm ~ grundlegende anatomische Kenntnisse, die nützlich für die Erlernung des Arztberufes waren. Dieser Aspekt der Nützlichkeit erworbenen Wissens gibt dabei die werthafte fundamentale Strategie des Textes vor, Wissensmengen nicht um ihrer selbst willen zu erwerben, sondern sie auf die Verwirklichung eines Zieles hin zu funktionalisieren. Wilhelm beschließt, den Beruf des plastischen Anatomen zu verbreiten und eine Schule zu gründen. Dabei vereinen sich in Wilhelm zwei Fähigkeiten: einmal die Fähigkeit des plastischen Anatomen, die eine künftige Verbesserung der Welt zum Ziel hat, weil keine Leichen mehr zur Anschauung von Medizinstudenten benötigt werden, zum anderen die Fähigkeit des praktischen Wundarztes, die wie folgt bewertet wird: Es sei nichts mehr der Mühe wert, schloß er endlich, zu lernen und zu leisten, als dem Gesunden zu helfen, wenn er durch irgendeinen Zufall verletzt sei: durch einsichtige Behandlung stelle sich die Natur leichter wieder her; die Kranken müsse man den Ärzten überlassen, niemand aber bedürfe desWundarztes mehr als der Gesunde. (S. 285, Z. 22-27) Hier wird direkt das ständische Denken umgekehrt. Höheren Wert als der an der Universität ausgebildete Arzt hat hier der Wundarzt. Der Arzt, der quasi nicht direkt am menschlichen Körper handwerklich tätig wird und nur durch Medikation heilt, befördert dabei in dieser Konzeption nur die Selbstheilungskräfte, die in der Natur des Menschen angelegt sind. Daraus lässt sich folgern, dass Krankheit als eine aus dem Gleichgewicht gebrachte, beziehungsweise als vernachlässigte, nicht beachtete Natur konzipiert ist. 49 Die Therapie einer solchen Krankheit ist in dieser Folge durch Dauer und Abwarten der Regeneration definiert. Dagegen behandelt der Wundarzt keine Kranken. Der operative Eingriffwird hier aus dem Kontext von Krankheit als organischer Funktionsstörung herausgelöst; organisch bedingte Eingriffe wie das Entfernen von Steinen in den inneren Organen wird hier nicht als eigentliche Tätigkeit des Wundarztes angesehen. Vielmehr behebt der Wundarzt eine aktuelle Funktionsstörung des tätigen Körpers, die sich bei der Benutzung des Körpers durch das lndivduum ereignet. Der "Zufall" blendet als unbestimmt bleibende Größe ein Selbstverschulden· des Individuums genauso aus wie andere Kausalzusammenhänge, die zu einer akuten physischen Verletzung führen. Zufall impliziert durch die Komponente des nicht-selbst-Verschuldens eine tragische Komponente, das heißt, er repräsentiert ein nicht vorhersehbares Schicksal. In diesem Kontext wird der Beruf des Wundarztes wie folgt stilisiert: Willst Du Dich ernstlich dem göttlichsten aller Geschäfte widmen, ohne Wunder zu heilen und ohne Worte Wunder zu tun, so verwende ich mich für Dich. (S. 286, Z. 17-20) Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 33 Hier werden zwei Wunder-Begriffe voneinander abgegrenzt. Zuerst wird die Tätigkeit des Wundarztes von der Quacksalberei distanziert und, wie aus den Ausführungen zur Anatomie gefolgert werden kann, auf eine empirisch wissenschaftliche Grundlage gestellt. Diese Heiltätigkeit wiederum wird als göttliches Eingreifen semantisiert, als Wunder, das man tut, ohne auf den Status des Wunderbaren zu verweisen. Der Wundarzt soll selbstlos durch seine Aktivität den beschädigten Körper wieder zum Funktionieren bringen. Der Wundarzt wird dabei als ein großer Einzelner gedacht, der über den normalen Menschen steht. Menschliche Tätigkeit substituiert in dieser Textstelle eine jenseitige, allmächtige Ordnung im Diesseits; denn die Tat des Wundarztes hebt die Sinnlosigkeit der Verletzung auf und stellt eine konsistente sinnvolle Weltordnung wieder her, die durch die zufällige, nicht selbst verschuldete physische Verletzung aus dem Gleichgewicht gebracht wird. So kann Wilhelm auch im 18. Kapitel des 4. Buches, dem Ende der Rahmenerzählung, seinen Sohn Felix vom Tode erretten. Felix, ganz gesunder Tatmensch, reitet am Ufer eines Flusses entlang bis dieses zufällig und unvorhergesehen wegbricht, Felix ins Wasser stürzt und aus diesem leblos an Land gezogen wird. Dort erweist Wilhelm seine Nützlichkeit als Wundarzt, indem er durch Aderlass Felix ins Leben zurückholt. Die Sublimation abweichender Erotik und die Konzeption der Person Wilhelms Berufswahl im 11. Kapitel des 2. Buchs (S. 272-286) wird im Text durch ein Jugenderlebnis motiviert (S. 273-282). Weil Wilhelm als Kind einen ertrunkenen Jugendfreund nicht ins Leben zurück holen konnte, erlernt er den Wundarztberuf, mit dem eine solche Rettung ermöglicht wird. Das ganze Kapitel, in dem dieses für Wilhelms Berufswahl ursächlich verantwortliche Jugenderelebnis präsentiert wird, stellt einen Brief Wilhelms an seine Frau Nathalie dar und beruht demzufolge auf einer Vergenwärtigung von Erinnertem iil der Erzählgegenwart des Briefes. Die zahlreichen Kommentare Wilhelms und seine Exkurse, die das eigentliche Jugenderlebnis umrahmen, verstehen sich dabei ganz explizit als Erinnerungs- und Erinnerlichungsarbeit, die versucht die gleichzeitige Gegenwärtigkeit von Verschiedenem im menschlichen Denken - Vergangenheit und Gegenwart ebenso wie individuelles Erlebnis und ihre Reflexion in eine schriftlich fixierte Erzählung zu transformieren. Erklärte Erzählabsicht Wilhelms ist dabei, das in der Erinnerung konservierte Erlebnis in einen sinnvollen biographischen Zusammenhang zu bringen. Wilhelms Erzählung soll die Wahl des Wundarzt-Berufes teleologisch im Jugenderlebnis begründen und damit einen Kausalzusammenhang zwischen Erleben und Fühlen auf der einen und Reflektieren und Handeln auf der anderen Seite stiften. 50 Im so in der Erzählgegenwart rückwirkend bedeutsam gemachten Jugenderlebnis reist Wilhelm als Kind an einem Pfingstmontag mit seinen Eltern aufs Land und freundet sich gleich mit dem etwas älteren Fischerjungen Adolf an. Dieser überredet Wilhelm zum Angeln an einem nahen Fluss. Dort will der geschickte Schwimmer Adolf aufgrund der Hitze des Tages das Angeln bald lassen und beschließt, nackt zu baden und auch Wilhelm dazu einzuladen: Aber bald auf dem Kies entkleidet, wagt' ich mich sachte ins Wasser, doch nicht tiefer, als es der leise abhängige Boden erlaubte; hier ließ er mich weilen, entfernte sich in dem tragenden Elemente, kam wieder, und als er sich heraushob, sich aufrichtete, im höheren Sonnenschein sich abzutrocknen, glaubt' ich meine Augen vor einer dreifachen Sonne geblendet: so schön war die menschliche Gestalt, von der ich nie einen Begriff gehabt Er schien mich mit gleicher 34 Jan-Oliver Decker Aufmerksamkeit zu betrachten. Schnell angekleidet standen wir uns noch immer unverhüllt gegeneinander, unsere Gemüter zogen sich an, und unter den feurigsten Küssen schwuren wir eine ewige Freundschaft. (S. 276, Z. 12-23) Festzuhalten ist zunächst, dass sich in dieser Textstelle Vergangenes und seine Bewertung in der Erzählgegenwart miteinander vermengen. In die Beschreibung dessen, was sich tatsächlich als Handlung und Wahrnehmungseindruck ereignete, wird die Bewertung des Wahrgenommenen zu einem späteren Zeitpunkt hineinprojiziert. Faktisch erblicken sich Wilhelm und Adolf nackt und werden von ihrer Nacktheit wechselseitig angezogen, was zu homoerotischen Handlungen führt. Rückwirkend wird diese Handlung durch die Wahrnehmung der Schönheit des nackten Körpers und damit durch ein ästhetisches Wahrnehmen motiviert .. Die homerotische Situation wird im ästhetischen Empfinden sublimiert. Einmal abgesehen davon, dass sich die menschliche Schönheit hier rein als männliche Schönheit erweist und damit den Mann als paradigmatischen Menschen impliziert, von dem die Frau als Abweichung distanziert wird, stiftet diese ästhetische Wahrnehmung einen Bezug zur Rede des plastischen Anatom(vgl. oben). Auch dieser betont, dass das Optimum an Schönheit der nackte menschliche Körper ist, den er aufgrund gesellschaftlicher Konventionen nicht darstellen darf und seine künstlerischen Fähigkeiten daraufhin im nützlichen Handwerk des plastischen Anatom kanalisiert. Ein solches Schönheitsempfinden des nackten männlich-menschlichen Körpers wird damit indirekt als eine Ursache der Berufswahl Wilhelms ausgewiesen. Dieses Schönheitsempfinden bewirkt jedoch noch mehr. Die gestiftete Freundschaft zwischen Wilhelm und Adolf ist die paradigmatische Mann-männliche Beziehung, in die das homoerotische Erlebnis transformiert wird. Dabei ist zu beachten, dass diese Empfindung in der oben angeführten Tetxstelle die faktisch homoerotische Handlung auf ein Innenleben der Handelnden verlagert. Die Wahrnehmung des nackten Körpers und seine Schönheit zeigen die in der Person angesiedelten "Gemüter'' an. Das im äußeren nackten Körper sichtbare Innenleben der Person wird dabei als Bild eingefroren und im Innern konserviert, so dass sich die längst wieder angezogenen Jungen paradoxerweise "noch immer unverhüllt" gegenüber stehen. Der bewusste Anblick des nackten Körpers ist somit Auslöser dafür, dass sich das Innenleben offenbart und in einem Moment in seiner Gänze aufgenommen wird. Damit wird der nackte Körper mit seinen möglichen sexuellen Implikationen zu Gunsten eines Bildes vom nackten Körper im Inneren der Person ersetzt. Dieses wahrgenommene Bild ermöglicht gerade erst in seiner Qualität als individuell erinnerlichtes und erinnertes Bild, dass sich die Innenleben zweier Personen aneinander annäheren können. Erst die Bildverarbeitung in der Einbildungskraft der Person ermöglicht eine emotionale Paarbildung von Wilhelm und Adolf als eine Mann-männliche Freundschaft, die auf leidenschaftlicher Empfindung füreinander gegründet ist. In dieser Textstelle wird damit ein mögliches körperlich-Sexuelles durch das Bilden von Bildern im Innenleben der Person und damit durch die und in der Einbildungskraft ersetzt und abgewehrt. Dass die virulent homosexuelle Komponente dieses Nacktbadeerlebnisses insgesamt eine abzuwehrende ist, legt der weitere Verlauf der Geschichte nahe. Zunächst wird das gerade gebildete Freundespaar voneinander getrennt. Die auf dem Land von Wilhelms Eltern besuchte Pastorenfrau entfernt Adolf von Wilhelm "mit stiller Bemerkung des Unschicklichen" (S. 276) und schickt ihn zum Krebsefischen an den Fluss. Dabei ertrinkt Adolf, weil vier Jungen dem Schwimmen im Fluss nicht wie er gewachsen sind, sich ertrinkend an ihn klammem und ihn in die Tiefe ziehn. Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 35 Der Text sanktioniert unmittelbar nach der Paarbildung von Wilhelm und Adolf die latent homosexuelle Komponente durch Partnerentzug und durch den Tod des Älteren, der den Jüngeren zum Baden verführte. Während Adolf ertrinkt, wird Wilhelm auf den heteroerotischen Pfad zurückgeführt. Er spaziert mit der blonden Pastorentochter durch den Pastoratsgarten. Aus der Erzählgegenwart bewertet Wilhelm nun ganz direkt beide Beziehungen, die zum älteren Adolf und die zut namenlosen, blonden und jüngeren Pastorentochter: 51 Betracht' ich nach so viel Jahren meinen damaligen Zustand, so scheint er mir wirklich beneidenswert. Unerwartet, in demselben Augenblick, ergriff mich das Vorgefühl von Freundschaft und Liebe. [...] Und wenn ich hier noch eine Betrachtung anknüpfe, so darf ich wohl bekennen: dass im Laufe des Lebens mir jenes erste Aufblühen der Außenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles übrige, was uns nachher zu Sinnen kommt, nur Kopien zu sein scheinen, die bei aller Annäherung an jenes doch des ursprünglichen Geistes und Sinnes ermangeln. (S. 277, Z. 24 - S. 278, Z. 2) Beide Beziehungen werden hier, obwohl zeitlich nacheinander gestiftet, als gleichzeitig und als gleichwertig und insgesamt als ideales, sich in einem Ganzen ergänzendes Beziehungsgefüge des Menschen gedacht. Dieses ist universell in der Natur angelegt und entwickelt sich gleichsam unbewusst und selbständig. Zugleich ist dieses Beziehungsgefüge des Mannes innerhalb einer Generation zu (Ehe-)Frau und Freund, das zu erreichende Ziel. Die Ehefrau, Nathalie, erwarb sich Wilhelm in seiner Jugendzeit in den Lehrjahren. Den Freund, der ihm gestorben ist, erarbeitet er sich im Verlauf der War,derjahre als Vater eines im Textverlauf zum Jüngling heranwachsenden Sohnes während eines reiferen Lebensalters. In diesem Kontext markiert rückwirkend das erinnerte Erlebnis Wilhelms seine Initiation vom Kind zum Jugendlieben, dem das zu erreichende Ziel vor Augen geführt wird, welches er im Verlauf seines Lebens anstreben muss. Das vorbewusst realisierte und entzogene Ideal muss als Ideal ins Bewusstsein rücken und so den Übergang vom Kind zum Mann als natürliche Reifung und Entwicklung des Jünglings markieren. Die Ausübung des Arztberufes und die Reformulierung der Familie Die Erreichung der idealen Gemeinschaft mit Frau und Freund wird im Text als Erlangung einer höherwertigen Stufe der menschlichen Existenz semantisiert. Die Rahmenerzählung der Wanderjahre endet im 18. Kapitel des 4. Buches (S. 464/ 465) mit der erstmals dargestellten Ausübung von Wilhelms Beruf als Wundarzt bei der Rettung seines Sohnes Felix. Felix, bis zu dem Zeitpunkt über Jahre von Wilhelm getrennt, hat beschlossen, bis zu seinem Tod zu reiten, als er von seiner Jugendliebe Hersilie abgewiesen wird. Durch Zufall stürzt er in einen Fluss, auf dem Wilhelm in einem Boot fährt, in das Felix nach seinem Sturz gezogen wird. Landen, den Körper ans Ufer heben, ausziehen und abtrocknen war eins. Noch kein Zeichen des Lebens zu bemerken, die holde Blume hingesenkt in ihren Armen! Wilhelm griff sogleich nach der Lanzette, die Ader des Arms zu öffnen; das Blut sprang reichlich hervor und mit der schlängelnd anspielenden Welle vermischt, folgte es gekreiseltem Strome nach. Das Leben kehrte wieder; kaum hatte der liebevolle Wundarzt nur Zeit, die Binde zu befestigen, als der Jüngling sich schon mutvoll auf seine Füße stellte, Wilhelmen scharf ansah und rief: "Wenn ich leben soll, so sei es mit dir! " Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden und erkannten Retter um den Hals und weinte bitterlich. So standen sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder, die sich auf dem Wechselweg vom Orkus zum Licht begegnen. (S. 464, Z. 20-33) 36 Jan-Oliver Decker Der Vergleich des Aderlasses mit der griechischen Mythologie übeträgt auf die Situation der Lebensrettung den semantischen Rahmen, diese Rettung als überzeitlich gültiges Lösungsmodell eines grundsätzlichen menschlichen Problems zu bewerten. Dieses Problem ist die fundamentale Grenze zwischen Leben und Tod, die vom Tod zum Leben überschritten wird und damit eine vorher erfolgte Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod nivelliert. Diese Rückkehr ins Leben markiert dabei gleichzeitig ein neues Leben. Die eigentliche biologische Konstellation aus Leben gebendem Vater und gezeugtem Sohn wird hjer durch ein erneutes Leben-Geben durch den Vater in die biologisch uneigentliche -Gemeinschaft liebender Geschwister transformiert. Der mythologische Vergleich mit den Dioskuren Castor und Pollux, dem unzertrennlichen Zwillingspaar, markiert hierbei, dass die hierarchische Gemeinschaft aus autoritärem Vater und ihm untergebenen Sohn in eine gleichberechtigte Gemeinschaft transformiert wird und sich die biologische Generationenfolge in einem überirdischen Ideal auflöst. Zum Mythos von Castor und Pollux gehört, dass auf Wunsch des göttlichen und unsterblichen Pollux, dieser seine Göttlichkeit mit dem menschlichen und sterblichen Castor teilt. Diese Teilung der Göttlichkeit führt dazu, dass im Ausgleich die Dioskuren die Hälfte des Jahres im Orkus bei den Toten und die andere Hälfte des Jahres bei den Göttern im Olymp verbringen. Hier wird im Mythos der Wechsel zwischen Leben und Tod und Tod und Leben ebenso vorgeprägt, wie die freiwillige Aufgabe eines übergeordneten Status, um in eine gleichberechtigte Gemeinschaft einzutreten. Dabei geben dem entgegengesetzt in den Wanderjahren sowohl Wilhelm als auch Felix etwas auf. Wilhelm verzichtet auf den väterlichen Status, Felix hingegen verzichtet auf erotische Leidenschaft als Grundlage seines Lebens. In seinem Sprechakt substituiert das gemeinsame Leben mit dem Vater das mögliche Leben mit seiner Jugendliebe Hersilie. Felix verzichtet nach dem Leben-wiedergebenden Aderlass auf seine erotische Selbstverwirklichung und unterwirft sich freiwillig der väterlichen Fürsorge. Diesen Verzicht auf Erotik durch Felix hat Wilhelm schon längst vollzogen. Er steht mit seiner Frau Nathalie nur schriftlich durch seine Briefe in Kontakt, wobei die Wanderjahre Nathalies schriftliche Antworten ausblenden. Was als gelebte Beziehung bleibt, ist die enge Gemeinschaft aus Vater und Sohn, die als geschwisterliche Gemeinschaft in eine vom Text ausgeblendete Zukunft als gelebtes Modell ausgelagert wird. Was Essenz des menschlichen Beziehungsgefüges ist, bezeichnen indirekt Wilhelms Briefe. Das zu lebende Ideal ist eine Diskursgemeinschaft gleichberechtigter Partner, die das konventionelle Ehe- und Familienmodell ersetzen soll, aber nur auf dessen Basis zu errichten ist. Der ideale Freund liegt nicht exogam mit dem sozial niedrig stehenderen Adolf in einer latent homosexuellen Beziehung vor, sondern endogam, indem sich der Vater den Sohn zum Freund gibt. Das Ideal menschlicher Beziehungen ist in den Wanderjahren eine enterotisierte und entsexualisierte Welt. . Auffällig ist jedoch die Parallelität zwischen dem Schicksal Adolfs und Felix'. Ni~ht nur die Todesgefahr fließenden Wassers und die Isolierung der Protagonisten auf Kiesgründen im Fluss gehört hierher. Als der junge Wilhelm den toten Adolf erblickt, heißt es: In dem großen Saale, wo Versammlungen aller Art gehalten werden, lagen die Unglückseligen auf Stroh, nackt ausgestreckt, glänzend-weiße Leiber, auch bei düsterem Lampenschein hervorleuchtend. Ich warf mich auf den größten, auf meinen Freund; ich wüßte nicht von meinem Zustand zu sagen, ich weinte bitterlich und überschwemmte seine breite Brust mit unendlichen Tränen. Ich hatte etwas von Reiben gehört, das in solchem Falle hülfreich sein sollte, ich rieb meine Tränen ein und belog mich mit der Wärme, die ich erregte. In der Verwirrung dacht' ich ihm Atem einzublasen, aber die Perlenreihen seiner Zähne waren fest verschlossen, die Lippen auf denen der Abschiedskuß noch zu ruhen schien, versagten auch die leisesten Zeichen der Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 37 Erwiderung. An menschlicher Hülfe verzweifelnd, wandt' ich mich zum Gebet; ich flehte, ich betete, es war mir, als wenn ich in diesem Augenblick Wunder tun müßte, die noch inwohnende Seele hervorzurufen, die noch in der Nähe schwebende wieder hineinzulocken. (S. 279, Z. 29 s. 280, z. 9) Deutlich manifestiert sich hier die Vorstellung der unteilbaren Person, die aus Körperhülle und in ihr verorteter Seele besteht und hier in einen latent nekrophilen Kontext eingebettet ist. Die verzweifelten Versuche Wilhelms, auf dem nackten Freund liegend durch eigen hervorgebrachte Körperflüssigkeit Wärme zu erregen und den toten Freund zu beatmen, sind implizit similar mit sexuellen Teilhandlungen. Die leidenschaftliche Mann-männliche Jugendfreundschaft und die faktische körperliche Interaktion gehören zum Raum des Todes. Dahingegen geht Wilhelm mit dem geretteten und nackt am Flussufer schlafenden Felix wie folgt um: Mit Gefallen sah unser Freund auf ihn herab, indem er ihn zudeckte.-''Wirst doch immer aufs neue hervorgebaracht, herrlich Ebenbild Gottes! " rief er aus, ''und wirst sogleich wieder beschädigt, verletzt von innen oder von außen." (S. 465, Z. 5-9) Der Umgang mit dem nackten, selbst mit erschaffenen Freund ist jetzt durch zärtliche Fürsorge um den nackten Körper bestimmt, nicht mehr durch körperliche Interaktion mit ihm. Dabei spielt der Wahrnehmungsakt des nackten Körpers wiederum die entscheidende Rolle. Indem das Bild des konkreten nackten Körpers auf das ideale Körperbild im Innern der Person bezogen wird, kann das konkret körperlich-Sexuelle vom Subjekt distanziert werden. Das wahrgenommene Bild wird subjektintern verarbeitet und auf ein subjektintern im ästhetischen Empfinden sublimiertes Bild von Körperlichkeit bezogen. Wilhelm kann den nackten Körper seines erwachsenen Sohnes seinen Blicken durch Bedecken mit seinem Mantel entziehen. Darüber hinaus belegt diese Textstelle, dass die Konzeption der Person als Ganzes sowohl körperlich als auch vom Innenleben der Person her bedroht ist. Durch den rein körperlichen Eingriff Wilhelms wird in diesem Zusammenhang die Ausübung der Arztrolle sowohl als Heilung des Körpers als auch des Innenlebens bezeichnet, beziehungsweise mit der Heilung des zufällig verletzten Körpers therapiert Wilhelm auch Felix verletztes Innenleben und indirekt sein eigenes. Der chirurgische Eingriff bildet damit fundamentale Heilungsprozesse im Innern der Person ab. Nach dem chirurgischen Eingriff, kann die nicht geglückte erotische Selbstverwirklichung von Felix mit einem Satz abgeschüttelt werden. Die erlernte medizinische Technik, der Aderlass, schließt darüber hinaus die Lücke zwischen den Erlebnissen Wilhelms mit Adolf und Felix. Während im ersten Fall eigene Körperflüssigkeit in den toten Körper transferiert werden soll, wird im anderen Fall eine Körperflüssigkeit aus dem vom Tode bedrohten Körper zum Austritt gebracht. Die am äußeren Körper des anderen angewendete medizinische Technik kompensiert das im eigenen Körper angelegte, latent homoerotische Verlangen. In diesem Sinne ist die medizinische Technik eine Art positiv bewertete Sozialhilfe für die Person des behandelnden Arztes und eine genaue Inversion des im Innern der Person von der Norm Abweichenden. Dass der medizintechnische Diskurs diese subjektinterne Funktion für das Personenkonzept des behandelnden Arztes hat, bringt dabei eine Bewertung aus der Erzählgegenwart während des Briefes mit dem Jugenderlebnis an Nathalie auf den Punkt: Wie müßten wir verzweifeln, das Äußere so kalt, so leblos zu erblicken, wenn nicht in unserm Innern sich etwas entwickelte, das auf eine ganz andere Weise die Natur verlterrlicht, indem es uns selbst in ihr zu verschönen eine schöpferische Kraft erweist. (S. 278, Z. 4-7) 38 Jan-Oliver Decker Diese Betrachtung Wilhelms ist in seinen Brief an Nathalie mit dem Jugenderlebnis eingefügt, bevor Wilhelm vom Tode Adolfs erfährt. Sie übernimmt eine vorausdeutende Funktion und fasst programmatisch das Prinzip der Sublimation und Kompensation zusammen. Dem Tode Adolfs gibt nur Sinn, dass sich seine Funktion als Partner durch das Leben-Geben des Aderlasses auf Felix überträgt. Der Aderlass am Textende füllt die Leerstelle beider verlorener (Erotik-) Partner durch die Beziehung von Vater und Sohn wechselseitig aus. Damit wird die erlernte Berufsrolle als für die eigene Person selbst und für andere nützliche Verwirklichung von subjektinternen Merkmalen konzipiert. Diese durch die Natur vorgefertigt im konkreten Subjekt angelegten Merkmale müssen im Verlauf des Lebens nur entwickelt und sinnvoll, das bedeutet nützlich für sich und andere, ausgeübt werden. Die Einbildungskraft als Filter der Wahmehmung und als Bildgeneratorwird durch die nützliche Tätigkeit des Wundarztberufes kanalisiert und kontrolliert und die innerpersonelle Problematik durch den Beruf des Arztes aus· der Einbildungskraft heraus auf den Dienst an einer Gemeinschaft projiziert. Der Bund der Wanderer und die Arztrolle als universelle Sozialhilfe Durch die Konzeption der Arztrolle als individuelle Sozialhilfe für Vater und Sohn wird eine implizit in der Natur als universellem Werte-und Normensystem angelegte Verbesserung der Welt ausgedrückt. Wilhelm wehrt das in ihm angelegte bedrohliche, konkrete Körperlich- Sexuelle ab und gelangt dadurch zu einer Auflösung des klassischen Familienmodells, in dem die Generationenfolge eine Hierarchie darstellt. Die Arztrolle ist nicht nur eine individuelle Sozialhilfe, sondern eine ideologische, die am Einzelbeispiel das paradigmatische Ziel am Textende verwirklicht, das die Allgemeinheit anstreben soll. Wilhelm repräsentiert durch seine individuelle Sublimationsleistung in Ausübung der Arztrolle ein herausragendes und einzigartiges Individuum, dass insofern mit einem Kollektiv versöhnt ist, als es ihm das Ideal künftig zeichenhaft vorlebt. Diese Zeichenfunktion der Arztrolle manifestiert sich im Text dominant im Bund der Wanderer. So propagiert Montan alias Jamo: "Narrenpossen", sagte er, "sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer, darauf kommt es an, und besonders in unserm Verbande spricht es sich von selbst aus." (S. 285, Z. 36 -S. 286, Z. 4) Hiermit wird der Möglichkeit eine Absage erteilt, dass das Individuum universell die Wissensmengen der Zeit in sich vereinen kann. Diese Absage an ein. umfassendes Bildungskonzept ist nur auf der Folie des spätau: fldärerischen Denksystems zu verstehen, das zu einer unüberschaubaren Ausdehnung des Wissens und der Ausdifferenzierung und Neukonstitution der das Wisssen organisierenden Diskurse im Verlaufder Aufklärung geführt hat. Wenn einer nicht mehr alles wissen kann, dann muss er wenigstens einen Diskurs in Gänze wissen und beherrschen. So ist Lenardo, Führer des Bundes, Meister aller handwerklichen Tätigkeiten und Berufe (S. 341/ 342) und Friedrich, Nathalies Bruder, quasi als lebendes Diktiergerät ein Gedächtnisgenie. Der "Weltbunde" (S. 395) der Wanderer liefert sozusagen als Ganzes das Abbild eines als Ganzen gedachten Wissenssystems. Jeder seiner Mitglieder ist ein herausragendes Indivduum, ein Spezialist auf seinem Gebiet. Somit konkurrieren weder die ein~ zelnen Genies untereinander, noch das individuelle Genie mit der Gesellschaft. Heraus- Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 39 ragendes Individuum und gesellschaftliche Ordnung, zentraler Konflikt im 'Sturm und Drang' , 52 sind miteinander in den Wanderjahren harmonisch vereint. Die Arztrolle weist Wilhelm gerade dann im Text als Genie aus, wenn, wie oben ausgeführt, die Inversion medizinischer Grundlagenwissenschaft einen behaupteten gesellschaftlichen Konflikt abbildet und löst. Der eigentliche Konflikt, den die plastische Anatomie lösen soll, beruht dabei nur auf der Textoberfläche auf dem Magel an Leichen. Die plastische Anatomie löst vielmehr als Umkehrung der klassischen Anatomie einen ideologischen Konflikt bei der Vereinigung oppositioneller Strategien der Legitimation von Normensystemen, wie sich aus folgender Textstelle ableiten lässt. Hier visioniert der plastische Anatom, der Wilhelm ausbildet, die Schaffung eines räumlich und sozial extrem weit entfernten Raumes als Heimat für ihre Kunst. Diese soll abgesondert von der Gesellschaft in Gefängnissen in der neuen Welt auf der Grundlage eigener anatomischer Studien erarbeitet und gelehrt werden: ''Dort, mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem Äskulap eine Kapelle vorbehalten, dort, so abgesondert wie die Strafe selbst, werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenständen erfrischt, deren Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletze, bei deren Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schönen, unschuldigen Arm erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wißbegierde vor dem Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht werde." (S. 335, Z. 17-25) Das eigentliche Problem im Text ist damit ein Konflikt zwischen Wissenschaft als Sytsem des Wissenserwerbs und Humanität. Nicht wie die anderen Studierenden in Wilhelms anatomischem Seminar, die ohngeachtet seiner Schönheit den Körper des Mädchens zerstören, soll die Wissenschaft betrieben werden. Schönheitsempfinden ist dabei im Text, wie ausgeführt wurde, Element einer universellen natürlichen Ordnung, eben der unspezifiziert bleibenden Humanität, die sich subjektintem manifestiert und entwickelt. Zugleich impliziert sie eine im Subjekt angelegte Verbesserung der Welt, wie die Ausübung der Arztrolle an Felix demonstriert. Damit wird ein Modell von Wissenschaft um ihrer selbst willen vorausgesetzt, die jedwede Grenze überschreiten und so potenziell auch jedes bestehende und nicht-wissenschaftliche Werte- und Normensystem in Frage stellen kann. Dieser Wissenschaft um ihrer selbst willen, die z.B. religiöse Normensysteme radikal in Frage stellen würde, wird mit der intern in der Person angelegten natürlichen universellen Ordnung ein Riegel vorgeschoben. Im Subjekt selbst manifestiert sich eine göttliche Ordnung, die der als im 'Außen' des Menschen und am Äußeren operierend gedachten Wissenschaft als Werte- und Normensystem überlegen ist. Gleichzeitig lässt sich das Modell der natürlichen Optimierung der Familienbeziehung auch auf die Entwicklung der Wissenschaft übertragen. Wenn sich die Welt verbessert, weil sich die herkömmliche Familienordnung natürlich transformiert, dann besteht auch die Möglichkeit, dass in der in der Natur angelegten Verbesserung der Welt auch solche Wissensmengen künftig von selbst auftauchen, die in der Gegenwart nur durch eine radikal objektivierte Wissenschaft möglich wären. Mögliche und notwendige Erkenntnisse einer radikal objektivierten Wissenschaft werden in einer Zukunft versprochen, zu deren Erlangung keine Wissenschaft um ihrer selbst willen mehr nötig ist. Gleichsam von selbst werden sich zur rechten Zeit die notwendigen Wissensmengen nicht durch Wissenschaft, sondern aus der Natur heraus ergeben. Wenn Wilhelm dann als Mitglied des Wanderer-Bundes in die Welt hinausgeht, um seinen individuellen medizinischen Diskurs zu verbreiten und als allgemeingültige medizintech- 40 Jan-Oliver Decker nische Grundlage eines universellen Ärztestandes zu etablieren, dann ist seine ausgeübte Rolle als Medizinier eine praktische Sozialhilfe zur Verbesserung der Welt. Schlussbemerkung Damit ergibt sich; dass die Wanderjahre versuchen, auf Probleme zu reagieren, die sich im aufklärerischen Denken und in den aufldärerischen Literatur(sub)systemen am Beispiel der Konzeption der Person als neu hinzutretende Probleme stellen. Insofern aufklärerische Konsequenzen wie eine Wissenschaft um ihrer selbst willen auf objektiver Grundlage abgewehrt werden, ist auch verständlich; dass die Arztrolle in den Wanderjahren im Vergleich zu den aufklärerischen Fallbeispielen positiv bewertet wird. In Mylius Aerzten und Weißes Romeo und Julie dienen medizintechnischer Diskurs und Arztrolle der Abwehr von durch sie bezeichneten Widersprüchen zum aufklärerischen Denken. Dazu im Gegensatz dient der Wiederaufgriffvon Arztrolle und medizintechnischemDiskurs in den Wanderjahren der Abwehr der Konsequenzen aufklärerischen Denkens und seiner Reglementierung. Hinzu kommt, dass in allen drei Fallbeispielen durch Arztrolle und medizintechnischen Diskurs auf der Ebene der Konzeption der Person ein ihre Integrität und Funktionsweise bedrohendes körperlich-Sexuelles abgewehrt wird. Was sich mit der chronologischen Abfolge der Texte ändert, sind letztlich die Vorzeichen der positiven und negativen Wertung von Arztrolle und medizintechnischem Diskurs, nichtjedoch die Bezeichnungsfunktionen, in die sie eingebettet sind. Anzumerken bleibt, dass sich der Dreiklang in den Wanderjahren aus 1. individueller Sozialhilfe durch Möglichkeit der Sublimation von lnnerpersonellem in der Berufsrolle, 2. familiärer Sozialhilfe und 3. gesellschaftlich-kollektiver Sozialhilfe modellhaft bis heute in populären Texten finden lässt, die versuchen, diese Wirksamkeit von Arztrolle und medizintechnischem Diskurs am narrativen Beispiel zu entwickeln. 53 Anmerkungen 1 Vgl. zur Periodisierung der Literatur der Aufklärung und der Goethezeit und ihren Zusammenhang zum Denksystem allgemein Titzmann 1990 u. Titzmann 1984. Nach Titzmann 1990: bes. 137, der hier zu Grunde gelegt wird, reagieren die Literatur(sub)systeme auf den Wandel des Denksystems, der durch Lösungsversuche für systeminteme Probleme verursacht wird. Unterschieden werden nach Titzmann als sukzessive und sich auch überlagernde Literatursubsysteme im Literatursystem 'Aufklärung" 'Früh-Aufklärung' (ca. 1730-1750), 'Empfindsamkeit' (ca 1750-1770) und im Literatursystem 'Goethezeit' die Literatursubsysteme 'Sturm und Drang' (ca ab 1770) und 'Klassik' (ca. ab Ende der 1780er Jahre). 2 Mauser 1988 argumentiert, dass der anakreontischen Dichtung der Aufklärung im medizinischen Diskurs der Epoche die Funktion eines Therapeutikums zukomme, die den Rezipienten kompensatorisch innerirdische Glückseligkeit bereitet. Wemz 1993 belegt, dass die erzählende Literatur der Goethezeit für Sexualität tradierte Werte und Normen aufrecht erhält und damit wie der parallele medizinische Diskurs die ideologischen Prämissen der Zeit nicht den Kategorien des aufklärerischen Denksystems unterwirft, so dass sich in wissenschaftlichen wie in literarischen Texten trotz unterschiedlicher Verfahren das gleiche Wertesystem manifestiert. Vgl. zum Zusammenhang zwischen medizinischemDiskurs und v.a derLiteratur des BarockBenzenhöfer/ Kühlmann 1992. 3 Vgl. zur Terminologie der Begriffe 'Kulturelles Wissen', 'Diskurs', 'Denksystem' Titzmann 1989 und zum Zusammenhang dieser Kategorien mit dem Begriff 'Literatursystem' Titzmann 1991b, denen zufolge ein 'Diskurs' ein System des Denkens und Argumentierens ist, das die Produktion von Wissen steuert. 