Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2002
253-4
KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 25 (2002) No. 3-4 Special Issue / Themenheft Das Geld als Zeichen Herausgegeben von Achim Eschbach und Ernest W.B. Hess-Lüttich Achim Eschbach / Ernest W.B. Hess-Lüttich Happy Birthday K ODIKAS zum Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Achim Eschbach Das Geld als Zeichen: Georg Simmel, Kurt Singer und Karl Bühler . . . . . . . . . . . . . . 205 Georg Simmel Das Geld in der modernen Cultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Georg Simmel Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Kurt Singer Das Geld als Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Karl Bühler Das Geld als Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 H. Walter Schmitz Sind Worte für bare Münze zu nehmen? Ferdinand Tönnies über Geld als Zeichen und Zeichen als Werte . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Peter J. Schneemann Physis und Thesis. Vom Wert der Kunst in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Eric Achermann Zeichenhandel Zum Verhältnis von Semiotik und Ökonomie bei Johann Georg Hamann . . . . . . . . . 291 Monika Claßen Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? Das identitäts- und kulturstiftende Potential der Textsorte Geld - der Euro . . . . . . . . 317 Anna Wessely Die Philosophie des Geldes und die moderne Wissenssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Contents 202 Klaus Lichtblau Zur Logik der Weltbildanalyse in Georg Simmels Philosophie des Geldes . . . . . . . . . 345 Klaus Frerichs Die Dreigliedrigkeit der Repräsentanz. Ein Beitrag Georg Simmels zur Semiotik des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Achim Eschbach Das Geld, die Zeichen und der Tod. Weltbildwandel im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . 363 Verzeichnis der Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Adressen der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 88,- (special price for private persons 58,-) plus postage. Single copy (double issue) 48,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2003 Gunter Narr Verlag Tübingen P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: Nagelsatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0171-0843 Happy Birthday K ODIKAS zum Geburtstag Achim Eschbach & Ernest W. B. Hess-Lüttich Mit dem vorliegenden Themenheft schließen wir den 25. Band unserer Zeitschrift K ODIKAS / C ODE ab. Das ist ein Jubiläum, das in einem schwierig gewordenen Umfeld des internationalen und besonders des europäischen Marktes wissenschaftlicher Zeitschriften, zumal in einem so programmatisch interdisziplinären Fachsegment wie dem hier in Rede stehenden der Semiotik, keine Selbstverständlichkeit ist. Deshalb ist es ein guter Anlaß für die Herausgeber, dem Verlag - und auch dem Verleger Gunter Narr ganz persönlich - für die nie nachlassende Unterstützung dieses Projekts Dank zu sagen. Eigentlich ist die Zeitschrift ja sogar noch ein wenig älter, denn sie wurde schon 1975 im nordgriechischen Thessaloniki gegründet, damals noch mit klassisch griechischen Lettern im Titel. Nach einem verheerenden Erdbeben, das die Auflage des 4. Heftes noch in der Druckerei vernichtete, lag die kurze Karriere von Kodikas fast schon wieder in Trümmern. Aber nach einem kurzen Zwischenspiel im niederländischen Lisse haben wir uns in einem neuen Herausgeberkreis zusammengefunden und die Zeitschrift von einem neuen Band 1 an im Gunter Narr Verlag, Tübingen, herausgegeben. Als wenig später die angesehene Zeitschrift A RS S EMEIOTICA des amerikanischen Herausgeberkollegen Luigi Romeo in die Gefahr geriet, aus wirtschaftlichen Erwägungen eingestellt zu werden, haben wir in allseitigem Einvernehmen die beiden semiotischen Fachzeitschriften mit inhaltlich eng benachbartem Profil unter der Federführung der K ODIKAS -Herausgeber kurzerhand fusioniert. Die Geschichte der Zeitschrift wäre übrigens unvollständig, wenn nicht auch die Supplement-Serie (Kodikas Supplement Series) erwähnt würde, die es ebenfalls just auf 25 stattliche Bände gebracht hat. Seit Anbeginn haben wir darauf geachtet, daß K ODIKAS eine von allen ideologischen, theoretischen und vor allem institutionellen Zwängen freie Zeitschrift ist und bleibt. Deshalb mußte sich die Herausgeberpolitik auch nie irgendwelchen disziplinsystematischen, wissenschaftsdogmatischen oder vereinspolitischen Rücksichten unterwerfen, weshalb wir - nach einem gründlichen gutachterlichen Evaluationsprozeß, wie es sich für ein international reputiertes reviewed Journal gehört - solche englischen, deutschen und französischen Artikel aufnahmen, die wissenschaftlich ebenso fundiert wie innovativ und der semiotischen Diskussion nützlich waren. Dabei ist über die Jahre ein buntes Florilegium zusammengekommen, das gerade wegen seiner Vielfarbigkeit ein recht wirklichkeitsgetreues Abbild der internationalen semiotischen Forschung bietet. Theoretische und methodische Pluralität ist dabei nie etwa mit Beliebigkeit verwechselt worden. Aussagen über Entwicklungstendenzen sollte man ja am besten externen Beobachtern überlassen, aber es gibt unübersehbare Anzeichen dafür, daß semiotische Paradigmen mittlerweile die theoretische und methodische Reflexion in zahlreichen Einzelwissenschaften nachhaltig geprägt haben und künftig verstärkt die transdisziplinäre Verständigung befördern werden. Bei der sich gegenwärtig abzeichnenden Neigung zur historischen Anthropologie kann die Semiotik, wie sie in dieser Zeitschrift ihren Niederschlag findet, nur an Gewicht gewinnen und ihre guten Dienste entfalten. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Achim Eschbach & Ernest W. B. Hess-Lüttich 204 Wir haben den Jubiläumsband dem aktuellen Thema Das Geld als Zeichen gewidmet und hierzu eine Reihe von Beiträgen versammelt, die uns geeignet erscheinen, gleichsam in nuce sowohl das semiotische Spektrum dieses Feldes im besonderen abzubilden als auch das breite Spektrum der Semiotik im allgemeinen zu repräsentieren. Wenn wir dabei die Diskussion mit Beiträgen von Georg Simmel, Kurt Singer und Karl Bühler eröffnen, so geschieht dies einerseits als Verbeugung vor den Klassikern, die - wie nicht anders zu erwarten - die zentralen Aspekte der Thematik bereits markiert und besetzt haben. Andererseits sind diese Klassikertexte aber auch in besonderer Weise dazu geeignet, anschaulich unter Beweis zu stellen, daß das semiotische Unternehmen überhaupt von Anfang an zutiefst interdisziplinär orientiert war. Dies trifft natürlich erst recht für die jüngeren Autoren zu, die in diesem Heft vertreten sind. Der Hauptunterschied zwischen den "antiqui" und den "moderni" dürfte allerdings in erster Linie darin zu suchen sein, daß jene noch im theoretischen Vorfeld der Semiotik arbeiteten, während diese nach erfolgter fachlicher Etablierung auf semiotische Detailprobleme eingehen. Neben dem Jubiläum unserer Zeitschrift und den Bemerkungen zu diesem Themenheft über Das Geld als Zeichen gibt es freilich, last but not least, noch einen weiteren Anlaß für unsere Vorrede: Jürgen Trabant, der uns an Lebensjahren ein wenig vorauseilende 'Senior' der Herausgeber dieser Zeitschrift, feiert seinen sechzigsten Geburtstag und wir möchten ihm dieses Jubiläumsheft als unseren besonderen Dank zu seinem runden Geburtstag widmen. Wir haben über ein Vierteljahrhundert in bemerkenswerter Freundschaft und Harmonie zusammengearbeitet und dabei ein gemeinsames Werk geschaffen, das sich, wie wir meinen, durchaus sehen lassen kann. Wir sind uns sehr wohl bewußt, welchen großen Anteil Jürgen Trabant an diesem Werk hat und hoffen zuversichtlich, daß diese wunderbare fachliche Kooperation und persönliche Freundschaft über viele weitere Jahre hinweg tragen und gedeihen möge. Berlin/ Bern/ Essen/ Tübingen Achim Eschbach & Ernest W. B. Hess-Lüttich Das Geld als Zeichen: Georg Simmel, Kurt Singer und Karl Bühler Achim Eschbach 1.0 Einleitung Wenn vom Geld die Rede ist, drängen sich sofort vertraute Sätze ins Gedächtnis wie z.B.: “Beim Geld hört die Gemütlichkeit auf”; “wo man mit dem Taler läutet, gehen alle Türen auf”; “Geld stinkt nicht”; “Kasse macht sinnlich”; “Geld verdirbt den Charakter” oder “Geld regiert die Welt”. Diese Liste ließe sich nahezu beliebig erweitern. Ich möchte im folgenden allerdings nicht über soziale Vorurteile sprechen - obwohl das auch ein kultursemiotisch spannendes und ergiebiges Thema wäre - sondern über die Semiotik des Geldes, um auf diesem Wege etwas über das “Wesen” des Geldes und die Funktion von Zeichen im Prozeß der Zivilisation zu erfahren. Das Geld ist wie nur wenige andere menschliche Erfindungen dazu geeignet, den Prozeß der Zivilisation zu dokumentieren und rekonstruieren, weil es sich dabei um ein Phänomen handelt, das die Menschheit seit der klassischen griechischen Antike, d.h. während der nahezu gesamten kodifizierten Geschichte der Menschheit prägte. Diese Ausgangshypothese möchte ich durch zwei literarische Verweise auf Autoritäten stützen: Der Hegelpreisträger Jacques Le Goff zeigt in seinem fabelhaften Buch ‘Die Geburt des Fegefeuers’ (Le Goff, 1991), welche ausschlaggebende Rolle das Geld beim Wandel des Weltbildes im Mittelalter gespielt hat und der nicht minder bedeutende Sozialwissenschaftler Max Weber untersucht in seinem einflußreichen, wenn auch nicht unumstrittenen Werk ‘Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus’ (Weber, 1991) die Funktion des Geldes bei der Genese des Kapitalismus. Die Resultate dieser beiden Studien konvergieren in der These, daß erst die Erfindung des Fegefeuers um 1170 der modernen Geldwirtschaft endgültig den Weg ebnete, was im übrigen die Kölner Ausstellung ‘Himmel Hölle Fegefeuer’ Jezler, 1994) anschaulich und eindrucksvoll belegte. 1.1 Das heilige Geld und die Zeitdiebe Im Britischen Museum wird die älteste uns bekannte beschriftete Münze aufbewahrt, die die Inschrift “phaenos eimi sema” trägt. Dieses Zeichengeld verweist auf die griechische Herkunft des Geldes, über die wir vor allem in Bernhard Laums historischer Untersuchung des sakralen Ursprungs des Geldes (Laum, 1924) und in Joachim Schachts Kulturanthropologie des Geldes (Schacht, 1967) wertvolle Aufschlüsse finden. Die Etymologie des Geldbegriffs zeigt einen ursprünglich religiösen Hintergrund mit der Bedeutung ‘Vergeltung’, ‘Ersatz’, ‘Opfer’. Das germanische Opfer heißt ‘Geld’, weil es Leistungen der Götter entgilt. In der griechischen Polis verlangt das Staatswohl, “daß die den Staat schützenden Gottheiten durch K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Achim Eschbach 206 Athenisches Geld. Rückseite eines silbernen Tetradrachmen, um 470 v. Chr. geschlagen. Links von der Eule ein Olivenzweig. (Bibliothèque nationale, Paris) Griechischer Silberstater: Widder aus Phokis, um 479-470 v.Chr.; (Bibliothèque nationale, Paris) Zuteilung der ihnen zukommenden Gaben zufriedengestellt werden. ‘Verteilen’, ‘zuteilen’ heißt ‘nemein’, das zugehörige Substantiv ist nomos. Nomos, womit später ganz allgemein das staatliche Gesetz bezeichnet wird, bedeutete ursprünglich die ‘Verteilungsordnung’, und zwar ist speziell das Kultgesetz nomos genannt worden, weil es die Zuteilung der Opfergaben ordnet. Im sakralen Nomos liegen die Anfänge der staatlichen Währung; denn hier zuerst setzt der Staat ein Gut fest und leistet Gewähr für seine Qualität, und dies vom Staat bestimmte und gewährleistete Gut dient als gültiges Entgeltungsmittel” (Laum, 1924: 29). Das offizielle Opfergut ist bei Griechen, Römern, Indern und Germanen das Vieh. Folglich hat das Vieh die Eigenschaft des Geldes, es ist Geld. Zur Opferung ist aber nicht ein jedes Tier geeignet; deshalb müssen geeignete Opfertiere aus der Herde ausgewählt werden, wofür verbindliche Maßstäbe und Kriterien entwickelt werden müssen. Zu diesem Zweck werden Tiere derselben Gattung miteinander verglichen und aus dem Vergleich ihrer Merkmale wird ein Normaltypus geschaffen, der von diesem Moment an als qualitative Norm gilt (cf. ibid., 27). Die Geltung des kultischen Zahlungsmittels ‘Vieh’ ist zuerst auf den Verkehr zwischen Göttern und Menschen beschränkt; es dauert allerdings gar nicht lange, bis das Opfergeld den kultischen Raum überschreitet und auch im profanen Verkehr als Tauschmittel eingesetzt wird. Der nächste Schritt in der Entwicklung von chartalem, staatlichem Geld wird dann vollzogen, wenn an die Stelle realer Opfertiere tönerne oder metallische Tieridole oder Abbilder treten. Die Substitution der realen Opfertiere durch stoffwertlose Idole muß als ein sekundärer Akt der Semiotisierung nach der primären Elementarisierung betrachtet werden, insofern sich der Wert der Tiersymbole von ihrer Materialität auf die Funktion verlagert, die sie im Verkehr zwischen Göttern und Menschen erfüllen; diese Funktion besteht darin, Lösemittel eines Schuldverhältnisses zu sein (cf. ibid., 90). Zur Erläuterung dieses Semiotisierungsprozesses führt Laum folgendes Beispiel an: “Zunächst erhält Asklepios einen wirklichen Hahn als Opfer, dann das Abbild eines Hahnes, und dies Symbol wird dann auf Edelmetall geprägt. Die Leistung des Heilgottes wird also zunächst durch ein Naturalgut, dann durch die Münze abgegolten; man kann also auch beim Opfer von einer Stufenfolge: Naturalwirtschaft-Geldwirtschaft sprechen” (ibid., 147). Das Geld als Zeichen 207 350 v.Chr.; Schildkröte aus Ägina, (Bibliothèque nationale, Paris) Eine Biene auf einer Tetradrachme von Ephesus, Silber. Um 375-300 v.Chr. (Bibliothèque nationale, Paris) Wir haben zuvor bereits gehört, daß sich die Münze in einem irritierend anthropomorphen Sprechakt als ‘Zeichen’ bezeichnet. Der Ausdruck ‘Zeichen’ bezieht sich auf sakrale Inhalte, von denen Platon im 17. Kapitel seines Kratylos spricht, wenn er den Leib (soma) als das Grab (sema) der Seele charakterisiert. Dieses Wortspiel deutend kommentiert Schacht den Leib als Gefängnis der Seele, nach dessen Tode sie im Jenseits ein besseres Los erwarte. Wörtlich heißt es bei Schacht: “Das ‘Grabmal’ wäre also Zeichen der ‘abgeschiedenen’, vom Leib unterschiedenen Seele. Tod und Grab sind ‘dunkler Hintergrund’ goldenen Lebens, als mysterium tremendum Einbruchsstelle des ‘Ganz-Anderen’: Ort einer Epiphanie des Numinosen” (Schacht, 1967: 70).’ Schacht weist darauf hin, daß ‘sema’ bei Platon auch eine zweite Bedeutung besitzt: “Gewand, als stoffliche Hülle des Geistigen. Das Gewand ist für griechisches Denken Zeichen dessen, was es verhüllt. ‘Der Gottheit lebendiges Kleid’ ist ein gewirktes, Geheimwissen erforderndes Flechtwerk. Wirken ist poiein: dies war das Tun der ‘eingeweihten’ Schmiede: Hephaistos schmiedete das Netz. Die Schmiede vollzogen die Zurüstung des frühen Münzgeldleibes als ‘Zeichen’ und Gewand” (ibid., 71). Der ursprünglich anschaulich vorhandene, sakrale Charakter der griechischen Münzen verschwindet rasch: Das Geld wird zu einem abstrakten, anonymen, der Zeit enthobenen Wertaufbewahrungsmittel, dessen sakrale Inhalte ins Unterbewußte abgesunken sind (cf. ibid., 79), Die Unpersönlichkeit des Geldes zählt zu den wichtigsten Ursachen für die tiefsitzende Abneigung der christlichen Kirche gegen jede kapitalistische Regung, die ihre Aversion gegen Geldgeschäfte, speziell gegen den Wucher, mit anderen Religionen teilt. Schacht hat eine Analyse der kirchlichen Abneigung gegen Geldgeschäfte vorgenommen, bei der er zu dem Ergebnis gelangt: “Das Geldwesen benutzt die Sprache der Religion, aber es höhlt sie aus. Als zeichenhaftes Objekt mit latent-absolutistischer magischer Scheinfreiheit von Zeit ist das Geld das dinglichfiktive ‘Abzieh’-Bild eines in ein abstraktes Material ‘investierten’ Gottesbildes, das in ihm ‘versiegelt’ ist wie in einem ‘Grabmal’: Insofern ist es die Totenmaske Gottes” (ibid., 152). Achim Eschbach 208 Jacques Le Goff betont den gleichen Sachverhalt, wenn er fragt: “Womit handelt er (der Wucherer) denn, wenn nicht mit der Zeit, die verstreicht zwischen den Zeitpunkten, an denen er zunächst verleiht und später die verzinste Rückzahlung erhält? Doch die Zeit gehört niemand anderem als Gott. Als Zeitdieb ist der Wucherer ein Dieb des Eigentums Gottes. Darin sind sich - dem heiligen Anselmus und Petrus Lombardus zufolge - alle Zeitgenossen einig: Der Wucherer leiht dem Schuldner nichts, was ihm gehört, sondern nur die Zeit, die Gott gehört. Er darf also keinen Gewinn aus dem Verleih fremden Eigentums ziehen” (Le Goff, 1988: 40). So klar das kirchliche Wucherzinsverbot bis zum 13. Jahrhundert gewesen sein mag, so gründlich geriet dieses festgefügte Weltbild mit der Erfindung des Fegefeuers ins Wanken, insofern damit erstmalig die Möglichkeit eröffnet wurde, sich durch die Entrichtung eines vom Klerus als geeignet festgelegten Geldbetrages von seinen Sünden loszukaufen, auf daß die Seele aus dem Fegfeuer springe. Ohne Zweifel ist Le Goff zuzustimmen, wenn er sagt: “Die Hoffnung, der Hölle zu entkommen, erlaubte es dem Wucherer, Wirtschaft und Gesellschaft des 13. Jahrhunderts auf ihrem Weg zum Kapitalismus voranzutreiben” (ibid., 97). Es ist aber auch nicht zu bestreiten, daß die kirchliche Liberalisierung des Geldverkehrs und in deren Gefolge der ausufernde Ablaßhandel der römischen Kirche zu den Quellpunkten der Reformationsbewegungen zählen, wie es wiederum nur einiger theologischer Spitzfindigkeiten bedurfte, damit sich aus dem Calvinismus der Geist des Pragmatismus entfalten konnte. 1.2 Ordnung und Chaos: Geld, Wert und Sprache Wenn wir die theologisch-kulturhistorische Diskussion des vorigen Abschnitts in einen allgemeineren Rahmen stellen, zeigt sich recht schnell, daß das Geld eine besondere Ausdrucksform ist, die Menschen wählen, um sich über Werte und Wertrelationen zu verständigen. Aufgrund einer ganzen Reihe von augenscheinlichen Homologien, die von der Art der primären Elementarisierung über die Organisation der menschlichen Tauschbeziehungen bis zu ihrer Universalität reichen, sind deshalb bereits frühzeitig Parallelen zwischen Sprache und Geld gezogen worden. So nennt schon Adam Müller (1816) das Geld “eine Art von Sprache” und Foucault (1977: 112) betont, Turgot habe in seinem ‘Etymologie’-Artikel für die Enzyklopädie die erste systematische Parallele zwischen dem Geld und den Wörtern gezogen (was allerdings nicht zutrifft! ). Seitdem sind zahlreiche Arbeiten erschienen, die das Verhältnis von Sprache und Geld thematisieren, die uns im vorliegenden Zusammenhang aber nur so weit beschäftigen sollen, als sie die Semiotizität der beiden Tauschsysteme erhellen. H. Walter Schmitz (1986) und Marcelo Dascal (1987) haben unter Hinweis auf Quintilian, Bacon, Hobbes, Locke, Leibniz, de Bonald, South, Trench und Bréal darauf aufmerksam gemacht, daß die Analogie von Wort und Münze auf einer wesentlich älteren Tradition basiert, als Foucault vermutete. Die Kontroverse hinsichtlich der Zulässigkeit und erkenntnistheoretischen Fruchtbarkeit, Geld und Sprache zu parallelisieren, verläuft zwischen Chartalisten einerseits, die die Wertbestimmung des Geldes aus der staatlichen Autorität ableiten wollen, was Georg Friedrich Knapp zu Beginn unseres Jahrhunderts in seiner vieldiskutierten Staatlichen Theorie des Geldes (Knapp, 1908) in eine zugespitzte und endgültige Form gebracht hat, und den Konventionalisten andererseits, die bei der Bestimmung der Bedeutung sprachlicher Zeichen Zuflucht zu klaren und präzisen Definitionen nehmen (cf. Dascal, 1987: Das Geld als Zeichen 209 11). Zum tertium comparationis von Geld und Sprache wird bei Tönnies ebenso wie bei de Saussure der Wertbegriff bemüht, so daß Worte bei Tönnies als “Zeichen von Gegenständen als Vorstellungen oder Ideen” und Geld als “Zeichen von Gegenständen als Werten” (Tönnies, zit. nach Schmitz, 1986: 144) erscheinen. Unter der Voraussetzung, daß die Zeichen unter der genannten Prämisse ein soziales Wollen zum Ausdruck bringen, wäre eine perfekte Analogie von Sprache und Geld in die Wege geleitet (cf. Schmitz, 1986: 146). Ferdinand de Saussure hat bei seiner Diskussion des Wertbegriffs eine direkte Analogie zwischen Linguistik und politischer Ökonomie hergestellt, was ihm insofern als statthaft erschien, als es in beiden Wissenschaften um die Etablierung eines Systems geht, das den Vergleich ungleichartiger Dinge gestattet: Arbeit und Lohn einerseits und Signifikant und Signifikat andererseits. Um den Vergleich von Ungleichartigem zu bewerkstelligen, hat de Saussure Zuflucht zu der werttheoretisch wie zeichentheoretisch gleichermaßen fruchtbaren Relation ‘simile : dissimile’ genommen. Wörtlich heißt es bei de Saussure: “Zur Antwort auf diese Frage wollen wir zunächst feststellen, daß auch außerhalb der Sprache alle Werte sich von diesem Grundsatz beherrscht zeigen. Sie sind immer gebildet: 1. durch etwas Unähnliches, das ausgewechselt werden kann gegen dasjenige, dessen Wert zu bestimmen ist; 2. durch ähnliche Dinge, die man vergleichen kann mit demjenigen, dessen Wert in Rede steht. Diese beiden Faktoren sind notwendig für das Vorhandensein eines Wertes. So muß man zur Feststellung des Wertes von einem Fünfmarkstück wissen: 1. daß man es auswechseln kann gegen eine bestimmte Menge einer anderen Sache, z.B. Brot; 2. daß man es vergleichen kann mit einem ähnlichen Wert des gleichen Systems, z.B. einem Einmarkstück, oder mit einer Münze eines anderen Systems, z.B. einem Franc” (Saussure, 1967: 137). Ferruccio Rossi-Landi hat die semiotische Homologisierung von Linguistik und politischer Ökonomie noch ein Stück weitergetrieben, da er aufgrund der Beobachtung, daß Worte und Mitteilungen nicht in der natürlichen Umwelt vorkommen, den Schluß für gerechtfertigt hält, daß sie Produkte menschlicher Arbeit sind (cf. Rossi-Landi, 1983: 36). Unter dieser Voraussetzung stellt er fest: “Like the other products of human work, words, expressions and messages have a use value or utility insofar as they satisfy needs, in this case, the basic needs for expression and communication with all the changing stratification that have historically grown up around them” (ibid., 50), und er fährt fort: “We could argue from this that the field of linguistic value corresponds entirely to that of meaning: or, somewhat more concretely, that ‘having a value’ is the same äs ‘having a meaning’ (that ‘being worth something’ is the same äs ‘meaning something’)” (ibid.). Gegen Rossi-Landis entschlossene Gleichsetzung von ‘einen Wert haben’ und ‘eine Bedeutung’ sprechen ebenso gewichtige Argumente wie die Analogisierung von Sprache und Geld nicht unkommentiert passieren darf: So zutreffend und wichtig es ist, die Sprache von dem Odium ihrer vermeintlichen Natürlichkeit zu befreien und sie dialektisch in den Prozeß des gesellschaftlichen Handelns einzubinden, so verhängnisvoll wäre es doch, Sprache als das Produkt eines linguistischen Gesamtarbeiters erscheinen zu lassen, der sprachlichen Mehrwert erzeugt, weil dies letzten Endes einen Rückfall in ein vorkritisches, unhistorisches Sprachdenken implizierte, in dem eine Gruppe noch nicht sprachbegabter Wesen die Sprache in ähnlicher Weise erfinden könnte, wie das Geld erfunden worden ist, um in einem bereits existierenden Prozeß gesellschaftlicher, religiöser Interaktion eine höhere Form des Zeichenverkehrs zu ermöglichen. Achim Eschbach 210 Unter Hinweis auf Victoria Lady Welby hat Walter Schmitz eine Reihe von Bedenken gegen eine zu weitgehende Annäherung von Sprache und Geld zusammengetragen, die im vorliegenden Zusammenhang sehr nützlich sind: “Im Gegensatz zu Worten werden Geldstücke nicht nach stilistischen, ästhetischen oder rhetorischen Gesichtspunkten arrangiert; aus ihnen können keine Komplexionen gebildet werden; sie sind nicht abkürzbar und bestehen nicht aus Einheiten, die wie Sprachlaute in Klang und Schrift modifizierbar wären; Geldstücken fehlt die Vielfalt variierender Assoziationen der Worte bei verschiedenen Personen und die Fähigkeit, häufig trotz ‘äußerer’ Verschiedenheit gegenseitig einzeln austauschbar zu sein; Geldstücke einer Klasse sind alle Objekte mit genau demselben Wert, Worte einer Klasse jedoch nicht; Geldstücke sind Zeichen einer Standardmaßeinheit, Worte nicht; schließlich gibt es beim Geld keine Entsprechung zu der Möglichkeit, die Bedeutung von Worten durch Wärme oder Kälte des Tons, durch weinendes, ernstes oder lächelndes Gesicht oder durch Unterstreichung oder Großdruck zu ändern” (Welby, 1901: 195; zit. nach Schmitz, 1986: 149). Pertti Ahonen verlängert die Liste der Unterschiede zwischen Sprache und Geld um folgenden Gesichtspunkt: “Language is not predominantly quantitative, quantifying and quantifiable like money, and the reciprocal convertibility of the linguistic and social values conveyed by different natural languages is nothing but as complete as the convertibility of the monetary values carried by different monies, although the convertibility of monetary values is not absolutely complete even in the case of a single money” (Ahonen, 1989: 6). Ein weiterer Einwand gegen eine zu weitgehende Assimilation des Zeichen- und des Geldbegriffs, auf den wiederum Walter Schmitz aufmerksam macht, ist aus Überlegungen Karl Bühlers und Georg Simmels abzuleiten, auf die ich im folgenden noch näher eingehen werden: Während das konkrete Wort sematologisch als ein “Zeichending” zu betrachten ist, bleibt das Geld den Gütern verhaftet, so sehr es sich in seiner Papierform auch den Zeichendingen nähern mag (cf. Schmitz, 1986: 154) : In entsprechender Weise hatte sich Simmel gegen den vollkommenen Verlust des “substanziellen Gegenwertes” des Geldes und die völlige Auflösung in seinem Symbolwert ausgesprochen, “weil bei absoluter Vollendung dieser Entwicklung auch der Funktions- und Symbolcharakter des Geldes seinen Halt und seine zweckmäßige Bedeutung einbüßen würde” (Simmel, 1920: 149), was sich in der auch heute noch grassierenden “Goldillusion” alias “Deckungswahn” anschaulich manifestiert (cf. e.g. Schmölders, 1966: 221). Die Vielzahl der Bedenken gegen eine zu weitgehende Engführung von Sprache und Geld lassen es angeraten erscheinen, auf diese Art von Parallelisierung zu verzichten und stattdessen nach kultursemiotischen Kriterien Ausschau zu halten, die dazu geeignet sind, das Geld als Zeichen zu bestimmen und eine kritische Überprüfung bestehen. 2.0 Simmel, Singer und Bühler über Geld als Zeichen Es mag vielleicht ein wenig willkürlich und gesucht erscheinen, den Kulturphilosophen und Sozialwissenschaftler Georg Simmel (1858-1918), den Nationalökonomen, Platonspezialisten und Japankenner Kurt Singer (1886-1963) und den Sprachpsychologen Karl Bühler (1879-1963) in einer vergleichenden Betrachtung über das Geld als Zeichen zusammenzuführen, aber es sprechen doch eine Reihe von Umständen dafür, diesen Vergleich zu wagen. Das Geld als Zeichen 211 Da wären in erster Linie biographische Motive zu nennen: Kurt Singer hat immerhin acht Semester bei Simmel in Berlin studiert, besuchte dessen Privatissime und notierte in seinem “Abriß eines Lebenslaufes”: “Es war Simmels Philosophie des Geldes (1900), die mir die Brücke zur Geldtheorie wurde” (NL Kurt Singer: Cll 1: 2). Für die engen Beziehungen zwischen Georg Simmel und Kurt Singer dürfte es weiterhin recht aufschlußreich sein, daß die beiden in Begleitung von Walther Rathenau den literarischen Salon von Sabine Lepsius besuchten, in dem gelegentlich auch der von Simmel und Singer verehrte Stefan George verkehrte. Über vergleichbar enge Beziehungen von Karl Bühler zu den beiden anderen liegen vorderhand keine brauchbaren Daten vor, was aber aufgrund der schwierigen Nachlaßlage in allen drei Fällen nicht sonderlich überraschen kann (1), so daß wir im vorliegenden Fall auf einige Indizien und Mutmaßungen angewiesen sind. Bühler dürfte während seiner Berliner Zeit als Forschungsassistent bei Carl Stumpf mit dem Werk Georg Simmels bekannt geworden sein, was ich aus der einfachen Tatsache ableiten möchte, daß Simmel das zeitgenössische Berliner akademische Tagesgespräch nachhaltig beschäftigte. Daß Bühler Simmels Philosophie des Geldes sorgfältig studiert hat, ergibt sich aus einer Reihe wörtlicher Zitate, die über Bühlers gesamtes publiziertes und unpubliziertes Werk verstreut sind. Schließlich darf man bona fide unterstellen, daß Bühler die Publikation von Singers Hamburger Habilitationsschrift Das Geld als Zeichen (Singer, 1920) in seinem Jenenser Hausverlag Fischer nicht entgangen sein dürfte. Eine weitere Verbindungslinie zwischen den drei Gelehrten verläuft über den Simmelschüler Ernst Cassirer, der zur selben Zeit wie Singer in Hamburg tätig war. Der Kulturphilosoph und Semiotiker Cassirer war der Verfasser eines der entscheidenden Gutachten, die zur Verleihung des Walther-Rathenau-Preises an Kurt Singer führten und es ist anzunehmen, daß der an einschlägigen Problemen lebhaft interessierte Kurt Singer zumindest passiv an dem von Karl Bühler in Hamburg organisierten Sprachentag der Deutschen Gesellschaft für Psychologie teilnahm, auf dem u.a. Ernst Cassirer referierte. Neben den biographischen und literarischen Berührungspunkten sind es jedoch vor allem inhaltliche Aspekte, die einen Vergleich Simmels, Singers und Bühlers nicht nur gestatten, sondern geradezu nahelegen. Aus der Hochflut geldtheoretischer Untersuchungen der damaligen Zeit treten die Arbeiten von Simmel, Singer und Bühler insofern hervor, als sie sich im Unterschied zu sämtlichen anderen Arbeiten der Geldproblematik aus zeichentheoretischer Perspektive nähern und bei ihren semiotischen Studien weniger oder gar nicht auf die Lösung geldtheoretischer Probleme abzielten, sondern die Geldproblematik paradigmatisch für ihre kultursemiotischen Interessen einsetzten, was Simmel gleich zu Beginn seiner Philosophie des Geldes unmißverständlich erklärte: “Keine Zeile dieser Untersuchungen ist nationalökonomisch gemeint. Das will besagen, daß die Erscheinungen von Wertungen und Kauf, von Tausch und Tauschmittel, von Produktionsformen und Vermögenswerten, die die Nationalökonomie von einem Standpunkte aus betrachtet, hier von einem anderen aus betrachtet werden. (…) Der erste (Teil des Buches) soll das Wesen des Geldes aus den Bedingungen und Verhältnissen des allgemeinen Lebens verstehen lassen, der andere umgekehrt Wesen und Gestaltung des letzteren aus der Wirksamkeit des Geldes” (Simmel, 1900: VI f.). Diesem Anspruch und Vorhaben gemäß werde ich nicht den - vermessenen - Versuch unternehmen, das Gesamtwerk der drei hier zur Diskussion stehenden Theoretiker zu rekonstruieren, sondern mich auf die Behandlung einzelner, allerdings wesentlicher Momente beschränken, die dazu geeignet sind, eine Kultursemiotik des Geldes zu entwerfen, wobei ich Achim Eschbach 212 ausdrücklich an die Position Simmels anknüpfe, “daß man aus der Fülle vorhandener Wissenschaften und bewährter Theorien heraus die Umrisse, Formen und Ziele einer Wissenschart fixiere, bevor man an den tatsächlichen Aufbau derselben geht” (Simmel, 1890: 2), eine Position, die Karl Bühler nahezu wortgetreu ebenfalls vertreten hat (cf. Bühler, 1934: 21f.). 2.1 Georg Simmel: Wechselwirkungen Georg Simmel führt in seiner Philosophie des Geldes, die ich eher Kultursemiotik des Geldes genannt hätte, den überzeugenden Nachweis, daß das Geld den verborgenen Gegenstand der Moderne darstellt. Simmel gelangt zu dieser Meinung, weil er in dem Geld nicht nur einen Wertmaßstab und ein universelles Tauschmittel erkennt, sondern eine weit über die ökonomische Funktion hinausreichende Bedeutung ermittelt. Die moderne Gesellschaft ist eine Geldgesellschaft und zwar nicht etwa nur deshalb, weil ihre wirtschaftlichen Transaktionen auf dem Geld basieren, sondern weil der moderne Geist im Geld seinen vollkommensten Ausdruck findet (cf. Frankel, 1979: 20). Daß das Geld zur vollkommensten Ausdrucksform der Moderne werden konnte, führt Aldo Haesler (in: Kintzelé, 1993: 236) auf eine monetäre kopernikanische Revolution zurück: “Das Geld dient nicht mehr den Tauschvorgängen, sondern diese dienen dem Geld.” Diese sicherlich etwas provokante Formulierung führt uns zu den semiotischen Wurzeln des Simmelschen Ansatzes. Simmel sieht das Spezifische der Wirtschaft als einer besonderen Verkehrs- und Verhaltensform “nicht sowohl darin, daß sie Werte austauscht, als daß sie Werte austauscht” (Simmel, 1900: 31 F.). Anders aber als Rossi-Landi bestimmt Simmel einen Wert nicht als eine statische Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern gewinnt den Wertbegriff aus dem Tauschverhältnis, das zwei wirtschaftliche Subjekte in einem Hergeben eines Opfers und dem Einstreichen eines Profits eingehen (cf. ibid., 48f.; vgl. dazu auch: Pohlmann, 1987: 74f.): “Man mag den einen Gegenstand noch so genau auf seine für sich seienden Bestimmungen untersuchen: den wirtschaftlichen Wert wird man nicht finden, da dieser ausschließlich in dem Wechselverhältnis besteht, das sich aufgrund dieser Bestimmungen zwischen mehreren Gegenständen herstellt, jedes das andere bedingend und ihm die Bedeutung zurückgebend, die es von ihm empfängt” (Simmel, 1900: 61). Simmels Wechselwirkungsbegriff, der in der Philosophie des Geldes nicht nur eine herausragende Rolle spielt, sondern m.E. den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt des gesamten Ansatzes darstellt, ist ursprünglich als Gegenentwurf zur monokausalistischen Geschichts- und Gesellschaftsbetrachtung des historischen Materialismus entwickelt worden (cf. Becker, 1971: 6), wie Simmel seine Grundabsicht im Vorwort seiner Philosophie des Geldes erläutert: “In methodischer Hinsicht kann man diese Grundabsicht so ausdrücken: dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichens Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden” (ibid., X), wobei ihm durchaus bewußt gewesen sein dürfte, daß die über den Wechselwirkungsbegriff transportierte Tieferlegung der semiotischen Fundamente den historischen Materialismus nicht etwa befestigte, sondern vom Kopf auf die Füße stellte, um einen nicht ganz unbelasteten Ausdruck zu wählen. Simmel hält sich aber nicht lange bei dieser sicherlich nicht unwesentlichen Kontroverse auf, sondern zieht erste Schlußfolgerungen aus seiner Einsicht, daß alles Das Geld als Zeichen 213 soziale Leben Wechselwirkung ist: Da Simmel unter der Perspektive seines Wechselwirkungskonzeptes ‘Gesellschaft’ nicht als einen ‘einheitlich feststehenden’, sondern als einen ‘graduellen Begriff” auffaßt, kann er konsequenterweise den Erkenntnisprozeß auch nicht mit ihm beginnen lassen (cf. Hübner-Funk, 1982: 75); stattdessen rekurriert er auf die bereits in seiner Kantdissertation angelegte Doppelkategorie des ‘Ich und Du’ (2), deren Wechselverhältnis ihm als geeignete Grundlage für die Konstitution von Gesellschaft erscheint, wozu Friedrich Tenbruck notiert: “Simmel geht aus von folgender Überzeugung: ‘Die Einsicht: der Mensch sei in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in Wechselwirkungen mit anderen Menschen lebt - muß allerdings zu einer neuen Betrachtungweise in allen sogenannten Geisteswissenschaften führen’. (…) Wir glauben jetzt, die historischen Erscheinungen aus dem Wechselwirken und dem Zusammenwirken der Einzelnen zu verstehen, aus der Summierung und Sublimierung unzähliger Einzelbeiträge, aus der Verkörperung der sozialen Energien in Gebilden, die jenseits des Individuums stehen und sich entwickeln” (Tenbruck, 1958: 594). Wenn es aber zutrifft, daß Gesellschaft immer als die je spezifische Wechselbeziehung sich austauschender Subjekte begriffen werden muß, müssen wir systematisch in Rechnung stellen, daß die Wechselwirkung stets eine spezifische Form aufweist, weshalb der sich an die Wechselwirkung anschließende Gesellschaftsbegriff auch immer nur als geformt gedacht werden kann. Wenn aber die je spezifische Wechselwirkung als Form der Vergesellschaftung zu betrachten ist, müssen wir sofort nach dem historischen Ausdruck dieser Beziehung fragen. Simmel gibt auf diese Frage eine unmißverständliche Antwort, weswegen ich ihn ausführlich zu Wort kommen lassen möchte: “Als sichtbarer Gegenstand ist es (das Geld) der Körper, mit dem der von den wertvollen Gegenständen selbst abstrahierte wirtschaftliche Wert sich bekleidet hat, dem Wortlaut vergleichbar, der zwar ein akustisch-physiologisches Vorkommnis ist, seine ganze Bedeutung für uns aber nur in der inneren Vorstellung hat, die er trägt oder symbolisiert. Wenn nun der wirtschaftliche Wert der Objekte in dem gegenseitigen Verhältnis besteht, das sie, als tauschbare, eingehen, so ist das Geld also der zur Selbständigkeit gelangte Ausdruck dieses Verhältnisses; es ist die Darstellung des abstrakten Vermögenswertes, indem aus dem wirtschaftlichen Verhältnis, d.h. der Tauschbarkeit der Gegenstände, die Tatsache dieses Verhältnisses herausdifferenziert wird und jenen Gegenständen gegenüber eine begriffliche - und ihrerseits an ein sichtbares Symbol geknüpfte - Existenz gewinnt” (Simmel, 1900: 87). Hat das Geld einmal die Rolle der Ausdrucksfunktion der gesellschaftlichen Wechselverhältnisse übernommen, ist damit der “absolute Bewegungscharakter der Welt” (ibid.,583) nicht etwa außer Kraft gesetzt, sondern ganz im Gegenteil unterstrichen: Ganz in dem Sinne, wie es für Simmel kein vollendetes System der Erkenntnis geben kann, sondern immer nur einen unabschließbaren Prozeß des Erkennens (cf. Becker, 1971: 73), was der amerikanische Semiotiker Peirce in dieser Form sicherlich unterschrieben hätte, ist das Geld darauf angelegt, immer wieder fortgegeben zu werden und neue, höhere gesellschaftliche Bewegungsformen zu antizipieren. Günter Schmölders (1966: 35) stellt dazu lapidar fest, daß die Entwicklung zu immer höherer Abstraktion im Wert- und Gelddenken ein Grundzug aller Kulturgeschichte sei, was ich an anderer Stelle unter dem Begriff ‘Verzeichnung’ (cf. Eschbach, 1989) diskutiert habe, und Simmel erläutert: “Man könnte dies als eine steigende Vergeistigung des Geldes bezeichnen. Denn das Wesen des Geistes ist, der Vielheit die Form der Einheit zu gewähren. In der sinnlichen Wirklichkeit ist alles nebeneinander, im Geist allein gibt es ein Ineinander. Vermittels des Begriffs gehen dessen Achim Eschbach 214 Merkmale, vermittels dessen Urteils gehen Subjekt und Prädikat in eine Einheit ein, zu der es in der Unmittelbarkeit des Anschaulichen gar keine Analogie gibt. (…) Darum kann das Geld, die Abstraktion der Wechselwirkung, an allem Räumlich-Substantiellen nur ein Symbol finden, denn das sinnliche Außereinander desselben widerstrebt seinem Wesen. Erst in dem Maß, in dem die Substanz zurücktritt, wird das Geld wirklich Geld, d.h. wird es zu jenem wirklichen Ineinander und Einheitspunkte wechselwirkender Wertelemente, der nur die Tat des Geistes sein kann” (Simmel, 1900: 190). Wenn aber Geld in fortschreitender Abstraktheit als “substanzgewordene Sozialfunktion” angesprochen werden soll, wie Otthein Rammstedt (in: Kintzelé, 1993: 30) formuliert, und wenn mit Geld die “Funktion des Tausches” zu “einem für sich bestehenden Gebilde kristallisiert” (ibid.) ist, dann ersetzt Geld die Wechselwirkung, so daß Simmels Analyse der menschlichen Wechselverhältnisse auf die Pointe hinausläuft, daß das Geld als Symbolisierung aller Tauschverhältnisse in der Moderne die Rolle eines Symbols aller Bewertungen übernommen hat (cf. Köhnke in Kintzelé, 1993: 152), weshalb heute keine Kritik der politischen Ökonomie mehr gefordert wäre, sondern eine Kritik des Zeichens. 2.2 Kurt Singer: Geltung Kurt Singer war meines Wissens der erste deutsche Wissenschaftler, der sich mit einer semiotischen Untersuchung an einer deutschen Universität habilitierte. Singers Habilitationsschrift, die 1920 unter dem Titel Das Geld als Zeichen publiziert wurde, argumentiert anders als Simmels Philosophie des Geldes über weite Strecken durchaus nationalökonomisch, aber da er seine geldtheoretischen Untersuchungen auf der Grundlage einer semiotischen Methodologie entwickelt, die sich in gewissen Hinsichten von Simmels Überlegungen unterscheidet und diese ergänzt, ist es sicherlich nützlich, dem Singerschen Ansatz einige Aufmerksamkeit zu widmen. Um den Singerschen Ansatz von vorneherein richtig einzuschätzen, reicht es bei weitem nicht aus, an die Anfänge seiner Studien bei Simmel zu erinnern; von mindestens gleicher Bedeutung wurde für Kurt Singer die Staatliche Theorie des Geldes von Georg Friedrich Knapp, zu dem Singer mit einer Empfehlung Gustav Schmollers zum Abschluß seiner Studien nach Straßburg ging. Wie tief Singer von der Knappschen Geldtheorie beeindruckt war, bringt er in seinem zuvor bereits erwähnten “Abriß eines Lebenslaufs” zum Ausdruck: “Seit dem Erscheinen von Georg Friedrich Knapps Staatlicher Theorie des Geldes (1905) war es mir klar, daß ich der Interpretation, Verteidigung und Weiterbildung des damals fast völlig verkannten Werkes für geraume Zeit meine besten fachlichen Kräfte zu widmen hätte” (NL Kurt Singer: Cll 1: 2). Nach seiner Promotion, in der er Probleme der indischen Geldreform behandelte, arbeitete Singer einige Zeit als Assistent des Hamburger Bankiers Friedrich Bendixen, der eine langjährige intensive Korrespondenz mit Knapp über dessen Geldtheorie unterhielt. In diesem Zusammenhang bliebe noch zu erwähnen, daß Kurt Singer in den fünfziger Jahren die Korrespondenz zwischen Bendixen und Knapp über die staatliche Theorie des Geldes von seinem australischen Exil aus auf Vermittlung des ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss edierte (cf. Singer, 1958), der mit Elli Heuss-Knapp, der Tochter von Singers Doktorvater, verheiratet war. Singer geht wie Simmel von der Voraussetzung aus, daß das Geld aus den Bedürfnissen des Tauschverkehrs entstanden ist, weshalb eine Theorie des Geldes in einer Theorie des Das Geld als Zeichen 215 Tauschverkehrs begründet werden muß (cf. Singer, 1920: 3). Singers Antwort auf die Frage nach der Besonderheit des menschlichen Tauschverkehrs zielt aber nicht wie bei Simmel auf eine Interdependenztheorie der menschlichen Wechselwirkungen, sondern streng chartalistisch auf die Geltung einer bestimmten Ordnung des Zahlungswesens, wie sie sich beispielsweise im Paragraph 1 des Münzgesetzes von 1 873 niederschlägt: “Im Deutschen Reich gilt die Goldwährung”. Diesem Geltungsbegriff entsprechend wäre die Goldmark nichts anderes als ein Name für diejenige Metallmenge, die dem geltenden Münzfuß entsprechend im baren Geld enthalten ist: “Der Zahlungsverkehr bedeutet dann die Hingabe von Gütern gegen bestimmte Metallmengen und die Messung des Güterwerts an dem Wert des Währungsstoffes” (ibid., 63). Dieses am Geltungsbegriff orientierte Geldverständnis ist nur unter der Voraussetzung plausibel, daß die Geldverfassung wie etwa in Deutschland bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges die Einlösung jedes gültigen Zahlungsmittels (d.h. Münzen und Banknoten) in Währungsmetall verbürgt. Mit der Ablösung der Goldwährung muß nach einer neuen Erklärung gesucht werden, wie auch uneinlösliche Zahlungsmittel ihre Geldfunktion erfüllen können, wenn sie nicht den Besitz einer bestimmten Goldmenge verbürgen. Diese Frage, die schon während des Ersten Weltkrieges und intensiver noch zu Beginn der Weimarer Republik diskutiert wurde, löst Singer in folgender Weise: “Der Begriff des Geldes setzt den Begriff der Werteinheit und den Begriff der Zahlungsgemeinschaft voraus, und zugleich die Anerkennung der Grundtatsache, daß das Geld eine gesellschaftlich-staatliche, überindividuelle Einrichtung ist: eine Sache, die nicht vom Belieben des Einzelnen abhängt, sondern von Gruppen oder Anstalten geregelt wird, ein Ding bei dessen Verwendung der Einzelne abhängig ist von den Normen und Maßnahmen einer irgendwie definierten Gesamtheit, die nicht notwendig die Form eines Verbandes anzunehmen braucht, aber in den letzten Jahrhunderten regelmäßig annimmt” (ibid., 65f.). Zahlungsmittel als Träger von Werteinheiten werden nicht deshalb ausgewählt, weil sie stoffwertvoll irgendein menschliches Bedürfnis erfüllen, sondern weil sie zur Verwendung im Zahlungsverkehr taugen: “Das Geld wird von dem Zahlenden nicht angesehen als ein zum Gebrauch nützliches Ding, sondern als ein zum Zahlen geeignetes: nicht als Träger eines Wertes, sondern als Verkörperung einer Geltung. (…) Stücke, deren Geltung nicht durch Wägung, sondern durch Proklamation festgesetzt wird, nennen wir chartale Zahlungsmittel, wobei charta (Marke) eine bewegliche geformte Sache bedeutet, die von der Rechtsordnung als Träger einer bestimmten Bedeutung aufgefaßt wird” (ibid., 72f.) In einer wichtigen historischen Nebenbemerkung verweist Singer darauf, daß Platon im zweiten Buch der Politeia das Geld als ein “symbollon” bezeichnete und darunter immer etwas Konkretes verstand, das etwas anderes vorstellt, “das als realer Wert an sich nicht gelten soll, aber wogegen ein realer Wert eingetauscht wird” (ibid., 78f.). In diesem Zusammenhang sei auch kurz an die Kultursemiotik Freyers erinnert, der mit seiner Theorie des objektiven Geistes (Freyer, 1928) nicht nur Bühler nachhaltig beeinflußte. Freyer beschrieb Zeichen als eine Form des objektiven Geistes, deren Sinngehalt wesentlich über sich selbst hinausweist, d.h. nicht zentrisch, sondern vektoriell strukturiert ist. Das bedeutet, daß Zeichen ihren Sinngehalt nicht aus sich selbst heraus beziehen, sondern erst durch ihre Gerichtetheit auf andere Personen, Gegenstände, Sachverhalte oder Verhaltenserwartungen einen Sinn bekommen (cf. Heinemann, 1969: 49). Spätestens die historische Bezugnahme auf Platon Achim Eschbach 216 Banknoten mit der Einlösungsversicherung Das Geld als Zeichen 217 verdeutlicht unmißverständlich, weshalb Singer seine Abhandlung Das Geld als Zeichen nannte, denn seine Geldtheorie ist eine pragmatische Theorie des Gebrauchs von Geldzeichen in einem System von Zahlungsmitteln, dessen Geltung sich einer Norm oder Setzung des Staats oder der Gemeinschaft verdankt: “Der Wert, das heißt das Maß wirtschaftlicher Bedeutung, das ein Geldzeichen für den Wirtschaftenden hat, beruht auf der Fähigkeit des Geldzeichens, in Höhe der ihm durch Proklamation verliehenen Geltung zur Erfüllung von Verbindlichkeiten dienen zu können - und darum auch zum Kauf von Waren verwendbar zu sein. Der sogenannte ‘Wert des Geldes’ ist nichts anderes als der Wert der dafür käuflichen Güter; er ist eine Reflexerscheinung. Man nimmt nicht das Geld beim Verkauf von Waren an, weil es angeblich ‘Tauschwert’ hat, sondern das Geld hat für den Einzelnen Wert, weil er dafür Waren kaufen kann” (Singer, 1920: 89). Ohne jeden Zweifel wäre es denkbar, unter Verzicht auf jede vermittelnde Funktion von Geld im direkten Verkehr Waren gegen Waren zu tauschen, wie wir es aus historischen Beispielen der Naturalwirtschaft ebenso kennen wie aus aktuellen Fällen, in denen man in Zeiten der Hyperinflation auf die unsicher gewordenen Vermittler verzichtet. Durch den zeitweiligen Verzicht auf die Vermittlerdienst des Geldes ist dessen eigentlicher Zweck jedoch nicht widerlegt, den schon Aristoteles darin sah, die Werte der Dinge einander vergleichbar, aneinander meßbar zu machen, die ohne einen in Geltung befindlichen Wertmaßstab nicht vollkommen austauschbar wären, da die Dinge an sich unvergleichbar sind und erst durch die vermittelnde Tätigkeit des Geldes für den Zweck des Tausches kommensurabel gemacht werden, so daß Singer behaupten kann, daß erst durch das aufgrund einer staatlichen Norm geltende Geld die Gemeinschaft der Tauschenden im eigentlichen Sinne ermöglicht wird (cf. ibid., 187). 2.3 Karl Bühler: Gepräge Anders als Georg Simmel und Kurt Singer hat sich Karl Bühler nur eher gelegentlich und am Rande spezieller sematologischer Überlegungen zur Geldproblematik geäußert, wenn man einmal von dem unpublizierten Text “Das Geld als Zeichen” absieht, der allem Anschein nach im amerikanischen Exil als Vortragsmanuskript entstanden ist. Da Bühlers Überlegungen jedoch einen Aspekt berühren, der dazu geeignet scheint, eine sematologische Differenzierung von “Verkehrsdingen” wie Markennamen, Münzen und Wörtern herbeizuführen, gehört die Diskussion des Bühlerschen Ansatzes zweifelsohne in den vorliegenden Zusammenhang. Die Hersteller von Zigaretten, Waschmitteln, Schokolade, Softdrinks, Autos usw. versehen ihre Produkte mit Warenmarken, die sie sich rechtlich schützen lassen und die zumindest die Doppelfunktion erfüllen, einen gleichbleibenden Qualitätsstandard zu garantieren (“Persil bleibt Persil”) und die zweitens - trotz des in Deutschland geltenden Verbots vergleichender Werbung - die Abgrenzung von Konkurrenzprodukten und wenn möglich semantisch mehr oder weniger verbrämt die Überlegenheit über die Konkurrenzprodukte sichern sollen (“Der neue Astra. Halbe Sachen gibt es schon genug”. “Das geht nur mit Malaysia Airlines”. “Der Vorsprung wächst: WirtschaftsWoche”). Die gleichbleibende Qualität von Markenprodukten wird sorgsam überwacht und ständig strengen Kontrollen unterzogen, wozu bevorzugt weißgekleidete Experten vorgeführt werden, die die lückenlose Laborüberwachung versichern; gelegentlich treten auch bekannte Firmeninhaber auf, die mit ihren “guten Namen” für die Hausmarke bürgen. Bei Münzen und Geldscheinen findet eine derartige Qualitätskontrolle im alltäglichen Verkehr nicht im gleichen Umfang wie bei den Markenartikeln statt; vielmehr Achim Eschbach 218 verlassen sich die Benutzer im gewöhnlichen Geschäftsvorgang im wesentlichen auf die Abmachung, “Dollar ist Dollar”, obwohl man in Zeiten des Farbkopierers in Tankstellen, Wechselstuben und Banken immer häufiger Apparaturen antrifft, die eine schnelle und diskrete Echtheitskontrolle ermöglichen. Ob aber ein prägefrisches Geldstück oder eine druckfrische Banknote oder aber ein Geldschein auf die Theke gelegt wird, der deutliche Gebrauchsspuren zeigt, ändert nichts an dem nominellen Verkehrswert. Während Markenartikel mit Qualitätsgarantien ausgestattet sind und Münzen und Banknoten über den unbesorgten Kaufakt hinaus ein Gepräge des Münzstocks und - je nach Attraktivität der Währung - ein mehr oder minder raffiniertes Signalement aufweisen (in deutschen Banknoten etwa das Wasserzeichen, der Silberstreifen und die Nummerierung), darf man sich im Sprachverkehr durchaus eine phonematisch schlecht geprägte Wortmünze leisten, wenn der Empfänger nur erahnen kann, was diese schlecht geprägte Wortmünze heißen soll. Bühler verweist darauf, daß der Empfänger im Zweifelsfall eine “korrekte” Prägung vornimmt, um sich vor Mißverständnissen zu sichern oder um den Sprecher zu belehren, “wie das alle Sprachlehrer ihren Schülern gegenüber berufsmäßig tun” (Bühler, 1934: 61). Diesen Sachverhalt verallgemeinernd stellt Bühler fest: “Es ist das phonematische Gepräge am Klangbild eines Wortes, woran vergleichbar der Warenmarke und dem Münzgepräge eine Verkehrskonvention geknüpft ist! ” (ibid.). Nach dem Aufweis der Gemeinsamkeiten der Verkehrsdinge wird es im weiteren aber darum gehen, die Besonderheiten herauszuarbeiten, “um die Eigenart der sprachlichen Verkehrszeichen ganz zu erfassen” (ibid.). In weitestgehender Übereinstimmung mit Simmel und Singer betont Bühler den besonderen Zeichencharakter der Sprache, während das Geld unabhängig von seiner historischen Erscheinungsform (Münze, Banknote, Wechsel, Scheck, Scheckkarte) sich zwar den Zeichendingen asymptotisch nähern mag, letzten Endes aber den Gütern verhaftet bleibe. Diese sematologische Differenz von Wort und Münze ist zwar bereits wiederholt angeklungen, muß aber jetzt noch einmal explizit ausgesprochen werden: Während sich das Geld einer mehr oder minder statischen, dyadischen Substitutionsbeziehung verdankt, in der ein materielles, geprägtes Etwas hic et nunc ein anderes, d.h. eine bestimmte Warenmenge vertritt und diese Substitutionsbeziehung im Bedarfsfall auch umkehrbar ist, entsteht das sprachliche Zeichen aus einer dynamischen, triadischen Repräsentationsbeziehung, in der ein materielles, phonematisch am Klangbild geprägtes Etwas eine interpretationsbedürftige und irreversible Beziehung zwischen einem bezeichneten Objekt und seiner Bedeutung etabliert. An anderer Stelle schreibt Bühler: “Einstweilen aber kann man das Zeichenhafte, welches im intersubjektiven Verkehr verwendet wird, als ein Orientierungsgerät des Gemeinschaftslebens charakterisieren” (Bühler, 1934: 48). So elementar diese Unterscheidung der stoffgebundenen Semiose des Geldes und der stoffentbundenen Semiose der Sprache auch sein mag, ist sie doch immer wieder sträflich mißachtet worden und hat alle möglichen Formen von “Stoffentgleisungen” provoziert, die Bühler nicht müde wird zu kritisieren. So selbstverständlich es im Grunde sein dürfte, daß man aus physischen und physiologischen Daten keine Sprachwissenschaft entwickeln kann, sondern die Sprachwissenschaft das Kernstück einer allgemeinen Sematologie ausmachen muß (cf. ibid., 9), so müßte im umgekehrten Sinne ebenfalls klar sein, daß eine wohlverstandene Kausalbetrachtung auch im Gesamtrahmen der linguistischen Analyse unvermeidlich ist: “Die Zeichen setzen psychophysische Systeme nach Art des menschlichen voraus. Man sollte solche Systeme als Detektoren eingesetzt denken, sonst werden Zeichen im Weltgeschehen nicht Das Geld als Zeichen 219 manifest. (…) In der Chemie entfällt für die wissenschaftliche Bestimmung der Vorgänge der Zeichen-Faktor; in der Linguistik dagegen ist er unentbehrlich und mit ihm das Prinzip der abstraktiven Relevanz” (ibid., 273). Anmerkungen 1 Größere Teile der Nachlässe Georg Simmels, Kurt Singers und Karl Bühlers sind verschollen und konnten trotz intensiver Nachforschungen bis heute nicht ermittelt werden. 2 Wenn in einem sozialwissenschaftlich-semiotisch so zentralen Bereich wie der Frage nach der Konstitution von ‘Ich’ und ‘Du’, ‘Gemeinschaft’ und ‘Gesellschaft’ eine gewisse terminologische und methodologische Verwandtschaft auf der Hand zu liegen scheint, muß dies nicht notwendigerweise auf eine theoretische Abhängigkeit der betreffenden Autoren hindeuten. Im Fall von Georg Simmel und George Herbert Mead dürften die Dinge jedoch etwas anders liegen, denn bei der Interpretation von Meads Sozialpsychologie wurde m.E. bislang der Umstand noch nicht recht gewürdigt, daß Mead via Leipzig, wo er bei W. Wundt gehört hatte, nach Berlin gekommen war, um bei Dilthey zu studieren und sogar eine Dissertation über Kants Raumbegriff zu schreiben. Wenn ich mich recht in die Mentalität eines amerikanischen Studenten versetze, der noch Berlin gekommen war, um bei einem der bekanntesten Berliner Philosophen zu studieren, so wird man wohl unterstellen dürfen, daß diesem Studenten nicht entgangen ist, daß Dilthey und Simmel sich in ständigem persönlichen Kontakt und Konflikt befanden, weshalb es naheliegen dürfte, daß Mead die Werke Simmels zur Kenntnis nahm, zumal es zu dem damaligen Zeitpunkt und in der unmittelbaren Umgebung nicht so viele weitere bedeutende Sozialwissenschaftler gegeben hat, die seine Aufmerksamkeit hätten ablenken können. In Ermangelung umfassender Belege für die Vertrautheit Meads mit Simmels Überlegungen muß ich mich vorläufig mit dem allerdings wesentlichen Hinweis begnügen, daß George Mead die Philosophie des Geldes von Georg Simmel 1900/ 01 im Journal of Political Economy rezensiert hat. Hans Joas, der Herausgeber von Meads Gesammelten Aufsätzen, merkt dazu an, daß diese Rezension offensichtlich wegen des Druckortes auf die Frage nach der Bedeutung von Simmels Werk für die Nationalökonomie eingeschränkt war (cf. Joas, 1980: 41). Bibliographie Ahonen, Pertti: “Tracing the Meaning of Money.” Masch. Helsinki 1989. Becker, Heribert J.: Georg Simmel. Die Grundlagen seiner Soziologie. Stuttgart: Enke 1971. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Fischer 1934. Dascal, Marcelo: Language and Money. A Simile and its Meaning in 17th Century Philosophy. In: Ders.: Leibniz, Language, Signs and Thought. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins 1987. Eschbach, Achim: Verzeichnung. 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Im Mittelalter findet sich der Mensch in bindender Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder zu einem Landbesitz, zum Feudalverband oder zur Corporation; seine Persönlichkeit war eingeschmolzen in sachliche oder sociale Interessenkreise, und die letzteren wiederum empfingen ihren Charakter von den Personen, die sie unmittelbar trugen. Diese Einheitlichkeit hat die neuere Zeit zerstört. Sie hat einerseits die Persönlichkeit auf sich selbst gestellt und ihr eine unvergleichliche innere und äußere Bewegungsfreiheit gegeben; sie hat dafür andererseits den sachlichen Lebensinhalten eine ebenso unvergleichliche Objectivität verliehen: in der Technik, den Organisationen jeder Art, den Betrieben und Berufen gelangen mehr und mehr die eigenen Gesetze der Dinge zur Herrschaft und befreien sie von der Färbung durch Einzelpersönlichkeiten - wie unser Bild der Natur mehr und mehr die vermenschlichten Züge auszumerzen und sie einer objectiven Gesetzlichkeit anheimzugeben strebt. So hat die Neuzeit Subject und Object gegeneinander verselbstständigt, damit jedes die ihm eigene Entwicklung reiner und voller fände. Wie beide Seiten dieses Differenzirungs-Processes von der Geldwirthschaft getroffen werden, haben wir darzustellen. Das Verhältniß zwischen der Persönlichkeit und ihrem Besitz tritt innerhalb der deutschen Geschichte bis zur Höhe des Mittelalters in zwei charakteristischen Formen auf. In der Urzeit begegnet uns der Landbesitz als eine der Persönlichkeit als solcher zukommende Competenz, er fließt aus der persönlichen Zugehörigkeit des Einzelnen zu seiner Marktgemeinde. Schon im zehnten Jahrhundert indeß war diese Personalität des Besitzes verschwunden und nun umgekehrt alles persönliche Recht von dem Besitz an Grund und Boden abhängig geworden. In beiden Formen aber erhielt sich eine enge locale Verbindung zwischen der Person und dem Besitz. Zum Beispiel galt in der Genossenschaft der hörigen Hofgemeinde, in welcher der Lehenbesitz einer vollen Hufe zur Vollgenossenschaft berechtigte, derjenige dem Grundbesitzlosen gleich, der zwar eine Hufe besaß, aber außerhalb des Hofverbandes, dem er mit seiner Person angehörte. Umgekehrt mußte derjenige, welcher ein Gut innerhalb des Frohngemeindelandes besaß, ohne doch persönlich zu dieser Gemeinde zu gehören (Freie, Stadtbürger, Körperschaften usw.), einen Vertreter bestellen, der nun persönlich dem betreffenden Herrn des Stückes huldigte und Rechte und Pflichten des Hofgenossen übernahm. Solche Zusammengehörigkeit zwischen Personalität und dinglichen Beziehungen, wie sie jenen naturalwirthschaftlichen Zeiten eigen war, löst die Geldwirthschaft auf. Sie schiebt zwischen die Person und die bestimmt qualificirte Sache in jedem Augenblick die völlig objective, an sich qualitätlose Instanz des Geldes und Geldeswerthes. Sie stiftet eine Entfernung zwischen Person und Besitz, indem sie das Verhältniß zwischen Beiden zu einem vermittelten macht. Sie hat damit das frühere enge Zusammengehören des personalen und des localen Elementes bis zu dem Grade differenzirt, daß ich heute in Berlin meine Einkünfte aus amerikanischen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Georg Simmel 222 Eisenbahnen, norwegischen Hypotheken und afrikanischen Goldminen empfangen kann. Diese fernwirkende Form des Besitzes, die wir heute als selbstverständlich hinnehmen, ist doch erst möglich geworden, seit das Geld trennend und verbindend zwischen Besitz und Besitzer getreten ist. Dadurch erzeugt das Geld auf der einen Seite eine früher unbekannte Unpersönlichkeit alles ökonomischen Thuns, andererseits eine ebenso gesteigerte Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Person. Und ähnlich wie zum Besitz entwickelt sich das Verhältniß der Persönlichkeit zur Genossenschaft. Die mittelalterliche Corporation schloß den ganzen Menschen in sich ein; eine Zunft der Tuchmacher war nicht eine Association von Individuen, welche die bloßen Interessen der Tuchmacherei pflegte, sondern eine Lebensgemeinschaft in fachlicher, geselliger, religiöser, politischer und vielen sonstigen Hinsichten. Um so sachliche Interessen sich die mittelalterliche Association auch gruppiren mochte, sie lebte doch ganz unmittelbar in ihren Mitgliedern, und diese gingen rechtlos in ihr auf. Im Gegensatze zu dieser Einheitsform hat nun die Geldwirthschaft jene unzähligen Associationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geldbeiträge verlangen oder auf ein bloßes Geldinteresse hinausgehen. Dadurch wird einerseits die reine Sachlichkeit in den Vornahmen der Association, ihr rein technischer Charakter, ihre Gelöstheit von personaler Färbung ermöglicht, andererseits das Subject von einengenden Bindungen befreit, weil es jetzt nicht mehr als ganze Person, sondern in der Hauptsache durch Hingeben und Empfangen von Geld mit dem Ganzen verbunden ist. Seit das Interesse des einzelnen Theilhabers, directer öder indirecter, in Geld ausdrückbar ist, hat sich dieses wie eine Isolirschicht zwischen das objective Ganze der Association und das subjective Ganze der Persönlichkeit geschoben - wie es sich zwischen den Besitz und den Besitzer geschoben hat - und hat Beiden eine neue Selbstständigkeit gegen einander und Ausbildungsfähigkeit geboten. Den Gipfel dieser Entwickelung stellt die Actien-Gesellschaft dar, deren Betrieb dem einzelnen Actionär völlig objectiv und unbeeinflußt gegenübersteht, während dieser seinerseits absolut nicht mit seiner Person, sondern nur mit einer Geldsumme an der Association betheiligt ist. Durch diese Unpersönlichkeit und Farblosigkeit, die dem Gelde im Gegensatze zu allen specifischen Werthen eigen ist und die sich im Laufe der Cultur immer steigern muß, weil es immer mehr und immer mannigfaltigere Dinge aufzuwiegen hat, durch diese Charakterlosigkeit gerade hat es unermeßliche Dienste geleistet. Denn damit läßt es eine Gemeinsamkeit der Action von solchen Individuen und Gruppen entstehen, die ihre Getrenntheit und Reservirtheit in allen sonstigen Punkten scharf betonen. Es wird damit eine ganz neue Linie durch die der Association zugängigen Lebensinhalte gelegt. Ich führe nur zwei Beispiele an, die mir die Feinheit der Grenze recht zu markiren scheinen, die das Geld zwischen der Vereinigung der Interessen einerseits und ihrer Getrenntheit andererseits ermöglicht. Nach 1848 bildeten sich in Frankreich Syndicate von Arbeiter-Associationen desselben Gewerkes, derart, daß jede ihren untheilbaren Fonds an dieses Syndicat ablieferte und so eine untheilbare gemeinsame Kasse zu Stande käme. Diese sollte namentlich Engros-Einkäufe ermöglichen, Darlehen gewähren usw. Diese Syndicate sollten aber durchaus nicht den Zweck haben, die theilhabenden Associationen zu einer einzigen zu vereinigen, sondern jede sollte ihre besondere Organisation beibehalten. Dieser Fall ist deshalb so bezeichnend, weil die Arbeiter damals in einer wahren Leidenschaft der Associations-Bildung befangen waren. Lehnten sie nun die hier so naheliegende Verschmelzung ausdrücklich ab, so müssen sie besonders starke Gründe für diese gegenseitige Reserve gehabt haben - und finden dabei die Möglichkeit, die dennoch vorhandene Einheit ihrer Interessen in jener Gemeinsamkeit des bloßen Geldbesitzes wirksam werden zu lassen. Und ferner: die Erfolge des Gustav-Adolph-Vereines, jener großen Gemeinschaft zur Unterstützung bedrängter evangelischer Gemeinden, wären unmöglich Das Geld in der modernen Cultur 223 gewesen, wenn nicht der objective Charakter der Geldbeiträge die confessionellen Unterschiede der Beitragenden verwischt hätte; aber indem dieses gemeinsame Werk von Lutheranern, Reformirten, Unirten - die zu keiner sonstigen Gemeinsamkeit zu bewegen gewesen wären - so möglich wurde, diente es zu einem idealen Bindemittel und stärkte das Gefühl unter all diesen, dennoch zusammen zu gehören. Man kann überhaupt sagen, daß der Gewerkverband, diese dem Mittelalter so gut wie unbekannte Organisationsart, die sozusagen das Unpersönliche von dem Individuum zu einer Action vereint, mit seinen ungeheuren Erfolgen erst durch das Geld möglich geworden ist, das uns die bisher einzige Möglichkeit einer Vereinigung unter absoluter Reserve alles Persönlichen und Specifischen gelehrt hat - eine Einigungsform, die uns heute vollkommen selbstverständlich ist, aber eine der ungeheuersten Wandlungen und Fortschritte in der Cultur darstellt. So soll man überhaupt, wenn man die trennende und entfremdende Wirkung des Geldverkehrs beklagt, doch das Folgende nicht vergessen. Durch die Nothwendigkeit, das Geld umzusetzen und definitive, concrete Werthe dafür zu halten, schafft das Geld eine äußerst starke Bindung zwischen den Mitgliedern desselben Wirthschaftskreises; gerade weil es nicht unmittelbar verbraucht werden kann, weist es auf die anderen Individuen hin, von denen man das eigentlich zu Verbrauchende dafür erlangen kann. So ist der moderne Mensch von unvergleichlich mehr Lieferanten und Bezugsquellen abhängig, als der altgermanische Vollfreie oder der spätere Hörige; seine Existenz steht in jedem Augenblicke auf hundert, durch Geldinteressen gestifteten Verbindungen, ohne die er so wenig fortexistiren könnte, wie das Glied eines organischen Wesens, das aus dem Kreislauf der Säfte ausgeschaltet wäre. Vor Allem wirkt zu dieser Verschlingung und Verwachsung des modernen Lebens unsere Arbeitstheilung, die sich im Zustande des Naturaltausches ersichtlich nicht über die dürftigsten Anfänge hinaus entwickeln konnte. Denn wie sollte man die Werthe der einzelnen Produkte gegen einander abmessen, so lange es noch kein gemeinsames Werthmaß für die allerverschiedensten Dinge und Qualitäten gab? Wie sollte sich der Tausch glatt und leicht vollziehen, so lange es noch kein Tauschmittel gab, das jede Differenz begleichen, in das man jedes Product umsetzen und das sich in jedes Produkt umsetzen konnte? Und indem das Geld so die Theilung der Produktion ermöglicht, bindet es die Menschen unweigerlich zusammen, denn nun arbeitet Jeder für den Andern, und erst die Arbeit Aller schafft die umfassende wirthschaftliche Einheit, welche die einseitige Leistung des Individuums ergänzt*. So ist es schließlich das Geld, das unvergleichlich mehr Verknüpfungen zwischen den Menschen stiftet, als sie je in den von den Associations-Romantikern gerühmtesten Zeiten des Feudalverbandes oder der gewillkürten Einung bestanden. Und endlich hat das Geld ein so umfassendes gemeinsames Interessen-Niveau für alle Menschen hergestellt, wie naturalwirthschaftliche Zeiten es absolut nicht konnten; mit ihm ist ein Boden unmittelbaren gegenseitigen Verstehens, eine Gleichheit der Direktiven gegeben, die außerordentlich viel dazu beitragen mußte, jene Vorstellung des Allgemein-Menschlichen zu erzeugen, die in der Kultur- und Sozialgeschichte seit dem vorigen Jahrhundert eine so große Rolle gespielt hat - gerade wie sie in der Kultur des Römerreiches auftauchte, als in ihm die Geldwirthschaft völlig durchgedrungen war. Allein wie das Geld überhaupt - das leuchtet wohl schon aus dem Gesagten hervor - eine ganz neue Proportion zwischen Freiheit und Bindung hat entstehen lassen, so hat die betonte Enge und Unvermeidlichkeit des Zusammenschlusses, die es bewirkt, die eigenthümliche Folge, andererseits doch der Individualität und dem Gefühl innerer Unabhängigkeit einen besonders weiten Spielraum zu eröffnen. Denn der Mensch jener früheren Wirthschaftsepochen stand zwar zu weit weniger Menschen in gegenseitiger Abhängigkeit, aber diese Georg Simmel 224 Wenigen waren individuell bestimmt und beharren, während wir heute zwar von dem Lieferanten überhaupt viel abhängiger sind, mit dem Einzelnen aber oft und beliebig wechseln: wir sind von jedem bestimmten sehr viel unabhängiger. Gerade ein solches Verhältniß muß einen starken Individualismus erzeugen, denn nicht die Isolirung Anderen gegenüber, sondern die Beziehung zu ihnen, aber ohne Rücksicht darauf, wer es gerade ist, ihre Anonymität, die Gleichgiltigkeit gegen ihre Individualität - das ist es, was die Menschen gegeneinander entfremdet und Jeden auf sich selbst zurückweist. Gegenüber den Zeiten, wo jede äußerliche Beziehung zu Anderen zugleich personalen Charakter trug, ermöglicht das Geldwesen so, entsprechend unserer Charakterisirung der Neuzeit, eine reinlichere Scheidung zwischen dem objektiven ökonomischen Thun des Menschen und seiner individuellen Färbung, seinem eigentlichen Ich das jetzt ganz aus jenen Beziehungen zurücktritt und sich aus ihnen mehr als je gleichsam auf seine innersten Schichten zurückziehen kann. Die Ströme der modernen Cultur ergießen sich in zwei scheinbar entgegengesetzte Richtungen: einerseits nach der Nivellirung, der Ausgleichung, der Herstellung immer umfassenderer socialer Kreise durch die Verbindung des Entlegensten unter gleichen Bedingungen, und andererseits auf die Herausarbeitung des Individuellsten hin, auf die Unabhängigkeit der Person, auf die Selbstständigkeit ihrer Ausbildung. Und beide Richtungen werden durch die Geldwirthschaft getragen, die einerseits ein ganz allgemeines, überall gleichmäßig wirksames Interesse, Verknüpfungs- und Verständigungsmittel, andererseits der Persönlichkeit die gesteigertste Reservirtheit, Individualisirung und Freiheit ermöglicht. Die letztere Folge bedarf noch eines Beweises. Die Ausdrückbarkeit und Ablösbarkeit der Leistungen durch Geld ist von jeher als ein Mittel und Rückhalt der persönlichen Freiheit empfunden worden. So bestimmte das classische römische Recht, daß Derjenige, der zu einer bestimmten Leistung verpflichtet ist, ihre Naturalerfüllung verweigern und sie auch gegen den Willen des Berechtigten durch Zahlung ihres Werthes in Geld solviren durfte. Hiermit war die Garantie gegeben, daß man alle persönlichen Verpflichtungen sich mit Geld abkaufen konnte, und im Hinblick darauf hat man jene Bestimmung als die Magna charta der persönlichen Freiheit im Gebiete des Privatsrechtes bezeichnet. In der gleichen Richtung erfolgte vielfach die Befreiung der Hörigen. Die hörigen Handwerker eines mittelalterlichen Herrenhofes zum Beispiel gelangten oft zur Freiheit, auf dem Wege, daß ihre Dienste erst beschränkt, dann fixirt und schließlich in eine Geldabgabe umgewandelt wurden. So wirkte es als ein kräftiger Fortschritt zur Freiheit, als die englischen Grafschaften, vom dreizehnten Jahrhundert an, ihre Verpflichtungen zur Stellung von Soldaten und Arbeitern durch Geldzahlungen ersetzen durften. So war unter den Bestimmungen Josephs II., durch die er die Emancipation der Bauern einleiten wollte, eine der wichtigsten, daß sie ihre Frohnen und Naturalleistungen durch Geldzinsungen ablösen konnten, ja mußten. Der Ersatz der Leistung durch die Geldabgabe entläßt die Persönlichkeit sofort aus der specifischen Fesselung, die jene Leistung ihr auferlegte: nicht mehr auf das unmittelbare persönliche Thun, sondern nur auf das unpersönliche Ergebniß desselben hat der Andere nun Anspruch; in der Geldzahlung giebt die Persönlichkeit nicht mehr sich selbst, sondern etwas, das von jeder inneren Beziehung zum Individuum gelöst ist. Aber gerade aus diesem Grunde kann der Ersatz einer Leistung durch Geld auch herabdrückend wirken. Die Entrechtung der Bundesgenossen Athens begann damit, daß sie ihre bisherigen Contingente von Schiffen und Mannschaften durch Geldzahlungen an Athen ablösten; diese scheinbare Befreiung ihrer nur mehr personalen Verpflichtung enthielt doch den Verzicht auf eigene politische Bethätigung, auf die Bedeutung, die man nur auf den Einsatz einer specifischen Leistung, auf die Entfaltung realer Kräfte hin beanspruchen darf. Das wird bei steigender Geldwirthschaft so häufig übersehen: daß in den Pflichten, die man Das Geld in der modernen Cultur 225 sich abkauft, oft noch Rechte und Bedeutsamkeiten stecken, weniger bemerkbare, die man zugleich mit jenen dahingiebt. Wie hier an das Geben von Geld, knüpft sich die gleiche Doppelheit der Folgen auch an das Nehmen von Geld, an den Verkauf. Einerseits empfindet man die Umsetzung eines Besitzstückes in Geld als eine Befreiung. Mit Hilfe des Geldes können wir den Werth des Objectes in jede beliebige Form gießen, während er vorher in diese eine gebannt war; mit dem Gelde in der Tasche sind wir frei, während uns vorher der Gegenstand von den Bedingungen seiner Conservirung und Fructificirung abhängig machte. Allein wie oft bedeutet nun gerade diese Freiheit zugleich Inhaltlosigkeit des Lebens und Lockerung seiner Substanz! Deshalb hat dieselbe Gesetzgebung des vorigen Jahrhunderts, welche die Geldablösung der bäuerlichen Dienste vorschrieb, doch den Herrschaften die zwangsweise Zugeldesetzung des Bauers verboten. Es schien zwar, als ob diesem gar kein Unrecht geschähe, wenn die Herrschaft ihm zu einem angemessenen Preise seine Rechte auf den Boden abkauft (um diesen zum Gutsfelde zu schlagen); allein in dem Lande steckte für den Bauern noch etwas ganz Anderes als der bloße Vermögenswerth: es war für ihn die Möglichkeit nützlichen Wirkens, ein Centrum der Interessen, ein richtunggebender Lebensinhalt, den er verlor, sobald er statt des Bodens nur seinen Werth in Geld besaß. Die häufigen Zugeldesetzungen des Bauers im vorigen Jahrhundert gaben ihm zwar eine momentane Freiheit, nahmen ihm aber das Unbezahlbare, das der Freiheit erst ihren Werth gibt: das feste Object persönlicher Bethätigung. Das ist wiederum das Bedenkliche einer auf Geld gestellten Cultur, wie die des späten Athen, des späten Rom, der modernen Welt: dadurch, daß immer mehr Dinge mit Geld bezahlt, durch Geld erreichbar werden, und dieses so als der ruhende Pol in der Flucht der Erscheinungen hervortritt, übersieht man gar zu oft, daß auch die Objecte des wirthschaftlichen Verkehres noch Seiten haben, die nicht in Geld ausdrückbar sind; man glaubt gar zu leicht, in ihrem Geldwerthe ihr genaues, restloses Aequivalent zu besitzen. Hier liegt sicher ein tiefer Grund für den problematischen Charakter, für die Unruhe und Unbefriedigtheit unserer Zeit. Die qualitative Seite der Objecte büßt durch die Geldwirthschaft an psychologischer Betonung ein, die fortwährend erforderliche Abschätzung nach dem Geldwerthe läßt diesen schließlich als den einzig giltigen erscheinen, immer rascher lebt man an der spezifischen, ökonomisch nicht ausdrückbaren Bedeutung der Dinge vorüber, die sich nur durch jene dumpfen, so sehr modernen Gefühle gleichsam rächt: daß der Kern und Sinn des Lebens uns immer von neuem aus der Hand gleitet, daß die definitiven Befriedigungen immer seltener werden, daß das ganze Mühen und Treiben doch eigentlich nicht lohne. Ich will nicht behaupten, daß unsere Epoche sich schon ganz in solcher seelischen Verfassung befände; wo sie sich aber ihr nähert, da hängt es sicher mit der vorschreitenden Ueberdeckung der qualitativen Werthe durch einen blos quantitativen, durch das Interesse an einem bloßen Mehr oder Weniger zusammen - da doch die ersteren allein unsere Bedürfnisse endgiltig befriedigen. Und thatsächlich werden auch die Dinge selbst durch ihre Aequivalenz mit diesem für jedes Beliebige geltenden Tauschmittel in höherem Sinne entwerthet. Das Geld ist “gemein”, weil es das Aequivalent für All und Jedes ist; nur das Individuelle ist vornehm; was Vielem gleich ist, ist dem Niedrigsten unter diesem gleich und zieht deshalb auch das Höchste auf das Niveau des Niedrigsten herab. Das ist die Tragik jedes Nivellements, daß es unmittelbar zu dem Standorte des niedrigsten Elements hinführt. Denn immer kann das Höchste zu diesem herab, fast nie aber alles Niedrige zum höchsten Elemente hinaufsteigen. So leidet der eigenste Werth der Dinge unter der gleichmäßigen Umsetzbarkeit des Heterogensten in Geld, und mit Recht bezeichnet deshalb die Sprache das ganz Besondere und Ausgezeichnete als “unbezahlbar”. Nur der psychologische Reflex dieser Thatsache ist die “Blasirtheit” unserer Georg Simmel 226 wohlhabenden Stände. Weil sie jetzt ein Mittel besitzen, mit dem sie trotz seiner farblosen Immergleichheit das Mannigfaltigste und Speziellste erkaufen; weil ihnen damit die Frage, was es werth ist, mehr und mehr durch die Frage, wie viel es werth ist, verdrängt wird, muß die feine Empfindlichkeit für die spezifischen und individuellsten Reize der Dinge sich mehr und mehr zurückbilden. Das eben ist Blasirtheit, daß man auf die Abstufungen und Eigenheiten der Objekte nicht mehr mit einer entsprechenden Nuanzirung des Empfindens reagirt, sondern sie alle in einer gleichmäßigen und darum matten, keiner entschiedenen Schwingungsweite mehr zugängigen Färbung empfindet. Eben durch diesen Charakter aber, den das Geld immer mehr annehmen muß, je mehr Dinge es aufwiegt - also mit steigender Kultur - verliert es seine früher besessene Bedeutung in gewissen höheren Beziehungen; die Geldbuße z.B. hat ihr Gebiet eingeschränkt. Das altgermanische Recht sühnte die schwersten Verbrechen, bis zum Morde, mit Geld. Die Kirchenbuße konnte vom siebenten Jahrhundert an durch Geld ersetzt werden, während die modernen Rechte die Geldstrafe auf die relativ leichten Vergehen beschränken. Das ist kein Zeichen gegen, sondern für die gewachsene Bedeutung des Geldes: gerade weil es jetzt so sehr viel mehr Dinge aufwiegt und dadurch um so farb- und charakterloser ist, könne es nicht mehr zur Ausgleichung in ganz besonderen und ausnahmsweisen Beziehungen dienen, in denen das Innerste und Wesentlichste der Persönlichkeit getroffen werden soll, und nicht trotzdem man so gut wie Alles für Geld haben kann, sondern gerade weil man das kann, hörte es auf, die sittlich-religiösen Anforderungen, auf denen die Kirchenbuße ruhte, zu begleichen. In diesem Punkte begegnen sich charakteristisch zwei Hauptströmungen der geschichtlichen Entwicklung. Wenn der Mord in der primitiven Gesellschaft durch Geld gesühnt werden konnte, so bedeutete das einerseits, daß das Individuum als solches in seinem Werthe noch nicht so betont war, daß es noch nicht als so unvergleichbar und unersetzlich empfunden wurde, wie in späteren Zeiten, in denen es sich entschiedener und individualisirter aus der Gruppe heraushebt; andererseits bedeutet es, daß das Geld noch nicht so indifferent geworden war, noch nicht so jenseits aller qualitativen Bedeutung stand. Die vorschreitende Differenzirung der Menschen und die ebenso vorschreitende Indifferenz des Geldes begegnen sich, um die Sühnung des Mordes durch Geld unmöglich zu machen. In ähnlicher Richtung wie diese Abschleifung und Deteriorirung des Geldes durch den wachsenden Kreis seiner Aequivalente mündet eine zweite äußerst wichtige Folge des vorherrschenden Geldwesens: daß man das Geld, ein bloßes Mittel, andere Güter zu erlangen, als ein selbstständiges Gut empfindet; während es seine ganze Bedeutung nur als Uebergang, nur als Glied in der Reihe hat, die zu einem definitiven Zwecke und Genusse führt - wird die Reihe psychologisch an dieser Stufe abgebrochen, das Zweckbewußtsein macht am Geld Halt. Indem die Mehrzahl der modernen Menschen den größten Theil des Lebens hindurch den Gewinn von Geld als nächstes Strebeziel vor Augen haben muß, entsteht die Vorstellung, daß alles Glück und alle definitive Befriedigung des Lebens mit dem Besitze einer gewissen Summe Geldes solidarisch verbunden wäre: aus einem bloßen Mittel und einer Vorbedingung wächst es innerlich zu einem Endzwecke aus. Allein wenn dieses Ziel nun erreicht ist, so tritt unzähligemale jene tödtliche Langweile und Enttäuschung ein, die am auffälligsten an Geschäftsleuten zu beobachten ist, wenn sie sich nach Ersparung einer gewissen Summe in ein Rentierleben zurückgezogen haben; das Geld enthüllt sich nach Wegfall der Umstände, die das Werthbewußtsein sich darauf konzentriren ließen, in seinem wahren Charakter als bloßes Mittel, das unnütz und unbefriedigend wird, sobald das Leben darauf allein angewiesen ist - es ist eben nur die Brücke zu definitiven Werthen, und auf einer Brücke kann man nicht wohnen. Das Geld in der modernen Cultur 227 Diese Ueberwucherung der Zwecke durch die Mittel ist einer der Hauptzüge und eines der Hauptprobleme jeder höheren Kultur. Denn diese hat ihr Wesen darin, daß im Gegensatze zu primitiven Verhältnissen die Absichten der Menschen nicht mehr einfache, naheliegende, durch unmittelbare Aktion zu erreichende sind, sondern sie werden allmälig so schwierige, komplizirte, weitabliegende, daß es eines vielgliedrigen Aufbaues von Mitteln und Apparaten, eines vielstufigen Umweges vorbereitender Schritte für sie bedarf. Kaum je kann in höheren Verhältnissen der erste Schritt schon zum Ziele führen; und nicht nur eines Mittels bedarf es, sondern auch dieses ist oft genug nicht direkt zu erreichen, sondern es ist eine Vielheit von Mitteln, von denen eines immer das andere trägt, die schließlich im definitiven Zwecke münden. Um so näher aber liegt die Gefahr, in diesem Labyrinth von Mitteln stecken zu bleiben und über sie den Endzweck zu vergessen. So wird die Technik aller Lebensgebiete - das heißt doch das System bloßer Mittel und Werkzeuge - je verschlungener, kunstreicher, gegliederter sie ist, mehr und mehr als ein für sich befriedigender Endzweck empfunden, über den man nicht mehr hinausfragt. So ist die Festigkeit aller äußeren Sitten entstanden, die ursprünglich nur Mittel zu bestimmten sozialen Zwecken waren, aber als Eigenwerthe, sich selbst tragende Forderungen weiterbestehen, während jene Zwecke längst vergessen oder illusorisch geworden sind. Durch die moderne Zeit, insbesondere, wie es scheint, durch die neueste, geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen - als sollte die Hauptsache erst kommen, das Definitive, der eigentliche Sinn und Centralpunkt des Lebens und der Dinge. Das ist sicher der Gefühlserfolg jenes Ueberhandnehmens der Mittel, des Zwanges unserer komplizirten Lebenstechnik, Mittel auf Mittel zu bauen, bis die eigentlichen Zwecke, denen sie dienen sollen, weiter und weiter an den Horizont des Bewußtseins rücken und schließlich unter ihn versinken. Kein Element aber hat in diesem Prozesse breiteren Antheil als das Geld, niemals ist ein Objekt, das nur als Mittel Werth hat, mit solcher Energie, solcher Vollständigkeit und solchem Erfolge für den Gesammtstand des Lebens zu einem - scheinbar oder wirklich - für sich befriedigenden Strebensziele ausgewachsen. Die centrale Stellung, die das Geld durch das ungeheure Anwachsen des Kreises dadurch erreichbarer Objecte erhält, strahlt in vielerlei einzelne Charakterzüge des modernen Lebens hinein. Das Geld hat dem Einzelnen die Chance völliger Befriedigung seiner Wünsche in viel größere, versuchungsvollere Nähe gerückt. Es giebt die Möglichkeit, gleichsam mit einem Schlage zu gewinnen, was überhaupt begehrenswerth erscheint. Es schiebt zwischen den Menschen und seine Wünsche eine vermittelnde Stufe, einen erleichternden Mechanismus, und weil mit der Erreichtheit dieses Einen unzähliges Andere erreichbar wird, erregt es die Illusion, als sei alles dieses Andere leichter als sonst zu erreichen. Mit der Annäherung an das Glück aber wächst die Sehnsucht danach. Denn nicht das absolut Ferne und Versagte, sondern das Nichtbesessene, dessen Besitz näher und näher zu rücken scheint - wie es durch die Geldorganisation geschieht - das entzündet die größte Sehnsucht und Leidenschaft. Das ungeheure Glücksverlangen des modernen Menschen, wie es sich in Kant nicht weniger als in Schopenhauer, in der Social-Demokratie nicht weniger als im wachsenden Amerikanismus der Zeit ausspricht, ist offenbar an dieser Macht und diesem Erfolge des Geldes genährt. Die specifisch moderne “Begehrlichkeit” der Classen und der Individuen, mag man sie nun verdammen oder als Stimulus der Culturentwicklung begrüßen, konnte aufwachsen, weil es jetzt ein Schlagwort giebt, das alles Begehrenswerthe in sich verdichtet, einen Centralpunkt, den man, wie den Zauberschlüssel im Märchen, nur zu gewinnen braucht, um mit ihm zu allen Freuden des Lebens zu gelangen. Damit wird - und dies ist sehr bedeutsam - das Geld jenes unbedingte Ziel, dessen Erstrebung überhaupt in jedem Augenblicke principiell möglich ist, im Gegensatze zu den Georg Simmel 228 constanten Zielen, von denen nicht jedes zu jeder Zeit gewünscht wird oder erstrebt werden kann. Dadurch wird dem modernen Menschen ein fortwährender Stachel zur Thätigkeit gegeben, er hat nun ein Ziel, das als Pièce de résistance sofort eintritt, sobald andere Ziele ihm Raum lassen, es ist potentiell immer da. Daher die Unruhe, Fieberhaftigkeit, Pausenlosigkeit des modernen Lebens, dem im Gelde das unabstellbare Rad gegeben ist, das die Maschine des Lebens zum Perpetuum mobile macht. Schleiermacher hebt vom Christenthum hervor, daß es zuerst die Frömmigkeit, das Verlangen nach Gott zu einer dauernden Verfassung der Seele gemacht habe, während frühere Glaubensformen die religiöse Stimmung an bestimmte Zeiten und Orte geknüpft haben. So ist das Verlangen nach Geld die dauernde Verfassung, welche die Seele bei durchgeführter Geldwirthschaft aufweist. So kann der Psychologe überhaupt nicht achtlos an jener häufigen Klage vorbeigehen, daß das Geld der Gott unserer Zeit wäre. Er kann freilich bei ihr nur stehen bleiben und bedeutsame Beziehungen zwischen beiden Vorstellungen aufdecken, weil es das Privilegium der Psychologie ist, keine Blasphemien begehen zu können. Der Gottesgedanke hat sein tieferes Wesen darin, daß alle Mannigfaltigkeiten und Gegensätze der Welt in ihm zur Einheit gelangen, daß er nach dem schönen Worte des Nikolaus von Kusa, jenes merkwürdigen modernen Geistes im Ausgang des Mittelalters, die Coincidentia oppositorum ist. Aus dieser Idee, daß alle Fremdheiten und Unversöhntheiten des Seins in ihm ihre Einheit und Ausgleichung finden, stammte der Friede, die Sicherheit, der allumfassende Reichthum des Gefühles, das mit der Vorstellung Gottes und daß wir ihn haben, mitschwebt! Unzweifelhaft haben die Empfindungen, die das Geld erregt, auf ihrem Gebiete eine psychologische Aehnlichkeit mit diesem. Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdrucke und Aequivalent aller Werthe wird, erhebt es sich in ganz abstracter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objecte, es wird zu dem Centrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt thatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Princips, uns dieses Einzelne und Niedrigere in jedem Augenblicke gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können. Diese Sicherheit und Ruhe, deren Gefühl der Besitz von Geld gewährt, diese Ueberzeugung, in ihm den Schnittpunkt der Werthe zu besitzen, enthält so rein psychologisch, sozusagen formal, den Gleichungspunkt, der jener Klage über das Geld als den Gott unserer Zeit die tiefere Begründung giebt. Aus der gleichen Quelle fließen anders gerichtete und mehr abseits gelegene Charakterzüge des modernen Menschen. Die Geldwirthschaft bringt die Nothwendigkeit fortwährender mathematischer Operationen im täglichen Verkehre mit sich. Das Leben vieler Menschen wird von solchem Bestimmen, Abwägen, Rechnen, Reduciren qualitativer Werthe auf quantitative ausgefüllt. Dies trägt sicher bei zu dem verstandesmäßigen, rechnenden Wesen der Neuzeit gegenüber dem mehr impulsiven, auf das Ganze gehenden, gefühlsmäßigen Charakter früherer Epochen. So mußte überhaupt eine viel größere Genauigkeit und Grenzbestimmtheit in die Lebensinhalte durch das Eindringen der Geldschätzung kommen, die jeden Werth bis in seine Pfennigdifferenzen hinein bestimmen und specifiziren lehrte. Wo die Dinge in ihrem unmittelbaren Verhältnisse zu einander gedacht werden - also nicht auf ihren Generalnenner Geld reducirt sind - da findet viel mehr Abrundung, Setzen von Einheit gegen Einheit statt. Die Exactheit, Schärfe, Genauigkeit in den ökonomischen Beziehungen des Lebens, die natürlich auf seine anderweitigen Inhalte abfärbt, hält mit der Ausbreitung des Geldwesens Schritt - freilich nicht zur Förderung des großen Styles in der Lebensführung. Und in demselben Sinne wirkt, die Ausbreitung der Geldwirthschaft verkündend, der immer wachsende Gebrauch von kleinem Geld. Bis 1759 gab die englische Bank keine Noten unter Das Geld in der modernen Cultur 229 20 Pfd. St. aus, seitdem ist sie auf 5 Pfd. St. heruntergegangen. Und was noch bezeichnender ist: ihre Noten liefen bis 1844 im Durchschnitt 51 Tage, ehe sie wieder zur Einlösung in kleineres Geld präsentirt wurden, im Jahre 1871 dagegen liefen sie nur noch 37 Tage - in 27 Jahren ist also das Bedürfniß nach kleinem Geld fast um ein Viertel seiner Intensität gestiegen. Die Thatsache, daß Jeder kleines Geld in der Tasche hat, mit dem er, oft nur momentaner Lockung folgend, allerhand Kleinigkeiten sofort einkaufen kann, muß Industrieen hervorrufen, die von diesen Möglichkeiten leben. Dies und überhaupt die Theilbarkeit des Geldes in kleinste Summen trägt sicher zu dem kleinen Styl in der äußeren, insbesondere der ästhetischen Ausgestaltung des modernen Lebens bei, zu der wachsenden Zahl von Kleinigkeiten, mit denen wir unser Leben behängen. Und jener Pünktlichkeit und Exaktheit, welche die Verbreitung des Geldwesens - etwa analog jener der Taschenuhren - den äußeren Beziehungen der Menschen verliehen hat, entspricht auf ethischem Gebiete keineswegs eine gewachsene innere Gewissenhaftigkeit. Das Geld vielmehr verleitet durch seinen ganz objectiven und indifferenten Charakter, durch den es sich der höchsten wie der niedrigsten Aktion gleichmäßig und innerlich beziehungslos darbietet, leicht zu einer gewissen Laxheit und Unbedenklichkeit des Handelns, die bei anderen als bloßen Geldaktionen oft durch die eigene Struktur der Objekte, durch das individuelle Verhältniß des Handelnden zu diesen gehemmt wird. So haben sich Personen von sonstiger persönlicher Ehrenhaftigkeit an den dunkelsten “Gründungen” betheiligt, und viele Menschen verfahren eher in reinen Geldangelegenheiten gewissenloser und zweideutiger, als daß sie in anderen Beziehungen sittlich Zweifelhaftes thäten. Dem schließlich gewonnenen Resultate, dem Geld, ist eben nichts von seinem Ursprung anzusehen, während andere Besitzthümer und Zustände, weil sie individueller, qualitätsreicher sind, entweder sachlich oder psychologisch ihre Ursprünge in sich tragen; man kann sie ihnen mehr ansehen, sie erinnern mehr daran. Ist die That dagegen erst in den großen Geldocean gemündet, so ist sie nicht mehr herauszuerkennen, und die Abflüsse desselben tragen nichts mehr von dem Charakter seiner Zuflüsse. Zurückkehrend von diesen einzelnen Folgen des Geldverkehres, schließe ich mit einer ganz allgemeinen Bemerkung über sein Verhältniß zu den tieferen Zügen und Motiven unserer Kultur. Wollte man den Charakter und die Größe des neuzeitlichen Lebens in eine Formel zusammenzufassen wagen, so könnte es diese sein: daß die Gehalte der Erkenntniß, des Handelns, der Idealbildung aus ihrer festen, substantiellen und stabilen Form in den Zustand der Entwicklung, der Bewegung, der Labilität übergeführt werden. Jeder Blick auf die unter unseren Augen vorgehenden Schicksale jener Lebensinhalte zeigt unverkennbar diese Linie ihrer Gestaltung: wir verzichten auf die unbedingten Wahrheiten, die aller Entwicklung entgegen wären, und geben unser Erkennen gerne fortwährender Umgestaltung, Vermehrung, Correktur preis - denn nichts Anderes heißt die fortwährende Betonung der Empirie auf allen Gebieten. Die Arten der Organismen gelten uns nicht mehr als ewige Schöpfungsgedanken, sondern als Durchgangspunkte einer in’s Unendliche strebenden Evolution. Bis in das Unbelebte hinab und bis in die höchsten geistigen Formationen hinauf erstreckt sich die gleiche Tendenz: die Starrheit der Materie lehrt uns moderne Naturwissenschaft in den rastlosen Wirbel kleinster Theile aufzulösen; die einheitlichen, jenseits alles Wechsels und Widerspruches der Dinge gegründeten Ideale früherer Zeiten erkennen wir in ihrer Abhängigkeit von geschichtlichen Bedingungen, in ihrer Anpassung an allen Wechsel dieser. Innerhalb der sozialen Gruppe werden die festen Abgrenzungen mehr und mehr gelöst, die Starrheit kastenähnlicher und ständischer Bindungen und Traditionen werden - mag es zum Segen oder zum Verderben sein - durchbrochen, und die Persönlichkeit kann durch eine wechselnde Mannigfaltigkeit von Lebenslagen cirkuliren, gleichsam das der Georg Simmel 230 Dinge in sich spiegelnd. Diesem großen und einheitlichen Lebensprozesse, den die geistige und soziale Kultur der Neuzeit in einen so entschiedenen Gegensatz gegen das Mittelalter wie gegen das Alterthum stellt, ordnet sich die Herrschaft des Geldes, ihn tragend und von ihm getragen, ein. Indem die Dinge ihr Aequivalent an einem völlig farblosen, jenseits aller spezifischen Bestimmtheit stehenden Tauschmittel finden, indem sie sich in jedem Augenblicke gegen ein solches umsetzen, werden sie gewissermaßen abgeschliffen und geglättet, ihre Reibungsflächen mindern sich, fortwährende Ausgleichungsprozesse vollziehen sich zwischen ihnen, ihre Cirkulation, Geben und Nehmen findet in einem ganz andern Tempo statt, wie in naturalwirthschaftlichen Zeiten, immer mehr Dinge, die jenseits des Tauschverkehrs zu stehen schienen, werden in seinen rastlosen Fluß hinabgezogen: ich erinnere nur, als an eines der krassesten Beispiele, an die Schicksale des Grundbesitzes seit der Herrschaft des Geldes. Derselbe Uebergang der Stabilität zur Labilität, der das gesammte moderne Weltbild charakterisirt, hat mit der Geldwirthschaft auch den ökonomischen Kosmos ergriffen, dessen Schicksale, wie sie einen Theil jener Bewegung bilden, zugleich ein Symbol und Spiegel der ganzen sind. Es kann hier nur auf den Hinweis ankommen, daß eine Erscheinung wie die Geldwirthschaft, so sehr sie rein ihren inneren Gesetzen zu gehorchen scheint, dennoch demselben Rhythmus folgt, der die Gesammtheit der gleichzeitigen Kulturbewegungen, auch der entlegensten, regulirt. Im Unterschiede von dem historischen Materialismus, der den gesammten Kulturprozeß von den ökonomischen Verhältnissen abhängig macht, kann die Betrachtung des Geldes uns lehren, daß von der Formung des Wirthschaftslebens zwar tiefgreifende Folgen auf den psychischen und kulturellen Stand der Periode ausgehen, daß aber andererseits diese Formung selbst doch ihren Charakter von den großen einheitlichen Strömungen des geschichtlichen Lebens empfängt, deren letzte Kräfte und Motive freilich das göttliche Geheimniß sind. Enthüllen aber diese Formgleichheiten und tiefe Zusammenhänge uns das Geldwesen als einen Zweig der gleichen Wurzel, die alle Blüthen unserer Kultur treibt, so mag man daraus einen Trost gegenüber den Klagen schöpfen, die gerade die Pfleger der geistigen und gemüthlichen Güter über die Auri sacra fames und über die Verwüstungen des Geldwesens erheben. Denn je mehr die Erkenntniß sich jener Wurzel nähert, desto ersichtlicher müssen die Beziehungen der Geldwirthschaft, wie zu den Schattenseiten, so doch auch zu dem Feinsten und Höchsten unserer Kultur hervortreten, so daß es, wie alle großen geschichtlichen Mächte, dem mythischen Speer gleichen mag, der die Wunden, die er schlägt, selbst zu heilen im Stande ist. Anmerkung * Die Geldentlohnung befördert die Arbeitstheilung, weil in der Regel nur eine einseitige Leistung mit Geld bezahlt wird: nur dem objektiven, von der Persönlichkeit gelösten Einzelprodukt entspricht dies qualitätlose, abstrakte Aequivalent. Für den gesammten Menschen mit all seiner Vielseitigkeit wird - wo keine Sklaverei besteht - kein Geld aufgewendet, vielmehr nur für die arbeitstheilige Leistung. Deshalb muß die Ausbildung dieser Hand in Hand mit der Verbreitung der Geldwirthschaft gehen. Aus dieser Thatsache erklären sich, beiläufig gesagt, die Mängel und Widersprüche des modernen Dienstbotenverhältnisses; denn hier wird thatsächlich noch ein ganzer Mensch mit der Totalität seiner Leistungen für Geld gekauft. Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens Georg Simmel Von dem “Tempo des Lebens” hört man oft sprechen und daß sich in ihm die verschiedenen historischen Epochen, die Zonen der gleichzeitigen Welt, ja desselben Landes, die Individuen desselben Kreises unterscheiden. Um klarzumachen, was dieser Punkt wesentlicher Differenz für alles Menschliche eigentlich bedeutet, genügt nicht das Naheliegende, daß das Tempo des Lebens sich nach der Zahl der Vorstellungen richte, die in einem gegebenen Zeittheile durch das Bewußtsein gehen. Man müßte mindestens hinzufügen, daß es auf die Zahl der verschiedenen Vorstellungen ankäme. Damit aber ist angedeutet, daß die Vorstellungswelt gleichsam nach zwei Dimensionen ausgedehnt ist, deren Maaße über das Lebenstempo entscheiden. Je tiefer die Unterschiede zwischen den Vorstellungsinhalten - selbst bei gleicher Zahl der Vorstellungen - in einer Zeiteinheit sind, desto mehr lebt man, eine desto größere Lebensstrecke gleichsam wird zurückgelegt. Was wir als das Tempo des Lebens empfinden, ist das Produkt aus der Summe und der Tiefe seiner Veränderungen. Die Bedeutung, die dem Gelde für die Herstellung des Lebenstempos einer gegebenen Epoche zukommt, mag zunächst aus den Folgen hervorleuchten, die eben die Veränderung der Geldverhältnisse für die Veränderung jenes Tempos aufweisen. Man hat behauptet, daß die Vermehrung des Geldquantums, sei es durch Metallimporte, oder durch Verschlechterung des Geldes, durch positive Handelsbilanzen oder durch Papiergeldausgabe, den inneren Status des Landes ganz ungeändert lassen müßte. Denn wenn man von den wenigen Personen absehe, deren Einkommen in nicht vermehrbaren festen Bezügen besteht, so sei zwar bei Geldvermehrung jede Waare oder Leistung mehr Geld werth, als vorher, allein da jedermann sowohl Konsument wie Produzent sei, so nehme er als letzterer nur soviel mehr ein, wie er als ersterer mehr ausgebe, und alles bleibe beim Alten. Selbst wenn eine solche proportionale Preissteigerung der objektive Effekt der Geldvermehrung wäre, so würde sie dennoch sehr wesentliche psychologische Veränderungserscheinungen mit sich bringen. Trotz aller Relativität der Geldpreise nämlich, erlangen doch einerseits die Preise für bestimmte Güter, andrerseits die Einkommenssummen, wenn sie eine Zeit lang bestanden haben, eine erhebliche Festigkeit, d.h. die Vorstellung tritt auf, daß jene Preise an und für sich, absolut genommen, die angemessenen seien, und daß man sich mit diesem Einkommen einzurichten habe. Die Steigerungen oder Verminderungen von beiden heben sich infolgedessen keineswegs gegenseitig auf: man entschließt sich nicht leicht, einen über dem bisherigen und gewohnten liegenden Preis für eine Waare anzulegen, selbst wenn das eigene Einkommen inzwischen gestiegen ist; und man läßt sich andrerseits durch gewachsenes Einkommen leicht zu allerhand Aufwendungen bestimmen, ohne zu bedenken, daß jenes Plus durch die Preissteigerung der täglichen Bedürfnisse ausgeglichen wird. Die bloße Vermehrung des Geldquantums, das man auf einmal in der Hand hat, vermehrt, ganz unabhängig von allen Ueberlegungen ihrer bloßen Relativität, die Versuchung zum Geldausgeben und bewirkt damit einen gesteigerten Waarenumsatz, also eine Vermehrung, K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Georg Simmel 232 Beschleunigung und Vermannigfaltigung der ökonomischen Vorstellungen. Jener Grundzug unseres Wesens: das Relative psychologisch zum Absoluten auswachsen zu lassen - nimmt der Beziehung zwischen einem Objekte und einem bestimmten Geldquantum ihren fließenden Charakter und verfestigt sie zu sachlicher, dauernder Angemessenheit. Dadurch entsteht nun, sobald das eine Glied des Verhältnisses sich ändert, eine Erschütterung und Desorientirung. Die Aenderung in den Aktiven und den Passiven gleicht sich in ihren psychologischen Wirkungen keineswegs unmittelbar aus, sondern sie wird auf jeder der beiden Seiten für sich als überraschend oder unangemessen empfunden, von jeder Seite her wird das Bewußtsein der ökonomischen Prozesse in der bisherigen Stetigkeit seines Verlaufs unterbrochen, der Unterschied gegen den vorigen Stand macht sich auf jeder gesondert geltend. Selbst wenn man sich verstandes- und rechnungsmäßig schon klar gemacht hat, daß mit dem höheren Einkommen und den höheren Preisen ja Alles beim Alten geblieben ist, so haftet das konservativere und schwerer belehrbare Gefühl doch noch länger an jenen festgewordenen, verabsolutirten Proportionen und bringt dies in gelegentlichen Protesten gegen die höheren Preise oder in gelegentlichen Verschwendungen zum Ausdruck, bis allmählig die beiden Seiten der Veränderung sich auch psychologisch völlig ins Gleichgewicht gesetzt haben. Solange diese Anpassung noch nicht vollzogen ist, wird die gleichmäßige Vermehrung des Geldes zu fortwährenden Differenzgefühlen und psychischen Chocs Veranlassung geben, so die Unterschiede, das Sich-Gegeneinander-Absetzen innerhalb der ablaufenden Vorstellungen vertiefen und damit das Tempo des Lebens beschleunigen; denn, wie gesagt: nicht die Zeit des Lebens kann schneller oder langsamer verfließen, sondern die gleiche Zeiteinheit kann mehr oder weniger betonte, scharf unterschiedne, das Bewußtsein erregende Inhalte haben und damit das Tempo des Lebens als ein schnelleres oder langsameres bestimmen. Diese beschleunigenden Wirkungen der Geldvermehrung auf den Ablauf der ökonomischpsychischen Prozesse symbolisiren sich am schärfsten in den Entwicklungen schlechten Papiergeldes. Der unorganische und unfundamentirte Geldzufluß bewirkt zunächst ein sprunghaftes und der inneren Regulirung entbehrendes Steigen aller Preise. Die erste Geldplethora reicht aber immer nur aus, um den Ansprüchen gewisser Waarenkategorien zu genügen. Deßhalb zieht jede Emission von unsolidem Papiergeld die zweite nach sich, und die zweite noch weitere. Das ist das Tragische solcher Operationen, daß die zweite Emission nöthig ist, um den Ansprüchen zu genügen, die aus der ersten folgen. Das wird sich um so umfassender geltend machen, je mehr das Geld selbst das unmittelbare Zentrum der Bewegungen ist: die Preisrevolutionen infolge von Papiergeldüberschwemmungen führen zu Spekulationen, die zu ihrer Abwicklung immer gewachsene Geldvorräthe erfordern. Man kann sagen, daß die Tempo-Beschleunigung des sozialen Lebens durch Geldvermehrung am sichtbarsten da eintreten wird, wo es sich um Geld seiner reinen Funktionsbedeutung nach, ohne irgend einen Substanzwerth handelt; die Steigerung des gesammten ökonomischen Tempos findet hier gleichsam noch in einer höheren Potenz statt, weil sie jetzt sogar rein immanent beginnt, d.h. sich in erster Instanz in der Beschleunigung der Geldfabrikation selbst offenbart. Es ist für diesen Zusammenhang beweisend, wenn in Ländern, deren wirtschaftliches Tempo überhaupt ein rapides ist, das Papiergeld jenem Anwachsen seiner Quantität ganz besonders schnell unterliegt. Ueber Nord-Amerika sagt ein genauer Kenner in dieser Beziehung: “Man kann nicht erwarten, daß ein Volk, so ungeduldig gegenüber kleinen Gewinnen, so durchdrungen davon, daß sich Reichthurn aus Nichts oder wenigstens aus sehr wenig machen läßt - sich die Selbstbeschränkungen auferlegen wird, die in England oder Deutschland die Gefahren der Papiergeldemissionen auf ein Minimum reduziren.” Die Beschleunigung des Lebenstempos durch die Papiergeldvermehrungen liegt aber insbesondere in den Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 233 Umwälzungen des Besitzes, die von ihnen ausgehen. So geschah es insbesondere in der nordamerikanischen Papiergeldwirthschaft bis zum Unabhängigkeitskriege. Das massenhaft fabrizierte Geld, das am Anfang noch zu höherem Werth kursirt hatte, erlitt die fürchterlichsten Einbußen. Dadurch konnte heute arm sein, wer gestern noch reich war; und umgekehrt, wer dauernde Werthe für geliehenes Geld erworben hatte, zahlte seine Schuld in inzwischen entwerthetem Gelde zurück und wurde dadurch reich. Dies machte es nicht nur zum dringenden Interesse eines jeden, seine wirthschaftlichen Operationen mit größter Beschleunigung abzuwickeln, Abschlüsse auf lange Sicht zu vermeiden und rasch zugreifen zu lernen - sondern jene Besitzschwankungen erzeugten auch die fortwährenden Unterschiedsempfindungen, die plötzlichen Risse und Erschütterungen innerhalb des ökonomischen Weltbildes, die sich natürlich in alle möglichen anderen Provinzen des Lebens fortpflanzen und so als wachsende Intensität seines Verlaufes oder Steigerung seines Tempos empfunden werden. - Mit zwei ganz entgegengesetzten Motiven muß ein verschlechtertes Geld auf psychologische Erregungen wirken; einerseits wird jeder es loszuwerden suchen, die neu aufgetauchte Differenz zwischen diesem Werthe und soliden Werthen wird das praktische Bewußtsein fortwährend auf eine Umsetzung jenes in diese gespannt halten; andrerseits wird der Besitzer eines schlechten oder nur unter bestimmten Umständen werthvollen Geldes an der Aufrechterhaltung des Zustandes, unter dem sein Besitz Werth hat, lebhaft interessirt sein. Mirabeau betonte bei Einführung der Assignaten, daß überall, wo ein Stück davon sich befinde, auch der Wunsch nach der Beständigkeit ihres Credites bestehen müßte: Vous compterez un défenseur nécessaire à vos mesures, un créancier interessé à vos succès. So schafft ein derartiges Geld eine besondere Parteiung, Vertheidiger einer politischen Ordnung, die sonst vielleicht keine mehr finden würde, eine neue Lebhaftigkeit der Gegensätze. - Solche Erfolge der vermehrten Umlaufsmittel treten nun aber thatsächlich in um so erhöhtem Maaße ein, als die bisherige Voraussetzung: daß die Verbilligung des Geldes jeden als Konsumenten und Produzenten gleichmäßig trifft - eine viel zu einfache ist. In Wirklichkeit ergeben sich viel komplizirtere und bewegtere Erscheinungen. Zunächst objektiv; die Geldvermehrung bewirkt anfänglich nur die Vertheuerung einiger Waaren und läßt die anderen vorerst auf dem alten Niveau. Man hat gemeint feststellen zu können, daß es eine bestimmte und langsame Reihenfolge war, in der die Preise der europäischen Waaren seit dem 16. Jahrhundert, infolge des einströmenden amerikanischen Metalles, gestiegen sind. Die Geldmehrung innerhalb eines Landes trifft zunächst immer nur bestimmte Kreise, die den Strom abfangen. Es werden also in erster Linie diejenigen Waaren im Preise steigen, um welche nur die Angehörigen dieses Kreises konkurriren, während andere Waaren, deren Preis durch die große Masse bestimmt wird, noch unverändert billig bleiben. Das allmählige Eindringen der Geldvermehrung in weitere Kreise führt zu Ausgleichungsbestrebungen, das bisherige Preisverhältniß der Waaren untereinander wird aus seiner Beständigkeit geworfen, das Budget des einzelnen Hauses muß durch die Ungleichmäßigkeit, mit der die Höhen der einzelnen Posten sich ändern, Störungen und Verschiebungen erfahren - kurz, die Thatsache, daß jede Geldvermehrung in einem abgeschlossenen Wirthschaftskreise die Preise der Waaren ungleichmäßig beeinflußt, muß eine erregende Wirkung auf den Vorstellungsverlauf der wirthschaftenden Personen ausüben, fortwährende Differenzempfindungen,. Unterbrechungen der gewohnten Proportionen, Forderungen von Ausgleichungsversuchen zur Folge haben. Den Ungleichheitserscheinungen im Preise der Waaren entspricht es, daß von einem neuen Geldzufluß gewisse Personen und Berufe in ganz besonderer Weise profitiren. Man hat längst beobachtet, daß eine allgemeine Erhöhung der Preise sich dem Arbeitslohn am Georg Simmel 234 spätesten mittheilt. Je widerstandsloser eine wirthschaftliche Schicht ist, desto langsamer und spärlicher sickert die Geldvermehrung zu ihr durch, ja sie gelangt häufig erst dann als Einnahmesteigerung zu ihr, wenn sie sich in den Konsumartikeln dieser Schicht schon lange als Preiserhöhung geltend gemacht hat. Dadurch entstehen Chocs und Erregungen vielerlei Art, die aufgetretenen Differenzen zwischen den Schichten fordern fortwährende Anspannung des Bewußtseins, weil, vermöge des neuen Umstandes der vermehrten Umlaufsmittel, zur Bewahrung des status quo ante - sowohl was das Verhältniß der Schichten zu einander wie was die Lebenshaltung der einzelnen betrifft - jetzt nicht mehr konservatives oder defensives Beharren, sondern positiver Kampf und Eroberung erforderlich ist. Dies ist eine wesentliche Ursache, aus der jede Vermehrung des Geldquantums so anregend auf das Tempo des sozialen Lebens wirkt: weil sie über die bereits bestehenden Unterschiede hinaus neue schafft, Spaltungen, bis hinein in das Budget der Einzelfamilie, an denen das Bewußtsein fortwährende Beschleunigungen und Vertiefungen seines Verlaufes finden muß. Es liegt übrigens auf der Hand; daß ein erheblicher Geldabfluß ähnliche Erscheinungen, nur gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen, hervorrufen muß. Darin aber zeigt sich das enge Verhältniß des Geldes zu dem Tempo des Lebens, daß ebenso seine Vermehrung wie seine Verminderung, durch ihre ungleichmäßige Ausbreitung, jene Differenzerscheinungen ergeben, die sich psychisch als Unterbrechungen, Anreizungen, Zusammendrängungen des Vorstellungsverlaufes spiegeln. - Abgesehen nun von diesen Folgen der Veränderungen des Geldbestandes, die das Tempo des Lebens gleichsam als die Funktion seiner Veränderungen erscheinen lassen, tritt jene Zusammendrängung der Lebensinhalte noch in einer anderen Folge des Geldverkehrs hervor. Es ist diesem nämlich eigenthümlich, daß er zur Konzentration an verhältnißmäßig wenigen Plätzen drängt. In Bezug auf lokale Diffusion kann man eine Skala der ökonomischen Objekte aufstellen, von der ich hier nur ganz im Rohen einige der charakteristischsten Stufen andeute. Sie beginnt mit dem Ackerbau, dessen Natur jeder Zusammenrückung seiner Gebietstheile widersteht; er schließt sich unabwendbar dem ursprünglichen Außereinander des Raumes an. Die industrielle Produktion ist schon komprimirbarer: der Fabrikbetrieb stellt eine räumliche Kondensirung gegenüber dem Handwerk und der Hausindustrie dar, das moderne Industriezentrum ist ein gewerblicher Mikrokosmos, in den jede in der Welt vorhandne Gattung von Rohstoffen strömt und zu Formen gestaltet wird, deren Ursprünge weltweit auseinanderliegen. Das äußerste Glied dieser Stufenleiter bilden die Geldgeschäfte. Das Geld steht vermöge der Abstraktheit seiner Form jenseits aller bestimmten Beziehungen zum Raum: es kann seine Wirkungen in die weitesten Fernen erstrecken, ja es ist gewissermaaßen in jedem Augenblick der Mittelpunkt eines Kreises potentieller Wirkungen; aber es gestattet auch umgekehrt, die größte Werthsumme in die kleinste Form zusammenzudrängen - bis zu dem 5 Millionen- Dollar-Check, den Jay Gould einmal ausstellte. Der Komprimirbarkeit der Werthe vermöge des Geldes, und des Geldes vermöge seiner immer abstrakteren Formen entspricht nun die der Geldgeschäfte. In dem Maaß, in dem die Wirthschaft eines Landes mehr und mehr auf Geld gestellt wird, schreitet die Konzentrirung seiner Finanzaktionen in großen Knotenpunkten des Geldverkehrs vor. Von jeher war die Stadt im Unterschiede vom Lande der Sitz der Geldwirthschaft; dies Verhältniß wiederholt sich zwischen Klein- und Großstädten, so daß ein englischer Historiker sagen konnte, London habe, in seiner ganzen Geschichte, niemals als das Herz von England gehandelt, manchmal als sein Gehirn, aber immer als sein Geldbeutel; und schon am Ende der römischen Republik heißt es, jeder Pfennig, der in Gallien ausgegeben werde, ginge durch die Bücher der Finanziers in Rom. An dieser Zentripetalkraft der Geldfinanz hängt das Interesse beider Parteien: der Geldnehmer, weil sie wegen der Konkurrenz der zusammenströmenden Kapitalien billig borgen (in Rom stand der Zinsfuß halb so Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 235 hoch als sonst durchschnittlich im Alterthum), der Geldgeber, weil sie das Geld zwar nicht so hoch, wie an isolirten Punkten ausleihen, aber des Wichtigeren sicher sind, jederzeit überhaupt Verwendung dafür zu finden. Der tiefere Grund für die Bildung von Finanzzentren liegt offenbar in dem Relativitätscharakter des Geldes: weil es einerseits nur die Werthverhältnisse der Waaren untereinander ausdrückt, weil andrerseits jedes bestimmte Quantum seiner weniger unmittelbar festzustellenden Werth besitzt, als das irgend einer anderen Waare, sondern mehr als jede andere ausschließlich durch Vergleichung mit dem angebotenen Gesammtquantum überhaupt eine Bedeutung erhält - so wird seine maximale Konzentrirung auf einen Punkt, das fortwährende Gegeneinanderhalten möglichst großer Summen, die Ausgleichung eines überwiegenden Theiles von Angebot und Nachfrage überhaupt, zu seiner größten Werthbestimmtheit und Verwendbarkeit führen. Ein Scheffel Getreide hat eine gewisse Bedeutung an jedem noch so isolirten Platze, so große Unterschiede auch sein Geldpreis aufweise. Ein Geldquantum aber hat seine Bedeutung nur im Zusammentreffen mit anderen Werthen; mit je mehren es zusammentrifft, um so sichrer und gerechter erlangt es diese; deshalb drängt nicht nur “Alles nach Golde” - die Menschen wie die Dinge - sondern das Geld drängt auch seinerseits nach “Allem”, es sucht sich mit anderem Gelde, mit allen möglichen Werthen und ihren Besitzern zusammenzubringen; Und der gleiche Zusammenhang in umgekehrter Richtung: der Konflux vieler Menschen erzeugt ein besonders starkes Bedürfnis nach Geld. In Deutschland entstand eine hauptsächliche Nachfrage nach Geld durch die Jahrmärkte, die die Territorialherren einrichteten, um an Münztausch und Waarenzoll zu profitiren. Durch diese zwangsweise Konzentrirung des Handelsverkehrs eines größeren Territoriums an einem Punkte wurde Kauflust und Umsatz sehr gesteigert, der Gebrauch des Geldes wurde erst dadurch zur allgemeinen Notwendigkeit. Wo nur immer viele wirthschaftende Menschen, ja wo überhaupt nur viele Menschen zusammenkommen, wird Geld verhältnißmäßig stärker erfordert werden. Denn wegen seiner an sich indifferenten Natur ist es die geeignetste Brücke und Verständigungsmittel zwischen vielen und verschiednen Menschen; je mehre es sind, desto tiefer sinkt die Chance, daß andre als Geldinteressen die Basis ihres Verkehrs bilden können. Aus all diesem ergiebt sich, in wie hohem Maaße das Geld jene intensive Erfüllung des Vorstellungsprozesses bewirkt, die man als die Steigerung des Lebenstempos bezeichnet und die sich an der Zahl und Mannigfaltigkeit der einströmenden und einander ablösenden Eindrücke und Anregungen mißt. Die Tendenz des Geldes, zusammenzufließen und sich, wenn auch nicht in der Hand eines Einzelnen, so doch in lokal eng begrenzten Zentren zu akkumuliren, die Interessen der Individuen und damit sie selbst an solchen zusammenzuführen, sie auf einem gemeinsamen Boden in Berührung zu bringen, und so - wie es auch in der von ihm dargestellten Werthform liegt - das Mannigfaltigste in den kleinsten Umfang zu konzentriren - diese Tendenz und Fähigkeit des Geldes hat den psychischen Erfolg, die Buntheit und Fülle des Lebens und - was eben nur ein anderer Ausdruck dafür ist - sein Tempo zu steigern. Das entschiedenste Symbol hierfür ist die Börse. Hier haben die ökonomischen Werthe und Interessen, vollständig auf ihren Geldausdruck reduzirt, ihre und ihrer Träger engste lokale Vereinigung erreicht, und damit ihre unmittelbarste Ausgleichung, Vertheilung, Abwägung zu gewinnen. Diese doppelte Kondensirtheit: der Werthe in die Geldform und des Geldverkehrs in die Börsenform - ermöglicht es, daß die Werthe in der kürzesten Zeit durch die größte Zahl von Händen hindurchgejagt werden: an der New-Yorker Börse wird jährlich der fünffache Betrag der Baumwollernte in Spekulationen in Baumwolle umgesetzt, und schon 1887 verkaufte diese Börse fünfzigmal das Erträgniß des Jahres in Petroleum. Und zugleich ist die Börse vielleicht der Punkt der größten konstitutionellen Georg Simmel 236 Aufgeregtheit des Wirthschaftslebens: ihr sanguinisch-cholerisches Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus, ihre nervöse Reaktion auf Ponderabilien und Imponderabilien, die Schnelligkeit, mit der jedes den Stand verändernde Moment ergriffen, aber auch wieder vor dem nächsten vergessen wird - alles dies stellt eine extreme Steigerung des Lebenstempos dar, eine fieberhafte Bewegtheit und Zusammendrängung seiner Modifikationen, in der der spezifische Einfluß des Geldes auf den Ablauf des psychischen Lebens seine auffälligste Sichtbarkeit gewinnt. Als Werth-Ausgleicher und Tauschmittel von unbedingter Allgemeinheit hat das Geld die Kraft, Alles mit Allem in Verbindung zu setzen: es baut eine Brücke zwischen den Dingen, wie es eine zwischen den wirthschaftenden Menschen baut, es erfüllt in objektiver Hinsicht die Funktion, der der Händler in subjektiver dient. Wenn der Kaufmann der vorzüglichste Geldinteressent ist, so ist dies der genaue Ausdruck der Analogie, welche zwischen ihm und dem Gelde besteht: was das Geld zwischen den Waaren ist, ist der Kaufmann zwischen den Menschen. Das Geld nimmt den Dingen und, in hohem Maaße, auch den Menschen die gegenseitige Unzugänglichkeit, es führt sie aus ihrer ursprünglichen Isolirung in Beziehung, Vergleichbarkeit, Wechselwirkung über. Hierdurch aber entsteht eine außerordentliche Vermannigfaltigung und Belebtheit der Vorstellungsreihen. Wenn wir die Erhöhung des Lebenstempos in die Fülle und Verschiedenheit der Vorstellungen gesetzt haben, so ist doch als wesentlich zu ergänzen, daß diese Vorstellungen nicht in Vereinzelung und zentripetalem Fürsichsein durch das Bewußtsein gleiten, sondern daß sie durch Assoziationsfäden verbunden werden. Je mehr Beziehungen die ihrem Inhalte nach neue Vorstellung dennoch zu den früheren hat, desto lebhafter ist ihre Rolle im Bewußtsein. Die Voraussetzung für die Fülle wie für die Verschiedenheit innerhalb des Vorstellungslebens ist doch die Einheit desselben, ein Schnittpunkt und gemeinsamer Hintergrund, an dem sich erst das Hinzukommen des einen zum andern empfinden, der Abstand des einen vom andern ermessen läßt. Diese Einheit aber, durch die es überhaupt zu einem Lebenstempo in dem hier angenommenen Sinn erst kommen kann, wird dem Vorstellungsverlauf nicht von einem metaphysisch einheitlichen Ich geliefert; sondern sie besteht in der bloßen Funktion, durch welche sich die Vorstellungen, psychologischen Gesetzen folgend, in gegenseitige Verbindung setzen, sie ist kein substantielles, sondern ein dynamisches Band zwischen diesen. Daß die “Einheit”, die wir einem Wesen zusprechen, keine Hinweisung auf einen Punkt substantieller, metaphysischer Untheilbarkeit zu enthalten braucht; daß ein solcher vielmehr nur die Hypostase für die Wechselwirkung der Theile des Wesens ist, die allein den realen Inhalt seiner “Einheit” ausmacht - das ist sicher einer der aufklärendsten Gedanken moderner Kritik. Nun können wir von der Einheit der Welt sprechen, ohne ihr ein Substrat in theistischen oder spiritualistischen Spekulationen suchen zu müssen, sondern nur in der realen Bestimmtheit jedes Theiles der Welt durch jeden anderen; von der Einheit des Organismus sprechen wir, ohne eine untheilbare Lebenskraft dazu vorauszusetzen, sondern nur die funktionelle Abhängigkeit jedes Organes von jedem anderen; die Einheit des Staates liegt uns nicht mehr in einer “Volksseele”, einem “Gesammtbewußtsein” oder sonstigen mystischen Substraten, sondern zu ihrem Begriffe genügen die lebendigen Wechselwirkungen, die das Handeln und Leiden jedes Elementes im Staate jedes andere irgendwie beeinflussen lassen. So ist alle Einheit sozusagen nichts solipsistisches, sondern eine Funktion der Vielheit, sie realisirt sich unmittelbar nur an dieser, sie besteht an dem Objekt als die Form, in der die Vielheit seiner Theile lebt. Einheit und Vielheit sind nicht nur logisch, sondern auch in ihrer Verwirklichung Ergänzungsbegriffe. Die Vielheit der Elemente erzeugt durch deren Wechselbeziehungen das, was wir die Einheit des Ganzen nennen, aber jene Vielheit wäre ohne diese Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 237 Einheit nicht vorstellbar; der Zirkel, der sich so zu ergeben scheint, ist unvermeidlich, wenn man das Aufeinander-Angewiesensein zweier Wechselbegriffe logisch darstellen will. So ist die menschliche “Seele” eben eine, weil ihre einzelnen Bestandtheile, ihre Vorstellungen, in engster gegenseitiger Beziehung und Verknüpfung stehen; hiermit aber entsteht jenes Sich- Aneinandermessen, jenes Zueinander-Hinzukommen, jenes Bewußtsein des Einzelnen als solchen, das eben Vielheit für uns darstellt. Indem das Geld die Dinge in ideelle und reale Verbindung bringt, einen neuen Vergleichungspunkt zwischen ihnen stiftet, sie zu Elementen eines umfassenden ökonomischen Kosmos macht - trägt es also zu jener funktionellen Einheit des Vorstellungslebens bei, an der die Summirung und die Differenzen seiner einzelnen Inhalte merkbar werden. So bewirkt das Geld nicht nur, daß die Vorstellungsinhalte, objektiv angesehen, sich häufen und sich in lebhaften Schwankungen und Gegensätzen bewegen; sondern mit den Beziehungen, die es zwischen den Dingen stiftet, schafft es auch diejenigen Vergleichbarkeiten, Meßbarkeiten, Nivellirungen, durch die die Vorstellungen wirklich sich als Inhalte eines psychischen Organismus darstellen. Es sind gleichsam die beiden Seiten seiner Funktion: daß es eine Vielheit von Vorstellungen und zugleich jene Lebhaftigkeit der Verbindungen zwischen ihnen auslöst, die, zu der seelischen Einheit beitragend, die Vielheit fühlbar macht und so die innere Bedingung eines bestimmten Verlaufes der Lebensinhalte und eines bestimmten Tempos desselben darbietet. Zu solchem Gegensatz und Hintergrund, dessen das Leben bedarf, um sein Tempo daran zu bestimmen, trägt das Geld noch auf einer höheren, überindividuellen Stufe bei. Auf den primitiven Staffeln der sozialen Entwickelung muß zwischen den Bedürfnissen, Kräften, Qualitäten der Individuen einerseits, und der objektiven Ordnung, Technik, äußeren Form und Produktivität des Lebens andererseits eine wesentliche Harmonie bestanden haben. Denn nur unmittelbar aus den Eigenschaften und Verhältnissen der Einzelnen können sich die rechtlichen, sittlichen, technischen, ökonomischen Normen erhoben haben, ja, jene subjektivindividuellen wie diese objektiven Bedingungen bilden ursprünglich eine ungeschiedene Einheit des Lebens, aus der sich der Gegensatz zwischen unpersönlicher Norm und ihr gegenüberstehender Individualität erst herauszudifferenziren hatte. Diese Differenzirung nun findet in demselben Maaße statt, in dem die Breite und die Lebensdauer der sozialen Gruppen wachsen. Von je mehr Menschen einer Norm nachgelebt, ein Verhältniß erfüllt, eine Technik geübt wird, desto eher gewinnen diese Dinge eine gesonderte Existenz und stellen sich über die Individuen als selbständige Formen, die ausgefüllt, Mächte, denen gehorcht, technische Ansprüche, denen genügt sein will. So ist Ueber- und Unterordnung ursprünglich der adäquate Ausdruck individueller Vergewaltigung, Suggestion, Pietät - bis sich schließlich die Form dieses Verhältnisses von ihren Trägern gelöst und sich als über- oder untergeordnete “Stellung” fixirt hat, die nun gleichsam eine für sich bestehende leere Form ist und auf die Individuen wartet, die sie “ausfüllen”. So ist, was wir als Recht bezeichnen, ursprünglich die Form, in der sich die ökonomischen und ethischen Energien des Einzelnen oder der Klasse ausleben, bis es zu einem selbständigen Gebilde und Selbstzweck wird, das jenen realen Kräften wenigstens mit relativer Unabhängigkeit gegenübersteht. So steht die Technik und Ordnung der materiellen Produktion samt iliren Folgen für das Sein und Handeln der Individuen zunächst in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Können und Wollen der letzteren. Sie gewinnt aber insbesondere seit einerseits die Technik ihre Spezialwissenschaften gewonnen hat, und andrerseits die Ausbildung der Individuen von einer wachsenden Zahl anderweitiger Elemente mit bestimmt wird, eine eigene Fähigkeit und Fortschrittsart, die nun zu der der Individuen oft genug ein völlig variables Verhältniß hat. Für einen großen Theil dieser Georg Simmel 238 Objektivirungen der Lebensinhalte, dieser verselbständigenden Heraussetzungen ihrer aus ihren subjektiven Trägern ist das Geld von äußerster Wichtigkeit. Denn es ist die große Mittelinstanz zwischen den Menschen und den Dingen, und leitet so die Sonderung der Entwickelungen beider ein. Die Produktion gewinnt einen viel mehr technisch in sich geschlossenen Charakter, wenn sie nur für den anonymen Kreis geldzahlender Abnehmer arbeitet und wenn sie, was gleichfalls nur durch das Geld möglich ist, Massenproduktion ist. Das Recht gewinnt die Möglichkeit eines rein immanenten, nur logischen Baues, indem die immer gleichmäßige Substanz: Geld - das schließliche Ziel seiner Bestimmungen bildet. Wo dies nicht der Fall ist, wie z.B. im Strafrecht, da kann eine innere Geschlossenheit, ein objektives In-sich-selbst-Ruhen gegenüber dem individuellen Falle auch lange nicht in gleichem Maaße an ihm hervortreten. Das Verhältniß der Klassen zu einander, Rechte und Pflichten einer jeden, ihre Theilnahme an den Ordnungen und Gütern der Kultur kann viel eher dann dauernd festgelegt werden, wenn alle Inhalte dieser Kategorien am Ende auf Geld und die Verschiedenheit seiner Quanta reduzirt werden oder werden können, als wenn die Inkommensurabilitäten der Persönlichkeiten sich unmittelbar in ihnen geltend machten. An all diesen Lebensprovinzen beobachten wir so ein Bestehen und Sich-Entwickeln zu objektiven, den darin eingeschlossenen Individuen selbständig gegenüberstehenden Gebilden, deren eigene Gesetzmäßigkeit sie gegen die Interessen und Ansprüche jener oft gleichgiltig, oft feindlich macht. Indem so das historische Dasein auf jeder irgend höheren Stufe zwei Reihen aufweist: die unpersönlichen Gebilde, die sachliche Ordnung und Arbeit einerseits, die Personen mit ihren subjektiven Eigenschaften und Bedürfnissen andererseits, ergeben sich zwischen Beiden oft erhebliche Verschiedenheiten des Entwicklungstempos. Die Einrichtungen, in denen sich die Kräfte und Verhältnisse der Individuen ehemals zutreffend ausgedrückt haben, können durch ihre Lösung und Verselbständigung gegenüber der lebendigen Entwicklung der Personen verknöchern und erstarren. Sie können aber auch aus eben demselben Grunde sich in sich so rasch und weit entwickeln, daß die Anpassung der Personen nicht mitkommt. In beiden Fällen ergeben sich große Schwierigkeiten. Das Recht, von gewissen Grundthatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex prinzipiell unveränderlicher Gesetze niedergelegt, von einem besonderen Stande getragen, gewinnt den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohlthat zur Plage wird. Sobald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen kristallisirt haben und diese arbeitstheilig durch eine, von den Gläubigen gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion nicht anders. Der von Marx urgirte Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften der Gesellschaft zeigt dieselbe Form: die Vertheilung des Eigenthums, die Ordnung der Arbeit, die Herrschaftsverhältnisse zwischen den Klassen entsprechen zu einer bestimmten Zeit relativ genau den Kräften und Bedürfnissen der Einzelnen; sobald aber unpersönliche Mächte daraus geworden sind, feste Normen, die das Leben nach sich zwingen, statt immer von neuem aus ihm hervorzugehen, so gerathen sie mit den im übrigen weiterentwickelten Energien und Bestrebungen der Personen in Widerstreit. Hier kann ebensogut das Objektive hinter dem Personalen zurückbleiben, wie umgekehrt; die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben z.B. außerordentlich viel hauswirtschaftliche Thätigkeiten, die früher den Frauen oblagen, außerhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger und zweckmäßiger hergestellt werden. Dadurch ist nun sehr vielen Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive Lebensinhalt genommen, ohne daß so rasch sich andere Thätigkeiten und Ziele an die Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 239 leergewordene Stelle eingeschoben hätten; die vielfache “Unbefriedigtheit” der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer Kräfte, die zurückschlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung bewirken, ihr theils gesundes, theils krankhaftes Suchen nach Bewährungen außerhalb des Hauses - das ist der Erfolg davon, daß die Technik in ihrer objektiven Entwicklung einen eigenen und schnelleren Gang genommen hat, als die Personen, die sie beherrscht. So zerlegt denn dieser Differenzierungsprozeß die Lebensinhalte in selbständige, mit eigenen Kräften und nach immanenten Gesetzen entwickelte Gebilde und in personale Schicksale, die von jenen gelöst und dennoch von ihnen beherrscht sind - und schafft damit ein doppeltes Zeitmaaß für die menschlichen Dinge, oder vielmehr eine zweite Entwicklungsreihe über der personalen, an der sich das Tempo dieser mißt. Ja, sehr häufig kommt es erst durch die Differenz zwischen diesen beiden Tempi zu dem Bewußtsein davon, daß die eine oder die andere Seite des Daseins sich so und so schnell vorwärts bewegt, daß die Menschen als ganze Persönlichkeiten eine gewisse überholende Beschleunigung ihrer Entwicklung darbieten, oder daß umgekehrt die objektivirten, zu eignen Organismen gebildeten Interessen oder Verhältnisse zu schnell fortschreiten, als daß die individuelle Anpassung damit schritthalten könnte. Indem das Geld einer der hauptsächlichen Faktoren dieser Scheidung ist, hilft es, die beschriebenen Wirkungen auf das Zeitmaaß des Lebens hervorzurufen, ja, ihm nach bestimmten Richtungen ein Tempo als solches und bewußtes überhaupt erst zu verleihen. Endlich muß die Geschwindigkeit, die der Zirkulation des Geldes selbst gegenüber der aller anderen Objekte eigen ist, zugleich in demselben Maaße das allgemeine Lebenstempo unmittelbar steigern, in dem das Geld das allgemeine Interessenzentrum wird. Die Rundheit der Münzen, infolge deren sie “rollen müssen” symbolisirt den Rhythmus der Bewegung, die das Geld dem Verkehr mittheilt: selbst wo die Münze ursprünglich eckig war, muß der Gebrauch zunächst die Ecken abgeschliffen und sie der Rundung angenähert haben; physikalische Nothwendigkeiten haben so der Intensität des Verkehrs die ihm dienlichste Werkzeugsform verschafft. Vergleicht man die Zirkulationsfähigkeit von Grund und Boden mit der des Geldes, so erhellt unmittelbar der Unterschied des Lebenstempos zwischen Zeiten, wo jener und wo dieses den Angelpunkt der ökonomischen Bewegungen ausmachte. Man denke z.B. an den Charakter der Steuerleistungen in Hinsicht auf äußere und innere Schwankungen, je nachdem sie von dem einen oder von dem anderen Objekt erhoben wurden. Im angelsächsischen und normannischen England galten alle Auflagen ausschließlich dem Landbesitz; im 12. Jahrhundert schritt man dazu, Pachtzinse und Viehbesitz zu belasten; bald nachher wurden bestimmte Theile des beweglichen Eigenthums (der 4., 7., 13. Theil) als Steuer erhoben. So wurden die Steuerobjekte immer beweglicher, bis schließlich das Geldeinkommen als das eigentliche Fundament der Besteuerung auftritt. Damit erhält diese einen bis dahin unerhörten Grad von Beweglichkeit und Nüancirung und bewirkt, bei größerer Sicherheit des Gesammterträgnisses, doch eine sehr viel größere Variabilität und jährliche Schwankung in der Leistung des Einzelnen. - Aus dieser unmittelbaren Bedeutung und Betonung vom Boden oder vom Geld für das Tempo des Lebens erklärt sich einerseits der große Werth, den sehr konservative Völker auf den Ackerbau legen. Die Chinesen sind überzeugt, daß nur dieser die Ruhe und Beständigkeit der Staaten sichert und wohl aus diesem Zusammenhange heraus haben sie auf den Verkauf von Ländereien einen ungeheuren Stempel gesetzt; so daß die meisten Landkäufe dort nur privatim und unter Verzicht auf die grundbuchliche Eintragung vollzogen werden. Wo dennoch jene durch das Geld getragene Beschleunigung des wirtschaftlichen Lebens sich durchgesetzt hat, da sucht sie nun, andrerseits, die ihr widerstehende Form des Grundbesitzes dennoch nach sich zu rhythmisiren. So ist von konservativer Seite hervorgehoben worden, daß die Hypothekengesetzgebung der letzten Georg Simmel 240 Jahrzehnte auf eine Verflüssigung des Grundbesitzes hinarbeite und diesen in eine Art Papiergeld verwandele, das man in beliebig vielen Antheilscheinen weggeben könne; so daß, wie Waldeck sich ausdrückte, der Grundbesitz nur da zu sein scheine, um subhastirt zu werden. - Wenn man den Beitrag zur Bestimmung des Lebenstempos charakterisiren will, den das Geld durch seinen eigenen Charakter, und abgesehen von seinen zuerst besprochenen technischen Folgen liefert, so könnte man es mit folgender Ueberlegung. Die genauere Analyse des Beharrungs- und Veränderungsbegriffes zeigt einen doppelten Gegensatz in der Art, wie er sich verwirklicht. Sehen wir die Welt auf ihre Substanz hin an, so münden wir leicht auf der Idee eines ‘ , eines unveränderlichen Seins, das durch den Ausschluß jeder Vermehrung oder Verminderung den Dingen den Charakter eines absoluten Beharrens ertheilt. Sieht man andererseits auf die Formung dieser Substanz, so ist in ihr die Beharrung absolut aufgehoben, unaufhörlich setzt sich eine Form in die andere um und die Welt bietet das Schauspiel eines Perpetuum mobile. Dies ist der kosmologische, oft genug ins Metaphysische hinaus gedeutete Doppelaspekt des Seienden. Innerhalb einer tiefer gelegenen Empirie indeß vertheilt sich der Gegensatz zwischen Beharrung und Bewegung in anderer Weise. Wenn wir nämlich das Weltbild, wie es sich unmittelbar darbietet, betrachten, so sind es gerade gewisse Formen, die eine Zeit hindurch beharren, während die realen Elemente, die sie zusammensetzen, in fortwährender Bewegung befindlich sind. So beharrt der Regenbogen bei fortwährender Lageveränderung der Wassertheilchen, die organische Form bei stetem Austausch der sie erbauenden Stoffe, ja, an jedem unorganischen Ding, das eine Weile als solches besteht, beharrt doch nur das Verhältniß und die Wechselwirkung seiner kleinsten Theile, während diese selbst in unaufhörlichen molekularen Bewegungen, unserem Auge entzogen, begriffen sind. Hier ist also die Realität selbst in rastlosem Flusse, und während wir diesen, sozusagen wegen mangelnder Sehschärfe, nicht unmittelbar konstatiren können, verfestigen sich die Formen und Konstellationen der Bewegungen zu der Erscheinung des dauernden Objektes. Neben diesen beiden Gegensätzen in der Anwendung des Beharrungs- und Bewegungsbegriffes auf die vorgestellte Welt steht ein dritter. Die Beharrung kann nämlich einen Sinn haben, der sie jenseits jeder noch so ausgedehnten Zeitdauer stellt. Der einfachste, aber für uns hier zureichende Fall derselben ist das Naturgesetz. Die Gültigkeit des Naturgesetzes beruht darin, daß aus einer gewissen Konstellation von Elementen eine bestimmte Wirkung sachlich nothwendig erfolgt. Diese Nothwendigkeit ist also ganz unabhängig davon, wann ihre Bedingungen sich in der Wirklichkeit einmal einstellen; einmal oder millionenmal, jetzt oder in hunderttausend Jahren; die Gültigkeit des Gesetzes wird davon nicht berührt, sein Beharren ist ein ewiges im Sinne der Zeitlosigkeit, seine Bedeutung ist die, daß es schlechthin ist; es schließt seinem Wesen und Begriffe nach jegliche Veränderung oder Bewegung von sich aus. Zu dieser eigentümlichen absoluten Form des Beharrens muß es ein Seitenstück in einer entsprechenden Form der Bewegung geben. Wie sich das Beharren über jede noch so weite Zeitstrecke hinaus steigern läßt, bis in der ewigen Gültigkeit des Naturgesetzes oder der mathematischen Formel jede Beziehung auf einen bestimmten Zeitmoment schlechthin ausgelöscht ist: so läßt sich die Veränderung und Bewegung als eine so absolute denken, daß überhaupt ein bestimmtes Zeitmaaß derselben nicht mehr besteht; geht alle Bewegung zwischen einem Hier und einem Dort vor sich, so ist bei dieser absoluten Veränderung - der species aeternitatis mit umgekehrtem Vorzeichen - das Hier vollkommen verschwunden, und man könnte mit Hegelscher Paradoxie sagen: ein solches Objekt ist da, wo es nicht ist. Haben Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens 241 jene zeitlosen Objekte ihre Gültigkeit in der Form des Beharrens, so diese in der Form des Uebergangs, der Nicht-Dauer. Es ist mir nun kein Zweifel, daß auch dieses Gegensatzpaar weit genug ist, um ein Weltbild darein zu fassen. Wenn man, einerseits, alle Gesetze kennte, die die Wirklichkeit beherrschen, so würde diese letztere durch den Komplex jener thatsächlich auf ihren absoluten Gehalt, ihre zeitlos ewige Bedeutung zurückgeführt sein - wenngleich sich die Wirklichkeit selbst daraus noch nicht konstruiren ließe, weil das Gesetz als solches, seinem ideellen Inhalt nach, sich gegen den einzelnen Fall seiner Verwirklichung ganz gleichgültig verhält. Gerade weil nun aber der Inhalt der Wirklichkeit restlos in den Gesetzen aufgeht, die unaufhörlich Wirkungen aus Ursachen hervortreiben, und was soeben Wirkung war, im gleichen Augenblick schon als Ursache wirken zu lassen - gerade deßhalb kann man nun, andrerseits, die Wirklichkeit, die konkrete, historische, erfahrbare Erscheinung der Welt in jenem absoluten Flusse erblicken, auf den Heraklits symbolische Aeußerungen hindeuten. Bringt man das Weltbild auf diesen Gegensatz, so ist alles überhaupt Dauernde, über den Moment Hinausweisende aus der Wirklichkeit herausgezogen und in jenem ideellen Reich der bloßen Gesetze gesammelt; in der Wirklichkeit selbst dauern die Dinge überhaupt keine Zeit, durch die dahinterstehende, rastlos treibende Kraft der Gesetze wird jede Form schon im Augenblick ihres Entstehens wieder aufgelöst, sie lebt sozusagen nur in ihrem Zerstörtwerden, jede Verfestigung ihrer zu dauernden - wenn auch noch so kurz dauernden - Dingen ist eine unvollkommene Auffassung, die den Bewegungen der Wirklichkeit nicht in deren eigenem Tempo zu folgen vermag. Die Welt ist so in das schlechthin Dauernde und in das schlechthin Nicht-Dauernde zerlegt. Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt nun giebt es sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld. Die Bedeutung des Geldes liegt darin, daß es fortgegeben wird; sobald es ruht, ist es nicht mehr Geld seinem spezifischen Wert und Bedeutung nach. Die Wirkung, die es unter Umständen im ruhenden Zustand ausübt, besteht in einer Antizipation seiner Weiterbewegung. Es ist nichts als der Träger einer Bewegung, in dem eben alles, was nicht Bewegung ist, völlig ausgelöscht ist, es ist sozusagen actus purus; es lebt in kontinuirlicher Selbstentäußerung aus jedem gegebenen Punkt heraus und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Für-sichseins. Hier kann man, an einem Symbole aus der historischen Welt, den Charakter der Natur als unter der Kategorie der unbedingten Bewegung und des kontinuirlichen Sich-Aus-sich-Heraussetzens, klarer durchschauen, als an einem Beispiel aus der Natur selbst, weil kein empirischer Fall für unseren Blick jene Kategorie in restloser Reinheit verkörpert. Andrerseits aber wirft die Möglichkeit, die Vorstellung des Geldes zur absoluten Darstellung dieser Kategorie zu verwenden, ein helles Licht auf das Geld selbst zurück, als auf die reinste Verwirklichung des Bewegungsprinzips. Damit gewinnen wir den abstrakten und absoluten Ausdruck für alle die konkreten und relativen Wirkungen, die seine Stellung im praktischen Leben auf die Bestimmung des Tempos desselben ausübt. Gunter Narr Verlag Tübingen Postfach 2567 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 752 88 Elke Donalies Die Wortbildung des Deutschen Ein Überblick Studien zur Deutschen Sprache 27, 2002, 190 Seiten, 39,-/ SFr 64,50 ISBN 3-8233-5157-5 Dieses Buch bietet einen kompakten Überblick über die Wortbildung des Deutschen. Die zugrunde liegende Sprachtheorie ist mit den üblichen grammatischen Kenntnissen und den üblichen Denkweisen der Logik leicht nachzuvollziehen. Genau beschrieben wird, wie Wortbildung funktioniert, aus welchen Einheiten und mit welchen Verfahren Wörter gebildet werden. Vorschriften werden dabei nicht gemacht. Dieses Buch ist problemorientiert und forschungsnah. Es setzt sich mit wesentlichen Termini und Begriffen auseinander und diskutiert die verschiedensten traditionellen, aktuellen und revolutionären Erklärungsmodelle der Wortbildungslehre. Es soll für ein präzises Sprechen über Sprache sensibilisieren. Weil es zudem materialreich und nah an der Sprachrealität ist, ist es anschaulich und vergnüglich bei höchstmöglicher wissenschaftlicher Ausrichtung. Studien zur Deutschen Sprache Das Geld als Zeichen Kurt Singer Das Wesen der Chartalität Es scheint tief in der Natur des Verstandes begründet zu sein, daß er vor eine ungewohnte und überraschende Erscheinung gestellt zunächst geneigt ist, die Existenz des Neuen zu bestreiten, wenn aber diese Existenz nicht länger geleugnet werden kann, sie auf gewohnte und bekannte Dinge zurückzuführen. Es ist, als ob er eine eingeborene Abneigung hätte, den Schritt des Heute zu vernehmen, wenn er aus einer unerwarteten Richtung hörbar wird. So ist es im großen Leben des Geistes; so wird man auch, wo immer unternommen wird, den gegenwärtigen Zustand des Geldwesens darzustellen, fast ohne Ausnahme dem Versuch begegnen, die vorgefundene Geldverfassung nicht aus sich, sondern aus älteren Verfassungen zu erklären und nach deren Analogie zu deuten, weil diese Verfassungen leichter mit den herkömmlichen Begriffen erfaßbar scheinen als jene. Nach diesen herkömmlichen Anschauungen ist die Mark von jeher nur ein Name für eine bestimmte Metallmenge gewesen: eben die Menge Metall, die dank dem Münzfuß im baren Gelde enthalten ist. Der Zahlungsverkehr bedeutet dann die Hingabe von Gütern gegen bestimmte Metallmengen und die Messung des Güterwerts an dem Wert des Währungsstoffes. Eine solche Auffassung ist allenfalls verständlich, wenn die Geldverfassung wie in Deutschland vor Ausbruch des Krieges die Einlösung jedes Zahlungsmittels in Währungsmetall verbürgt, so daß auch die Banknoten und die übrigen nicht-baren (genauer: autogenischen) Zahlungsmittel aufgefaßt werden können als Träger eines Anspruchs auf eine bestimmte Metallmenge. Diese Theorie hält nun zwar, wie später darzulegen ist, auch einer solchen Verfassung gegenüber nicht stand, wenn man sich nicht mit läßlichen Umschreibungen des Sachverhalts begnügt. Sie erweist sich aber als durchaus unanwendbar, wo die Einlösung der autogenischen Zahlungsmittel in bares Geld aufgehoben ist, so daß jene zu definitivem oder gar zu valutarischem Geld aufrücken. Wie soll es in dieser Geldverfassung möglich sein, Güter in Gold zu schätzen und gegen Gold hinzugeben, wenn das Währungsgeld eines solchen Metallgehaltes entbehrt? Die herrschende Theorie antwortet, dieser Zustand sei eigentlich nur scheinhaft und in jedem Fall vorübergehend, er beruhe auf einem Fortwirken früherer Zustände und auf einer Vorwegnahme künftiger Reformen. Wenn man die uneinlösliche Banknote heute annähme und benutze wie früher die einlösbare, so diene sie eben als Ersatz des Goldes, als Stellvertretung und Surrogat. Jedermann müsse erwarten, daß die Einlösung in absehbarer Zeit wiederhergestellt werde, zu welchem Zweck große Goldbestände bei den Notenbanken aufgehäuft zu werden pflegten. Im Grunde also sei das Gold sowohl in der Form der Erinnerung wie in der Form der Hoffnung wirksam und irgendwie gegenwärtig. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Kurt Singer 244 Diese These gründet sich indessen auf eine Fiktion die nur leicht verschleiert ist. Niemand der heute in Banknoten zahlt, bedient sich ihrer, weil früher die notalen Zahlungsmittel in Goldgeld einlösbar waren. Niemand würde sich auch zu ihnen anders verhalten, wenn es sicher wäre, daß sie niemals wieder in Goldgeld eingelöst würden. Jene psychologische Stützung durch die angebliche Beziehung zum Golde ist also nicht ein Tatbestand, sondern nur ein Postulat durch das die alte Theorie um jeden Preis gerechtfertigt werden soll. Wem es nicht um eine bequeme Umdeutung der Dinge, sondern um das Verständnis der Wirklichkeit selber zu tun ist, wird aber als eine Art von Urphänomen die Tatsache anzuerkennen haben, daß die uneinloslichen autogenischen Zahlungsmittel auch dort die Funktion des valutarischen Geldes erfüllen können, wo sie nicht den Besitz einer bestimmten Goldmenge verbürgen. Die Theorie findet sich mit der Anerkennung dieses Phänomens vor die Frage gestellt, welche Momente denn jene autogenischen Zahlungsmittel zur Erfüllung der Geldfunktion befähigen. Um diese Frage zu beantworten, muß diese Funktion selber schärfer bestimmt werden als es bisher geschehen ist. Die ältere Literatur hat sehr weitläufige Betrachtungen über die Zahl und die Art der wesentlichen Funktionen des Geldes angestellt, ohne zu einer Verständigung darüber zu kommen. Einige Schriftsteller erklären das Geld als Tauschmittel, Wertmaß, Zahlungsmittel und Wertaufbewahrungsmittel. Einige Schriftsteller haben die Zahl der Funktionen vermehrt, andere eine geringere Zahl angenommen. Auch ist viel Streit darüber, welche Funktionen als primäre, unerläßliche und welche als sekundäre, abgeleitete bezeichnet werden müssen. Bei einem so kontroversen Zustand der Literatur wird man immer vermuten dürfen, daß das Problem selbst falsch gestellt war und daß man gut daran tut, einen neuen Ausgangspunkt zu wählen. Statt also wie die ältere Theorie nach den Funktionen des Geldes im Gesamtzusammenhang der neueren Marktwirtschaft im allgemeinen zu fragen und uns damit auf ein weites Feld zu begeben, auf dem die Stimmen der Rufenden sich oft nicht mehr zu erreichen scheinen, ziehen wir es vor, von der nächsten, einem jeden gegebenen Erfahrung des Alltags auszugehen. Wir zeigen ihm ein Geldzeichen, es sei nun eine Münze oder eine Banknote, und warten ab, was er für Fragen an uns stellt, um sich über die Verwendbarkeit dieses Dinges zu unterrichten. Es wird angenommen, daß wir es nicht mit dem Angehörigen eines Negerstammes zu tun haben, der mit dem Gebrauch des Geldes überhaupt nicht vertraut ist, oder mit einem Dogmatiker, der sich verpflichtet fühlt, seiner Theorie gemäß zu handeln, sondern mit einem nicht durch irgendwelche Theorien voreingenommenen Europäer. Wird dieser das Geldstück, auch wenn es aus Metall besteht, auf eine Wage legen, den Metallgehalt bestimmen und daraufhin erklären, das Geldstück hätte den oder jenen Wert für ihn ? Wird er nicht vielmehr fragen: wieviel gilt das Stück ? und wo kann ich damit zahlen ? Diese Fragen werden aber in gleicher Weise beim Goldgeld und beim Papiergeld gestellt und beantwortet werden müssen. Wenigstens in den neueren Geldverfassungen verhält sich der Zahlende zu dem Stück, mit dem gezahlt wird, durchaus in gleicher Weise, ob es sich um eine Münze oder ob es sich um einen Schein handelt. Den Keim, der in diesem Erlebnis gegeben ist, begrifflich und systematisch zu entfalten, ist die erste Aufgabe einer wirklich allgemeinen Theorie des Geldes. Er enthält in vorwissenschaftlicher Form den Hinweis darauf, daß der Begriff des Geldes den Begriff der Werteinheit und den Begriff der Zahlungsgemeinschaft vorausgesetzt, und zugleich die Anerkennung der Grundtatsache, daß das Geld eine gesellschaftlich-staatliche, überindividuelle Einrichtung ist: eine Sache, die nicht vom Belieben des Einzelnen abhängt, sondern von Gruppen oder Anstalten geregelt wird, ein Ding bei dessen Verwendung der Einzelne abhängig ist von den Normen und Maßnahmen einer irgendwie definierten Gesamtheit, die nicht notwendig die Das Geld als Zeichen 245 Form eines Verbandes anzunehmen braucht, aber in den letzten Jahrhunderten regelmäßig annimmt. Wenn wir so den geometrischen Ort des Geldes bestimmen als eine von einer Gemeinschaft (die sowohl ein Stamm wie ein Staat, eine Kommune, eine Priestergilde oder der Mitgliederkreis einer Handelskammer sein kann) geregelte Einrichtung, so wird damit natürlich nicht behauptet, daß der Wille eines Verbandes das Geldwesen unabhängig von allen äußeren Bedingungen nach seinem Belieben gestalten kann. Der Verband kann zweckwidrig handeln, er kann seine Kräfte überschätzen, er kann von falschen Voraussetzungen ausgehen, er kann Widerständen begegnen denen er sich wohl oder übel fügen muß, ja die ganze Institution kann durch Verschulden des Verbandes oder durch das Hereinbrechen übermächtiger Unglücksfälle gänzlich zusammenbrechen: in jedem Fall aber ist es der Verband der handelt oder leidet, und die Ereignisse werden unverständlich, wenn man sie auf ein anderes Subjekt beziehen wollte. Ebenso wie die Tatsache einer Revolution nichts gegen die Realität einer monarchischen Regierung vor Ausbruch der Revolution beweist, können Zerrüttungen der Geldverfassung, wie sie in Zeiten kritischer oder anarchischer Staatszustände entstehen, nicht als Beweis des “unstaatlichen” Charakters des Geldes gelten. Gerade die Geschichte solcher Geldwirren zeigt, wie notwendig dem Geldwesen die Regelung durch eine starke, klar und folgerichtig handelnde Herrschaftsmacht ist. Wenn aber allgemein vom staatlichen Charakter des Geldes geredet wird, so steht hier der Staat als wichtigster Vertreter aller der Zahlverbände, die das Geldwesen zu regeln übernommen haben. Auch die großen nichtstaatlichen Zahlverbände die mit der Entwicklung des Giro- Bankwesens große Bedeutung gewonnen haben, pflegen abhängig von den Normen der staatlichen Zahlungsgemeinschaft zu sein. Sie bauen sich in der Gegenwart ohne Ausnahme auf der Grundlage der staatlichen Geldverfassung auf. Noch einem zweiten Einwand ist hier zu begegnen. Wenn wir das Geld als Zahlungsmittel definieren, so bedeutet das nicht, daß wir den Prozeß des Zahlens an sich für wichtiger halten als den des Kaufens, Tauschens oder Wertens und noch weniger bedeutet es, daß uns die Jurisprudenz in die jener Begriff zu gehören scheint, wichtiger wäre als die Wissenschaft von den Formen der Wirtschaft und der Gesellschaft. Es ist durchaus nicht ein juristischer, sondern ein staats- und wirtschaftswissenschaftlicher Begriff des Zahlens, von dem wir ausgehen. Die Jurisprudenz erklärt zum Beispiel, daß für sie nur dort von Zahlung geredet werden könne, wo “gesetzliche Zahlungsmittel” in Erfüllung einer Verpflichtung hingegeben werden. Für die staatswissenschaftliche Betrachtungsweise ist der Geldbegriff notwendig anders abzugrenzen. Für sie besteht kein Zweifel darüber, daß auch das fakultative Geld ebenfalls rechtmäßig als Geld bezeichnet werden muß und daß die Hingabe solcher fakultativer Geldarten nicht als “Hingabe an Zahlungs Statt”, sondern als “Zahlung selbst” anzusehen ist. Da sich der Gläubiger mit der Annahme der fakultativen Geldarten in der Tat zu begnügen pflegt, falls nur die Stückelung der Geldzeichen seinen Wünschen entspricht, und da auch sonst die staatlich-wirtschaftlichen Folgen der Zahlung von fakultativem und obligatorischem Geld in Wirklichkeit die gleichen sind, würde für die staatswissenschaftliche Betrachtung durch die Ziehung einer Grenzlinie zwischen dieser und jener Handlung eine ganz unorganische Scheidung entstehen. Die Jurisprudenz mag bei ihrer Definition des Geldes auf ihrem eigenen Felde im Rechte sein. Es ist ihre Aufgabe, die Normen die von der rechtschaffenden Instanz einmal gesetzt sind, zu interpretieren, zu ordnen und zu systematisieren. Durch den Gehalt dieser Normen hält sie sich durchaus gebunden. Die Staatswissenschaft dagegen betrachtet die positiven Rechtsvorschriften nicht als etwas schlechthin Gegebenes, Hinzunehmendes, sondern als Auswirkungen eines konkreten staatlichen Willens; nicht als Kurt Singer 246 Anspruch, sondern als geschichtliche Realität; nicht als gesetzte Norm, sondern als geschaffene und wirkende, durch andere Realitäten bedingte Macht. Sie fragt nach den Zwecken denen das Gesetz dienen soll; nicht wie auch der Jurist nach den Absichten des Gesetzgebers fragt, um sich über den Sinn der Norm klar zu werden, sondern um beispielsweise zu untersuchen, ob die Befolgung eines Gesetzes auch die Wirkungen gehabt hat oder haben kann, die der Gesetzgeber von ihr erwartete, aus welchen historischen Ursachen das Gesetz entstanden ist und was es für den Fortgang der Staats- und Wirtschaftsgeschichte bedeutet. Der einzelne Rechtssatz wird von der Staatswissenschaft immer nur insoweit als Realität anerkannt, als seine Geltung in der Tat durchgesetzt wird, und wenn hier eine Einrichtung oder eine Sache schlechthin mit ihrem Rechtsbegriff bezeichnet wird, so geschieht das nicht, um ihren juristischen Aspekt als den einzig richtigen und allein wesentlichen hinzustellen, sondern weil die von der Rechtsordnung geschaffenen Begriffe vielfach der zweckmäßigste Ausgangspunkt auch für die staatswissenschaftliche Begriffsbildung sind, die sich freilich vorbehalten muß, Inhalt und Umfang jener Begriffe nach den Bedürfnissen ihres eigenen Weges mannigfaltig abzuändern. Auch darf darauf verwiesen werden, daß die Rechtsbegriffe selbst vielfach anders aussähen, wenn dem Gesetzgeber bessere Handhaben zur Erfassung der Gegenstände die durch ihn geregelt werden sollen, in Form einer staatswissenschaftlichen Theorie dieser Gegenstände zur Verfügung gestellt worden wären. Wenn hier also vom Zahlungswesen und von Zahlungsmitteln gesprochen wird, so ist darin nicht eingeschlossen, daß wir in irgendwelchen Paragraphen irgendeines Gesetzbuches den Sinn des Zahlungswesens dogmatisch festgestellt sähen. Wir gehen lediglich von der Erfahrung aus, daß das ganze staatlich-wirtschaftliche Getriebe dieser Zeit durchflochten wird von einem in steter Änderung befindlichen System von Forderungen und Schulden die auf allgemein gültige Werteinheiten lauten und durch Übertragung von Zahlungsmitteln die ebenfalls auf jene Werteinheiten lauten, getilgt werden können - ein System von Rechtsbeziehungen das der Regelung durch eine Rechtsordnung unterliegt, die den Wirtschaftenden ebenso als gegebene Realität entgegentritt wie der Stand der Technik oder die physiologischen Bedingungen der menschlichen Arbeit. Auch jeder Kauf kristallisiert, sobald er aus dem Stadium des Verhandelns und Erwägens herausgetreten ist und zu einem Abschluß gelangt, in einer Geldforderung aus, ja es definiert den Kauf im Gegensatz zum Tausch, daß bei jenem die Ware nicht gegen eine andere Ware hingegeben wird, sondern gegen ein allgemein gültiges Zahlungsmittel. Wollte man das Geld als Tauschmittel bezeichnen, weil die für die Theorie der kapitalistischen Wirtschaft wichtigsten Verkehrsvorgänge Marktvorgänge sind oder auf solche Vorgänge zurückgeführt werden können, so würde man gerade die Eigenart zugleich der Zahlung und des modernen Marktverkehrs - der eben auf der Ausschaltung des Tausches beruht - nicht treffen. Als der Krieg und mit ihm die Geldkrisis ausbrach, ist denn auch von niemand die Frage gestellt worden, ob das Papiergeld als Tauschmittel zu gebrauchen sei. Es wurde lediglich gefragt, ob man damit zahlen könne: d.h. ob es möglich sei, Warenschulden und Steuern, Kreditverpflichtungen und andere Geldverbindlichkeiten mit ihnen zu tilgen. Es drückte sich darin durchaus kein populäres Mißverständnis aus, sondern es wurde in diesen Erfahrungen nur der in unbewegten Zeiten leicht zu verschleiernde Sachverhalt eindringlicher deutlich, daß das Geld nur aus dieser Leistung begriffen werden kann. Niemand hat damals, außerhalb eines kleinen Kreises von Metallhändlern und anderen Gewerbetreibenden, irgendwelche Schätzungen angestellt, ob das valutarische Geld des Deutschen Reiches auch nach dem Übergang zur Notalverfassung noch so viel wert sei wie die Geltung anzeige und ob es also zweckmäßig sei, es weiter als Tauschmittel zu verwenden. Auch im Unterbewußtsein dürften Das Geld als Zeichen 247 solche Erwägungen nicht vorgegangen sein. Es wurde lediglich gefragt, ob das notale Geld tauglich zur Tilgung von Schulden sei und in welchem Maße. Die Antwort auf diese Frage wird in unserem Kulturkreise regelmäßig von der Rechtsordnung oder der Verwaltung des Zahlverbandes erwartet. Wenn das Papiergeld im Zahlungsverkehr ebenso wie vor der Aufhebung der Einlösbarkeit gegeben und genommen wird, so ist dafür entscheidend, daß nicht nur der Staat die Noten bei Zahlungen die an seine Kassen gerichtet sind annimmt, sondern daß die Rechtsordnung die Noten als obligatorisches Geld auch für Zahlungen der Privaten untereinander (parazentrische Zahlungen) bezeichnet. Die Schulden lauten auf Mark, die Scheine ebenfalls. Nachdem festgestellt worden ist, daß sie bei der Tilgung von Schulden nicht von Gläubiger abgelehnt werden können, ist für die Praxis des Zahlungsverkehrs das Geldproblem des Augenblicks gelöst. Für die Theorie aber eröffnet sich hier die Aufgabe: zu entwickeln, welche Eigenschaften es denn sind, die das stoffwertlose Geld zur Ausübung der Geldfunktion befähigen. Diese Frage löst sich nach den vorangegangenen Darlegungen in das Problem auf, wie Zahlungsmittel ohne Stoffwert zu Trägern von Werteinheiten werden können, die im Zahlungsverkehr als eine ebenso objektive feste und gültige Größe behandelt werden können, wie der Stoffwert metallischer Zahlungsmittel. Der Begriff des Geldes setzt durchaus den Begriff der Werteinheit voraus, einer Einheit, auf die die Zahlungen im Bereich eines staatlichen oder nichtstaatlichen Zahlverbandes bezogen werden, in der die Preise ausgedrückt wie die Schulden festgesetzt und die Kalkulationen des Unternehmers durchgeführt werden. Solange eine solche Werteinheit nicht besteht, kann nicht von einem Zahlungsmittel (Lytron) und von Schulden die darauf lauten (lytrische Schulden) gesprochen werden. Es gibt dann Verpflichtungen, ausgedrückt und zu tilgen in dieser oder jener Ware oder Leistung, aber nicht in einem allgemeinen Zahlungsmittel. Die herrschende Meinung nimmt an, daß dies der ursprüngliche Zustand des wirtschaftlichen Verkehrs gewesen sei. Bald werde Getreide gegen Vieh, bald Schmuck gegen Sklaven getauscht. Bilde sich dann in der Wirtschaftsgemeinschaft ein Tauschgut von besonderer Beliebtheit aus, so werden, argumentiert man weiter, die Wirtschaftenden es zweckmäßig finden, alle Schulden auf dieses allgemein beliebte Tauschgut zu stellen, weil dadurch die Übersicht über die Wertverhältnisse der Waren erleichtert und der Kreis möglicher Tauschhandlungen erweitert werde. Denn da ein solches allgemein beliebtes Tauschgut die absatzfähigste aller Waren sei, werde man sich eher zur Hingabe seiner Produkte gegen dieses Tauschgut entschließen als zur Hingabe gegen eine Ware, deren man nicht bedarf und deren Absatzfähigkeit unsicher ist. Als solches allgemeines Tauschgut trat nach der herrschenden Meinung in unserem Kulturkreis zuerst Vieh, dann Schmuck und endlich Edelmetall auf, das sich in dieser Stellung behauptete, weil seine leichte Teilbarkeit, sein hoher spezifischer Wert und seine verhältnismäßig große Unzerstörbarkeit es zum Geldstoff besonders geeignet machten. Solange nun eine Ware, wie zum Beispiel Silber, schlechthin als allgemeines Tauschgut sich bewährt, ist die Werteinheit in der Tat unschwer zu definieren als eine Einheit dieser Ware, zum Beispiel eine Gewichtseinheit Silber. Auch wenn das Metall in Barren und Münzen geformt, aber nach Gewicht im Zahlungsverkehr angenommen wird, wie es vielfach im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit festgestellt werden kann und heute noch im chinesischen Handel die Regel bildet, so ist auch hier die Werteinheit durch die Gewichtseinheit des Währungsmetalls definiert. Die Feststellung der Geltung der Zahlungsmittel erfolgt also durch Wägung und so kann die hier angewandte Art der Zahlung pensatorische Zahlung genannt werden. Der Zustand des Geldwesens, in dem ein Gut von realer Verwend- Kurt Singer 248 barkeit (Hyle) zum Zahlungsmittel wird, soll überhaupt als Authylismus bezeichnet werden; ist der Währungsstoff ein Metall, so wird von Autometallismus geredet. Das Metall kann hierbei entweder formlos (amorphisch) oder geformt (morphisch) gedacht werden. Auch bei morphischer Struktur der Zahlungsmittel ist pensatorische Zahlung möglich. Sie ist aber nicht notwendig mit ihr verbunden. Sobald aus dem Metall Stücke hergestellt werden, die eine vom Staat oder irgendeinem anderen Organ des Zahlverbandes bestimmte Form haben, ergibt sich eine andere Möglichkeit, die Geltung eines Zahlungsmittels erkennbar zu machen und eindeutig festzulegen, als die Wägung. Der Zahlverband kann nämlich auch verkünden, daß den hinreichend klar beschriebenen Stücken diese oder jene Geltung in Werteinheiten beigelegt werden soll. Wenn vorher die Mitglieder des Zahlverbandes gewohnt waren, in Pfund Silber zu rechnen und Schulden und Forderungen zu bemessen, so kann nun die Werteinheit selber, auch unter dem gewohnten Namen, fortbestehen, während nunmehr Schulden nicht mehr in jenem Metall zu tilgen sind, sondern in den neuen Zahlungsmitteln, deren Geltung vom Zahlverband proklamatorisch festgesetzt wird. Die Änderung des Zahlungswesens vollzieht sich aber auch bei einer Änderung der Werteinheit ohne weitere Schwierigkeit, wenn festgesetzt wird, wieviel Einheiten des neuen Systems gleich einer Einheit des alten gelten sollen. Die Herstellung einer solchen Beziehung nennen wir rekurrenten Anschluß. Ist vorher in der Mark Silber (als einem uralten Metallgewicht) gezahlt worden, von da an aber in Talern, so besteht der rekurrente Anschluß darin, daß festgesetzt wird, alle auf Mark Silber lautenden Schulden seien nunmehr in Talern zu tilgen, und zwar so, daß eine bestimmte Anzahl von Talern gleich einer Mark Silber gelten soll. Durch einen solchen rekurrenten Anschluß wird die neue Werteinheit historisch definiert. Beim Übergang von der pensatorischen Zahlung zur Zahlung in Stücken, deren Geltung nicht mehr durch Wägung, sondern durch Proklamation festgestellt wird, verwandelt sich notwendig der Sinn der Werteinheit. In jenem System war sie nicht nur an einen Stoff gebunden, sondern sie war real, d.h. als eine Einheit dieses Stoffes selbst definiert. Sollen die Zahlungsmittel nicht mehr pensatorisch, sondern proklamatorisch gelten, so wird die Werteinheit zu einem bloßen Namen und muß historisch durch rekurrenten Anschluß an eine frühere Geldverfassung definiert werden. Ein Rückschritt oder ein Verfallsmoment ist darin um so weniger zu sehen, als auch unter der Herrschaft des Systems der Wägung die Nominalität der Werteinheit sichtbar wurde, so bald man von einem Geldstoff zum anderen überging. Wenn nämlich der Zahlverband beschließt, das Pfund Silber statt des Pfundes Kupfer zum Zahlungsmittel zu erheben, so müssen auch hier die alten in die neuen Schulden durch rekurrenten Anschluß übergeführt werden: war ursprünglich die Schuld nur tilgbar durch Hingabe einer Gewichtsmenge Silber, so wird erkennbar, daß es auch in der früheren Verfassung nicht auf das Silber an sich ankam, sondern daß die Angabe jenes Gewichts nur ein Mittel war, um die Höhe der Schuld eindeutig festzulegen. Die Werteinheit spielt hier gleichsam die Rolle eines Koordinatensystems: alle Schätzungen werden durch Projektion auf dieses System ausgedrückt. Dadurch wird es möglich, auch die Verhältnisse der Warenpreise und der Schuldlasten untereinander festzulegen und vergleichbar zu machen. Wird das Koordinatensystem geändert, so bleiben die Beziehungen der Elemente zueinander unverändert: sie haben nur einen neuen Ausdruck erhalten. Wer Silber zu fordern hatte, erhält jetzt zwar Kupfer; ist aber einmal festgelegt, wie sich die Geltung des Kupfers zu der des Silbers verhalten soll, so ist damit auch das relative Verhältnis der Schulden untereinander geregelt, und zwar eindeutig. Daß dies möglich ist, liegt in dem Unterschied des Zahlungsmittels von allen anderen Gütern mit denen es die Wirtschaft zu tun hat begründet, denn, es definiert das Zahlungs- Das Geld als Zeichen 249 mittel, daß es nicht genommen wird wegen der Tauglichkeit seines Stoffes, irgendein menschliches Bedürfnis zu befriedigen, sondern wegen seiner Tauglichkeit zur Verwendung im Zahlungsverkehr: nicht um der realen, sondern um der zirkulatorischen Verwendung willen. Das Geld wird von dem Zahlenden nicht angesehen als ein zum Gebrauch nützliches Ding, sondern als ein zum Zahlen geeignetes: nicht als Träger eines Wertes, sondern als Verkörperung einer Geltung. Sein Dasein ist daher nicht abzuleiten aus der Urtatsache, daß wir Bedürfnisse haben und sie nur unter Aufwendung von Mühen und Kosten befriedigen können, sondern aus dem historischen Faktum, daß unser gesellschaftliches Leben durchzogen ist von jenem System der Schulden und Forderungen, die auf historisch definierte Werteinheiten lauten. Die Koexistenz und die Kontinuität dieser Vertragsverhältnisse die nicht nur als juristische Verpflichtungen wichtig sind, sondern vielleicht noch wichtiger als Grundlage aller wirtschaftlichen Berechnungen und Pläne, verleiht den Trägern jener abstrakten nominalen Werteinheit ihre wirtschaftliche Bedeutung. Stücke, deren Geltung nicht durch Wägung, sondern durch Proklamation festgestellt wird, nennen wir chartale Zahlungsmittel, wobei charta (Marke) eine bewegliche geformte Sache bedeutet, die von der Rechtsordnung als Träger einer bestimmten Bedeutung aufgefaßt wird. Beispiele solcher Marken waren schon vor dem Kriege in großer Fülle aufzuzeigen: Postwertzeichen, Theatergarderobemarken, Polizeierkennungsmarken und andere durch Rechtsordnung oder durch Konvention geschaffene Zeichen. Im Aufbau der Kriegswirtschaft hat die Verwendung von Marken eine nur in sozialistischen Utopien vorgeahnte Ausdehnung gewonnen. Die Nahrungsmittelmarken nehmen vielfach eine Zwischenstellung zwischen den chartalen Zahlungsmitteln und den früher bekannten Markentypen ein, indem sie ein Recht zum Bezug ganz bestimmter Güter verkörpern, das allerdings oft nur bedingt und mit verschiedenem Erfolge ausgeübt werden kann. Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß hinzugefügt werden, daß Proklamation nicht gleichbedeutend ist mit der Aufschrift der Münzen und Scheine. Diese Aufschriften dienen nur dazu, die eindeutige Kennzeichnung der Stücke möglich zu machen: ihr Inhalt ist für die juristische und wirtschaftliche Bedeutung der Stücke nicht immer erheblich. In Frankreich laufen Münzen fremder Staaten um, die dennoch französisches Geld sind, ebenso wie im Deutschen Reich jahrzehntelang Gulden österreichischen Gepräges deutsche Zahlungsmittel waren. Die deutschen Reichsbanknoten aber tragen noch heute den Aufdruck der zur Einlösung in Goldgeld zu ermächtigen scheint, obgleich diese Einlösung seit August 1914 eingestellt ist. Sie scheinen also provisorisches Geld, während sie in Wirklichkeit zu definitivem Geld geworden sind. Die Proklamation liegt allein in den Rechtssätzen, die den Gebrauch und die Geltung der Stücke regeln, nicht in ihrer stofflichen Beschaffenheit. Zu dieser gehört aber auch die Aufschrift der Münzen und Scheine. Es ist zweifellos möglich, die Stücke aus dem Zusammenhang der Rechtsordnung herauszureißen und sie allein nach ihrer natürlichen Beschaffenheit zu betrachten. Dies tut der Arbitrageur der die Münzen ins Ausland sendet, um Differenzen der Valutakurse zu seinem Vorteil auszunutzen, der Hersteller von Goldwaren und der Zahnarzt der den Münzen das Material zu Füllungen entnimmt. Diese Verwendungsmöglichkeiten stehen indes mit der Natur des Geldwesens in keinem inneren Zusammenhang. Auch alle übrigen Institutionen des Staates können aus einer nichtstaatlichen Perspektive betrachtet werden, ein Minister unter dem Aspekt der Verwandtschaft, eine fiskalische Kohlengrube als Lieferer von Brennkraft, ein dicker Schutzmann als Anlaß eines bescheidenen Humors. Wer aber wird das Wesen der Regierung, des Fiskus und der Polizei durch solche Beziehungen bestimmt oder auch nur mitbestimmt glauben ? Kurt Singer 250 Es ist möglich, daß der Staat die Geltung seiner Zahlungsmittel selbst erschüttert - indem er folgewidrig handelt. Er kann die epizentrische Annahme der von ihm geschaffenen Zahlungsmittel zur festgesetzten Geltung an seinen eigenen Kassen verweigern. Er wird dann allerdings, wie es in der französischen Revolution an den Assignaten und schon vorher unter John Law beobachtet worden ist, unverzüglich die Erfahrung machen, daß auch im Verkehr der Privaten die Geltung von Zahlungsmitteln denen die epizentrische Annahme entzogen ist, nicht aufrecht erhalten werden kann. Denn der Staat kann den einzelnen nicht zwingen, als Geld etwas anzuerkennen dessen Annahme er selbst verweigert. Daß der Staat aber nicht unlogisch handeln darf, bedeutet nicht, daß er dem Verkehr gegenüber, wie man zu sagen liebt, ohnmächtig ist. Die Erfahrungen der Assignatenzeit lehren vielmehr nur, daß es richtig ist, in der epizentrischen Annahme die im folgenden kurzweg Akzeptation genannt wird, das entscheidende Merkmal für die Abgrenzung des staatlichen Geldes zu sehen. Wollte sich aber der Verkehr ganz von dem Staat und von dem staatlichen Geldwesen befreien, so müßte er, falls nicht das Zahlungswesen der Anarchie anheimfallen soll, eine neue Zahlgemeinschaft ins Leben rufen. Ohne eine solche Gemeinschaft ist wohl eine Summe individueller Tauschakte möglich, nicht aber ein geordnetes Zahlungswesen das immer die Existenz einer Werteinheit und ihre Verkörperung in allgemein anerkannten Zahlungsmitteln voraussetzt, die von der Zentralstelle der Gemeinschaft zwar nicht immer geschaffen, wohl aber immer akzeptiert werden müssen: durch Recht oder durch Sitte. Am Anfang der Geldgeschichte freilich muß die Werteinheit einmal technisch als ein Gut, das kraft seiner stofflichen Natur zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse fähig ist, definiert gewesen sein. Der Sinn der Mark mag durch rekurrenten Anschluß an eine frühere, ebenfalls historisch definierte Werteinheit festgelegt sein. Am Beginn der Reihe aber muß ein Zahlungsmittel stehen, dessen Geltung nicht auf staatlicher Proklamation beruht und das nicht nur zirkulatorischer, sondern auch realer Verwendung fähig ist. Die Geltung würde in abstrakter Ungreifbarkeit verharren, wenn sie nicht einmal verankert gewesen wäre in dem Wert eines Gutes. Dies aber ist nur möglich in einer Verfassung des Zahlungswesens, wo ein solches Gut von der Rechtsordnung oder der Stammessitte schlechthin zum Zahlungsmittel erklärt worden ist: in einer Verfassung wo die Schulden nicht nur Nominalschulden, sondern Realschulden sind, festgesetzt und gezahlt in Vieh, Muscheln, Schmuck oder endlich in Edelmetallen. Der heutigen Verfassung des Zahlungswesens geht also notwendig ein Zustand voraus, in dem die Geltung des einzelnen Zahlmittels nicht aus einem Rechtssatz erschlossen zu werden braucht, sondern aus den Eigenschaften des Gutes unmittelbar festgestellt werden kann. Diese Zustände aber sind in Europa seit vielen Jahrhunderten überwunden. Auch wenn die Mark einmal ein Silbergewicht gewesen ist, so ist damit über die heutige Geltung der Markstücke oder über die Geltung der früheren Talerstücke nicht das Geringste ausgesagt. Gerade die Eigenart und die Bedeutung des heutigen Zahlungswesens kann nur verstanden werden, wenn anerkannt wird, daß über die Geltung der Stücke, sowohl der Münzen wie der Scheine, nicht die Wägung sondern der Befehl des Zahlverbandes entscheidet. Geht der heutigen Verfassung des Geldwesens eine Periode voraus, die wir als Authylismus bezeichnet und als eine Vorstufe der heutigen gedeutet haben, so sind jenseits der heutigen Geldverfassung Zahlungsmittel denkbar, die eine weitere Entwicklung über den bis jetzt erreichten Zustand hinaus zu verkörpern scheinen. Der bankmäßige girale Zahlungsverkehr zeigt, daß eine Zahlung im staatswissenschaftlichen Sinn auch dort möglich ist wo Schulden nicht mehr durch Übergabe von Stücken oder von Barren, sondern durch Übertragung von Guthaben, d.h. also von Forderungsrechten getilgt werden können, soweit diese Das Geld als Zeichen 251 schlechthin auf Werteinheiten einer Zahlungsgemeinschaft lauten, gegen die Zentralstelle der Zahlungsgemeinschaft gerichtet sind und von dieser als Zahlungsmittel anerkannt werden. Wie diese Guthaben entstehen, ist für die Erkenntnis der Struktur dieser Zahlungsart von minderer Bedeutung. Es ist möglich, daß der Bankkunde das Guthaben eingeräumt erhält gegen Einlieferung von Metall, gegen Einzahlung von staatlichem Geld oder durch Gewährung eines Kredites seitens der Bank. Die erste Methode wurde bei der im 17. Jahrhundert gegründeten Hamburger Girobank gewählt. Die beiden anderen sind in den neueren Bankverfassungen üblich, wobei vor dem Kriege in Deutschland die Anwendung der zweiten, in England und in den Vereinigten Staaten die Anwendung der dritten Entstehungsart vorherrschend war. Es ist augenscheinlich, daß der girale Zahlungsverkehr der durch Umschreibung in den Büchern der Bank bewirkt wird, nur unter Personen möglich ist die Zahlungen an die Bank zu leisten oder von ihr zu fordern haben, und zwar entweder auf Grund von Geschäften die mit der Bank abgeschlossen sind oder auf Grund von Geschäften der einzelnen Kunden der Bank untereinander. Diese Personen bilden eine private Zahlungsgemeinschaft, die sich ihre eigene Werteinheit schaffen kann, wie die Hamburger Girobank die Mark Banco, oder sich der vom Staat geschaffenen Werteinheit bedienen kann, wie es heute allgemein üblich ist. Die Zahlung wird eingeleitet durch einen Auftrag des Zahlenden an die Zentralstelle, dem Zahlungsempfänger einen bestimmten Betrag in Werteinheiten zu überweisen, d.h. ein Forderungsrecht das der Zahlende gegen die Bank besitzt, dem Zahlungsempfänger durch Umschreibung in den Büchern der Bank zu übertragen. Der Kreis der Bankkunden erweitert sich mit der Ausbreitung der wirtschaftlichen Zivilisation so sehr, daß in den angelsächsischen Ländern und in Hamburg heute alle erheblicheren Zahlungen auf giralem Wege geleistet werden können. Das staatliche Geld dessen Verwendung durch die Entwicklung des giralen Zahlungsverkehrs immer mehr auf den Bezirk des täglichen Kleinverkehrs beschränkt wird, steht zwischen diesen Polen der autometallistischen und der giralen Zahlung. Es hat mit der ersten gemein, daß das Zahlungsmittel nicht ein bloßer Rechtsanspruch, sondern ein sichtbares, tastbares Ding ist und daß die Zahlung also durch Übergabe dieses Dinges, nicht durch Anweisung an eine Zentralstelle bewirkt wird. Mit der Giralverfassung der Zahlungsmittel hat das Geld dagegen gemein, daß die Geltung der Zahlungsmittel nicht durch Wägung oder Messung gefunden werden kann, sondern durch Einsicht in die Rechtssätze des Zahlverbandes und daß entscheidend für die Anerkennung durch die Zahlungsgemeinschaft die Akzeptation bei der Zentralstelle des Verbandes ist. Die Giroguthaben sind Forderungen an die Bank als Zentralstelle des Zahlverbandes, die fähig sind, gegen Forderungen der Zentralstelle die gegen die Kunden gerichtet sind aufgerechnet zu werden, um so diese Forderungen zu tilgen. Ein verwandtes, wenn auch nicht gleiches Verhältnis, liegt bei den staatlichen Geldzeichen vor, die daran erkannt werden, daß sie bei gegen den Staat gerichteten (in unserer Terminologie: epizentrischen) Zahlungen angenommen werden müssen. Auch hier wirkt also das Zahlungsmittel als Gegenforderung die die Forderung der Zentralstelle zu tilgen fähig ist. Der Unterschied der beiden Methoden liegt aber darin, daß im ersten Fall die Gegenforderung eine absolute, unter allen Umständen durch Einräumung des Guthabens begründete ist, während sie im zweiten Fall nur dann auftritt, wenn die Zentralstelle eine Forderung an den Besitzer dieses Zahlungsmittels stellt; sie kann hier also nur als eventuale Gegenforderung bezeichnet werden. Durch diese Erweiterung des Begriffs der Gegenforderung die in der Jurisprudenz unbekannt war und erst durch Knapp eingeführt worden ist, wird es möglich, einen durchaus Kurt Singer 252 allgemeinen Begriff des Zahlungsmittels zu bilden, der auf die Zahlungen in Barren und Stücken, wie auf die Zahlungen durch Bankumschreibungen gleich anwendbar ist. Definiert man nämlich das Zahlungsmittel als übertragbare Verfügung über Werteinheiten, durch deren Übertragung an die Zentralstelle des Zahlverbandes der Inhaber eine mindestens eventuale Gegenforderung begründen kann, so ist in diesem Begriff nicht nur das Allgemeine ausgesprochen, das Barren, Stücken und Giralguthaben gemeinsam ist, sondern es ist auch darin der Grundgedanke sichtbar gemacht, der allem Zahlungswesen zugrunde liegt und der sich auf dem Wege von der Barrenzahlung zur Giralzahlung immer mehr von den stofflichen Resten seiner anfänglichen Verkörperung befreit: den Gedanken der Kompensation, dank dessen immer reinerer Verwirklichung das Zahlungsmittel schließlich zu einer Methode der gegenseitigen Ausgleichung und Aufrechnung von Forderungen und Gegenforderungen innerhalb einer Zahlungsgemeinschaft wird. Der Angelpunkt der Geschichte des Zahlungswesens ist die Ausbildung der Chartalität. Sie ist ein Erzeugnis des rechtsschöpferischen Denkens. Diesen Sinn hat der vielumstrittene Satz, mit dem Georg Friedrich Knapp seine “Staatliche Theorie” des Geldes beginnt: “Das Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung”. Dieser Satz sagt nichts anderes aus als etwa die Feststellung, daß der Pflug eine landwirtschaftliche, die Maschine eine industrielle Erfindung ist. Ohne die Einsicht in den chartalen Charakter der Münzen und Scheine wird kein wirklich allgemeiner Begriff des Geldes aufgestellt werden können, der beide Arten von Zahlungsmitteln umfaßt und von dem Kreis der übrigen Zahlungsmittel sondert. Die folgerichtigen Metallisten müssen die Werteinheit anders bei Barverfassung und anders bei Metallverfassung des Währungsgeldes erklären. Eine einheitliche Theorie ist erst durch die Erkenntnis der proklamatorischen Geltung aller chartalen Zahlungsmittel und die Anerkennung der historischen Definition der Werteinheit möglich. Das Bargeld erscheint von hier aus gesehen wie ein vom Autometallismus zum Chartalismus überleitendes Glied der Entwicklung, nicht als Endziel der Entwicklung selbst. Es verkörpert die Stufe, wo die pensatorische Geltung die für die autometallische Stufe typisch ist, in die proklamatorische Geltung die für die Chartalverfassung bezeichnend ist, übergeht. Mit jener Verfassung hat es die Möglichkeit einer realen Verwendung gemein, während doch die zirkulatorische Verwendung schon überwiegt und der Gedanke an den Gehalt der Stücke zurücktritt hinter die Begültigung der Stücke durch Rechtsbefehl - ebenso wie bei dem Notalgeld. Nur im ausländischen Zahlungsverkehr bewahrt das Bargeld eine Vorzugsstellung. Es macht unter gewissen Bedingungen eine automatische Regelung der Valutakurse möglich und pflegt daher dem Staat als die erwünschteste Form des Geldes zu erscheinen. Wer aber das Erwünschte nicht mit dem Wesentlichen gleichsetzt, wird das Wesen des Geldes nicht in einer erwünschten Eigenart einer einzelnen Geldart erblicken dürfen, sondern in der eigenartigen Struktur der Begültigung die allen Geldarten gemeinsam ist und die sie von anderen Arten der Zahlungsmittel unterscheidet: diese aber ist in dem Phänomen der Chartalität beschlossen. Dogmenhistorische Erörterungen liegen dem Ziele unseres Gedankenganges fern. Doch dürfen wir darauf verweisen, daß die Erkenntnis von der Markenhaftigkeit des Geldes nicht junger ist als die Theorie des Geldes selber. Im zweiten Buch der “Politeia” nennt Platon das Geld ein “symbolon”: dies aber bedeutet, wie die Philologie bestätigt, “immer etwas Konkretes, das etwas anderes vorstellt; das als realer Wert an sich nicht gelten soll, aber wogegen ein realer Wert eingetauscht wird”. Man erkennt in dieser Definition eines Gelehrten der ohne Kenntnis der geldtheoretischen Kontroversen sein Urteil allein auf die Interpretation antiker Texte gegründet hat, unschwer den reinen Begriff der Chartalität. Doch bleibt es denkwürdig, daß der Neuere bei der Bildung dieses Begriffs von der “charta”, der Urkunde, dem Mittel Das Geld als Zeichen 253 und Substrat ausgeht, während das antike Denken ihn von der lebendigen Mitte des Handelns aus bestimmt: das Wort “symballein”, von dem "symbolon” abgeleitet ist, bedeutet gleich dem lateinischer conicere das “Zusammenwerfen”, Konjizieren, ohne das ein sinnlich Greifbares nicht zum Zeichen und Ausweis für ein nicht sinnlich daran Aufzeigbares werden kann. Dies ist das erste Zeugnis des europäischen Denkens über das Geld. Es enthält nicht nur die Lehre von der Chartalität in keimhafter Verdichtung, sondern deutet auch über sie hinaus in umfassendere Räume in denen das Phänomen des Geldes erst seine volle Rundung erhält. Das Maß in dem sich die folgenden Jahrhunderte von der platonischen Grundeinsicht entfernt haben, bezeichnet auch hier das genaue Maß ihres Abirrens. Gunter Narr Verlag Tübingen Postfach 2567 · D-72015 Tübingen · Fax (0 70 71) 7 52 88 Internet: http: / / www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Linguistik jenseits des Strukturalismus Akten des II. Ost-West-Kolloquiums Berlin 1998 Herausgegeben von Kennosuke Ezawa, Wilfried Kürschner, Karl H. Rensch und Manfred Ringmacher 2002, 472 Seiten, geb. € 89,-/ SFr 145,30 ISBN 3-8233-5865-0 Das II. Ost-West-Kolloquium für Sprachwissenschaft widmete sich dem Thema „Analytisches und synthetisches sprachliches Wissen“. Der Titel geht auf die Unterscheidung der Systeme der Grammatik durch Georg von der Gabelentz (1840-1893) zurück. Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen weit über den üblichen linguistischen Rahmen hinaus und beschäftigen sich mit Gabelentz und den Folgen unter drei Perspektiven: 1. wird der Übergang in der Linguistik vom analytischen Gegenstandsverständnis der Sprache als eines einzelsprachlichen Systems im klassischen Strukturalismus hin zu einem synthetischen Verständnis im Zeichen einer poststrukturellen Entwicklung untersucht; 2. werden Züge dieses poststrukturellen Sprachverständnisses im Denken vor-strukturalistischer Sprachforscher wie Humboldt und Gabelentz nachgewiesen; 3. wird die wichtige Rolle der Sprachtypologie in der heutigen Linguistik beleuchtet. Das Geld als Zeichen Karl Bühler 1. Wer sich umblickt, findet die Formel des aliquid stat pro aliquo im Konzepte aller Theoretiker des Geldwesens; nur wird sie von den Anhängern der verschiedenen Schulen verschieden interpretiert. Unser Vorhaben, aus den für die Axiomatik der Geisteswissenschaften sehr aufschlußreichen Diskussionen über die Funktionen des Geldes das herauszuheben, was einer Definition des Zeichenbegriffs dienlich sein kann, führt geradenweges auf eine Kernfrage, die ungefähr so, wie wir sie nach dem Gang unserer Untersuchung selbst stellen müßten, von den Geld-Sachverständigen tatsächlich aufgeworfen worden ist. Ein nicht unbekanntes Buch legt schon in seinem Titel die These vor, um deren Prüfung es uns als erstes zu tun ist; es ist das Buch von Singer “Das Geld als Zeichen” (1920). Wir haben den Satz von der Zeichennatur der Sprache erläutert und machen uns von daher deutlich, welchen Sinn eine exakte Parallele dazu, im Satz von der Zeichennatur des Geldes haben müßte. Ich bin der Meinung, daß eine derart konstruierte Analogie die Funktion oder Funktionen des Geldes zum mindesten nicht erschöpfend, vielleicht überhaupt nicht im Wesentlichen zu treffen vermag. Doch das ist und bleibt zunächst die private Meinungsäußerung eines Sprachtheoretikers, der das Spezifische der Sprache, die er kennt, am Gelde, das er nicht in derselben Art kennt, über dessen Funktionen er sich aber bei einigen führenden Geldtheoretikern Aufschluß zu verschaffen versuchte, nicht wiederzufinden vermag. Kann sein, daß diese Informationen unzureichend waren. Könnte auch sein, daß sich die Parallele anders angelegt doch noch als durchführbar erweist. Doch so jedenfalls, wie ich sie bei Singer und Knapp angetroffen habe, führt sie den Logiker und Kenner der Sprache zu dem Ergebnis: das Geld fungiert als Stellvertreter, gewiß; und darüber gibt es, soweit ich sehen kann, keine Meinungsverschiedenheit bei den Theoretikern der verschiedenen Schulen. Das Geld fungiert als Stellvertreter; aber nicht so, daß die darin vorkommenden, sachgerecht implizierten Zeichenfunktionen in derselben Art wie bei der Sprache als dasjenige, um dessentwillen das Geld da ist, angesehen werden dürfen. Das Geld erhebt den Anspruch, daß seine stellvertretende Funktion als ein eigener Modus des Stellvertretens erkannt und von dem Modus der sprachlichen Stellvertretung und darüber hinaus vom Modus des Zeichenseins überhaupt, abgehoben wird. Wären wir weiter in der allgemeinen Sematologie, dann könnte die vorgelegte These vielleicht auf einem sehr einfachen Wege bewiesen werden. Nämlich auf dem Umweg über den leicht beweisbaren Obersatz, daß sich das gesamte Geldwesen der Menschheit (zum mindesten bis heute) als semantisch unfruchtbar (steril) erwiesen hat. Dürften wir daraus, geleitet von der einfachen Weisheit der Bibel ‘an den Früchten sollt ihr sie erkennen’, den Schluß ableiten, daß die Eigenfunktion des Geldes nicht im Bereiche des Zeichenseins liegen kann, dann wäre die Angelegenheit, soweit der Zeichentheoretiker darein verwickelt ist, in Ordnung gebracht. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Karl Bühler 256 Nun, der Stand der allgemeinen Sematologie ist nicht so, daß man auch nur versuchsweise derart vorgehen könnte; wir lassen also die Idee eines solchen Beweisganges von vornherein wieder fallen. Aber interessant ist das Faktum, das ich im Auge habe, für den Zeichentheoretiker trotzdem, weil er nach genügender Kenntnisnahme von dem Tatbestande weiß, daß ihn weder das mit vollem Rechte so genannte ‘Zeichengeld’ noch allgemeiner die am Gelde überhaupt vorkommenden und mehr oder minder systematisch auch gesetzten, gepflegten und praktisch verwendeten Kenn- und Unterscheidungszeichen auf etwas führen, was er nicht ebensogut anderwärts findet und zu studieren vermag. Man nehme zum Zweck der Prüfung eine Banknote in die Hand, ein beliebiges Stück jener Sorte oder Art von Geld, das man stoffwertloses oder Zeichengeld zu nennen pflegt, und stelle sich die Frage, ob an ihr oder auf ihr irgend etwas zu finden ist, was eine sonstwo nicht anzutreffende Form des Zeichenseins verrät. Auf den älteren Reichbanknoten stand in Worten “Die Reichsbank zahlt … in Gold …” und damit war eine bestimmte Indirektheit der Geldfunktion der Note ausgedrückt und definiert. Eine Indirektheit, die der Sematologe rein formal mit anderen, ihm wohlbekannten Verhältnissen vergleichen kann. Er denkt z.B. an die Tatsache, daß die Menschheit im Bereich des Sprachlichen indirekte Stellvertreter erfunden hat. Unsere Buchstabenschrift (Phonemschrift) ist ein solches System von indirekt stellvertretenden Symbolen. Denn die optischen Wortbilder eines gedruckten Textes, welche in der bekannten Weise so entstehen, daß der Setzer der Druckerei aus dem Setzkasten Lettern auswählt, im Rahmen zusammenstellt usw., diese optischen Wortbilder müssen “gelesen” d.h. in bestimmter Weise in die primäre, gesprochene Sprache transformiert werden, um ihren Endberuf zu erfüllen. Anders verhält es sich in diesem Punkte mit den ideographischen Zeichen der Chinesen, die eine direkte Symbolfunktion erfüllen und darum in merkwürdiger Art neben den Zeichen der Lautsprache stehen. Nun gut, es kommt uns hier auf diesen Unterschied nicht an; jedenfalls sind beide Systeme semantisch eigenartige Systeme. Kehren wir zur Buchstabenschrift allein zurück, so kann man an ihr zeigen, wie die Struktur der Lautsprache auch noch in diesem System von indirekten Symbolen zum Vorschein kommt. Die Menschheit hat in ihnen schöpferisch etwas erfunden, was noch am Indirekten die Struktur und die Eigenfunktion des Direkten, wenn auch wie durch einen Schleier, so doch in den Grundzügen unverkennbar deutlich werden läßt. Kurz gesagt: Die Zeichennatur der Sprache ist an dem sekundären System noch einmal abzulesen; das sekundäre System ist dem primären wenigstens in den Grundzügen auf den Leib zugeschnitten. Man muß und kann dies gegen die unbesonnene Überschätzung des Freiheitsgrades, den sich jedes historisch konservative Buchstabensystem der wandelbaren Lautsprache gegenüber erlauben darf und tatsächlich erlaubt, durchaus festhalten. Der Sematologe denkt noch an manches andere. Auch die Arithmetik und das praktische Umgehen mit Zahlen hat sich ein System von optischen Zeichen, die Ziffern und Operations-, Funktionszeichen, erfunden. Und wieder kommt an diesen optischen Zeichen die Eigenart des ganzen Gebietes zum Vorschein. Unsere arabischen Ziffernzeichen z.B. erhalten gemäß dem dekadischen Rechensystem, das wir benützen, auf dem Papier gruppenhaft neben einander gereiht, jede einen bestimmten Stellenwert, der in seiner Art eben nur für Zahlen möglich ist (dreihundertvierundzwanzig = 324). Nur noch zwei, um nicht zu ermüden: Die Musik schuf sich das sehr leistungsfähige System der optischen Notenzeichen und das symbolfrohe Mittelalter hat in seinem Wappenwesen ein wiederum ganz anderes Symbolsystem für Spezialzwecke entwickelt. Das letztere ist weder so universal noch so geschlossen wie z.B. die Notenschrift oder Buchstabenschrift. Aber man kann in ihm trotzdem die vom Logiker als Merkmale verwendeten Kennzeichen der komplexen Begriffe ‘eigenartiges Symbolsystem’ Das Geld als Zeichen 257 leicht auffinden. Die Heraldik kann ein Lexikon und eine Syntax des im Mittelalter üblichen Wappenwesens aufstellen. Sie kennt sogar, wenn ich recht sehe, solche diakritischen Momente an dem Ganzen des Wappens und an den “lexikalischen” Einheiten, die man mit Fug und Recht den Phonemen der Sprache, oder optisch ausgedrückt den Buchstaben, systematisch gleichordnen kann. Doch wozu das alles in einem Abschnitt über das ‘Zeichengeld’? Nun ja, der geldtheoretisch laienhafte Zeichentheoretiker, welcher von anderen Gebieten herkommt und von der “Zeichennatur des Geldes” sprechen hört, erwartet, gerade am Zeichengeld gebietscharakteristische Zeichen und Zeichenkomplexionen zu finden. Gleichviel, ob ihm dieses Zeichengeld durch den Aufdruck “zahlt in Gold” als indirekter Funktionär vorgestellt wird oder ob es nach Abwurf dieses Aufdrucks selbstherrlich neben den ganz oder halbwegs stoffwertvollen Gold- und Silbermünzen oder sogar mit dem Anspruch, als die letzte und reinste Inkarnation der Geldidee betrachtet zu werden, auftritt. Das Nebeneinander würde er ungefähr so wie das Faktum, daß ja die Chinesen auch neben die Lautsprache ein zweites System, die ideographischen Zeichen, gestellt haben, als Tatsache hinnehmen. Noch einmal: der Sematologe, der angezogen von der These der Zeichentheoretiker des Geldes das ganze Gebiet betreten hat, erwartet, daß das Geldwesen gerade am Zeichengeld die Gelegenheit nicht versäumt habe, sich als semantisch produktiv zu erweisen. Und diese Erwartung wird, wenigstens fürs erste, grundsätzlich enttäuscht. Denn alles, was an oder auf der Banknote an Zeichenmomenten entdeckt werden kann, ein sehr reicher und mannigfaltiger, raffiniert erdachter Apparat von Zeichen, ist restlos aus anderen Zeichenbereichen entlehnt und nur kunstgerecht für die Spezialbedürfnisse auf dem Stückchen Papier hier zusammengetragen oder ihm schon in der Papierfabrik eingegeben. Es steht wiederholt die Ziffer oder das Zahlwort in Buchstaben und die dazugehörige Geldeinheit im Wortbild darauf. Und sonst noch einiges an sprachlichen Zeichen, wodurch die Art der Note, der Akt der Wertverleihung an sie dokumentiert und (eventuell) ihre stellvertretende Funktion definiert wird. “Die Reichsbank zahlt … in Gold …” so hieß es früher. All das, ich wiederhole, in kurrender Nationalsprache. Und was sonst noch zu finden ist, sind entweder leicht erkennbare Diakritika zur Abhebung von anderen Noten und Papierstücken oder aber gehört es zu dem Inbegriff von Merkmalen, die man gehäuft bereitstellt für die praktisch so wichtige Echtheitsprobe und die individuelle Identifikation des Papierstückchens. Nun ja, das sind Finessen der Merkmalserfindung und Merkmalsanbringung, die gewiß kein Theoretiker als geldspezifisch ansehen wird. Ein ganz entfernter, armer Verwandter der Banknote, ihrer Funktion nach von bestimmtem Gesichtpunkte her bestimmt ein Negativ oder Spiegelbild zu ihr, die Briefmarke, weist da und dort noch alte oder neuerfundene Bild- und Wappenmomente auf; ebenso mag die Banknote mehr oder weniger davon an sich tragen. Auch das sind, sematologisch gesehen, nichts als Lehnzeichen. Übrigens: Von woher gesehen, imponiert die Briefmarke samt ihrer engeren Sippe, zu der man wohl rein formal auch Steuer- und Stempelmarken rechnen darf, als eine Art umgekehrter Banknote? Bei der Briefmarke wenigstens ist es ganz klar, daß die Post bei ihrer Ausgabe nicht verspricht, sie gegen Gold sondern mit einer Dienstleistung einzulösen. Doch lassen wir diesen Unterschied auf sich beruhen. Das Gemeinsame ist für unseren Zweck viel wichtiger. Man mag nur an die Briefmarke mitdenken, wenn über das Wesen des Geldes nachgedacht wird, weil an ihr, der Eintagsfliege mit dem kurzen Kreislauf, der zur Wertverleihung korrelative Akt der Entwertung coram publico vonstatten geht. Karl Bühler 258 2. Man muß sich also irgendwo neu belehren lassen über die Eigenfunktion des Geldes und hat die Wahl, ob man zuerst beim Rechtstheoretiker (Staatstheoretiker) oder beim Wirtschaftstheoretiker anklopfen will. Mir erscheint (ich weiß nicht ganz genau, warum) der Gang zum Wirtschaftler aussichtsreicher und ich will hier zunächst ein paar Gedanken niederschreiben, die dem Sprachtheoretiker beim Studium der besonders klaren und überzeugenden ersten Kapitel in dem Buche von Ludwig Mises “Theorie des Geldes und der Umlaufmittel” (2. Aufl. 1924) kommen können oder kommen müssen. Von da aus öffnet sich von selbst ein Übergang zu Simmels “Philosophie des Geldes”. Bei Mises und Simmel fand ich die, wie mich dünkt, tragfähige Grundlage für das rein logisch-vergleichende Unternehmen, auch die Funktion des Geldes zu einer Klärung des Zeichenbegriffes heranzuziehen. Was mir beim Studium der Geldtheorie von Mises sofort aufging und einleuchtet, war eine bestimmte Parallele des Ansatzes zu dem, was mir in der Sprachtheorie als die fruchtbarste Grundlegung erscheint. Man kann auf beiden Gebieten als ersten einen Bereich von Situationen abstecken, in denen dort die Sprache und hier das Geld überflüssig ist und darum nicht vorkommt. Vorkommt - das Wort im Sinne seiner zeitlosen Präsenzbedeutung genommen. Denn es handelt sich dabei nicht oder wenigstens nicht in erster Linie um die hypothetische Konstruktion einer vorsprachlichen und vorgeldlichen historischen Phase im Entwicklungsgang der Menschheit, sondern um Situationen, die man heute noch vorfindet und an konkreten Fällen studieren kann. Bei der Sprache ist es das Faktum der sprachfreien, der stummen Kooperation von Menschen (und Tieren), sind