4 Vgl. übergreifend zum medizinischen Diskurs Focault 1976. Körper/ Am/ Medizin/ Technik 41 5 Der Begriff 'Ereignis' wird hier im Sinne des Kulturmodells von Lotman 1993 zur Untersuchung narrativer Strukturen verwendet. Nach Lotman definiert sich die Tiefenstruktur eines narrativen Textes durch eine paradigmatische Ordnung der dargestellten Welt, die in Form mindestens zweier oppositioneller semantischer Räume vorliegt. Überschreitet eine Figur die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen, liegt im Lotmanschen Sinne ein 'Ereignis' vor. Durch die Verknüpfung mehrer Ereignisse in einer Ereignisstruktur lässt sich dabei rekonstruieren, wie ein Text inhärente semantische Räume hierarchisiert und bewertet. 6 Wie relevant diese Funktion der Literatur für den medizinischen Diskurs der Zeit ist, belegen ex negativo gegenwärtige Darstellungen der Medizingeschichte (Vgl. exemplarisch Schipperges 1985, Goerke 1998). Hier wird dominant die Zeit der Aufklärung ausgeblendet (Schipperges) oder unter Perspektive systematischer staatlicher Institutionalisierung der Medizin (Goerke) subsumiert. Antike und Mittelalter werden demgegenüber ebenso als geschlossene Konzepte medizinischen Wissens und medizinischer Verfahren vorgestellt wie die moderne Medizin ab Mitte des 19 Jh.s. Aus dieser Art der Darstellung lässt sich ableiten, dass die Anwendung neuer Denkkategorien zu einer kaum überschaubaren Explosion Medizin-technischer Entwicklung und Forschung und der Umstrukturierung des nicht mehr systematisch zusammenfassbaren medizinischen Diskurses als einheitliches Wissenssystem und auch als moralisches Wertesystem weit über die Aufklärung hinaus geführt hat (Vgl. zur Umstrukturierung des medizinischen Diskurses unter den Aspekten Wissenschaftlichkeit und Empirie Alber/ Dornheim 1983. Vgl. zur Entwicklung des medizinischen Diskurses als neues aufklärerisches moralisches Wertesystem im 18. Jahrhundert auch Wernz 1993 und vor allemBaker/ Porter/ Porter.1993). Diese Entwicklung ist auch an der ständig wachsenden Menge produzierter medizinischer Traktate nicht mehr nur für ein Fachpublikum in der Aufklärung abzulesen, die damit die Popularisierung medizinischen Wissens und die Konknrrenz seiner Elemente auch im Alltagswissen der Kultur demonstrieren (Vgl. zur Popularisierung medizinischen Wissens in der Aufklärung Dreissigacker 1970 u. Kunze 1971). 7 Vgl. Wicke 1965: 7-12. 8 Vgl. Goerke 1998: 140ff.; im 18. Jh. waren die Heilberufe im Groben dreifach ständisch differenziert: höchstes soziales Prestige genoss der an der Universität als 'Doctor' ausgebildetet Arzt, der nur mittels Medikation und individuell zugeschnittener Therapie heilte. Alle chirurgischen Eingriffe waren den in Zünften organisierten Barbieren im zivilen oder den Feldscherern im militärischen Bereich, als 'Chirurgus' gleichsam ein 'Handwerker', vorbehalten. Auf der untersten sozialen Stufe standen die Stein- und Starschneider, die 'Quacksalber', auf den Jahrmärkten. Vor allem zwischen den Barbieren und den Steinschneidern gab es vielfiiltige Abstufungen zu der sich auch das Gewerbe des 'Baders' gruppierte. 9 Vgl. dazu allgemein Steinmetz 1978 3• 10 Vgl. einführend zu Mylius Aerzten Krab 2001 und Wicke 1965: 13-46, bes. 24. 11 Zitiert wird nach Mylius 1745. 12 Vgl. zu diesem in der Frühaufklärung grundlegenden Paarbildungsmodell Titzmann 1990: 140-142. 13 Auch dies zunächst ein Merkmal, dass Pillifex und Recept mit den pietistischen Frömmlern in der Pietisterey der Gottschedin aber auch mit der Sprache der Gelehrten in Gellerts Die Stumme Schönheit oder Lessings Derjunge Gelehne (beide 1747) teilt. 14 Dass Ideal einer Trennung von Körper und Seele und einer totalen Entkoppelung des Seelischen vom Körperlichen wurde in der deutschen Aufklärung grundlegend von Christian Wolff vertreten und in seiner Folge zu einem zentralen Theorem des medizinischen Disknrses durch den Arzt Friedrich Hoffmann in Halle. Vgl zu Wolff und Hoffmann Rothschuh 1969 und Wienau 1983: 218f.. Vgl. zum Körperbild in der Aufklärung allgemein Beutelspacher 1986. 15 Die Verl>indung zwischen Pietismus und medizinischem Diskurs, wie er hier durch Vergleich des jeweiligen Umgangs mit dem Einen und dem Anderen in den beiden Texten vorgenommen wird, wird in der Epoche vor allem durch den Arzt Georg Ernst Stahl, wie sein Konknrrent Hoffmann aus Halle, paradigmatisch repräsentiert, vgl. Mauser 1988: bes.90f.. Stahl favorisiert ein Konzept, bei dem Seele und Körper unmittelbar zusammeuhängen und einander wechselseitig beeinflussen. Als Diagnose-Methode, die Seele und Körper gleichermassen berücksichtigt, propagiert er die 'Selbstbeobachtung', die er direkt aus dem ihn urugebenden pietistischen Kontext in seine medizinischen Verfahren integriert. 16 Vgl. zur restriktiven Sexualmoral vor allem für Frauen aus der Unterschicht im 18. Jh. Benker 1986. 17 Vgl. allgemein zur Theodicee-Problematik in der Aufklärung Wünsch 2001. 18 Vgl. Titzmann 1990: bes. 138-140. 19 Vgl. Titzmann 1990: 142-156. 20 Vgl. zum formalen Wandel des Literatursystems um 1750 Zeller 1988. 42 Jan-Oliver Decker 21 Grundlegend wird dieses Theorem in das Denken der Aufklärung durch John Lockes 'Sensualismus' eingeführt. In diesem Zusammenhang bekommen die Therapien der Ärzte Pillifex und Recept in Mylius' Aerzten auch eine zusätzliche Semantik. Illre medizinischen Vorgehensweisen erscheinen als den Körper zerstörende Folter, die Frau Vielgutin die Grundlage entziehen, aufgrund sinnlich-körperlich vermittelter empirischer Daten selbst ihre Vernunft zu gebrauchen und mit den Ärzten das Unheil von Luisgen und ihrer Familie abzuwehren. 22 Noch heute versteht man unter den Begriffen 'Semiotik' und 'Semiologie' im medizinischen Diskurs die Lehre von den Krankheitszeichen, synonym die 'Symptomatologie'. Vgl. die entsprechenden Einträge in Pschyrembel 1990: 1529 u. 1626. 23 Vgl. Wemz 1993: 70ff. 24 Eine solche semiotische Relevanz des Körperlichen manifestiert sich in der Aufklärung paradigmatisch durch das Werk Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (4 Bd.e, Leipzig/ Winterthur, 1775-1778) von Johann Caspar Lavater. Vgl. zur Relevanz physiognomischen Denkens Saltzwedel 1993. 25 Zitiert nach Pfeil 1968. 26 Vgl. zur Relevanz des Problems der Verstellung und Dekodierung der Person in der Anthroplogie des 18. Jh.s Geitner 1992. 27 Zitiert nach Weiße 1780. 28 hnplizit referiert der Text hier auf die äußerst erfolgreichen Leiden des jungen Wenher von Goethe, die 1774 genau in dem Jahr erschienen sind, in dem Weiße den Jean Calas verfertigte. Zum einen schreibt Weißes Drama damit gegen das durch Goethes Roman mit begründete Literatursubsystem des 'Sturm und Drang' an, zum anderen vertritt der Text hiermit eine medizinisch-pathologische Wirksamkeit von Literatur, wie sie Mauser 1988 auch als Merkmal für die anakreontische Literatur der Frühaufklärung behauptet 29 Vgl. ausführlich und grundlegend zu dieser Konzeption der Person und ihrer Problematik in der medizinischen Traktate-Literatur der Goethezeit Wernz 1993: 13-81. 30 Vgl. einführend zu Romeo und Julie Decker 2001. 31 Vgl. Titzmann 1990: 141. 32 Damit repräsentiert der Text paradigmatisch eine Konzeption von Gefühl und Bedrohung der Familie, wie es paradigmatisch Titzmann 1990: 142-156 für das Literatursubsystem 'Empfindsamkeit' darlegt. 33 Zitiert nach Weiße 1937. 34 Diese Liebeskonzeption entwickelt sich als Verschärfung der 'empfindsamen' Liebeskonzeption vor allem im 'Sturm und Drang'. Vgl. Titzmann 1990: 163-165. 35 Vgl. zur grundlegenden Annabrne eines zu haltenden Gleichgewichtes zwischen verschiedenen Systemen zwischen Körper und Seele ebenso wie auch das Ideal eines inneren Gleichgewichtes in der medizinischen Traktate-Literatur der Zeit Wemz 1993: 188-195. Festzuhalten ist, dass sich damit im medizinischen Diskurs der Zeit das Konzept einer Verbindung von Körper und Seele, das noch in der Frühaufklärung mit dem Konzept der totalen ·Trennung von Körper und Seele· konkurriert, mit der Entwicklung des Denksystems als dominant durchgesetzt hat. Vgl. für die Relevanz des Gleichgewichtsprinzips im Denk- und Literatursystem derGoethezeit Titzmann 1984. 36 Vgl. zur Rolle des Inzests in der Goethezeit Titzmann 1991c: bes. 265. Der metaphorische Inzest in Romeo und Julie markiert zeichenhaftkulturell verbotene Verhaltensweisen, wie hier die Hinagbe an den erotischen Genuss, die zu Wahnsinn und Selbstverlust führt. 37 Samuel Hahnemann begründete erst nach der Veröffentlichung von Romeo und Julie die Homöopathie, indem er in einem Aufsatz 1796 in Hufelands Journal der practischen Aruieykunde das sogenannte 'Simile'-Prinzip propagierte ("Similia similibus curentur"-"Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden"). Wie Romeo und Julie belegt, ist Hahnemann derjenige, der eine solche Therapiekonzeption erstmals systematisch in den medizinischen Diskurs integriert, nicht jedoch der eigentliche Urheber einer solchen therapeutischen Vorstellung, die im Denksystem der Epoche schon als gegeben angenommen werden muss. Wie die Abwertung dieses Therapiekonzeptes durch ihr Scheitern in Weißes Text nahe legt, handelt es sich bei der Homöopathie um ein mit anderen konkurrierendes Konzept innerhalb des medizinischen Diskurses, das bis zum heutigen Tag geradezu synonym mit der Opposition zur gegenwärtigen modernen Schulmedizin gebraucht wird. Vgl. zur Geschichte der Homöopathie einführend Heinze 1996.. 38 Vgl zur Konzeption des 'Sturm und Drang' als Weiterentwicklung und Radikalisiereung der 'Empfindsamkeit'. Titzmann 1990: 157-165, auf dessen Modellskizze des 'Sturm und Drang' folgende Ausführungen beruhen. 39 Festhalten lässt sich, dass mit dem Herausdrängen des faktischen Körpers als Zeichen einer bedrohlichen Sexualität in der 'Empfindsamkeit' in der 'Goethezeit' die z.T. populäre medizinische Traktateliteratur zu Körper/ Arzt/ Medizin/ Technik 43 sexuellen Fragestellungen sprunghaft ansteigt, wie Wemz 1993: 7 konstatiert. Anzunehmen ist, dass dieser medizinische Teildiskurs, der im Verlauf der Entwicklung des medizinischen Diskurses in der Aufklärung entsteht, die Verbindung von medizinischem Diskurs und traditionellen Normen neu gewährleistet und die Literatur ihn rückwirkend aufgreift und seine Gültigkeit erweist (Vgl. Wernz 1993: 272-292). 40 Vgl. zum breit untersuchten Feld der Melancholie z.B.Schings 1977, Mattenk: lott 1985 u. Engelhardt et.al. 1990. 41 So wird z.B. in Goethes Revolutionskomödie Der Bürgergeneral (1793) mit dem Barbier Schnaps das Modell des Arztes als scheiternden Sozialhilfers durch die Berufsbezeichnung Barbier ebenso nur Reflex-artig abgerufen, wie der Rekurs auf das Modell der sächsischen Typenkomödie, dem der Barbier als komische Figur entstammt. Vgl. einführend Decker 2001. 42 Die Renormierung aufklärerischer Konflikte gilt nach Titzmann 1990: 165 als Merkmal der 'Klassik'. Zumindest hinisichtlich des Umganges mit Arztrolle und medizintechnischemDiskurs im Text sind die Wanderjahre damit partiell als 'klassischer' Text zu klassifizieren. 43 Unter dem Aspekt des Gattungswechsels ergeben sich hier Fragestellungen, die im Rahmen dieses Aufsatzes nur umrissen werden können. So könnte auf breiterer Korpusbasis untersucht werden, wie die erzählende Literatur der Goethezeit Elemente des medizintechnischen Diskurses aus dem Drama der Aufklärung aufgreift und transformiert. Oder anders formuliert, inwieweit sich die Gattungen innerhalb der Aufklärung bei der Konstruktion des medizintechnischen Diskurses ergänzen und wie ein solcher medizintechnischer Diskurs in der Litertaur der Aufklärung von der Literatur der Goethzeit aufgegeriffen wird. Eine solche Analyse würde erhellen, inwieweit poetologische Prämissen von Textsorten und die Strukturierung kultureller Diskurse im Denksystem zusammenhängen könnten. 44 Vgl. einführend zu den Wanderjahren Herwig 1997, an deren thematische Aufbereitung des Erzählten die wichtigsten Positionen der Forschung zum Roman angebunden werden. 45 Zitiert nach Goethe 1982. 46 Vgl. zum Phänomen der Paratextualität Genette 1993. Die Wanderjahre legen dabei zumindest eine explizite Spur, indem auf den englischen Autor Laurence Sterne und implizit auf sein Hauptwerk The Life and Opinions ofTristram Shandy, Gentleman (York 1759-London 1767) verwiesen wird (S. 485, Z.24-26, S. 489, Z. 23- S. 491, Z. 16). Der Bezug, der sich hier systemisch erstellt, ist der der Parodie einer Autobiografie ebenso wie einer des Erzählens selbst. 47 Der Vorwurf, zu morden, um medizinische Studien zu betreiben, wurde massiv ab der Renaissance kolportiert, wo anatomische Studien aufgrund religiöser Normen tatsächlich verboten waren. Im Verlauf des Barock etablierte sich die anatomische Kunst zunächst an den Universitäten, um schließlich zu expandieren und grundlegend verbreitet zu werden. In der Aufklärung hatten sich anatomische Studien als allgemeingültige Grundlage bereits durchgesetzt. 48 Die vorhergehenden zwei Textbeispiele stammen aus den Teiltexten "Makariens Archiv" und dieses aus den "Betrachtungen im Sinne der Wanderer". Diese Teiltexte stellen in der Mitte und am Ende des Romans so etwas wie die abstrakte Ordnung an Werten und Normen vor, auf deren Folie die Rahmen- und die Binnenerzählungen ablaufen. 49 Vgl. zur Relevanz des Gleichgewichtskonzeptes im Kontext des medizinischen Diskurses in der Goethezeit Wernz 1993: 188-192. 50 Vgl. Herwig 1997: 222-257. Herwig rekonstruiert den Kausalzusammenhang zwischen dem Tod Adolfs und der Rettung Felix', wie ihn die Narration vorgibt und konstatiert auch eine latent homerotische Komponente. Sie übersieht aber die daraus folgenden Funktionen für die Lösung fundamentaler Konflikte durch die Arztrolle, wie im Folgenden ausgef"tihrt wird. Herwig liest Arztrolle und medizinischen Diskurs in den Wanderjahren vor allem auf das zeitgenössische medizinische Wissen, den biographischen Kontext Goethes und mit diesem verbundene ästhetische Kontexte hin. 51 Die Asymmetrie bei der Kennzeichnung von Adolf und der Pastorentochter sind auffällig. Über Adolfs körperliches Aussehen schweigt sich der Text aus, wohingegen die Pastorentochter zwar nicht mit Namen, aber in der körperlichen Erscheinung greifbar wird. Damit verbindet sich folgende Strategie: Da Adolfs körperliche Erscheinung ausgeblendet wird, wird auch die Sublimation der homosexuellen körperlichen Attraktion nivelliert. Interesse am konkreten Körper hat der rückblickende Mann bei der Frau. Durch die Individualisierung des Freundes mit einem ihn identifizierenden Namen werden demenstprechend stärker die Gefühle Wilhelms für eine konkrete Person betont. Gleichzeitig wird latent die Beziehung zu Adolf als die damals und rückblickend wichtigere bewertet. 52 Vgl. Titzmann 1990: 159-162. 44 Jan-Oliver Decker 53 Verwiesen sei neben den Arztromanen vor allem auf das Genre der Arztserien im Fernsehen. Vgl. Wünsch/ Decker/ Krah 1996: 104-108. 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In reconstructing the complex relationship of the cultural semantics of 'dance' and 'technic' the paper follows the modern discours on dance from the early criticism of the romantic and classical ballet as being mechanical. By the poly-semantics of the New Dance and its function as inter-discourse reached after this moment of polemics the concepts of body technics, and bodyand dance-led theories of Ianguage in the 1930ies are prepared. The focus of the paper are the different developments during the interwar period. Lichter'/ i3nz zur Weltausstellung in Paris 1900 Lore Fuller sitzt in lebhafter Unterhaltung am Tische der Curies ... Dieses Bild aus dem Paris der späten 1890er Jahre hat die : filmische Imagination (Pinoteau 1997) unserer Tage wiederbelebt: Marie Curie beginnt gerade damit, nach dem Postulat von Radium und Polonium, das Radium in mühseliger Handarbeit aus der Pechblende zu gewinnen. Und in der Tat hatte die amerikanische Tänzerin den Kontakt zu der polnisch-französischen Nobelpreisträgerin (für Physik 1903 zusammen mit ihrem Mann Pierre und Antoine-Henri Becquerel; für Chemie 1911) gesucht2, die Entdeckung von Radium mit Aufmerksamkeit vetfolgt und im Labor im eigenen Garten an einer Handhabung und bühnenwirksamen Verwendung zusammen mit Chemikemundingenieuren gearbeitet. Elektro- und Lichttechnik, Mechanik mit neuen Materialien und Materialsynthesen mit Textilien (Plate 1), schließlich eigene Patente zum Schutz ihrer Urheberschaft in Zeiten der "technischen Reproduzierbarkeit" (Benjamin 1936) durch die Konkurrenzauch dies sind Kennzeichen derneuen Tanzkunst Lofo Fullers. 3 In den letzten Jahrzehnten des ausgehenden 19. Jahrhunderts kommt es zu einer "rapide zunehmenden Wechselwirkung zwischen Wissenschaft, Technik und Industrie."(König 1997: IV, 403). Die Neuerungen und Fortschritte, die durch dieses Zusammenwirken erzielt werden, erschüttern die menschliche Vorstellungswelt und führen zu beschleunigtem Wandel des Wissens und des Alltagslebens, in äer Güterproduktion, im öffentlichen wie auch im privaten Leben. Diese Allgegenwart und Durchdringung stellt die Voraussetzung der "Weltbildfunktion", so Stichweh (1994: 153), dar, die jetzt der symbolischen Repräsentation, der zeichenhaften Darstellung dieses technischen Komplexes durch Verlautbarungen und Abbildungen in den verschiedensten Publikationsmedien zuwächst. Und auch diese Medien 48 Katja Schneider/ Gustav Frank standen und entstanden während des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Industrialisierungsschüben; sie sind somit selbst technische Medien. In eine "Welt-bild-funktion" einzunicken und die vorherrschende Orientierung an der Vergangenheit; den Historismus, daraus nach und nach zu verdrängen, setzte Anschaulichkeit, ja mehr noch einen Appell an die Sinne voraus, wie ihn der Historismus selbst schon in seinen Museen und Bibliothekenumfassend angeboten hatte. Die Grundlagen technisch-industrieller Produktionsweisen und Produkte waren dem entgegen seit der Jahrhundertmitte zunehmend wissenschaftlich, mathematisch geworden, mithin abstrakt der unmittelbaren Einsicht entrückt. Mit der Industrialisierung der Photographie seit den 1870er Jahren gelang ein Doppeltes: "mit Hilfe von Chemie, die man zwar noch nicht völlig verstand, die man aber durch Experiment wirksam in Szene setzen konnte, ein realistisches Abbild zu schaffen" (König 1997: 4,229), also massenhaft Technik und Welt gleichermaßen anschaulich zu repräsentieren. Wie das Beispiel Lote Fullers zeigt, war der 'Neue Tanz' 4 von Beginn an mit dem Komplex aus Wissenschaft, Technik und Industrie verbunden: Mit Licht und Energie wurden zentrale Themen der Zeit hier jedoch in ganz neuem Zusammenhang repräsentiert und dadurch wurden neue Bedeutungen dieses Komplexes erzeugt. Erst hier entstanden Schnittstellen als Anschlußstellen für Bedeutungsverknüpfungen und-übergänge zwischen zunächst weit auseinander liegenden Sphären. Es bildeten sich semiotische Brocken, die den technischen Komplex mit den prägenden kulturellen Debatten der Zeit koppelten: mit dem Ringen um den Körper5, dem Regulativ der Normalisierung 6, der Auseinandersetzung um die Krise der Wahrnehmung und der Sprache. Die Weltausstellung in Paris zum anbrechenden neuen Jahrhundert gestand der Tänzerin einen eigenen Pavillon zu und bestätigte damit die erfolgte, die erwünschte Verschränkung. Lote Fuller führte dort ihre synästhetischen Tanzexperimente mit Elektrizität, Licht, Projektionen, Spiegelungen und Radium vor. Die Ausstellung selbst, die um den "Palast der Elektrizität" kreiste, hatte in vorher nicht gekanntem Maß industrielle Leistungsschau und kommerzielle Schaustellung verquickt. Dadurch wird ein Doppeltes verdeutlicht: wie Technik, die sich immer mehr in eine Tiefenstruktur von neuartigen Objekten· zurückzieht, umso mehr der Repräsentation durch metaphorische und metonymische Verfahren, sichtbare und kenntlich gestaltete Oberflächen, bedarf und wie eine kommerzialisierte Unterhaltung zu einem Teil dieses industriellen Komplexes und das Forum der Präsentation desselben wird. Hier erst wird das Abstrakt- Unanschauliche in symbolisches Kapital kultureller Zeichensysteme umgemünzt, an Umbrüche in Wahrnehmung und Darstellung angeschlossen, die über die sinnliche Qualität alle erreichen, nicht nur den engen Kreis der Spezialisten. Bei Lote Fuller war Technik nicht nur benutzt, um ergänzende spektakuläre Effekte um Tanz und Tänzerin zu ranken, sondern sie war integraler Bestandteil der Choreographie. Fullers Bühnenexperimente mit Wahrnehmung und Darstellung überschritten damit jedoch nicht nur die Grenze zur Technik, sondern deutlich zugleich auch die Grenzen des Tanzes: Mit dem Verschwinden des einen, identifizierbaren bewegten Körpers aus Fullers Choreographien ~ durch Schleier, Licht, Projektions- und Spiegeleffekte verloren diese wesentliche Merkmale jeglichen bisherigen Tanzverständnisses. Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 49 Plate 1: Loi"e Fuller 50 Katja Schneider/ Gustav Frank Tanz und Zeichen Anders steht es zur selben Zeit um das Ballett, das in St Petersburg 1890 mit Marius Petipas Dornröschen und 1895mit seinem in Zusammenarbeit mit Lew Iwanow entstandenen Werk Schwanensee Tri11IDphe feierte. Für die Danse d' ecole, sowohl in ihrer (prä-)romantischen wie auch in ihrer zaristischen Ausprägung, läßt sich eine hochgradige soziale Konventionalisierung nachweisen. Tanz bedeutete hier Tradition. Es galt das Ideal des sich im 17. Jahrhundert am Hofe Ludwigs XIV. entwickelnden, streng kodifizierten Bewegungs~ und Schrittsystems und seiner repräsentierenden Funktion. Seine Bewegungsgrammatik und -rhetorik erlaubten eine unzweifelhafte 'Lektüre' seines Systems und seiner Elemente. Der Einsatz von Spitzenschuhen und Spitzentanz, dessen Perfektion im 19. Jahrhundert immer mehr gesteigert wurde, die Hierarchien der Darsteller auf wie hinter der Bühne waren eindeutig geregelt, ebenso, welches Schrittmaterial zulässig war. Der Grenzverkehr mit alternativen Bewegungsrepertoires, etwa mit dem Holzschuh des "Volkstanzes", war eindeutig fixiert. - Dieser Bühnentanz war vom Kontext auf der Opernbühne fremdbestimmt, vorhersagbar und deshalb 'lesbar' durch alle seine semiotischen Register. Exzellenz zeichnete ihn freilich aus in der Überfeinerung des Technischen, der Präzision im Mechanischen und der Disziplin des Körpers. Lo'ie Fuller war nicht die Einzige; die das Publikum seit den 1890er Jahren mit einem vollständig anderen Tanzerlebnis konfrontierte. Um 1900 wurde der enge semantische R; ng um das klassische Ballett in einer heftigen Polemik aufgelöst. Folgt man den zeitgenössischen Stimmen, war der Grund für die Abqualifizierung des Balletts die Dominanz der Technik: Es trainiere nur die Beine, alles andere verkümmere, es sei eine mechanische Lehre im Vergleich etwa zur Gymnastik als ganzheitliches "organisches" Prinzip der Körperertüchtigung. Ballett sei Technik um ihrer selbst willen, während der Tanz idealerweise emotionale Vorgänge durch Bewegung visualisiere, ohne in irgendeiner Weise kulturell kodifiziert zu sein. Dieser Tanz sei "Ausdruck der Seele", so Blass (1921: 44), die "Fähigkeit, seelischem Erleben durch rhythmische Körperbewegung Ausdruck zu verleihen", so Schikowski (1924: 10). Das waren gänzlich neue Rahmenvorgaben, innerhalb derer der Neue Tanz nun funktionieren sollte: statt Hypertrophie einzelner Gliedmaßen Ertüchtigung des ganzen Körpers, um Anpassungs- und Leistungsfähigkeit unter veränderlichen Anforderungsprofilen zu erzielen und um den Seelen-Ausdruck 7 in der Ordnung von Rhythmen beherrschbar zu halten. Mit einer Verschiebung des Tanzes vom Pol der Kultur zu dem der Natur ließen sich zweierlei Ziele verbinden: diese ArtRenaturalisierung des Tanzes 'öffnete' ihn für nicht-konventionelle, nicht erstarrte, sondern dynamische Körperkonzepte; und dieser Tanz war damit die angemessene Reaktion auf die kritisch beäugte Bewegung weg vom Pol Natur, die man in den industrialisierten modernen Metropolen ausmachte. Der Tanz wurde von der Tradition befreit und orientierte sich nun an anderen Idealen: Isadora Duncan etwa propagierte mit ihren Auftritten, barfuß und in Tunika, die Befreiung des weiblichen Körpers und strebte eine Wiederbelebung des antiken Tanzes an (Plate 2). Sie wollte "Erfahrung" vermitteln, statt "Wirkung" zu erzielen. Der offenbare und in polemischen Bekundungen verstärkte Traditionsbruch bedurfte als Gegengewicht offenbar kultureller Legitimationen. Duncan griff wie viele andere auf das Ansehen des Historismus zurück, um seine impliziten Werte und Normen mit seinen eigenen Mitteln zu verändern. Seit den 1870er Jahren war offenbar geworden, daß Wissen über vergangene Kulturen und ihre Stufenfolgen in ordnungssprengenden Dimensionen zur Verfügung stand. Mittlerweile schien sich alles und sein Gegenteil mit Belegen aus der Geschichte rechtfertigen zu lassen. Als erster hatte Nietzsche durch sein Plädoyer für den dionysischen Anteil der griechischen Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 51 Plate 2: lsadora Duncan 52 Katja Schneider / Gustav Frank Antike deren kultischen wie festlichen Tänzen einige Aufmerksamkeit verschafft ihn überdies mit der Psyche der Zeitgenossen verknüpft. Duncans Inspirationen aus und Auftritte in Museum und Bibliothek schlossen die unerhört neuen Tanz- und Bewegungsexperimente dann an eine von den Institutionen des Historismus beglaubigte älteste Tradition an. Diese Fühlungnahme mit den vitalen Ursprüngen des Abendlands in der Antike ließ das Ballett dagegen als Zeugnis einer späteren Dekadenz erscheinen. Der Neue Tanz, die beiden Beispiele sollten das stellvertretend illustrieren, wurde um die Jahrhundertwende allgegenwärtig. Damit beginnt die erste Etappe einer Tanzgeschichte im Zeichen der Technik: Bühnentanz und Technik werden in ihrem Übereinkommen in der mechanistisch gedeuteten Mensch~Maschine des Tänzerkörpers zugunsten eines ·organologisch-ganzheitlichen Argumentierens für 'Natur' und 'Leben' kritisierbar. Die Geste des Traditionsbruchs konnte tänzerisch die Form des Hohns graver Bodenhaftung auf grazile Spitzenartistik annehmen, Natur gegen Kunst ausspielen und im verbalen Begleitdiskurs als antirnechanistische Polemik daherkommen. Auch die neue Physik als Leitwissenschaft der Jahrhundertwende entstand im Zeichen einer Kritik an der klassischen Mechanik Newtons. 8 Eine semiotische Beschreibung des Bruchs in der Tanzgeschichte hätte also zumindest folgende Aspekte zu berücksichtigen: 1. Bewegungsrepertoire, Grammatik- und Rhetorik-Elemente des klassischen Balletts sind ein zu enger Rahmen für die erwünschte kulturelle Bedeutungsproduktion geworden, weil das Interesse dieser kulturellen Semantik sich in Richtung auf Bewegung und Körper verschoben hat. 2. Die lange Stabilität der Darstellungskonvention hat die sozialen Konnotationen einer vergangenen, unverständlich gewordenen Gesellschaft, der frühneuzeitlichen höfischen Festkultur (und Mechanik), konserviert. 3. Und genauer besehen hat der Bühnentanz nicht zuletzt dank einer sekundären erotischen Kodierung des weiblichen Teils des corps de ballet im Zeitalter seiner Kommerzialisierung so lange unangefochten bestanden. 9 Dafür sorgten Schau- und Kauflust veränderter Publikumsschichten, gekoppelt mit einem medienbedingten Umbruch der Wahrnehmungsgewohnheiten durch den Aufstieg der Photographie, die Tänzerinnenkörper, Tänzerinnenbeine etwa im Mosaikbild von Andre Disderis aus den 1850er Jahren (Ewing 1998: 32; Foto: 36) als Massenartikel in Umlauf setzen konnte, wie Solomon- Godeau nachweist (1994: 90-147). · 4. Mit den vielschichtigen Prozeduren der Umgewichtung zwischen Moral und Psychologie, die nicht zuletzt Erotik und Körper zu neuen Bedeutungen und neuer Bedeutung verhelfen und die sich sowohl in wie angesichts der Massenkultur der Modeme seit den 1890er Jahren vollziehen, entstehen Leerstellen, die der Neue Tanz erfolgreich besetzen kann. Im Zuge der beschriebenen Polemik erfolgte die Löschung der dominanten Zeichensysteme (Narration, Sprache, aber auch Musik, konventioneller Ort, Gattungshierarchie, Zwischenakt, minoritäre Position in der ästhetischen Reflexion, den Poetiken der Künste etc.), die den Konnotationshorizont für Körper und Bewegung im Ballett bildeten. Das warf den Neuen Tanz zunächst ganz auf den Körper und seine Bewegungen zurück, die als Medien einer komplexen Sprache vermeintlich zu entdecken, zu entziffern zu sein schienen, eigentlich jedoch kulturell konstruiert wurden. Die Aufmerksamkeit verschob sich damit in einem nicht Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 53 gekannten Ausmaß auf den Körper. Dessen kommunikative Kompetenz trat hervor und wurde ausgearbeitet, schließlich in Gegensatz zur oral-verbalen Sprache gebracht, die zunächst als Agent der unpersönlich-abstrakten, lebensfremden, erstarrten Schriftkultur betrachtet wurde. Dynamische Bewegung und starre Form (Pose) bilden polare Gegensätze in dieser Denkweise. Ballett ist darin allenfalls als mechanischer und ständig wiederholender Bewegungsformalismus interpretierbar. Der Neue Tanz kann damit seine bekannte bedeutende Rolle für das kritische bis skeptische Sprachdenken der Jahrhundertwende einnehmen (Brandstetter 1995: 49ft). Verbürgte die soziale Konvention den Anschluß des Balletts an die gesellschaftlichen Symbolsysteme, scheint mit der 'neuen' Bewegungs-Freiheit auch eine Befreiung von diesen, ja von allen sozialen Sinn- und Ordnungssystemen einherzugehen. Der sprachliche Begleitdiskurs des Neuen Tanzes, der von diesem zu unterscheiden wäre, leugnete jegliche historisch-normative und systematische Kontinuität zum Ballett. Das betraf erklärtermaßen vor allem auch seine 'Lesbarkeit'. Angesichts der reklamierten Sinnfreiheit der freien Bewegung stellt sich die Frage, wie der Neue Tanz kommuniziert. Da es eine ausgearbeitete Tanzsemiotik 10 nicht gibt, ist von grundlegenden Beobachtungen auszugehen. Grundlage einer Semiotik des Tanzes wäre in beiden Fällen dem des klassischen wie Neuen Tanzes zunächst der Nachweis, wie Körper und Bewegung zu bedeutungstragenden Elementen gemacht werden 1 1; denn im Tanz wird der Körper zum Träger von Bedeutungen, die den Bewegungen selbst nicht zukommen. Eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Zeichensysteme können am Bedeutungsaufbau eines Tanzereignisses beteiligt sein: neben Gestik, Mimik auch Sprache und Musik; neben dem Aufführungsraum und seinen Ordnungen (Theater, Bühne, Bibliothek, Museum etc.) auch Dekoration, Kostüm und Beleuchtung; zudem das Raumverhalten und die Relationen der Tänzer zueinander (Schneider 1998: 32-37); schließlich die Geschichten, die erzählt werden. Im Zeichen der anti-tychnischen Polemik wurde dieses umfangreiche Repertoire drastisch reduziert und umgruppiert: neue Aufführungsorte - Lo'ie Fuller feierte ihre europäische Premiere in den Folies-Bergere, Isadora Duncan tanzte in Bibliothek und Museum umrahmten die Präsentation des Körpers und fokussierten auf seine Gestik, sein gesamtes Bewegungsrepertoire. Hier begann man eine eigenwertige, ja eine der oral-verbalen überlegene, weil fundamentalere Kommunikation zu vermuten und zu beschreiben: Ein anderer Kanal und seine vollständig andere Kodierung wurden entdeckt und zu Recht als Wiederentdeckung deklariert. Das Prinzip der Unterwerfung der Bühne unter den Text, die ausgehend von der Theaterreform des 18. Jahrhunderts, angestoßen von Gottsched, alle, auch die Lachgattungen domestiziert hatte (Greiner 1992), brach hier endgültig auf. Die Körper auf und vor. der Bühne konnten wieder im Gleichmaß ästhetischer Bewegungen miteinander 'kommunizieren'. Nicht mehr das Sehen eines in Bühnenhandlung verwandelten Textes, der Erkenntnis vermittelt, sondern der Nach- und Mitvollzug "stummer Künste" (Hoffmannsthal, 1895) sollte möglich werden. 12 Voraussetzung für das universelle Auftreten des Neuen Tanzes an allen diskursiv relevanten Orten, außer-, aber auch innerhalb von sprachlichen und literarischen Texten, war eine semantische Entleerung durch die Lösung von der Traditionsbindung. Diese erhöhte die kommunikative, die vorsprachliche und auch die uneigentlich-metaphorische Potenz des 'Tanzes' um ein Vielfaches. Das bedingt die Notwendigkeit einer gänzlich neuen Analyse der Semantisierung von 'Tanz': zurück zur Basis der Bedeutung aufbauenden Elemente, die im Ballett von der Konvention erstickt worden war. Den Bewegungen und Gesten als ästhetischem Zentrum des Neuen Tanzes kommt eine Darstellungsfunktion zu, ohne daß sie selbst eine alte/ neue Sprache (wieder)erschaffen. Was 54 Katja Schneider/ Gustav Frank sie darstellen, sind jedoch keine propositfonalen Gehalte. Die Darstellung installiert vielmehr Verweisungen auf Netze von Konnotationen. Diese müssen erfolgreich zugeschrieben und wiederholt in Umlauf gesetzt werden, um zu funktionieren. Durch das Fehlen einer stabilen Kodierung durch Denotation können die Bewegungen und Gesten, ihre Variationen und Kombinatoriken einer beständigen semantischen Fluktuation unterworfen werden. Neue Konnotationen können angelagert werden, bestehende neu kombiniert oder ausgetauscht. Wir haben es also mit einem Zeichensystem besonderer Art zu tun, bei dem pragmatischen Aspekten, insbesondere Funktionen in Diskursen, das Schwergewicht im Bedeutungsaufbau zukommt. Das erklärt zum einen die allgemeine Attraktivität des Neuen Tanzes in nahezu allen kulturellen Segmenten und Diskursen sie besteht aufgrund seiner Eignung, eine Vielzahl von Inhalten des sozialen und symbolischen Systems sekundär zu repräsentieren. Das erklärt zum anderen die ungeheuere Bedeutung, die die Schrift und Photographie als Begleitmedien des Neuen Tanzes erlangen konnten sie spannen die Netze der Konnotationen über die Tanzereignisse und verfestigen deren unabdingbare Seile und Knoten zum basalen Kode eines kulturellen Verständnisses des Neuen Tanzes. Dieser 'Tanz' kann dann um die Jahrhundertwende in der Problemgeschichte der Lebensideologie (Lindner 1994) eine wichtige Rolle spielen, deren Geschichte noch längst nicht hinreichend geschrieben ist. Wir stoßen hier auf eine grundlegende Schwierigkeit: Erst durch die "Rede vom Tanz" (Gumpert 1994) 13 einerseits und andererseits das verführerische, scheinbare Für-sich-selbst- Sprechen der Abbildungen von Tanz, auch in den Hochglanzkatalogen der Gegenwart, wird der 'Tanz' zu einem kulturellen Zeichensystem aufgebaut, das hinreichend ausgearbeitet ist, um in Tanzereignissen diskursive Vernetzungen überhaupt hervorbringen zu können. Der Zusammenhang führt zu scheinbaren Paradoxa: Literarische Sprachkritik, die den Tanz als Zentrum der "stummen Künste" feiert, bringt umfangreiche literarische Reden vom Tanz hervor, die sich schließlich ganz von konkreten Tanzereignissen lösen und in den poetischen Fundus, das Standardrepertoire der Dichtung, eingehen können ein offenbar fruchtbarer Austausch sozialer und semantischer Merkmale hat stattgefunden. Erst unter diesen Voraussetzungen lassen sich für den Tanz auf der einen Seite parallel zu anderen kulturellen Zeichenensembles wie Texten, Bildern, Photographien, Filmen - und technikgeschichtlichen Entwicklungen aufder anderen Seite semiotisch begründete diskursive Vernetzungen nachweisen. Die anti-mechanistische Polemik hat die Voraussetzungen einer Intensivierung der Beziehungen zur Technikgeschichte geschaffen. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, daß die Attraktivität des Neuen Tanzes in der Möglichkeit der vielfachen Verknüpfung über Konnotationen besteht, die hier nicht alle bestimmt und schon gar nicht in der Systematik ihrer Verbindungen entfaltet werden können. Dennoch sei ein für den Zusammenhang zentraler Aspekt, die Verbreitung der Traumtänze 14, noch genannt. Sie spitzen etwas zu, was latent auch die Selbstverständigung Isadora Duncans über ihre Tänze bereits beinhaltete. Es ist die Korrespondenz des Körpers mit den nicht sichtbaren und nicht verbalisierbaren Inhalten der Psyche: Der Körper wird durch den Tanz, je ekstatischer, rauschhafter, dionysischer er angelegt ist, in die Lage versetzt, solche Inhalte der Psyche einerseits 'auszudrücken', andererseits 'zur Anschauung' zu bringen, die skh sonst dem Subjekt wie dem Kollektiv entziehen. Tänzerin und Publikum geraten in eine Situation, in der Kommunikation sich des Kanals, des Kontaktmediums, Körper bedient und Nicht-Sichtbares, Nicht-Verbalisierbares zum 'Thema' machen kann; zum 'Thema' nicht der Rede und rationalen Argumentation, sondern einer niedrigschwelligen, unmittelbar eingängigen Verständigung der Körper. Die Unterstellung dabei ist, daß dieser Kanal eine Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 55 symmetrische Kommunikation erzwingt: ein Bewegungs-Vorbild wird nachgebildet und geht ins Bewegungsrepertoire über. Es herrscht das Lernprinzip der Mimesis. Dabei ist weiters unterstellt, daß Tanz nicht eigentlich optisch wahrgenommen und in die Sprache der rationalen Öffentlichkeit übersetzt wird gerade so war 'Erkenntnis' seit der Aufklärung und der Goethezeit einvernehmlich verstanden worden -, sondern durch eine Bewegungsübertragung funktioniert, die allenfalls visuell gestützt ist. Nicht mehr optische Wellen sind grundlegend, sondern eine Anregung zu 'gleichphasigen Schwingungen' des Körpers soll stattfinden; Vorbilder dieser Vorstellungen lieferte der Bereich der Akustik, der Musik vor allem, aber auch der Stimme, der sich die Sprachforschung der Zeit wieder vermehrt zuwandte. Tanz tritt also auf den Plan im Augenblick einer Krise der optischen Kodierung von Erkenntnis, der Entkoppelung von Anschauung und Wissen(schaft) und der Skepsis gegenüber der Universalität schriftsprachlicher Kommunikation in einer massenkulturellen Öffentlichkeit. Um 1900 konnte der Körper also auch einige spezifische Ausdrucks-/ Abbildrelationen mit der Seele unterhalten und anschaulich darüber beruhigen, daß die Seele ein komplex gegliederter, machtvoller, jedoch nicht-einsehbarer Raum ist. Und dies in einem Moment, als die Psychologien der Jahrhundertwende sowohl das Konzept eines verantwortlich handelnden Subjekts unterminierten als auch die vom literarischen Realismus in einer Vielzahl von Texten gepflegte Zwangsvorstellung von der notwendigen Ausgrenzung transgressiven Begehrens aus der Person torpedierten. Am Beispiel LoYe Fullers wurde oben schon deutlich, daß Tanz diese Anschaulichkeit auch wissenschaftlichen Innovationen in Gestalt einer eigentümlichen Technik zurückzugeben vermochte. Gerade weil er Anschaulichkeit (wieder)herstellte, durfte der 'Neue Tanz' mit den etablierten kulturellen Grenzziehungen brechen; seine Auftritte erfolgten gleichermaßen weiterhin an den auch anrüchigen - Orten der Populärkultur, den Varietes, Music Halls und Tingeltangel, wie neuerdings an den Orten der historistischen, aber 'nicht-theatralen' Hochkultur, in Museen und Bibliotheken. Diese gleichsam interkulturelle Präsenz veränderte die Wertigkeit des Tanzes im Gefüge der Künste und steigerte den Bedeutungsumfang von 'Tanz' durch Vervielfältigung seiner Konnotierbarkeit. All das etablierte 'Tanz' als wichtigen Diskursagenten der Modeme: Eine der wichtigsten Funktionen dürfte dabei die (Re)Integration auseinanderstrebender Diskurse und sozialer Gruppen gewesen sein. Das hier zugrunde liegende Verständnis von Diskurs umfaßt soziosemiotische Praktiken, die neben den verbal- und schriftsprachlichen Zeichen auch die Ebene zeichenhaften sozialen Handelns und Verhaltens einschließen. 15 Unter Dispositiven sollen solche komplexen soziosemiotischen Praxen verstanden werden, die die Diskursfunktion der Regulierung individuellen wie kollektiven Verhaltens übernehmen. Das Interesse richtet sich hier vorrangig auf den Körper, weniger auf Verhaltensformen wie Bewertungen und Einteilungen von Wirklichkeit. Eine Dispositivfunktion für den Körper anzunehmen ist nicht wenig voraussetzungsreich. Zumindest zwei Voraussetzungen sind zu benennen: zum einen, daß soziales Lernen die mimetische Angleichung an erfolgreiches Verhalten beinhaltet, zum anderen, daß eine neue Verhaltensvariante sich nur dann erfolgreich durchsetzt, wenn sie nachgeahmt wird, sich also auch zur Nachahmung zu empfehlen versteht. Tanz und Technik sollen im Rahmen dieses Diskursbegriffs, insbesondere seiner dispositiven Komponente, analysiert werden. 56 Katja Schneider/ Gustav Frank Tanz und Technik Erst die einmal typisierten Gesten des Tanzes und seine Begleitkommunikation spannen die semantischen Netze von Bedeutungen um den Körper und seine Bewegungen, die ihnen an sich nicht eignen. Es sind Netze von Konnotationen, die von den Bedürfnissen der Kultur, ja sogar von jeweils partikularen Erfordernissen gesteuert werden. Weil es sich um Netze von Konnotationen handelt, deren Knoten unterschiedlich haltbar ausgeprägt sind und denen keine Denotate (kontextfrei eignende Grundbedeutungen) Grenzen setzen, kann Bedeutung vergleichsweise schnell verändert werden, indem ein neuer Rahmen durch Situationswechsel, andere soziale Kontextualisierung, veränderte Inszenierung etc. erzeugt wird. Der Tanzdiskurs kann deshalb unübersichtlich und widersprüchlich erscheinen, weil sich hinter den Praxen der Tanzereignisse verschiedene Bedeutungsreihen zu kreuzen vermögen, die konkurrieren, über unterschiedliche soziale und symbolische Kapitalien verfügen und unterschiedlich mächtig sind. Diese Bedeutungsreihen bestimmen über die metaphorischen Verknüpfungen des Tanzes und darüber, welche Merkmale in den Vordergrund rücken, welche in den Hintergrund und welche auszuschließen sind. Der semantische Kern des 'Tanzes', entleert von den traditionellen Semantiken des Balletts, war klein geworden. Ein idealtypischer Entwurfder Tanzgeschichte der Frühen Modeme aus dieser Perspektive würde drei Etappen umfassen. Zunächst ein Historischwerden des Bewegungsrepertoires der Danse d' ecole, ablesbar nicht zuletzt an der Dominanz sekundärer semantischer Aufladungen wie der Erotisierung der Tänzerinnen. Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch die ausdrückliche Polemik gegen die Tanztechnik. Hier geschieht einerseits eine Tilgung der Semantik der Körper und Bewegungen im Tanz~ zugleich bedingt die Polemik aber auch eine erste konkrete Form des Neuen Tanzes: Er entsteht vor der Negativfolie des Balletts durch Aufnahme maximal entgegengesetzter Merkmale. Die Polemik grundiert im übrigen noch Stellungnahmen der 1920er Jahre, als zum einen die Bühnen längst den Neuen Tanz als Bereicherung wahrgenommen und akzeptiert haben und zum anderen die ersten Ausdruckstänzerinnen in leitende Funktionen an diese Bühnen berufen worden sind Die dritte Etappe beruht auf dieser Phase der Polemik, die zu ihren grundlegenden Differenzkriterien gehört. Durch intensive Wechselwirkungen mit den verschiedenen Konnotatkomplexen hat sich der Neue Tanz zum einen gewandelt, zum anderen ausdifferenziert. Mittlerweile verfügt er über eine stattliche Reihe an Tanzereignissen und -persönlichkeiten, Lehrer-Schüler-Netzwerke sind entstanden kurz: der Neue Tanz hat sich eine Geschichte zugelegt. Gleichermaßen dynamisch ist die kulturelle Entwicklung der Technik verlaufen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts waren aus den zunehmend ausgebauten Techniken schließlich Techno- Logien erwachsen, indem das Wissen, insbesondere der Naturwissenschaften, die tradierten technischen Praxen eingeholt, schließlich sogar überholt und neue Prozeduren angeleitet hatte. Am Ausgang des Jahrhunderts gingen die Technologien allenthalben in technologische Ensembles über, die sektorielle Grenzen zu überschreiten vermochten. Diese Entgrenzung veränderte zum einen die materiellen Grundlagen des Lebens und die Alltagskultur - Nahrung, Wohnen und Komfort, Haushalt, Mobilität und Kommunikation-, zum anderen bildete sie Netzwerke in Verkehr und Großstadt aus und schuf zum dritten mit den großtechnologischen Anlagen eine industrielle statt der als 'natürlich' empfundenen agrarischen Umwelt. Nicht zuletzt die "Kriegsmaschinerie" und das "mechanisierte Schlachtfeld" eines Ersten Weltkriegs der Ingenieure führten die Möglichkeiten aus den weitreichenden Verflechtungen drastisch vor Augen (vgl. König 1997: V, 172-206). Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 57 Mit der materiellen Kultur waren auch die Sozialformen verändert worden: Die soziale Frage, das Entstehen der Fabrik-Arbeiterschaft und schließlich die politische Institutionalisierung der Interessengruppen prägten das 19. Jahrhundert entscheidend. Technologien zu ersinnen und zu fordern und bestimmte Technikfolgen zu erhoffen oder abzuwenden, waren seither vermehrt Stimuli des Symbolsystems. Dessen 'Technik' -Phantasmen, seien sie vorgängig, begleitend oder rückschauend, waren gleichermaßen kulturprägend, weil sie Technik überhaupt erst wahrnehmbar, verhandelbar und beeinflußbar werden ließen. Daß die soziale Seite des Symbolsystems selbst dem technischen Wandel einen Gutteil ihrer Gestalt verdankte (was nicht folgenlos für dessen Darstellungstechniken geblieben war), hat die medientechnisch interessierte Medientheorie der vergangenen Jahre hinreichend zeigen können. 16 Die kulturellen Semantiken der Technik, utopische wie dystopische Repräsentationen, unterlagen selbst einer zunehmenden Ausdifferenzierung. Auffällig ist auch hier die zunehmende Verwissenschaftlichung, die zu einer ausgeprägten Technikreflexion in der Modeme führte. Entstanden seit den 1870er Jahren erste Technikphilosophien, so profilierten sich dann in der Zwischenkriegszeit neue Wissenschaften als angemessene Orte der kulturellen Selbstverständigung über eine technisierte Industriezivilisation. Wer die Formation Technik in der Zwischenkriegszeit rekonstruieren will, trifft mithin immer bereits auf die Vorarbeiten der Zeitgenossen in Soziologie, Ethnologie und Anthropologie. 17 Die beobachtbare Komplexbildung der Technik erhöhte wiederum deren Wechselwirkungsmöglichkeiten, ihr faktisches wie symbolisches Kapital. Vervielfältigung und Allgegenwart von technischen Artefakten brachten eine zunehmend techno-morphe Welt hervor. Wie aggregierte Großmaschinen, angeschlossen an Material- und Verkehrsinfrastrukturen, Industrielandschaften gleichsam als 'Umwelt' im ökologischen Sinne des Menschen formten, so prägten die Geräte des Alltags, die sich in Innovationsschüben wandelten und vermehrten, Lebensstile. In beiden Bereichen formt und determiniert Technik seither Handlungen, Verhaltensweisen und Entscheidungen. Nicht selten korrespondieren analoge Formen in beiden Bereichen miteinander: der wissenschaftlichen Haushaltsführung, der domestic economy der Beecher-Schwestern 1 8, immer wieder verfeinert seit den 1850er Jahren, entspricht die wissenschaftliche Betriebsführung mit Taylor-System und Fordismus ebenso wie Hugo Münsterbergs und Georg Schlesingers Psychotechnik. Technik- Werkzeugmaschine wie Telephon schlug in allen Bereichen auf Körper und Bewegung durch, und die Zeitgenossen reflektierten den Zusammenhang ausgiebig. Auch 'Technik' konnotierte die semantischen Netze um Körperbewußtsein und Körperbeherrschung. Nicht zuletzt war es die weiterentwickelte photographische Technik, die neuartige Bewegungsstudien zuließ. Komplexe Körpertechniken wie die meisterhafte Ausführung eines Handgriffs und Handwerks ließen sich so studieren und optimieren und schließlich auch wieder in Werkzeugmaschinen reproduzieren. Frank B. Gilbreth übertrug 1912 Bewegungsstudien aus Photoserien auf Drahtmodelle. Der Arbeiter sollte daran seine eigene Handbewegung in raum-zeitlicher Darstellung betrachten und dadurch, wie es Gilbreth nannte, "bewegungs-bewußt" (Gideon 1987: 129) werden. Zwei Formationen stehen mithin in Technik und Tanz einander gegenüber, die in der beobachteten Phase dynamisch, Veränderungen unterworfen, wie expansiv, Veränderungen unterwerfend, sind. 58 Katja Schneider/ Gustav Frank Institutionalisierung Tanzereignisse können in dieser Situation nicht nur unterschiedliche, ja widersprüchliche (Teil)Bedeutungen manifestieren, wie wir es beschrieben haben. In der Zwischenkriegszeit erlauben analoge Semiosen, Verbindungen mit denselben Konnotaten, dem Tanz umgekehrt den Auftritt in den unterschiedlichsten kulturellen und medialen Bereichen. 'Tanz' ist polysem geworden ebenso wie die Tanzszene ausdifferenziert ist. Die Verknüpfungen mit der ebenfalls polysemen und zur "zweiten Natur" (Freyer 1965: 236) 19 gewordenen Technik sind deshalb vielfältig und heterogen. Der Neue Tanz ist immer schon in technisch-medialen Repräsentationsformen gegeben. Das heißt aber auch, die um die Jahrhundertwende als 'authentisch' empfundene Körperlichkeit, ja leih-seelische Ganzheit geht verloren, die die Verbindung zu den verschiedenen Reformbewegungen, wie sie etwa Linse (1998) beschreibt, eröffnete. Eine ganz ausdrückliche Faszination durch Medien-Körper greift Platz. Der Tanz- und Revuefilm sind nur der späte und 'sichtbarste' Ort ihres Auftritts. Was.Medien-Körper sein können, wird deutlich etwa in Thea von Harbous und Fritz Langs Film Metropolis (1926), der eine umfassende Zusammenstellung möglicher Mensch- Maschine-Kopplungen vorführt. Zur allgemeinen Mobilmachung im Verkehr der 'großen Stadt' zwischen ihren Häusermaschinen, zur Choreographie der arbeitenden Massen an ihren Großmaschinen gehört a fortiori auch die biomorphe Androidin. Ihr erotisierender Bühnentanz, der die Regression der industrie-kulturellen Trägerschicht ins aggressive Instinkthandeln auslöst, komplettiert neben den Massenchoreographien, den Maschinen- und Großstadtrhythmen -Ergebnisse nicht zuletzt der Einstellungsfolge, Trick- und Schnittechnik des Films die umfassende Frage nach der Bedeutung des Körpers, die der Film aufwirft. Die Materialität/ Medialität des Körpers, die emotionalen und kommunikativen Funktionen seiner komplexen Motorik und Kinetik, seine soziale und geschlechtsspezifische Kodierung werden Gegenstand einer filmtechnischen Inszenierung. Neben der Überwindung der Zeit-, Raum- und Moralgrenzen wird das Potential einer Überwindung der Körpergrenzen, wie bei der zeitgenössischen Automobilistik und Aviatik, erschreckt bem.erkt. Im Tanzarchiv Köln ist Metropolis übrigens als Tanzfilm rubriziert, seine Akteure sind als Tänzer verzeichnet. Damit sieht sich die Erforschung des Neuen Tanzes mit einem massiven Grenzproblem konfrontiert, das weniger praktische als vielmehr theoretische Gründe hat. Der Ansatz zu einer semiotischen Analyse hat diese Gründe bereits gestreift. Das Korpus-Problem der Ab- und Eingrenzung des Gegenstandes entsteht mit der polemischen Abkehr vom "mechanischen Drill" des Bühnentanzes. Mit der Negation der Danse d' ecole geht die Löschung lange Zeit stabil gebliebener Konnotatkomplexe, die übei: den Körperpraxen errichtetwaren, einher. Gerade die damit gegebene Notwendigkeit einer neuen Semantisierung erzeugt vielfältige Kopplungen des Neuen Tanzes, vor allem auch Medienkopplungen, die Ausdifferenzierung und Expansion nach sich ziehen. Erforschung des Neuen Tanzes ist deshalb sui generis Grenzbeobachtung, die aufWanderungsbewegungen von Konnotatkomplexen ebenso zu achten hat wie auf Austauschprozesse von Bewegungsrepertoires. Von weiterreichender internationaler Bedeutung als Metropolis ist sicher das Auftreten Charlie Chaplins. Er bringt-von Avantgarden und Tänzern aufmerksam verfolgt- Bewegungen in seine Filme, die einen deiktischen, einen Zeige-Gestus haben, der Typisches von Bewegungsabläufen oder -routinen markiert. Vor allem seine Arbeiten der 30er Jahre sind hiervon Interesse, weil sie Vielfalt und Wechselwirkungen gut dokumentieren. Modem Times (1936) choreographiert kritisch die Zusammenhänge von industriellen Bewegungsroutinen Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 59 Plate 3: Frantisek Drtilwl und techno-morphem Alltag: der seriengefertigte Knopf etwa vermag aufgrund seines ikonischen Designs ('Schraube') konditionierte Bewegungsstereotypien beim Fließbandarbeiter auszulösen. Chaplins Zeige-Gestus ist in den 30er Jahren bereits als 'tänzerisch' wahrnehmbar. Umgekehrt macht er sich in The Great Dictator (1940) die inzwischen ja 60 Katja Schneider/ Gustav Frank negativen Konnotationen (angedeutet) klassisch-romantischer Gestik zunutze, um seine Figur zu desavouieren. Anders liegt der Fall bei der Photographie: Zum einen sind Bewegungen hier in "charakteristischen" Momenten stillgestellt, ohne auf Posen zurückzufallen. Ein bestimmter Stil der Bewegung und/ oder ihrer photographischen Abbildung, zusammen mit ebenso indentifizierenden Requisiten, erkennbaren Raum- und Beleuchtungselementen individualisieren dabei die Künstlerlnnen. 20 Oftmals erlaubten es schließlich nur noch der Publikationskontext oder die Paratexte zu unterscheiden, ob eine Bewegungsstudie, eine Ausdrucksgebärde, das Szenenphoto eines Stummfilms oder ein solches charakteristisches Moment einer Choreographie abgebildet worden ist. Frantisek Drtikols Studien, etwa "Bewegung" (Plate 3) von 1927, belegen die hier fließend gewordenen Grenzen. Ein großer Anteil der heute bewunderten Tanzphotographien sind im Studio nachgestellte oder erstmals erstellte, komponierte Repräsentationen von Tänzerinnen und Tanzereignissen. Letztere entziehen sich weitestgehend der Rekonstruktion. Tanz- oder Kulturwissenschaftler und Semiotik.er sehen sich mit der Entgrenzung von Tanz in der Zwischenkriegszeit konfrontiert; das bedeutet einerseits mit seiner überdeterminierenden semantischen Aufladung und andererseits mit seiner kulturellen Allgegenwart vor allem in reproduzierter, medial vermittelter Form. Bei Lola Rogges "Rundfunkgymnastik und Tanz" fällt zugunsten der massenmedialen Übermittlung die visuelle Ebene gänzlich fort. Diese Situation hat auch bereits die Reaktionen der Zeitgenossen provoziert: Es kam zu berufsständischen Kongressen, 21 zur Ausarbeitung von Theorien etc. Neu war dabei, daß der Tanz als Bewegung generell und als spezifische Tanzbewegung reflektiert wurde. Rudolf von Laban begann mit seinen Forschungen über den Tanz zwar bereits vor dem Ersten Weltkrieg, ein Modell wurde daraus aber erst in den 20er Jahren. Indem er die klassische Technik einer strikten Revision unterzog, schuf er die Grundlage für die Ausdifferenzierung des Neuen Tanzes in der Folge. Die Achsen des klassischen Tanzes erweiterte er zu Flächen, wodurch sich die Raumpunkte, zwischen denen sich die Kinesphäre des Tänzers erstreckt, vermehrten. Dadurch wurden andere, neue Bewegungen möglich, die der Choreograph selbst erfand (und nicht aus vorgegebenen Bausteinen wie im klassischen Tanz arrangierte), und die Dynamik der Bewegung veränderte sich. Der Weg zwischen den Raumpunkten stand nun im Zentrum des Interesses, nicht mehr die Posen, zu denen er führte. Der Dynamisierung des Raumes entsprach auch die Dynamisierung des Tänzerkörpers, dessen Bewegungen nun prinzipiell von jedem Punkt des Körpers initiiert werden konnten. Das Labansche System beruht auf Prinzipien, die an alltäglichen Bewegungen orientiert sind und individuell angewandt werden können, es stellt also ein Modell für ein neues Bewegungsrepertoire mit tendenziell unendlichen Kombinationsmöglichkeiten bereit. Parallel zu der systemintemen Ausdifferenzierung des Neuen Tanzes vollzog sich ebenfalls in. den 20er Jahren seine Institutionalisierung: Tänzerinnen und Tänzer gründeten Schulen, gingen als Direktoren an Theater. Der Neue Tanz hatte Ende der 20er Jahre Massenwirkung: Laban arbeitete mit bis zu 1000 Menschen in seinen "Bewegungschören", Laien wurden mit einbezogen, das Tänzerbild wandelte sich dadurch: "Jeder Mensch ist ein Tänzer'' das bedeutete nicht nur, daß jeder, der das wollte, sich in der Laientanzbewegung engagieren konnte, sondern umreißt eine umfassende visionäre Weltanschauung. Der ''tänzerische Mensch" war als eine, ja als die bevorzugte Lebensform gedacht. 'Tanz' ist hier maximal abstrakt geworden und erreicht damit seinen größten Begriffsumfang, wobei choreographierte Tanzereignisse allenfalls noch den Begriffskern und Merkmalsspender darstellen. Damit fiel das System 'Neuer Tanz' zugleich unter Theorieanspruch, dem durch systematische Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) Ausarbeitung Genüge getan werden mußte. Laban selbst hat eine Notation entwickelt, mit der potentiell alle Bewegungen, die ein Mensch vollziehen kann, beschreibbar sind. Tanzzeitschriften entstanden, ein tanztheoretischer Diskurs etablierte sich, dem es anders als dem Feuilleton des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende, das sich punktuell einzelnen Tänzerlnnen-Persönlichkeiten widmete um Geschichtsschreibung, Klassifikation und Theoriebildung ging. All dies trug zum Anschluß des Neuen Tanzes an die Massenkommunikation der Zeit bei. 61 Bewegungsanalyse: ''Le Train Bleu" 22 Was für die tänzerische Avantgarde der Zwischenkriegszeit kaum bestritten werden dürfte, soll hier an einem Beispiel des klassischen Tanzes untersucht werden, freilich des durch die Ballets Russes (Plate 4) erneuerten und reformierten. 23 Schon 1917 haben die Ballets Russes in Parade, für die Jean Cocteau, Pablo Piscasso, Leonide Massine und Erik Satie zusammenarbeiteten 24, Potentiale der Medienentwicklung körperbeweglich zur Anschauung gebracht. "Le Train bleu" hieß der Zug, der von Paris aus an die Cote d' Azur zu den Plate 4: Ballets Russes mondänen Badeorten fuhr. In Bronislawa Nijinskas 1924 für die Ballets Russes geschaffenem gleichnamigem Ballett, für das Jean Cocteau das Libretto, Darius Milhaud die Musik schrieb und Coco Chanel die Kostüme entwarf, ist weit und breit kein Zug zu sehen. Die Figuren: der dargestellten Welt- Frauen und Männer in Badeanzügen, ein Golfspieler, eine Tennisspielerin (Nijinska) sind bereits vor Ort. Das Ballett referiert unter anderem das parallele Körperdispositiv Sport 25 und zitiert über die dekorative Pose das technische Medium der Fotografie sowie über die Zeitlupenbewegung das des Films. 26 Betrachtet man den Auftritt der Tennisspielerin, fällt auf, daß die Tänzerin in ihrem Bewegungsverhalten fünf. Kontexte zitiert, die nicht zum klassischen Bühnentanz gehören: 1. ihr Auftritt im 'normalen' Gang, bei dem der Fuß über die Ferse abgerollt wird und nicht wie im klassischen Tanz über den Fußballen 2. aus dem bewegungssprachlichen Alltagscode entnommen: der Blick auf die Uhr 3. die dekorative Pose: ein Bein angestellt, der "Blick in die Kamera" 4. die sportive Haltung/ Bewegung beim Tennis 5. die individuelle, persönliche Geste des schnellen Zuckens mit dem Kopf. 62 Katja Schneider/ Gustav Frank Dominant gesetzt ist das Zitat Nummer 4, das Tennisspiel, das auch über das Kostüm eine Paraphrase zeitgenössischer Tennisbekleidung (die Tänzerin trägt keine Ballettschuhe)- und das Requisit des Tennisschlägers extra betont wird. In der ersten Bewegungssequenz reiht die Tänzerin die Zitate 1-5 aneinander, danach kombiniert sie sie variativ miteinander, wobei auffallt, daß Nr. 3 und 5, also die dekorative Pose und das individuelle Kopfzucken, meist direkt nacheinander stattfinden. Nach dieser Reihe folgt noch eine Tennishaltung, von der die Tänzerin dann übergangslos in eine rein klassische Bewegung, nämlich die arabesque, geht. Gebrochen, verfremdet wird diese klassische Haltung nicht nur durch den Tennischläger, den sie permanent in der Hand hält, sondern auch durch eine ruckhafte Bewegung nach unten, als sie fast am tiefsten Punkt angelangt-'- Kopf und Arm fallen läßt und sich auf den Tennisschläger stützt, bevor sie wieder zu ihrer klassischen Haltung zurückfindet und diese in einer nicht minder klassischen Promenade mit abschließender Pirouette weiterführt. Das sportive Zitat ist in dieser Bewegungsfolge in das klassische Vokabular als Pose montiert, wobei es Analogien/ Parallelen bewegungstechnischer Art zwischen der sportiven Pose und der klassischen Bewegungsfolge gibt: die Pose der Tennispielerin mit nach vorne gehobenem, abgewinkeltem Bein entspricht einer verfremdeten Attitude, der "Absacker'' mit dem Tennisschläger auf den Boden parodiert eine mißglückte, da aus der Balance geratene, arabesque penchee. In der weiteren Folge des Solos werden die sportiven Posen dynamisiert: Zunächst am Platz (Drehung in Tennishaltung), später in wechselnden Kombinationen auch in der in den Raum ausgreifenden Bewegung, ohne daß jedoch die klassische Form (und Technik) jemals ganz aufgegeben würde. Die Tänzerin nutzt dabei ihren kinetischen Raum in der Vertikalen und Horizontalen optimal, in der Raumbewegung hingegen ist sie auf die Waagerechte, die Parallele zur Rampe, und leichte Diagonalen beschränkt, was möglicherweise auf die Begrenzungen eines Spielfeldes verweist. Eines Feldes mit imaginärem Partner, dem sie ohne Ball aufschlägt und dessen Schläge sie anscheinend pariert. Diese imaginären Schläge erfolgen meist in "Echt-Zeit", also schnell und kräftig, bis auf eine signifikante Ausnahme: In dieser relativ langen Sequenz erfolgen Anvisieren, Ausholen und Schlag in einem der Zeitlupe angenäherten Tempo, wie man es aus Filmaufnahmen kennt. Dabei ist minutiös zu sehen, was im Bewegungsapparat abläuft. Hineinmontiert als Meta-Zitat, bringt diese Sequenz zwei neue Techniken und Massenkommunikationsmittel die Körpertechnik Sport und den Film in einer tänzerischen Bewegung zusammen. Die Rede von der 'Körpertechnik' Das Kind spielt nicht nur Kaufmann oder Lehrer sondern auch Windmühle und Eisenbahn (Benjamj.n 1933: 205). Wird unter diesen Voraussetzungen beginnende Institutionalisierung, Ausdifferenzierung, Pädagogisierung, damit Rückwirkungen auf das Ballett, Anschluß an die Massenkommunikation und Selbstreflexion der Begriff 'Tanz' polysem, sein intensionaler Umfang maximal und stößt damit seine Identität an ihre Grenzen, so bildet dieser 'Tanz' gerade deshalb ein leistungsfähiges Instrument kultureller Selbstverständigung. Er scheint somit in dieser Phase diejenige niederschwellige Verhandlungsform von Körperlichkeit mit der größten Leistungsfähigkeit zu sein. Auf der Ebene der Körpertechniken und Dispositive nimmt der Tanz der Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 63 Zwischenkriegszeit die Position eines zentralen Interdiskurses (Link 1988) ein. Aufgrund der Vervielfältigung von Mobilmachungen 27 besteht erhöhter Reflexionsbedarffür Körperphänomene aller Art. Offenbar sind die verbalsprachlichen Kommentare zu 'langsam', die Übertragungsverluste zwischen Körperpraxen und Schriftkultur zu groß, die dennoch vollzogenen Zuschreibungen und Theorieversuche nicht effektiv und hinreichend, diesem Verständigungsbedarf zu genügen. Es geht bei diesem Verständigungsbedarf auch um den Aspekt sozialen Lernens durch Mimesis, durch Nachahmung erfolgreichen Verhaltens, und um soziale Bewegungs-Sicherheit. Sie herzustellen, bedurfte es der Vervielfältigung und Modifizierung der Begegnungssituationen mit den 'neuen Bewegungen', ja sogar der Antizipation künftig zu erwartender Bewegungsheraus-und-anforderungen durch eine technisierte "zweite Natur". Das soziale Lernen zielt auf die Integration des Einzelnen in sein kulturelles Umfeld. Das Funktionieren und die Effektivität dieses Lernens gewährleisten umgekehrt den sozialen Zusammenhalt von Gruppen sowie der Gesamtgesellschaft. Das oben als Sprachskepsis bezeichnete Mißtrauen gegen die verbal-, vor allem die schriftsprachlichen Vermittlungsversuche einer durch die technischen Mobilmachungen als desintegriert empfundenen Gesellschaft lenkte schon bald die Aufmerksamkeit auf einheitsstiftende Instrumente unterhalb dieser Ebene: auf gleichordnende, rhythmisierte und institutionalisierte Mobilität von Massen. Die Fremdheit der in den wachsenden Städten aufeinandertreffenden Massen sollte durch ein Gleichmaß der Bewegungen, sei es der Verkehrsströme wie der Arbeit und Unterhaltung suchenden Vielzahl, kompensiert und zur Ordnung umgelenkt, kanalisiert werden. Denn angesichts der pejorativen Diskussionen um die 'Masse' wollte kaum jemand sie als Selbstzuschreibung akzeptieren. Heterogenität und HQmogenität sollten zugleich möglich werden der Neue Tanz hatte dieses Modernisierungsparadoxon (van der Loo/ van Reijen 1997) zu bearbeiten. Eine logische Entwicklung stellt deshalb die immer weitere Komplexitätssteigerung des Neuen Tanzes dar: von den 'freien' (Gegen-)Bewegungen über die Verhandlung deiktisch markierter, bereits vorgängig semantisch aufgeladener gestischer Repertoires bis hin zu komplexen, selbst sozialen Tanz-Formationen, die Kulte und Rituale -vermeintlich wiederum Rekonstruktionen antiker Vorbilder erzeugen wollen wie in Labans Bewegungschören (Plate 5). Der Neue Tanz dieses Stadiums erlaubt es aber auch, in einem markierten Raum, dem zunächst noch abgetrennten Modell der Welt, die gesellschaftlichen Regulative, die Werte, Normen, Normungen und Normalismen agierend darzustellen, um sie einzuüben, aber auch probehalber außer Kraft zu setzen, sie abzuwandeln und diese marginalen Neubildungen als Vorschläge der Mimesis des Publikums anheimzustellen. 28 Mimesis stellt sich, anders betrachtet, eben auch nur angesichts eines Nachahmung erfolgreich auslösenden Vorbildes ein. Der Vorbildcharakter kann über das soziale Prestige vermittelt gedacht werden, das dem Tänzer zukommt-in diesem Zusammenhang wäre genauer die künstlerische wie moralische Neubewertung des Tanzes und seiner Orte in der Frühen Modeme herauszuarbeiten. Der Vorbildcharakter kann aber auch in der modernen Situation der Massenkultur zusätzlich als Einflußnahme auf den Körper und das Unterbewußte über niedrigschwellige Kommunikationen gedacht werden, wie es die von Le Bon bis Ortega y Gassett und Canetti durchgängig aktuelle Massenpsychologie tut. Mimesis ist zudem durchaus nicht auf statische Gesellschaften eingeschränkt. Sie meint über den Nachvollzog und die Einübung hinaus immer auch den interagierenden Abgleich von Standards und Variationen. Dem anderen Kanal der Kommunikation im Tanz trauen die 64 Katja Schneider/ Gustav Frank Plate 5: Rudolph von Laban Bewegungschor Zeitgenossen jedenfalls einvernehmlich die Auslösung des kompletten dionysischen Programms zu: "Dionysoskult und Bajaderentum liefern uns romantische Vorstellungen, auf die wir die Forderung eines Tanzes aus kulthafter Erregung, einer Reinigung unserer unheiligen, dialektisch-intellektualistischen Epoche durch den erschütterten Körper mit seiner eingeborenen Mystik des Leibhaftigen gründen." 29 In der im Zeichen der Bereitschaft zum Bürgerkrieg stehenden Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit bildet der Tanz aber auch ein Register des aktiven, dennoch moderaten Kon: fliktaustrags konkurrierender, ja sich bekämpfender Ordnungen. In dieser Zeit durch 'schnelle' Innovation verunsicherter kultureller Grenzziehungen wird der niederschwelligen, aufmehreren Ebenen ausgearbeiteten und interdiskursiven Formation des Neuen Tanzes-auch die Aufgabe zugewiesen, Verhandlung über Grundlagen, über Streitfragen sowie über Trauma, Erinnerung und Vergessen auszutragen, auszuagieren. 