es soziale Situationen und in ihnen ein soziales Geschehen, das vom einfachsten Mit- und Für- und Nach- und Gegeneinander des handelnden Eingreifens der Partnerhände bis zur sublimsten und raffiniertesten gegenseitigen Steuerung des anscheinend verwickeltsten Gesamtverhaltens der Partnerpersönlichkeiten gehen kann, ohne daß darin und dafür ad hoc gesetzte und entgegengenommene Zeichen vorkommen und faßbar in Erscheinung treten müßten. Diese Handlungen stehen in der gemeinsamen Wahrnehmungssituation und in dem Rahmen des vorgegebenen Verständigungsbereichs der Partner für sich selbst und bedürfen keines anderen, das für sie steht; sie bedürfen keiner Hilfskonstruktion, sie bedürfen nicht der Ergänzung durch Daten, die durch Stellvertreter in das Sinngefüge der situationsimmanenten Daten hineingetragen würden, um hinreichend exakt und eindeutig verstanden zu werden. Es verriete nichts als einen glatten Unverstand wollte jemand an diese schlichte Feststellung eines jederzeit beobachtbaren Tatbestandes die Frage richten, ob denn nicht die Wahrnehmungen der Partner selbst schon von ihrer “Muttersprache” her eine Prägung erfahren haben und ob nicht schon in dem “vorgegebenen Verständigungsbereich” der Partner der ganze Inbegriff ihrer sprachlichen Bildung und ein gutes Stück ihres sprachlich gefaßten Wissensbesitzes enthalten sei. Natürlich ist sowohl das eine wie das andere richtig; aber das ist schlechthin […] Sind Worte für bare Münze zu nehmen? Ferdinand Tönnies über Geld als Zeichen und Zeichen als Werte H. Walter Schmitz 1. Einleitung Soziologen ebenso wie Philosophen haben sich bis heute stets sehr schwer getan in ihren nur selten intensiven Bemühungen um ein Verständnis des Werks von Ferdinand Tönnies. Sicher, Tönnies’ Ersteditionen einiger Schriften von Hobbes und seine Studien über diesen lange unterschätzten Philosophen (vgl. etwa Tönnies 1912) sowie vor allem das für die Begründung der Soziologie in Deutschland bedeutsame Werk “Gemeinschaft und Gesellschaft” (Tönnies 1887/ 1979) haben allen wissenschaftlichen und politischen Wechselfällen zum Trotz eine anhaltende Beachtung und Wirkung gefunden (vgl. Clausen/ von Borries et al. 1985). Doch ein Text von Tönnies, von dem - allerdings eher klandestin denn offen - wissenschaftsgeschichtlich sehr wichtige Wirkungen auf den Wiener Kreis und die frühe signifische Bewegung in den Niederlanden ausgegangen sind (vgl. Schmitz 1985a: cxvii-cxli; 1985b; 1985c), ist dabei zumeist vollständig übersehen worden; in jüngerer Zeit haben lediglich Haller (1959: 141) und Van Nieuwstadt (1978: 342) ihn erwähnt, während E.G. Jacoby, der sich allgemein um eine Aufarbeitung und Würdigung der Schriften Tönnies’ verdient gemacht hat (vgl. Jacoby 1970: 14, 23; 1971: 43-51; Tönnies 1974: 217-247, 267-269), ihn zumindest ansatzweise berücksichtigte: “Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht” (Tönnies 1899/ 1900; 1906). Tönnies verfaßte diese Schrift im Herbst 1897 (vgl. Tönnies/ Paulsen 1961: 334; Tönnies 1922: 221) in Bewerbung um den Welby Prize, der ihm 1898 dafür zugesprochen wurde von einem international besetzten “committee of award”, dem u.a. Oswald Külpe angehörte. Der Text erschien dann zuerst in englischer Übersetzung in “Mind” (1899/ 1900) und wurde 1906, ergänzt durch eine wissenschaftshistorisch erhellende Einleitung und drei Anhänge, in seiner ursprünglichen deutschen Fassung von Tönnies als Buch herausgegeben. In der deutschsprachigen Version, auf die ich mich im weiteren beziehe 1 , gibt es eine Gliederung in drei Teile mit insgesamt 99 Paragraphen; der erste Teil (§§ 1-63) enthält eine eigenständige Zeichentheorie, die Tönnies dann ab 1915 etwa in seine systematische Soziologie einzubauen begann. In § 56 unterbricht Tönnies den systematischen Aufbau seiner Zeichentheorie kurz vor ihrem Abschluß, um “von den Bedeutungen eines höchst wichtigen anderen Zeichens” zu handeln. § 57 hebt dann mit den folgenden Sätzen an: “Es ist beinahe ein philosophisches Herkommen, Worte (oder ‘Begriffe’, an denen nur ihre Bezeichnung dann gemeint ist) mit dem Gelde zu vergleichen, wie es auch in dieser Abhandlung schon geschehen ist, u.a. als erwähnt wurde, daß konventionelle Redensarten zuweilen für ‘bare Münze’ genommen werden. In der Tat ist die Analogie durchgehend.” (Tönnies 1906: 36) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen H. Walter Schmitz 260 Tönnies knüpft also bewußt an eine Tradition an, die ihm zumindest in Stücken sehr gut bekannt gewesen ist und die ihren berühmten Anfang bei Quintilian 2 nimmt. In Vergleich, Analogie oder Metapher wurden Wort und Münze dann später wieder zusammengebracht: u.a. von Bacon, Hobbes 3 , Leibniz (vgl. Dascal 1976) und Locke; zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald 4 ; in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Robert South, Richard Chevenix Trench (vgl. Aarsleff 1967: 233f.) und auch M. Bréal (1879; vgl. Aarsleff 1982: 307f.); und in jüngerer Zeit hat Rossi-Landi (1972, insbes. pp. 25, 192-196) die ausgedehntesten Parallelen zwischen Sprache und Geld gezogen. Weniger häufig scheinen sich Kritiker dieser Tradition gefunden zu haben. Zu nennen sind aber immerhin Lady Welby (1901) und vor allem Karl Bühler (1978a: 54; 1978b: 60ff.). Bei den genannten Autoren hat der Vergleich von Wort und Geld z.T. sehr verschiedene Funktionen und beileibe nicht allein und durchgängig die, wie Aarsleff (1982: 307) unterstellt, Worte als arbiträre Zeichen darzustellen (vgl. z.B. Dascal 1976). Dies gilt auch für die von Tönnies hergestellte Analogie. Sie dient ihm einerseits zur nochmaligen Erläuterung des Sinnes, in dem gemäß seiner Theorie Zeichen Bedeutung zukommt, und damit zugleich der Verdeutlichung seines Verständnisses von Geld als Zeichen. Andererseits schafft sie in Tönnies’ Gesamtwerk die argumentative Brücke, über die die spätere Subsumierung der Zeichen der Kategorie der Werte ermöglicht wird, womit dann die Einordnung seiner Zeichentheorie in die systematische Soziologie vollzogen ist. 2. Tönnies’ Zeichentheorie - eine Skizze “Philosophische Terminologie” muß vor dem Hintergrund von “Gemeinschaft und Gesellschaft” gelesen werden; und zwar nicht nur, weil Tönnies selbst sie “eine Tochter jenes Werkes” (1906: XII) genannt hat. Viel eher noch, weil Tönnies hier - d.h. insbesondere in Teil I - tatsächlich an den Ideen aus “Gemeinschaft und Gesellschaft” - bei geringer Differenz der Termini - festhält. Ein Kernstück davon ist seine Willenstheorie und die in deren Konsequenz liegende, aber häufig übersehene oder unverstandene Festlegung der Soziologie auf “die Verhältnisse gegenseitiger Bejahung” (Tönnies 1979: 3). Ein anderes ist die konstruktive und axiomatische Vorgehensweise, die Ebene der reinen Theorie, auf der er sich bewegt. Reine Theorie oder reine Wissenschaft aber, die ebenfalls schon zu den Gegenständen der konstruktiven und axiomatischen Philosopheme in “Gemeinschaft und Gesellschaft” gehört, ist für Tönnies - durchaus in der Nachfolge von Hobbes (vgl. Tönnies 1912: 93, 156f.) - nur von Dingen möglich, die der Wissenschaftler selbst konstruiert hat, also von abstrakten Gegenständen, Gedankendingen, mit denen unabhängig von Leben und Natur operiert werden muß (vgl. Jacoby 1971: 43). Derartige Gedankendinge wie der Begriff der Gemeinschaft oder der der Gesellschaft hat Tönnies in den 20er Jahren “Normaltypen” (vgl. Tönnies 1979: XLII) genannt, während Max Weber hier von “Idealtypen” sprach. Die äußerst dichte und konzentriert geschriebene “Philosophische Terminologie” setzt gleich in § l mit einer Reihe grundlegender Definitionen ein: “Wir nennen einen Gegenstand (A) Zeichen eines anderen Gegenstandes (B), wenn die Wahrnehmung oder Erinnerung A die Erinnerung B zur regelmäßigen und unmittelbaren Folge hat. Als Gegenstand verstehen wir hier alles, was in eine Wahrnehmung oder Erinnerung eingehen kann, mithin sowohl Dinge als Vorgänge. Wahrnehmung ist alle Auffassung durch Sinne; Erinnerung umfaßt außer Reproduktion von Wahrnehmungen Reproduktion aller anderen Empfindungen, sofern sie einen Gegenstand oder doch einen als Gegenstand setzbaren Inhalt Sind Worte für bare Münze zu nehmen? 261 haben. Menschliche Erinnerung ist gleich Denken. Denken, wie es hier verstanden wird, ist selber zum größten Teile Erinnerung an Zeichen und durch Zeichen an andere, bezeichnete Dinge. Wahrnehmungen und Erinnerungen werden im Folgenden gelegentlich unter dem Namen ‘Ideen’ zusammengefaßt, welcher Name aber auch Gefühle mitbezeichnen kann.” (Tönnies 1906: l) Ist hierin schon Tönnies’ Verhaftung in der Assoziationspsychologie seiner Zeit klar erkennbar - an verschiedenen späteren Stellen bezieht er sich vor allem auf Herbart, Steinthal und Wundt -, so gilt dies erst recht für die folgende Behandlung der “natürlichen Zeichen”, die er klassischen Vorbildern folgend der Klasse der “künstlichen Zeichen” gegenüberstellt. “Natürliche Zeichen” werden solche genannt, “[…] bei denen jene Folge durch das natürliche Verhältnis zwischen Zeichen (A) und Bezeichnetem (B) begründet ist.” (§ 2, 1906: l) Denn Tönnies gliedert die mannigfaltigen natürlichen Verhältnisse, ausgehend und abgeleitet vom Idealfall der Identität von A und B, implizit nach den Assoziationsgesetzen der Ähnlichkeit, der Kontiguität und des Kontrastes, die er offensichtlich auch in den “höheren Arten des Erkennens als Vergleichungen” - nämlich als “Identifikation”, “Folgerung” und “Unterscheidung” - wiederfindet, wo sie Grundlage für alle “Urteile” sind, die damit ebenfalls auf Zeichen gegründet sind (vgl. § 8, 1906: 4). Die natürlichen Verhältnisse, die als Zeichenfundierungen dienen können, sind für Tönnies einerseits von solcher Vielfalt, daß er allgemein bestimmen kann: “Zeichen ist, was als Zeichen wirkt.” (§ 8, 1906: 4) Andererseits betrachtet er Sprache als einen Ausdruck dieses natürlichen Denkens und sieht in ihr eine Reduktion der Annahme der Zeichenhaftigkeit des ‘Äußeren’ für ‘Inneres’, die ebenfalls im genannten Sinne von der Identitätsrelation abgeleitet ist. Entsprechend Tönnies’ anschließender Klassifikation der “natürlichen Zeichen” hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen ergibt sich, daß “natürliche Zeichen” entweder “in dem vom menschlichen Wollen unabhängigen Naturverlaufe” erscheinen oder aber vom Menschen “‘gemacht”’ werden. Im letzteren Fall sind sie entweder als solche, also als Zeichen, “unwillkürlich” (alle “Ausdrucksbewegungen” z.B.) oder sie sind zum Zwecke der Bezeichnung gemacht, und zwar entweder für den Zeichenproduzenten selbst oder für andere (§ 9, 1906: 4f.). Zum Zwecke der Bezeichnung gemachte natürliche Zeichen sind dabei u.a. die “Geberdensprache” und die “Lautsprache”, d.h. eine Menge natürlicher akustischer Zeichen. Die “natürlichen Zeichen” insgesamt dienen einerseits der von Malinowski später so benannten “phatic communion” andererseits aber auch dem “gegenseitigen Verständnisse” (§§ 11-13,1906: 5). Aus der durch ein hohes Maß an “Bildsamkeit des Materials” gekennzeichneten “Lautsprache” schließlich entsteht fast ausschließlich die Gattung der “künstlichen Zeichen”, deren wichtigste Gruppe die der Worte ist. Als Worte, Buchstaben oder Schrift sind die “künstlichen Zeichen” allein Produkte des menschlichen Willens, also arbiträr; dieser “[…] stellt das Verhältnis der Ideen-Association her, wodurch das Wort Zeichen des Dinges wird, ebenso das Verhältnis, wodurch die Schrift Zeichen des Wortes, die Einheit des Buchstabens Zeichen der Einheit des Lautes wird.” (§ 14,1906: 6) Worte haben Bedeutungen, d.h. sie sind Zeichen eines wahrnehmbaren oder denkbaren Objektes, gemäß dem Willen einer Person (“individuelle Zeichen”) oder mehrerer Personen (“soziale Zeichen”). Nicht zuletzt aufgrund der möglichen Übergänge zwischen individuellen H. Walter Schmitz 262 und sozialen Zeichen ergibt sich für Tönnies folgende nach wie vor aktuelle psychologischsoziologische Bestimmung von “Verstehen”: “Verstehen ist selbst eine Art des Willens, ist der Wille der Anerkennung, der Annahme, d.h. Aneigung, und so wird gemeinsames Verstehen einem gemeinsamen Besitze ähnlich. Durch das Verstehen wird also aus dem individualen ein sozialer Wille. Je weniger aber das Wort soziale Geltung hat, desto mehr bedarf es für das Individuum der Anstrengung, sich verstanden zu machen; den Sinn, den er dem Worte geben will, unterstützt er dann durch natürliche Zeichen: Töne und Geberden.” (§ 15, 1906: 6f.) Da die Worte einer Sprache nach Tönnies essentiell und entsprechend ihrem Entwicklungsgesetz soziale Zeichen sind und da sich der soziale Wille in ihnen ausdrückt, folgt die weitere Unterteilung dieser Klasse der “künstlichen Zeichen” für ihn aus den verschiedenen Arten des sozialen Willens, während die individuellen “künstlichen Zeichen” nach den entsprechenden Arten des individuellen Willens eingeteilt werden. Unter “individuellem menschlichem Willen” versteht Tönnies “[…] jede Verbindung von Ideen (Gedanken und Gefühlen), welche für andere sich bildende Verbindungen von (ebensolchen) Ideen erleichternd, beschleunigend, oder erschwerend und hemmend wirkt (sie wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht).” (§ 24, 1906: 10) Der menschliche Wille läßt sich danach als Ursache menschlicher Tätigkeiten oder bewußter Unterlassungen denken, denn diese sind, psychologisch betrachtet, für Tönnies nichts anderes als Aufeinanderfolgen von Ideen (vgl. § 25, 1906: 10f.). Als “sozialen Willen” bestimmt Tönnies “[…] den für eine Mehrheit von Menschen gültigen, d.h. ihre Individual-Willen in gleichem Sinne bestimmenden Willen, insofern als sie selber als Subjekte (Urheber oder Träger) dieses ihnen gemeinsamen und sie verbindenden Willens gedacht werden.” (§ 23,1906: 10) Tönnies geht es bei dieser und den folgenden Einteilungen von Willensarten darum, “[…] den verschiedenen Sinn zu analysieren, worin von Wörtern oder anderen sozialen Zeichen gesagt werden kann, daß sie ‘Bedeutung haben.” (§ 23, 1906: 10; Hervorh. H.W. Sch.) Und genau hierin liegen die Besonderheiten von Tönnies’ Zeichentheorie im Vergleich mit anderen semiotischen Theorien und zugleich ihr Schwerpunkt. Denn sie zielt im Bereich der “künstlichen Zeichen” auf eine idealtypische Bestimmung und Differenzierung der zumindest denkbaren Fundierungsarten von Zeichen-Bedeutung-Relationen. Bezogen auf individuellen wie auf sozialen Willen wird zu diesem Zweck zunächst festgestellt, daß in den Ideenabfolgen, in die der Wille in Form von bestehenden Ideenverbindungen als Ursache von Tätigkeiten und bewußten Unterlassungen eingeht, die “Gefühle” (Bejahung und Verneinung) die relativ konstanten Elemente sind, die “Gedanken” aber die relativ variablen. Dies führt zur weiteren Gliederung der Willensformen, nämlich: “Natürlich nennen wir den Willen, in dem die Gefühle, künstlich den Willen, in dem die Gedanken überwiegen.” (§ 26, 1906: 11) Der “natürliche Wille” (in “Gemeinschaft und Gesellschaft”: “Wesenwille” (Tönnies 1979: 73ff.)) bildet sich “auf natürliche Art” (1906: 7); die Beziehung auf Tätigkeiten, in denen er sich äußert oder verwirklicht, ist eher “vorausgefühlt” (§ 26, 1906: 11), wird “als objektiv vorhandene Tendenz empfunden” und entwickelt sich von allgemeinen zu besonderen Beziehungen; im “Gefühlswillen” dominiert der “Grundzweck”, so daß z.B. die Idee eines allgemeinen Gutes Gefühle und Gedanken auf ein besonderes Gut richtet; im “Gefühlswillen” Sind Worte für bare Münze zu nehmen? 263 H. Walter Schmitz 264 herrscht das “Unbewußte” vor, und in ihm werden dem Menschen “seine Aufgabe, sein Beruf offenbar”: sein Sollen. Der “künstliche Wille” (in “Gemeinschaft und Gesellschaft”: “Willkür” bzw. “Kürwille” (Tönnies 1979: 112ff.)) wird “auf bewußte Art gemacht” (1906: 7); die Beziehung auf Tätigkeiten, in denen er sich verwirklicht, ist “vorausgedacht” (§ 26, 1906: 11) und geht von einzelnen Bestimmungen in allgemeinere, aus jenen zusammengesetzte über; im “künstlichen Willen” herrscht der “Endzweck”, so daß die Idee eines besonderen Gutes alle übrigen Ideen leitet und sich unterordnet; das “Bewußte” dominiert, und ein Plan wird gemacht: das Müssen. Zusätzlich sind diese beiden Willensformen nach der ihnen gemeinsamen Beziehung auf Tätigkeiten zu unterscheiden. “Je nachdem nämlich darin, d.h. in der entsprechenden Sukzession von Ideen, das sinnliche Element (Empfindungen, Wahrnehmungen) oder aber das intellektuelle Element (Vorstellungen, Gedanken) überwiegt, […]” (§ 27, 1906: 11) Zwischen diesen beiden Extremen “des Anfangs und der Vollendung” siedelt Tönnies die Mischformen an. Somit resultieren jeweils für den individuellen und den sozialen Willen insgesamt sechs rein begrifflich konstruierte Klassen von Willensformen, wie ich sie in der Abbildung zusammengestellt habe. Angewendet auf das Gebiet der individuellen Zeichen heißt dies z.B.: “Ein Gegenstand (A) wird durch individualen, z.B. meinen Willen Zeichen eines anderen Gegenstandes (B) […] ich will bei Wahrnehmung von A - obwohl sie mit B in keinem natürlichen Zusammenhange steht - an B denken.” (§ 29, 1906: 12) Dies kann für die Gegenwart oder die Zukunft, einmalig oder immer gelten. Die Erinnerung ist dann wesentlich an die Wahrnehmung (s) oder an die Vorstellung (i) gebunden, d.h. die Erstellung der Zeichen-Bedeutung-Relation ist entweder von der Wahrnehmung von A abhängig oder auf Wahrnehmung und Vorstellung (si), d.h. vor allem Gewohnheit, oder schließlich auf eine Vorstellung, nämlich eine Überzeugung oder intellektuelle Gewißheit, gegründet (§ 29, 1906: 12f.). Dabei ist aus Tönnies’ Formulierung von Beispielen zu erschließen, daß er unterstellt, die Zeichen-Bedeutung-Relation gewinne über die sechs Willensformen von WFs bis WDi vermittels Übung oder Gewohnheit, Lernen und schließlich definitorischer Festlegung an Dauerhaftigkeit und Stabilität. Bezogen auf die Formen des sozialen Willens und die ihnen entsprechenden sprachlichen Zeichen hieße dies, daß Tönnies sechs Sprachstufen unterscheidet, die hinsichtlich Fundierungsart, Dauerhaftigkeit und Stabilität ihrer Zeichen-Bedeutung-Relationen differieren. Die näheren Charakterisierungen dieser Stufen gewinnt er dabei durch Herstellung von Analogien zwischen den in “Gemeinschaft und Gesellschaft” ausgearbeiteten “Formen des verbundenen Willens”: “Eintracht” oder “Harmonie”, “Sitte”, “Glaube”, “Kontrakt” bzw. “Konvention”, “Gesetzgebung” und schließlich “Lehrmeinung” oder “Wissenschaft” einerseits und Formen der Zuordnug von Bedeutung zu sprachlichen Zeichen andererseits (vgl. Schmitz 1985b). Tönnies scheint mir mit dieser Skizze einer Sprachstufentheorie, die weitreichende Übereinstimmungen mit der von niederländischen Signifikern entwickelten Theorie der “taaltrappen” aufweist (vgl. Schmitz 1985c), einen theoretisch wichtigen sowie für die noch ausstehenden empirischen Forschungen orientierenden Weg aufzuzeigen, die Gesamtheit der sprachlichen Zeichen (als signifiant-signifié-Einheiten) nach ihren semantischen und kommunikativen Eigenarten zu strukturieren und die Möglichkeiten der Trennung wie der Vermischung von solchen oder ähnlichen Sprachstufen auf ihre zeichentheoretischen und ihre kommunikativen Konsequenzen hin zu analysieren. Sind Worte für bare Münze zu nehmen? 265 Tönnies selbst hat - trotz seines ansonsten eher extrakommunikativen wortsemantischen Ansatzes - in der Zusammenfassung zu seiner Zeichentheorie (§§ 58-61) schon einige kommunikative Konsequenzen aufgeführt. Davon kann an dieser Stelle (ausführlicher dazu Schmitz 1985a: cxxvff; 1985b: 81-84) lediglich soviel mitgeteilt werden: Tönnies stellt fest, daß Worte und andere soziale Zeichen zunächst einmal Bedeutung haben - und zwar subjektive Bedeutung - gemäß der Verwendungsintention eines Individuums, das sich ihrer bedient; daß diese Bedeutung aber wesentlich durch die “objektive Bedeutung” bedingt ist, die diese Worte oder anderen Zeichen im “regelmäßigen Gebrauch haben” (§ 58, 1906: 39). Die objektive Bedeutung schließlich variiert je nach der Klasse der Willensformen, gemäß der den jeweiligen Worten oder anderen “gültigen Zeichen” Bedeutung zukommt. Je nach Klasse der Willensformen differieren auch die Voraussetzungen und Möglichkeiten kommunikativer Verständigung unter Verwendung der den Klassen zugeordneten Sprachebenen. 3. Geld als Zeichen Diese Grundzüge und Elemente der Tönnies’schen Zeichentheorie ermöglichen nun auch ein Verständnis seiner Wort-Geld-Analogie und ihrer Funktionen. Vorbereitet hat Tönnies diese Analogie dadurch, daß er schon in § 50 bei der Entwicklung der vierten Stufe sozialer Zeichen erwähnt, Maßstäbe, Gewichte und Münzen seien Zeichen einer verabredeten oder sonstwie festgesetzten Maßeinheit, die zunächst nur in Gedanken existiere (1906: 25). Nun aber geht er einige Schritte darüber hinaus, indem er die Gleichartigkeit der Fundierung von Worten und Geld als Zeichen behauptet: “Dem Worte wie dem Gelde ist es wesentlich, daß sie Zeichen sind, und daß sie - wonach im Deutschen das Geld genannt ist - ‘gelten’, d.h. daß sie durch sozialen Willen die Gegenstände, deren Zeichen sie sind, vertreten.” (§ 57, 1906: 36) Während das Wort nämlich “Zeichen von Gegenständen als Vorstellungen oder Ideen” ist, ist das Geld “Zeichen von Gegenständen als Werten”, von Gegenständen also, die als “nützlichangenehm empfunden oder gedacht werden”, kurz: die “bejaht werden”. - In dieser allgemeinen Umschreibung von “Werten” deutet sich bereits die Möglichkeit der späteren Bestimmung von Zeichen als Werte an. - Und wie von der Art des individuellen oder sozialen Willens abhängig ist, in welchem Sinne und auf welche Weise Worten Bedeutung zukommt, so gilt auch für das Geld: aufgrund natürlichen sozialen Willens kommt allem gemünztem Geld “Bedeutung” zu; durch künstlichen sozialen Willen allem Papiergeld. Das Papiergeld schließlich entspricht nach Tönnies in einer zweifachen Weise den Namen theoretischer Begriffe, die ja als sprachliche Zeichen der sechsten Stufe (WDi) zugehören. Wie nämlich Begriffsnamen meist nur insofern empirisch gegeben sind, als sie auf die natürliche Sprache zurückführbar sind, so hat auch das Papiergeld empirisch nur Bedeutung durch seinen Bezug auf ‘natürliches’, also gemünztes Geld - denn in Tönnies’ Geldtheorie hat jedes Papiergeld den “Charakter einer Anweisung auf metallenes Geld” (Tönnies 1926: 44). 5 Und wie sich die Namen theoretischer Begriffe “direkt auf fingierte, konstruierbare und daher gleiche Gegenstände beziehen” (1906: 36), so ist auch das Papiergeld der Idee nach direkt auf “gleiche Werte”, etwa gleiche Arbeitsstunden, bezogen. Die Analogie wird schließlich weiter ausgebaut, indem auch zwischen den sechs Sprachstufen und sechs verschiedenen Geldarten bzw. -funktionen Entsprechungen hergestellt H. Walter Schmitz 266 werden (vgl. die Abbildung), d.h. den jeweiligen Sprachstufen und Geldarten liegt jeweils dieselbe Willensform als Fundierung der Zeichen-Bedeutung (Wert)-Relation zugrunde: a) Das “ursprüngliche Geld”: Es ist zunächst von anderen Werten nicht, als Geld dann nur wenig verschieden, denn der soziale Wille, eines der vielen dafür in Betracht kommenden Güter in der Funktion des Geldes zu verwenden, ist hier von der “sozialen Praxis” kaum verschieden, so wie der individuelle Wille dieser Stufe “nur das Gefühl der Tätigkeit” ist (§ 57, 1906: 36f.). Entsprechend entstehen Worte aufgrund des “Sprachbildungstriebs” durch Differenzierung und “Auslese” aus “natürlichen Zeichen”, die selbst noch keine Worte sind (vgl. § 44, 1906: 19). b) “Allgemein gültige Tauschmittel” (“Metalle”): Übung und Gewohnheit lassen das “absatzfähigste Gut” zum allgemein üblichen, d.h. “gültigen” Tauschmittel werden (1906: 37), so wie sie andererseits den “Sprachgebrauch” etablieren, und “der Wille des Gebrauchs involviert den Willen der Bedeutungen”, wenn auch in der Gewohnheit der Wille nicht als wirksam erkannt wird (§ 35, 1906: 14f.). c) Die (garantierte) Münze: Das Gemeinwesen garantiert für ein bestimmtes Gewicht und einen bestimmten Gehalt des Metallgeldes, wozu häufig eine spezielle Prägung als eine Art Garantiestempel genutzt wird. Da solche Garantie wesentlich eine moralische ist, ist sie empirisch religiöser Art, eine “Garantie durch öffentlichen Glauben” (1906: 37). Die gleiche Rolle spielt der “gemeinsame Glaube” als Form des sozialen Willens im Erlernen und Lehren der Sprache, also in ihrer Tradierung, zudem in der Auffassung, Einführung und Wirkung religiöser Sprache und der ihr verwandten poetischen Sprache. Und wie auf dieser Ebene der Geldentwicklung die Täuschung, also die Falschmünzerei und damit die Münzverschlechterung zum ersten Mal hervortreten (1906: 37), so sprachlich die Lüge, in der die Worte zu einem ihnen fremden, d.h. dem ihnen zugrundeliegenden sozialen Willen fremden individuellen Zweck verwendet werden (§ 48,1906: 23). d) “Konventionelles Papiergeld” (Wechsel, Anweisungen, Coupons, Briefmarken etc.): Ihm liegt wie überhaupt jeglicher “Geltung von Geldsurrogaten” der kaufmännische Kredit zugrunde, indem hier der Kredit möglichst weitgehend dem Geld “angeähnlicht” wird (1906: 37f.; 1926: 44f; 1979: 42); und Kredit beruht auf Verabredung, Vertrag oder Konvention, ganz so wie die Zeichen konventionellen Charakters: Schriftzeichen, Privatzeichen, internationale Hilfssprachen, die alle schon eine Sprache voraussetzen als Bezugssprache und Sprache der Vereinbarung (§§ 50-52,1906: 24-29). e) “Gesetzliches Zahlungsmittel”: Der Staat verleiht zunächst den Münzen, dann der Papierwährung (“bedruckte Zettel”) durch Zwang ihre Geltung, doch ihr wirklicher Wert ist nicht durch den moralischen, sondern durch den “kaufmännischen Kredit” der Staatsregierung bedingt (1906: 37). 6 Dem entspricht die möglichst rationale Gesetzgebung, die sich einerseits mit der Bestimmung von Wortbedeutungen befassen muß, andererseits sich an den Sprachgebrauch anzulehnen sucht. Auf ähnliche Weise bilden “Grammatiker und Lexikographen”, Akademien und anerkannte Schriftsteller die Sprache weiter (§§ 31-41, 1906: 14-17) und verschaffen neuen Worten oder neuen Bedeutungen für alte Worte Geltung. f) “Banknote” (einer Monopol-Zettelbank): Da die Verwaltung einer großen Bank nach wissenschaftlichen Prinzipien ausgeübt wird, kann man die Banknote “(ihrer Idee gemäß) das wissenschaftliche Geld” nennen, die sich in einer reinen Kreditwirtschaft, vermittelt über komplexe Berechnungen, nicht mehr auf Geld (“das halb-natürliche Zeichen aller Werte”), Sind Worte für bare Münze zu nehmen? 267 sondern direkt auf alle Werte bezöge, etwa durch Zurückrechnung auf die durchschnittliche Arbeitszeit (1906: 38). Entsprechend ist Wissenschaft “[…] gesetzgebend für die Bedeutungen von Wörtern, die sie für ihre bestimmten Zwecke aus dem Sprachgebrauch ablöst und definiert, d.h. die Bedeutungen als sein-sollende setzt; […]” (§ 42, 1906: 17). Ihre wahre Unabhängigkeit und Macht tritt jedoch erst da hervor, wo sie ihre Gegenstände unabhängig von sonstigen Vorstellungen und Gedanken selbst konstruiert und ihnen alte oder neue Worte als Namen gibt (“reine Theorie” oder “reine Wissenschaft”). Spätere zusätzliche Hinweise Tönnies’ auf Möglichkeiten, die Wort-Geld-Analogie auch auf Arten der Mitteilung unter Verwendung von Zeichen auszudehnen (z.B. Wort- und Geldentwertung durch “Inflation”), können wir hier übergehen, da er selbst sie nicht für sonderlich weitgehend hält (§ 62, 1906: 43f.). Dies verwundert auch nicht, denn schon der Schwerpunkt seiner Überlegungen zu sprachlichen Zeichen liegt auf der Zeichen-Bedeutung- Relation entkontextualisierter, eher extrakommunikativ betrachteter Worte. Die Individuen gehen in diese Betrachtungsweise lediglich ein als Träger eines sozialen oder individuellen Willens, der die jeweilige Relation schafft, aufrecht erhält und als gegeben unterstellt. 4. Zeichen als Werte Ehe ich mich der Kritik an Tönnies Analogie und der Ermittlung ihrer Hauptfunktion in seiner Welby-Preisschrift zuwende, sei zunächst noch erläutert, wie Tönnies den Einbau der sozialen Zeichen in die Systematik der Soziologie vorgenommen hat. Schon im ersten nachweisbaren Versuch, Zeichen innerhalb seiner Systematik der Soziologie zu berücksichtigen, ordnet er sie den Werten zu. In “Soziologie im System der Wissenschaften” von 1915/ 16 (vgl. Tönnies 1926: 236-242) betont er zunächst nochmals, daß der Gegenstand der Soziologie die sozialen Tatsachen “im strengeren und engeren Sinne” seien, nämlich das soziale, zumindest friedliche Verhalten der Menschen zueinander. Tönnies fährt dann fort: “Sie macht aber ferner die gegenseitige Bejahung, die sich darin ausdrückt, zum Gegenstande ihrer Untersuchung, insofern als daraus eigentümliche Gebilde entstehen, die wie Objekte angeschaut werden können und als solche von den zusammenlebenden Menschen selber gesetzt und behauptet werden.” (1926: 241; Hervorh. H.W. Sch.) Neben den “sozialen Verhältnissen” und den “sozialen Verbindungen” bilden die “sozialen Werte” eine der “Gattungen dieser Objekte”. Die sozialen Werte, die - wohlgemerkt - ebenso wie die sozialen Verhältnisse und Verbindungen als “Gebilde” und von Menschen gesetzte und behauptete “Objekte” eingeführt worden sind, werden dann folgendermaßen definiert: “Als soziale Werte verstehe ich alle mit den Menschen verbundenen Sachen und Gegenstände, insofern als sie ihnen gemeinsam zugehörig empfunden und gedacht werden; daher auch alle von Menschen erkannten und anerkannten Zeichen, insofern als sie ihnen etwas bedeuten; […]; kurz: den gesamten Inhalt sozialen Wollens, insofern als dieser Inhalt für die Individuen verbindlich sein will, ihnen also maßgebend gegenübersteht.” (1926: 242) Die sozialen Zeichen - und nur um sie geht es hier - sind also aufgrund der Tatsache als soziale Werte anzusehen, daß sie Inhalt des sozialen Wollens und damit für alle Individuen gültige und verbindliche Objekte sind, die als gemeinsamer Besitz betrachtet werden. Da die H. Walter Schmitz 268 Zeichen-Bedeutung-Relation ebenfalls Produkt des sozialen Wollens ist, implizieren Geltung und Verbindlichkeit der Zeichen als Objekte auch deren Bedeutungen. Tönnies’ Aufsatz “Einteilung der Soziologie” von 1924 (vgl. Tönnies 1926: 430-443), der in den wesentlichen Punkten zugleich das Gerüst für die lockerer und weitschweifiger geschriebene “Einführung in die Soziologie” von 1931 abgegeben zu haben scheint, handelt die sozialen Zeichen als soziale Werte etwas ausführlicher ab, wie es zudem der weiter ausgearbeiteten Systematik der Soziologie insgesamt entspricht. Dort umfaßt die “spezielle Soziologie” als ersten von drei Teilbereichen die “reine Soziologie” (1926: 432). Diese wiederum gliedert sich in fünf Gebiete, deren zweites “die Lehre von den Verbundenheiten oder den sozialen Wesenheiten” genannt wird, die die sozialen Verhältnisse, Samtschaften, Körper und Körperschaften zum Gegenstand hat. Das vierte Gebiet der “reinen Soziologie” heißt schließlich: “die Lehre von den sozialen Werten, als den Gegenständen des Besitzes der sozialen Wesenheiten” (1926: 433). Die später folgende Definition der sozialen Werte unterscheidet sich nur darin von der aus den Jahren 1915/ 16, daß der gemeinsame Besitz der gewollten Gegenstände stärker hervorgehoben wird, und zwar Besitz im Sinne von: sich der Gegenstände “mächtig” fühlen und wissen (vgl. 1926: 439). Die sozialen Werte werden nun eingeteilt in “ökonomische Werte”, “politische Werte” und “ideelle und geistige Werte”. Diese hier relevante dritte Gruppe wird nochmals aufgegliedert in a) “Personen”, b) “Sachen” und c) “die sozialen Zeichen”. Schon unter die “Sachen” fällt kennzeichnenderweise neben Werken der Künste und der Wissenschaft sowie den “heimischen Sitten und Gewohnheiten” etc. die “gemeinsame Sprache”. Zu der vielfältigen und bedeutsamen Gruppe der sozialen Zeichen heißt es dann: “Das Wesen des Zeichens besteht darin, daß es nicht ist, sondern bedeutet und gilt. Sein Wert besteht eben in seiner Geltung. Ich teile die sozialen Zeichen ein in: A. die Zeichen für soziale Werte selbst. Dazu gehört auch die Sprache als ein System von Zeichen für den ideellen Wert des Sichverstehens, also Mitteilenkönnens; und die Schrift, der Druck usw. wiederum als Zeichen der Zeichen. Es gehören aber ferner dazu alle insbesondere sog. Wertzeichen, unter denen das Geld das wichtigste ist; als Zeichen materieller Werte gehören sie zu diesen selbst, auch außer dem, daß sie - wie das Metallgeld - es zugleich sind.” (1926: 440) Als weitere Untergruppe folgt die der “Zweckzeichen” geltender Ordnung, geltenden Rechts und geltender Moral. Diese stehen für den Willen, “daß etwas sein oder geschehen soll”, und umfassen “Signale” (wohl auch Verkehrszeichen), gerichtliche Formeln und Formen (vgl. 1931: 181) und vorgeschriebene Gesetzesformen als Zeichen ihrer Rechtsgültigkeit etc. Die dritte Untergruppe bilden die “Symbole”, nämlich “[…] in Worten, Handlungen oder Gegenständen ausgeprägte Zeichen von Verhältnissen, Zuständen, Normen, die entweder als seiend, d.i. schon Gültigkeit habend, oder als sein sollend, d.i. solche Gültigkeit haben sollend gedeutet werden.” (1926: 440) In dieser Einteilung kommt die gemeinsame Sprache gleich zweimal vor: einmal als “Sache”, die als solche gewollt und geschätzt wird, also - wie auch der Zusammenhang zeigt- als Gebilde oder System von Gebilden im Sinne Bühlers; sodann als ein “System von Zeichen für den ideellen Wert des Sichverstehens”, womit die Sprache in ihrer positiven Funktionalität für ihre “Besitzer” bestimmt wird, und zwar in vollkommener Entsprechung zu Tönnies’ Umschreibung von “Verstehen” in “Philosophische Terminologie”. Einerseits verbindet diese zweite Bestimmung der Sprache diese auf eine weitere Art mit dem Geld, das ebenfalls Zeichen für Werte Sind Worte für bare Münze zu nehmen? 269 ist, andererseits wird ebenso die Verschiedenheit von Sprache und Geld betont. Denn als Zeichen gehören Geld und Sprache (als System von Zeichen) zwar zu den “ideellen und geistigen Werten”, da sie beide gelten, doch die Sprache steht für einen ideellen Wert, das Geld aber für einen materiellen Wert. Und vor allem, die sprachlichen Zeichen sind nur Zeichen, die gelten, während das Geld nicht nur Zeichen ist, sondern zugleich materieller Wert. Dennoch, den letztlich entscheidenden Unterschied zwischen sprachlichen Zeichen und Geld faßte Tönnies auch 1931 noch nicht begrifflich. Dazu fehlten ihm vor dem Hintergrund seiner Zeichentheorie die theoretische Notwendigkeit ebenso wie die begrifflichen Voraussetzungen. Die begriffliche Differenzierung dieser Art ist also gar nicht Tönnies’ Ziel, da sich ihm innerhalb seiner fast ausschließlichen Betrachtung der Sprache unter dem Aspekt eines sozialen Gebildes dies nicht als Problem stellt. Liegt einerseits in der Einseitigkeit dieser Sprachbetrachtung eine Schwäche, so ist sie doch in anderer Hinsicht die Stärke des Ansatzes. Denn Tönnies erfaßt als erster Soziologe überhaupt - und dies sogleich recht umfassend - Sprache zeichentheoretisch und als ein gesellschaftliches Produkt; und dabei spürt er dort, wo andere mit dem meist nur hingeworfenen Ausdruck “Arbitrarität des Zeichens” häufig mehr verdecken als klären, den unterschiedlichen Arten von Zeichen-Bedeutung-Relationen nach und setzt diese in Beziehung zu bestimmten sozialen Funktionen der jeweiligen sprachlichen Zeichen und zu spezifischen Erfordernissen sozialer Organisationen und Handlungsformen. Das Verständnis von sprachlichen und anderen sozialen Zeichen als soziale Werte schließlich führt ihn zu einem tieferen Einblick in die Funktionalität sozialer Zeichen für Herstellung und Erhaltung normativer Regelungen des gesellschaftlichen Lebens. Zum Teil erst Jahrzehnte später sind einige Soziologen und Soziolinguisten unabhängig von Tönnies’ vergessenen Schriften zu ähnlichen Einsichten vorgedrungen. 5. Lady Welbys Kritik an Tönnies’ Wort-Geld-Analogie Nach der Publikation von Tönnies’ Preisschrift hat Lady Welby sich in einem Aufsatz in “Mind” ausführlich damit auseinandergesetzt (Welby 1901). Zu den wenigen Stücken aus “Philosophische Terminologie”, denen sie nicht zuzustimmen bereit ist, gehört Tönnies’ Wort-Geld-Analogie. Wie Tönnies in seiner Entgegenung darauf (Tönnies 1901; 1906: 97-103) richtig bemerkt, sieht Lady Welby in dem relevanten Textstück nicht in erster Linie die Herstellung einer (Proportionalitäts-)Analogie, sondern den Ausbau einer traditionellen Metapher. Zudem mißversteht sie den Stellenwert der Analogie innerhalb des Gesamttextes als eine figurative Defintion von Sprache (Welby 1901: 194). Für Tönnies nämlich hat die Analogie nach seiner eigenen Auskunft allein die Funktion, “das Wesen und die Macht verschiedener Formen von sozialem Willen zu illustrieren” (Tönnies 1906: 101). Das heißt, die Wort-Geld-Analogie ist weder in erster Linie ein Mittel, die Arbitrarität sprachlicher Zeichen zu betonen, noch eines, nur den Zeichencharakter des Geldes zu verdeutlichen. Es geht hier vielmehr erneut um das Kernstück der gesamten Zeichentheorie, nämlich die sechs verschiedenen Willensformen als Grundlagen unterschiedlicher Zuordnungen von Bedeutung und Zeichen generell; Sprachstufen und Geldformen sind lediglich zwei bedeutsame Realisierungen dieser allgemeinen Prinzipien der Konstitution von Zeichen-Bedeutung-Einheiten. Trotz der genannten Mißverständnisse Lady Welbys lohnt es, ihre Argumente gegen die Geldmetapher näher zu betrachten. Sie führt an: Im Gegensatz zu Worten werden Geldstücke nicht nach stilistischen, ästhetischen oder rhetorischen Gesichtspunkten arrangiert; aus ihnen H. Walter Schmitz 270 können keine Komplexionen gebildet werden; sie sind nicht abkürzbar und bestehen nicht aus Einheiten, die wie Sprachlaute in Klang und Schrift modifizierbar wären; Geldstücken fehlt die Vielfalt variierender Assoziationen der Worte bei verschiedenen Personen und die Fähigkeit, häufig trotz ‘äußerer’ Verschiedenheit gegenseitig einzeln austauschbar zu sein; Geldstücke einer Klasse sind alle Objekte mit genau demselben Wert, Worte einer Klasse jedoch nicht; Geldstücke sind Zeichen einer Standardmaßeinheit, Worte nicht; schließlich gibt es beim Geld keine Entsprechung zu der Möglichkeit, die Bedeutung von Worten durch Wärme oder Kälte des Tons, durch weinendes, ernstes oder lächelndes Gesicht oder durch Unterstreichung oder Großdruck 7 zu ändern (Welby 1901: 195). Dieser wesentlichen Unterschiede wegen lehnt Lady Welby die Geldmetapher und die Wort-Geld-Analogie als für wissenschaftliche Zwecke ungenügend fundiert ab. Sie hält sie lediglich innerhalb der Alltagssprache für akzeptabel, während sie ihr innerhalb wissenschaftlicher Texte gefährlich und irreführend erscheinen. 6. Karl Bühler zum Wort-Geld-Vergleich In Bühlers Erläuterungen zum Vierfelderschema enthält der Teil über die Sprachgebilde (1978b: 57ff.) zwei Seiten über eventuelle Entsprechungen zwischen “Zeichenverkehr” und “Güterverkehr” und dabei zwischen Geld und Wort. Ganz anders als Tönnies und durchaus näher dem vermutlichen Ursprung der gesamten Tradition des Wort-Münze-Vergleichs bei Quintilian sieht Bühler die wesentliche Korrespondenz zwischen dem “phonematische(n) Gepräge am Klangbild” und dem “Münzgepräge” (1978b: 61). Denn hieran sei - rein logisch - eine “Verkehrskonvention geknüpft”, die den Symbolwert des Wortes fixiert bzw. den Geldwert der Münze sowie die Gleichwertigkeit dieses einen Geldstückes mit anderen gleichen Gepräges. Gegen eine weitergehende Vergleichbarkeit von Wort und Münze sprechen jedoch nach Bühler: 1. Worte fungieren einerseits noch “stoffgleichgültiger (entstofflichter, abstrakter)” (1978b: 60) als Geldstücke, denn man kann auch eine “phonematisch schlecht geprägte Wortmünze” akzeptieren, wenn man weiß, was sie nach der Intention des Sprechers sein soll. 2. Worte sind andererseits mit von Fall zu Fall variierenden Qualitäten ausgestattet, mit “Ausdrucks- und Appellvalenzen”, die verkehrsrelevant sind und beachtet werden (ebenda). Dies ist nun in der Tat eine eher begrifflich abstrakte Fassung der meisten Einwände Lady Welbys gegen Tönnies’ Analogie. Bühler geht jedoch noch einen Schritt über Lady Welbys Kritik hinaus und zielt dabei auf die prinzipielle Verschiedenheit von Wort und Geld. Das konkrete Wort ist ihm nämlich ein “Zeichending”, doch “der Dollar ist und bleibt, so sehr er sich in seiner Papierform den Zeichendingen nähern mag, den Gütern verhaftet” (1978b: 61). Oder anders ausgedrückt: Um Geldwert zu haben, muß Geld jedweder Art stofflich genau das Objekt sein, das von einer dazu befugten Stelle produziert und ausgegeben worden ist. Die “reinen Zeichendinge” dagegen sind - bis auf einige Ausnahmefälle - stoffgleichgültig und darüber hinaus ablösbar von den Dingen, für die sie als Zeichen stehen. Bühler schließt die Betrachtung mit dem Satz: “Das alles scheint mir von der Sematologie her gesehen die Gründe derer zu stützen, welche die unerläßliche Verhaftung auch der sekundär und tertiär mit einem Geldwert versehenen Papier- Sind Worte für bare Münze zu nehmen? 271 stücke (also des sogenannten Zeichengeldes im engeren Wortsinn), ihre Verhaftung im Reiche der Güter theoretisch stark unterstreichen und zum Definitionsmerkmal des Geldbegriffes erheben.” (1978b: 61) Einer derjenigen, die Bühler hier meint und von dessen Überlegungen er für seinen eigenen Vergleich von Wort und Geld profitiert hat, ist Georg Simmel. In seiner “Philosophie des Geldes” (3. Auflage, 1920) hat Simmel nicht nur die fortschreitende Entwicklung des Geldes “aus der Form der Unmittelbarkeit und Substanzialität […] in die ideelle” (1920: 123) als einen der Idee des Geldes adäquaten Prozeß beschrieben, sondern zugleich ein ganzes Kapitel (1920: 129-150) den Gründen gewidmet, aus denen das Geld niemals seinen “substanziellen Eigenwert” vollkommen verlieren und “in seinem Symbolcharakter völlig aufgehen” kann (1920: 139), “weil bei absoluter Vollendung dieser Entwicklung auch der Funktions- und Symbolcharakter des Geldes seinen Halt und seine zweckmäßige Bedeutung einbüßen würde” (1920: 149). Warum Simmel? Nun, Bühler nennt ihn in der “Sprachtheorie” nicht, wohl aber in “Die Krise der Psychologie”, wo er nach Abschluß der Betrachtung der Bienensprache auf die Entwicklung des Geldes aus dem Tausch bis hin zum Papiergeld eingeht, um daran nochmals die “Entstofflichung der Verkehrsmittel” und die “prinzipielle Ablösbarkeit von den Dingen” als die beiden Symptome für das Vorliegen einer Semantik zu erläutern, die der sprachlichen vergleichbar ist. - Diese Passagen stehen übrigens nicht ganz in Einklang mit der Betrachtung des Geldes in der späteren “Sprachtheorie”. - An dieser Stelle der “Krise” zitiert Bühler Simmel, ohne aber eine Stelle zu nennen, mit einer Formulierung, die die Eigenart der menschlich-geistigen Stufe in der Evolution charakterisieren soll, also der Stufe, auf der die “reinen Zeichen” erstmals auftreten. Simmel soll danach von der “‘Wendung zur Idee’” gesprochen haben (Bühler 1978a: 54). Es gibt viele Stellen in Simmels Werk, die diesen Gedanken zum Gegenstand haben. Doch die Textumgebung, in der das angebliche Simmel-Zitat bei Bühler steht, scheint auf die “Philosophie des Geldes” von Simmel zu verweisen, und dort findet sich eine ähnliche Formulierung - Bühler zitierte offenbar häufiger aus dem Gedächtnis -, mit der die Voraussetzung für die zunehmende Entstehung und Verwendung “reiner Zeichen” benannt wird: “eine prinzipielle Wendung der Kultur zur Intellektualität” (Simmel 1920: 128). Ob dies die Stelle war, an die Bühler dachte, ist weniger wichtig als die sehr weitgehenden terminologischen 8 und inhaltlichen Entsprechungen zwischen Bühlers Behandlung des Wort- Geld-Vergleichs und dem ersten Teil von Simmels “Philosophie des Geldes”. Bekannt war dieses Buch allenthalben, auch unter Bühlers Kollegen. August Messer zitiert es z.B. in seiner 0. Külpe gewidmeten “Einfuhrung in die Erkenntnistheorie” von 1909 (vgl. Messer 1909: 192). Damit schließt sich der Kreis der Betrachtungen. Denn auch Simmel hat das Geld hinsichtlich seiner “symbolischen Funktion” mit den Sprachlauten verglichen (vgl. Simmel 1920: 87) und rückt damit in die Nähe seines Fachkollegen Tönnies. 7. Resümee Der in der Geschichte der Semiotik häufig anzutreffende Wort-Geld-Vergleich, sei es als Basis einer Geldmetapher, sei es als Verfahren der Analogiekonstruktion, dient in seiner Behauptung von Ähnlichkeiten wie in der Feststellung von Unterschieden auf je verschiedene Weise der Verdeutlichung jeweils spezifischer zeichentheoretischer Grundannahmen. Von daher verwundert es nicht, daß Lady Welbys und Bühlers kritische Anmerkungen zu diesem H. Walter Schmitz 272 traditionellen Vergleich weniger als Kritik an Tönnies’ Wort-Geld-Analogie verstanden werden können, deren Kern, Funktion und Grundlage sie verfehlen, denn als Offenlegung der Verschiedenheiten jeweiliger zeichentheoretischer und auch geldtheoretischer Positionen. Tönnies’ Zeichenbegriff ist so weit gefaßt, daß er das, was Bühler die Ablösbarkeit der Zeichen nennt, erst durch die traditionelle Differenzierung zwischen natürlichen und künstlichen Zeichen einbringt. Bühlers weiteres Merkmal der Zeichen, die Entstofflichung oder Stoffgleichgültigkeit, dessen durchgängige Handhabung auch Bühler Schwierigkeiten bereitet, geht dagegen bei Tönnies nur am Rande in seine Zeichentheorie ein, und zwar, wie die Wort-Geld-Analogie zeigt, über die zunehmend abstrakter und zweckrationaler werdenden Stufen der Relationierung von Zeichen und Bedeutung. Zudem zielt Tönnies’ Interesse auf rein begrifflich konstruierte Gebilde, deren mögliche empirische Entsprechungen ihn erst in zweiter Linie beschäftigen, während Lady Welby und Karl Bühler sich auf das konkrete “Zeichending” in zwischenmenschlicher Kommunikation konzentrieren, dessen Merkmalsfülle und Variabilität sie weder in Tönnies’ noch in der linguistischen Theorie berücksichtigt finden können, da diese die sprachlichen Phänomene als subjektentbunden und zugleich auf einer höheren Formalisierungsstufe betrachten. Bei Tönnies heißt es dementsprechend ausdrücklich, er wünsche, seine Theoreme in “Philosophische Terminologie” zu denen W. Wundts, B. Delbrücks und M. Bréals in Beziehung zu setzen (vgl. Tönnies 1906: IX). Um schließlich zur Frage im Titel dieses Beitrags zurückzukehren: Alle hier behandelten Autoren stimmen darin überein, daß man Worte für bare Münze nehmen kann. Für Tönnies (vgl. 1906: 26f.) und Lady Welby (1901: 196) heißt dies, z.B. konventionelle Höflichkeitsformeln ‘wörtlich’ und als ernst gemeint verstehen. Für Bühler (1978b: 61) mag dies heißen, Worte so zu nehmen, wie sie lautlich geäußert werden oder werden sollten. Alle drei Autoren sind aber ebenso der Auffassung, daß man Worte nicht für bare Münze nehmen muß. Denn dies setzte eine metaphorische Sprachauffassung voraus, die Konsequenzen impliziert, welche weder durch die sehr begrenzten Ähnlichkeiten von Wort und Geld zu stützen wären noch der Natur der Sprache und der Verwendung sprachlicher Zeichen in Kommunikationsprozessen gerecht werden könnten. Gerade dies macht die Geldmetapher in Lady Welbys Augen so gefährlich, weshalb sie sie aus der Wissenschaftssprache verbannt sehen möchte. Berechtigt ist ihr Anliegen insofern, als die Geldmetapher zusammen mit anderen Redeweisen durchaus ein adäquater Ausdruck falscher, irreführender, aber doch zugleich potentiell handlungsorientierender alltagsweltlicher Theorien der Kommunikation (Austausch- und Transportmodelle) ist. Anmerkungen 1 Die englische Übersetzung ist vielfach ungenau oder sogar irreführend, weshalb Jacoby den von ihm erneut publizierten zweiten Teil von “Philosophische Terminologie” selbst neu ins Englische übertragen hat (vgl. Tönnies 1974: 217-247). 2 “Consuetudo vero certissima loquendi magistra, utendumque plane sermone ut nummo, cui publica forma est.” (Quintilian, Inst. Orat. I, 6) 3 Vgl. dazu Tönnies (1912: 156). 4 “La parole est donc, dans le commerce de pensées, ce que l’argent est dans le commerce des marchandises, expression réelle de valeurs, parce qu’elle est valeur elle-même. Et nos sophistes veulent en faire un signe de convention, à peu prés comme le papier-monnoie, signe sans valeur.” (L.-G.-A. de Bonald: Legislation primitive, 3 vols., Paris 1817 (zuerst: 1802), I, p. 99; zit. nach Aarslefl 1967: 234). Sind Worte für bare Münze zu nehmen? 273 5 Hieran wird deutlich, daß eine angemessene Aufschlüsselung von Funktion und Bedeutung von Geldmetaphern oder -analogien voraussetzt, daß man auch die ‘Geldtheorie’ des jeweiligen Autors berücksichtigt. Dies scheint mir von Dascal (1976), vor allem bei seiner Behandlung der Geldmetapher bei Hobbes, nicht geleistet worden zu sein - zum Nachteil der resultierenden Interpretation. 