'Mimesis' und 'Körpertechnik' sind Begriffe, die aus der kulturellen Selbstverständigung der Zeit, allerdings erst der 30er Jahre, stammen. Den Begriff der Techniken des Körpers entwickelt Marcel Mauss erstmals 1934 aus der Selbstbeobachtung und der Aufmerksamkeit für ethnologische Fremdheit. Aus einer englischsprachigen ethnologischen Darstellung über eine bei den Maori hochgeschätzte Art des Gebens zitiert er: "Die Mütter dressierten (der Autor sagt "drill") ihre Töchter auf diese Gangart." 30 Und Mauss folgert: "Kurz gesagt, vielleicht gibt es heim Erwachsenen gar keine 'natürliche Art' zu gehen. Dies gilt umso mehr, wenn andere technische Mittel hinzukommen[ ... ] zum Beispiel[ ... ] die Tatsache, daß wir Schuhe tragen[ ... ]" (1989: 204). 31 Mauss' Beispiel zeigt, wie sich das Konzept des 'Drills', der Mechanikffechnik, seit der Ballettkritik der Jahrhundertwende ausgeweitet und in seiner Bewertung verändert hat. Der Soziologe Mauss will über die gesellschaftliche Funktion der Körpertechniken keinen Zweifel dulden: "Dank der Gesellschaft gibt es eine Intervention des Bewußtseins. Nicht dank des Unterbewußtseins gibt es eine Intervention der Gesellschaft. Dank der Gesellschaft gibt es die Sicherheit einsatzbereiter Bewegungen, die Herrschaft des Bewußten über die Emotionen und das Unbewußtsein" (1989: 219). Damit will er Zweifel zerstreuen, die angesichts der faschistischen und nationalsozialistischen Massenbewegungen nicht unbegründet waren, und Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890~1938) 65 die Rationalität und Effizienz der Körpertechniken für einen bürgerlich-demokratischen Begriff der Gesellschaft retten. Bei einem der besten deutschen Kenner der französischen Szene, Walter Benjamin, finden sich in dieser Zeit Überlegungen zum Zusammenhang von ethnologischen und sprachtheoretischen Fragen mit Nachahmung und Tanz. Es kann hier nicht ausführlich erörtert werden, wie Benjamin den phylogenetischen Spracherwerb als körpertechnische Neuerung auf der Basis mimisch-gestischer Kommunikation deutet und "die Wurzeln des sprachlichen und tänzerischen Ausdrucks in ein und demselben mimetischen Vermögen erblickt", während "andere über der semantischen Funktion der Sprache den ihr innewohnenden Ausdruckscharakter, ihre physiognomischen Kräfte vergessen haben" (1980: 9,478). Inwieweit er hierin auch die Grundlage moderner Vergesellschaftung erblickt, zeigt ein zustimmend verwendetes Freud-Exzerpt aus demAlmanach der Psychoanalyse, Wien 1934, das sich im Benjamin-Archiv findet. Freud spekuliert über das Zustandekommen des "Gesamtwillen[s] in den großen Insektenstaaten [ ... ] auf dem Wege [ ... ] direkter psychischer Übertragung". Während im Lauf der Entwicklungsgeschichte dies Verfahren durch den Zeichengebrauch abgelöst worden sei, könnte "die ältere Methode [ ... ] im Hintergrund erhalten bleiben und sich unter gewissen Bedingungen noch durchsetzen, z.B. auch in leidenschaftlich erregten Massen" (1980: 6, 958). Schrift erscheint bei Benjamin zwar als Spätling unter den Kultur-Techniken der "Merkwelt", doch nicht als historische Alternative, sondern als Aufhebung des "mimetischen Vermögens" (1980: 4, 206) im dialektischen Sinne. "Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen. Später kamen die Vermittlungsglieder eines neuen Lesens, Runen und Hyroglyphen in Gebrauch[ ... ] Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind[... ]" (1980: 4,213). Die Schrift-Sprache erhält hier eine völlig andere Genealogie als sie der Sprachskepsis der Jahrhundertwende zugrunde lag. Die Bedeutung, die den Körperals Merktechniken bei diesem Auffassungswandel zukommt, scheint über die Wahrnehmung und Reflexion des Neuen Tanzes vermittelt. Sogar die späten "Aufschreibesysteme" (Kittler 1987) und umso mehr wiederum die technischen Speichermedien besitzen die Kraft der Vergesellschaftung durch Mimesis. Das Verhältnis von Schrift und Tanz hat sich also in der Zwischenkriegszeit umgekehrt. Der Gegensatz von authentischem, ursprünglichem und vitalem Tanz und in lebensfeindlichabstrakter Mechanik erstarrter Schrift ist aufgegeben zugunsten eines Bilderschrift-Konzepts. Rudolph von Laban ist diesen Weg bereits in den 20er Jahren gegangen. Als er ein Aufzeichnungssystem für den Neuen Tanz schuf, rechtfertigte er dieses mit derselben Argumentation. In die Schrift sei von jeher das Bildgedächtnis der Kultur eingegangen. Gabriele Brandstetter vollzieht ihre Lektüren des Neuen Tanzes wohl auch deshalb im Kontext von Aby Warburgs Mnemosyne-Projekt (1995: 43ft). Den Endpunkt einer Entwicklung, die mit einer Versinnlichung und Rekorporalisierung der Sprache begonnen hat, mit der Aufmerksamkeit auf Mündlichkeit, mit der Bedeutsamkeit von Musik, Ton und Stimme gegenüber dem intersubjektiven Text und seiner intimen Lektüre, erreicht der Neue Tanz in der Labannotation. Die Verkörperung der Sprache im Sprechen, wie sie Braungart etwa auch bei Wilhelm Wundt nachweist (1995: 231ft), wird bei Laban und später Benjamin durch eine Rekorporalisierung der Schrift noch überboten. Körper, Bewegung, Mimik, Gestik sind nicht einfach nonverbale Kommunikation und als solche 66 Katja Schneider/ Gustav Frank eingeschränkter Ersatz des eigentlichen, oral-verbalen Kommunizierens. Schrift wird jetzt vom Körper und der Vergesellschaftung durch Nachahmung her gedacht. Das Problem der Ähnlichkeit, die Rolle von Kindheit, von Erziehung und von Spiel erlauben vielfältige Anknüpfungen. Benjamins Sammelrezension etwa führt direkt zur Grund~ legung des pädagogisch-psychologischen Wissens bei Piaget, sie führt mit ihrem sprachtheoretischen Schwerpunkt aber auch indirekt zu Wittgensteins Spätphilosophie - Verbindungslinien, die hier nicht ausgeführt werden können. Es scheint kein Zufall zu sein, daß in der Zwischenkriegszeit eine breite kulturelle Aufmerksamkeit in systematische Beobachtungen und schließlich wissenschaftliche Konzeptualisierungen des Körpers, der Bewegung und Gestik umschlägt. Einerseits handelte es sich dabei sicherlich um eine Reaktion auf die Krise der Körperbilder des 19. Jahrhunderts, die etwa in Ernst Machs und Richard Avenarius Empirio-Kritizismus am Jahrhundertbeginn bereits sehr radikale Formen annahm. Gewiß handelte es sich andererseits auch um eine Reaktion auf die konkrete Entwertung, die Diachronisierung von Körpertechniken, die die neuen Maschinen und Medien auslösten, während sie eine gänzlich neue Beweglichkeit forderten und in Umlauf setzten. Semantische und pragmatische Potentiale Der Tanz der Zwischenkriegszeit kann deshalb die Position eines zentralen Interdiskurses der Körperpraxen einnehmen. Der Neue Tanz ist sowohl geeignet, die eigene Geschichte parodistisch zu sichten, die zeitgleichen Modetänze zu thematisieren und auf die parallelen Plate 6: Valeska Gert: Boxen Körperdispositive Sport und Alltagstechnik zu referieren. Hier ist etwa auf Valeska Gert und ihre Soli "Ballett", "Charleston" und "Boxen" (Plate 6) hinzuweisen. Ferner auf Vera Skoronel, die in ihrem "abstrakten Tanz" in ihren eigenen Schriften werden die semantischen Felder Mathematik undMechanikkonnotiert- Bewegungsmöglichkeiten vollständig ausschöpfen will, um Bewegungsspielräume zu erzeugen, die dann wiederum in Konnotationsbeziehungen zu nie ausgedrücktem Innerpsychischen gebracht werden könnten. Einerseits scheint es dabei um einen Bewegungsüberschuß zu gehen, der kulturell noch nicht in Gesten, konventionellen Ausdrucksgebärden aufgegangen ist. Andererseits scheinen in der Etikettierung als "Grotesk-Tänze" (Plate 7) auch Körperphantasmen durch, die das technisierte Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs hervorgebracht hat: der deformierte und verstümmelte Körper, dessen hannonische Komposition durch die Auflösung in geometrische Grundbausteine in ihrer ganzen Zufälligkeit erscheint. Hier reißt eine Differenz auf etwa zu den thematischen Tänzen Mary Wigmans zum Totengedenken, die Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 67 Uneinheitlichkeit und Gegensätzlichkeit des Tanzes angesichts zentraler Probleme Weimars beleuchtet. Auch bei Oskar Schlemmer fällt die Auflösung der Tänzer-Persönlichkeit in Ensembles von bewegten Formen und Farben als Ausgangssituation auf. Überkommene epistemische Ordnungsmuster wie das wahrnehmende Subjekt, die Kategorien und Anschauungsformen Kausalität, Raum und Zeit können nicht mehr vorausgesetzt werden, sie erscheinen jetzt als Ergebnis von bewußten Prozessen der (Zer-) Störung, der De-Komposition, wie der (Re-)Konstruktion. Resümee Die Analyse nahm ihren Ausgang von dem Moment, als die Tanztechnik des klassischen Bühnentanzes dem Verdikt verfiel, lebensfeindlicher Mechanik, erstarrter Technik statt organisch-vitaler Dynamik Ausdruck zu verleihen. Neuer Tanz und Technik sollten seither eigentlich keine Berührungspunkte mehr aufweisen. Plate 7: Vera Skoronell: Grotesk-Tanz Anschließend waren einige wenige Etappen der Aufladung des Neuen Tanzes mit verschiedensten semantischen Potentialen zu beleuchten. Es zeigte sich, daß die Kultur der Zwischenkriegszeit im Neuen Tanz ein Instrumentarium ausbildet und institutionalisiert, das Körper in Zeiten ihrer Mobilmachung zu verhandeln, aber auch zu trainieren in der Lage ist. Die Mobilmachungen sind der technischen Entwicklung verdankt. Die neuen Bewegungsrepertoires entstehen im Beruf, der Werkshalle, der Baustelle und dem Büro ebenso wie in der intimen Behausung. "Als die Zeit der Vollmechanisierung bezeichnen wir die Periode zwischen den beiden Weltkriegen" (1987: 62), kann ihr schärfster zeitgenössischer Beobachter Siegfried Gideon Ende der 40er Jahre in seinem Buch Mechanization Takes Command konstatieren. Nicht so sehr die Ebene, auf der 'Technik' im Neuen Tanz thematisch wird analoge Botschaften wie der 'Tanzfilm' Metropolis verkünden hier Choreographien wie "Machine Dances" (1923) von Nikolai Foreggerund "Dämon Maschine" (1924) von GertrudBodenwieser (Plate 8), nur ein wenig früher-, ist für unser Verständnis der Verknüpfung von Neuem Tanz und Technik entscheidend, sondern die Ebene der techne, der mittlerweile vermehrten Tanztechniken. Die Formensprache des Tanzes, die Techniken der Materialbearbeitung, der Körperdisziplin mithin, übergreifen weit die speziellen Themen. Auf dieser Ebene betrachtet, ist der Neue Tanz weder ornamental noch vernachlässigbare Unterhaltungsindustrie. Vielmehr kann er Potentiale der Technik- und Medienentwicklungen körper-beweglich zur Vor- (An)Sicht bringen. Zwar kann er auch anpassend, tayloristisch-fordistisch optieren wie in 68 Katja Schneider/ Gustav Frank Plate 8: Gertrud Bodenwieser Dämcm Maschine Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 69 Vsevolod Meyerholds Biomechanik im russischen "Theateroktober" seit 1920. Aber er kann eben auch widerständig gegen die Vemutzung von Körpern in Bewegungs- und Ausdrucksgesten-Routinen agieren. Die Verzweigungen der Körper-Geschichte, die hier angelegt sind, führen ebenso zu den großen Bewegungschören, die die Ausdruckstänzer bis zur Olympiade 1936 für die Nazis inszenieren durften, zur Ertüchtigung der Industriearbeiter im Schatten ihrer Großmaschinen im Bewegungsprogramm "Kraft durch Freude" als auch zur Verkörperung negativer, widerständiger und grenzüberschreitender Affektivität im Solowie im Gruppentanz. Auf die semiotischen Ursachen und einige historische Gründe dieser Ambivalenz der Tanzals Körpertechniken wollte der Beitrag hinweisen. Anmerkungen Es handelt sich um die für diesen Band überarbeitete und ergänzte Fassung eines Vortrages, den die Autoren auf dem IX. Internationalen Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, "Maschinen und Geschichte", in Dresden, 3.-5.10.1999, gehalten haben. 2 1891 kam die junge Polin Maria Sklodowska (1867-1934) nach Paris. Sie wollte Physik und Mathematik studieren, was Frauen in ihrer Heimat verwehrt war. Ebenfalls 1891 kam Marie Louise Fuller, 1862 in Illinois geboren, nach Paris. Da kann die Piuitanerin bereits auf eine gründliche Ausbildung zurückblicken in Philosophie und Wissenschaft. Sie galt als hochbegabt und hatte das spiritistische Chicago Progressive Lyceum besucht. Auch Marie Curie besuchte spiritistische Zirkel in Paris. 3 Zu LoYe Fuller vgl. Brands.tetter/ Ochaim 1989. 4 Für unsere Zwecke und angesichts des beschränkten Raumes vereinfachend wollen wir unter dem Begriff Neuer Tanz schlicht alle Phänomene und Tanzereignisse verstehen, die sich seit den 1890er Jahren bis in die Zwischenkriegszeit etablieren und zunächst außerhalb der Danse d'ecole angesiedelt sind. 5 Vgl. Braungart 1995. 6 Vgl. Link 1997. 7 Zum Ende des 19. Jahrhunderts hat sich der Bedeutungsumfang und die Konnotatmenge von 'Seele' drastisch vergrößert. Im Oeuvre Freuds ist dabei dieselbe Spannung wie im Neuen Tanz zu beobachten zwischen moralischer Freisetzung bislang abgewehrter und geleugneter Seelenvermögen und dem Bedürfnis, diesen neuen, unbekannten Bereich in irgendeiner Weise zum Vorteil der Kultur zu beherrschen. 8 Vgl. Mach 1883 (9. Auflage 1933). 9 Hier unterscheidet sich Paris als ''Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" deutlich von St. Petersburg, für das diese Einschätzung nicht unmittelbar Geltung beanspruchen kann. - Natürlich ist damit nicht bestritten, daß die Handlungen der Ballette sowie die Tanztechnik der Ballerina, soweit sie im Dienste dieser Handlung steht, die semantischen Voraussetzungen für Erotisierung und Fetischisierung geschaffen haben, indem sie einer Aufspaltung in zwei oppositionelle Frauenbilder Vorschub leisteten: einem reinen-ätherischen und einem sinnlichdämonischen. 10 Obwohl natürlich in Studien zum Tanz auch semiotische Aspekte eine Rolle spielen, etwa in Brandstetter 1995, hat sich keine semiotische Teildisziplin zum Thema ausgebildet, wie die opulenten ca. 3000 Seiten der drei Bände von Semiotik/ Semiotics (Posner/ Robering/ Sebeok 1997t) zeigen: Theater- und Musikwissenschaft finden beim Thema "Semiotik in den Einzelwissenschaften" Berücksichtigung, daneben, ebenfalls unter vielen, die "ausgewählten Gegenstände der Semiotik" Sport, Gerontologie und Extraterrestrische Kommunikation. 11 Die Grundlagen der Theatersemiotik sind hierbei zu übernehmen, zu spezifizieren und auszubauen. Vgl. Fischer- Lichte 1983. 12 Im Zusammenhang mit Bewegungschören und Massenchoreographien von Laban und anderen wird zudem die vom Bühnengeschehen gezogene Grenze zwischen Akteuren und Publikum zusehends verwischt: es geht nicht mehr um ein distanziert zu betrachtendes Geschehen, eine vom Alltäglichen abweichende künstlerische Schaustellung, sondern um einen massenwirksamen, massenmedialen tänzerischen Stimulus mit appellativem Charakter, der aufruft zur Eingliederung in die geordnet sich bewegende Menge der Fremden. 13 Vgl. auch Rothe 1979. In vielen Darstellungen des Tanzes werden Tanzereignisse und die sie begleitenden Debatten, Kritiken, Theoretisierungen unbesehen zu den Ereignissen selbst. Auch die Selbstverständigung der Tänzer und ihr Tanz sollten zunächst einmal als unterschieden wahrgenommen werden; erst so ·werden Differen- 70 Katja Schneider/ Gustav Frank zen zwischen Schrift, Rede und Tanz als solche kenntlich. Und beides, die Gleichsinnigkeit wie die Abweichung von Tanzereignis und sprachlichem oder photographischem oder filmischem Begleitdiskurs, wäre dann zu interpretieren. 14 Vgl. Baxmannl991. - Wie bei Curies und Fullers Affinität für den Spiritismus ist hier die "Brücke ins Geisterreich" (Hein 1992) leicht zu schlagen. In seiner kränkenden Wirkung für die Subjekte offensichtliches psychologisches Wissen soll durch Anschluß an Okkultes transzendiert werden. Vgl. auch Lista 1995 und Witzmann 1995. 15 Sensu Foucault: 1990: 74: "[... ] ich möchte zeigen, daß der Diskurs keine dünne Kontakt- oder Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache, die Verstrickung eines Lexikons und einer Erfahrung ist; ich möchte an präzisen Beispielen zeigen, daß man bei der Analyse der Diskurse selbst die offensichtlich sehr starke Umklammerung der Wörter und der Dinge sich lockern und eine Gesamtheit von der diskursiven Praxis eigenen Regeln sich ablösen sieht.[ ... ] Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht-nicht mehr-die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache." 16 Vgl. die moderate Zusammenführung der verschiedenen Schulmeinungen bei Segeberg 1997. 17 Die unleugbar fortgeschrittene Qualität dieser Zeugnisse intensiver Selbstverständigung birgt für den Kulturhistoriker die Gefahr, ihrer Suggestivkraft zu erliegen und ihre Rede an der Stelle seines Kommentars zu zitieren. 'Technik' in unserem Verständnis ist zu einem Gutteil diese Rede, deren kategoriale Rahmenvorgaben für ein Technik-Verständnis wären jedoch nur um den Preis des Anachronismus unreflektiert zu übernehmen. 18 Sie personalisieren ein Amalgam von Sklavenbefreiung - Uncle Tom's Cabin -, dienstbotenloser Kerufamilie im durchrationalisierten Haushalt und Frauenemanzipation. 19 Hans Freyers Kulturschwellen-Theorie beschreibt, daß der Kulturtypus der Industriekultur "im Produktionsprozeß wahrhaft eine zweite, künstliche Natur, auch ihrer materiellen Zusammensetzung nach, eine Natur, die es in Erd- und Weltgeschichte bisher nicht gegeben hat" (1965: 236), entstehen läßt. 20 Auf dieser Grundlage kann Valeska Gert die große Anna Pawlowa parodieren (Müller/ Stöckemann 1993: vgl. 29mit48). 21 Vgl. Müller/ Stöckemann 1993: 55-106. 22 Der Analyse liegt die Videoaufzeichnung (1992) der Rekonstruktion des Balletts durch Frank W. D. Ries und lrina Nijinska für das Ballett der Pariser Oper zugrunde. 23 Die Rezeption des reformierten Balletts durch den Ausdruckstanz belegt Yvonne Georgis Ballett Der Bäderexpress von 1930, bei dem es sich um eine Reprise von Le Train bleu zu handeln scheint. Vgl. die Abbildung in Müller/ Stöckemann 1993: 43 oben mit der Abbildung 1 in Burt 1998: 31. 24 Zu Parade Noller 1999. 25 Zur gewandelten literarischen Semantik des Tennis vergleiche man Hugo von Hoffmannsthals kurzes Prosastück Das Doifim Gebirge (1886) mit Robert MusilsAls Papa Tennis lernte (entstanden April 1931). 26 Über den zeitgenössischen Zusammenhang gibt eine Filmkritik Siegfried Kracauers (1999: 398f) Auskunft, die er zur Neufassung des abendfüllenden Ufa-Kulturfilms Wege zu Kraft und Schönheit(l924/ 26) in der Franlifurter Zeitung (5.8.1926) veröffentlicht: "Außerdem sind die Sportberichte auf den letzten Stand gebracht: Nurmi, Rademacher und Suzanne Lenglen bewegen sich unter der Zeitlupe zu Wasser und zu Lande." (398) Die Tennisspielerin Suzanne Lenglen war auch das Vorbild für Nijinska. 27 Der schon erwähnte Ufa-Kulturfilm Wege zur Kraft und Schönheit wird zeitgenössisch als Aufruf zum Ersatz der Wehrertüchtigung durch Sport verstanden, nachdem die Versailler Verträge eine allgemeine Wehrpflicht ausschlossen (Bockfföteberg 1992: 152-155). 28 Natürlich werden die kulturell üblichen Grenzziehungen zwischen Bühnen- und Zuschauerräumen, zwischen Darstellern und Publikum im Neuen Tanz immer wieder in Frage gestellt, sei es in den Naturräumen, die die Reformbewegungen aufsuchen, sei es durch Austauschbeziehungen oder Umkehrungen der tradierten Obenunten- und Innen-außen-Ordnungen. Dennoch scheint erst mit den Bewegungschören und Weihespielen in mimetischer Hinsicht eine neue Qualität der Grenztilgung erreicht. So modellbildend sie sein wollen, so stark sie institutionell gestützt sind, handelt es sich doch nur um eine Möglichkeit unter vielen der Tanzszene der 20er Jahre. 29 Willi Wolfradt: Tanz. In: Freie deutsche Bühne Jg. 1 (1919/ 20) Heft 16, S. 382, zitiert nach Peter 1985. 30 Wir sehen hier eine wichtige Grenzziehung aus der Frühzeit des Neuen Tanzes, die Deklassierung des Balletts als mechanischen Drill, und einen Einwand der 1920er Jahre gegen die so. verbreiteten wie erfolgreichen Girl 0 Truppen und die Beschränktheit ihres kapitalistisch-konsumistischen Drills, wie ihn etwa Fritz Giese: Girlkultur. Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Modeme (1890-1938) 71 Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl. München 1925, formuliert, zusammenbrechen: nicht nur die Ausdrucksgeste, schon die Bewegung des Alltags ist soziale, kulturelle, historische Variable. 31 Daß Mauss Schuhe als ''technische Mittel" anspricht, sollte unsere Aufmerksamkeit auf die Vielzahl der in diesem Sinne technik-induzierten 'neuen' Bewegungen der Modeme lenken. Das sollte jedoch nicht davon ablenken, daß Mauss die Würde seines Arguments durch den Rückgang aufden griechischen Begriff der techne, auf Platons Einlassungen zur Musik und zum Tanz, gewinnt; der Rückweg zum Ursprung führt dazu, auch die Bewegung ohne technische Mittel als technische zu verstehen und dem Neuen ein Gutteil seiner Fremdheit zu nehmen: ''Der Körper ist das erste und natürlichste Instrument des Menschen. Oder genauer gesagt, ohne von Instrument zu sprechen, das erste und natürlichste technische Objekt und gleichzeitig technische Mittel des Menschen ist sein Körper." (1989: 206) References Books Baxmann, Inge 1991: "Traumtanzen oder die Entdeckungsreise unter die Kultur", in: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Pfeiffer, K. Ludwig: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, Frankfurt/ M.: Suhrkamp: 316-340. Benjamin, Walter 1933: "Lehre vom Ähnlichen", in: Tiedemann/ Schweppenhäuser (eds.) 1980: 4, 204-210. Benjamin, Walter 1935: "Probleme der Sprachsoziologie. 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KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 24 (2001) · No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Die Technik im Drama des Expressionismus Karl Leydecker This essay summarizes the representation of technology in Expressionist drama in general and in the plays of Ernst Toller in particular and takes issue with the critical consensus that it was the First World War which triggered a decisive shift in the depiction oftechnology in German literature. lt concludes that the presentation of technology remains ambivalent, but that around the time of the first World War there is a shift from a vitalistic enthusiasm for technology towards a more sober acceptance of the need to recognize the positive potential of technology, despite all its present negative effects. In diesem Aufsatz befasse ich mich mit dem Drama des Expressionismus als Teilsystem der Literatur der Frühen Modeme. Da ich mich auf das Drama konzentriere, haben wir es hauptsächlich eher mit dem Spätexpressionismus zu tun. Denn im Gegensatz zur lyrischen Produktion wurden die Hauptwerke des expressionistischen Dramas, die sich mit der Technikfrage befassen, mit wenigen Ausnahmen erst gegen Ende oder nach dem ersten Weltkrieg verfasst. Also befassen wir uns überwiegend mit dem Zeitraum von ungefähr 1916 bis Anfang der zwanziger Jahre. In der Forschung zum Thema Expressionismus und Technik heißt es, im frühen Expressionismus sei die Einstellung zur Technik noch relativ positiv, nicht zuletzt wegen der Rezeption des italienischen Futurismus in Deutschland. So argumentierte z.B. Karl-Heinz Daniels, daß Reinhard Johannes Sorge in seinem Stück Der Bettler von 1912 "den Flieger als neuen Menschentypus" darstellt (Daniels 1969: 354). Der erste Weltkrieg wird dann gern als entscheidender Auslöser einer Wandlung zu einem für den Expressionismus typischen tiefgreifenden Pessismus gesehen. Eberhard Lämmert z.B. meinte, "Der Erste Weltkrieg bedeutet mindestens in Deutschland [ ... ] für die Literatur einen tiefen Einschnitt in ihrem Verhältnis zur Maschinenwelt" (Lämmert 1994: 65). Unmittelbar darauf weist Lämmert auf zwei Stücke die auf den ersten Blick doch von einem tiefgreifenden Pessimismus zeugen, Kaisers Gas-Dramen von 1920 und Tollers Die Maschinenstürmer von 1922 (Lämmert 1994: 65-6). Jedoch hat Harro Segeberg, der auch die These von der zentralen Bedeutung des Kriegserlebnisses für die Expressionisten vertritt ("Für die expressionistischen Autoren wird das Kriegserlebnis Anlaß, ihre Einstellung zur Technik grundlegend zu überdenken" (Segeberg 1987 a: 209)), sich eingehender mit genau diesen Dramen beschäftigt und eine gewisse Ambivalenz vor allem in Tollers Einstellung zur Technik entdeckt (Segeberg 1987a: 212-28). Es ist die Natur dieser Ambivalenz, die meines Erachtens nicht nur für Toller, sondern für das expressionistische Drama im allgemeinen charakteristisch ist, die wir recherchieren wollen. Die Frage wäre also, welche Denkstrukturen der Epoche zu dieser eher ablehnenden, aber letztendlich ambivalenten Haltung der Technik gegenüber geführt haben? Und markiert der erste Weltkrieg tatsächlich eine tiefgreifende Wende im Verhältnis von Technik und Literatur? Zunächst jedoch einige allgemeine Beobachtungen zur Darstellung der Technik im expressionistischen Drama. Diese Beobachtungen werden hauptsächlich mit Verweis auf 74 Karl Leydecker Ernst Tollers Dramen illustriert, da Tollers Dramen von Die Wandlung bis zu Hoppla, wir leben! vielleicht die intensivste und anhaltendste Auseinandersetzung mit dem Thema Technik im Drama des Expressionismus bilden. Jedoch werden auch andere wichtige Texte herangezogen, damit festgestellt werden kann, inwieweit Tollers Behandlung der Technik zeittypisch ist. Im expressionistischen Drama wird überwiegend die Technik der Schwerindustrie und des Krieges dargestellt. Im Falle der Schwerindustrie ist das wichtigste Stichwort "Maschine", während die Kriegsindustrie häufig durch das Wort "Giftgas" signalisiert wird, am auffälligsten in Kaisers Gas II, aber auch durchgehend in Tollers Dramen und z.B. auch in Reinhard Goerings Seeschlacht (1917). Die Technologien der Schwerindustrie und des Kriegs werden am auffälligsten in Paul Zechs Drama Das Rad kombiniert, wo das Endprodukt des Eisenwalzwerks Maschinengewehre sind. Andere wichtige Technikbereiche, die auch vorkommen, sind die medizinische Technologie und die Technologien des Verkehrswesens und der Massenkommunikation (Funk). Auffallig ist, daß die Nutzung bzw. die Nützlichkeit von diesen Technologien im Krieg betont wird. So wird zum Beispiel in Die Wandlung die Medizin als wichtiger Teil des Kriegssystems charakterisiert, deren Rolle mit der der Rüstungsindustrie verglichen wird: Professor: Wir könnten uns die positive Branche nennen, Die negative ist die Rüstungsindustrie (Toller 1978: II 30). Neue Verkehrstechnologien, die gerne erwähnt werden, sind das Flugzeug, dessen Nutzung im Krieg häufig erwähnt wird, und das U-Boot, das ja ausschließlich eine Funktion im Krieg hatte. Und nicht zufällig endet die Szene in der Radiostation in Hoppla, wir leben! mit der Erwähnung der Möglichkeit der Massenvernichtung durch funkähnliche elektrische Wellen: "Es gibt Maschinen mit elektrischen Wellen, wenn man die in London einschaltet, würde morgen Berlin ein Haufen Trümmer sein. Wir werdens nicht ändern" (Toller 1978: III 83). Wie wird die Technik charakterisiert? Zunächst einmal wird die Maschine gerne als Dämon, als Ungeheuer bezeichnet. Dies wird besonders in Die Maschinenstürmer betont, wo von dem "höllische[n] Maschinenungeheuer" die Rede ist (Toller 1978: II 139). Es ist aber auch in anderen Stücken der Fall, wie zum Beispiel Zechs Das Rad, wo die Figur des Dämons regelmäßig hinter dem Rad hervortritt. Die Maschine wird auch häufig als lebendiges Wesen wahrgenommen ("Ich aber sage euch, die Maschine ist nicht tot ... / Sie lebt! Sie lebt! " (Die Maschinenstürmer, Toller 1978: II 184)), und ihr werden (raub)tierähnliche Merkmale zugeschrieben (sie wird z.B. als "das reißende Tier'' in Die Maschinenstürmer beschrieben, Toller 1978: II 139-40). Im expressionistischen Drama ist die Technik für die Menschen auf zwei Ebenen tödlich. Zum einen ist die Technik tödlich auf der biologischen Ebene, da Menschen durch Kriegstechnik, aber auch durch Unfälle in Fabriken getötet werden (z.B. Die Wandlung, 8. Bild, Toller 1978: 41 ). Die Gefährlichkeit der Maschinen in der Fabrik wird besonders drastisch in Die Maschinenstürmer dargestellt, wo Artur von der Maschine gepackt und zermalmt wird, bzw. in den Regieanweisungen heißt es, "das Schwungrad packt ihn", wobei die Lebendigkeit der Maschine signalisiert wird. Zum anderen wird im expressionistischen Drama die Tödlichkeit der Technik auf metaphorischer Ebene betont, da die Technik mit einem metaphorischen Tod-im-Leben, mit dem sogenannten Nicht-Leben korreliert wird. 1 Diese Korrelation von Technik und Nicht-Leben läßt sich sehr schön mit einem Zitat aus Hinkemann belegen, wo es allerdings um das Leben der Soldaten im Krieg geht: "Herrgott, was führten wir denn für ein Leben! Ein Ersatzleben Die Technik im Drama des Expressionismus 75 wars, aber kein Leben! Ein Maschinenleben! " (Hinkemann, Toller 1978: II 221 ). Das Maschinenleben ist mit anderen Worten dem Nicht-Leben äquivalent. Die gleiche Metaphorik des Tod-im-Lebens, des Nicht-Lebens findet man in Kaisers Gas, wie die folgenden Zitate belegen: Wo blieb mein Bruder? [...] In Arbeit stürzte er. Die brauchte er nur die eine Hand von ihm die den Hebel drückte und hob - Minute um Minute auf und nieder auf die Sekunde gezählt! keinen Hub ließ er aus pünktlich schlug sein Hebel an, vor dem er stand wie tot und bediente (Kaiser 1971: II 39). Thr habt den Gewinn - und kein Leben! Was. soll euch der Gewinn, den der Fuß schafft- der den Mann arm zu leben macht? - - Thr habt die Zeit verloren - - und in der Zeit das Leben alles habt ihr verloren - - Zeit und Leben (Kaiser 1971: II 43). Zu der Tödlichkeit der Technik für die Menschen kommt hinzu, daß Menschen sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich in Maschinen verwandelt werden. Auf der metaphorischen Ebene, indem sie immer wieder die gleiche Arbeit verrichten, wobei der Mensch in seine Bestandteile aufgelöst und als nicht-lebend charakterisiert wird: "Einer ist Arm, einer ist Bein ... einer ist Hirn ... / Und die Seele, die Seele ... ist tot ... " (Die Maschinenstürmer, Toller 1978: II 184). Hier ist zu bemerken, daß dieser Prozeß der Auflösung der Person als abtötend bezeichnet wird, während wie vorher angeführt, die Maschine selbst, die die Menschen "frißt", vor Leben strotzt. Wortwörtlich vollzieht sich die Verwandlung der Menschen in Maschinen in Die Wandlung, wo im 6. Bild die Krüppel automatenhaft mit künstlichen Armen und Beinen "wie aufgezogene Maschinen" aufmarschieren: Wie aufgezogene Maschinen schreiten von irgendwo sieben nackte Krüppel. Tore Körper bestehen aus Rümpfen. Arme und Beine fehlen. Statt ihrer bemerkt man künstliche schwarze Arme und Beine, die sich automatisch schlenkernd bewegen. In Reih und Glied marschieren sie vor die Leinwand (Die Wandlung, Toller 1978: II 30). Eine weitere Wirkung der Technik auf die Menschen besteht darin, daß die Einführung der Technik zur ''ungeheuerliche[n] Knechtschaft" (Die Maschinenstürmer, Toller 1978: II 129) der Arbeiter, zu deren Versklavung, führt. Im expressionistischen Drama treten verschiedene Gegensätze zu Technik auf. Die wichtigste Opposition ist sicher die zwischen der Technik und dem Menschen. Einige Textbeispiele aus Tollers Dramen lassen dies ganz deutlich sehen. So heißt es in Die Wandlung: Aber ich warne euch vor den Worten des Mannes, der euch zurief: Marschiert! [ ... ]Heute ruft er: Das Volk ist Gott! Und morgen wird er verkünden: Gott ist eine Maschine. Darum ist das Volk eine Maschine. Er wird sich trotzdem freuen an den schwingenden Hebeln, wirbelnden Rädern, hämmernden Kolben. Volk aber ist für ihn Masse. Denn er weiß nichts vom Volk. Glaubt ihm nicht, denn ihm fehlt der Glaube an sich, an den Menschen. Ich aber will, daß ihr den Glauben an den Menschen habt, ehe ihr marschiert (Die Wandlung, Toller 1978: II 50). Die Opposition Technik versus Mensch wird auch in Die Maschinenstürmer betont, wo die Maschine als "des Menschen Feind" beschrieben wird (Die Maschinenstürmer, Toller 1978: II 183) und die Bindung der Arbeiter an die Maschine als eine Entmenschlichung dargestellt wird: Albert: [...] Du Georges wirst Hand und knüpfst ... und knüpfst ... und knüpfst. Und deine Ohren werden taub ... Dein Hirn verdorrt ... Charles: Ich werde Bein! 76 Karl Leydecker Georges: Ich werde Hand! [...] Charles: Wir sind doch Menschen! John Wible: Vorbei! Vorbei! (Die Maschinenstürmer, Toller 1978: II 140). Dieser Opposition nahe verwandt ist die zwischen Technik und Geist, die vor allem in Die Wandlung betont wird, sicherlich weil Toller hier am stärksten unter dem Einfluß von den Ideen Gustav Landauers stand, worauf noch zurückzukommen sein wird. So heißt es: Und so seid ihr alle verzerrte Bilder des wirklichen Menschen! [...] Denn ihr habt den Geist vergraben ... Gewaltige Maschinen donnern Tage und Nächte Tausende von Spaten sind in immerwährender Bewegung, um immer mehr Schutt auf den Geist zu schaufeln (Die Wandlung, Toller 1978: II 59). Andere Gegenparte zu Technik sind die Natur und die Seele. So wird in Masse Mensch eine Opposition zwischen der Fabrik und der "Mutter Erde" aufgebaut, wobei die Technik interessanterweise als eine männliche Größe dargestellt wird: Verstoßen hat man uns von unsrer Mutter Erde, Die reichen Herren kaufen Erde sich wie feile Dirnen, Belustgen sich mit unsrer gnadenreichen Mutter Erde, Stoßen unsre rauhen Arme in Rüstungsfabriken. Wir aber siechen, von Scholle entwurzelt, Die freudlosen Städte zerbrechen unsre Kraft (Masse Mensch, Toller 1978: 11 82). An einer Stelle in Hinkemann wird die Opposition zwischen Technik und Seele ganz deutlich zum Ausdruck gebracht: Und weißt du, wie die Seele ausschaut? Nichts Lebendiges ists. Die eine Seele ist ein Speckgenick, die zweite eine Maschine, die dritte ein Kontrollzähler, die vierte ein Stahlhelm, die fünfte ein Gummiknüppel (Hinkemann, Toller 1978: II 234) Dieses Zitat ist von besonderem Interesse, denn die Technik wird hier nicht einfach in Opposition zur Seele gestellt, sondern wird mit verschiedenen anderen Sachen korreliert: mit Ausbeutung ("Speckgenick"); Beaufsichtigung ("Kontrollzähler"); Militarismus ("Stahlhelm"); und polizeilicher Gewalt ("Gummiknüppel"). Die Technik wird mit anderen Worten als Teil eines umfassenden Systems betrachtet, das als Staatssystem beschrieben werden kann.2 Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß die Technik als Teil des negativen Staatssytems dargestellt wird und in Opposition zu verschiedenen positiven Werten (Mensch, Geist, Seele, Natur) des humanistischen wilhelminischen Bildungsbürgertums steht. Im expressionistischen Drama werden gerne Zukunftsprojektionen für die Technik und ihre Wirkung aufgestellt. Auffallend ist, wie die (wachsende Dominanz der) Technik als unaufhaltbar dargestellt wird, am deutlichsten sicherlich in Die Maschinenstünner, aber auch schon in Die Wandlung und in den anderen expressionistischen Dramen Tollers. So heißt es in Die Wandlung: "O dieses ewig knirschende Stampfen / Gepeitschter Maschine" (Die Wandlung, Toller 1978: II 21), und wiederum in Die Wandlung stellen die Soldaten fest: Erster Soldat: Ewig fahren wir. Zweiter Soldat: Ewig stampft die Maschine. Dritter Soldat: Ewig gatten sich Menschen (Die Wandlung, Toller 1978: II 22). Hier wird die Technik mit anderen Worten als existentieller Zustand wahrgenommen. Die Technik im Drama des Expressionismus 77 Die logische Schlußfolgerung aus dem, was bisher über die Darstellung der Technik in Tollers Dramen gesagt wurde, wäre, daß diese fortschreitende Entwicklung und Dominanz der Technik als etwas ausgesprochen Negatives zu betrachten wäre eben die Haltung der Arbeiter in Die Maschinenstürmer. Die gleiche Logik durchzieht auch Kaisers Gas-Stücke. Denn wie in Tollers Dramen scheint die Logik der Kaisersehen Texte darin zu bestehen, daß die Technik menschenfeindlich ist. Der Milliardärsohn betont, daß die Technik zur Verstümmelung der Menschen und zum Nicht-Leben geführt habe, schon vor der Explosion: "War einer heil im Werk, das aufflog? [ ... ]Erschlagen wart ihr vor dem Einsturzverwundet vor dem Einschlag - -: mit einem Fuß mit einer Hand mit heißen Augen im toten Kopf wart ihr vorher Krüppel! " (Kaiser 1971: II 46). Darüber hinaus scheint die Technik nicht nur unaufhaltbar zu sein, sondern mündet scheinbar notgedrungen in die Kriegstechnik, d.h. aus Gas wird Giftgas. Die Tatsache, daß das Gas immer wiedet explodieren wird, kann als Metapher für die selbstzerstörerische Natur der Technik interpretiert werden. Nur an einer Stelle wird behauptet, daß nicht die Technik selbst, sondern die Menschen für die negative Entwicklung der Technik verantwortlich seien. Wie der Milliardärsohn bemerkt: "Die Maschinen ließen sich aufhalten -die Menschen nicht! " (Kaiser 1971: II 25). Jedoch wird sowohl in Die Maschinenstürmer als auch in Masse Mensch die Ablehnung der Technik als unklug dargestellt und die Auflehnung gegen sie als zum Scheitern verurteilt. Die Frau in Masse Mensch stellt fest: Die Frau: [...] Erkenntnis ist: Fabrik ist nicht mehr zu zerstören. Laßt eine Nacht der Tat Fabriken sprengen, Im nächsten Frühjahr wärn sie auferstanden Und lebten grausamer als je (Toller 1978: II 81). Und in Die Maschinenstürmer bemerkt Jimmy: "Ich weiß, daß die Maschine unser unentrinnbar Schicksal ist" (Toller 1978: II 183). Während die Ablehnung der Technik als Irrweg dargestellt wird, wird der Versuch. der Frau in Masse Mensch und Jimmy Cobbetts in Die Maschinenstürmer, die Technik zu akzeptieren und das Beste für die Menschen daraus zu machen, gutgeheißen. Die Frau betont: Fabriken dürfen nicht mehr Herr, Und Menschen Mittel sein. Fabrik sei Diener würdigen Lebens! Seele des Menschen bezwinge Fabrik! (Toller 1978: II 81). Auf gleiche Art und Weise versucht Jimmy, die positiven Aspekte der Technik hervor~ zuheben: "Denkt, wenn ihr statt sechzehn Stunden acht nur schaffet ... Und die Maschine wär' euch Helfer, nicht Feind! " (Toller 1978: II 143). Die Arbeiter müssen also lernen, daß die Technik gezähmt werden muß: Jimmy: Der Mensch soll führen, nicht die Maschine! Artur: Der ... der ... Mensch ... Mensch ... soll führen ... nicht ... nicht die Maschine ... (Toller 1978: II 143) Dennoch ist nicht zu übersehen, daß sowohl die Frau als auch Jimmy letztendlich zum Scheitern verurteilt sind Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß in Tollers Dramen die Technik als eine ambivalente Größe dargestellt wird. Einerseits wird die Technik als menschenfeindlich charakterisiert und mit Krieg, Tod, Nicht-Leben, Entfremdung und einem negativen Staats- 78 Karl Leydecker system korreliert. Andererseits wird in Masse Mensch und Die Maschinenstümier die These vertreten, daß die Technik an und für sich weder positiv noch negativ sei. Es kommt nämlich darauf an, wie die Menschen mit der Technik umgehen. Kann aber von einem Wandel in der Darstellung der Technik in Tollers Dramen gesprochen werden? Wäre es richtig zu behaupten, Toller habe seine anfängliche Technikfeindlichkeit überwunden und sei zu einer neutraleren Auffassung der Technik übergegangen? Die Frage ist m.E. mit nein zu beantworten. Denn noch in Hoppla, wir leben! von 1927 wird die Technik als eindeutig negativ charakterisiert. In diesem Stück wimmelt es noch vor Kriegstechnologie, Gasfabriken, Giftgas, Kampfflugzeugen, Maschinen, die nach Amerika schießen können usw. Eher kann man also von einem Schwanken zwischen den beiden Positionen in Tollers Dramen sprechen. Die grundlegende Frage wäre dann: Welche Denkstrukturen der Epoche haben in Tollers Dramen zu der schwankenden Einstellung gegenüber der Technik geführt? Hier ist es zunächst sinnvoll, das Verhältnis zwischen Literatur und Technik im Zeitraum zwischen dem Naturalismus und dem ersten Weltkrieg kurz zusammenzufassen. Tessy Korber, die neulich die Darstellung der Technik von 1890-1914 untersucht hat, stellte fest, daß im wilhelminischen Deutschland "die Mehrheitseinstellung fortschrittsgläubig und technikzugewandt [blieb]" (Korber 1999: 25), und im Grunde teilten.die Naturalisten zumindest theoretisch, wenn auch nicht immer in ihren literarischen Texten, den "Technikoptimismus" des Zeitalters. Ab 1900 setzt dann der Vitalismus bzw. die Lebensideologie ein, die sehr grob als Reaktion des in einer Krise geratenden Bildungsbürgertums gesehen werden kann.3 Martin Lindner stellte fest, daß "im lebensideologischen Denken viele Quellen zusammen[strömen], deren gemeinsamer Nenner ein doppelter Abwehrkampfist: Einerseits gegen das dominierende orthodox-bürgerliche Ideologiekonglomerat aus Idealismus und Historismus, andererseits gegen den "Mechanismus" und "Atomismus" der entstehenden kapitalistischen Massengesellschaft'' (Lindner 1994: 120). Wie Korber bemerkt, konnte Technik einerseits "im Rahmen des lebensphilosophischen Entwurfs dem ''toten" Pol [mit anderen Worten dem Nicht-Leben - KL] zugerechnet werden" (Korber 1998: 135). Jedoch war andererseits die Technik als "eine Sphäre des aktiven und schöpferischen Lebens begreifbar" und "ermöglichte[ ... ] das sinnliche Erlebnis der Lebensprinzipien Bewegung und Identität" (Korber 1998: 136). Korber stellt dann eine Fülle von Texten vor, die im Zeitraum von 1900 bis 1914 eher von einer Technikbegeisterung zeugen, bevor sie zum Schluß auch ein Kapitel den "ablehnende[n] Positionen zur literarischen Verarbeitung vitalistischer Technikmotive im Frühexpressionismus" (Korber 1998: 369) widmet. Interessanterweise wird Sorges Der Bettler (1912), bekanntlich eins der ersten expressionistischen Dramen, sowohl unter der Rubrik Technikbegeisterung und vor allem Fliegerbegeisterung diskutiert (Korber 1998: 352-8) als auch als Beispiel der Ablehnung der Technik erwähnt (Korber 1998: 384-9). Also war eine starke Ambivalenz der Technik gegenüber schon ein typisches Merkmal des frühexpressionistischen Dramas. Ist die früher festgestellte Ambivalenz der Technik gegenüber in den Dramen Tollers einfach mit Verweis auf die im lebensideologischen Denken angelegte Ambivalenz der Technik bzw. dem Kapitalismus gegenüber zu erklären? Sollte man diese Erklärung akzeptieren, dann könnte es nicht heißen, der Erste Weltkrieg habe einen tiefgreifenden Wandel in der Einstellung zur Technik unter den Expressionisten verursacht. Allenfalls könnte man behaupten, die Erfahrungen des mechanisierten Kriegs haben die ohnehin bekannten negativen Aspekte der Technik lediglich mehr in den Vordergrund gerückt, und es ist sicherlich etwas Wahres daran. Die früher festgestellte eindeutige Korrelation zwischen Technik und Krieg in Die Technik im Drama des Expressionismus 79 Tollers und auch in Kaisers Dramen wäre hier zu erwähnen. Aber obwohl bei Toller die Technik mit Krieg korreliert wird, ist dies nur ein Teilaspekt der Darstellung der Technik in Tollers Dramen, so wie der Krieg in Die Wandlung nur ein Teil der negativen Erlahrung von Friedrich ist. Nicht zufällig ist die Schlüsselszene der Wandlung die Szene in der großen Fabrik. 4 Mit anderen Worten, die entscheidende Technikerlahrung in Tollers Dramen ist die Erlahrung der kapitalistischen Großindustrie und nicht des Krieges, und dies gilt auch für Klrisers Gas I. Die Technik fungiert also bei Toller, wie auch bei Kaiser, als Signifikant der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft und des modernen militaristischen Staats. Wenn die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Technikauffassung Tollers und anderer Expressionisten also nicht überschätzt werden darl, so ist auch festzustellen, daß in den Dramen Tollers und anderer Spätexpressionisten, die gegen Ende bzw. nach dem Krieg verlasst worden sind, eine von der Lebensideologie gespeiste Technikbegeisterung völlig fehlt. Die ambivalente Haltung der Technik gegenüber in Tollers Dramen hat also andere Gründe als die Ambivalenz zum Beispiel in Sorges Der Bettler. Vielmehr ist meines Erachtens die Ambivalenz in Tollers Dramen auf die Technikdebatte innerhalb des Marxismus zurückzuführen. Und hierist der Name Gustav Landauer von zentraler Bedeutung, der ja bekanntlich einen großen Einfluß auf Toller aber auch andere Expressionisten ausübte (hierzu ter Haar 1977: 120-151). In Landauers Aufruf zum Sozialismus (erste Ausgabe 1911) findet man die gleichen negativen Merkmale gegenüber der Technik wie in Tollers Dramen. Hier wie da wird die Entfremdung der Arbeiter in der Fabrik, die "Entmenschlichung" (Landauer 1919: 91), die dadurch verursacht wird, betont. So heißt es bei Landauer: "Die mit dem Kapitalismus verbündete Technikmacht ihn zum Anhängsel am Räderwerk der Maschine" (Landauer 1919: 91), und es wird bemerkt, daß die Technik die Tätigkeit der Arbeiter "geistlos und tödlich langweilig" macht (Landauer 1919: 85). Bei Landauer findet man auch die gleiche Dämonisierung der Maschine, die als ''unerbittlich" und als "metallner Teufel" (Landauer 1919: 90) beschrieben wird. Die gleiche Metaphorik der Technik als Raubtier wird auch von Landauer verwendet, indem er beschreibt, wie die Arbeiter aus den Fabriken "ausgespieen" werden (Landauer 1919: 51). Er baut auch die in Tollers Dramen beobachtete Opposition zwischen Technik einerseits, und Mensch, Geist, Natur andererseits, auf. Schließlich wird die Tödlichkeit der Technik für die Menschen auch von Landauer betont: "Die Grenzen der Technik [... ] sind über die Grenzen der Menschheit hinausgegangen. Es kommt nicht einmal auf Leben und Gesundheit der Arbeiter viel an" (Landauer 1919: 91). Der Kern von Landauers Überlegungen zur Technikfrage liegt aber in seiner Ablehnung der Marxistischen Technikauffassung. Landauer warl den Marxisten vor, daß sie die Technik· als Motor des Kapitalismus betrachten, die zwangsläufig zur Krise des Kapitalismus und schließlich zur sozialistischen Revolution führen werde. D.h. "Marx prophezeite aus dem Dampf' (Landauer 1919: 48) und. sei letztendlich von der Technik fasziniert. Landauer hingegen war der Auffassung, daß nicht die Logik des von der Technik gespeisten Kapitalismus zur Revolution führen würde, sondern nur der Geist einen wahren Wandel herbeiführen könne: "Keinerlei Fortschritt; keinerlei Technik, keinerlei Virtuosität wird uns Heil und Segen bringen; nur aus dem Geiste, nur aus der Tiefe unsrer inneren Not und unsres inneren Reichtums wird die große Wendung kommen, die wir heute Sozialismus nennen" (Landauer 1919: 11). Dennoch war Landauer kein einfacher Gegner der Technik. Er war der Meinung, daß im Sozialismus die Technik im Dienste der Menschen stehen würde, vorausgesetzt, die geistige Wandlung habe vorher stattgefunden. So stellt er fest: 80 Karl Leydecker Die Marxisten und die Arbeitermassen, die unter ihrem Einfluß stehen, lassen ganz außer Acht, wie gründlich sich in dieser Hinsicht die Technik der Sozialisten von der kapitalistischen Technik unterscheiden wird. Die Technik wird sich in einem .Kulturvolk ganz nach der Psychologie der Freien, die sich ihrer bedienen wollen, richten müssen" (Landauer 1919: 91-92). Konkret heißt es, es müsse eine Verkürzung der Arbeitszeit geben (Landauer 1919: 92), und einer Rückkehr zur "Ländlicbkeit [ ... ] und zu einer Vereinigung von fudustrie, Handwerk und Landwirtschaft" (Landauer 1919: XVI). Also kann man Landauers Verhältnis zur Technik als eher negativ, aber dennoch ambivalent charakterisieren, denn er, und nach ihm Toller, sieht das positive Potential der Technik, wenn auch nur in der Zukunft. Diese Ambivalenz hat eine auffällige Ähnlichkeit mit der in Tollers Dramen und hat nichts mit der Faszination durch Technik zu tun, die in dem von der Lebensideologie inspirierten Frühexpressionismus noch vorhanden war. Also vollzieht sich tatsächlich ein Wandel in der Darstellung der Technik im expressionistischen Drama um die Zeit des ersten Weltkriegs, jedoch liegen die Gründe dafür nicht einfach in der Kriegserfahrung der expressionistischen Dichter. Die vitalistische Technikbegeisterung verschwindet, die Tödlicbkeit der Technik rückt mehr in den Vordergrund, aber die Einstellung zur Technik bleibt ambivalent, wenn auch diese Ambivalenz jetzt andere Gründe hat als in den Jahren vor dem Krieg. Anmerkungen Über Nicht-Leben in der Literatur der Frühen Modeme siehe Wünsch 1983 und Lindner 1994. 2 Vgl. die.Beobachtung von Kirn, die in ihrer Analyse von Tollers Die Wandlung die gleiche Assoziation von Technik bzw. Industrie mit dem Staatssystem festgestellt hat: "das Fabrikmotiv [kommt] für das Staatssytem oft vor" (Kirn 1999: 100). 3 Zum Bildungsbürgertum siehe Vondung (ed.) 1976. 4 Über die Konstruktion von Die Wandlung siehe die überzeugende Analyse von Kirn 1999: 18-105. Bibliographie Anz, Thomas und Michael Stark 1994: Die Modernität des Expressionismus, Stuttgart: Metzler. Daniels, Karlheinz 1969: "Expressionismus und Technik", in: Segeberg (ed.) 1987b: 351-86. Goering, Reinhard 1917: Seeschlacht, Berlin: S. Fischer. Kaiser, Georg 1971: Werke, ed. Walther Huder, 6 Bände, Frankfurt am Main; Propyläen Verlag. Kim, Hye Suk 1999: Der Wandel der Werlsysteme in Ernst Tollers Dramen, D.Phil, Universität Passau (als Ms. vervielfältigt). Korber, Tessy 1998: Technik in der Literatur der frühen Modeme, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag; Lämmert, Eberhard 1994: "Visionen des Maschinenmenschen auf ~n Bühnen der zwanziger Jahre", in: Anz und Stark 1994; 62-75. Landauer, Gustav 1919: Aufruf zum Sozialismus, Revolutionsausgabe: zweite vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin: Paul Cassirer. Lindner, Martin 1994: Leben in der Krise: Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Modeme: mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth, Stuttgart: J. B. Metzler. Richter, Karl und Jörg Schönert (ed.) 1983: Klassik und Moderne: Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß, Stuttgart: Metzler. Segeberg, Harro 1987a: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19. undfrühen 20. Jahrhunderl, Tübingen: Niemeyer. Die Technik im Drama des Expressionismus 81 Segeberg, Harro (ed.) 1987b: Technik in der Literatur: Ein Forschungsüberblick und 12 Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp. ter Haar, Carel 1977: Ernst Toller: Appell oder Resignation? , München: tuduv. Toller, Ernst 1978: Gesammelte Werke, ed. John Spalek und Wolfgang Frühwald, 5 Bände, München: Hanser. Vondung, Klaus (ed.) 1976: Das wilhelminische Bildungsbürgertum: Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wünsch, Marianne 1983: "Das Modell der» Wiedergeburt« zu »neuem Leben« in erzählender Literatur 1890-1930", in: Richter und Schönert (ed.) 1983, 379-408. Zech, Paul 1924: Das Rad: Ein tragisches Maskenspiel, Leipzig: Schauspiel-Verlag (geschrieben Sommer 1918). Thomas Althaus (Hrsg.) Kleinbürger Zur Kulturgeschichte des begrenzten Bewußtseins 2001, 335 Seiten, div. Abb., € 34,-/ SFr 65,- ISBN 3-89308-323-5 Dieser Band schreibt die Geschichte des Kleinbürgertums aus der Perspektive kultureller Modernisierungsprozesse seit dem 18. Jahrhundert. Die Beiträge billigen dem Kleinbürgerlichen die Würde eines reflektierten Weltverhaltens zu. Seine Ängste und Bedrängungen werden verstanden als Gradmesser für die Nöte des Subjekts. Seine Reduktionen mögen im Einzelnen lächerlich sein und unbegründbar. Im Ganzen sind sie geschichtlich motiviert durch die andere Seite des Fortschritts, den unaufhaltsamen Zerfall von Orientierungssystemen im Prozess der Moderne. Als ein brauchbarer Gegenstand für Satiren wandern kleinbürgerliche Einstellungen in die hohe Philosophie, die große Literatur und Kunst ein und initüeren kulturelle Prozesse, die zum Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung werden. Mit Beiträgen von: Thomas Althaus, Olaf Briese, Eckehard Czucka, Jörg Gallus, Thomas Götz, Heinz-Gerhard Haupt, Hans Heiss, Andreas Hetzei, Christa Jordan, Henrike Junge-Gent, Andreas Kilcher, Axel Schildt, Roy Sommer, Michael Vogt, Stefan Wolle, Stefan Zahlmann. Attemgto VER[AG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen• Fax (07071) 7 52 88 KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 24 (2001) · No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Atomforschung und atomare Bedrohung Literarische und (populär-)wissenschaftliche Vermittlung eines elementaren Themas 1946-1959 HansKrah Since the beginning of the "atomic age" atomic research and the nuclear threat are elementary subjects not restricted to special disciplines. A discussion about 'atomic possibilities' also takes place in literature .and popular science. The study will show the semantics and strategies conceming the atomic discourse given by these two media. The discourse as described in the study is temporarily limited to the very beginning ofpublic awareness in Germany from 1946 to late fifties. The relevance of this period ensues from the necessity of constructing available patterns to organize the discourse and make it possible to communicate about the new subject. Dem Resümee Salewskis (1995: 11) nach 50 Jahren Atomzeitalter: "Die Atombombe ist ein Stück Politik, vielleicht sogar Philosophie und Kultur, nicht jedoch ein Stück Krieg", ist insofern zuzustimmen, als die Atombombe auch und primär mit Ausnahme ihres frühen Einsatzes in Hiroshima und Nagasaki ein Phänomen des Denkens geblieben ist. 1 Dieses Denken bleibt aber nicht auf Spezialdisziplinen beschränkt. Gerade die Ausnahme des Beginns des Zeitalters, die Demonstration der Faktizität, macht die Atomforschung zum elementaren Thema und zum allgemeinen kulturellen Wissen. Atomare, wissenschaftliche Problematiken sind keine philosophisch-theoretischen Phänomene, die vom Alltag losgelöst in hochspezialisierten Nischen verhandelt würden; ihnen wird von Beginn an ein elementares Interesse über ein Fachpublikum hinaus zugestanden. Eine Auseinandersetzung und Diskussion dieser (atomaren) Möglichkeiten findet denn auch in primär medial-ästhetischen - Literatur - oder primär medial-didaktischen.,.. Populärwissenschaft - Diskursen statt, in denen die Bombe und ihr Umfeld, das atomare Wissen, verhandelt werden. Diese Texte die literarischen wie die populärwissenschaftlichen bedienen dieses Bedürfnis und dokumentieren gleichzeitig den jeweiligen historischen Stand, nicht nur den des Wissens im engeren Sinne, sondern auch den der Einstellungen zu diesem Wissen und den seiner kontextuellen Funktionalisierung. Im folgenden möchte ich die literarischen und populärwissenschaftlichen Strategien der Vermittlung in der unmittelbaren Zeitphase des Beginns des atomaren Diskurses resp. des Beginns seiner öffentlichen Wahrnehmbarkeit in Deutschland, von etwa 1946 bis 1959, nachzeichnen. Dieser Zeitraum ist als Etablierungszeitraum des Diskurses auch insofern von Bedeutung, als hier Anschauungen zu vermitteln sind, die noch keine Anschauungen sind, insofern Ende der 40er Jahre/ zu Beginn der 50er Jahre noch keine genuin eigene Sprache, keine genuin eigenen kulturellen Topoi und Bilder zur Verfügung stehen, die den Diskurs organisieren und über die Alltagskommunikation funktionieren, sich regeln könnte. Diesen Fundus gilt es erst zu entwickeln. 84 HansKrah In unterschiedlichem Maße wird dazu der Komplex Atomforschung narrativiert, wird zur Geschichte: Primär literarisch wird er als Motiv 'atomare Bedrohung' handlungsgenerierend und handlungsdetenninierend und über narrative Muster, Plotstrukturen und Lösungen zur Anschauung gebracht. Primär populärwissenschaftlich wird er zur Wissenschaftsgeschichte, die sich als spannende 'Expedition' in unbekannte Gebiete geriert. 1. Forschungen und Bedrohungen imAtomzeitalter sieben Geschichten In den literarischen Texten wird die narrative Verhandlung zumeist durch eine mehr oder weniger gravierende Katastrophe initiiert, 2 durch die daraus resultierende Bedrohung der Welt und die Suche nach Lösungsmöglichkeiten des Problems. Ich skizziere kurz die Plots einiger Texte, die das engere Korpus der folgenden Ausführungen bilden. 1. 1 In Raketenfahrt in die Urzeit. Ein phantastischer Zukunftsroman aus den letzten Tagen der Menschheit (1950) erkunden Prof. Lundholm und seine Crew mit dem Raumschiff Delphin als erste Menschen den Weltraum. Sie fliegen zunächst zur Venus und dann zum Mars, während auf der Erde der V ersuch unternommen wird, am Südpol ''mittels Atomgewalt die dort lagernden Eismassen zum Schmelzen zu bringen" (Brugg 1950: 156). Statt zur Landgewinnung führt diese Enteisung zu einer zweiten Sintflut, bei der die gesamte Erdbevölkerung umkommt und die die Erde unbewohnbar macht. Übrig bleiben nur Lundholm und seine Crew. Diese fliegen zurück zur Venus, auf der, da dort urzeitliche Verhältnisse herrschen, ein Überleben möglich ist. 1.2 In Helium (1949) wird die von Dr. Cziensky entwickelte Helium-Wasserstoff-Bombe getestet,3 da die Regierung sie als Machtmittel bei einem bevorstehenden Krieg einsetzen möchte. Prof Zweiholz(! ) warnt verzweifelt davor, kann den Test aber nicht verhindern. Mit Hilfe eines Flugkörpers wird die Bombe in die Luft geschossen, um dann über dem Pazifik zu detonieren. Zwei Beobachterschiffe, mit den Namen "Erinnya" und "Terpsichore", sollen die Durchführung aus gehöriger Distanz protokollieren. Das Experiment scheitert und scheitert nicht. Es scheitert, da die Bombe etwas vom Kurs abweicht und zwischen den beiden Schiffen landet. Es scheitert nicht, da die Bombe als Bombe funktioniert. Für die Besatzungen, aus deren Perspektive der Text die Ereignisse schildert, ist damit das definitive Ende vorgegeben. Das Problem bleibt aber kein lokal begrenztes. Der Atombrand droht sich unaufhaltsam auszubreiten und zu einem globalen zu werden. Der Text endet mit der Möglichkeit, dieses zu verhindern, eine Möglichkeit, die aber eine riesige, gemeinsame, d.h. übernationale Anstrengung erfordert (das Hundertfache einer Jahresproduktion Cadmium). 1.3 In Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... (1948) geht es um ein Attentat auf Amerika. Fünfzig Tonnen Uran werden gestohlen; ein Erpresser droht, damit Amerika in die Luft zu sprengen. Gekoppelt ist diese Ebene an den Forscher Phil Congrave. Dessen Vater ist vor einigen Jahren bei einem Experiment ums Leben gekommen, als er bei seinen Atomforschungen unvorsichtigerweise einen Atombrand heraufbeschwor und dabei eine ganze Insel ins Jenseits beförderte. Der Sohn forscht weiter, allerdings weiser. Er sprengt keine Inseln in die Luft, sondern entwickelt den Atommotor, den Inbegriff des Wünschenswerten (im Text). Atomforschung und atomare Bedrohung 85 Schließlich gibt es ein Happy-End; das Attentat auf Amerika kann gerade noch verhindert werden. 1.4 In Alarm aus Atomville (1956) entdecken der Reporter Anderson und der Uransucher Patrick O'Brien in Kanada durch Zufall Atomville: eine riesige unterirdische Versuchsanlage, in der, ausgehend und eingerichtet von den Vereinten Nationen und unter Aufsicht des Atom- Weltforschungsrates in Genf, auf allen erdenklichen Gebieten atomar geforscht wird. Chef von Atomville ist Prof. Omen. Anderson und O'Brien verpflichten sich, einige Jahre in Atomville zu bleiben. Hier experimentiert Prof. Omen mit "Homo Xl", den er mit Hilfe radioaktiver Bestrahlung zu einem Übermenschen schaffen will. Zur gleichen Zeit beteiligen sich Anderson und O'Brien an der Jungfernfahrt des Atom-U-Bootes 'Seedrache'. Sie fahren unter den Nordpol, tauchen in den Philippinen-Graben auf 11 000 Meter Tiefe, zünden dort eine Versuchsbombe und sind auf dem Weg zurück nach Atomville, als von dort schlechte Nachrichten kommen. Homo Xl hat das Kommando übernommen und droht der Welt mit Vernichtung. Doch dies stellt sich glücklicherweise als 'Bluff' heraus. Homo XI, der verschwundene Sohn von O'Brien und selbst Forscher, wollte damit beweisen und den Atom- Weltforschungsrat davon überzeugen und warnen, daß diese Experimente nicht machbar, da gefährlich, sind und sich keinem genuin wissenschaftlichem Interesse verdanken, sondern nur dem übersteigerten Ehrgeiz von Prof. Omen. 1.5 In Die Erde brennt (1951) ist nach einem verlorenen Krieg das Land Geranien(! ) verwüstet, und die wichtigen Einwohner, die Atomforscher, sind vori den Siegern in deren Länder geholt. So arbeitet Karl Davertshoven in Pelargonien, ohne zu wissen, daß der Rest seiner Familie, seine Tochter Elka und sein Vater Rudolf Davertshoven ebenfalls überlebt haben. Sein Vater wird in Dahlien, dem Gegner von Pelargonien, gezwungen, für die Kanzlei- Unionisten in Mesonsk Atomforschung zu betreiben. Grund, warum er sich dazu zwingen läßt, ist der Geiselstatus seiner Enkelin. Als diese flieht, er aber im Glauben gelassen wird, Elka sei bei der Flucht ums Leben gekommen, zündet er seine bereits vorbereitete Bombe. Mesonsk fliegt in die Luft, der Atombrand breitet sich aus, eine globale Katastrophe droht. Um der Ausweitung Herr zu werden, beschließt man, Atombomben auf den Brandherd zu werfen, um die Ausbreitung zu stoppen. Im letzten Moment und unter Aufopferung seines Lebens erkennt Karl Davertshoven, von dem dieser Plan stammt, daß dies genau das Gegenteil bewirken würde. Wie bereits Klaus Bender, der mit Elka geflohene Assistent seines Vaters, richtig erkannt hat, fällt der Atombrand von selbst zusammen, nachdem er ein Gebiet von ca. 1000 Kilometer im Durchmesser vernichtet hat (beschränkt auf das Gebiet der Sowjetunion, als die politisch und topographisch Dahlien eindeutig zu übersetzen resp. zu erkennen ist). 1.6 In ... und alle Feuer verlöschen auf Erden (1948) erfindet Habakuk Petromis den Permostaten, ein Gerät, das sowohl Hitze als auch Kälte erzeugen kann, ein Perpetuum mobile, wie der Name beinhaltet. Als Erfinder kümmert er sich aber nicht um die Auswertung seiner Forschung, um die Nutzung für die Menschheit. Dies übernimmt der Ingenieur Kay Phearsen, anstatt daß er, wie es ihm Petromis nahelegt, den Permostaten optimiert. Denn: Es fehlt die dritte Wirkung, Elektrizität. Die geschäftliche Ausnutzung scheitert am Widerstand der Kohle- und Öl-Lobbyisten einerseits und aus privaten Gründen andererseits, da der Vater 86 HansKrah seines Geldgebers den Geldhahn zudreht. Kay gerät in Konflikt mit dessen Schwester der einzigen, geliebten und verwöhnten Tochter des Vaters - Sumi, die nach einem Zerwürfnis verschwindet. Dafür macht der Vater Kay verantwortlich. Nach seinem wirtschaftlichen Ruin besinnt sich Kay aufWissenschaft und Forschung, er experimentiert mit dem Permostaten, bis er schließlich die dritte Wirkung findet. Gleichzeitig und unabhängig davon experimentiert auch Sumi mit dem Permostaten, um die dritte Wirkung zu finden; ihr gelingt dies aber nicht richtig. Statt den Permostaten zu optimieren, mutiert sie ihn; ihr Permostat hat zwar auch eine zusätzliche Wirkung, allerdings eine letale. Er läßt sich als Waffe mißbrauchen und wird dies auch, ohne ihr Wissen. Der Text endet nach einigen Verwirrungen und Projekten, so dem Versuch, mit Hilfe des Elektro-Permostaten das Kongobecken abzuriegeln durch riesige Eisberge - und zu fluten, um es für Weiße bewohnbar zu machen, mit einem Happy-End: mit Einsicht, Verzicht auf den gigantesken Plan, Aufklärung der Verbrechen und Zusammenführung des Paares Kay und Sumi. 1.7 In Attentat auf Universum (1949) baut James Curron mit finanzieller Unterstützung von Lewis Goudsmith eine Mondrakete. Diese wird gestartet, obwohl Martin Kerckhoff, ebenfalls Wissenschaftler wie Curron und dessen früherer Partner, eindringlich davor warnt. Denn: Die Entfernungen sind falsch berechnet, der Mond ist nicht 384 000, sondern nur etwa 3000 Kilometer von der Erde entfernt, was bei den riesigen Energiemengen, über die die Rakete als Antrieb verfügt, zu einer Katastrophe führen muß. Denn: Man lebt gemäß der Hohlwelttheorie auf der Innenseite einer Hohlkugel, und das gesamte Universum hat demgemäß hier seinen Platz. Kerckhoffs Theorie bestätigt sich. Die Rakete trifft die Sonne, reißt sie aus ihrer Bahn, so daß nun der Strahl der im Zentrum des Universums befindlichen Himmelskugel ungeschützt und ungestreut auf die Erde trifft und langsam, aber sicher alles verbrennt (die Sonne selbst fungiert als eine Art Diffusionskörper). Doch es gibt eine Rettung. Mit einer zweiten Rakete schaffen es Curron und Kerckhoffunter Selbstopfer, die Sonne wieder in ihre Bahn zu stoßen. 2. Auswertung I: narrative Verhandlung - Probleme und Problemlösungen Argumentation, Diskussion und Reflexion laufen über die Narrationen, die vorgeführten Geschichten. Diese bestimmen die ideologische Auseinandersetzung, etwa Zeitpunkt und Motivation diskursiver Stellungnahmen. Die Geschichten definieren dabei sowohl das zu bewältigende Problem, als sie dann in bezug zu diesem Problem auch Sinn wie Sanktionen stiften, Modelle von Problemlösungen bereitstellen. Zunächst seien einige Folgerungen im Kontext der Narration festgehalten. 2.1 Die narrative Ebene erscheint als Kombination und Mischung aus Abenteuer/ Kolportage einerseits und Wissensvermittlung andererseits. Je 'realistischer' dabei die Diegese, die dargestellte Welt, konzipiert ist, auf Gegenwartsproblematiken, politische Konstellationen hin,4 desto 'wissenschaftlicher' ist das einbezogene Wissen. Der atomare Diskurs bewegt sich durchaus auf dem Level der Sachbücher, die als Hintergrundwissen anzunehmen sind, von dem zwar abgewichen wird, aber auf einem 'fundierten' Niveau: Der Übergang zwischen Erwiesenem und vollkommen Spekulativem ist fließend und nicht einfach zu erkennen. Je utopischer die Welt konzipiert ist, so wenn in Alarm aus Atomville ein Atom-Weltforschungs- Atomforschung und atomare Bedrohung 87 rat das Sagen hat, und je mehr reale Umstände ausgeblendet sind, wie in Raketenfahrt in die Urzeit, desto weniger 'modern' und auf dem neuesten Stand scheint das Wissen zu sein, wenngleich auch hier mit solchen Wissenselementen gearbeitet wird. Hier erscheinen neben den fundierten Wissenselementen auch andere, eher fantastische und Science-Fictionmäßige.5 2.2 Der Fokus der Texte ist auf die Perspektive der Forscher und Wissenschaftler ausgerichtet und damit auf die Gruppe der Verantwortlichen. Die Restbevölkerung erscheint als 'individualisierte' Masse, das heißt, sie wird repräsentiert durch ein Paradigma von typischen Normalbürgern, wobei durch die Darstellung dieser Schicht typische bzw. die diesen als typisch unterstellten Meinungen, Reaktionen und Verhaltensweisen bei kollektiven Gefahren abgebildet werden (zumeist entsteht durch diese Kollektivpsyche neben der eigentlichen eine zweite Katastrophe, ausgelöst durch Panik, Hamsterkäufe, Endzeitstimmung und ähnliches). 