6 Dieser Gedanke läßt sich gelegentlich in heutigen Diskussionen wiederfinden - trotz des Wandels der Geldtheorie seit 1906. So schreibt etwa F. Wilkens in einem Leserbrief an “Die Zeit” (Nr. 35, 23.8.1985): “Man sollte die Amerikaner ruhig gewähren lassen, wenn sie im Weltraum militärisch experimentieren und ihr Geld los sein wollen, vielmehr das Geld der Kapitalisten aus aller Welt, die das reiche Amerika per Geldanleihen so reichlich alimentieren. Die dummgläubigen Gläubiger Amerikas werden schon merken, was sie davon haben, an einen Staat Dollars auszuleihen, der Dollarscheine drucken darf und im Notfall alle äußeren Schulden damit bezahlen kann. Man gab in kaufkräftigem Geld Leistungsäquivalente gegen Papier.” 7 Hierzu meint Tönnies in seiner Entgegnung (1901: 207f., 1906: 101f.) doch noch eine Entsprechung finden zu können, die z.B. im “Indossieren von Wechseln” bestehen könnte oder in einer besonderen Bürgschaft, die jemand dafür übernimmt, daß das von ihm bezahlte Geld echt ist oder das erforderliche Gewicht hat. 8 Simmel verwendet z.B. ebenfalls die terminologische Differenzierung von “Stoff” (auch “Inhalt”, “Materie”) und “Form”, wie wir sie bei Bühler finden. Literatur Aarsleff, Hans (1967): The study of language in England, 1780-1860. Princeton, N.J.: Princeton University Press. Aarsleff, Hans (1982): From Locke to Saussure. Essays on the study of language and intellectual history. London: Athlone. Bréal, Michel (1879); La science du langage, in: Revue scientifique de la France et de l’étranger, 2. ser., 8,1005-1011. Bühler, Karl (1978a): Die Krise der Psychologie. Mit einem Vorwort von Hubert Rohracher. 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Schneemann Einleitung “Ugly” ist der Titel des Künstlerbuches, das der shooting star der Schweizer Kunstszene, Olaf Breuning, 2000 herausgab. 1 Auf großformatigen Cibachromen findet sich die “Trashkultur” inszeniert. Populäre Bildwelten der Videoclips, der Werbung und Fashion-Welt sind in ihrer medialen Realität als Rituale und Insignien einer Generation spielerisch nachgestellt. “Ugly” - das alte ästhetische Kriterium als Maßstab für den künstlerischen Wertanspruch, seine Positionierung innerhalb der gesellschaftlichen Wertehierarchien und die ihm entgegengebrachte Wertschätzung erweist sich als unbrauchbar. Breunings Publikation “Ugly” zeigt jedoch auch die Rhetorik der Nobilitierung an. Wir blättern durch ein goldenes Buch. Auf goldenen Seiten werden die Akklamationen der Kunstszene wiedergegeben und Terminologien zur Betrachtung der Breuning-Kollektion 2000 angeboten. Die Vermittlungsmedien der zeitgenössischen Kunst, die Rahmung und institutionelle Präsentation der Werke erfüllen die Aufgabe der Wertkennzeichnung, sie fungieren als klassischer goldener Rahmen, der Kostbarkeit anzeigt. Die neue Zeitschrift “Art-Investor. Kunst und Markt” beschreibt und analysiert Kunst als Investitionsobjekt. Ihre Gliederung, ihre Ressorts versprechen nicht nur eine schnelle Orientierung, sondern eine klare Ableitung des Marktwertes durch die Faktoren, die ihn generieren, “artObject”, “artFacts”, “artInside”, “artTrends”, “art Opinion”, “artService”. - Breuning taucht noch in der Abteilung “young art” auf. 2 Das Piktogramm für seine Kunst ist verheißungsvoll, der kleine grüne Pfeil weist nach oben. Zitat: “Empfehlung: Originell und noch bezahlbar. Ein Künstler, der alle Chancen zum Star hat”. Zum “Art Service” für den Investor zählt auch die Abteilung “Künstler im Marktcheck”. Der Chart von Jean Tinguely sieht im Vergleich zu Breuning traurig aus. Nur für risikobereite Anleger zu empfehlen. Sein Werte- Chart befindet sich seit 1990 im steten Abwärtstrend. Vermarktungsstrategie ist in der Kunstgeschichte nicht neu. Die gesellschaftlichen Mechanismen, die sie einsetzt, wurden jedoch in neuer Effizienz durch den Werbemogul Charles Saatchi Ende der neunziger Jahre vorgeführt. Alle gesellschaftlichen Stimmen spielten ihre Rollen nach dem Skript, das Saatchi Ende der neunziger Jahre, mit einer Ausstellung mit dem mehrdeutigen Namen “Sensation” und gut inszenierten Skandalen für sein Label YBA, Young British Artists, auch in Amerika entwarf. Anlässlich der Sensation- Ausstellung im Brooklyn Museum stritten die Catholic League for Religious and Civil rights und die American Family Association, unterstützt durch die Republikanische Partei auf der einen Seite, die National Campaign for Freedom of Expression, die National Coalition Against Censorship und die American Liberties Union auf der anderen Seite, um gesellschaftliche Grund-Werte und generierten so neue Werte auf dem Kunstmarkt. 3 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Peter J. Schneemann 276 Ich stelle die Frage nach dem Wert der Kunst in der Gegenwart in eine Gliederung, die vom Material ausgeht - dem Materialwert, weiter seine Wandlung zum künstlerischen Wert durch die Leistung der Künstler beschreibt, anschließend verfolgt, wie dem Objekt durch Projektionen gesellschaftlicher Funktionen ein ideeller Wert zugewiesen wird und welche schließlich zeigt, wie das Kunstwerk als Lifestyle-Produkt unsere Ansprüche negiert. Diese Gliederung soll in ihrer Korrespondenz zu den Ansprüchen der Kunstgeschichte, sich im gesellschaftlichen Wertesystem zu situieren, beschrieben werden. 1. Material Der 1989 neuentflammte amerikanische Culture War, eine aktuelle Auseinandersetzung um Wert und Funktion von Kunst, konzentrierte die Frage nach Schönheit/ Hässlichkeit und Wert mit dem Rückverweis auf die Frage nach der Beschaffenheit der von Künstlerinnen und Künstlern verwendeten Materialien. Andres Serranos Fotografien aus der New Yorker Gerichtsmedizin schockten. Doch viel mehr Erregung erzeugte eine 1987 auf mehreren Ausstellungen gezeigte Fotografie des Künstlers, die ein kitschiges Kruzifix in einer mystisch golden leuchtenden Flüssigkeit zeigte. Der amerikanische Kongress wurde von verschiedenen Interessensgruppen gezwungen, über dieses Werk und seine mit öffentlichen Geldern geförderte Entstehung ausgiebig zu diskutieren, weil der Titel “Piss Christ” die Behauptung stützte, dass es sich um den Urin des Künstlers handle, in dem das Kruzifix schwimme. In ähnlicher Weise führte der Hinweis, dass Chris Ofili in seinem harmlosen Ethno-Stil nicht nur Pornobildchen verwendet, sondern mit Elefantendung die Gattung des Andachtsbildes beschmutzt habe, zur Androhung von Sanktionen gegen das New Yorker Brooklyn Museum und zu einer ikonoklastischen Attacke. 4 Auf der anderen Seite finden sich bei zahllosen Künstlern der Moderne und Gegenwart Experimente mit dem Material, das Qualitäten wie Kostbarkeit, Reinheit, auratische Wirkung und Sinnhaftigkeit gleichzeitig verspricht, dem Gold. Die Beispiele reichen vom mythischen Leuchten der Goldobjekte Roni Horns 5 , über die Werke Anish Kapoors 6 , den Objekten Michael Buthes 7 , bis hin zu Bildern des Schweizer Künstlers Leopold Schropp. Gold und Exkrement: Die Rezeption der Materialität sowohl der Kunstobjekte als auch ihrer metaphorischen Rahmung verweist nicht nur auf die Komplexität der Wertbestimmung der Kunst, sondern präziser auf den Traum einer ebenso natürlichen wie verbindlichen Formel zu ihrer Ableitung. Hier verdichtet sich die Problematik der Verwechslung von Gegenstand und künstlerischem Abbild in der Rezeption zeitgenössischer Kunst zur Spannung zwischen Physis und Thesis, zwischen Natur und Setzung, Materialwert und Nennwert. 8 Meret Oppenheims weiches Fell, Joseph Beuys sattes wärmendes Fett; - giftig glänzendes Quecksilber Rebecca Horns und Richard Serras Kampf mit dem schweren Blei: Der neue Hamburger Sonderforschungsbereich zum künstlerischen Material ist einer Apotheose des Werkstoffes der modernen Kunst verpflichtet. Dem Material soll gegenüber der Form zu neuem Recht verholfen werden. Eine andere Geschichte der Moderne soll geschrieben werden, in der das künstlerische Interesse am Material als Notwehr gegenüber der Dominanz der Form beschrieben wird. 9 Die Kunstgeschichte hat die Beschäftigung mit dem Material neu entdeckt. 10 Die mit erstarktem Elan betriebene Materialikonographie lässt dabei weitgehend außer Acht, wie sehr Physis und Thesis 277 Richard Serra, Serra beim Gießen der Bodenplastik Measurements of time in der Kunsthalle Hamburg, 1996 die Frage nach der Materialität eines Werkes auch den Wertbegriff der Kunst trifft, der sich gesellschaftlich im symbolischen Tausch konstituiert. Das Material wird zum Hoffnungsträger bei der Suche nach Verbindlichkeiten und zur Vergewisserung des Objektes als Ausgangspunkt kunsthistorischer Analyse. Die alte Wertehierarchie: Inhalt-Form-Materie wird dabei herumgedreht. Es ist die ästhetische Erfahrung, die als Grundwert in der Hinwendung zum Werkstoff ihre Bestätigung finden soll. Die Veranschaulichung und “Verstofflichung” ist nicht mehr der niedrigste Teil eines Kunstwerkes, den die Idee zu ihrer Veräußerung bedarf, sondern seine eigentliche Legitimation. Die Möglichkeit, alle Materialien unserer Lebenswelt in die Produktion von Kunst einzubeziehen, läuft der Auflösung des Kunstwerkes im Gedanken zuwider, die Entstofflichung der Kunst ist eine philosophische Utopie geblieben und die Auseinandersetzung mit der Dinglichkeit, des Haptischen der stofflichen Welt, wird von der gesellschaftlichen Rezeption der Kunst gefordert. Entgegen der von der Philosophie verkündeten “Aufhebung”, entgegen den Versprechen der Concept Art der sechziger Jahre, kein Objekt mehr zu brauchen und entgegen den Diskussionen um virtuelle Welten und Immaterialisierung hat sich das Kunstwerk keineswegs seiner Sinnlichkeit zunehmend entledigt, nehmen doch die Objekte mehr Platz ein als je zuvor. Das Museum als große Materialsammlung verlangt nach immer mehr Raum. Noch die siebziger und achtziger Jahre waren geprägt von der Mythologie der Unmittelbarkeit, sie fragten nach der Substanz, die das Kunstwerk ontologisch und wirkhaft definiere. Dabei kam besonders “Primärmaterialien”, kunstlosen Materialien, hohe Bedeutung zu. Das rohe, unverarbeitete Material, das keinen Prozess der Entfremdung durchlaufen hat, in der legendären Berner Ausstellung “When Attitudes become Form” 11 1969 von der Kritik Peter J. Schneemann 278 verspottet, sollte Erfahrungen ermöglichen, die in der Alltagswelt durch Surrogate verstellt sind. Während der Kinderzoo von Manhattan künstliche Steine, Bäume und Tierstimmen anbietet und Tierroboter gefüttert werden können, bietet das Museum genuinen Marmor und Flussschlamm von Richard Long. Diese Stofflichkeit, die nicht verändert wurde, sich keiner darstellenden Funktion dienend unterordnet, findet sich immer noch gerne als Gegenqualität zur technologischen Medialisierung der Erfahrungswelt kompensatorisch angerufen. Das Material wird zum Sigel des Ursprünglichen und soll die paradoxe Forderung nach Wahrhaftigkeit im Kunstwerk erfüllen. 12 Dabei wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Materialität der Kunst die spezifische institutionelle Rahmung zu manchem Paradoxon führt. Teilweise geschützt durch das Glas der Vitrine, immer jedoch mit einer Warnung versehen. Die kategorische Anweisung lautet, die Objekte nicht zu berühren. Wir müssen der Aussage der Beschriftung glauben. Material wird hier nur geschaut, nicht betastet. Wir dürfen seine Wärme nicht erfühlen, seine Schwere nicht überprüfen. Das Authentizitäts-Versprechen der Materialität ist in der Kunst nicht nachprüfbar. Zu dieser Problematik der Sehnsucht nach anschaulicher Evidenz gegen abstraktes Versprechen kann die Frage nach dem “Wertbegriff” gestellt werden. Der materielle Wert wird in Beziehung gesetzt zu einem ideellen und im gesellschaftlichen Akt des Kaufes und Verkaufes ökonomisch aufgewogen. Die Schritte der Wertbildung sind als Momente einer Wandlung zu verstehen. Das Material wird aufgeladen durch Projektionen, die seinen Tauschwert erhöhen. Zwischen diesen Systemen besteht eine komplexe Interaktion, die an einem der edelsten Werkstoffe der Kunst in ihrer Problematik nachvollzogen werden kann. Denn wie kaum ein anderes Material vermag das Gold den Materialwert, den Wert der Erscheinung und den Nennwert zu versöhnen. Realer Tauschwert nach dem Gewicht und symbolischer Wert scheinen untrennbar miteinander verbunden. Gold stellt einen Wert dar, der von der Gesellschaft beinahe uneingeschränkt und konstant sanktioniert ist. 13 Gold nimmt unterschiedliche Funktionen in der Kunst wahr - und das sind zunächst gegenläufige: als Wert an sich, als Stellvertreter des Spirituellen, als ästhetischer Schein, als auratisches Versprechen, als Tauschwert. Seine Potenzen in der Konstruktion von Wert in der Spiegelung dieser gesellschaftlichen Bedürfnisse sind die Versuchung der Kunstgeschichte. Sie muss sich entscheiden, wie sie mit ihnen umgeht, ob sie mit theoretischen Konstruktionen eine Rechtfertigung stützen, sie normativ festschreiben oder dekonstruieren will. 2. Wandlung Die Annäherung von Kunstwert und Materialwert bei der künstlerischen Verwendung des Goldes hat immer beunruhigt. Es ist dieses kostbare Material, das eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Definition künstlerischer Leistung einnimmt. Ein Wettbewerb zwischen dem Materialwert und dem Wert der künstlerischen Leistung, der Umwandlung der Materialität als Erscheinungsform, nimmt hier seinen Ausgangspunkt. Ob bei Plinius oder Ovid, die Hinweise auf die Gefahr, dass die Annäherung dieser Werte die Definition des wahrhaft Künstlerischen unterlaufe, sind zahlreich. Die Kostbarkeit des Materiales gefährde die Bedeutung der künstlerischen Leistung und diese sollte immer den Materialwert übersteigen. 14 Physis und Thesis 279 Die Leistung des Künstlers setzt bei der Verwandlung des Materiales ein. Er kann den Wert des verwendeten Materiales übertreffen, indem er seine Erscheinungsweise nachahmt. Zentrales Moment für die Kunstgeschichte ist der Hinweis von Leon Battista Alberti, im zweiten Buch von De pictura, 1435. In seinem Ruhm der Malkunst wird das Wertsteigerungspotential der Kunst anhand des Wertes der Materialen, die sie verwendet, demonstriert. “[…], dass man in der Regel nichts wird beibringen können von solchem Wert, dass die Verbindung mit der Malkunst es nicht noch viel kostbarer […] machte. Elfenbein, Edelsteine und derartige Kostbarkeiten werden insgesamt wertvoller unter der Hand des Malers. Selbst Gold wiegt, ist es mit der Kunst des Malers verarbeitet, eine ganz gewaltige Menge Gold auf. Mehr noch: wenn Blei, das billigste aller Metalle, unter der Hand eines Phidias oder eines Praxiteles die Form einer Statue annähme, erschiene es wohl wertvoller als Silber in rohem und unbearbeitetem Zustand.” 15 Alberti steigert am Ende des zweiten Buches diese These des Wertzuwachses hin zu einem scheinbaren Paradox. Anstelle der Verwendung echten Goldes solle der Künstler dessen Glanz, das heißt seine Erscheinungsweise mit seinem eigenem Medium, den Farben, nachbilden, dies sichere ihm größere Bewunderung und größeres Lob als etwa die Verwendung des Goldgrundes. Auf seiner Einzelausstellung 1953 in der Stable Gallery in New York stellte Robert Rauschenberg sogenannte “Dirt Paintings” aus. 16 Die klassische, aufgespannte Leinwand im weißen Galerieraum, der machtvollsten wertbildenden Institution der Moderne, erprobt den Dreck als Medium. Parallel experimentierte der spätere Star der Popkunst jedoch mit reichen, überbordenden Blattgoldbildern. Rauschenberg fragte in seinen “Elemental Paintings” nach dem Status, den ein Werk aufgrund seines Materiales einnahm. Er untersuchte, wie hoch die intentionale Setzung als Leistungsmoment der modernen Kunst gewürdigt würde gegenüber dem Glanz der Kostbarkeit. Dieses Spiel mit Werten, die Auseinandersetzung mit der Monochromie und dem abstrakten Wert eines Bildes steigert er im gleichen Jahr mit einem ikonoklastischen Akt. Rauschenberg hatte eine Zeichnung des Abstrakten Expressionisten Willem de Kooning, dessen gestische Malerei als existentialistischer Ausdruck 1953 eine breite Wertschätzung erreicht hatte, vollständig ausradiert. Rauschenberg benannte diese negative Strategie ästhetischer Produktivität als eigenständiges Kunstwerk. Entscheidendes Moment der Präsentation war ein blattvergoldeter Rahmen und ein Schildchen, das den Anspruch mit Angabe von Künstler, Werktitel und Datum anzeigt. Rauschenberg setzte den Goldrahmen ein, um seine Transformation der Zeichnung durch das aufwendige Abtragen ihrer Materialität in der Wiederholung der Gestik de Koonings mit einem Radiergummi als künstlerische Reflexion präsentieren zu können. Das Zeichen der Wertschätzung bezieht sich dabei sowohl auf de Koonings Werk als auch auf Rauschenbergs Akt. Die Kunstsoziologie kann solche Experimente als Beispiel für die Autonomie und geschlossene Selbstreferenz des Produktionsfeldes der Kunst deuten. Generiert die moderne Kunst ihren Wert in ihrem eigenen, autonomen gesellschaftlichen Teil- oder Subsystem? Gelten also andere Spielregeln als in der Ökonomie? 17 Das Diktum, aus Dreck Gold zu machen, bezieht sich auf die Leistung der Künstler, die Stofflichkeit zu verwandeln. Gleichzeitig wird mit diesem Satz der kommerzielle Erfolg kommentiert. Das Gold als Material gewinnt im Prozess eine neue doppelte Bedeutung. Zum einen dient es als Indikator einer Wertschätzung und zum anderen als Referenz für die gesellschaftliche Übereinkunft über das, was wertvoll ist, das heißt, es dient als Äquivalenz- Instrument für die Bemessung des Wertzuwachses. 18 Peter J. Schneemann 280 Piero Manzoni, Artists shit (Dose), 1961 Yves Klein, leere Vitrine in der Ausstellung “Le Vide” in der Galerie Iris Clert in Paris 1958 In der Auseinandersetzung der Avantgarden um den Wert des Kunstobjektes, der Bewertung künstlerischer Leistung und der Suche nach gesellschaftlichen Legitimationsprozessen erlebte das Gold als Äquivalenz, als Äquivalenz zum Geistigen ebenso wie als Äquivalenz zum Exkrement des Künstlers, eine neue Inanspruchnahme. Piero Manzoni ließ 1961 seine Exkremente in 90 Abfüllungen, zu je 30 Gramm mit dem Tagespreis von 30 Gramm Gold aufwiegen. 19 Yves Klein verkaufte 1958 in Paris Anteile der Zone immaterieller malerischer Sensibilität. Der Grundpreis betrug 20 Gramm Feingold. Seine unsichtbaren Kunstwerke, nur durch seine mentale Kraft hervorgebracht, konnten im leeren Galerieraum präsentiert werden. Seine Reflexion über die reine künstlerische Leistung und ihren Wert unabhängig von jeder Manifestation im Objekt bedurfte jedoch des Aktes eines Aufwiegens mit dem Material, das Sinnlichkeit und Wert miteinander verbindet. So entdeckte die Avantgarde den Goldrahmen und den Goldbarren wieder neu, um die Macht des institutionalisierten Kunstbegriffes demonstrieren zu können, Verschiebungen des Wertesystems für sich in Anspruch zu nehmen oder das Verhältnis von Kunst und Wertvorstellungen ideologiekritisch zu analysieren. Unter dem Titel MUSEUM zeigen die um 1972 erschienenen Siebdrucke “Museum / Museum” von Marcel Broodthaers mehrere Reihen kleiner Goldbarren. Sie sehen alle gleich aus, mit der Prägung des höchsten Reinheitsgehaltes von 999,9. Nur ihre Benennung wechselt. Auf dem ersten Blatt entziffert man die großen Namen der Kunstgeschichte. Von Mantegna über Ingres, Duchamp bis zu Magritte. Die unterste Reihe enthält dagegen die Kategorien der Wertbestimmung, die für die Aufnahme in ein Kunst- Physis und Thesis 281 Marcel Broodthaers, Museum-Museum, 1972 museum zentral sind: “Imitation”, “Kopie”, “Original”. Auf dem zweiten Blatt sind die Goldbarren anstelle von Künstlernamen mit alltäglichen Substanzen, Nahrungsmitteln und Rohstoffen bezeichnet, von “Butter” über “Gold” bis Tabak”. Die unterste Reihe enthält abermals die Frage nach der Authentizität: “Imitation”, “Falsch”, “Kopie”, “Original”. Inkommensurable Materialien, Funktionen und Gattungen sind in ihrer Wertbestimmung aneinander angeglichen. Der belgische Künstler betrieb ab 1968 an unterschiedlichen Orten ein konzeptuelles “Museum für Moderne Kunst, Abteilung Adler”. In Zusammenhang mit der Abteilung Finanzen, die er 1970 konzipierte, plante Broodthaers eine Edition von Goldbarren zu je einem Kilo, versehen mit den verbindlichen Prägungen und zusätzlich seinem Adlerstempel. Der Verkaufspreis des Kunstwerkes wurde durch den doppelten Tageskurs des Edelmetalls bestimmt. 20 Museum und Bank werden in ihrer Funktion als Hüter von Werten ebenso parallelisiert, wie die Wertvorstellungen der Kunst mit denen des alltäglichen Lebens im Sinne des Tauschwertes verglichen. Die Kunst entdeckte den Goldstandard in der Zeit, in der er endgültig in der Wirtschaft fiel. Mit dem expliziten Wunsch, mit “Kunst Geld” zu machen, hatte Broodthaers bereits früher die Frage nach der künstlerischen Berufung polemisch pervertiert. Seine Zielsetzung, Kunst als Wertschöpfung zu nutzen, setzte beim Wandel wertloser Materialien an. Er experimentierte mit Muscheln, Eierschalen und Kohlen, um schließlich in den 60er Jahren seine Kunst unmittelbar mit dem gesellschaftlichen Tauschgeschäft zu verbinden. Er signierte ab 1966, bei gleichzeitiger Korrektur des Nennwertes, Banknoten. Was hier als humoristische Operation erscheint, ist eine Handlung, die gegen den Ethos der Kunst verstößt: Peter J. Schneemann 282 Sherrie Levine, Fountain (after Duchamp), Berlin, 1991 Der Künstler darf kein Interesse am Geld haben. Die Wertigkeit seines Werkes ist bedingt durch den kategorischen Status seiner Reinheit und Unschuld, der es aus dem gesellschaftlichen Wertesystem der Konsumprodukte herauslöst. Die “symbolische Alchemie” der Wertsteigerung funktioniert nach diesem Modell Bourdieus in der Abgrenzung der Welt der Kunst. Erhält die Kunst also ihren Wert in der Negation eines Tauschwertes, sowie sie in der Gesellschaft ihre Funktion einnimmt in der Zurückweisung jeglicher Funktion? 21 Das kulturelle Kapital wird in diesem Prozess zu einem symbolischen Kapital. Die Potenzen liegen dabei nicht allein in den wahrnehmbaren Strukturen, die Reinheit ästhetischer Erfahrung wird an dieser Stelle gebrochen. Auch wenn der Berner Künstler Herbert Distel 1996 im Berner Küchenladen einen Flaschentrockner anbietet, so bleibt das Motto seiner Reversion “Die Kunst, einfach wieder ein Flaschentrockner zu sein” unerfüllbar. Die Kunstgeschichte knüpft an die Wandlungskraft des Künstlers an und potenziert sie mit dem Mittel der großen Erzählung. Die Rezeptionsgeschichte veredelt die Objekte, rahmt sie in Gold, verleiht ihnen Mythen, das Kunstmuseum vertreibt sie als Repliken im Museumsshop. Der Flaschentrockner wird nochmals gewandelt, vom Kunstwerk Duchamps in ein Tauschobjekt, erhält jedoch seine ursprüngliche Funktion nicht zurück. Diese Operation ist so abstrakt, dass sie sogar dann funktioniert, wenn der Begriff des Originals aufgehoben ist und das erste Objekt, an dem die Wandlung aus einem Alltagsobjekt in ein Kunstobjekt vollzogen wurde, verloren ist, das heißt, auch im Museum nur noch Repliken existieren. Es erscheint zwingend, dass sich die Appropriation-Künstlerin Sherrie Levine 1986/ 1991 Marcel Duchamps legendärem Readymade, 1917 in einem Sanitätsgeschäft gekauft, annahm. 22 Duchamp hatte es in den Kunst-Kontext mit seinen spezifischen Rezeptionsgesetzen eingeführt. Levine überführte das ordinäre Objekt in ein wertvolles Material. In der Bronzeskulptur, als gold-glänzendes Objekt vollzog sie, kombiniert mit der Negation des schöpferischen Aktes, den Wandlungsprozess nach, den die Kunstgeschichte seit 1917 weitergeführt und vollendet hatte. In der Kostbarkeit seiner Erscheinung und Materialität wurde die Replik des Readymades der Kostbarkeit des kunsthistorischen Diskursobjektes angenähert. Die Vergoldung der kunsthistorischen Schlüsselwerke, der Kommentar zu ihrer neuen Aura, kann dabei durchaus als kritische Frage formuliert werden. Die Veränderung des Materiales weist auf die Veränderung des Status des Werkes hin, der den Abstand zwischen künstlerischer Intention und Vermarktungsprozess manifestiert. Ein Vermarktungsprozess, der seine Macht und seine Produkte im neuen gesellschaftlichen Ort des Museumsshops zeigt. Der reflektierte Wandel vom Kunstwerk zum Warenwert ermöglicht, die fiktive oder willkürliche Festlegung des Wertes eines Kunstwerkes als Investitionswert zu kritisieren. Physis und Thesis 283 So griff Hans Haacke 1986, zur Zeit der Inflation der Readymades, eine Arbeit von Duchamp auf - die Schneeschaufel von 1915, die Duchamp unter dem Titel “In advance of the broken Arm” vorstellte. Haacke ersetzt den Originaltitel durch “Broken R.M.” Liest man diesen auf Englisch ergibt sich wieder “Broken Arm” - R.M. steht hier jedoch für Duchamps Readymade-Pseudonym R. Mutt. Auf einem Schild, wiederum mit Bezug auf Duchamp, wird vermerkt: “Art & Argent a tous les etages”. Das Readymade wird zerbrochen und vergoldet der Offerte des gesellschaftlichen Kaufhauses beigestellt. 23 Ist die metaphorische Vergoldung der Werke der Avantgarde ein Indiz für ihre Zerstörung als Kunstwerk? Liegt die Gefahr des Warenwertes wirklich im Handel mit dem Objekt, in seiner Überführung, und in diesem Beispiel Rücküberführung in die Warenwelt? 3. Heilsversprechen Golden ist der Anzug des Künstlers, golden seine Schrift, golden der Ausstellungskatalog. Rein, absolut, unbezahlbar seine goldenen Werke. Die Beispiele für die Vergoldung des künstlerischen Antlitzes reichen von Jannis Kounellis goldenen Lippen 1972 bis hin zu Katharina Sieverdings Selbstporträts von 1990 über James Lee Byars und Joseph Beuys. Bei Byars finden wir die vollendete Verknüpfung der Kunst mit abstrakten Werten wie Perfektion, Reinheit und Moral. Medium dieser Verknüpfung ist das Gold. 24 Die Verwendung dieses Materials bindet das Objekt an einen zeremoniellen, kultischen Kontext. Es verdeutlicht wie kein anderes Material die Beanspruchung des Absoluten als Referenz der Mythologien der 80er Jahre. Die Ikonographie der Materialien reduziert Byars auf den Dreiklang Rot für das Leben und das Blut, Schwarz als Todesallusion, und das Gold schließlich für die Unsterblichkeit und das Begehren. Der Künstler formuliert für sich die Rolle des “Verwandlers”. Der alte Traum des Alchimisten lebt hier unter umgekehrten Vorzeichen wieder auf. Er synthetisiert nicht das Gold, sondern dieses soll nun dazu dienen, um eine unbezahlbare, reine Leistung des Geistigen in der Sinnlichkeit aufleuchten zu lassen. Durch goldene Öffnungen dürfen auf Weisung des Künstlers nur Wahrheiten gesprochen werden. Das goldene Material soll das Heilsversprechen der Kunst der Moderne einlösen, zwischen Moment und Ewigkeit vermitteln. Ausgiebig schwelgte die Kunst der 80er Jahre in Gold, man denke besonders an die documenta 7, James Lee Byars in Sichtweite mit Janis Kounellis goldener Wand. 25 Das Material dient als Behältnis für eine Botschaft, die unbestimmt bleibt, makellos und perfekt. Das Pendel schwingt zwischen dem kritischen Modernismus, der den ökonomischen Wert des Kunstwerkes befragt und dem transzendentalen Modernismus, den die spirituelle Semantik des glänzenden Materiales faszinierte. 26 Der Wert der Kunst fiel mit der Glaubwürdigkeit der Künstler zusammen. Um das Heilsversprechen verkünden zu können, näherten sie ihre Erscheinung der Substanz des Versprechens an, sie vergoldeten ihre Gesichter, sie kleideten sich in Gold, sie schlucken es. Beuys belegte bereits 1965 für eine Aktion in Düsseldorf sein Gesicht mit Blattgold, um einem toten Hasen Kunst zu erklären. Gold als Insignie für einen transzendentalen Anspruch des Künstlers. Gold als Voraussetzung, rationales Verstehen zu erweitern in die Bereiche Imagination, Inspiration und Sehnsucht. 27 Bleibt man jedoch bei der Frage nach dem Wert, tritt die gesellschaftlich formulierte Erwartung an die Kunst der Gegenwart hervor. Es gilt, das Material, das den Wert als Peter J. Schneemann 284 Joseph Beuys, Friedenshase, 1982 Tauschwert verkörpert und im Kontext einer Machtsymbolik gelesen werden kann, umzuwerten. 1982, anlässlich der “goldenen” documenta 7, versuchte Beuys, die kulturgeschichtliche Koppelung von Material und Machtanspruch mit der Umschmelzung einer Kopie der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen zu einem Friedenshasen zu transformieren. Der erste Akt der Zerstörung galt “dem Symbol von Macht, von Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung”. 28 Unter Berufung auf berufsethische Gründe, verweigerte die Innung der Goldschmiede ein Einschmelzen. Beuys beschloss, sie selbst in einer öffentlichen Aktion, unter vehementem Protest der Bevölkerung und entgegen einer großen Unterschriftensammlung, zu zerschlagen. In seinem zweiten Akt, sollte ihre Materialität in ein “Friedenszeichen” überführt werden. “Wärme” dient als Instrument der Transmutation. Bei der Aktion wurden große Namen aus der Geschichte der Alchemie angerufen. Der Verkaufserlös von 777.000 DM der aus einer gewöhnlichen Backform für Osterhasen entstandenen Skulptur, betrug recht exakt das Doppelte des Schätzwertes der Krone, berechnet aus dem Materialgewicht. Der Hase mit Mehrwert wurde in einer Panzerglasvitrine gezeigt. Der Erlös diente einer künstlerischen Aktion, die als gesellschaftlicher, politischer Akt verstanden werden wollte, der Anpflanzung von 7000 Eichen in Kassel. Wolfgang Schütte vergoldete 1986 in seinem Museums-Modell einen überdimensionierten Schornstein. Der gesellschaftlich sanktionierte Aufbewahrungsort für die Kunstwerte als Krematorium? - das Museum als Vernichtungsmaschine, dessen Abluft der eigentliche Wert ist, der durch eine vergoldete Hülle geschickt werden soll? Welche Wirkungspotenz wird der Kunst zugebilligt? Wie sehr ist diese an die Stofflichkeit gebunden? Wenn Schütte den Schornstein vergoldet, so stellt Thomas Huber den Verwandlungsprozess dar, der geleistet werden soll, um mit Nennwert und Materialität, Prozesse in Gang zu setzen, die den Wert der Kunst ausmachen würden. Erstmals 1991 im Central Museum Utrecht vorgeführt, bedient sich Huber der Institution Bank, um einen Umwandlungsprozess zu demonstrieren. 29 Die abstrakte Wertigkeit des Geldes ist Ausgangsposition für die Faszination. Im Direktorenzimmer nimmt der Künstler in Personalunion die Rolle des Bank- und Museumsdirektors an. 30 Warum? Weil das Geld die allgemeinste Sprache unseres Gesellschaftsvertrages darstellt. Der Abstraktionsgrad des Geldes, seine mangelnde Sinnlichkeit, die Aufhebung des Goldstandards als Deckungsgarantie wurde mit der Kunst kompensiert, die die Banken schmückt. Der Künstler sieht das prächtigste Haus der Stadt als Feuerstelle. Das durch den brennenden Tresorraum erwärmte Wasser fließt durch Heizkörper aus unterschiedlich reinen Metallen Physis und Thesis 285 Thomas Huber im Direktionszimmer des Central Museums, 1992 gegossen. Sie umgeben den Künstler an seinem Arbeitsplatz. Das größte Tier ist ein Löwe aus Gold. Die Tiere sind die Sinnbilder für die Aggregatszustände im Entstehen der Kunst aus dem Verbrennungsprozess. Das Endprodukt ist der pure schöne Schein. “Ich bin Künstler. […] ich verführe durch die Schönheit des Scheinens meiner Werke. Meine Bilder sind wie vom Glanz des Goldes abgezogen. […] In den Bildern gewinnt das Kapital nie geahnte Zonen und verschenkt sich Ihnen mit seinem goldenen Sinn.” 31 Der schöne Schein des Kunstwerkes ist ein Scheinen, das ethische Werthaftigkeit simuliert. Kunst soll hier in der Tradition von Beuys Verbindlichkeit in die Gesellschaft wieder einführen. Huber bringt in seinen Konzepten alles zusammen, konstruiert einen Kreislauf, an dessen Ende die Seife als Produkt steht. In der thermischen Energie, gewonnen aus der Verbrennung von Gold und Geld, wird Seife aus der Knochenasche und dem Fett der heiligen Tiere hergestellt. Die Eigenschaft der Seife schließlich ist es, die Öl und Wasser verbinden lässt, um Bilder damit zu malen. - Alles geht in diesem Bild der Gewinnung von Kunst aus der Verbrennung von Wertmaterial in einen Kreislauf ineinander auf. Physische Qualitäten des Materiales finden ihre Entsprechungen in symbolischen Bedeutungen. Alles scheint miteinander versöhnt. Kunst kann die Wirtschaftswerte mit ihrer Kraft, mit den Substanzen zu agieren, umwerten. Joseph Beuys war der Hohepriester dieser Utopien, den immateriellen Wirtschaftswert mit den ethischen und kreativen Potenzen der Kunst versöhnen zu können. Künstler, Kunsthistoriker und Museumsdirektoren können als Lehrmeister einer besseren Welt auftreten, um die Tradition einer Religion der Kunst fortzuführen. 32 Die Transformation von Geld in Wärme und Schönheit verspricht eine vollkommene Welt, ohne Brüche. Mit Hubers Seife können wir unsere Hände in Unschuld waschen. Die Spannungen und Konflikte, die gesellschafts-, institutions- und ideologie-kritischen Künstler wie Hans Haacke bearbeiten, scheinen gelöst. Auch für ihn ist Kunst keineswegs ideologisch neutral. Auch er sieht die alte Idee des interesselosen Wohlgefallens der These weichen, dass Kunst sehr wohl die Ökonomie ideell bereichere. Kunst ist ein Aggregat, sie bewahrt Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte, Erkenntnisse, Entwürfe, als Differenz zu momentanen Gegebenheiten. 33 Hier greift die Beobachtung Pierre Bourdieus, dass sich Werke der Kunst nicht durch die ihnen zukommenden Eigenschaften, etwa in ihrer Materialität aus glänzendem Gold, allein gesellschaftlich durchzusetzen vermögen. Die Wertbestimmung, die Artefakten im Rahmen Peter J. Schneemann 286 der Gesellschaft zukommt, ist das Resultat einer “symbolischen Alchemie”, die sie in eine bedeutsame Erscheinung verwandelt. Bei Thomas Huber wird der Kontext aufgegriffen, um ihn umzuformen. Haacke hingegen interessiert sich weniger für einen versöhnlichen, utopischen Traum der Kunst für eine bessere Welt. Er fragt nach dem Missbrauch, der im Versuch liegt, die ethischen Ansprüche der Kunst nicht als Kritik, sondern als Lebensqualität und Luxusgut in die Gesellschaft einzubinden. Es war die deutsche Bank, die Thomas Huber zu diesem Projekt einlud und dann eben doch nicht in ihr System aufnahm. Man kaufte nur einige Skizzen des Projektes an. Bilder, die im feinen Goldstift die ganzheitlichen Konzepte ästhetisch aufbereiten. Der Anspruch, der mit dieser Beziehung zwischen Kunstwerk und gesellschaftlichem Wert verbunden ist, wird zunehmend problematisch. Längst ist das Versprechen auf Läuterung durch das Kunstwerk als Dienstleistung des Heilsversprechens in unsere Gesellschaft eingebunden. Das berühmte Diktum Theodor Adornos, dass die Funktion der Kunst ihre Funktionslosigkeit sei, kann als Dilemma gelesen werden. Schreibt man den Status der Kunst in dieser Weise fest, heben sich ihre Bedingung (Funktionslosigkeit) und der gesellschaftliche Nutzen eben dieser, gegenseitig auf. Denn die Funktionslosigkeit der Kunst ist es, die ihren Nutzen für sekundäre Aufgaben gewährleistet. Die Stadt Zürich, die Künstlerschaft, Galeristen, Kritiker und Kunsthistoriker führten eine notwendige und längst nicht beendete Diskussion über die “Reinheit der Kunst”, als der Flick- Erbe Friedrich Christian Flick die Kunst einzusetzen dachte, um mit moralischen Werten zu dienen, anstatt der politischen Weisung der Einzahlung in den Fond der Hilfsarbeiter Folge zu leisten. In einem unveröffentlichten Interview mit dem “Tages-Anzeiger” im letzten Sommer gab Flick auf die Frage, warum er Kunst sammle, zur Antwort: “Weil sie ein unabhängiger, interessanter und zum Nachdenken anregender Kommentar zu Fragestellungen und Problemen der Zeit und der Gesellschaft ist. Ich liebe die junge Kunst wegen ihres Potenzials, Diskussionen anzuregen. Ich nehme gerne daran teil und unterstütze sie durch meine Sammeltätigkeit.” Kommt dem Wertbegriff des Kunstwerkes hier die Funktion zu, Kapital und seine zweifelhaften Hintergründe zu nobilitieren? 4. Der kommerzielle Schein Die notwendigen Analysen und Polemiken, die in der letzten Zeit zum Sponsoring, zum Kunstmarkt vorgelegt werden, laufen Gefahr, die Problematik zuzuspitzen, indem sie eine moralische Instanz der Kunst fordern, mittels derer die Verschmelzung von Kunstszene und ökonomischen Regeln, nach der Rhetorik der Avantgarden wiederentdeckt, streng zurückgewiesen wird. Dabei ist das Dilemma der Reduktion der Kunst auf die goldene Moral ebenso groß wie die Reduktion auf ihren Tauschwert. 34 Der Warencharakter der Kunst wird geleugnet, um von diesem Mechanismus zu profitieren und der Kunstgeschichte wird vorgeworfen, wesentlich dazu beigetragen zu haben, indem sie ein unschuldiges “L’art pour l’art”-Modell fortschrieb. Die Frage nach dem Wert der Kunst und die hier angerissenen Erwartungen betreffen nicht nur die Legitimation von Kunst, sondern in sehr viel stärkerem Masse die Institutionen, die den Kunstgenuss als Produkt anbieten müssen und die Wissenschaft, die immer häufiger auf die Vermittlungsfunktion reduziert wird. Wird die Kunstgeschichte nach ihrer Legitimation gefragt, so verblenden wir Physis und Thesis 287 Urs Lüthi, Art for a better life: Exercise 20, 2001 gerne alte Bildungsideale, gesellschaftskritische Potenz und moralische Läuterung miteinander. Im Essayband des engagierten Kunstkritikers Walter Grasskamp zum Thema, “Kunst und Geld”, 35 findet sich das beinahe hilflos anmutende Unterfangen eines Abwägens, zwischen bürgerlicher Funktionalisierung der Kunst als latent gesellschaftskritische Sonderstellung im politischen Leben auf der einen Seite und der Instrumentalisierung im Rahmen von Prestige und Marketing auf der anderen Seite. Grasskamp muss fragen, ob die alte Unterscheidung von Max Weber, die der Kultur neben Politik und Wirtschaft einen selbstständigen Bereich in der Gesellschaft einräumte, sich als Fiktion erweisen würde. Die ökonomischen Gesetze und die Spielregeln der Kunst sind sich so nahe gekommen, dass auch Bourdieu gemeinsam mit Hans Haacke die Stimme warnend erhob. 36 Bourdieu sah die Kunst dann in Gefahr, wenn ihr Feld nicht mehr deutlich genug abgegrenzt ist, wenn sie so weit zu Ware wird, dass ihre Rezeptionsgesetzmäßigkeiten und Gesetze nicht mehr von denjenigen eines Konsumproduktes differieren. Der Schweizer Künstler Urs Lüthi bot auf der letzten Biennale keine Utopien, keine Entwürfe für die geistige Potenz der Kunst. 37 Die Objekte, die er mit seinem Namen verbindet und ausstellt sind Merchandising-Produkte, die der Künstler als erfolgreicher Manager und Vermarkter eines Life-Styles vertreibt. Im Werkzyklus “Placebos and Surrogates” zieren Slogans wie “I’m beautiful” oder “I’m a Sexmachine” bunte Kaffeebecher oder industriell gefertigte Frisbeescheiben. Als “Placebos” scheinen sie den Alltag erträglicher zu machen. “Art for a better Life”: mit praktischen Lebenshilfe-Tipps für den Alltag, etwa Exercise 20: “Try daily to find something beautiful in an ugly thing.” Peter J. Schneemann 288 Kunst verspricht uns hier, in scharfer Brechung, was wir von allen Life-Style Produkten erwarten. Wir werden zu besseren, fitteren und glücklicheren Menschen - wir müssen nur die Handlungsanweisungen befolgen. Der Name des Künstlers als Label bürgt für Qualität. Der Künstler als Seelen-Masseur, das Kunstwerk als Sportgerät. Und wo bleibt die Sehnsucht nach Wert und Kostbarkeit? Jeff Koons erfüllt diesen Wunsch und bietet uns kostbares Porzellan. Der goldene Porzellan Michael Jackson mit Affe “Michael Jackson and Bubbles” von 1988 wurde vor genau einem Jahr bei Sotheby’s in New York für 5,6 Millionen Dollar versteigert. 38 Mit Raubzügen in die “history of taste” stellt Koons in seiner “Banality” Werkgruppe die Frage des Wertes als bürgerliches Begehren nach Kostbarkeit und Glück. Der künstlich konstruierte Als-ob-Kitsch bietet spiegelnde Oberflächlichkeit, die Schuld und Scham dieses Begehrens golden rahmen und auf uns zurückwerfen. Der Schein der Oberfläche, die an keine Substanz und keine Verbindlichkeit gebunden ist, bietet die Verbindung zu den eingangs gezeigten Fotografien von Olaf Breuning. Die Konstruktion von Wert referiert auf keine Differenz, keine Wandlung und keinen Gegenwert. Die Künstler erweisen sich als kunstvolle Arrangeure der Versatzstücke unserer Projektionen. Der Kunsthistoriker Udo Kittelmann, Direktor des Museums für Moderne Kunst Frankfurt, muss gegen die Trennung von hehrer Kunst und schmutzigem Geld kämpfen und Mäzenen wie dem Armaturen-Hersteller Alexander Dornbracht zustimmen, dass zwischen dem Erfolg von Lifestyleprodukten und Kunst kein prinzipieller Unterschied bestehe. Sein Kollege von der Schirn, Max Hollein, hat sich als Analyst des Kunstmarktes einen Namen gemacht und plädiert für gesundes Wachstum, damit die Preise auf dem Kunstmarkt langfristig stabil bleiben könnten. 39 Seit Sommer 1991 geriet in Frankreich die Diskussion um die Koppelung von Kostbarkeit, Wert, Funktion zu einer nationalen Debatte, an der sich Künstler, Kunsthistoriker und Kritiker lebhaft beteiligten. Alle großen Namen waren vertreten, von Baudrillard über Marc Fumaroli bis hin zu Jean Clair. 40 Vehement wurde nach “wertvoller” Kunst gerufen und man musste sich doch eingestehen, dass weder Physis noch Thesis gesicherte Wertmaßstäbe bieten können. Die große Rede von der kleinen Krise der französischen Kunst der Gegenwart entpuppte sich als Krise ihrer Axiome, als Krise der Erwartungen, der Entwürfe von Wert. Die politische Instrumentalisierung der Kultur in der Ära Mitterands erwies sich als schwere Hypothek. In dieser Suche nach Axiomen greift der Kunsthistoriker abermals verlegen zum Gold. Er tut dies für die Schweizerische Nationalbank. Sie verpflichtete Harald Szeeman als Regisseur ihres Expo-Pavillons auf der Arteplage Biel. Nochmals stellt er die Frage nach “Geld und Wert” mit der These, dass dies das letzte Tabu sei. Das Gold bietet jedoch nur den schönen Schein. So dünn, dass mit zwei bis drei Kilo ein ganzes Expo-Gebäude verkleidet werden konnte. Szeemann baut dabei voller List auf das diebische Verlangen der Besucher. Es darf an der Vergoldung gekratzt werden. Ein Kratzen, welche das andere Verlangen nach einem verbindlichen Wert zerstört. 41 Die Kunstgeschichte der Gegenwart muss sich mit diesen Spannungen beschäftigen, weil sie die gleichen Fragen nach der Legitimation gestellt bekommt wie die Kunst. Und sie ist den gleichen Versuchungen ausgesetzt, ob derjenigen der lukrativen Dienstleistung im schönen Schein oder der goldenen Moral. Physis und Thesis 289 Anmerkungen * Dieser Beitrag ist aus der Antrittsvorlesung des Autors an der Universität Bern, Lehrstuhl für Kunstgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Kunst der Gegenwart, hervorgegangen. Dank für Anregungen und Hilfe gilt Dietmar Rübel, Hamburg und Nadine Juillerat-Haldemann, Bern. 1 Christoph Doswald (Hrsg.), Olaf Breuning: ugly, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2001. 2 Art Investor Heft Nr. 2/ 2001, München, S. 56-57. 3 Sensation: Young British Artists from the Saatchi Collection (Katalog der Ausstellung in London 1997), London: Thames and Hudson, 1998. 4 Lawrence Rothfield, Unsettling “Sensation” arts policy lessons from the Brooklyn Museum of Art controversy, New Brunswick (N.J.): Rutgers University Press; Peter Zimmermann / Sabine Schaschl, Skandal: Kunst, Wien, New York: Springer, 2000. 5 Louise Neri, Roni Horn, London: Phaidon, 2000. 6 Ammann, Jean-Christophe und Margrit Suter, Anish Kapoor. Katalog zur Ausstellung, Basel: Schwabe & Co. AG, 1985. 7 Stephan von Wiese, Michael Buthe. Skulptura in Deo Fabulosa, München: Verlag Silke Schreiber, 1983. 8 Vgl. grundlegend zu diesem Thema Branka Stipáncic, Worthless (Invaluable). The concept of value in contemporary art (Ausstellungskatalog), Ljubljana: Museum of modern art, 2000; Ralf Schiebler, ‘Kandinsky lockert die Deckungsvorschrift. Die moderne Kunst und der Goldstandard’, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 100, Beilage vom 29.4.1995; Tilman Osterwald (Hrsg.), Das Goldene Zeitalter. Die Geschichte des Goldes vom Mittelalter zur Gegenwart (Ausstellungskatalog), Ostfildern-Ruit: Cantz, 1991; Robert W. Boyle, Gold. History and Genesis of Deposits, New York: Van Nostrand Reinhold, 1987; Pierre Vilar, Gold und Geld in der Geschichte. Vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck, 1984. 9 Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: Verlag C.H. Beck, 2001. 10 Leo Popper, Schwere und Abstraktion: Versuche, Berlin: Brinkmann & Bose, 1987. 11 Harald Szeemann, When attitudes become form (Ausstellungskatalog), Bern: Kunsthalle, 1969. 12 Vgl. Anm. 10 und Gert Mattenklott, “Material - Hoffnung der Enterbten”, in: Daidalos, Nr. 56, Juni 1995, S. 44ff. 13 Jürgen Harten (Hrsg.), Das fünfte Element - Geld oder Kunst. Ein fabelhaftes Lexikon zu einer verlorenen Enzyklopädie (Ausstellungskatalog), Köln: DuMont, 2000. 14 Vgl. Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, München: Deutscher Kunstverlag, 1994. 15 Leon Battista Alberti, Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei, lat.-dt., hrsg, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Oskar Bätschmann und Christoph Schäublin, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2000, S. 235-236. 16 Vgl. zu Rauschenberg den Katalog zur Wanderausstellung von Walter Hopps, Robert Rauschenberg - Retrospektive, Ostfildern-Ruit: Hatje, 1998. 17 Vgl. auf für die weiteren Ausführungen Hans Zitko und Hubert Beck, Kunst und Gesellschaft. Beiträge zu einem komplexen Verhältnis, Heidelberg: Kehrer, 2000; David Roberts, ‘Von der ästhetischen Utopie der Moderne zur Kunst der Gesellschaft: Ort und Funktion der autonomen Kunst in der Systemtheorie Luhmanns’, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Beiheft 7, 1989, S. 119-134. 18 Vgl. zum Thema des Wertzuwachses auch Susanne Anna, Wilfried Dörstel und Regina Schultz-Möller, Wert Wechsel. Zum Wert des Kunstwerks (Schriften des Museums für Angewandte Kunst Köln I), Köln: König, 2001. 19 Gerald Silk, ‚Myths and Meanings in Manzoni’s Merda d’artista’, in: Art Journal, 52/ 3, 1993, S. 65-75. 20 Vgl. Marcel Broodthaers. Katalog der Editione (Katalog der Ausstellung im Sprengel Museum Hannover 1996), Ostfildern-Ruit: Cantz 1996, S. 28-30. 21 Vgl. Bernd Kleimann, Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001. 22 Vgl. Thomas Deecke, Originale echt falsch - Nachahmung, Kopie, Zitat, Aneignung, Fälschung in der Gegenwartskunst (Ausstellungskatalog), Bremen: Umschau / Braus, 1999. 23 Vgl. Tilman Osterwald (Hrsg.), Das Goldene Zeitalter. Die Geschichte des Goldes vom Mittelalter zur Gegenwart (Ausstellungskatalog), Ostfildern-Ruit: Cantz, 1991. Peter J. Schneemann 290 24 Vgl. Carl Haenlein, James Lee Byars the epitaph of con. art is which questions have disappeared? (Ausstellung in Hannover, Kestner Gesellschaft.1999), Hannover: Kestner Gesellschaft, 1999. 25 Vgl. Rosi Huhn und Peter Rautmann, “Gold gab ich für Eisen. Materialaspekte zur documenta 7”, in: Kritische Berichte, 4, 1982, S. 21-36. 26 Thomas McEvilley, ‘More than Gold’, in: Artforum International, Bd. 24, Nr. 3, November 1985, S. 92-97. 27 Uwe M. Schneede (Hrsg.), Joseph Beuys: Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumenten, Stuttgart: Verlag Gerd Hatje, 1994, S. 102-111; vgl. auch Bettina Paust, ‘”Dieser Hase ist sicherlich ein Ergebnis einer lebenslangen Arbeit”. Das Wirken der Tiere im Werk von Joseph Beuys’, in: “Joseph Beuys. Pflanze, Tier und Mensch”, Wendelin Renn, Köln: DuMont, 2000. 28 Vgl. Uwe M. Schneede (Hrsg.), Joseph Beuys: Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumenten, Stuttgart: Verlag Gerd Hatje, 1994; “Geheimnis gelüftet: Altstadtkönig gab Krone her für Beuys. Goldschmied will aber nicht einschmelzen”, in: Hessisch Niedersächsische Allgemeine, Kassel 22.6.1982; Jörg Schellmann, “Projekt Westmensch” von Joseph Beuys, München, 1992. 29 Thomas Huber, Der Duft des Geldes. Die Bank - eine Wertvorstellung, Darmstadt: Verlag Jürgen Häußer, 1992. 30 Vgl. auch Thomas Huber, ‘Wie das Kapital in Seife umgeschmolzen wird’, in: Kunstforum International, 104, 1989, S. 192-203. 31 Thomas Huber, Der Duft des Geldes. Die Bank - eine Wertvorstellung, Darmstadt: Verlag Jürgen Häußer, 1992, S. 16. 32 Vgl. Verena Kuni, ‘Auf der Suche nach dem Gold unserer Zeit. Joseph Beuys und Thomas Huber’, in: Erfahrung und System. Mystik und Esoterik in der Literatur der Moderne, Bettina Gruber (Hrsg.), Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997. 33 Michael Hübl, ‘Werkstoff Welt. Die Biennale und ihre Materialien’, in: Kunstforum International, Bd. 109, 1990. 34 Vgl. auch Peter Bendixen und Ulrich H. Laaser (Hrsg.), Geld und Kunst - Wer braucht wen? , Opladen: Leske + Budrich, 2000; Walter Grasskamp, Konsumglück: die Ware Erlösung, München: Beck, 2000; Thomas Kellein, Welt-Moral. Moralvorstellungen in der Kunst heute (Ausstellungskatalog), Stuttgart: Staib + Mayer, 1994; Felix Zdenek, Beate Hentschel und Dirk Luckow, Art&Economy (Ausstellungskatalog), Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2002. 