2.3 Die Probleme werden nicht nur narrativ, sondern auch dezidiert aktantiell verhandelt. D.h.: Positionen werden personalisiert, figuralisiert zu Typen gebündelt und über die Figurenkonstellation und -konfiguration vermittelt. Präferierte Aktanten sind: Auf der Seite der Frauen gibt es drei Typen. Erstens (und narrativ sujethaft) die höhere, reiche Tochter, die wissenschaftlich interessiert ist und selbst Forschung betreibt (Mady Goudsmith aus Attentat auf Universum, Florabelle Carter aus Helium, Sumi Mewenbrough aus ... und alle Feuer verlöschen auf Erden). Zweitens die Reporterin (Lily Dean aus Raketenfahrt in die Urzeit, Gloria Kepler aus Helium), drittens die Tochter eines Wissenschaftlers (Dorrit aus Attentat auf Universum, Miß Varrey aus Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... , Elka aus Die Erde brennt). Letztgenannter Typ steht insbesondere als Partnerin, zumeist des Helden, zur Verfügung (und konstituiert auf dieser Ebene, der Partnerfindung, ein Sujet). Auf der Seite der Männer gibt es den Geldgeber, den Reporter und innerhalb der Gruppe der Wissenschaftler die Reihe der Nicht-Helden, die sich dadurch definieren, daß sie in unterschiedlichem Maße und Grade einen wissenschaftlichen Normverstoß begangen und d.h. konkret, etwas zu verantworten haben. Solche Aktanten sind nicht fokussiert, ihrer Perspektive wird nicht oder nur punktuell gefolgt; sie sind nicht Protagonisten. Typologisch lassen sie sich unterscheiden in den 'Mad scientist' (der keinerlei Einsicht zeigt und sich einer 'Schuld' nicht bewußt ist, da diese Kategorien auf ihn per se nicht anzuwenden sind), den 'Spieler' 6 (der sich seiner Verantwortung, seines Beitrags zwar bewußt ist, der daraus aber keine Konsequenzen zieht, keine Einsicht in die Schuldhaftigkeit und moralische Verwerflichkeit seines Verhaltens zeigt, und dadurch erst recht moralisch verwerflich ist) und den 'aus Versehen schuldhaft gewordenen Wissenschaftler' (der aus 'positivem' Fanatismus zu spät, fast zu spät zur Einsicht kommt, sich seiner Schuld und Verantwortung aber bewußt wird und versucht, das Geschehene reversibel zu machen). 7 Der Protagonist selbst ist entweder nur am Rande mit Wissenschaft und Forschung korreliert (etwa Reggy Curron als Sohn eines Wissenschaftlers in Attentat auf Universum oder Fred Rauch und 'Posi' Anderson in Raketenfahrt in die Urzeit und Alarm aus Atomville als Reporter), oder diese Ebene ist, wenn er also selbst Forscher ist, von einer anderen überlagert, die nichts mit Wissenschaft zu tun hat: Er ist dann unschuldig Verdächtigter in einem Kriminalfall (Congrave junior oder Phearson in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... und ... alle Feuer verlöschen auf Erden), der Fokus liegt dann gerade nicht in seiner Eigenschaft und Tätigkeit als Forscher. Als Protagonist zeichnet ihn letztlich seine 'bewahrte Unschuld' 88 HansKrah und die Tatsache aus, daß bei ihm die Fäden zusammenlaufen, er als 'Halbbeteiligter' Distanz und Nähe zum Geschehen verbindet und überbriickt. 2.4 Innerhalb des Spektrums der Wissenschaft läßt sich neben der aktantiellen Verteilung eine Ausdifferenzierung von drei als archetypisch klassifizierbaren Bereichen konstatieren. Unterschieden werdenForschung,Anwendungund Wissensvermittlung. Es gibt den Typ des Forschers, des echten Forschers, wie sein kennzeichnendes Epitheton lautet: "Sein Streben gilt ausschließlich dem, was noch zu erforschen ist, also der ungelösten Aufgabe, während das fertige Werk nicht mehr ernstlich interessiert" (Holk 1948a: 61). Daneben gibt es den meist als Ingenieur bezeichneten Typus, der sich etwa in ... und alle Feuer verlöschen auf Erden durch die Bemühungen auszeichnet, "dem Permostaten durch mechanische und elektrische Schaltung eine wirtschaftlich verwertbare Form zu geben" (Holk 1948a: 61). Reine Forschung und angewandte Forschung werden zwar inhaltlich unterschieden, sie werden ideologisch aber nicht gegeneinander ausgespielt. Positiv ist der 'Anwender' insbesondere dann, wenn er selbst Forscher ist und diese Bereiche oszillieren, wie dies in Raketenfahrt in die Urzeit oder narrativ durchgespielt in ... und alle Feuer verlöschen auf Erden der Fall ist. Dieser letztlich hannonischen Symbiose steht die wissenschaftliche Wissensvermittlung diametral gegenüber. Diese wird an eine spezifische Gruppe gebunden, als deren alleinige Tätigkeit, und explizit und exzessiv abgewertet. Die Rede ist von der Professorenschaft. In Attentat auf Universum tritt mit Professor Gamow ein Vertreter dieser Zunft auf und verdeutlicht hier narrativ, was in ... und alle Feuer verlöschen auf Erden als ideologisches Statement unwidersprochene Position ist: ''Die forschenden Wissenschaftler begnügten sich[...] damit, in Gedanken achtungsvoll ihren Hut zu ziehen, aber die breite Masse der Professoren und Dozenten, die kraft ihrer Gedächtnisleistung akademische Grade erworben haben und vom braven Wiederkäuen dessen leben, was sie sich selbst nur angelesen haben, liefert ausgiebig Zeitungsartikel und Aufsätze aller Art. Da sie mangels eig~ner Forschung nichts von der Sache verstehen, hindert sie nichts, sehr ausführlich über Möglichkeit und Unmöglichkeit, wie über Nutz und Unnutz des Permostaten zu schreiben. Sie liefern zahllose Beiträge zur Unzulänglichkeit einer professoralen Kaste, die sich seit Jahrhunderten bemüht, mit derartigen Beiträgen die Wissenschaft um ihren guten Ruf zu bringen." (Holk 1948a: 105) Wissensvermittlung in ihrer positiven Variante ist dagegen zweifach verschoben. Zuständig hierfür ist der Reporter. 8 Dadurch ist sie zum einen auf der Ebene der Institution verschoben, die für die Vermittlung zuständig ist. Gesetzt ist, daß der Reporter als Repräsentant der Öffentlichkeit Garant für die 'Ordentlichkeit' und Integrität der Forschung ist. Zum anderen ist sie dadurch auf der Ebene des Texttyps verschoben, in dem sie formuliert ist. Die Reporter sind jeweils Exklusivberichterstatter, die direkt vor Ort dabei sind und diesen Erfahrungshorizont in das Vermitteln mit einbringen können - und sollen. Das Abenteuer, das der Forschung inhärent ist, kann so mitvermittelt werden. Und welcher Texttyp wäre da besser geeignet als der literarische, freilich nicht als literarische Fiktion, sondern als Medium des Realismus, der Authentizität, so wird in Alarm aus Atomville selbstreflexiv am Ende des Romans konzipiert: "Sie nehmen an der nächsten Fahrt des 'Seedrachen' als Reporter teil. Schlagen Sie Ihrem Mister Gould eine spannende Reihe von Originalberichten vor, oder noch besser, schreiben Sie Atomforschung und atomare Bedrohung 89 Ihre Erlebnisse, angefangen von der Begegnung mit Noah bis zu diesem Augenblick, als Roman und bieten Sie das Manuskript Mister Gould an. Es wäre nicht das erstemal, daß die Wirklichkeit bessere Romane schreibt als die lebhafteste Phantasie! " (Dolezal 1956: 167) 2.5 Insofern die Probleme personalisiert sind, können die Texte eine Bewertungs- und Orientierungshilfe anbieten, von der sie auch systematisch Gebrauch machen: die Physiognomik. Ein schlechter Charakter bildet sich äußerlich ab, wer häßlich ist und/ oder körperliche Gebrechen hat, dem ist nicht zu trauen. So ist es der bucklige Hugh Dalton, der sich in ... und alle Feuer verlöschen auf Erden als der Permostat-Mörder entpuppt; über den Erpresser Ben Small heißt es ebenda, er "hat in seinem verschlagenen, spitzen Gesicht manches von einer Ratte an sich" (Holk 1948a: 171). Und Professor Marin, der 'Mad scientist', wird wie folgt beschrieben: "Er hat sehr lange, schmale Hände, deren Haut noch eine Spur von Feuchtigkeit trägt. Sein Gesicht ist helle und weiß, sein Haar fuchsig rot, fuchsig rot auch sein SchnlllTbart und sein etwas kümmerlicher Spitzbart. In den Augen liegt eine durchdringende Schärfe. An den Mundwinkeln knittern sich scharfe Falten, deren unruhige Bewegungen seinen Worten höhnische Nuancen verleihen. Insgesamtmacht ernicht den Eindruck eines gemütlichen Gesprächspartners. Es liegt etwas Durchtriebenes und Hinterhältiges in seinem Gesicht, etwas von der Schläue eines Fuchses und sogar einiges von der hämischen Niedertracht eines Teufels. Ein gefährlicher Rotkopf! " (Ebd.: 28) Aber auch Schönheit ist bei einem Mann letztlich immer? : eichen eines schlechten Charakters, zumal wenn er sprachlich mit dem Lexem 'schön' beschrieben wird. Über Buresch, Mitverantwortlicher des Antarktis-Projektes und zusätzlich Verräter, heißt es: "[...] ein Herr, ungefähr in den SO-Jahren mit graumelierten Schläfen [...] Man hätte diesen Mann als schön bezeichnen können, wenn nicht irgend etwas lauerndes in seinem Blick die an sich sympathischen Gesichtszüge gestört hätte" (Brugg 1950: 167) Und wenn Ernest Madura in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... demgemäß als "ein schöner Mann von südländischem Typ" (Holk 1948b: 92) eingeführt wird, ist damit dessen verbrecherisches Potential antizipiert. Er ist der Attentäter auf Amerika. Schönheit bei einem Mann ist funktionalisiert als Symbol eines Defizits auf der moralischen Ebene. 9 Im Denken herrschen also Modelle des Ausgleichs und der Ausgewogenheit vor, in Anwendung des demokratischen Prinzips der Gleichheit. Eine Störung ist denn auch immer mit einem Anschlag gegen solche Prinzipien verbunden. 2.6 Ausgelöst wird das zu bewältigende Problem nie systembedingt, sondern immer aus individuell-privatistischen Interessen. Gekoppelt und konkretisiert wird das Problem dabei gerne mit der Kategorie des Experiments, das als Lexem negativ konnotiert ist, insofern nur diejenigen Forschungen als Experiment bezeichnet werden, die dann auch regelmäßig schiefgehen, sich verselbständigen und negative Auswirkungen haben. Ein geglücktes Experiment ist in dieser Semantik ein Widerspruch in sich. 10 Wenn es wie in Alarm aus Atomville heißt: "Greifen Sie, Herr Kollege, nicht in das Experiment ein. Ich habe es vollkommen in meiner Hand und werde es abbrechen, sobald ich es für notwendig halte" (Dolezal 1956: 93), dann ist dies bereits Indiz dafür, daß es selbstverständlich doch eskalieren wird. 11 90 HansKrah 2.7 In den Texten dominiert bei der Lösung der Probleme ein Verursacherprinzip. D.h., die Verantwortlichen werden zur Rechenschaft gezogen, und zwar bereits aufgrund eines Theodizee-Prinzips der Weltordnung, nicht als menschlich-gesellschaftliche Aktion: Die selbstverursachte Katastrophe wendet sich gegen den Verursacher selbst. Verantwortliche trifft die Katastrophe zumeist als erste oder als letzte. Es trifft sie als erste, im engeren Sinn als Theodizee, wenn sie direkt das Experiment zu verantworten haben, direkt aus egoistischen Gründen für die Katastrophe verantwortlich sind. So exemplarisch die Finanziers Goudsmith und Carter aus Attentat auf Universum und Helium, die die von ihnen finanzierten Experimente mit dem Tode bezahlen. Die letzten Momente von Goudsmith werden wie folgt geschildert: "Lewis Goudsmith gehört zu den wenigen, die die Rakete starten sehen - und das ist zugleich das letzte, was seine Augen zu sehen bekommen. Lewis Gouldsmith stirbt als erstes Opfer des Starts. [...] Gierig und atemlos starrt er auf den hochziehenden Spuk. Da packtihn plötzlich ein furchtbarer Luftwirbel, reißt ihn herum und stößt ihn ins Wasser hinein. Sein Schrei verhallt im wilden Fauchen des Wirbels [...] Dann hebt ihn eine mächtige Brandungswelle hoch, schleudert ihn gegen die Kaimauer und zerschmettert ihm die Glieder" (Holk 1955: 167) Carter in Helium hat es etwas besser; er erleidet angesichts des mißglückten Experiments (nur) einen Herzschlag. Solche narrative Sanktion trifft auch die Ingenieure Parisi und Buresch in Raketenfahrt in die Urzeit, sie trifft Rudolf Davertshofen in Die Erde brennt, sie trifft, in etwas abgeschwächter Form, Congrave senior in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... und Anthony Dalton in ... und alle Feuer verlfischen auf Erden. Verantwortliche sterben als letzte, wenn sie nur indirekt für die Katastrophe verantwortlich sind, wenn sie, ohne etwas verschulden zu wollen, aus besten Wissen und Gewissen heraus gehandelt zu haben glauben. Sie sterben dann nicht als Sanktion, sondern als Sühne, Wiedergutmachung und Opfer, und damit zumeist gleichzeitig auch als Weltretter. So Karl Davenport in Die Erde bennt und insbesondere James Curron und Martin Kerckhoff in Attentat aiifUniversum. Eine solche indirekte Schuld wird auch dem zugewiesen bzw. weisen sich selbst diejenigen zu, die an sich nichts mit dem Experiment zu tun haben, die aber aus systematischen Gründen involviert sind: Wissenschaftler zu sein verpflichtet in den Texten immer zu einer Art Kollektivschuld, da sie, so die zu rekonstruierende Logik, zu denen gehören, die die Geschehnisse erst ermöglicht haben und dementsprechend hätten verhindern müssen. Für Dr. Friedrich Nathon, eindeutig positive und moralisch integre Figur des Romans Helium, wird dies narrativ ausgespielt. An Bord des Beobachterschiffes Erinnya lehnt er eine Flucht in einem der Rettungsboote ab, mit der Begründung: "Vielleicht habe ichhiernoch eine -Aufgabe" (Khuon 1949: 234). Diese Aufgabe, seine "Pflicht" (ebd.: 240), wie er sie auch nennt, sein "heimlich gefaßte[s] Ziel" (ebd.: 246), besteht darin, Dr. Cziensky das Wissen zu entlocken, wie der drohende Weltuntergang noch abgewendet werden kann-was ihm auch gelingt. 12 2.8 Bei der Lösung des Problems bzw. in der Gesamtnarration zu erkennen ist ein 'Sankt- Florians-Prinzip '. Die Perspektive ist zumeist auf die Abwendung des eigenen Schadens gerichtet, bzw. ein Problem wird nur dann virulent, wenn es ein eigener Schaden werden könnte. Es gibt kein globales Denken per se. Es besser zu wissen und sich selbst retten zu können, das genügt für das Wohlbefinden. So weiß in Raketenfahrt in die Urzeit Prof. Lundholm von vornherein um die Gefährlichkeit und die Konsequenzen der Enteisung der Antarktis. 13 Besonders engagiert ist er allerdings nicht, dieses Projekt zu verhindern. Er Atomforschung und ato~re Bedrohung 91 schickt ein Telegramm mit dem Inhalt: "warnen vor unüberlegten handlungen stop professor lundholm stop" (Brugg 1950: 165), viel mehr insistiert er nicht und läßt die Welt in ihr Unglück rennen. Sein eigenes Projekt ist wichtiger, geht ihn damit ja auch das Problem der Welt weniger an: ''Ich bin der Meinung, die ganze Angelegenheit doch der Weltöffentlichkeit zu übergeben. Leider haben wir momentan nicht genügend Zeit dazu, denn unser Flug auf den Mars steht bevor." (Ebd.: 201) Zurück vom Mars, ist die Welt abgesoffen, aber das scheint kein besonderer Schock für Lundholm und seine Crew zu sein; diese können ja zurück zum venusianischen Ur-Paradies. In Alarm aus Atomville wird im Philippinengraben von positiver Seite eine Testbombe gezündet (deren Sinn und Nutzen unerwähnt bleibt) und dabei ein Tsunami ausgelöst. Dieser richtet eine deutliche Verwüstung auf den Philippinen an, Manila wird zerstört. Doch eine Reflexion darüber findet weder vonseiten der Verantwortlichen noch des Textes als Ganzen statt. Probleme bereitet diese lokale Katastrophe nur insofern, als das Hotel von Professor Ordaz eine Ruine ist und das Problem entsteht, wo man denn nun zu Abend essen soll. Es bleibt aus weißer Sicht eine nette Anekdote, über die man später erzählen kann. Auch in Die Erde brennt ist es nicht die ganze Erde, die brennt, sondern 'nur' Rußland (was schaden da schon 1000 km Verwüstung). Und in ... und alle Feuer verlöschen auf Erden überlagert das eigene Projekt, die Flutung des Kongobeckens, sämtliche Gedanken an etwaige Folgen. Daß dieses Projekt am Ende gestoppt wird und hier ansatzweise darüber reflektiert wird, liegt nicht an einer prinzipiellen Einsicht, sondern verdankt sich der Verdeutlichung zweier Paradigmen (Stichwort 'Begrenzung' und 'Raumveränderung', siehe unten), für die es argumentativ funktionalisiert ist. 3. Auswertung II: Atomdiskurs, Technik- und Wissenschaftsdiskurs und deren Konstituenten Sosehr die atomare Verhandlung in den Texten an die Narration gekoppelt ist, sosehr ist sie darüber hinaus thematisch an einen Technik- und Wissenschaftsdiskurs gebunden. Dabei kann folgendes postuliert werden: 3.1 Auch wenn es bei den in den Texten vorgeführten Forschungen nicht um einen atomaren Kontext zu gehen scheint, so ist ein solcher als Hintergrunddiskurs in den Texten dennoch präsent. Die Auseinandersetzung mit 'nicht-realen' Techniken bildet eine Verhandlung des neuen Forschungsgegenstandes und dessen Problematiken mit ab. Wenn in Attentat auf Universum der Treibstoff der ersten Rakete "Plutonit" ist und sich somit sprachlich als aus den Bestandteilen 'Plutonium' und 'Dynamit' zusammengesetzt deuten läßt, wird mit Plutonium und der ungeheuren Energie, die frei wird, eindeutig auf einen atomaren Kontext referiert. So heißt es denn auch, daß die "Rakete wie eine Bombe" (Holk 1955: 56) wirkt. In ... alle Feuer verlöschen auf Erden ist die explizite Diskussion, daß der Permostat Kohle und Öl ersetzen wird und verzichtbar werden läßt ("damit macht er die Welt von Kohle und Öl unabhängig"; Holk 1948a: lOlf.), zu deutlich, um über diese funktionale Äquivalenz den Permostaten nicht zeichenhaft für atomare Energien zu lesen (die darüber hinaus ja ähnlich wie ein Perpetuum mobile erscheinen). 14 Zudem wird in den pseudowissenschaftlichen 92 HansKrah Erklärungen über die Bestandteile des Permostaten mit Begriffen wie "Halbwertszeit" (ebd.: 45) das Begriffsfeld des atomaren Diskurses benutzt. Mit diesen Befunden korreliert die These, daß der Atomdiskurs kein eigenständiger ist, sondern auf zweifache Weise ein abhängiger. Zum einen ist er in den Diskurs um Technik, Forschung und Wissenschaft im allgemeinen integriert und dadurch organisiert. Er ist damit, wenn überhaupt, ein Problem der Technik bzw. von deren Anwendung, kein per se politisches, moralisches, ethisches -oder atomares. Zum anderen wird er von anderen Leitdifferenzen überlagert: Nicht die Differenz 'Atomforschung nicht-atomare Forschung' dominiert das Denken, sondern dieses regelt sich nach anderen Konstituenten, die quer zu einer solchen Klassifizierung liegen. Im folgenden möchte ich einige dieser zentralen Konstituenten aufzeigen und das spezifische Modell von Technik und dessen grundlegenden Prämissen vorführen. 3.2 Technik kommt prinzipiell ein Status des 'Außen-vor-Seins' zu, der nicht mit anderen Lebensbereichen vernetzt, sondern autonom und unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen ist. Er ist kein kulturell-historisch gewachsener und nicht bedingt durch politischsoziale Konstellationen, sondern Wahrheit pur. Technikist Naturrecht, ist die fleischgewordene bzw. materialisierte Aufklärung. So kann in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... argumentiert und geantwortet werden: '" Alle diese Kernspaltungen, in die sich die Atomphysik heute verbissen hat, sind nicht nur gefährlich, sondern auch überflüssig. Der Kraftbedarf der Welt kann mühelos aus Energien heraus gedeckt werden, die uns die Atome auch ohne brutale Eingriffe in die Kernstruktur liefern.' 'Sie sind Pazifist? ' 'Techniker. Und die Aufgabe der Technik liegt schließlich darin, einen größten Nutzeffekt mit geringsten Mitteln zu erzielen."' (Holk 1948b: 40) 3.3 Wie aus dem obigen Zitat auch hervorgeht, ist Technik ein Nutzenaspekt inhärent. Sie dient der Menschheit und ist für diese anzuwenden, wobei nicht differenziert wird, wer ~ese Menschheit konkret sein soll - und wie dieser Nutzen konkret aussieht. "ich möchte diesen Permostaten anwenden, ihn für die Wissenschaft und für die Technik auswerten[...] Eine Erfindung ist doch auf jeden Fall nicht dazu da, um in der Hosentasche herumgetragen zu werden. Sie muß in eine technisch und wirtschaftlich verwertbare Form gebracht und in den Dienst der Menschen gestellt werden" (Holk 1948a: 42f.). ''Die Arbeiten in Atomville gehen weiter, wir haben ungeheuer viel zu forschen und zu gewinnen. Es soll aber alles nur zum Glücke der Menschheit und jedes einzelnen von uns sein" (Dolezal 1956: 167). Gerade dieser Aspekt der programmatischen Setzung verweist in seiner Generalisierung und Entdifferenzierung auf ein utopisches Moment der Konzeption. 3.4 Damit Technik nützen kann, müssen allerdings einige Merkmale erfüllt sein. 'Gute' Technik ist vor allen Dingen an dem Prinzip der Einfachheit zu erkennen. Für Maschinen, Apparaturen sowie deren Grundlagen und deren Anwendung gilt konstitutiv dieses eine Kriterium. Explizieren läßt sich dies anhand des Atommotors in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... Hier symbolisiert die Erfindung des Atommotors das Glück der Menschheit Atomforschung und atomare Bedrohung 93 schlechthin, für dessen Realisierung bereits Jahre umsonst geforscht wurde. Der Protagonist ist nun derjenige, dem diese Erfindung glückt. Zunächst doziert er, als er das Funktionsprinzip seines Motors darlegen soll, seitenlang und ausführlich grundlegendes 'Wissen'. Um die spezifische Art der Einbeziehung von Wissenselementen an einem Beispiel aufzuzeigen, sei ein Ausschnitt hiervon wiedergegeben: "Sie wissen vermutlich bereits, daß ein Atom aus dem Atomkern und den umkreisenden Elektronen besteht, der Atomkern wiederum aus Protonen und Neutronen. Hinter diesen Bezeichnungen stehen keine Körper, sondern Energieballungen besonderer Zustandsform. [...] Ein Proton z. B. ist also keinesfalls ein letztes, formloses Elementarteilchen, sondern ein verwickelter Energiekomplex bestimmter Prägung, Eigenart und Wirkung. Das konnte die Forschung noch feststellen. Es dürfte ihr allerdings unmöglich sein, noch weiter einzudringen, da die Denk- und Forschungsmöglichkeiten im Innern des Atoms ihre innerste Grenze finden. Das besagte bereits die Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs. Wir müssen uns damit abfinden, mit Energiekomplexen zu rechnen, die in unbekannt bleibenden Strukturen aus unbekannt bleibenden Gesetzmäßigkeiten heraus existieren und wirken aus dem Unfaßbaren, also aus Gott heraus, wenn man will. [...] Die stärksten Wirkungen wurden durch Angriffe auf den Kern selbst ausgelöst und die Atomphysik der letzten Jahrzehnte war denn auch praktisch fast ausschließlich eine Kernphysik. Ihr bedeutendstes Ergebnis bestand darin, daß es gelang, den Urankern zur Spaltung zu bringen und den Zerfall in Kettenreaktionen von einem Uranatom zum anderen lawinenartig fortschreiten zu lassen zu einer Massenexplosion. [...] Diese Atombombe ist das Musterbeispiel eines wissenschaftlichen Kurzschlusses. Sie hat alle anderen Forschungsmöglichkeiten weitgehend blockiert, weil man meinte, nur über die Atombombe zum Atommotor kommen zu können. [...] Man hat berechnet, daß man mit der Enetgie eines Ziegelsteines eine Riesenstadt wie New York oder ein Land wie die Schweiz ein Jahr lang mit voller Energie versorgen kann. Die Rechnung ist bescheiden, aber sie zeigt immerhin, daß keine Notwendigkeit vorliegt, die atomare Substanz der Welt in nennenswertem Maße anzugreifen oder Katastrophen zu beschwören." (Holk 1948b: 37ff.) Auf Kernspaltung wird verzichtet (ein Befund, der noch inteipretiert werden kann). Als Resümee seines Prinzips heißt es dann statt dessen: "[... ] praktisch läuft es daraufhinaus, daß sie einfach [Herv. H. K.] durch Sonnenbestrahlung gewisser Isotopen Atomenergie freimachen wollen" (ebd.: 42). Dieses Prinzip der Einfachheit wird in der Folge explizit diskutiert, wodurch gerade die Relevanz dieses Kriteriums als das entscheidende verdeutlicht wird ('"Das erscheint so einfach, daß[ ...]' - 'Einfachheit ist kein Gegenargument. Denken Sie an den Eisenstab"' ebd.: 43). 15 Aus diesen einfachen Prinzipien heraus resultiert dann auch, daß sich die entsprechenden Apparaturen durch Schlichtheit auszeichnen. Der Atommotor wird wie folgt beschrieben: ''Die Kommision betrachtet aufmerksam das plumpe, dreieckige Gestell, das mit Abstand unter die etwas überstehende Achse des Generators greift. An ihm ist eine Platte befestigt, die etwa einen halben Meter im Quadrat mißt, aber nur zehn Zentimeter stark ist. Sie steht senkrecht und ist offenbar auf die Generatorenachse zentriert worden. An der Außenseite ihres Mittelfeldes haftet ein armstarker Zylinder von etwa zwanzig Zentimetern Länge, aus dem zwei kupferne Kabelanschlüsse herausragen,. An diesen hängen Kupferkabel, die zum Generator VIführen. Die schmale Oberkante des grausilbrigen Kastens trägt im mittleren Drittel genutete Führungsleisten. Viel mehr ist nicht zu sehen." (Ebd.: 123) "Viel mehr ist nicht zu sehen", ähnlich wird in .. . und alle Feuer verlöschen auf Erden die Beschreibung des Permostats zusammengefaßt. Dieser besteht nur aus drei Teilen: 94 HansKrah "Zwei Eihälften, an der Ringseite um einige Millimeter ausgehöhlt, dazwischen der Ring. Dieser faßt zwei drehbare Scheiben mit gemeinsamem Mittelpunkt. Um diesen herum sitzen winzige Blöcke, fest mit den Scheiben verbunden. Das ist alles" (Holk 1948a: 39). "Das ist alles" verweist wiederum auf die einfache Konstruktion. Zumeist muß das Prinzip der Einfachheit nicht rekonstruiert werden, sondern ist als Lexem in den Texten vorgegeben. In Attentat auf Universum hat die zweite Rakete, mit deren Hilfe die Sonne wieder ins Lot gebracht werden soll, die Form einer Kugel. Wie dieses Beispiel zeigt, scheint die Grundprämisse zu sein, daß solche Technik eben deshalb 'unproblematisch' ist, da sie quasi nicht vom Menschen erdacht ist, sondern in der Natur vorgefunden wird, sich auf vorgegebene, natürliche Formen beziehen läßt. Aber nicht nur abgeleitet aus dieser Form läßt sich in Attentat auf die Einfachheit schließen. Zudem heißt es explizit: "die Kugel arbeitet nach einfachsten Prinzipien" (Holk 1955: 248). Analog heißt es inAlarm aus Atomville über das Atom-U-Boot: "Auf dem 'Seedrachen' wird der Sauerstoff einfach durch Elektrolyse aus dem Meerwasser gewonnen'' (Dolezal 1956: 105). Mit dem Prinzip der Einfachheit wird als inverses Denkkonstrukt das der Komplexität aufgerufen. Wenn es bei der Beschreibung einer technischen Apparatur heißt, "Er öffnete eine Art kleiner Tür in diesen Apparaten, aus denen eine verwirrende Fülle von technischen Einzelheiten hervorblitzte" (ebd: 83), dann ist präsupponiert, daß dies eine Technik ist, die mit Vorsicht zu genießen ist. Komplizierte Technik bringt Schaden oder ist, wie das obige Beispiel aus Alarm in Atomville, im Kontext einer anderen Abweichung als Abweichungsmarkierung funktionalisiert (nur in einem spezifischen Anwendungsfall kann Komplexität positiv funktionalisiert sein, ich komme darauf zurück). 3.5 Wie am Beispiel des Atommotors zu sehen ist, da nicht der Kern gespalten werden muß und nur ein Teil der maximal vorhandenen Atomkraft genutzt wird, sind gute Technik und wissenschaftliche Forschung allgemein programmatisch begrenzt. Begrenzungen sind positiv konnotiert, Grenzen werden gesetzt, aus einer universellen inneren Einsicht heraus, sind unhinterfragbar, kein Gegenstand der Diskussion, Conditio sine qua non: Die begrenzte Nutzung der Atome reicht, eine andere führt zur Katastrophe. Letztlich findet sich in jedem der Texte (mindestens) eine Stelle, in der diese allgemeine Grenze explizit diskursiv beschworen wird. Einige Beispiele: "Mochte der menschliche Erfindergeist immer tiefer in die Geheimnisse der Natur eindringen, den letzten Schleier konnte er doch nie lüften" (Brugg 1950: 229); "An den Grundfesten der Naturgesetze zu rütteln war unmöglich" (ebd.: 64); "ein Eingriff in jene Bereiche, die allein dem Schöpfer vorbehalten sind, [könnte] nur einen Sturz aus großer Höhe bedeuten" (Dolezal 1956: 166); ''können bei der entstehenden Energielawine nicht irgendwelche Grenzen überschritten werden, hinter denen unbekannte, gänzlich neue Gegebenheiten herrschen? " (Khuon 1949: 107); "Zweiholz [...]hielt es für wahrscheinlich, daß mit der Wasserstoff-Helium-Bombe die 'Dämme der Natur' brechen würden" (ebd.: 46); "Man sollte nie über die Grenzen hinausgehen, die von der Natur gezogen wurden" (Holk 1948a: 56). Atomforschung und atomare Bedrohung 95 In Attentat auf Universum läßt sich die Adaption der Hohlwelttheorie in diesem Sinne plausibilisieren, handelt es sich dadurch doch um ein ''begrenztes Universum" (Holk 1955: 231). Dieses konstitutive Merkmal der Begrenzung ist insofern ein signifikanter und zentraler Befund, stellt es doch einen Unterschied zur Konzeption von Technik früher dar: Bereits die Explizitheit, mit der auf die Positivität von Grenzen und die apokalyptischen Gefahren, die jenseits lauem, verwiesen wird, verweist darauf, daß es sich hierbei um ein neues Konzept handelt. Während vor 1945, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Tendenz zum grenzenlosen Fortschritt geht, den der Mensch aus sich heraus zu bewerkstelligen und ideologisch als Ziel zu verfolgen hat, 16 so gilt nun, daß es eine nicht vom Menschen gesetzte Grenze gibt, von einer Instanz darüber hinaus, sei es von der Natur oder von Gott; eine Instanz, die in ihrer Autorität nicht angezweifelt wird. Worin diese Instanz konkret besteht, ist unterschiedlich und sekundär. Zentral ist sie primär als strukturelle Größe in ihrer prinzipiellen Existenz, unabhängig von einer konkreten Füllung. 3.6 Konkret abgehandelt, als narrativer Extrempunkt, wird eine solche Begrenzung mit Versuchen am Menschen, wie sie sich gekoppelt mit dem Stereotyp des 'Mad scientist' finden. So etwa mit Professor Omen und seinen Experimenten mit Homo Xl in Alarm aus Atomville: ''Ich werde Sie zu dem größten Genie machen, das je die Menschheit gesehen hat[ ...] Sie sollen das denken, was noch kein Mensch gedacht hat, weil die Natur keinen Übermenschen hervorbringt. Ich aber will einen aus Ihnen machen. [...] Ich werde Sie bestrahlen, Thr Gehirn wird schöpferisch werden" (Dolezal 1956: 69f.). In ... und alle Feuer verlöschen auf Erden heißt es analog über und von Professor Marin: "Die Thymusdrüse kann durch gewisse Strahlen mein Patentangeregt werden, [...] Ergebnis: Der Mensch wächst weiter. Er wächst über das vorgesehene Maß hinaus, wird eine Doppelportion Mensch, ein Übermensch diesseits undjenseits von Nietzsche. Jedem seine Körpergröße nach Wunsch, Beruf, Lebensstellung und Mode! " (Holk 1948a: 56) "Der Übermensch, der die Welt verändert, der Wundermensch des Atomzeitalters" (Dolezal 1956: 70), Experimente am Menschen auf diese Ebene werden die Grenzen der Forschung, wenn sie nicht nur ideologisch diskursiv gesetzt sind, sondern narrativ verhandelt werden, verlagert. Sie sind damit zum einen ein Nebenschauplatz (im Vergleich mit der atomaren Bedrohung durch Atombomben), auch einer der Plots der Texte, und sie sind zum anderen als Verweis auf Genetik, Eugenik, Humanmedizin auch einer, der Bezüge zur pervertierten Forschung der unmittelbaren kulturellen Vergangenheit evoziert und, so meine These, dies durchaus bewußtermaßen macht. 17 3.7 Gute Technik, so kann wiederum dagegengehalten werden, macht mobil. Dies, ihre Mobilitätsgewährleistung, dürfte ihr wesentliches Charakteristikum und zentrales Differenzkriterium sein. 18 Forschung ist nur legitim, wenn sie keine substantiellen Raumveränderungen bedingt, sondern sich mit den gegebenen Umständen, d.h. den natürlichen, räumlichen Rahmenbedingungen abfindet. Diese dürfen nicht verbessert werden. Solche .Positionen werden rekurrent als Hybris, als Anmaßung, als Gottgleichheit, als zu groß für Menschen, gesetzt. 19 Was statt dessen mit Hilfe der Technik gemacht werden darf und gemacht werden 96 HansKrah soll, ist, 20 sich innerhalb dieses gegebenen Rahmens perlekt einzurichten, diese Gegebenheiten bis ins Letzte zu erkunden: ·den Raum zu bereisen, ihn zugänglich zu machen und damit symbolisch über den Gegebenheiten zu stehen, da sie nicht beschränken. Durch Mobilität wird die konstitutive Begrenzung sekundär wieder aufgehoben, das ist ihre spezifische Leistung·. Die Fahrten mit dem Atom-U-Boot unter den Nordpol2 1 und in die tiefsten Tiefen des Meeres in Alarm in Atomville dienen nichts anderem als der Dokumentation dieser Fähigkeit und repräsentieren dieses Denken par excellence. Mobilität ist die Leitdifferenz, die nicht zwischen Atom- und anderer Technik unterscheidet; eine solche zusätzliche Unterscheidung kann korreliert sein, wie in Raketenfahrt in die Urzeit, wo sich nicht-atomare Raumfahrt und Atomexperimente gegenüberstehen, sie ist aber nicht zwingend: In Alarm aus Atomville ist das Atom-U-Boot als Gegenprogramm zu anderer, verwerllicher Forschung innerhalb der Atomforschung situiert und differenziert hier die 'gute' von der 'schlechten'. 22 3.8 Technik und Forschung sind männliche Domänen. Im positiven, unproblematischen Fall dient sie der Mannwerdung und ist zumeist nicht explizit thematisiert. In Raketenfahrt in die Urzeit kann dies exemplarisch nachgezeichnet werden: Mit den beiden Wissenschaftlern Prof. Lundholm und Dr. Sauerland ist auch der junge Reporter Fred Rauch mit an Bord der Expedition zur Venus, Als sie von dort nach einigen Abenteuern wieder zur Erde zurückfliegen wollen, bleibt Fred allein und freiwillig auf der Venus zurück. In diesem, durch die technischen Möglichkeiten der Raumfahrt erst konstituierten, 'phantastischen' Raum außerhalb der als negativ empfundenen· Gesellschaft kann sich nun der Prozeß der Mannwerdung vollziehen. Als die beiden Wissenschaftler, nun in Begleitung einer Reporterin, einige Jahre später bei ihrem Flug zum Mars Fred auf der Venus besuchen, zeigt sich, welche Wandlung mit diesem vorgegangen ist, und es zeigt sich, was ein deutscher Jungmann zu leisten imstande ist: ''Wie erstaunten sie aber, als sie ihre ehemalige Behausung wiederfanden. Der Garten, welchen sie vor Jahren angelegt hatten, war vergrößert worden. Fein säuberlich wuchsen auf den Beeten allerhand Pflanzen [...] Die Wohnung selbst war durch eine Tür verschlossen [...] im Inneren der Behausung wurden sie auch angenehm überrascht. Ueberall herrschte Sauberkeit. [ ...]An dem, was Fred während ihrer Abwesenheit geschaffen hatte, konnten sie sich nicht genug satt sehen, besonders Miß Dean staunte" (Brugg 1950: 215); "Aus dem jungen, schlanken Reporter des 'Weltbild' war ein kraftstrotzender Riese mit einem mächtigen Barte geworden. Seine Kleidung bestand aus einem aus Fasern gewebten Lendenschurze, der seine gut entwickelte, kräftige Muskulatur, sowie den von der Sonne dunkelbraungebrannten Körper sehen ließ.