35 Vgl. Walter Grasskamp, Kunst und Geld. Szenen einer Mischehe, München: Beck, 1998. 36 Vgl. Pierre Bourdieu und Hans Haacke, Freier Austausch für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1995. 37 Vgl. Urs Lüthi. Art for a Better Life. From Placebos & Surrogates, Katalog anlässlich der Ausstellung im Schweizer Pavillon im Rahmen der XLIX Biennale in Venedig 2001, hrsg. vom Bundesamt für Kultur, Bern, Luzern / Poschiavo: Edizioni Periferia, 2001. 38 Vgl. auch Thomas Zaunschirm, Kunst als Sündenfall, die Tabuverletzungen des Jeff Koons, Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag, 1996; Michael Jackson and Bubbles by Jeff Koons. Auktionskatalog von Sotheby’s zur Auktion vom 15. Mai 2001 in New York, 2001. 39 Vgl. Max Hollein, Zeitgenössische Kunst und der Kunstmarktboom, Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 1999. 40 Jean Baudrillard, ‘Le complot de l’art’, in: Libération, 20.5.1996; Jean Clair, Considérations sur l’état des beaux-arts, Paris: Gallimard, 1983; Yves Michaud, La crise de l’art contemporain, Paris: Presses universitaires de France, 1997; Marc Fumaroli, ‘L’Etat culturel. Essai sur une religion moderne, Paris: Ed. de Fallois, 1991. 41 Vgl. Geld und Wert / Das letzte Tabu, herausgegeben von der Schweizerischen Nationalbank anlässlich der expo.02, Zürich: Edition Oehrli, 2002. Zeichenhandel Zum Verhältnis von Semiotik und Ökonomie bei Johann Georg Hamann Eric Achermann, Bern Commerce de signes. La relation entre sémiologie et économie chez Johann Georg Hamann. Pour Hamann, l’acte sémiotique ne peut être considéré indépendamment de la dualité du verbe créateur et de l’action par laquelle Dieu a fait l’homme. C’est par ces deux principes que les deux règnes (nature et grâce) sont constitués, mais également deux types de signes, les signes naturels et les signes artificiels. Toute chose réelle signifie, toute chose réelle est un signe. L’homme, grâce à la liberté qui lui a été accordée, est autorisé à se servir de signes de sa propre institution afin de se référer au monde et de communiquer avec ses semblables. Pourtant, le caractère dissociatif du signe par rapport au monde lui permet de contrefaire et de contredire l’ordre de la nature ; en abusant de sa liberté et de sa raison, il invente des expressions non plus imitatives du verbe créateur, mais abstraites et dépourvues de nature, de vie et de vérité. Pour réparer l’ordre perverti, Hamann exige une revivification de la sphère humaine par l’action (théâtrale, rhétorique et économique). C’est ici qu’intervient le commerce comme modèle de tout mécanisme servant à établir une communication et une correspondance entre l’homme et l’homme, entre l’homme et le monde. La sagesse divine ayant privé l’homme de forces naturelles, c’est au commerce que revient tout naturellement la fonction de suppléer au manque: il satisfait aux besoins des uns par l’abondance des autres et sert, par la même occasion, à former des sociétés. Le commerce est un moteur et une action, produisant une énergie libératrice capable de réparer les torts de l’homme déchu et de rétablir un équilibre naturel. Cette économie d’échange transforme d’un coup les signes naturels ainsi qu’artificiels en signes de valeur qui nécessitent la croyance des uns et le crédit des autres. Dealing with Signs. Johann Georg Hamann and the relation between semiotics and economics. To understand Hamanns conception of signs, it is fundamental to consider them as resulting from two different acts: the creation of nature by the word of God and the creation of man by the action of God. It is by this duality that the two reigns (nature and grace) are constituted, to which correspond two different types of signs (natural and artificial). Each created thing signifies, each created thing is a sign. Man, empowered by the divine gift of liberty, is capable and legitimated to institute signs by his own, naming the creatures, referring to the world and communicating with his own kind. At the same time, the invention of signs enables him to counterfeit the created order of things; man abuses of his liberty and reason, creating and using expressions that are not any longer imitations of the divine word but abstract entities lacking nature, life and truth. To re-establish natural order, Hamann claims a revivification of the human sphere by action (dramatic, rhetoric and economic). It is in this context, that commerce plays a main role as a model for every kind of mechanism that contributes to establish communication K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Eric Achermann 292 and correspondence between men and between man and the world. Divine wisdom having refused natural talents to the human kind it is commerce that has to compensate these deficiencies: the needs of the ones correspond to the abundance of the others and tend to mutual satisfaction. By the ensuing exchange, society is formed. Commerce is an engine and an action that produces liberating energy and thus contributes to the reparation of the fall of man and the re-establishment of a natural balance. This economy of exchange transforms natural as well as artificial signs into value-signs, a process that necessarily implies credit and faith. Es sind eine Reihe von durchaus prononcierten Aussagen, die axiomatisch Hamanns Zeichenphilosophie begründen: 1 “Die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften”, “Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder”, “Jede Erscheinung der Natur war ein Wort”, “das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte - wie die Schöpfung eine Rede ist”, “das ganze Vermögen zu denken beruht auf Sprache”, “die Sprache, das einzige erste und letzte Organon und Criterion der Vernunft”, “Vernunft ist Sprache ”, “Was in Deiner Sprache das Seyn ist, möchte ich lieber das Wort nennen”, “Laute und Buchstaben sind also reine Formen a priori”. 2 Heutigen Lesern - und mit Sicherheit nicht wenigen unter den damaligen - mögen solche apodiktische Äußerungen als undifferenzierte Maßlosigkeiten oder im günstigeren Fall als sinnige Aperçus zum Thema Sprache vorkommen. Betrachten wir die eben zitierten Sätze, so stellt sich in der Tat eine ganze Reihe von Fragen: Wie vermögen Sinne und Leidenschaften nichts als Bilder oder die Natur selbst zu verstehen bzw. in ihrer Wirkung wahrzunehmen, wenn die Erscheinungen der Natur wiederum nichts weiter als Wörter ggf. Worte sind? Wie sollten Natur - und also auch das Wort - sowie Bilder gleichzeitig in der Sinneserfahrung gründen können und Sprache als Ganzes mit Vernunft und Logos identisch sein? Wie kann das Wort als eigentliches Sein und beides als Erscheinung der Natur gedacht werden? Wie schließlich könnte ein materieller Zeichenträger eine reine Form “a priori” sein? Während langer Zeit war es üblich, solche und ähnliche Fragen mit breit variierten Verweisen auf die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erstarkenden, wenn nicht gar bereits herrschenden Irrationalismen verschiedenster Couleur zu erledigen. Nicht selten diente gerade der Verweis auf die vielberufene Dunkelheit und angeblich “Sokratische” Aphorizität Hamanns dazu, seine Sätze “zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten”, 3 zu erklären und es auf die Verknüpfung der Argumente und deren Widersprüchlichkeit bzw. Widerspruchsfreiheit gar nicht erst ankommen zu lassen. Dort nämlich, konnte man erfahren, wo das Leben mit all seiner Vitalität über den Totengräber Intellekt zu stehen komme, dürfe auch keiner zaghaften und lebensfremden Vernunft Rechnung getragen werden. Im gleichen Zuge wurde ein emphatischer Genie- und Naturbegriff Shakespearescher Provenienz gegen die schale Rationalität vernünftelnder Franzosen gesetzt und zum Ausgangspunkt eines deutschen Sonderwegs erklärt. Und war man erst einmal richtig eingespurt, so scheute man weder Mühe noch Mittel: Die rheinische Mystik kam ebenso zu ihrem Recht wie eine kraftmeiernde Lutherfigur, die besseren unter den Griechen halfen unterschiedslos mit, wo immer sie nur konnten u.a.m. Ohne hier detailliert auf die mannigfaltigen Fragen eingehen zu wollen, die im Zusammenhang mit der Zuweisung von Bezeichnungen wie “Rationalismus” und “Irrationalismus” auf Denkströmungen des 18. Jahrhunderts auftauchen, so versuchen die folgenden Überlegungen die Zeichentheorie Hamanns anhand der ihm und einer Reihe seiner Zeitgenossen geläufigen Denkkonzepte zu rekonstruieren. Als absolut zentral wird sich dabei das Zeichenhandel 293 Konzept der Handlung erweisen, welche die Analogie zwischen Zeichen- und Werttheorie sowie zwischen Tausch- und Kommunikationslehre begründet. 1. Gott, Wort und Welt Für Hamann ist, ohne jeden Zweifel, Gott als der absolute Ursprung von Vernunft, Welt, Regierung und Sprache zu erachten. 4 Gottes Tun ist vorzüglich eine Rede und diese in ihrem ursprünglichen Moment ein performativer Sprechakt. Durch das Sprechen gewinnen die sprachlichen Elemente faktische Existenz und anschauliche Gestalt, woraus wiederum - mit Verweis auf den 19. Psalm 5 -eine Kommunikationsgemeinschaft hervorgeht: “Rede, daß ich Dich sehe! Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern.” 6 Zeitgleich und untrennbar geht mit dem Akt der Schöpfung ein Akt der Mitteilung einher, sind doch die erschaffenen Gegenstände von sich aus “sagend”, für andere “kundbar”. Für Hamann ist Gott also Autor oder Poet im eigentlichsten Sinne, da er im Akt des Sich-Äußerns nicht nur Sein, sondern gleichzeitig auch Sinn stiftet. Als versierter “Schriftsteller” 7 arbeitet Gott in beiden Gattungen, der epischen und dramatischen, 8 und entwirft nebst der Natur als Bühne und Kulisse auch die handelnden Figuren, die “dramatis personae”: “Die Schöpfung des Schauplatzes verhält sich aber zur Schöpfung des Menschen: wie die epische zur dramatischen Dichtkunst. Jene geschah durchs Wort; die letzte durch Handlung.” 9 Im Anfang war also das Wort, und es war bei dem vorzüglichsten aller Literaten, Gott. 10 Als Epiker veräußert er sein Wort in der Natur (Gott sprach und es ward), als Dramatiker hingegen in der Schöpfung von Handlungsfiguren (Gott schuf - und zwar mit einer bestimmten Anstrengung - den Menschen). Wort und Handlung bilden so für Hamann die spezifisch menschliche Wirksphäre, nämlich Natur und Geschichte. 11 Hamanns Verbindung von Heilsökonomie und poetologischer Gattungslehre erscheint dabei als durchaus originell: Die Schöpfung der Natur - der ersten Natur - liefert den Schauplatz und ist dem Erzählen analog; auf diesem Schauplatz findet die Handlung oder die Heilsgeschichte statt, die ihrerseits das Reich der Gnade konstituiert - eine zweite oder neue Natur also. 2. Gott, Wort und Mensch Um die Bedeutung von Hamanns Auslegung der Schöpfung für seine Lehre von der menschlichen Sprache zu ermessen, ist es nötig, diese beiden Aspekte der Schöpfung, die mit “Wort” und “Handlung” bezeichnet werden, immer im Auge zu behalten. Hamann nämlich versteht das Verhältnis zwischen göttlicher Rede als Schöpfungssowie Mitteilungstat und menschlichem Reden und Tun als Analogie: “Alles Göttliche ist […] auch menschlich; weil der Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der Analogie seiner Natur, sie sey eine so einfache oder zusammengesetzte Maschiene, als sie will. Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung.” Und weiter: “Wenn aber ein höheres Wesen, oder ein Engel, wie bey Bileams Esel, durch unsre Zunge wirken will; so müssen alle solche Wirkungen, gleich den redenden Thieren in Aesops Fabeln, sich der menschlichen Natur analogisch äußern, und in dieser Beziehung kann der Ursprung der Sprache und noch weniger ihr Fortgang anders als menschlich seyn und scheinen. Daher hat bereits Protagoras den Menschen mensuram omnium rerum genannt.” 12 Eric Achermann 294 Die Kommunikation zwischen Gott und Mensch muss also nach Maßgabe der menschlichen Natur geschehen, welche die ganze Produktions- und Rezeptions-, Wirk- und Leidenssphäre des Menschen bestimmt. War mit dem Begriff der “Analogie” für die Scholastik eines der Grundprobleme der Onto-Theologie ausgedrückt, nämlich ob das Prädikat “sein” auf Gott und Kreatur bezogen von gleicher, univoker oder eben bloß von analoger bzw. äquivoker Bedeutung sei, 13 so erfährt dieses Problem bei Hamann eine überraschende Lösung, indem er die Analogie und damit den Verlust an Eigentlichkeit aus einer rhetorischen Notwendigkeit heraus erklärt. Der gesamte Schöpfungsprozess wird als ein Akt der Herablassung gedacht, wodurch der vollkommene und unbegrenzte Gott sich in der und durch die begrenzte Natur mitteilt. Die Kondeszendenz oder Herablassung ( , condescendentia), auf deren Bedeutung für Hamanns Denken die Forschung wiederholt aufmerksam gemacht hat, 14 kann auch in ihrer grundlegend theologischen Bedeutung als eine Figur verstanden werden, die aus der zentralen rhetorischen Kategorie der Angemessenheit ( , decorum) resultiert. Ihre relative Popularität seit dem 17. Jahrhundert verdankt die Idee der Kondeszendenz der Hermeneutik des Alten Testaments, die versucht einen Teil der Gesetze aus der Mentalität und den Sitten der Juden zur Zeit Moses zu erklären und dadurch auch in ihrer Bedeutung und Verbindlichkeit zu relativieren. 15 Hamann nun radikalisiert den Gedanken, indem er die Kondeszendenz nicht als einen historischen bedingten Mangel an Verstandeskräften und sittlicher Bildung versteht, sondern vielmehr als eine notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit von Kommunikation überhaupt, wie sie in der Dreiecksbeziehung zwischen Gott, Natur und Menschen stattfindet. Die Herblassung betrifft so nicht nur etwa die von Gott durch Moses bzw. die Hl. Schrift offenbarte Wahrheit, sondern ebenso die Mitteilung, wie sie durch die Schöpfung an den Menschen ergeht. 16 Ja, Hamann behauptet gar einen weitergehenden, gleichsam Leibnizschen Kommunikationsbegriff, 17 wenn er unter Verweis auf den 19. Psalm nicht nur den Himmel als den Künder Gottes, sondern Tag und Nacht sowie jede Kreatur gleichzeitig als Sprecher und Hörer verstanden sehen will. Die göttliche Herablassung “in” die Natur erfährt anschliessend durch die biblische Offenbarung und die Menschwerdung Gottes eine “Dramatisierung”, die durch die tragische Erweiterung der Fallhöhe nach dem Sündenfall noch verstärkt wird: War die Herablassung im Akt der Mitteilung durch die Kreatur an die Kreatur zwar bereits ein unbegreifliches Wunder, so erscheint die unermessliche Güte dieser Worttat durch die Handlungstaten, sich dem Menschen direkt als einem gleichartigen mitzuteilen und ihn dadurch zu seinesgleichen zu machen (nach unserem Bilde), ihm anschließend die Mittel zu seinem Heil zu offenbaren und schließlich in Menschengestalt selbst und zwar auf eigener Bühne mitzuwirken, als grenzenlos. 18 Die zentrale rhetorische Bedeutung der Kondeszendenz-Figur beruht auf der Einsicht in die Unmöglichkeit bzw. Wirkungslosigkeit der Äußerungen eines Redners, dessen politische, soziale oder intellektuelle höhere Stellung im Akt der Kommunikation dem Hörer als Barriere erscheinen muss. 19 Will sich ein, in welcher Hinsicht auch immer, Höherstehender einem Tieferstehenden mitteilen und auf ihn einwirken, so muss er sich auf die Ebene des letzteren bequemen. Kondeszendenz ist in diesem Zusammenhang also eine Spezialform rhetorischer “accommodatio”. 20 Als solches liegt ihr vorzüglicher Ort im Exordium, da es gilt, vorerst einmal die Ebene zu schaffen, auf der ein Austausch funktioniert, oder - gemäss dem zitierten Wort Hamanns - die “mensura” zu finden. Dabei ist es immer die Vorstellung vom anderen, das heißt desjenigen der angeredet wird, die dem Sprechenden als das Maß aller gelungenen Mitteilung erscheint. Aus der kommunikativen Notwendigkeit der Kondeszendenz resultiert das Verhältnis der Analogie, das Gott zwischen sich und der Kreatur zu bilden hat, falls er Zeichenhandel 295 sich dieser mitteilen möchte. Auffällig ist nun, dass sich die Herablassung Gottes bei Hamann nicht dem Schicklichkeitsgebot im Sinne von “Decorum” oder “Harmonie” ( µ ) fügt, da sich für Gott die erschaffene Natur inklusive dem Menschen nicht als ein Schickliches erweisen kann, sondern dass Gott sich dabei ganz und gar und willentlich in einen tiefen Abgrund stürzt und dadurch seine Einheit in der körperlichen Mannigfaltigkeit aufs Spiel setzt. Auch unter dem Aspekt der Kondeszendenz findet sich so die Dichotomie von Wort und Handlung gewahrt, da Gott in seiner Entäußerung in der Natur sich ebenso den Sinnesfähigkeiten der Kreaturen “akkommodiert”, wie er es in der Geschichte dem menschlichen Urteilsvermögen tut. 21 Die göttliche Äußerung ist Schöpfung, Selbstmitteilung und Bildung einer Kommunikationsgemeinschaft: Indem Gott schafft, erschafft er sich durch Sprache einen Anderen, dem er sich mitteilt und durch den er sich offenbart. Mit Bühler könnten wir das Zeichen des göttlichen ursprünglichen Sprechaktes funktional differenzieren: Das Wort drückt durch die Kreatur die Innerlichkeit des Senders aus (Symptom), bringt diese Kreatur zur Darstellung (Symbol) und appelliert an eine Kreatur (Signal). 22 Im Gegensatz zu Bühlers Zeichentheorie sind jedoch alle drei Funktionen des Zeichens performativ gedacht, das heißt das Wort wird nicht in Ansehung einer supponierten Welt gebraucht und zu verstehen versucht, sondern konstituiert Welt und Adressaten. 3. Der Mensch als Mime Nach Ansicht Hamanns ist der Ursprung alles Seienden also bei Gott bzw. beim wirkenden Wort. 23 Gleichzeitig geht er davon aus, dass jedem bewussten Akt, sei er Schöpfung oder Rede, sowohl Autorität als auch Intentionalität zu Grunde liege, wodurch eine körperliche oder sprachliche Äußerung in Hinblick auf den Äußernden Bedeutung erhält. 24 In dieser gleichzeitig ursächlichen und semiotischen Beziehung erkennt Hamann - bestärkt durch seine etwas eigenwillige Auslegung von Humes Kritik am Kausalitätsbegriff 25 - das zentrale Moment der Glaubenstätigkeit. 26 Für Hamann ist der mechanizistisch-naturwissenschaftliche Grundsatz, dass eine jede Wirkung eine Ursache habe, nichts anderes als eine Säkularisierung des Glaubens, der darauf aus ist, das grundlegend Subjektive einer jeden Kausalitätserfahrung zu leugnen. 27 In beiden Fällen nämlich, sowohl in seinen Glaubensüberzeugungen als auch in seinen Kausalerklärungen, mache der Mensch seiner eigenen Natur entsprechend aus den wahrgenommenen Ereignissen Wirkungen einer Ursache, Werke eines Schöpfers bzw. Zeichen eines Bewusstseins und dies ohne weiterreichende Gewissheit als diejenige, die ihm von starken Eindrücken oder gewohnheitsmäßigen Erfahrungen zukomme. 28 Darüber hinaus neige der Mensch dazu, wiederum auf der Grundlage der Intensität und Frequenz von Eindrücken, gewisse Eigenschaften von der Wirkung auf die Ursache zu übertragen, das heißt einem Verursacher analoge Eigenschaften desjenigen zuzuschreiben, was er verursacht hat. Dies geschieht etwa, wenn er hinter einer intelligenten Äußerung einen intelligenten Kopf oder - um auf den 19. Psalm zurückzukommen - hinter der Größe des Firmaments die Größe oder Ehre Gottes als gewiss erachtet. Für Hamanns ist es natürlich, recht und gottgewollt einen jeden sinnliche Eindruck als ein Zeichen zu erfahren. Die menschliche Sinneserfahrung werde durch körperliche Geschöpfe bewirkt, die als Ausdruck einer Ursache zu erachten sind und darüber hinaus auf Eigenschaften des Schöpfers schließen lassen. Die wirkursächlichen Beziehungen, die Hamann konsequent als semiotische behandelt, gründen so - wie bei Hume 29 - in der subjektiven Eric Achermann 296 Erfahrung, nicht in den Objekten. Die subjektive Erfahrbarkeit und der semiotische Charakter der gesamten Schöpfung wird jedoch erst durch die Annahme einer gleichzeitig zeichenhaften als auch kausalen Begründung der Naturdinge vollständig realisiert. Erneut lässt sich so ein Zug hin zur rhetorischen Begründung von Theologie und Naturphilosophie feststellen: An die Stelle von objektiver Wahrheit tritt Gewissheit als subjektive Überzeugung ( ), 30 die auf intensiven, evidenten Wahrnehmungen und gewohnheitsmäßigem Wissen aufbaut und ihrerseits wiederum Evidenz und Gewohnheit befestigt. 31 Die Schöpfung ist so eine Rede durch die Kreatur an die Kreatur, womit jedoch noch nicht gesagt ist, dass die Kreatur dem Schöpfer antwortet, noch eine Kreatur sich mit einer anderen frei austauscht. Die Mitteilung der Kreatur an die Kreatur wird erst durch den Glauben ins Bewusstsein erhoben und dies setzt ebenso Freiheit und Handlungsmächtigkeit voraus, wie die Veräußerung des subjektiv Erfahrenen durch den Erfahrenden. Im Reich der Natur sind die Kreaturen zwar Zeichenträger und Zeichenempfänger, jedoch weder Zeichendeuter, noch Zeichensender im eigentlichen Sinne und schon gar nicht Zeichenbildner. Als einziges handlungsmächtiges Subjekt erscheint hier Gott. Um Hamanns Theorie der Menschensprache zu verstehen, muss dieser Übergang von der Kreatur als Zeichenträgerin und -vermittlerin zum Menschen als Subjekt des Zeichentausches genauer erfasst werden, das heißt desjenigen, was Hamann “communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum” nennt. Im Gegensatz zur göttlichen Mitteilung durch die Kreatur an die Kreatur beruhen die Zeichenhandlungen im Reich der Gnade oder menschlicher Freiheit auf Gegenseitigkeit, sie sind ein Austausch oder “Wortwechsel”. 32 Entspringt also der Zeichencharakter des göttlichen Wortes einzig dem Schöpfungsakt, der die Geschöpfe qua Autorität und Intentionalität zu Zeichen des Schöpfers macht und diese ihn also bezeichnen, so werden die Zeichen in dem prominentesten Medium menschlicher Kommunikation, der Sprache, den Gegenständen der Schöpfung als Namen gegeben. Der Akt des Benennens erscheint als ein wichtiges Element für dasjenige, was nach Ansicht Hamanns die dramatische Qualität des Menschen ausmacht: Alle Farben der schönsten Welt verbleichen: so bald ihr jenes Licht, die Erstgeburt der Schöpfung, erstickt. […] Jede Kreatur wird wechselsweise euer Schlachtopfer und euer Götze. - Wider ihren Willen - aber auf Hofnung - unterworfen, seufzet sie unter dem Dienst oder über die Eitelkeit; sie thut ihr Bestes eurer Tyranney zu entwischen, und sehnt sich unter den brünstigsten Umarmungen nach derjenigen Freyheit, womit die Thiere Adam huldigten, da GOTT sie zu dem Menschen brachte, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heißen. 33 Gott zediert dem Menschen das Recht, als Zeichenstifter aufzutreten. Der Sprachursprung erscheint also als ein Analogon der ursprünglichen Schöpfungstat, das auf der Veräußerung der Macht und des Rechts beruht, Namen zu geben. Namengebung und Schöpfungstat erscheinen als “Einsetzungen”. Daraus ergibt sich aber gleichzeitig und notwendig auch die Gefahr der Despotie, die das freie Spiel der Nachahmung der Schöpfungstat in blutige Unterdrückung verkehrt: Selbst die Ungleichheit der Menschen und der gesellschaftliche Contract sind daher Folgen einer ursprünglichen Einsetzung; denn, nach der ältesten Urkunde, gab eine sehr frühzeitige Begebenheit (welche der Wiege des menschlichen Geschlechts so angemessen ist, daß die Wahrhaftigkeit ihrer Erzählung aller Zweifelsucht den Schlangenkopf zertritt und alle Fersenstiche der Spötterey lächerlich macht) bereits zur Unterwürfigkeit des Weibes unter dem Willen des Mannes Anlaß - - Adam war also Gottes; und Gott selbst führte den Erstgebornen und Ältesten unsers Geschlechts ein, als den Lehnträger und Erben der durch das Wort seines Mundes fertigen Welt. Engel, Zeichenhandel 297 lüstern sein himmlisches Antlitz anzuschauen, waren des ersten Monarchen Minister und Höflinge. Zum Chor der Morgensterne jauchzeten alle Kinder Gottes. Alles schmeckte und sah, aus erster Hand und auf frischer That, die Freundlichkeit des Werkmeisters, der auf seinem Erdboden spielte und seine Lust hatte an den Menschenkindern - Noch war keine Creatur, wider ihren Willen, der Eitelkeit und Knechtschaft des vergänglichen Systems unterworfen, worunter sie gegenwärtig gähnt, seufzet und verstummt, gleich dem delphischen Dreyfuß und der antimachiavellischen Beredsamkeit des Demosthenes an der Silberbräune; oder höchstens in der wassersüchtigen Brust eines Tacitus keucht, röchelt und zuletzt erstickt - - Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, - das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigern Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort. Mit diesem Wort im Mund und im Herzen war der Ursprung der Sprache so natürlich, so nahe und leicht, wie ein Kinderspiel; […]. 34 Ganz analog der Dichotomie einer Schöpfung der Natur durch das Wort und einer Schöpfung des Menschen durch Handlung wird hier ein Zweiphasenmodell der Geltung von Zeichen im Bereich nun der menschlichen Sprache entworfen: Auf eine ursprüngliche Einsetzung eines Zeichens folgt die Phase, in der das geprägte Zeichen durch Übereinkunft (conventio) oder Zwang (impositio) verbindlich gemacht wird. 35 Hamann nun verbindet die Konzepte der Zwei-Reiche-Lehre theologischer und das Zweiphasenmodell der Herausbildung von gesellschaftlicher Verbindlichkeit mit der bereits erwähnten poetologischen Gattungstheorie. Die beiden Schöpfungsakte Wort und Handlung konstituieren so unterschiedliche Reiche: Während die Natur Gottes Größe und Ehre erzählt, erhält der Menschen die Freiheit, zu handeln, auf der Bühne zu spielen. 36 Im Reich der Natur verhält sich Gott als Schöpfer, als derjenige der Zeichen stiftet oder einsetzt, im Reich der Gnade überträgt er durch Handlung dem Menschen die Fähigkeit, analog zu ihm, Gott, frei Zeichen zu stiften und Dinge zu bezeichnen. Die dramatische Gattung setzt jedoch nicht nur Freiheit und Eigenmächtigkeit der agierenden Personen voraus, um einen gegebenen Text reproduktiv in Handlung zu bringen, sondern setzt die Vorstellung von Freiheit und Eigenmächtigkeit der Figuren notwendig voraus, um die illusionäre Natürlichkeit der dramatischen Wirkung auf den Zuschauer zu begründen. 37 Der auf Handlung bedachte Dramatiker überträgt also in erster Linie seine Autorität auf die Szene, in die hinein er seine Figuren stellt, und er tut dies - ganz im Gegensatz zum Epiker - eingedenk der Möglichkeit von Freiheit: “il faut point donner d’esprit à ses personnages; mais savoir les placer dans des circonstances qui leur en donnent.” 38 Darin, in der aporetischen oder zumindest spannungsvollen Koexistenz willentlicher Schöpfung und Freiheit der Geschöpfe liegt das konstitutive Moment, welches das Reich der Freiheit von demjenigen der Natur unterscheidet und daraus geht die Ebenbildlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf hervor. Der gute Darsteller, der Wahrheit zum Ausdruck bringt, versucht jedoch seiner Vorlage der Natur gerecht zu werden, indem er natürlich spielt. So ist die Freiheit des Menschen in ihrem Telos von Anbeginn weg auf Reproduktion angelegt, das heißt auf die Darstellung von Natur und Befolgung der Natürlichkeit. Gott gewährt ihm hierzu den Theaterraum, in den er sich zu schicken hat, will er gut und richtig spielen. Durch das Geschenk der Freiheit wird der Mensch befähigt, als Subjekt aufzutreten, also selbst Zeichen zu bilden und diese zu senden. Auf die göttliche Einsetzung des Wortes, das dem Menschen als ein Gegebenes und seinen natürlichen Fähigkeiten Angemessenes erscheint, folgt die Möglichkeit selbst Worte zu stiften und so Gott nachzutun. Dieser Vorgang ist ein natürlicher Vorgang: Die Sinne erleben, das Herz wird voll, die Zunge setzt sich in Eric Achermann 298 Bewegung. Es ist ein Kinderspiel, denn mühelos ahmt das Kind den sich zu ihm herablassenden Lehrmeister nach und lernt dadurch selbst zu erfinden: 39 Ohne die Freiheit böse zu seyn findt kein Verdienst und ohne die Freyheit gut zu seyn keine Zurechnung einiger Schuld, ja selbst keine Erkenntniß des Guten und Bösen statt. Die Freyheit ist das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte, und sowol der Grundtrieb als Endzweck ihrer ganzen Richtung, Entwickelung und Rückkehr. Daher bestimmen weder Instinct noch Sensus communis den Menschen; weder Natur= noch Völkerrecht den Fürsten. Jeder ist eigener Gesetzgeber, aber zugleich der Erstgeborene und Nächste seiner Unterthanen. Ohne das vollkommene Gesetz der Freyheit würde der Mensch gar keiner Nachahmung fähig seyn, auf die gleichwol alle Erziehung und Erfindung beruht; denn der Mensch ist von Natur unter allen Thieren der größte Pantomim. 40 Die menschliche Fähigkeit, in Analogie zu Gott Zeichen einzusetzen, konstituiert den Menschen gleichzeitig als freies Subjekt und als Darsteller. Für Hamann nun stellt diese aporetisch freie Nachahmung, die er der “conditio humana” als angemessen erachtet, eben dasjenige dar, was er als “Handlung”, als “actio” oder auch einmal als “Hypokrisis” 41 bezeichnet. So ist die menschliche Erkenntnis- und Sprachtätigkeit analoge Umkehrung der doppelten göttlichen Schöpfungstätigkeit: Als Mimesis einer ursprünglichen Poiesis gründet sie auf der “Rezeptivität” der ersten und “Spontaneität” der zweiten Natur. 42 Für den Menschen fungiert Sprache relativ zum Reich der Natur und des göttlich schöpferischen Wortes hauptsächlich als rezeptives, ästhetisches Kritierion, relativ zum Reich der Freiheit aber als Organon der Selbsttätigkeit oder Spontaneität. Hamann unterscheidet also ein Zeichenverstehen, das dem Wort gilt und in der Natur seinen vorzüglichen Gegenstand hat, von einem Zeichenhandeln, das der Einsetzung von Zeichen zur Benennung der Natur und anschließend dem Austausch der Zeichen dient. Beide Seiten, die rezeptive und die produktive, kommunizieren und korrespondieren im mimetischen Handeln des Menschen. Das Kriterion, das die Mimesis und somit sowohl das Zeichenverstehen als auch das Zeichenhandeln regelt, liegt in dem Gegebenen begründet, nämlich Natur und Offenbarung, die ihrerseits als Mitteilungen aus den fundamentalen Prinzipien der beiden Reiche, Wort und Handlung, hervorgehen. 43 Ahmt der Mensch als Epiker oder Dichter die Dinge der Natur nach und bringt er sie poetisch “in Geschick”, 44 so neigt er sich stärker dem Pol des Wortes zu und verhält sich spielend und lernend, bedient er sich hingegen der Kunst der rhetorischen “actio” oder einer an Sokrates geschulten “rhetorica sacra”, so nimmt er als Schauspieler weniger die Schöpfung als vielmehr das Schöpferische, das Begeisternde sich zum Vorbild. Beide Nachahmungen bezeichnet Hamann mit dem poetologischen Terminus “Mimesis” bzw. “Nachahmung” und bedient sich ausgiebig verschiedener Derivate wie “Mimikry”, “Pantomime” und “mimisch”. Er greift so ganz grundlegend die doppelte poetologische Bedeutung des Terminus “Mimesis” auf, wie sie in der antiken Poetik sowie in der Folgezeit geläufig ist und aufgrund dieser Ambiguität einige Verwirrung gestiftet hat und noch stiftet. Etwas vereinfacht gesprochen müssen wir eine “Mimesis 1 ” als symbolische von einer “Mimesis 2 ” als szenische Repräsentation unterscheiden. 45 Aus der Zahl aspektuell differenzierter Bedeutungen von “Mimesis 1 ”, die wir bei Aristoteles ausmachen können, 46 sind es - ganz dem zeitgenössischen Verständnis entsprechend - die Aspekte der Natürlichkeit und Ähnlichkeit, die Hamann favorisiert: Schon als Kind empfindet der Mensch den Trieb, die Dinge um ihn herum, spielend nachzubilden. 47 “Mimesis 2 ” hingegen erscheint als Gegenbegriff zu “Diegesis”. 48 Zeichenhandel 299 Aus dem Blickwinkel der ursprünglichen “Einsetzung” von Sprache, Welt und menschlichem Regiment müssen wir also zwei Sprach- oder Zeichenebenen unterscheiden, die bei allen Äußerungen Hamanns zur Sprache fundamental bleiben: ein Wort der Natur und ein Sprechen der Handlung. Das Wort, das Natur macht und durch Natur ist, darf jedoch nicht als ein rein monologisches verstanden werden, das erst die Erschaffung des Menschen zu einem dialogischen machte, sondern konstituiert den Wirkzusammenhang der Natur, der wiederum in der Kommunikation der Kreaturen untereinander besteht. Gott gibt den Dingen und Lebewesen also in einem Akt Sein, Sinn und die Fähigkeit, sich mitzuteilen. Es ist diese Form, die Hamann als episch erachtet, als eine Erzählung also, die sich durch das objektive Berichten einer unbeteiligten Person, eine bestimmte Breite des Erzählens, Versform und einen Anfang “in medias res” auszeichnet. 49 Davon setzt sich die subjektiv geprägte Welt des Dramas ab, dessen Handlung sowohl abrupter als auch in einem höherem Maße als das Epos von den Entscheidungen und dem Widerspiel einzelner sowie durch die Dialogizität des Worttausches geprägt ist. Gott als Schöpfer von Welt unterscheidet sich also dadurch vom Menschen, dass er im Akt der Äußerung von Welt die Welt erschafft. Gott ist reine Aktualität und vollständiger Poet, sein Vorstellen und Darstellen von Welt ist mit dem Werden und Sein von Welt identisch. 50 Anders der Mensch: Als das Sinneswesen, das er Hamann zufolge ist, sieht er sich gezwungen, nach Vorbild der geschaffenen, ihm vorgängigen Natur zu reproduzieren. In der Wirksphäre des Menschen ist die Bedeutung von “Schöpfung” und “Sein” nicht koextensiv. Die Welt, die der Mensch vorfindet, ist bereits “eingesetzt” und erscheint ihm als ein objektiv Gegebenes, in dessen Umstände er sich zu fügen hat. Die Gottebenbildlichkeit des Mensch gründet primär in der Gemeinschaft, welche die Kommunikation zwischen Gott und Mensch stiftet, und wird durch Gemeinschaft bestärkt. Die Schöpfung durch Handlung erscheint also als eine gesellschaftliche Vervollkommnung der Naturschöpfung durch das Wort. Sie ist nötig, da ohne sie die eingesetzten und folglich unterschiedlichen Dinge (Gott schied den Himmel und die Erde und er schuf die Pflanzen und Tiere nach ihrer Art) keine Verbindung untereinander hätten, da bei Hamanns Skepsis gegenüber “starken” Kausalerklärungen erst das Subjekt Verbindungen zwischen den sinnlich erfahrbaren Dingen herstellt. Mit der Erschaffung des Menschen schließt Gott so den Kreis seiner Veräußerung in den Objekten, indem er sich Gesprächspartner gibt, die seine Schöpfung zur Einheit zu bringen und ihm zu antworten vermögen. 4. Zeichentausch Im Zustand der Natur, der von sinnlicher Rezeptivität und der Isomorphie von Eindruck und Ausdruck geprägt ist, verwaltet Adam die Welt in Minne. Obzwar der natürliche Mensch durch göttliche Handlung der Freiheit befähig ist, leitet ihn sein Wille im Einklang mit der Natur, die Gottes Wort ist; er verhält sich in diesem Zustand adäquat, indem er als Bevollmächtigter Gottes - als dessen Repräsentant oder Darsteller - die Welt als ein ihm übertragenes Lehen genießt und das Wort durch die Kreatur sowohl sinnlich und direkt aufnimmt als auch wiedergibt. In dieser anfänglichen Harmonie von Natur, Wort und Handlung gründet Hamanns Naturphilosophie, die als “semiotischer Naturalismus” bezeichnet werden kann. Es ist dieser semiotische Naturalismus, der hinter seinem wohl berühmtesten Diktum steht: Eric Achermann 300 Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, - als Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüsse: Tausch, - als Handel. 51 Analog zu einer sensualistischen Position wie derjenigen Condillacs 52 erkennt Hamann die ursprüngliche und natürliche Zeichenfunktion in der engen Verbindung, die sowohl Eindruck und Ausdruck 53 als auch Zeichenträger und Bedeutung eingehen: Die Stimme moduliert den begeisternden Eindruck zum Gesang, die sinnlich erfahrenen Gegenstände dienen der Argumentation, der Tausch konkreter Körper deckt die Bedürfnisse etc. Anders als Condillac bewertet Hamann jedoch die ursprüngliche Natürlichkeit der Kultur sowie den anschließenden Zivilisationsprozess relativ zur Zäsur, die durch die Vertreibung aus dem Paradies verursacht wird. Sündenfall und Vertreibung stehen für Preisgabe und Verlust eigentlicher Freiheit, die der Mensch aufgrund seiner sich autonom setzenden und despotisch gebärdenden Vernunft selbst verschuldet hat. Nur der sich in Knechtgestalt entäußernde Gott vermag ihm die Freiheit wiederzugeben, da er gesandt ist, den Menschen aus seiner Entzweiung mit der Schöpfungsordnung zu erlösen. 54 Um das Heil seiner Seele willen ist der Mensch aufgefordert, Jesus nachzuahmen. Kommunikation setzt für Hamann wesentlich diese “Gesinnung” voraus, “gleich wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch” in “handlungsvoller” Rede dem anderen sich gleich zu machen. 55 Der Gesinnung entsprechen “Wahrheitsgründe”, der Handlung aber “Bewegungsgründe”. Wer diese scheidet und so den Verstand vom Willen unabhängig erklärt, trennt die “göttliche und menschliche Einheit” und bringt Tod über die Gemeinschaft, die zu einem “Körper ohne Geist und Leben” wird. 56 Ist harte Arbeit und Knechtschaft das Signum der menschlichen Gemeinschaft nach dem Fall, so steht das Paradies unter der Vorstellung des freien Austausches: Wort und Handlung, Eindruck und Ausdruck, Rezeption und Produktion, Gott und Mensch etc. sind in steter Kommunikation begriffen. Die Schöpfungstat findet in der Befähigung des Menschen, Antwort zu geben und dadurch Korrespondenzen zu stiften - dem Zweck und der Möglichkeit nach, zumindest - Abschluss und Vollendung. In dem Trieb, das durch die Einsetzung der Ungleichheit Dissonante zu harmonisieren, liegt die Bestimmung des Menschen, die Gott diesem als spezifische Natur und Anlage zugeteilt hat. Kommunikation resultiert auf alle Fälle aus dem Bedürfnis, 57 die eigene Unvollständigkeit zu komplettieren, sowie aus der Lust, die durch die Korrespondenz der Kreaturen untereinander und mit dem Menschen entsteht. So ist es auffällig, dass Hamann auch die Freundschaft - und Hamann widmet ihr nicht nur in seinen frühen Schriften einen eigentlichen Kult 58 - aus dem Harmoniebedürfnis heraus erklärt: Freundschaft - unter jedem Contrast - Harmonie - die im Gebrauch der Dissonantzen besteht und wie die Italiener halbe Töne liebt - das sind die Quellen, die mich so briefreich an Sie allein machen, […]. 59 Für Hamann ist der Trieb nach Austausch und Bildung von Gesellschaft in der Dissonanz der einzelnen Erscheinungen und dem Bedürfnis nach Harmonie gegeben. In der Bildung harmonischer Geselligkeit, in der freien Vergesellschaftung (Assoziation) der Dinge, sieht Hamann den Telos des Menschen als politischem Lebewesen. Hierzu aber bedarf es einer neuen, menschlichen Zeichenordnung: Sind nämlich die Dinge der Natur als Einsetzung durch das Wort gleichsam gesetzte und von einander geschiedene Elemente, so braucht es ein Kriterium und einen Kanal, um die Dinge miteinander in Korrespondenz zu bringen. Das ursprüngliche Wort, durch welches Gott die Natur schafft, ist alles andere als dasjenige, was gemeinhin als zeichenhaft erachtet wird: Das Wort der Natur wirkt nicht anstelle Zeichenhandel 301 einer Kreatur auf die Kreatur, sondern durch die Kreatur auf die Kreatur. Das ursprünglich Wort ist ein natürliches Zeichen, dessen Natürlichkeit im Zusammentreffen von Sein- und Sinnstiftung im Akt der Einsetzung geschieht, während die Zeichen der Menschensprache auf Übereinkunft oder Zwang gründen. Das göttliche Wort ist also durch und durch “präsentisch”, das heißt: Ein Gegenstand ist und bezeichnet sich in erster Linie als Wesen seiner Art selbst und darüber hinaus verweist er auf seinen Schöpfer, der ihm die Kraft gegeben, zu sein und zu bedeuten. Auch wenn also Gott die Dinge in zeitlicher Folge einsetzt, so sind die Kreaturen im Reich der Natur bei sich und ihre zeichenhafte Bedeutung ist eine unmittelbare Folge ihrer Erscheinung, die sich aus einer existentiellen Relation heraus ergibt. Dies ändert sich mit der Schöpfung des Menschen, der die Kraft zur Reproduktion erhält und damit auch die Fähigkeit, Sein und Sinn zu unterscheiden. Verweisen Sachen bestenfalls als Exempel auf ihre Art und als natürliche Zeichen auf ihre Ursachen, 60 so wirken die künstlichen Zeichen, die der Mensch entwirft und einsetzt, ganz allgemein aufschiebend. Die Nachahmung bedarf eines vorgängig existierenden Originals, das durch Handlung nachgebildet wird. Bereits im Fall der Pantomime, in dem der Körper des Zeichenträgers quasi am präsentesten erscheint, ist der Mensch als nachahmender von der nachzuahmenden Natur getrennt. “Nachahmung” bedeutet notwendig, dass dasjenige, was zur Darstellung kommt, durch Verweis einen Gegenstand, eine Handlung oder eine Empfindung darstellt. Künstliche Zeichen sind Mittel und ihre Verwendung Vermittlung. Für den paradiesischen Adam ist diese Vermittlung eine harmonische: Die gelungene Nachbildung der Dingwelt in der Zeichenwelt geht einher mit der Empfindung von Lust, einer kindlichen Freude an der Übereinstimmung und am Wiedererkennen des Selbst-Erschaffenen. Die Empfindung, die seine nachbildende Tätigkeit als Ausdruck begleicht, stimmt mit der Empfindung des Eindrucks überein. Hier, auf der Ebene der Empfindung, ist die Unmittelbarkeit und die Wahrheit des Ausdrucks garantiert, die in der Transformation des Erhaltenen (des lebendigen Wortes) durch lebendige Handlung in ein Zeichen geschieht, das nun seinerseits gegeben werden kann. Der Motor der Transformation ist die natürliche Lust an der Zeichenproduktion, deren Telos in der Gesellschaftsbildung durch Kommunikation liegt. Die Lust des Reproduzierens erscheint als Ausdruck eines natürlichen Triebs, der seinerseits weiterverweist auf diejenige Lust, die dem Menschen aus der Gemeinschaft erwächst. Handlung, Tausch und Gemeinschaftsbildung sind so aufs engste miteinander verbunden. Freiheit und der Gebrauch von Zeichen sind ebenso wie Zeichen und Bewusstsein notwendig miteinander korreliert: 61 Die Zeichen ermöglichen die bewusste Wahrnehmung der Dingwelt erst, indem sie durch ihrer aufschiebende Wirkung Raum und Zeit dem Bewusstsein eröffnen. 62 Die Welt des Mensch ist so von Anfang weg (genetisch) und notwendig (transzendental) eine Zeichenwelt. So führt das göttliche Geschenk der Freiheit, das den Menschen dazu befähigt, selbst als Einsetzender aufzutreten, notwendig zur Scheidung präsentischer und repräsentativer Zeichen und impliziert einen temporal und modal differenzierten Ausdruck von Wirklichkeit: Der Mensch wird durch die Zeichen befähigt, zeichenhaft zu äußern, was jetzt, nicht mehr oder noch nicht bzw. tatsächlich, möglich oder unmöglich ist. Ein natürliches Zeichen hingegen setzt die faktische Präsenz eines Körpers in einem Jetzt und Hier voraus. War das bloße Auftreten des Wortes in den fünf Tagen der Schöpfung von körperlicher Realisierung ungeschieden, so erscheint mit der Schöpfung des Menschen ein neuer Zeichentypus, der unabhängig von Wirklichkeit Gegenstände bezeichnen kann. Damit stellt sich mit der Erfindung künstlicher Zeichen die Wahrheitsfrage als eine vordringliche. Um dasjenige fassen zu können, was Hamann uns vom Ursprung und der Entwicklung der Menschensprache lehrt, muss an dieser Stelle die Unterscheidung von Wort und Handlung weiter Eric Achermann 302 differenziert werden. Für Hamann ist die menschliche Zeichenverwendung nach zwei Aspekten zu unterscheiden: dem paradiesischen und dem Zustand nach dem Fall. Der Sündenfall markiert den Punkt in der Verwendung von Zeichen, wo dem Sprechenden bewusst wird, dass die aufschiebende Wirkung der Zeichen ihm erlaubt, etwas auch unabhängig von den Gegebenheiten zu bezeichnen: Adams zweiter Sprechakt - nach der Benennung der Geschöpfe und Evas - ist Verstellung und Lüge. So kann die Zweiteilung der Schöpfung durch Wort und Handlung durch ein drittes Moment ergänzt werden: dem Missbrauch der Freiheit durch die eigenmächtige Verwendung der Vernunft. Der Mensch missbraucht seine Freiheit, sein Bewusstsein und seine Zeichenmächtigkeit und treibt dadurch einen Keil zwischen Natur und Gnade. Er zerstört die Isomorphie zwischen natürlichem Eindruck und freiheitlichem Ausdruck, die seine Zeichenverwendung im Paradies charakterisiert, woraus wiederum das Verlangen oder die moralische Aufgabe resultiert, die verlorene Einheit wiederherzustellen. Das Reich der Freiheit wird nun artikuliert durch die Dialektik von Vertreibung und Erlösung, wobei die Menschwerdung Gottes modellhaft den Weg vorzeichnet, um die durch den Sündenfall entregelte Beziehung des Menschen zur Natur wieder ins Lot zu bringen. Dem Menschen kommt die Aufgabe zu, die unmittelbare, von Kräften und Energien erfüllte Sprache des Paradieses eingedenk des Sündenfalls und der Erlösungstat wiederherzustellen und dies durch die Besinnung auf die dreifache Kondeszendenz Gottes, d.h. Schöpfung der Natur, Geschenk der Freiheit und Menschwerdung. Den aus der zweifachen Opposition “Natur vs. Freiheit” und “Paradies vs. Vertreibung” resultierenden drei Phasen - Natur, Paradies und Geschichte - entsprechen analog drei Zeichentypen: Sind die Zeichen im Reiche der Natur Indizes, so werden sie durch die Begabung der Freiheit des Menschen im Paradies zu Ikonen und schließlich durch seine Entfremdung von der Natur zu Symbolen. 63 Hamann nimmt den freien Menschen in die Pflicht, den Ort in der Mitte wiederzufinden und so die Opposition zwischen Natur und Freiheit als eine bloß scheinbare zu entlarven. Die Ikone stellt den Zeichentyp dar, der gleichsam paradiesisch zwischen Natur und Freiheit zu vermitteln vermag; sie entspricht der Mimesis von Poiesis. Auf dieser Grundlage erfährt die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so verbreitete Zivilisationstheorie, die ihren Ausgang in der naturrechtlichen Unterscheidung von Naturzustand und Vergesellschaftung nimmt, bei Hamann eine durchaus originelle Variante: die Vergesellschaftung als Verlust von Freiheit zugunsten der Zivilisation erlaubt eine Rückkehr zu Natur und Natürlichkeit nur durch die Besinnung auf das ursprüngliche Geschenk der Freiheit. Die “Handlung” muss wieder an die Stelle desjenigen treten, was durch gesellschaftliche Konventionalisierung, Verallgemeinerung und Abstraktion von seinem Ursprung losgetrennt worden ist. Im Konzept der “Handlung” als einer theatralischen, rhetorischen und ökonomischen Größe, 64 erkennt Hamann den Motor, der den gesellschaftlichen Verkehr belebt und Einheit in der Mannigfaltigkeit herzustellen hat. Dabei erweist sich die Ungleichheit der Dinge als Ausgangspunkt für den Tausch, da aus den Bedürfnissen der Menschen die Begierde sich mitzuteilen aufs natürlichste resultiert. In seiner frühesten Buchpublikation, der Übersetzung des ökonomischen Traktats Anmerkungen über die Vorteile und Nachteile von Frankreich und Großbritannien in Ansehung des Handels 65 aus dem Jahre 1756, merkt Hamann in der von ihm verfassten Beylage mit einer eigenartigen Mischung von felsenfestem Bibelglauben und frühliberalem Pathos an: Es hat an witzigen Köpfen nicht gefehlt, die der Natur Hohn gesprochen, weil sie das Vieh auf dem Felde gelehrter und die Vögel unter dem Himmel weiser als uns, auf diese Erde aussetzt. Ist es aber nicht ihre Absicht gewesen, daß der Mensch seine Vorzüge einer gemeinschaftlichen Neigung zu danken haben, daß er zu einer gegenseitigen Abhängung sich früh gewöhnen, und Zeichenhandel 303 die Unmöglichkeit, anderer zu entbehren, zeitig einsehen möchte? Warum hat sie seinen Tod nicht durch einen kalten Mechanismus, sondern durch jenen feurigen und sanften Zug der Geschlechter zu ersetzen gesucht? Warum hat ihr Urheber durch Gesetze dafür gesorget, daß die Ehen sich ausbreiten und Familien mit Familien durch ihre Einpfropfung neue Bande der Freundschaft erhalten möchten? Warum sind seine Güter der Erde und ihren Bewohnern so verschieden ausgetheilt, als um sie gesellig zu machen? Die Gesellschaft und Ungleichheit der Menschen gehören also keineswegs unter die Projecte unseres Witzes. Sie sind keine Erfindungen der Staatsklugheit, sondern Entwürfe der Vorsehung, welche der Mensch wie alle anderen Gesetze der Natur theils mißverstanden, theils gemißbraucht hat. Nichts erinnert uns nachdrücklicher an die Vortheile unserer Vereinigung als die Wohltaten, welche durch den Handel der menschlichen Gesellschaft zufließen. Durch ihn ist dasjenige allenthalben, was irgendwo ist. Er stillt unsere Bedürfnisse, er kommt unserem Eckel durch neue Begierde zuvor, die er auch befriedigt […] Die Freyheit, auf welcher der Handel beruht, scheint ihre [der bürgerlichen Tugenden] glückliche Zurückkunft für die Menschen zu beschleunigen. Der ungebundene Wille, die ungestörte Fertigkeit, alles dasjenige thun zu dürfen, was dem gemeinen Besten nicht entgegen ist, wird jene unbändige Frechheit allmählich verbannen, mit der ein jeder zu unseren Zeit sich alles erlaubt und möglich zu machen sucht, was ihm allein nützlich deucht. Unschätzbares Gut! ohne welches der Mensch weder denken noch handeln kann, dessen Verlust ihn aller seiner Vorzüge beraubt; durch dich blühe der Handel, und werde durch ihn über alle Stände ausgebreitet! 