[...] Er[ ...] lachte über das ganze Gesicht, wobei er sein blendend entwickeltes Gebiß sehen ließ" (ebd.: 217). Fred ist ein Alleskönner, ein Siegfried-Typ, ist zum hellen, strahlenden Helden mutiert. 23 Seine männlichen Qualitäten (die er später mit Miß Dean unter Beweis stellen darl, da die beiden im Adam-und-Eva-Modell dafür Sorge tragen, daß die Menschheit nicht ausstirbt und der Text trotz Vernichtung der Erde positiv enden kann) äußern sich zeichenhaft insbesondere durch eine Fähigkeit, die er sich zentral und im Text ausführlich dargestellt aneignet: Er lernt fliegen! Im Modell 'Geierwally' raubt er aus einem hoch und unwegsam gelegenen Hort unter Einsatz seines Lebens einen Jungflugsaurier, den er zum "lebendigen Flugzeug" (ebd.: 191) abrichteC Auch dieser Technikaspekt gehört zur Männlichkeit als Extrempunkt dazu. Atomforschung und atomare Bedrohung 97 Was dagegen passiert, wenn sich Frauen zu sehr und auf eine nicht-weibliche Weise für Technik interessieren, machen Helium und insbesondere Attentat auf Universum drastisch deutlich. 24 In Attentat auf Universum wirft sich Mady Goudsmith (man beachte den Vornamen 'mad-y') zum Kapitän des Raumschiffes auf, das ihr Vater finanziert hat, hört nicht auf Warnungen, startet eigenmächtig zum Mond und verursacht den Zusammenprall mit der Sonne, der den Beginn der globalen Katastrophe auslöst. Doch dies ist nicht Sanktion genug. Bevor sie stirbt, gehen mit ihr zwei Veränderungen einher, ihre physische Attraktivität und ihren mentalen Zustand betreffend: 25 "Auf den Gesichtern liegt noch tief eingefurcht die Verzerrung dieser Minuten. Bei Mady Goudsmith wirkt die Veränderung erschreckend. Vor dem Start war siejung und schön. Jetzt hat sie fast das Gesicht einer alten Frau. Nase und Wangenknochen springen scharf heraus. Auf der Haut liegen unregelmäßige rote Flecken wie Blutschwamm" (Holk 1955: 169); ''Mady Goudsmith reckt sich als Siegerin. Haha, jetzt führt sie allein die Rakete - und ihr allein wird aller Ruhm gehören. Beschleunigung! · Höhe! Dreitausend Kilometer über der Erde! Eine Irre tanzt im trommelnden Höllenreigen der kosmischen Strahlen[...]" (ebd.: 180f.). In die männliche Domäne der Technik einzudringen, wie dies in Helium auf der topographischen Ebene geschieht, wenn Florabelle Carter Dr. Cziensky in seinem Laboratorium, als er beim Zusammenbau seiner Bombe ist, unangemeldet und ungebeten 'besucht', ist auch gekoppelt damit, den männlich dominierten Raum der 'Sexualität' anzutasten. Technik und Sexualität substituieren sich. Interesse für Technik entspricht dem der Frau nicht zugestandenen und negativ bewerteten Interesse an einer aktiven, dem Mann gegenüber fordernden und an dessen Potenz interessierten Sexualität. Diese Sexualisierung der Technik (und letztlich ihre fatalen Folgen) läßt sich im Text auf der sprachlichen Ebene sehen, wenn Florabelle über ihren Besuch lapidar berichtet, "Ich habe mir seinen Zünder angesehen" (Khuon 1949: 108), oder die Situation selbst, als sie dies tut, wie folgt beschrieben wird: "Das Mädchen hatte den Mund um ein weniges geöffnet; es war ganz im Bann dieser verderbenbringenden Maschine" (ebd.: 93). 3.9 Forschung ist in den Texten immer an Generationen gebunden. Es stehen sich letztlich immer eine Vätergeneration und eine ebenso bereits erwachsene jüngere Generation gegenüber, wobei die Vätergeneration wörtlich zu nehmen ist. Mütter sind sämtlich absent (am deutlichsten in Attentat auf Universum, wo es drei Väter-Kinder-Beziehungen gibt, bei denen immer die Mutter fehlt). 26 Es zeigt sich (mit marginalen Ausnahmen) dabei die Tendenz der Texte, Parteinahme für die junge, die neue Generation zu ergreifen. Diese ist generell positiv bewertet. 27 Denn Jugend macht gut, was die Väter 'verbrochen' haben, auf diesen Nennerläßt sich die Botschaft der Texte bringen, am deutlichsten in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... Hier heißt es: ''Mein Vater trug die Schuld. Sein Großversuch hatte nicht zu einem Kraftwerk geführt, sondern zu einem Atombrand" (Holk 1948b: 85). Dementsprechend wird diese Schuld gesühnt, und zwar dadurch, daß der Sohn der Welt den Atommotor 'schenkt'. Wenn die Väter Einsicht zeigen, dann können auch sie selbst diese Sühne vornehmen, wie dies in Attentat auf Universum geschieht, wo sich die Väter gemein- 98 HansKrah sam ihrer Schuld versichern und sich gemeinsam für die Welt, repräsentiert im jungen Paar, ihren Kindern, opfern: "'Ich schuf die Pläne, und sie bauten die Rakete. Das ist unsere gemeinsame Schuld. Wir werden gemeinsam versuchen, sie zu tilgen"' (Holk 1955: 230). Ist die junge Generation mit einer Schuld beladen bzw. nicht eindeutig positiv, dann ist im Unterschied zur Vätergeneration das Prinzip der Läuterung favorisiert, ohne letalen Ausgang, sondern als Gewinner, wie in Alarm aus Atomville anhand Brien O'Briens und in ... und alle Feuer verlöschen auf Erden anhand Phearsons vorgeführt wird. Eingeübt werden diese dabei in das Prinzip der Beschränkung und der Rücksichtnahme auf andere, mit dem ihre ursprünglichen Pläne kollidieren. Hier ist narrativ-aktantiell das l'leue Dogma der Begrenzung inszeniert, wie es für die junge Generation zu gelten hat. 3.10 An diese Generationenorganisation schließt sich unmittelbar ein weiterer Aspekt von Technik an. Diese ist mit einem Schu/ ,d- und Verantwortungsdiskurs verknüpft. In allen Texten geht es zentral um eine Verhandlung der Kategorien 'Schuld' und 'Verantwortung'. Aus Attenat auf Universum seien noch einige prägnante Beispiele aufgeführt: "Wir sind alle schuldig, soweit Ahnungslosigkeit eine Schuld ist. Aber für unser Nichtwissen werden jene eintreten müssen, die uns etwas Falsches lehrten und uns hinderten, die Wahrheit zu erkennen" (ebd.: 202); "Keiner von euch ist persönlich daran schuld. Und doch sind wir alle schuldig, denn es gibt eine Gesamtschuld, die jeden von uns trifft" (ebd.: 239f.). Evident dürfte sein, gerade durch die Vernetzung mit den Generationen, daß sich dies als eine Verschiebung interpretieren läßt. Die eigene und eigentliche Verantwortung aus der unmittelbaren Vergangenheit der NS-Geschichte kann aufden Atomdiskurs verschoben werden, und es können hier, auf diesem neutralen Terrain, Positionen bezogen bzw. diskutiert werden. Eine zaghafte Art der Vergangenheitsbewältigung, für die der Atomdiskurs glänzend geeignet ist, ist er doch einer, der erstens eine ambivalente Bewertung zuläßt, zweitens nicht pauschal verurteilt werden kann, sondern hinsichtlich seiner Vor- und Nachteile abzuwägen ist, drittens gleichzeitig eine Zukunftsperspektive eröffnet und viertens dezidiert nicht in den Verantwortungsbereich der Deutschen fällt. 3.11 Über diese Rahmenprämissen hinaus ist Technik in den Texten optional national funktionalisierbar, in dem Sinne, daß auf diesem Terrain deutsche Befmdlichkeiten abgehandelt werden können. 28 Dies sei am Beispiel Raketenfahrt in die Urzeit etwas näher und ausführlicher skizziert. Hier gibt es auf der Ebene der Raumfahrt zu dem Unternehmen der Deutschen ein Konkurrenzunternehmen, das der Russen. Russen und Deutsche stellen im Text die einzigen Nationen dar, die über solche Forschungsprogramme verfügen. Bereits dies erscheint auffällig. Denn die Amerikaner, die die eigentlichen Träger solcher Programme im kulturellen Wissen der Zeit sind, sind vollständig ausgeblendet. Letztlich übernehmen die Deutschen den Platz der Amerikaner, so ist präsupponiert.w Doch die Verhandlung dieser 'positiven' Gegnerschaft ist marginal. Gegenfolie sind die Russen, deren Expedition und deren Charakterisierung denn in toto eine Opposition zu den Deutschen darstellt, wodurch sich deren Merkmale stilisieren und inszenieren lassen; die deutsche Seele, noch mitgenom~ men von einer unschönen Vergangenheit, kann so gesunden. Atomforschung und atomare Bedrohung 99 Während die Deutschen um.jubelt von einer "tausendköpfige[n] Menge auf dem Flugplatz in Neubiberg bei München" (Brugg 1950: 58) in aller Öffentlichkeit zur Venus starten, starten die beiden Russen Iwan Popoff und Fedor Michailowitsch heimlich von einem Leningrader Fabrikgelände aus, trotz Verbots von Kommissar Iwanowitsch. Eigentlich diesem Flug nicht gewachsen, gelangen sie nur durch Zufall zur Venus, wo sie als erstes von den Deutschen, die (selbstverständlich) schon hier sind und trotz widriger Technik durch eine menschliche Meisterleistung unbeschadet landen konnten, Hilfe einfordern. Die Deutschen sind trotz des Tons, in dem diese Bitte vorgetragen wird, (selbstverständlich) zur Hilfe bereit, wie dies Dr. Sauerland dem hier noch jungen Fred Rauch auseinandersetzt: "'Es ist unsere Pflicht zu helfen,' ermahnte ihn ernst Dr. Sauerland. 'Wir führen keinen Krieg, sondern sind Wissenschaftler. Allerdings war es von den Russen ein Leichtsinn, so ohne VorbereitmJg zu starten. So viel mir bekannt ist, sind sie ohne Einwilligung der Regierung abgeflogen, nur um uns zuvorzukommen.'" (Ebd.: 84) Zu dieser Hilfe kommt es aber nicht mehr. Die Russen machen sich, kaum auf der Venus, leichtsinnig, unvorbereitet und in planloser Abenteurerlust daran, die Venus zu erkunden. Sie entfernen sich von ihrer Rakete, ein plötzlicher Vulkanausbruch läßt einen Graben entstehen. Ergebnis: "Der Weg zur Rakete war versperrt" (ebd.: 94). Popoff nimmt Anlauf, überwindet den Graben und versucht, "ohne sich um seinen Kameraden zu kümmern" (ebd.), die Rakete zu starten. Soviel Unsolidarität wird bestraft, die Rakete samt Popoff verschwindet in einem Spalt. Der Überlebende Michailowitsch ist nur maximal drei Seiten lang zu bedauern, so allein und auf sich gestellt auf der Venus zu sein. Durch Zufall findet er die Deutschen. Diese haben ihre Expedition (selbstverständlich) planvoll und sorgfältig vorbereitet; eigentlich kann ihnen nichts passieren, wenn nicht der böse Russe wäre. Statt zu kooperieren, entpuppt er sich als genauso schändlich in seiner Gesinnung wie sein Kollege. Er raubt den Deutschen das Raumschiff: · "Ein bösartiges Lächeln glitt über sein Gesicht. 'Warum sollen die drei nicht hier bleiben und ich fliege allein zur Erde zurück. Wenn das glückt, bin ich ein gemachter Mann.'" (Ebd.: 104f.) Doch dies verursacht keine Panik bei den Deutschen. Die ausgegebene Parole lautet: sich mit den "gegebenen Tatsachen abfinden" (ebd.: 106). Schnell sind der leere Panzer einer Riesenschildkröte als Unterkunft gefunden und die typisch deutschen Werte auch auf der Venus etabliert: "'Dochjetzt möchte ich vorschlagen, unsere neue Behausung etwas wohnlich einzurichten.• Die drei betraten nun das Innere des Schildkrötenpanzers und fanden es ziemlich gemütlich; der Boden war mit Flugsand bedeckt und einige eidechsenartige Tiere verschwanden bei ihrem Eintritt blitzschnell ins Freie. Bald war aus riesigen Famwedeln ein Besen hergestellt und mit vereinten Kräften hatten sie in kurzer Zeit das Innere ihrer zukünftigen Behausung gesäubert" (ebd.: 107f.). Gemütlichkeit, Gemeinschaft, Effizienz, Sauberkeit, Ordnung, das sind wahre deutsche Tugenden. Und während Michailowitsch zwecks Ernährung unzivilisiert "gierig den Dotter, da er ja kein Feuer hatte, roh heraus[sog]" (ebd.: 99), ernähren sich die Deutschen zwar auch von Sauriereiern, allerdings auf kultivierte Weise: "An Hand einer Lupe, welche der Professor stets bei sich trug, wurde dürres Holz vor ihrer Wohnung entzündet und bald schmorten die Eier in dessen Glut" (ebd.: 108). 100 HansKrah Was den Deutschen zum deutschen Glück fehlt, ist schnell erkannt: natürlich ein deutscher Schäferhund. Damit kann die Venuswelt nun nicht aufwarten, aber dennoch fmdet sich auch dafür passabler Ersatz. Als Haustier bietet sich ein Saurier an, der, wie der Löwe in der Fabel, einen Stachel in der Pfote hat und die Deutschen mit "bittenden Augen" (ebd.: 110) auffordert, ihm diesen Dienst zu erweisen. Die Deutschen sind mannhaft genug dazu, der Saurier ist dankbar was die Russen nicht waren. Der Dachssaurier, "der sie freudig mit seinem stachelbewährten Schwanze wedelnd, begrüßte" (ebd.: 129), folgt den Deutschen wie ein Hund. Was ist aus Michailowitsch geworden? Die gerechte Weltordnung hat verhindert, daß sein Coup glückt. Diese gerechte Weltordnung äußert sich darin, daß der Russe Michailowitsch (selbstverständlich) mit der "komplizierte[n) Apparatur des Delphin" (ebd.: 112) nicht umgehen kann. Dies ist um so erstaunlicher, als zunächst von einer komplizierten Apparatur nicht die Rede war. Es gab einen Hebel, mit dem Professor Lundholm sehr einfach umgehen konnte. In dieser textuellen Umsemantisierung äußert sich die oben erwähnte positive Funktionalisierungsmöglichkeit von Komplexität. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Protagonisten ausdifferenzieren, lassen sich die elitären Helden, die mit komplizierter Technik wie selbstverständlich umgehen können, von den positiven Laien wie den negativen Gegenspielern unterscheiden. Hier konkret: Was einem Deutschen einfach vorkommt, ist für einen Russen ein unüberwindliches Hindernis. Michailowitsch muß wieder auf der Venus landen, verläßt das Raumschiff, wird von Flugsauriern ergriffen, die mit ihm in der Luft Katz und Maus spielen, und ersäuft dabei im Meer. Das Raumschiff bleibt einige Jahre unberührt und rostfrei im feuchtwarmen Dschungel der Venus stehen, bis es die Deutschen dann immer noch funktionsfähig wiederfinden und verwenden: deutsche Wertarbeit. 4. Populärwissenschaftliche Vermittlung: Skizze ihrer Verbreitung und Funktionalisierung Was steht an Wissen in der Zeit nun zur Verfügung? Ich komme zur populärwissenschaftlichen Vermittlung. Bevor in Kapitel 5 ein Text in seiner Argumentationsstruktur detailliert vorgestellt werden soll, seien einige Stichpunkte und Beobachtungen, das Korpus betreffend, skizziert. 4.1 Ein erster Befund ist, daß die Publikationen zmn Thema quantitativ durchaus beträchtlich sind. Trotz Hiroshima ist dabei generell und im allgemeinen keine Katastrophenmentalität zu verzeichnen, kein Bewußtsein von Gefahren. Die einzelnen Präsentationen drücken eher Zukunftsfreude aus. 4.2 Zu sehen ist eine spezifische Korrelation zur historischen, geographischen Situierung, zur Nachkriegszeit; ein Aspekt, der nicht nur die Historizität dieses Wissens an sich oder die Art seiner Vermittlung betrifft. Es geht nicht nur um die Vermittlung von Wissen über Atomkraft. 30 4.3 Dem Diskurs kommt als Trägerdiskurs die Leistung zu, als Signal eines Neubeginns zu fungieren. Der Atomdiskurs nach 1945 ist neu auch in dem Sinne, daß er nicht ideologisch Atomforschung und atomare Bedrohung 101 vorbelastet ist und demgemäß neu ideologisiert werden kann. Insbesondere kann er als Anfang inszeniert werden die Atombombe stellt ein Hilfsmittel beim Großreinemachen dar. Zu sehen ist dies z.B. an der Bildung und Neugründung von Buchreihen, bei denen dann fast regelmäßig der erste Band über Atomkraft handelt: So in der Reihe 'Wissenschaft für Jedermann' , 31 in 'Orionbücher. Eine allgemein verständliche naturwissenschaftlich-technische Schriftenreihe', 32 in 'Erforschte Welt'. 33 Als nicht vorbelasteter Gegenstand kann das Schreiben über Atom sogar den unverfänglichen Neubeginn der Literatur, des Schreibens allgemein ausdrücken, über die als grundlegend gesetzte Opposition von Wissenschaft vs. Ideologie. So wird im ersten dieser Bücher von 1946, herausgegeben von der "Neues Österreich" Zeitungs- und Verlagsgesellschaft m. b. H., explizit dieser Konnex erstellt. Es heißt: ''Nach sieben Jahren geistiger Verkümmerung und Abgeschlossenheit ist das neu entstandene demokratische Österreich wieder in die internationale Völkerfamilie eingegliedert. Nach sieben Jahren kultureller Verkrüppeiung und Verstümmelung ist dem österreichischen Verlag und dem österreichischen Schriftsteller der Weg in die große, weite Welt wieder freigemacht [...] (Thirring 1946: 158; unpag.)" 4.4 Zentrale und explizit thematische Aspekte sind Popularisierung und Verbreitung. Zumeist wird dies bereits im Titel deutlich: "Die Geschichte der Atombombe. Mit einer elementaren Einführung in die Atomphysik auf Grund der Originalliteratur gemeinverständlich dargestellt"; "Wissenschaft für Jedermann"; "Orionbücher. Eine allgemein verständliche naturwissenschaftlich-technische Schriftenreihe''; ''Atom-Lexikon.Allgemeinverständliche Erläuterungen der wichtigsten Fachausdrücke der Atomphysik"; "Atomphysik in gemeinverständlicher Darstellung". Wo dieser Aspekt nicht im Titel erscheint, wird er dennoch exzessiv praktiziert, wie in Hanslians "Vom Gaskampf zum Atomkrieg" oder in Gails "Der Griff nach dem Atom". 4.5 Der populärwissenschaftliche Diskurs ist wie die Literatur von der Grundtendenz ein evaluativ positiver Diskurs bezogen auf den Gegenstand. Es geht, so läßt sich schließen, primär um die Vermittlung von Wissen: Popularisierung, 'Demokratisierung', Zur- Verfügung-Stellen von Wissen erscheinen als Wert an sich. Es geht nicht darum, was mit diesem Wissen anzufangen wäre bzw. welche Konsequenzen diese Wissensinhalte haben/ haben könnten. Es geht dezidiert nicht um eine inhaltliche Aufklärung als Grundlage einer kritisch-reflexiven Diskussion um Technik und Atomforschung. Auch hier zeigt sich, daß der Atomdiskurs weniger ein eigener und eigentlicher Diskurs ist, sondern auf verschiedene und komplexe Weise ein Trägerdiskurs. 34 4.6 Der obige Punkt ist mit folgendem zu korrelieren: Der atomare Diskurs ist kein spezifisch, qualitativ anderer als andere Wissenschaftsdiskurse, sondern ist integriert in das oben konstatierte Reihenphänomen. 35 Interessant an diesen Reihen ist gerade, daß sie ein Sammelsurium an allem möglichen bieten und damit die einzelnen Themen homogenisieren, ihnen gleiche Relevanz zusprechen, ein präsupponiertes gleiches Interesse an ihnen. Neben wissenschaftlichen Themen im engeren Sinne finden sich sehr viele Themen zum Alltag - und es finden sich nicht nur dezidiert moderne Themen, sondern auch und vor allem Traditionelles ( "Mein Bienenbuch. Ein alter Imker berichtet über seine Beobachtungen, Erfahrungen und Erkenntnisse"). Gedeutet werden kann dies im Kontext eines 'Neuaufbaus des Alltags', als 102 HansKrah Orientierungshilfe für das, was sein 'darf', was als politisch-ideologisch unverfänglich gilt (vgl. die Auflistungen in Anm. 36). Signifikant ist denn, daß diese Reihen keine Themen zu Politik, Zeitgeschichte, jüngster Vergangenheit, Demokratie und ähnlichem anbieten. 36 4.7 Ein letzter Punkt sei expliziert, der aus dem Bisherigen hervorgeht. Der Diskurs ist substantiell gekoppelt an einen Anspruch, einem Auftrag vergleichbar, auf Erziehung, Bildung, Didaktik auch und gerade der Erwachsenen. Diese beanspruchte Zuständigkeit artikuliert sich z. B., wenn es für die Reihe 'Wissenschaft für Jedermann' programmatisch heißt: ''Rücksicht nehmen [...] vor allem auf die Art der Darstellung, die für die Erwachsenenbildung die geeignetste ist: Populärwissenschaft im besten Sinne des Wortes." (Thirring 1946: 153; unpag) Postuliert ist, daß diese Aufklärung einer politischen Bildung entspricht, eine solche zu ersetzen vermag. 37 5. Otto Willi Gail: Der Griff nach dem Atom. Es knistert im Gefüge der Welt (1947) - Argumentationsstruktur Als Beispiel eines solchen populärwissenschaftlichen Textes, seines durch ihn vermittelten Wissensfundus und seiner Argumentationsstrategien sei Otto Willi Gails Der Griffnach dem Atom. Es knistert im Gefüge der Welt von 1947, Band 1 der Buchreihe Erforschte Welt, ausführlicher vorgestellt. 38 5.1 Der ersten Auflage ist ein Vorwort vorangestellt (das in der dritten Auflage dann entfällt), das auch separiert als Werbeträger und Ankündigungstext (so z.B. im zweiten Band der Reihe Erforschte Welt) erscheint. Programmatisch heißt es: ''Dieses Buch ist kein Lehrbuch, sondern der Versuch, mit ganz unwissenschaftlichen Worten eine Welt zu schildern, die voller Wunder ist. [ ... ] Professor Dr. Otto Hahn hat den Physiker Dr. habil. Erich Bagge mit der kritischen Durchsicht des Textes vertraut und so dafür gesorgt, daß diese Schilderung der Wunderwelt des Atoms nicht der lockenden Versuchung erlag, die Bezirke des heute Erwiesenen zu verlassen" (Gail 1947: 6). Signifikant ist der doppelte Anspruch, einerseits auf der Ebene der Präsentation nicht-wissenschaftlich sein zu wollen und auf poetisch-rhetorische Mittel zurückzugreifen (wie dies dann durchaus auch geschieht), 39 andererseits mit Hilfe wissenschaftlicher Autoritäten, Hahn und Bagge, den Status dessen, was beschrieben wird, als verbürgtes Wissen und Wahrheit zu garantieren zu versuchen .. Was zum Kauf, zur Lektüre verleiten soll, ist primär Wissen, sind objektive Tatsachen; nach diesen besteht Bedarf, so ist zu schließen. Und die 'frischeste' Ware ist die mit dem Siegel der Experten. Zu dieser postulierten Authentizität und Wahrhaftigkeit sind zwei Anmerkungen zu machen. So schließt die obige Formulierung "die Bezirke des heute Erwi~senen" im Text durchaus Aussagen wie folgende mit ein: Atomforschung und atomare Bedrohung 103 "Freilich ist es vorläufig noch recht hinderlich, daß bei den Atomumwandlungen im Uran große Mengen von unerwünschten Stoffen entstehen, die auf die Reaktionen hemmend einwirken und den Apparat verstopfen, gewissermaßen vergiften. Aber auch gegen diese Schwierigkeiten wird sich eine Abhilfe finden lassen" (ebd.: 91); "Eine ähnliche Entwicklung wird wohl einst auch der Atommotor durchlaufen" (ebd.: 92); ''Professor Hahn schätzt die Menge der natürlichen Uranlager so ein, daß sie als Energiespender im Atomzeitalter etwa 200 Jahre vorhalten dürften. In dieser Zeit wird es aber wohl gelingen, die Kettenreaktion auch in anderen und häufig vorkommenden Grundstoffen herbeizuführen und zu beherrschen" (ebd.: 97). Zum verbürgten Wissen gehören also durchaus auch Spekulationen und Projektionen in die Zukunft, ein Tenor, der dem Buch tendenziell zugrunde liegt; die obigen Beispiele stellen keine Ausnahmen dar. Das "Erwiesene" ist ein dehnbarer Begriff, der unter Wissen, auch wissenschaftlich abgesichertem, deutlich mehr verstehen und mehr einbeziehen läßt, als in vergleichbaren Texttypen heute. 40 Die zweite Anmerkung ist im Kontext des Selbstverständnisses dieses Wissenschaftsbereiches zu sehen. Wenn als Instanzen der Wahrhaftigkeit Atomphysiker erscheinen, dann wird damit der Fokus auf die rein technische Dimension des zu verhandelnden Gegenstandes gelenkt, nur dafür, für die Richtigkeit technischer Details und physikalischer Modelle können sie eigentlich bürgen. Wenn es im Buch aber auch und zentral um die gesellschaftlichsozialen Kontexte diesei: technischen Dimension geht und eher philosophische Fragen um Sinn, Nutzen und Gefahren dieses neuen Gegenstandes erörtert werden, dann wird durch eine solche Vorgabe sowohl präsupponiert, daß auch dafür die Physiker zuständig und kompetent sindwas die Technik auf die Position des 'Außen-vor-Seins', des 'Darüberstehens' bringt -, als auch letztlich der Bock zum Gärtner gemacht: Diejenige Instanz, die ein massives Interesse hat, daß Forschung betrieben wird, 41 wird in die Position ihrer eigenen Kontrolle und Rechtfertigung gesetzt. Daß sie die dazu geforderte kritische Objektivität nicht notwendig und unbedingt aufweist, scheint evident. 5.2 Noch bevor Gail mit der Schilderung seines eigentlichen Themas, des Atoms, richtig beginnt, äußert er sich ausführlich zum Aufbau der Welt im allgemeinen, wobei er dezidiert die folgende These vertritt: "Das wahrhaft Große, das Grundsätzliche, das Wahre, ist immer einfach; [...] Wahrscheinlich ist das letzte Grundgesetz, das den Aufbau der Materie bestimmt, ganz eiufach. So einfach, daß es unser Begriffsvermögen vorläufig noch übersteigert. [...] hnmer mehr tastet sich so der menschliche Geist heran an das 'Urgesetz der Welt'. Wir wissen nicht, ob es ein solches überhaupt gibt und ob wir es je erkennen werden. Denn wahrscheinlich ist das letzte, alles umfassende Urgesetz, falls es überhaupt existiert, von einer so überwältigenden Einfachheit, daß sie alle Möglichkeiten der Anpassung unseres menschlichen Begriffsvermögens übersteigt. Diese letzte Einfachheit gehört einer anderen Geisteswelt, einer anderen Dimension an." (Ebd.: lOf.) Die "letzte Einfachheit", hier wird sie also theoretisch-wissenschaftlich fundiert und in extenso expliziert. 42 Was sich in den literarischen Texten findet, gilt als zentrale Kategorie auch für diesen Teildiskurs. 43 104 HansKrah 5 .3 Inhaltlich basiert die Beschreibung des Gegenstandes 'Atom' grundlegend auf Vergleichen und Analogien; so, und als zentrales Argumentationsschema, wenn der "Griff nach dem Atom" mit dem "Griff nach dem Feuer" (ebd.: 111) parallelisiert wird: 44 "Dem Eintritt des Menschen in die Welt des Atoms kommt eine Bedeutung zu, die nur dem ersten großen Entwicklungsschritt der Urmenschheit vergleichbar ist; der Nutzbannachung des Feuers." (Ebd.: 7) Diese Parallelisierung impliziert eine Art von Wiederholung und gibt damit das ideologische Programm vor: Die Atomforschung wird in die Menschheitsgeschichte eingebunden, sie ist nichts wesentlich anderes. Was früher geschafft wurde, mit dem Feuer, das muß jetzt mit dem Atom ebenso möglich sein. Insbesondere können damit die Gefahren, die im Umgang mit dem Atom enthalten sind, beschreibbar gemacht, in eine Vorstellung gepreßt und bewältigt werden. So die prinzipielle Zweischneidigkeit des Atoms, das wie das Feuer schaden und nutzen kann. Der Schaden ist als wesensmäßiges und notwendiges Übel mitgedacht und damit keine eigenständig zu diskutierende Größe. 45 Daß diese Hauptgefahr rekurrent als "Atombrand" bezeichnet wird, ein Terminus, der sich in den literarischen Texten rekurrent findet, ist angesichts dieser Feuerparallelisierung plausibel. Die Gefahr ist keine wirkliche, so wird mit Hilfe verschiedenerStrategien argumentiert. So wird ein Vergleich hier gerade nicht auf der Ebene der Natur, der elementaren Kräfte geführt, sondern auf der der Technik und einer dem Menschen unterstellten universellen Kollektivpsyche. Das Problem liegt nicht bei der Technik,.sondem bei der menschlichen Reaktion auf sie, und deshalb gilt es, durch Wissensvermittlung diese Reaktionen zu kanalisieren. Eine zusätzliche Strategie ist im zentralen Paradigma 'Wiederholung' situiert, das mit scholastischer Spitzfindigkeit funktionalisiert wird. In indirekter Beweisführung wird gefolgert, daß der Atombrand deshalb ausgeschlossen sei, da es ihn in der Vergangenheit nicht gegeben habe: 46 "Aber der Teufel, der hier an die Wand gemalt wird, dürfte so wenig real sein wie die 'entsetzlichen Gefahren', die man vor wenig mehr als hundert Jahren mit der rasenden Eisenbahn verbunden glaubte. Jedesmal, wenn etwas umwälzend Neues sich anbahnt, macht die Menschheit erst mal eine Angst-Psychose durch, und jedesmal wird dann ein paar Dutzend Jahre später darüber gelächelt. Es ist zwar nicht absolut unmöglich, aber doch aufs höchste unwahrscheinlich, daß so etwas wie ein unbekämptbar sich ausbreitender Atombrand jemals eintritt. Wenn dafür überhaupt eine Neigung vorhanden wäre, dann müßte sich doch schon einmal irgendwann und irgendwo auf der Erde etwas derartiges ereignet haben." (Ebd.: 84) 5.4 Neben der Gefahr des Atombrandes wird die Gefahr durch radioaktive Strahlung deutlich minimiert und als eigenständige Gefahr ausgeblendet. Gefahr stellt sie nur dann dar, wenn sie analogisiert werden kann, wobei diese Gefahr dann aber eine qua Analogie und Bild per se begrenzte ist. Verwendung findet das Bild des Giftes; konkretisiert als Adaption des bekannten und im kulturellen Bewußtsein noch virulenten Phänomens 'Giftgas': 47 "Bei den Atomreaktionen im Uran entstehen vielerlei Nebenprodukte, vor allem Gase, die durch ihre Radioaktivität geradezu Giftgase darstellen" (ebd.: 97). Strahlung selbst, wenn sie nicht als Giftgas deklariert wird, wird als Gefahr marginalisiert. 48 Sie stellt zwar eine Gefahr dar, aber erstens eine prinzipiell bewältigbare und begrenzbare: 49 "Außerdem entsteht bei der Uranspaltung auch eine durchdringende Strahlung, die sich aus Neutronen, Elektronen und Gammastrahlen zusammensetzt, und Gesundheit und Leben der an Atomforschung und atomare Bedrohung 105 den Geräten arbeitenden Menschen schwer bedroht Darum muß jede Vorrichtung, die mit Uranreaktionen größeren Stiles arbeitet, in dicke Metallwände oder Betonmauern, die diese Strahlungen mit Sicherheit [Herv. H. K.] aufhalten, eingeschlossen und durch Fernlenkung bedient werden." (Ebd.: 97) Diese potentielle Gefahr stellt zweitens nur dann eine faktische dar, wenn spezifische Prämissen erfüllt sind: "Aber mit entweichenden Neutronen ist eben nicht zu spaßen und diese rasenden Geschosse aus dem Innersten der Materie haben schon manchen Unfall verursacht So wird aus New York vom Tode eines jungen Physikers berichtet, der eigenmächtig einen Versuch an nicht genügend geschützten Geräten durchgeführt hatte und dabei von einer unvorsichtig entfesselten starken Neutronenstrahlung getroffen worden war. Wenige Stunden später war derjunge Mann tot. Sein gesamtes Mark war verdorrt, er war buchstäblich verwelkt'' (ebd.: 98; Herv. H. K.). Auch Sachtexte argumentieren also analog den literarischen Texten mit den Strategien der Personalisierung und des Verursacherprinzips. Nur ad personam kann Schaden entstehen, nicht qua strukturell-systematischem Kontext, eben nur, wenn von den vorgegebenen Spielregeln abgewichen wird. Und diese Abweichung wird dann auch prompt sanktioniert, wobei es nur den Verursacher (und keinen anderen) trifft. Interessanterweise trifft es hier, im Unterschied zur Konzeption der literarischen Texte, den jungen Forscher, nicht einen älteren (und dadurch, so ist zu schließen, einen erfahreneren). 50 5.5 Strahlung wird darüber hinaus als in einem Nutzenkontext integriert gedacht, was in direkter Abwägung mit etwaigen Schäden zu folgenden (apodiktischen) Behauptungen führt: "Jedenfalls hat die Anwendung der künstlichen Radioaktivität in der Medizin heute schon zur Entwicklung neuer Heilmethoden geführt, die bereits Tausenden von Menschen das Leben gerettet haben" (ebd.: 75); "Heute schon kann mit Recht behauptet werden, daß die Atomenergie allein durch die von ihr erschlossenen neuen Heilmethoden mehr Menschenleben gerettet hat, als durch die beiden Atombomben auf Japan vernichtet worden sind." (Ebd.: 96) Ein 'Hiroshima'-Effekt ist eindeutig nicht zu verzeichnen. Der faktische Abwurf der Atombomben löst keine nennenswerte Reflexion um Konsequenzen und Folgen aus. Statt dessen kommt es zu einer Marginalisierung durch Aufrechnung; 'Verständlich' ist dies dann, wenn ·der Abwurfkontextualisiert gedacht ist, wenn er zum einen insofern relativiert ist, als von der Tatsache ausgegangen wird, daß die Bombe berechenbare Schäden hinterlassen hat. Die Aussage, daß "mehr als die Hälfte der japanischen Großstadt Hiroshima" (ebd.: 38) zerstört wurde, läßt sich auch so lesen, daß eben auch nur etwas mehr als die Hälfte zerstört wurde. Eine Größenordnung, die angesichts zerbombter eigener Städte (Hamburg, Dresden) nicht wesentlich erschreckender ist. Hiroshima stellt dann einen Bombenabwurfneben anderen dar, der nur insofern interessant ist, als ihm eine neue Technik zugrunde liegt. 51 Zum anderen läßt sich der Abwurf auf Hiroshima insofern positiv konnotieren bzw. ohne große emotionale Betroffenheit darüber berichten, als es eben ein Abwurf auf Hiroshima war und er sich somit in deutlicher räumlicher Distanz zum eigenen Schauplatz, den es auch hätte treffen können, verhält. Bestimmt das Sankt-Florians-Prmzip das Denken, dann ist es plausibel, daß nicht weiter spezifiziert werden muß: Nagasaki muß dann auch nicht mehr eigens und namentlich erwähnt werden. 52 106 HansKrah- 5.6 Wenngleich Gail zunächst massiv für die reine Wissenschaft plädiert, für das reine Interesse an Erkenntnis, und Forschung notwendig an die Integrität der Forscherperson koppelt, so enthält sein Text eine zentrale Aporie, wie in dessen syntagmatischem Verlauf deutlich wird. Nachdem Gail mit einem Plädoyer in die Ethik der von allen gesellschaftlichen Zwängen losgelösten Wissenschaft eingeübt hat, schleichen sich peu a peu Elemente einer Funktionalität von Forschung ein: Worum es eigentlich geht, ist der Nutzen aus der Forschung, ist ihre Anwendung. Der Tenor der textuellen Argumentation dreht sich um. Das Interesse, die Begeisterung für die reine Forschung läßt schnell nach, wenn sie nicht ausgewertet werden kann. So heißt es: "Und so erscheint es, daß alle diese Atomumwandlungen, so interessant und aufregend und überaus wertvoll für die wissenschaftliche Erk~nntnis sie auch sein mögen, doch nicht den geringsten praktischen Wert haben." (Ebd.: 63f.) In diesem Kontext kann nun auch die Forschungsgeschichte narrativiert und nationalisiert werden. Denn die ''völlige Wende" (ebd,: 70), die die Forschung auf den richtigen, also anwendungsbezogenen, Weg bringt, kommt aus Deutschland: "Die Wende kam erst, als es im Jahre 1939 dem deutschen Chemiker Otto Halui gelang, zum ersten Male den schwersten und kompliziertesten Atomkern der Natur zu spalten: das Uran" (ebd.: 64). Nationalstolz, an der weltumwälzenden Entdeckung, am Gegenstand des Buches, maßgeblich Anteil zu haben, schwingt mit, wenngleich die Funktionalisierung von Forschung für nationale Befindlichkeiten bei Gail nicht so stark ausgeprägt ist; wie sie sich z.B. in Hanslians: Vom GaskampfzumAtomkriegfindet. 53 5.7 Für einige abschließende Bemerkungen zur Gesamtkonzeption des Gailschen Sachbuchs, seiner zugrundeliegenden Ideologie und deren Vernetzung im Kontext, 54 beziehe ich mich auf ein längeres Zitat aus dem Ende seiner Ausführungen: "Gewiß hat die immer weiter fortschreitende Technifizierung des Lebens bisher mehr Leid als Segen über die Menschen gebracht[...] Aber.daran ist nicht die Technik schuld, sondern nur ihre falsche, immer noch unreife Anwendung. Die üblen Erscheinungen sind nichts als Kinderkrankheiten, die dem noch sojungen Zeitalter der Wissenschaft und Technik anhaften. [...] Und was den Krieg betrifft, so steht es gewiß außer Frage, daß nur die hochentwickelte Technik des zwanzigsten Jahrhunderts dem Krieg diese furchtbare, alles zerstörende Gewalt hat verleihen können, an deren Folgen nun die ganze Welt so schwer zu tragen hat Aber darin liegt auch ein Gutes: unter dem Dröhnen der Motoren hat der Krieg die verhängnisvolle Maske des Ritterlichen, des männlich Heldischen verloren und sein wahres Gesicht enthüllt Und das ist sinnlose Zerstörung und brutaler Massenmord! Vielleicht dämmert nun doch endlich die Erkenntnis herauf, daß die Menschheit, will sie nicht völlig in primitivste Baroarei zurücksinken, nur noch einen [Herv. im Original gesperrt] großen Krieg zu führen hat, den aber unerbittlich und bis zur letzten Konsequenz: den Krieg gegen die Kriegsursachen! Und die letzte Ursache aller Völkerkriege ist die Not. Wer anders als eine sich immer höher entwickelnde Technik wäre imstande, den Kampf gegen die Not wirksam zu führen? Nur sie allein kann durch Steigerung der Produktj_on und durch sinnvoll geregelte Verteilung der Güter Not mindern und schließlich ganz besiegen. [...] Nur diese zwei Mittel können die Weltretten: die Vervollkommnung des Werkzeuges Technik und die Erziehung der Jugend zu einer seelisch-moralischen Haltung, die den Mißbrauch dieses Atomforschung und atomare Bedrohung 107 Werkzeuges künftiglich ausschließt Naturwissenschaft und Technik haben nur einen einzigen Zweck: demMenschen zu dienen, die materiellen Hindernisse, die ihn bedrängen, wegzuräumen und den Weg frei zu legen für die ungestörte Entwicklung von Geist und Seele, des Göttlichen im Menschen" (ebd.: 109f.). Auf drei Komplexe möchte ich eingehen. Erstens: Es offenbart sich im Text eine Position der Fortschrittsgläubigkeit und der Rettung der Technik, die in weiten Teilen mit Schemata argumentiert und operiert, wie sie bereits vor 1945 zur Verfügung stehen. So wird mit den Merkmalen "Vervollkommnung" und "sich immer höher entwickelnd" das Bild der Technik antizipiert, das sie als unbegrenzte konzipiert und auf einen grenzenlosen Fortschritt baut. Ebenso ist die Kriegsmetaphorik, in der die Problemlösung ausgedrückt wird ("Krieg gegen die Kriegsursachen! "), als dieses 'Paradoxon' einem 'Frühe-Modeme' -Denken des kollektiven Aufbruchs verpflichtet. Und daß dazu "allein" die Technik fähig und berechtigt ist, wodurch sie zur per se sinnhaften und sinnstiftenden Metaebene menschlichen Zusammenlebens gemacht wird (man beachte: selbst eine "sinnvoll geregelte Verteilung der Güter'' wird als zu vollbringende Leistung der Technik unterstellt; hierzu bedarf es also weder einer Logistik noch einer zu führenden Diskussion über Verteilungsschlüssel, -berechtigung, -umfang, -ethik etc.: Technik ist Zivilisation), gehört ebenfalls in dieses Paradigma. 55 Und schließlich dürfte der Glaube, die Not sei letzte Ursache aller Kriege, eine eher naive, bestimmte Fakten nicht wahrhabende bzw. ausblendende Sicht der Dinge bezeichnen, die der eigenen subjektiven Befindlichkeit dienlich ist, nicht aber einem reflektierten Erkenntnisstand entspricht, gerade in Anbetracht des Zweiten Weltkriegs. 56 zweitens: Im Vergleich zu den literarischen Texten (und auch einigen 'wissenschaftlichen', vgl. den Titel von Schaper 1948), die zwar zumeist ebenfalls prinzipiell technikfreundlich sind, 57 dies aber dezidiert innerhalb des Rahmens der selbstkonstituierten neuen Begrenzung, verwahrt sich Gail davor, der Technik eine Begrenzung auferlegen zu wollen. In dieser Position ist er aber in der Defensive, d.h., er steht vor der Notwendigkeit, diese Position explizit zu verteidigen und zu rechtfertigen. Dies ist eine der Veränderungen, die sich im Vergleich mit 'vor 1945' einstellt. Bei dieser Rettung der Technik bedient er sich zum . einen des teleologischen Modells der Aufklärung, die die Menschheitsgeschichte qua Metaphorik der Altersstufen wieder sinnvoll zu machen versuchte. Nun sind es aber nicht die Völker, die verschiedene Alter repräsentieren, sondern das Zeitalter selbst wird anthropomorphisiert. Zum anderen werden die negativen Folgen der Technik positiv umbewertet, indem sie semiotisiert werden. Sie sind Zeichen, wie es nicht sein soll, und lassen sich so appellativ funktionalisieren. Drittens: Neben dieser Veränderung gibt es eine zentrale und insofern signifikante, als sie als eigenständiger Falctor den Platz der Technik als alleiniger Weltrettung streitig macht und diese insofern (in Maßen) relativiert: die Erziehung derJugend "zu einer seelisch-moralischen Haltung", wie es heißt. Ein Konstrukt, das eindeutig den neuen Verhältnissen geschuldet ist (und nicht auf die Frühe Modeme zurückgeht, wo Jugend zwar auch zentrale Denkkategorie, aber nicht zu erziehen, sondern von sich aus 'bewegt' war), als pädagogisch angelegte Neuregelung und Neuorganisation der Gesellschaft und deren Rekonstituierung. Wer wen dabei zu maßregeln hat ('anständig' macht), dabei gehen die Meinungen allerdings auseinander (Gail läßt wohlweislich die Frage nach dem Agens, wer denn die Jugend erziehen soll oder kann etwa die Altnazis? -, offen). Wie die dafür propagierten Modelle in den literarischen Texten zeigen, besteht zwar Konsens über die Differenzierung nach Generationen; die Perspektiven, wer dieses Verhältnis wie regelt, stehen sich aber diametral gegenüber. 108 HansKrah Anmerkungen Die Begriffe 'Denken', 'Diskurs' und (kulturelles) 'Wissen' sind analog der Präzisierung von Titzmann 1989 und Titzmann 1991a verwendet. 2 Zum Zusammenhang dieser Katastrophen mit globalen Katastrophen und zur Verortung in diesen Diskurs siehe Krah 2000, insbesondere 285-325. Zu einem Überblick über das Verständnis von Raum und Narration siehe Krah 1999. 3 Zum historischen Kontext: hnJanuar 1950 gibt Präsident Truman den Entschluß bekannt, die Wasserstoffbombe zu bauen; im Mai 1951 findet ein Versuch einer Wasserstoff-Kernfusion auf den Marshall-Inseln statt; im November 1952 wird die erste amerikanische Wasserstoffbombenexplosion auf der Insel Elugelap im pazifischen Ozean getestet; am 1. März 1954 folgt die amerikanische H-Bombe auf Eniwetok im Bikini-Atoll (dazwischen liegt im August 1953 die Explosion der ersten russischen Wasserstoffbombe). 4 So etwa in Helium, Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... , Die Erde brennt. 5 Interessant ist die Konzeption in Attentat auf Universum: Hier wird anachronistisch und ernsthaft auf die Hohlwelttheorie als Rahmen der Welt Bezug genommen, innerhalb dieser Welt wird dann 'modern' argumentiert. 6 In Attentat auf Universum wird ein "Unterschied zwischen Forschem und Hasardeuren" (Holk 1955: 117) gesetzt, in Helium sagt Dr. Cziensky von sich: "Ich habe gespielt mit dem höchsten Einsatz, der möglich war: mit der Welt" (Khuon 1948: 251). 7 So etwa Anthony Dalton aus ... und alle Feuer verlöschen auf Erden, Brian O'Brien aus Alann aus Atomville, James Curron aus Attentat auf Universum. Daneben findet sich der Typ des verführten Wissenschaftlers (Parisi in Raketenfahrt in die Urzeit); dieser stellt im Korpus ein marginales Phänomen dar. 8 In Raketenfahrt in die Urzeit wird zuerst mit Fred Rauch und dann mit Lily Dean ein Reporter resp. eine Reporterin auf den Flug zur Venus resp. zum Mars mitgenommen. Ähnliche Modellierungen um Exklusivberichte gibt es in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... und Alann aus Atomville. Auch auf den Beobachterschiffen in Helium sind Reporter vertreten. Zusätzlich wird hier die Darstellung der Zündung des Flugkörpers und des Verlaufs seinerFlugbahn als Liveberichterstattung des jeweiligen beobachtenden Reporters inszeniert. 9 Ähnliche Konzeptionen finden sich in Oskar Maria Grafs Die Erben des Untergangs; siehe Krah 2000: 276ff. 10 Eine solche Semantik des Experiments findet sich in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... , Helium, Raketenfahrt in die Urzeit, Alann aus Atomville, in Jahnns Der staubige Regenbogen und Langes Blumen wachsen im Himmel. Der politische Slogan der Zeit, 'Keine Experimente', scheint also auf einer gemeinsamen Grundsemantik zu basieren. Dem Experiment steht systemisch als prinzipiell positiv konnotierte wissenschaftliche Betätigung und 'Forschungsleistung' die Expedition gegenüber. 11 Dementsprechend geht es um die Reversibilität von Experimenten ("Eine Atomreaktion ist durchgegangen, und wir haben die Kontrolle darüber verloren. Es handelt sich darum, die Herrschaft über das Experiment wieder zurückzugewinnen"; Dolezal 1956: 143), was allerdings nur in utopischen Konstellationen wie in Alann aus Atomville funktioniert. 12 In diesem Kontext heißt es über das Verhältnis von Nathon und Cziensky: ''Eine seltsame Kraft schien zwischen ihnen zu wirken. Sie zogen einander an wie ungleichnamige Elektrizitäten" (Khuon 1949: 242). 13 Es heißt: "wer weiß, ob nicht durch das Freiwerden von Riesenenergiemengen ein Atombrand entstünde, dem vielleicht die gesamte Erde zum Opfer fallen könnte" (Brugg 1950: 156). 14 Explizit findet sich diese Koppelung in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ..., wenn es heißt: "Ich biete Ihnen den Atommotor die Welt ohne Kohle und Öl beliebige Kraft aus unerschöpflichen Reserven die Energiequelle des kommenden Jahrtausends unbeschränkte Entwicklung aller Industrien eine Welt ohne Not" (Holk 1948b: 35f.). Auch bei Gail (siehe Kap. 5) wird die Verbindung expliziert und sogar als Sinn gesetzt: "ein Gramm Uran könnte mit den heutigen Mitteln der Atomtechnik 2 Zentner, bei vollständiger Spaltung aller Atome aber 2 Tonnen und bei völliger Entmaterialisierung 200 Bahnwagen (3000 Tonnen) Kohle ersetzen. Und darin liegt der Sinn des eben anbrechenden Zeitalters der Atomenergie; denn die Kohlevorräte der Erde gehen in absehbarer Zeit zu Ende" (Gail 1947: 102). 15 Mit dem 'einfachen' Eisenstab wird auf eine 'einfache' Analogie angespielt: '"Da gab es einmal einen Mann, der behauptete, durch einfache Drehung eines Eisenstabes Elektrizität produzieren zu können genug Elektrizität, um die ganze Welt damit zu versorgen. War dieser Mann verrückt? ' 'Selbstverständlich war er verrückt. Mit einem Eisenstab ...? ' •Augenblick, bitte. Dieser rotierende Eisenstab nebst einigem Zubehör heißt Dynamo. Und er liefert der Welt tatsächlich eine ganze Menge Elektrizität."' (Holk 1948b: 42f.) Atomforschung und atomare Bedrohung 109 16 Vgl. dazu Krah 2002. 17 Ein weiteres Beispiel in diesem Kontext wäre Hans Henny Jahnns Der staubige Regenbogen (1959). 18 Gegenüberstellen lassen sich die Raumfahrt in Raketenfahrt in die Urzeit, das Atom-U-Boot in Alann aus Atomville und der Atommotor in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... den Raumveränderungen durch die Experimente des Vaters in Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ••. , durch Atombomben wie in Helium und Die Erde brennt, durch Enteisungs- oder Flutungsprojekte wie in Raketenfahrt in die Urzeit und ... und alle Feuer verlöschen auf Erden. Deutlich werden zwei Kriterien. Zum einen darf Technik nicht in Opposition zur Natur geraten und diese, den Plan der Schöpfung, nicht wesentlich verändern, sei es Mensch, wie oben skizziert, oder Raum. Zum anderen wird Forschung und Technik in Relation zum Raum gedacht. Raumtransformation, Raumveränderung an sich, quasi als Metamorphose und Metaereignis ist nicht legitim und führt auch bei positiver Absicht zu negativen Folgen (die Urbarmachung entspricht der Sintflut). 19 Diese Argumentation zeigt sich etwa deutlich in Langes Blumen wachsen im Himmel, und sie unterscheidet sich deutlich - und läßt sich gerade in dieser Unterscheidung konturieren von der in Grafs Die Erben des Untergangs oder des Films THINGS TO COME (vgl. Anm. 55). 20 Raumveränderung ohne Technik, auf traditionelle Weise durch Pioniertätigkeit: Land aneignen und roden, ist von diesem Verdikt nicht (unmittelbar) betroffen, wenngleich die deutschen Texte diese Dimension im Unterschied zu vergleichbaren amerikanischen (vgl. Krah 2000)-eher nicht thematisieren und im Diskurs per se ausblenden. 21 Zum historischen Kontext: hn Januar 1955 findet die erste Fahrt des mit Atomenergie betriebenen amerikanischen U-Bootes "Nautilus" statt; im August 1958 (Alann aus Atomville ist 1956 publiziert) fahren die beiden Atom-U-Boote "Nautilus" und "Skate" unter dem Eis des Nordpols hindurch. 22 Die Ausnahme, daß die Raumfahrt als Repräsentant von Mobilität in Attentat auf Universum negativ erscheint, ist nur eine scheinbare. Raumfahrt ist hier deshalb negativ, da sie innerhalb der dargestellten Welt der Hohlwelt mit dem Axiom der Begrenzung kollidiert; sie ist es, wie die Rettung über eine zweite, positiv konnotierte Rakete zeigt,. da die erste Rakete zusätzlich an bestimmte negative bzw. fehlende Modalitäten geknüpft ist, wobei die Einfachheit, die für die zweite Rakete, gilt, die eine ist; eine weitere ist in Kap. 3.8. aufgezeigt. 23 Vgl. zur Tradition dieser Konzeption Titzmann 1991b. 24 Etwas komplexer, im Ergebnis aber nicht von der allgemeinen Konzeption abweichend, verhält es sich in ... und alle Feuer verlöschen auf Erden. Hier ist mit Sumi eine Frau vertreten, die Anteile beider Konzeptionen, der 'normalen' wie der abweichenden, in sich vereint. Surni verursacht durch ihre Forschung "den elektrischen Stuhl in der Westentasche" (Holk 1948a: 152), das Mordwerkzeug 'mutierter' Permostat, kann aber über die Narration und einen symbolischen, fingierten Tod ihre 'negativen', unweiblichen Anteile verlieren. 25 Vgl. auch: "Mady Goudsmith sieht furchtbar aus. Thr Haar ist wirr, ihr Gesicht hektisch rot, ihre Augen übernatürlich groß und fiebrig. [ ... ] Wohl niemand von ihren Freunden hätte sie in diesem Augenblick erkannt. Es liegt etwas Megärenhaftes über ihr" (Holk 1955: 174). 26 Dies gilt auch für Die Erde brennt, Helium, ... und alle Feuer verlöschen auf Erden, Alann aus Atomville, Vielleicht ist morgen schon der letzte Tag ... Zudem handelt es sich zumeist um leibliche Vater-Kind-Beziehungen. Auffällig ist dabei, daß positive Väter, die sich dadurch auszeichnen, daß sie ihr Wissen freiwillig an die junge Generation weitergeben, wie in Raketenfahrt in die Urzeit und ... und alle Feuer verlöschen auf Erden, immer nur metaphorische Väter sind. Ähnliches gilt für Zweiholz und den Außenminister in Helium. 27 In Die Erde brennt überwindet die junge Generation im Paar Marja und Jan Morris sogar die Systemgrenzen zwischen Pelargonien und Dahlien, also USA und UdSSR. In Helium stellt es sich etwas komplexer dar. Hier gibt es drei Generationen. Die älteste ist positiv, allerdings bereits nicht mehr in den Positionen, in denen sie etwas gegen die mittlere Generation ausrichten kann. Entweder stirbt sie wie Zweiholz oder tritt resigniert zurück wie der Außenminister. Die mittlere Generation repräsentiert das, was in den anderen Texten die ältere Generation vertritt: Schuld und Verantwortung, wobei es innerhalb dieser Generation zwischen den beiden geistigen Kindern von Zweiholz, Dr. Cziensky und Dr. Nathon, zum (Zwei-)Kampf zweier Prinzipien kommt, bei dem sich das positive, Verantwortung übernehmende, wiederum aufopfert und die Welt rettet, die das negative Prinzip, figuriert im Sündenbock Cziensky, aufs Spiel gesetzt hat. Positiv ist dann wiederum eindeutig die junge Generation, wie anhand Kingsons ('Kings Son') gezeigt wird. Davon, von einer positiven Bewertung, bleiben abweichende Frauen wie Florabelle selbstverständich ausgenommen. 28 So etwa in Die Erde brennt oder in Karl Aloys Schenzingers Atom. Bereits die Namensgebung und -verteilung, Dr. Cziensky (als der Böse) und Dr. Friedrich(! ) Nathon, in Helium läßt sich in diesem Kontext lesen. 110 HansKrah 29 Wie sich der Text die Einbindung von Amerika vorstellt, und den Platz, der Amerika zukommt, wird an der Reporterin Miß Lily Dean, der einzigen Amerikanerin des Textes und der einzige Verweis auf die Existenz Amerikas im Text überhaupt, verdeutlicht: Einverleibung durch Heirat, wobei die Rollenverteilung und die Unterordnung der (amerikanischen) Frau klar vorgegeben sind. Bereits dies ist eine Projektion, mit der der Text den umgekehrten 'Normalfall' amerikanischer Besatzungsoldat heiratet/ schwängert Deutsche (und der deutsche Mann hat das Nachsehen) - 'verarbeitet'. 30 Dies ist gerade im Vergleich mit den jeweiligen späteren Auflagen zu sehen. Diese zeichnen sich zwar auch durch Aktualisierung des Fachwissens aus, aber nicht nur. Auch ein veränderter Modus und Gestus· der Präsentation ist zu verzeichnen. Vgl. Anm. 40. 31 Band 1 der Reihe: Thirring 1946. 32 Band 1 der Reihe: Völcker 1946. 33 Band 1 der Reihe: Gail 1947 (Band 2: Ders., Physik der Weltraumfahrt); in der Jugendbuchreihe 'Was ist Was' nimmt die Atomenergie, Barr 1962, (nur mehr oder immerhin) Band 3 ein (nach 'Unsere Erde' und 'Der Mensch'). 34 Ein Wandel im Denken zeichnet sich so die These erst mit der Wasserstoffbombe ab; die tatsächlichen Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki. sind dafür wenig relevant; vgl Kap. 5.5. 35 Auch dort, wo keine direkte Reihe ersichtlich ist, etwa bei Dogigli 1949, finden sich integrierte Verlagsankündigungen gerade von Werlcen, die einen solchen Reihenkontext suggerieren (Hans-JoachimFlechner, Experimente - Formeln - Erkenntnisse. Aus der Werkstatt der Forschung. [ ... 1- Paul de Kruif, Bezwinger des Hungers. Ein Buch von Forschern und Entdeckern. [ ... ] - Curt Thesing, Wunder der Fortpflanzung. Eine Einführung in das Wesen des Lebens. [ ... ] -Curt Thesing, Geheimnisse des Lebens. Ein Streiftug durch das Reich der Biologie.). 36 Zum Beispiel die Reihe Wissenschaft für Jedermann, hrsg. von Dr. Walter Hollitscher: "Das· vorliegende Bändchen leitet eine in unserem Verlag erscheinende Serie von insgesamt etwa 60 Büchern ein, die folgende Gebiete umfassen: Allgemeine Geschichte, Anthropologie, Geschichte der Technik und Kultur, Physik und Chemie, Biologie und verwandte Gebiete, Medizin, Geologie, Soziologie, Mathematik, Astronomie. [ ... ] Obwohl dem breitestenLeserpublikumzugänglich, wirdjedes der Werke auch dem Fachmann Neues sagen. Die Autoren werden besonders auf die Bedürfnisse der Studenten in den Oberklassen der Mittelschule und den ersten Universitätsjahren Rücksicht nehmen und vor allem auf die Art der Darstellung, die für die Erwachsenenbildung die geeignetste ist: Populärwissenschaft im besten Sinne des Wortes. [ ... ]Zunächst ist die Herausgabe folgender Bändchen geplant: J. B. S. Haldane: Wissenschaft des Alltagslebens. Eine Sammlung ganz kurzer Artikel über die wissenschaftlichen Grundlagen alltäglicher Erscheinungen. Meisterhaft geschrieben, voll neuartiger Forschungsergebnisse und origineller Wendungen. -Sir John BoydOrr: Nahrung und Volk. Ein populäres Buch des berühmten britischen Ernährungsfachmannes, der heute die Ernährungsabteilung der 'Vereinten Nationen' leitet. Höchst aktuell und inhaltlich unübertrefflich. - Graham Clark: Von der Wildheit zur Zivilisation. Dieser Band stellt den ersten einer historischen Monographienserie dar, die fortlaufend auf deutsch herausgebracht werden soll. -J. G. Crowther: Das Universum (I und II). Eine allgemeinverständliche Schilderung des modernen Weltbildes. -B. Farrington: Die griechische Wissenschaft und was sie bedeutet. Eine Geschichte der ionischen Naturphilosophie. Gründliche Diskussion der historischen Wurzeln der Wissenschaft in Gewerbe und Handwerk. Ein glänzendes Buch, das sowohl den Historiker wie den Philosophen und Naturwissenschaftler angeht und dem Laien den Zugang zu diesen drei Disziplinen in aufklärendster Weise ebnet'' (Thirring 1946). Zum Beispiel die Reihe Orionbücher, hrsg. von Erich Lasswitz: "Jeder Band ist illustriert und in sich abgeschlossen. Folgende Bände sind erschienen oder vorgesehen: E. Völcker: Atomkräfte. Geschichtliche Entwicklung der Atomphysik bis heute und Ergebnisse der neuzeitlichen Atomforschung. - 0. Dächsel: Mein Bienenbuch. Ein alter Imker berichtet über seine Beobachtungen, Erfahrungen und Erkenntnisse. - E. Lasswitz: Schreiben und Rechnen. Vom Ursprung der Schrift und der Zahlen, ihrer Entwicklung und praktischen Anwendung. -F. Bolle: Vögel um uns. Eine Einführung in die Fülle der Erscheinungen unserer heimischen Vogelwelt. - W. Stanner: Wellen weisen. den Weg. Das Wesen der elektromagnetischen Wellen und ihre Bedeutung für den Verkehr wird erklärt. - H. Bollow: Ameisen und Termiten. Von den Geheinmissen des Lebens der staatenbildenden Insekten. - Ed. Pfeiffer: Wänne und Kälte. Physik der hohen und tiefen Temperaturen und ihre Anwendungen in der Technik und im täglichen Leben. - K. Grimm: Lebensstoffe. Vitamine, Hormone, Fermente und Enzyme und ihre Bedeutung für den lebenden Organismus,. - 0. Appelt: Kleine Pflanzenkunde. Bau und Lebensäußerungen der Pflanzenwelt werden im Rahmen der einheimischen Flora geschildert. - W. Stanner: Kleine Sternenkunde. Anleitung zur Beobachtung des Sternenhimmels und Darstellung der neuzeitlichen Anschauungen über den Bau der Sterne und des Weltalls. - F. Bolle: Kleine Tierkunde. Bau und Leben der als Voraussetzung für das Verständnis der Vorgänge im lebenden Organismus [sie! ]. - K. Schmort: Süße Stoffe. Was ist süß und wie Atomforschung und atomare Bedrohung 111 entstehen die süßen Stoffe? - E. Lasswitz: Kräfte im Haushalt. Wirkungen und Verwendung der Energie im Leben des Alltags. - J. Hausen: Kunststoffe. Geschichte, Wesen, Herstellung und Bedeutung für Technik, Wirtschaft und Haushalt" (Völcker 1946). Solche Reihen gibt es selbstverständlich auch bereits in der Frühen Modeme. Nicht das Reihenphänomen an sich, sondern seine spezifische (historisch-ideologische) Funktionalisierung scheint signifikant. So handelt es sich um neue Reihen, nicht um Wiederaufnahmen oder Fortsetzungen, und diese sind nicht mehr primär für die Jugend oder eine bestimmte soziale Schicht, sondern 'entdifferenziert' für alle. Daß es die 'Reihe' bereits gibt und auf diese Form zurückgegriffen werden kann, ist darüber hinaus funktional, da nichts wirklich Neues geleistet werden soll, Traditionen als Modelle symbolischen Aufbruchs gesucht sind. 37 So heißt es bei Gail ( 1948: 7): "Wir sollten dafür sorgen, daß die technischen Wissenschaften in die breite Masse dringen, damit die versklavende Bewunderung dem nüchternen Wissen weiche. Großes Wissen einer kleinen Anzahl birgt stets die Drohung der Entartung und der Diktatur das Mitwissen von Millionen aber kann dieser Drohung begegnen. Die Menschheit muß endlich lernen, mit dem wunderbaren, aber scharfen Werkzeug 'Technik' umzugehen; und wenn jeder einzelne sein Wissen erweitert, dann lernt die Menschheit". Als ob es in Hitlerdeutschland an der Technik gelegen hätte! 38 Otto Willi Gail betätigte sich seit Ende der 20er Jabre als Wissenschaftsjournalist und Autor populärwissenschaftlicher Bücher, zunächst über die Raumfahrt. Dem gingen eigene literarische Produktionen voran, so die beiden Romane über die Weltraumfahrt, Der SchzifJ ins All (1925) und Der Stein vom Mond (1926), in denen er die Theorie von Hermann Oberth adaptierte und popularisierte (vgl. Krah 2002). Ernst von Khuon bezieht sich in seiner Vorbemerkung zu seinem Roman Helium explizit auf Gail: "Die Idee gab Otto Willi Gail". Interessanterweise ist in Gail über die Wasserstoffbombe, die den Gegenstand von Helium bildet, nichts zu lesen. 39 Dies ist, so ist präsupponiert, die dem Gegenstand adäquate Beschreibung eine 'Wunderwelt' läßt sich nicht nüchtern wissenschaftlich wiedergeben, so ist zu schließen. 40 Auch ein Vergleich mit der dritten Auflage von 1958 würde bereits interessante und signifikante Veränderungen zeigen. Nicht nur, daß hier Erkenntnisse hinzukommen, die 1947 noch im Prozeß der Erforschung und Entdekkung sind, auch das, was als seriöse Art der Darstellung gilt, inwiefern etwa Wissenselemente in die Zukunft hochgerechnet werden, unterscheidet sich deutlich. Dies hat mit einem gewandelten Wissenschaftsethos und einem gewandelten Verständnis dessen zu tun, was als populärwissenschaftliche Aufbereitung gelten und wozu sie dienen soll; dies hängt auch mit den Umständen der unmittelbaren Nachkriegssituation und einem gewandelten Schreibimpetus in diesem Kontext zusammen (vgl. hierzu allgemein zur Historizität von Wissen Richter/ Schönert/ Titzmann 1997). Der Duktus der 'Hochrechnungen' erschwert die Entscheidung, was in literarischen Texten noch abgesichertes Wissen, was literarische Fiktion ist; dies schafft eine 'Grauzone', die 'ästhetisch' besetzt wird. 41 Vgl.etwaHahno.J. 42 Ein weiteres Beispiel: "Aus Bewegungsgeschwindigkeit, Bahnkrümmung und Stärke des magnetischen Kraftfeldes läßt sich die gesuchte Masse mit Hilfe ganz einfacher Fonneln berechnen" (Gail 1947: 28). 43 Die Frage nach einem direkten Einfluß Gails dürfte müßig sein: Auszugehen ist von gemeinsamen Grundannahmen (der Epoche), die das Denken strukturieren. 44 Mit dieser Parallelisierung werden zudem die Paradigmen für 'Vergangenheit' und 'Gegenwart' konstitniert; Grundparadigmen menschlicher Zivilisation, die Gail dann auch für die Zukunft mit der Raumfahrt fortschreibt: "Mit der Eroberung des Weltenraumes wird die Menschheit in die dritte große Phase ihrer Entwicklung eintreten. Die erste war der Griff nach dem Feuer, die zweite der Griff nach dem Atom" (Ankündigungstext für Otto Willi Gails Physik der Weltraumfahrt, Khuon 1949: 264). 45 Nicht nur im Vergleich mit dem Feuer, auch in der Beschreibung an sich wird diese Ambivalenz immer wieder artikuliert, wobei sie ontologisch metaphorisiert wird und demgemäß unabhängig von menschlichem Einfluß ist. Einige Beispiele: "'Uranium' ist der Name des Stoffes, der die Welt mit tiefstem Grauen und höchster Hoffnung erfüllt hat" (Gail 1947: 69); ''Es ist, als ob der Name 'Uran' schon eine Vorahnung dieser Bedeutung enthielte" (ebd.); Plutonium gehört zu den ''unheimlichen Überelementen" (ebd.: 81); "Pluto ist in der griechischen Götterwelt der Gott des Reichtums undder Dämon der Hölle" (ebd.). 46 Unausgesprochen bleibt dabei insbesondere der Sachverhalt, daß sich die Welt nicht von selbst, ohne menschliche (technische) Beteiligung, atomar in Brand setzt. 47 In Helium heißt es analog: "[ ... ] der Nebel um unser Schiff trägt zuviel Strahlungsgift'' (Khuon 1949: 229). 48 Etwas, was sich in der dritten Auflage 1958 dann doch grundlegend wandelt (vgl. Gail 1958: lllff., insbesondere 113). Die Gefahr der Strahlung und deren Eigenständigkeit im 'Atomdenken' dürfte mit dem Diskurs um die Wasserstoffbombe korrelieren. 112 HansKrah 49 Zum Vergleich ein entsprechender Passus bei Hanslian 1951, der sich nicht mit den Präliminarien der Gefahren in Forschungseinrichtungen aufhält, sondern gleich zur Sache kommt. Über die Wirkung der Atombombe und den Schutz davor doziert er: "Der Hitzeblitz dauert etwa 1-2 Sekunden[ ... ] Eine normale Ziegelmauer bietet bereits genügend Schutz gegen die Hitzestrahlen [ ... ] Die Druckwirkung der Explosion erscheint geringer als man allgemein angenommen hatte [ ... ] Gute Luftschutzunterstände bieten vollkommen Schutz gegen die Druckwirkung der Atombombe. Auch erscheinen Volltreffer auf Unterstände nahezu ausgeschlossen, da die Atombombe voraussichtlich in der Luft zur Explosion gebracht wird. Die dritte Atomexplosionserscheinung ist die Strahlenwirkung oder die Radioaktivität [ ... ] Gewöhnliche Hausmauern und einfache, erdüberdeckte Unterstände gewähren in jedem Falle so weit Schutz, daß der Körper nicht von einer tödlichen Dosis getroffen wird. Dickes Mauerwerk und eine Erddecke von über einem Meter Stärke schützen völlig." (Hanslian 1951: l 16f.; Herv. im Original gesperrt): Entproblematisierung durch das 'Duck and cover'-Prinzip. 50 Zudem wird hier auf einen (medizinisch-pädagogischen) Topos verwiesen. Die Schilderung der Todesumstände legt durch das Referieren auf die Leitdifferenz Jugend-Alter und die Zeichenhaftigkeit des (Rücken-)Markverlusts ("verwelkt") Konnotationen zu einer altbekannten jugendlichen (sexualmoralischen) Sünde nahe. 51 Die allgemeine Aussage des Textes, "Alles Neue hat Opfer verlangt" (Gail 1947: 99), die zwar nicht direkt auf Hiroshima bezogen ist, läßt sich auf einer abstrakten Ebene dann durchaus auch darauf beziehen. hn Text wird sie als Resümee eines Beispiels aufgeführt, das die prinzipielle Gegenwärtigkeit von Gefahr beijeder Forschung anzeigt und damit den Status von Forschung als per se besondere Leistung dokumentiert: "Alles Neue hat Opfer verlangt. Auch Max Valier, der Pionier der Mondrakete, wurde im Jahre 1930 von einem seiner eigenen . Geschöpfe getötet: eine explodierende Versuchsdüse drang ihm ins Herz" (ebd.). Interessant° ist dieses Zitat gerade im Vergleich mit dem Beispiel des "jungen Physikers". Interessant insofern, als hier das Verursacherprinzip positiv urnbewertet wird und der Verursacher als Opfer von Forschung, die ihren Tribut fordert, heroisiert werden kann. Die unterschiedlichen Todesumstände (und die Nationalität) dürften beim Funktionieren einer solchen Operation eine Rolle spielen. 52 Der Hinweis auf "die beiden Atombomben" ist denn auch der einzige im ganzen Text, der auf Nagasaki verweist. Auch im Glossar findet die Stadt keine Erwähnung. 53 Einige Kostproben aus dem fünfzehnten und letzten Kapitel von Hanslian ( 1951: 125ff.), "Und Deutschland? " betitelt: "Kein Volk der Erde hat neben den Griechen der gesitteten Welt so unvergängliche geistige Werke geschenkt wie die Deutschen. Von ihren wissenschaftlichen Großtaten legt auch diese Studie beredtes Zeugnis ab, und die klassischen Werke deutscher Denker, Dichter und Tonschöpfer stehen als funkelnde Sterne am Firmament und strahlen Trost und Beglückung den Völkern auch in finsterster Nacht. [ ... ] Auch auf die Gefahr hin, sich einer Übertreibung schuldig zu machen, soll hier gesagt sein, daß die Haltung Deutschlands für den Ausgang der drohenden Auseinandersetzung mitbestimmend und wesentlich sein wird[... ] Eine Neutralität Deutschlands, von manchen heute empfohlen und gepriesen, ist ein Unding. Deutschland muß sich in der einen oder anderen Richtung entscheiden, und für wen es sich entscheidet, dem wird letzten Endes der Sieg zufallen." - "[ ... ] dieses Handeln ist ohne Deutschlands Mitwirkung nicht möglich. Deutschland hat jetzt die gro~ Chance, begangenes Unrecht durch seine Tatkraft wieder gutzumachen und dadurch gleichzeitig sich selbst und anderen Ländern Europas zu helfen. Möge es diesen geschichtlichen Augenblick in seiner ganzen Tragweite erkennen und entsprechend handeln! " (Ebd.: 132). 54 Ideologie ist hier im neutralen Sinn von Paradigmenvermittlung des Wünschenswerten verstanden, ist also diskursiv definiert als Regulationsprozeß, der bestimmte Werte als Werte zu setzen und über bestimmte Verfahren zu vermitteln versucht, der Normen und Verhaltensregularitäten aufstellt, Sinn definiert und Konsens schafft, Gefühle und Affekte moduliert und verhindert, daß potentiell kritische Bedeutungen kritisch in Relation zum jeweilig konstituierten Modell entstehen und artikuliert werden. 55 Zu sehen etwa in dem Film THINGS TO CoME (GB 1936, William Cameron Menzies) und (ebenfalls wie bei Gail als Relikt nach 1945) in Oskar Maria Grafs Die Erben des Untergangs. Siehe hierzu ausführlich Krah 2000: 237-296, und Krah 2002. 56 Gail daraufhin (als Folgerung der Textpropositionen) zu unterstellen, daß er damit den zweiten Weltkrieg und den Anteil der Deutschen daran rechtfertigtes muß ja wohl eine Not der Deutschen gegeben haben, Stichwort 'Volk ohne Raum' -, geht wohl zu weit; statt dessen dürfte diese Formulierung als Indiz für die 'Naivität' des Gesamtdiskurses zu deuten sein. Die betreffende Textstelle ist denn in der 3. Aufl abgeändert/ abgeschwächt zu: "Eine der Ursachen aller Völkerkriege ist die Not" (Gail 1958: 125). 57 So, wenn in Alarm aus Atomville die Rettung der Fortschrittsgläubigkeit dadurch erreicht wird, daß eine Simulation des 'Ernstfalls' und dessei: i Bewältigung durchgespielt wird. Das Ergebnis heißt: alles unter Kontrolle, jeder Situation gewachsen. Atomforschung und atomare Bedrohung 113 Literaturverzeichnis Barr, Donald 1962: Atomenergie. Wissenschaftliche Überwachung durch Dr. Paul E. 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Adresses of Authors Dr. Jan-Oliver Decker Düppelstraße 88 D-24105 Kiel jan-oliver.decker@t-online.de Dr. Gustav Frank Department of German School of Modem Languages University Park Nottingham NG72RD England Gustav.Frank@nottingham.ac.uk Prof. Dr. Hans Krah Universität Passau Neuere deutsche Literatur D-94030 Passau krahOl@pers.uni-passau.de Dr. Karl Leydecker University of Stirling School of Modem Languages GB - Stirling FK9 4LA United Kingdom K.g.leydecker@stir.ac.uk Dr. Katja Schneider Kreittmayrstr. 32 D-80335 München KatjaSchneider@t-online.de Prof. Dr. Michael Titzmann Universität Passau Neuere deutsche Literatur D-94030 Passau michael.titzmann@uni-passau.de