66 Der Handel erscheint dem jungen Hamann in echt liberaler Manier als ein Korrektiv, das die maßlose Eigenliebe des Menschen zurückzubinden vermag. 67 Gibt man dem Handel die Freiheit, so gibt er diese Freiheit - allgemeiner Wohlstand inbegriffen - der Gesellschaft zurück. Er ist für Hamann zumindest zeitweilig privilegierter Ausdruck eines allgemein menschlichen Kommunikationstriebs, der seinerseits in der ursprünglichen Einsetzung natürlicher Unterschiede angelegt ist: 68 Der Austausch wird durch die ursprüngliche natürliche Differenz in Bewegung gesetzt und tendiert zum Ausgleich gesellschaftlicher und willkürlicher Differenzen, da Kommunikation Gemeinschaft und Gemeinschaft Gleichheit schafft. 69 So gelangt auch im Bereich zwischenmenschlicher Kommunikation das Prinzip der Analogie zur Anwendung, wodurch Gott sich dem Menschen nach dessen Maßstab mitteilt. Das Verhältnis der Analogie, die aus dem gegenseitigen Sich-Anpassen der Handelspartner resultiert, ist für Hamann Voraussetzung für jegliche Form von Kommunikation und Gemeinschaftsbildung. Im Handel erkennt der Mensch nicht nur seine eigenen Bedürfnisse, sondern auch diejenigen des andern; er versetzt sich in den andern, um eigene Bedürfnisse mit fremden in Proportion zu bringen und daraus Art und Menge der Tauschwaren zu bestimmen. So ist Handel ein simultanes Geben und Nehmen, in dem sich Gebender und Nehmender wechselseitig subjektiv in ihr vis-à-vis hineinversetzen und die verglichenen Bedürfnisse mit objektiven, körperlichen Gegenständen realisieren. Der Handel beruht auf Analogie und diese auf subjektiver Einschätzung, welche die Akkommodation der Akteure ermöglicht. Bedenken wir im Anschluss an die berühmte Stelle der Aesthaetica in nuce die Vorgängigkeit der Poesie vor der Umgangssprache, des Gartenbaus vor dem Acker, der Malerei vor der Schrift, des Gesangs vor der Deklamation, der Gleichnisse vor den Schlüssen und schließlich des Tausches vor dem Handel, so erhält der Tausch aus dieser Parallelisierung die Eigenschaften der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, wobei die Tauschhandlung zudem mit der Empfindung sinnlicher Lust einhergeht. Nicht nur der natürliche Trieb des Menschen, sich mit dem andern Geschlecht zu vereinigen, sondern auch seine natürliche Anlage, sich im Handel zu vergleichen, gehen auf eine ursprüngliche Lust zurück, die gleichermaßen als Eric Achermann 304 Triebfeder von Gesellschaftsbildung 70 und zwischenmenschlicher Kommunikation wirkt. Hamanns Insistieren auf der Handelsfreiheit zugunsten einer - zumindest partiellen - Wiederherstellung der ursprünglich freiheitlichen Kommunikation des Tausches geschieht aufgrund dieser belebenden und bildenden Kraft, die dem Tausch zukommt und in der Handlung mit willkürlichen Zeichen einen Teil der ursprünglichen natürlichen Ausdrucksform wiederherzustellen vermag. Die Gabe der Freiheit bedeutet so eine Begabung des Menschen mit Kraft, die ihm durch göttliche Energie mitgeteilt wurde und die er in Energie zu äußern vermag. Sie befähigt ihn, Dinge in Bewegung zu setzen. Bewegung unter der Prämisse von Freiheit ist für Hamann ziemlich gleichbedeutend mit Handlung und diese wirkt, wie wir nun wissen, konstitutiv sowohl für die Inkraftsetzung oder Einsetzung von Zeichen als auch für die Inkraftsetzung von Kommunikation. Ist die Schöpfung eine Belebung durch Einsetzung eines lebendigen Wortes, so wirkt Handlung belebend durch die Kommunikation der eingesetzten Gegenstände. Hamann erhebt - und dies dürfte hauptverantwortlich für seinen Erfolg in den Kreisen der sogenannten “Stürmer und Dränger” sein - die belebende Wirkung der Handlung zum Stilideal eines Autors 71 und erkennt in ihr das Heilmittel gegen die todbringende Abstraktion einer domestizierten Sprachverwendung. Und auch hier spielt der Handel als Hauptanalogon für Handlung wiederum eine zentrale Rolle, die sich anschaulich in der energischen Metapher der Schaufel äußert: Der Handel ist zugleich die Schaufel, welche das gehäufte Geld wie das Getreide umsticht, die es erhält entweder für den Schooß der Erde, oder für den Genuß ihrer Kinder. Durch ihn wird das Geld nicht nur vermehrt und fruchtbar, sondern auch gebraucht, und lebt für die Menschen. 72 Wie später in der Aesthaetica in nuce - wenn auch in unterschiedlichem Kontext und mit andersgerichteter Absicht 73 - dient auch in der Beylage zum Dangeuil die Schaufel als Metapher für ein scheidendes und belebendes Instrument. Was hier in Umlauf gesetzt wird, sind Zeichen, genauer: Wertzeichen, Geld. In dem zitierten Abschnitt bezeichnet Hamann ganz präzise zwei der Funktionen, die dem Geld traditionellerweise zugesprochen werden: Horten und Tauschen. Geld bereichert durch Anhäufung und Gebrauch; es lebt und belebt, immer vorausgesetzt es kommt durch Tausch in Bewegung. Da Hamann Handlung als das Grundmodell aller Formen von Kommunikation erachtet, kann er auch die lebendige und belebende Wirkung einer schleunigen Zirkulation von Waren und Wertzeichen zwischen den Menschen als Analogon von Wortwechsel und Gedankenaustausch behandeln. Deutlich wird dieser Zusammenhang zwischen Handel und Ideentausch in einer Stelle aus Youngs Night Thoughts, deren erste Zeile Hamann in einer Fußnote der Vermischten Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache zitiert. Horten, das einen Schatz an Mitteln zusammenträgt und erhält, und der belebende Tausch bilden die Grundvoraussetzungen für das Gelingen eines lebendigen Gedankenaustausches: Speech, thought’s canal! speech, thought’s criterion too! Thought in the mine may come forth gold, or dross; When coin’d in word, we know its real worth. If sterling, store it for thy future use; […] Thought, too, deliverd’d, is the more possest; Teaching we learn: and giving we retain The births of intellect; when dumb, forgot. Speech ventilates our intellectual fire; Zeichenhandel 305 Speech burnishes our mental magzine […] ‘Tis thought’s exchange, which, like th’ alternate push Of waves conflicting, breaks the learned scum And defecates the students standing pool. 74 In nur wenigen Zeilen dekliniert Young zentrale Konzepte des Handels durch, nämlich Tauschen und Abwägen, Prägen und Gelten, Horten und In-Umlauf-Setzen, Geben und Nehmen etc. und verwendet diese zur Beschreibung des Gedankentausches. Einer solchen Parallelisierung und teilweisen Identifikation semiotischer und ökonomischer Prozesse bedient sich auch Hamann. Der erste, von ihm zitierte, Vers der obigen Young-Stelle ergänzt die zwei bereits genannten Funktionen zu der klassischen Trias, welche die Definition von Geld seit der Antike bestimmt: Geld dient als Tauschmittel für Waren (Tauschen), als Aufbewahrungsmittel für Reichtümer (Horten) und als Maßstab für Preise (Messen). 75 Als Maßstab macht es die Dinge, auf welche sich unsere Bedürfnisse richten bzw. die in unserem Besitz sind, kommensurabel. Auf die Sprachzeichen angewandt, vermögen diese also Gedanken zu speichern, zu übermitteln und schließlich zu beurteilen. Rund zwanzig Jahre später, anlässlich seiner Metakritik, variiert Hamann das Youngsche “Speech, thought’s canal, tought’s criterion too! ”: “Sprache, das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft” - und er fährt fort: “ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum.” Durch die Abänderung und Ergänzung werden Sprachursprung, überlieferung und -gebrauch mit Hilfe der monetären Grundfunktionen in ein Verhältnis gebracht und in einer regelrecht ökonomisch fundierten Werttheorie erfasst: Die Geltung von Zeichen beruht auf der subjektiven Instanz des Glaubens (Kredit), der Zeichen befähigt, an Stelle von etwas akzeptiert zu werden; dieser Glaube gründet sowohl auf der Autorität der Vorzeitigkeit (Überlieferung), die eine Beziehung zu einer ursprüngliche Einsetzung durch Tradierung nahelegt, 76 als auch auf dem Gebrauch (Usus), der die Zeichen “am Leben” erhält. 77 Einerseits begründen Horten (Überlieferung der Wertmittel) und Tauschen (Gebrauch der Wertmittel) Kredit und also die Geltung von Wertzeichen, andererseits ermöglichen diese, und zwar gleichzeitig, als Mittel Tauschen und Horten. Der Zusammenhang zwischen Geltung und Gebrauch ist reflexiv: Geld gilt, weil es gebraucht wird, und es wird gebraucht, weil es gilt. Die Mittel schließlich, welche die Bildung von Reichtum und die gesellschaftliche Kommunikation ermöglichen, können wiederum nur in ihrem Wert und in den Proportionen, die sie bilden, durch Zeichen ermessen werden (Kriterion). So ist für Hamann unbestritten der direkte Umgang, der Gebrauch einer Sprache von Kindsbeinen an oder die gewohnheitsmäßige und auf Überlieferung bauende Sprachverwendung im Volk ein deutliches Wahrheitskriterium, während die Bücher- und Gelehrtensprache nicht mehr handelt, sondern bloß noch hortet und im Horten ihre Mittel brach liegen und vermodern lässt. Zirkulieren die Zeichen nicht, so verlieren sie ihre Kraft. Damit greift Hamann einen zentralen Gedanken der zeitgenössischen Ökonomie auf, dass nämlich das Wesen des Handels in der Zirkulation liege: “la circulation [est] donc l’essence du commerce.” 78 An der Zirkulation partizipieren und zu ihrer Beschleunigung beitragen kann jedoch nur, wer Kredit hat und wessen Zahlungsmittel “ergo” für bare Münze genommen werden: “Le crédit est donc la plus grande richesse de tout homme qui exerce le commerce.” 79 Hamanns Werttheorie erscheint aufgrund seiner Favorisierung der Lawschen Geldtheorie 80 einem klaren Subjektivismus verpflichtet, der sich als ökonomisches Pendant nahtlos an seine Überlegungen zur subjektiven und semiotischen Begründung von Kausalitätsbeziehungen anschließt. Nichtsdestoweniger lässt sich ein objektives Fundament ausmachen, das mit der natürlichen Einsetzung von Unterschieden und also mit der Schöpfungsordnung zu tun hat. Eric Achermann 306 Wie wir gesehen haben, ist die Schöpfung der Natur ganz wesentlich auch eine Ausbildung von Unterschieden (nach ihrer Art) und diese Unterschiede gehen auch in den Zustand der Gesellschaft ein. Im Gegensatz zum Wort, das die Natur einsetzt, tendiert aber die Handlung zum Ausgleich (Akkommodation) der Unterschiede. Es sind jedoch gerade die Unterschiede, die als Triebfeder für die Zirkulation und Kommunikation dienen und so aus der Verschiedenheit heraus Anstoß zur Gemeinschaft sind. Aufgrund seiner angeborenen Mangelhaftigkeit ist der Mensch das privilegierte Gemeinschaftswesen, da seine Natur nicht in seinen Talenten sondern in seinen Bedürfnissen und Schwächen angelegt ist. Der Handel - wird er denn frei betrieben - führt zur gegenseitigen Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse und wirkt durch diese Vermittlung produktiv, wobei Hamann es nicht unterlässt auf den sexuellen Zeugungsakt - sowohl hier als auch bei der Sprache 81 - als Grundmodell zu verweisen. Durch die stupende Ausweitung der Gesellschaft, die gerade durch den Handel befördert wird - “durch ihn ist dasjenige allenthalben, was irgendwo ist” - muss es jedoch zwangsweigerlich zur Herausbildung von willkürlichen Zeichen kommen, denen die beschriebene räumlich und zeitlich aufschiebende Funktion der Sprachzeichen eigen ist. Im Gegensatz zu den Tauschwaren, die als natürliche Zeichen der Bedürfnisse der jeweiligen Tauschpartner fungieren, übernimmt das Geld die Funktion eines willkürlichen Zeichens, bei dem die Eigenschaft des Aufschiebens auf den ersten Blick deutlicher zutage tritt als bei Sprachzeichen. Die von Hamann hervorgebrachte Erklärung des Zustandekommens von Gesellschaft beruht auf dem Modell des Kräfteausgleich, das der zeitgenössischen Physik geläufig ist und in diesen Jahren mit großem Erfolg in die ökonomische Theorie eines “systems of natural liberty” eindringt. Zwischen Gewässern mit unterschiedlich hohen Wasserpegeln kommt ein Ausgleich zustande, solange kein Hindernis den “gewöhnlichen Lauf” der beiden Wassermassen trennt. 82 Wie z.B. der Antrieb eines Mühlrads zeigt, drückt sich dieser Ausgleich nicht nur durch Fließen, das heißt durch die Bewegung vom höheren zum tieferen Niveau aus, sondern auch durch Arbeit, die nutzbar gemacht werden kann. Die ursprüngliche Einsetzung hat also die Kreaturen mit verschiedenen Kräften versehen, die beim Kräfteausgleich, bei der Kommunikation, Energien freisetzen. Dieses einfache physikalische Modell, das sowohl der Veranschaulichung der Tauschbewegung als auch der Behauptung der Produktivität des Handels gegen dessen Verächter - z.B. die Physiokraten - dient, vermag nicht nur zu erklären, wieso die Ausdrücke “Freiheit” und “Kraft” bzw. “Energie” bei Hamann recht häufig beieinander stehen, sondern auch worin seiner Meinung nach die Verbindung zwischen Wort, Handlung und Schöpfung besteht: O um die Handlung eines Demosthenes und seine dreyeinige Energie der Beredsamkeit, oder die noch kommen sollende Mimik, ohne die panegyrische klingende Schelle einer Engelzunge! so würd ich dem Leser die Augen öffnen, daß er vielleicht sähe - Heere von Anschauungen in die Veste des reinen Verstandes hinauf- und Heere von Begriffen in den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit herabsteigen, […] 83 Es ist die Handlung, der nach Demosthenes der erste, der zweite und der dritte Rang in der Redekunst zukommt, welche durch Energie eine “noch kommen sollende Mimik” zu begründen hat. Diese Energie vermöge die Kommunikation zwischen der sinnlich erfahrbaren Schöpfungsordnung und den willkürlichen Begriffen des reinen Verstandes durch den mimetischen Akt wiederherzustellen. Nur durch die Energie der Differenz zwischen einem oben und unten, zwischen zwei Polen gelangt der Mensch zur Einheit. Und ebenso ist es die Handlung oder “actio”, die den samenhaften Sinn, den “Logos spermatikos”, oder das Wort Zeichenhandel 307 gleichsam gedeihen lässt und am Leben erhält. 84 Ist das ursprüngliche Wort nämlich als auktoriale und intentionale Stiftung oder Einsetzung in erster Linie eine Kraft (Dynamis), 85 die sich in der Schöpfung entfaltet, so kommt dem Menschen als Vorzugswesen der Schöpfung die Freiheit zu, durch seine Handlung zu wirken, das heißt durch “actio” Energie zu entfalten, den Dingen aktuelle Bewegung oder Wirkung zu verleihen. 86 Damit sind wir schließlich erneut bei der eingangs dargestellten Hamannschen Transformation des Humeschen Kausalitätsbegriffs angekommen. In Hamanns Teilübersetzung der Humeschen Dialogen die natürliche Religion betreffend finden wir eine Stelle, die den Zusammenhang zwischen Vernunft, Erzeugung, Kraft, Energie und Wirkung als faktische Bewegung mit der Glaubensproblematik herstellt: Diese Wörter Erzeugung, Vernunft, bezeichnen bloß gewisse Kräfte und Energien an der Natur, deren Wirkungen bekannt, ihr Wesen aber unbegreiflich ist und keines von diesen Principiis hat mehr Recht als das andere zum Muster der ganzen Natur gemacht zu werden. 87 Hume greift hiermit in einem nun religionsphilosophischen Zusammenhang seine skeptische Beurteilung einer rationalen Begründung der Kausalität auf, wobei hier wie im Treatise “Kraft” als eine Chiffre für das Ineffable, als Name für eine wirkende und erfahrbare Ursache steht, deren eigene Ursache aber unbekannt ist. 88 Im Gegensatz zu Hume, der es strikte vermeidet, seine eigene Gesinnung in Glaubensfragen deutlich zu machen und dadurch wohl ebenso deutlich seinen Agnostizismus bekundet, ist bei Hamann klar, wem - und dies gerade aufgrund eines Glaubensinstinkts und -bedürfnisses - der Kredit letztlich gilt, demjenigen nämlich der durch seine Schöpfung, die Dinge der Natur als Wertzeichen zu erkennen gegeben hat. Dieses Vertrauen können wir nach Hamanns Ansicht nur aufgrund der Analogie zwischen Gott und Mensch hegen, die Wert und Geltung, Lust und Geselligkeit durch die Kreaturen für die Kreaturen zuwege bringt: Diese Analogie des Menschen zum Schöpfer ertheilt allen Kreaturen ihr Gehalt und ihr Gepräge, von dem Treue und Glauben in der ganzen Natur abhängt. Je lebhafter diese Idee, das Ebenbild des unsichtbaren GOttes in unserm Gemüth ist; desto fähiger sind wir Seine Leutseeligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen. Jeder Eindruck der Natur in dem Menschen ist nicht nur ein Andenken, sondern ein Unterpfand der Grundwahrheit: Wer der HERR ist. Jede Gegenwürkung des Menschen in die Kreatur ist Brief und Siegel von unserm Antheil an der Göttlichen Natur, und daß wir Seines Geschlechts sind. 89 Anmerkungen 1 Für Korrekturen und wichtige Hinweise danke ich Ellinor Landmann und Andre Rudolph. 2 Der Reihe nach handelt es sich um: Aesthaetica in nuce (1762). In: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Hg. v. Josef Nadler. Wien: Herder 1949-1957 [im folgenden, wie in der Hamannforschung üblich, zitiert als “N”], Bd. II, S. 206; ebd., N II, S. 197; Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache (1772), N III, S. 32; Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 9. [3.? ] August 1759. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. Wiesbaden resp. Frankfurt a/ M: Insel 1955-1979 [im folgenden zitiert als “ZH”], Bd. I, S. 393; Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784), [im folgenden zitiert nach dem Text bei Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart: frommann-holzboog 2002], S. 313 N III, S. 286; ebd., S. 264 N III, S. 284; Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. April 1787, ZH VII, S. 175; Metakritik, S. 329 N III, S. 286. 3 Sokratische Denkwürdigkeiten (1759), N II, S. 61. 4 Brief an Jacobi am 2. 11. 1783, ZH V, S. 95: “Ohne Wort, keine Vernunft - keine Welt. Hier ist die Quelle der Schöpfung und Regierung.” Eric Achermann 308 5 Ps 19, 2-4: “Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Ein Tag sagt’s dem andern, und eine Nacht tut’s kund der andern. Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre.” Mit dem 19. Psalm schafft Hamann zudem den Bezug zu Bacons De sapientia veterum sowie De dignitate et augementis scientiarum und damit zu Texten, die für den Hamann der Kreuzzüge als zentral erachtet werden müssen. Für Bacon bezeichnet der Vers “caeli enarrant” die Offenbarung der Herrlichkeit (“gloria”) Gottes durch die Natur, die auch für Heiden verständlich ist, dies im Gegensatz zur Offenbarung der Schrift, die Gottes Willen (“voluntas”) ausdrückt. Zur Bedeutung Bacons für Hamann in naturphilosophischer Hinsicht und unter Verwendung des 19. Psalms vgl. Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller (=Frühe Neuzeit 32). Tübingen: Niemeyer 1997, S. 154f. 6 Aesthaetica in nuce, N II, S. 198. Zu dieser Stelle vgl. vor allem Oswald Bayer: Schöpfung als “Rede an die Kreatur durch die Kreatur”. Die Frage nach dem Schlüssel zum Buch der Natur und Geschichte. In: Johan Georg Hamann. Acta des zweiten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/ Lahn 1980 (=Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien 2). Marburg: Elwert 1983, S. 57-75; wiederabgedruckt in: ders.: Schöpfung als Anrede. Tübingen: Mohr 1986, S. 9-32, sowie Joachim Ringleben: “Rede, daß ich dich sehe”. Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 30 (1988), S. 209-224. Die Zeitfolge, die in der zitierten Stelle zum Ausdruck kommt, ist ganz offensichtlich schwierig nachzuvollziehen: Der Wunsch, das jemand rede, ist schon vor jeder Schöpfung. Ist es, wie meist angenommen, der Wunsch der Kreatur an Gott, dass er sich zu erkennen gebe, oder Gottes Wunsch, dass sich die Schöpfung als eine mitteilende und antwortende gleichsam vollende? 7 Ueber die Auslegung der heil. Schrift (1756? ), N I, S. 5. Ich folge hier wie auch beim Zitieren der anderen Schriften aus der Londoner Zeit dem Text der Ausgabe: Johann Georg Hamann: Londoner Schriften. Hg. v. Oswald Bayer und Bern Weißenborn. München: Beck 1993, S. 59. Zu dem für Hamann bedeutenden Topos “Gott als Schriftsteller” vgl. Joachim Ringleben: Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos. In: Johann Georg Hamann: Autor und Autorschaft. Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquium im Herderinstitut zu Marburg/ Lahn 1992 (=Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, Bd. 61). Hg. v. Bernhard Gajek. Frankfurt a/ M: Lang 1996, S. 215-275; Johannes von Lüpke: Zur theologischen Dramaturgie in Hamanns Autorschaft. In: ebd., S. 305-329. 8 Die Zwei-Gattungslehre geht auf Aristoteles’ Poetik zurück und hält sich bis ans Ende des 18. Jahrhunderts, wo sie durch die heute geläufigere Gattungstrias “Epik, Dramatik, Lyrik” ersetzt wird. Vgl. hierzu Gérard Genette: Introduction à l’architexte (1979). Wiederabgedruckt in: Théorie des genres. Paris: Seuil 1986, S. 99-159, hier: S. 99-101, sowie Jean-Marie Schaeffer: Qu’est-ce qu’un genre littéraire? Paris: Seuil 1989, S. 10-25. 9 Aesthaetica in nuce, N II, S. 200. 10 Wie nahe Hamann das Erasmische Apopthegma “Rede, daß ich Dich sehe! ” und Joh 1, 1 zusammenrückt, zeigt folgende Stelle aus seinen Biblischen Betrachtung[en] eines Christen (1758). In: Londoner Schriften, S. 125 N I, S. 64: “Ihr saht keine andere Ähnligkeit, außer eine Stimme; ihr saht eine Stimme. Die Sprache selbst wird allmächtig, wenn Gott sich derselb[en] bedient. Ihr saht keine andre Ähnligkeit, als dies doppelte Wort, wodurch ich mich offenbart habe; das Wort meines Geistes, und das Wort, das am Anfang war und Gott selbst ist. Was für geheimnisvolle unerschöpfl. Offenbarung[en]! und die sind uns eine Ähnligkeit, eine Stimme Gottes. Wie wird die Offenbarung seyn, wenn wir ihn selbst seh[en] werd[en] von Angesicht zu Angesicht! ” 11 Vgl. hierzu Bayer, Schöpfung als “Rede an die Kreatur durch die Kreatur”, S. 57-59 bzw. 9-11. 12 Des Ritters von Rosencreuz, N III, S. 27. 13 Der Kürze halber sei hier verwiesen auf den Artikel “Analogie” in Josef de Vries: Grundbegriffe der Scholastik. Darmstadt: WBG 1983, S. 25-37. 14 Vgl. die klassischen Arbeiten von Fritz Blanke: Gottessprache und Menschensprache bei J.G. Hamann. In: ders.: Hamann-Studien. Zürich: Zwingli 1956, S. 83-97; Karlfried Gründer: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns “Biblische Betrachtungen” als Ansatz zu einer Geschichtsphilosophie. Freiburg: Alber 1958, S. 28-33; Bernhard Gajek: Sprache beim jungen Hamann. Bern: Lang 1967, S. 58-65; sowie Stefan Majetschak: Nachwort zu: Vom Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes. Ein Hamann-Brevier. Hg. v. S. Majetschak. München: dtv 1988, S. 240-244. 15 Dieses Verständnis der Kondeszendenz als Akkommodation an die beschränkte Auffassungskraft und -bereitschaft der Menschen soll Mitte des 17. Jahrhunderts, namentlich durch John Spencer, zu einem zentralen Prinzip alttestamentarischer Hermeneutik geworden sein; vgl. hierzu: François Dreyfus: La condescendance divine (synkatabasis) comme principe herméneutique de l’ancien testament dans la tradition juive et dans la tradition chrétienne. In: Congress Volume. Salamanca 1983 (=Supplements to Vetus Testamentum. Bd. XXXVI). Leiden: Brill 1985, S. 96-107. Zeichenhandel 309 16 Eine Vorstellung, die sich auch schon bei gewissen Kirchenvätern findet, allen voran bei Johannes Chrystostomos. Eine gute Darstellung von dessen Kondeszendenz-Lehre liefert Rudolf Brändle: als hermeneutisches und ethisches Prinzip. In: Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Festschrift für Ernst Dassmann. Hg. v. Georg Schöllgen u. Clemens Scholten. Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 23 (1996), S. 297-307. 17 Vgl. hierzu Winfried Lenders: Die Verwendung des Terminus “Kommunikation” bei G.W. Leibniz und Chr. Wolff. In: IKP-Forschungsbericht 68/ 2. Bonn 1968; sowie ders.: Kommunikation und Grammatik bei Leibniz. In: History of Linguistic Thought and Contemporary Linguistics. Hg. v. Herman Parret. Berlin: de Gruyter 1976. S. 571-592. 18 Biblische Betrachtungen, S. 59 N I, S. 4: “Die Eingebung dieses Buchs ist eine ebenso große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und Menschwerdung des Sohnes.” 19 Der Akkommodationsgedanke, die Hamannschen Überzeugungen, “Sinne und Leidenschaften verstehen nichts als Bilder” sowie “vox populi, vox Dei”, finden sich auch bei Jacques Abbadie, dem einflussreichen protestantischen Theologen und Prediger in Berlin: Traité de la verité de la religion chrêtienne (1684), IV, VII , 7. Bd. II. Rotterdam 1689, S. 427f.: “la révélation deviendroit inintelligible sans cette condescendance de Dieu, qui se proportionne à la portée de tous sans exception. […] La sagesse de Dieu est admirable, non seulement en ce qu’il se proportionne aux idées de tout le monde, afin de se rendre intelligible; mais aussi en ce qu’alors il pourvoit à ce qu’on ne puisse se tromper en pressant la lettre de ces façons de parler populaires. […] Car celui qui considérera bien ce que l’Ecriture nous dit là-dessus, trouvera qu’elle assemble diverses images, pour nous representer par des idées connües un objet inconnu, & pour mettre devant les yeux par plusieurs images, ce qu’une seule idée n’étoit point capable de nous representer.” 20 Vgl. hierzu Wilhelm Blümer: Art. “Akkommodation”. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. I. Tübingen: Niemeyer 1992, Sp. 309-313, insbesondere Sp. 311. 21 Die im engeren Sinne kreationistische Bedeutung der Kondeszendenzlehre steht in der Tradition Johannes’ Chrysostomos, dem es um die Abschwächung des überwältigenden Eindrucks von Gottes Anblick zu tun ist, den der Mensch in seinem vollen Glanze nicht ertrüge. Vgl. hierzu François Rigolot: Tolérance et condescendance. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 62 (2000), S. 25-47, hier: S. 28-31. 22 Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: Fischer 2 1965, S. 28. Der Funktionsbegriff bei Bühler ist an die Vorstellung der Sprache als “Organon” und an das Modell der Kausalerklärung gebunden; vgl. hierzu: Winfried Busse: Funktionen und Funktion der Sprache. In: Sprachtheorie. Hg. v. Brigitte Schlieben-Lange. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, S. 207-240, hier vor allem: S. 211-216. 23 Des Ritters von Rosencreuz, N III, S. 27: “Wenn man Gott zum Ursprung aller Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden, voraussetzt; so ist jedes gezählte Haar auf unserm Haupte eben so göttlich, wie der Behemoth, jener Anfang der Wege Gottes. Der Geist der mosaischen Gesetze erstreckt sich daher bis auf die ekelsten Absonderungen des menschlichen Leichnams.” 24 Röm 1,20: “Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen seit der Schöpfung der Welt und wahrgenommen an seinen Werken […]”, sowie Hebr 11,3: “Durch den Glauben erkennen wir, daß die Welt durch Gottes Wort gemacht ist, so daß alles, was man sieht, aus nichts geworden ist”, vgl. auch den Text der Vulgata: “fide intellegimus aptata esse saecula verbo Dei ut ex invisibilibus visibilia fierent.” 25 Es handelt sich um den für Hamann zentralen dritten Teil des ersten Buchs der Treatise. 26 Hamann macht aus dem Humeschen “belief” kurzerhand ein “faith”. 27 So verzeichnet er in seinen Biblischen Betrachtungen (S. 307 N I, 246) zu Hebr 11,3 ganz konsequent: “Ohne Glauben können wir selbst die Schöpfung und die Natur nicht verstehen - - daher die Bemühungen Gottes Wort und Willen zu entfernen, das Daseyn durch Hypothesen und wahrscheinliche Fälle zu erklären […].” 28 Ritter von Rosencreuz, N III, S. 29: “Ja, Wißt ihr endlich nicht, Philosophen! daß es kein physisches Band zwischen Ursache und Wirkung, Mittel und Absicht giebt, sondern ein geistiges und idealisches, nämlich des Köhlerglaubens, wie der größte irrdische Geschichtsschreiber* seines Vaterlandes und natürlichen Kirche verkündiget hat! ” [dazu die Anm.* “Hume”]. 29 Hume rekurriert bekanntlich bei seiner Kritik am überkommenen Kausalitätsbegriff auf das für ihn zentrale Konzept des “belief” und liefert so eine Begründung “natürlicher” Wirkzusammenhänge nach Maßgabe einer “science of Man” (David Hume: A Treatise of Human Nature [1739f.], Introduction. Hg. v. Ernest Campbell Mossner. Harmondsworth: Penguin 1987, S. 42). Vgl. etwa ebd., I, III , 14 (Of the Ideas of necessary connexion), S. 216.: “The necessary connexion betwixt causes and effects is the foundation of our inference from one to the other. The foundation of our inference is the transition arising from the accustomed union. These are, therefore, Eric Achermann 310 the same. / / The idea of necessity arises from some impression. There is no impression convey’d by our senses, which can give rise to that idea. It must, therefore, be deriv’d from some internal impression, or impression of reflection. There is no internal impression, which has any relation to the present business, but that propensity, which custom produces, to pass from an object to the idea of its usual attendant. This therefore is the essence of necessity. Upon the whole, necessity is something, that exists in the mind, not in objects.” 30 “ ” (pistis) als “dasjenige, was zur Glaubwürdigkeit” verhilft (Jozef A.R. Kemper: Topik in der antiken rhetorischen Techne. In: Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion. Hg. v. Dieter Breuer u. Helmut Schanze. München: Fink 1981, S. 17-32, hier: S. 21), bezeichnet die objektive Grundlage für ein breites Spektrum an Graden subjektiver Gewissheit, das von Vertrauen über Glaube und Garantie bis hin zu demjenigen führt, was als bewiesen oder evident erachtet wird. Im Neuen Testament, insbesondere bei Paulus, fungiert “ ” als ein zentraler Begriff zur Erfassung eines spezifisch christlichen Glaubens. Vgl. hierzu: David M. Hay: Pistis as “Ground for Faith” in Hellenized Judaism and Paul. In: Journal of Biblical Literature 108 (1989), S. 461-476. 31 Hume, A Treatise of Human Nature, I, III , 8 (Of the causes of belief), S. 151: “’Tis certain we must have an idea of every matter of fact, which we believe. ’Tis certain, that this idea arises only from a relation to a present impression. ’Tis certain, that the belief super-adds nothing to the idea, but only changes our manner of conceiving it, and renders it more strong and lively. The present conclusion concerning the influence of relation is the immediate consequence of all these steps; and every step appears to me sure end infallible. There enters nothing into this operation of the mind but a present impression, a lively idea, and a relation or association in the fancy betwixt the impression and idea; so that there can be no suspicion of mistake.” 32 Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache (1760), N II, S. 129. 33 Aesthaetica in nuce, N II, S. 206. 34 Des Ritters von Rosencreuz, N III, 32. 35 Zur naturrechtlichen Begründung der Beziehung von “institutio”, “conventio”, “impositio”, “usus” und Sprache vgl. Samuel Pufendorf: De Jure Naturae et Gentium, IV, I . Amsterdam 1688. Repr. (=The Classics of International Law 17) Oxford: Clarendon 1934, S. 309-333. Zu Geschichte und Bedeutung des Begriffs “impositio” vgl. Wolfgang Röd: Erhard Weigels Lehre von den entia moralia. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 51, S. 58-84, sowie Hans Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin: de Gruyter 1958, S. 24. Eine Untersuchung der Bedeutung naturrechtlicher Konzepte für Hamanns Sprach- und Gesellschaftsdenken existiert - soweit ich weiß - nicht. 36 Der Zusammenhang zwischen Handeln und Schauspielen, das sich im polysemen “actio” - Handlung, Bewirkung, Prozess, Vortrag (auf Bühne oder Tribüne) - findet, hat sich in mancher modernen europäischen Sprache erhalten: “agir”, “to act”, “actuar” etc. 37 So korreliert Diderot in seinem Second entretien sur le Fils naturel (In: Denis Diderot: Œuvres esthétiques. Hg. v. Paul Vernière. Paris: Garnier 1988, S. 101f.) aus dem Jahre 1757 die Interpretationsfreiheit des Schauspielers nicht nur mit der Natürlichkeit dramatischer Wirkung, sondern auch mit Gestik, Handlung und Kraft: “La voix, le ton, le geste, l’action, voilà ce qui appartient à l’acteur; et c’est ce qui nous frappe, surtout dans le spectacle des grandes passions. C’est l’acteur qui donne au discours tout ce qu’il a d’énergie. C’est lui qui porte aux oreilles la force et la vérité de l’accent.” Vernière verzeichnet hier ganz zu Recht als Quellen Ciceros De oratore (wobei die Angabe “III, 5” unzutreffend ist. Richtig von III, 56 bzw. 213 weg bis zum Schluss) und Quintilians De institutione oratoria, XI, 3. Hamann spielt auf beide Stellen mit seiner wiederholten Erwähnung Demosthenes’ (vgl. weiter unten) an. Dass Hamann darüber hinaus aber die Entretiens kannte, belegt seine Kritik an Diderots Verwerfung des Wunderbaren und Burlesken im Fünften Hirtenbrief das Schuldrama betreffend (1763, N II, S. 367), die sich auf “Le burlesque et le merveilleux sont également hors de la nature; […]” (Diderot, Troisième entretien sur le Fils naturel, S. 137) bezieht. 38 Diderot, Second entretien sur le Fils naturel, S. 99. 39 Das Verhältnis von Lehrer und Schüler ist ein Modell für Kondeszendenz und äußert sich besonders deutlich in den Briefen an Kant bezüglich einer geplanten gemeinsamen Kinderphysik. Vgl. die beiden dicht aufeinanderfolgenden Briefe von Dezember 1759, ZH I, S. 444 - 453. 40 Philologische Einfälle und Zweifel (1772), N III, S. 38. Auffällig ist auch hier die Nähe zu Diderot (Second entretien sur le Fils naturel, S. 126) und dessen Ehrenrettung der Pantomime gegen ihre philosophischen Verächter, welche in der Aussage kulminiert: “Je ne te vois pas seulement; je t’entends. Tu me parles des mains.” Wir finden in diesem Zitat aus Lukians Gespräch zwischen Lycinus und Craton Über den Tanz (63) eine Umkehrung des “Rede, daß ich Dich sehe! ” in ein “Handle, daß ich Dich höre! ” Zeichenhandel 311 41 Vgl. Johann Georg Hamann: Schriften. Hg. v. Friedrich Roth. Bd. VIII/ 2. Nachträge, Erläuterungen und Berichtigungen. Hg. v. Gustav Adolf Wiener. Berlin 1842, S. 85 (irreführend bei Nadler, N II, S. 116, als Fußnote): “Handlung - die Demosthenes nennt.” Mit dem vieldeutigen “Hypokrisis” (Antwort, szenische Darstellung, Verstellung) ist auch bereits die Ambivalenz des Geschenks der Freiheit bezeichnet, die nicht nur befähigt gleichzutun, sondern auch so zu tun “als ob”. 42 Zur zentralen Bedeutung der Dichotomie “Rezeptivität/ Spontaneität” für Hamanns Sprachphilosophie vgl. Bayers Kommentar (Vernunft ist Sprache, S. 281 N III, S. 284). 43 In den Worten Jean-Louis Guez de Balzacs, dessen Socrate chrétien (Œuvres. Bd. II. Paris 1665, hier: S. 243) Hamann kennt, und schätzt - “Jetzt lese Balzac’s Socrate Chrétien […], man sollte meynen, daß ich dieses Buch ziemlich geritten und Einfälle daraus geborgt hätte, da ich es doch jetzt erst kennen lerne.” (Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 14. Mai 1763, ZH II, S. 205) -, geht es darum “ressembler” und “representer” mit einander in Übereinstimmung zu bringen, damit die Darstellung nicht blutleer erscheine: “de belles images, mais elles n’ont pas esté tirées apres le naturel; mais elles n’ont pas esté faites pour ressembler; mais ce qu’elles representent n’y est pas reconnoissable. Pareilles pieces sentent Paris, la cour et l’academie: mais elles n’ont rien de Hierusalem et de Sion; rien du tabernacle et du sanctuaire.” 44 Aesthaetica in nuce, N II, S. 198f.: “Die Schuld mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen * - oder noch kühner! - - sie in Geschick zu bringen, des Poeten bescheiden Theil.” Dazu * setzt Hamann die Anm.: “Rescisso discas componere nomine versum; / / Lucili vatis sic imitator eris [Du lernst einen Vers mit zerteiltem Wort bilden / / und wirst so zum Nachahmer des Dichters Lucilus]. Ausonius Epist. V.” Ausonius Schlussverse aus der Fünften (An Theon, ) seiner Epistolae sprechen von einem rhetorischen Kunstgriff, nämlich der Tmesis. Sie beziehen sich, das Exempel (“Lucani-aco”) kommentierend, auf eine Stelle im vorausgehenden Vers. Der Zusammenhang zwischen Text und Fußnote ist hier, wie so oft bei Hamann, intrikat: Die Stelle besagt im Zusammenhang mit dem Text also ganz und gar nicht, dass der Dichter die zerteilten Worte zusammenfügen bzw. die Turbatverse in seinen sinnvollen Zusammenhang bringen, sondern dass er diese zerteilen und metrisch anordnen soll. 45 In den ersten vier Kapitel sowie S. 81 u. 83f. Wenn ich hier den Ausdruck “Repräsentation” verwende, dann in Anlehnung an die frz. und engl. Bedeutung des entsprechenden Begriffs, nämlich: Darstellen, Vorstellen und Aufführen. 46 Ähnlichkeit bezüglich einer bildlich sinnlichen Erfahrung, Nachvollziehbarkeit bezüglich Charakter und Entscheidungsfähigkeit der Handelnden, Wahrscheinlichkeit schließlich bezüglich der Allgemeinheit der Erkenntnis. Vgl. die Kapitel 4, 15 und 9 von Aristoteles’ Poetik. 47 Bezeichnenderweise zitiert Hamann hier Aristoteles, Poetik, 4, 1448b5-17 und damit die klassische Stelle, die sowohl die natürliche mimetische Veranlagung des Menschen, den Lustgewinn durch die Betrachtung der Produkte von Mimesis als auch den Lernprozess bezeichnet, der damit einhergeht. 48 Aristoteles, Poetik, 24, 1459b25f. Das Begriffspaar “Mimesis 2 / Digesis” entspricht in etwa der griffigen englischsprachigen Unterscheidung von (mimetischen) “showing” und (diegetischem) “telling”, wie sie im Anschluss an literaturkritische Überlegungen Henry James’ vor allem durch Percy Lubbocks The Craft of Fiction (1921; London 1966, S. 62 u.a.) in der literaturwissenschaftlichen Terminologie heimisch wurde. 49 Es ist auffällig, dass Hamann nicht nur ganz selbstverständlich die Schöpfung als eine Rede einer dritten Person und zwar “in medias res” erachtet, sondern wiederholt auf den metrischen Charakter der Sprache der Natur eingeht, so etwas wenn er von Turbatversen spricht, die es in metrische Ordnung zu bringen gelte; vgl. weiter unten. 50 Vgl. hierzu Oswald Bayer: Gott als Autor. Zu einer poetologischen Theologie. Tübingen: Mohr 1999, S. 30-33. 51 Aesthaetica in nuce, N III, S. 197; nach “Schlüsse” die wichtige Anm. “- - vt hieroglyphica literis: sic parabolae argumentis antiquiores, sagt Bacon, mein Euthyphron.” 52 Der gesamte Passus der Aesthaetica - mit Ausnahme von Tausch/ Handel und Gleichnis/ Schluss (dessen Quelle bei Bacon liegt, cf. die vorausgehende Fußnote) - ist nichts anderes als eine aufs äußerste kondensierte Zusammenfassung der Darstellung des “langage d’action” und seiner verschiedenen kulturellen Artikulationen in Étienne Bonnot de Condillac: Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746), II, I , 1-8. In: Œuvres philosophiques. Bd. I. Parma 1792, S. 216-307. Nach eigenen Angaben (Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 10. Mai 1788, ZH VII, S. 467 u. an dens. vom 23. Mai 1788, ebd. S. 487) lernt Hamann erst Jahre nach der Verfassung der Aesthaetica Condillac kennen. Condillac findet jedoch bereits Erwähnung im Berliner Notizbuch (um 1755; N V, S. 151).Wie dem auch sei, so kommen als Quelle für Hamanns sensualistische Position eine ganze Reihe von Artikeln der Encyclopédie in Frage, die Condillacsches Gedankengut enthalten, z.B. Jean- Eric Achermann 312 François Marmontels Art. “Déclamation théâtrale” (In: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. IV. Paris 1754, Sp. 680a), der in Duktus und Inhalt manche Übereinstimmung mit unserer Stelle aufweist: “La déclamation naturelle donna naissance à la Musique, la Musique à la Poésie, la Musique & la poésie à leur tour firent un art de la déclamation. Les accens de la joie, de l’amour, & de la douleur sont les premiers traits que la Musique s’est proposé de peindre. L’oreille lui a demandé l’harmonie, la mesure & le mouvement; la Musique a obéi à l’oreille; d’où la mélopée. Pour donner à la Musique plus d’expression & de vérité, on a voulu articuler les sons donnés par la nature, c’est-à-dire, parler en chantant; mais la Musique avoit une mesure & un mouvement réglés; elle a donc exigé des mots adaptés aux mêmes nombres; d’où l'art des vers. Les nombres donnés par la Musique & observés par la Poésie, invitoient la voix à les marquer; d’où l’art rythmique: le geste a suivi naturellement l’expression & le mouvement de la voix, d’où l'art hypocritique ou l’action théatrale, que les Grecs appelloient orchesis, les Latins saltatio, & que nous avons pris pour la Danse. […] la déclamation tragique fut d’abord un chant musical.” 53 Vgl. hierzu die Stelle Metakritik, S. 329 N III, S. 286, zit. als Fussnote 62. 54 Biblische Betrachtungen, S. 129 N I, S. 69: “[…] um die schweren Friedensbrüche die der Mensch geg[en] Gott begangen[en] hatte, auszusöhn[en], wurde Gott selbst ein Mensch.” 55 Wesentlich ist hier Phil 2,5-7: “Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war: welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, nahm er’s nicht als einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtgestalt an, ward gleich wie an andrer Mensch und an Gebärenden als Mensch erfunden.” Den Ausdruck “handlungsvoll” prägt Hamann (Göttingische Anzeige [1763], N II, S. 255) zur Charakterisierung Livius’ und führt ihn zur Verteidigung seiner eigenen Schreibart gegen den Göttingischen Rezensenten der Kreuzzüge ins Feld. 56 Golgatha und Scheblimini (1784), N III, S. 303: “Zur wahren Erfüllung unserer Pflichten, und zur Vollkommenheit des Menschen gehören Handlungen und Gesinnungen. Staat und Kirche haben beyde zu ihrem Gegenstande. Folglich sind Handlungen ohne Gesinnungen, und Gesinnungen ohne Handlungen, eine Halbirung ganzer und lebendiger Pflichten in zwo todte Hälften. Wenn Bewegungsgründe keine Wahrheitsgründe mehr seyn dürften, und Wahrheitsgründe zu Bewegungsgründen weiter nicht taugen; wenn das Wesen vom notwenigen Verstand und die Wirklichkeit vom zufälligen Willen abhängt: so hört alle göttliche und menschliche Einheit auf, in Gesinnungen und Handlungen. Der Staat wird ein Körper ohne Geist und Leben.” 57 Vgl. hierzu auch die Biblische Betrachtung (S. 145f. N I, 85) zu Ruth 1,1, womit Hamann die innigste Verbindung und Korrespondenz - das “commercium animae ac corporis” - zu erklären sucht: “Gott hat mit einer bewundernswürdig[en] Weisheit eine Harmonie, ein so außerordentl. Band und Scheidewand zugl.[eich] zwisch[en] den Kräften des Leibes v der Seele, zwisch[en] d[en] Gewässern oben und unten eingeführt, daß sie sich einander ersetzen, einander dienstfertig sind, und in ihrer Entfernung einen Zusammenhang finden. Gott hat unsern Leib d[as] Gefühl des Hungers gegeb[en], daß wir eb[en] eine solche Nothwendigkeit in unserm Geiste zum voraus setzen sollen.” Zur Bedeutung des Bedürfnisses in naturrechtlicher Hinsicht, namentlich bei Pufendorf, vgl. Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981, S. 52-54. 58 Für Hamann stehen Tausch auf der Grundlage der Ökonomie der Bedürfnisse, Freundschaft und Kondeszendenz in einem engen Zusammenhang, wie etwa die Gedanken über Kirchenlieder, insbesondere der Anfang seiner Erklärungen zu Christoph Wegleiters Beschränkt, ihr Weisen dieser Welt (In: Londoner Schriften, S. 386-390 N I, 283-287) belegen. 59 Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 20. Juli 1759, ZH I, S. 367. 60 Das klassische Beispiel ist seit Augustinus der Rauch, der ein Zeichen für Feuer ist (De doctrina Christiana, II,1). Natürliche Zeichenfunktion und Kausalerklärung erfahren seit der Antike eine ähnliche Theoretisierung. Vgl. Stephan Meier-Oeser: Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und sein Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin: de Gruyter 1997, S. 24-30; vgl. auch die Zeichenklassifiation Abaelardus’, ebd. S. 43-47. 61 Philologische Einfälle, N III, S. 39: “Das Bewußtseyn, die Aufmerksamkeit, die Abstraction und selbst das moralische Gewißen scheinen gröstentheils Energien unsrer Freyheit zu seyn. / / Zur Freyheit gehören aber nicht nur unbestimmte Kräfte sondern auch das republicanische Vorrecht zu ihrer Bestimmung mitwirken zu können. Diese Bedingungen waren zur Natur des Menschen unumgänglich. Die Sphäre der Thiere bestimmt daher, wie man sagt, die Richtung aller ihrer Kräfte und Triebe durch den Instinct eben so individuel und eingeschloßen, als sich im Gegentheil der Gesichtspunct des Menschen auf das Allgemeine ausdehnt und gleichsam ins Unendliche verliert.” Zeichenhandel 313 62 Am deutlichsten wird dies in der Metakritik, S. 329-336 N III, S. 286: “Laute und Buchstaben sind also reine Formen a priori, in denen nichts, was zur Empfindung oder zum Begriff eines Gegenstandes gehört, angetroffen wird und die wahren, ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft. Die älteste Sprache war Musik, und nebst dem fühlbaren Rhythmus des Pulsschlages und des Othems in der Nase, das leibhafte Urbild alles Zeitmaaßes und seiner Zahlverhältnisse. Die älteste Schrift war Malerey und Zeichnung, beschäftigte sich also eben so frühe mit der Oekonomie des Raums, seiner Einschränkung und Bestimmung durch Figuren. Daher haben sich die Begriffe von Zeit und Raum durch den überschwänglich beharrlichen Einfluß der beyden edelsten Sinne, Gesichts und Gehörs, in die ganze Sphäre des Verstandes, so allgemein und notwendig gemacht, als Licht und Luft für Aug, Ohr und Stimme sind, daß Raum und Zeit wo [Nadler schreibt hier irrtümlich: “war”] nicht ideae innatae, doch wenigsten matrices aller anschaulichen Erkenntnis zu seyn scheinen” 63 Nach der Peirceschen Zeichentypologie von Index (existentieller Objektbezug), Ikon (Objektbezug aufgrund von Ähnlichkeit) und Symbol (konventioneller Objektbezug). Hamann (Aesthaetica in nuce, N II, S. 199) bedient sich in ähnlichem Zusammenhang zur Verdeutlichung der Wachterschen Terminologie, das heißt er unterscheidet a) poetische oder kyriologische, b) historische, symbolische oder hieroglyphische und c) philosophische oder charakteristische Zeichen. Zur Erklärung dieser, von Johann Georg Wachter in seiner Naturae et Scripturae Concordia (1752) geprägten Begriffe vgl. Wolfgang Proß: Johann Gottfried Herder “Über den Ursprung der Sprache”. Text, Materialien, Kommentar. München: Hanser 1978, S. 170f. sowie 208-213. Eine weitere Darstellung von Wachters Schriftentstehungstheorie findet sich bei Gérard Genette: Mimologiques. Voyage en Cratylie. Paris: Seuil 1976, S. 73-76. 64 Hamann verwendet “Handlung” auch in der damals durchaus üblichen Bedeutung von “Handelswesen”; vgl. etwa Beylage zum Dangeuil (1756), N IV, S. 231. Zur Beziehung von Schauspielkunst, Morallehre und Ästhetik, insbesondere unter Berücksichtigung des Konzepts der Energie, vgl. Doris Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1989, S. 64-72. Leider macht Bachmann-Medick zwischen Kraft und Energie keinen Unterschied. 65 Es handelt sich um das erfolgreiche Werk von René-Joseph Plumard de Dangeul Remarques sur les Avantages et les Desavantages de la France et de la Gr. Bretagne par rapport au Commerce, & aux Sources de la Puissance des Etats. Das Buch erscheint 1754 unter dem Pseudonym “John Nickolls”, den Hamann als “Dangeuil” identifiziert. Dangeul ist auch der franz. Übersetzer des bedeutenden und von Hamann mitübersetzten Bernardo de Ulloa, einem spanischen Verfechter der Handelsfreiheit. 66 Beylage zum Dangeuil, N IV, S. 230f. 67 Vgl. dazu Johannes Rohbeck: Egoismus und Sympathie. David Humes Gesellschats- und Erkenntnistheorie. Frankfurt a/ M: Campus 1978, insbesondere S. 117-122; zum virulenten theologischen Hintergrund der Opposition von Selbstliebe und Eigenliebe in Zusammenhang mit der Lehre vom Sündenfall vgl. Michel Terestchenko: Amour et désespoir de François de Sales à Fénélon. Paris: Seuil 2000, S. 19-25, 72f. und 319-321. Zur fundamentalen Bedeutung der Selbstliebe als Quelle von Freiheit und Gesellschaft bei Hamann vgl. Erwin Metzke: J.G. Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. Halle a/ S 1934. Repr. Darmstadt: WBG 1967, S. 147-149 [27-29]. 68 Vgl. hierzu auch Hamanns Exzerpt aus dem Dangeul (Das Berliner Notizbuch, N V, S. 168): “Die ungleiche Austheilung der Reichthümer in den verschiedenen Ständen ist eine von den vornehmsten Banden, die einen Staat zusammenhalten”; sowie Aristoteles, Politik, 1257a20f. 69 Eine Gleichheit, die wohlgemerkt - und mit einer Radikalität, wie sie sich bei Dangeul nicht findet - über das Prinzip eines oftmals ständisch interpretierten “suum cuique tribuere” distributiver Gerechtigkeit hinausgeht (Beylage zum Dangeuil, N IV, S. 231): “Der Handelsgeist wird vielleicht die Ungleichheit der Stände mit der Zeit aufheben, und jene Höhen, jene Hügel abtragen, welche die Eitelkeit und der Geiz aufgeworfen hat, um sich sowohl auf selbigen opfern zu lassen, als um mit desto mehr Vortheil die Ordnung der Natur bestreiten zu können.” 70 In der Beylage zum Dangeuil (N IV, S. 237) behandelt Hamann die Familie in Analogie zum Individuum. Die aus der Institution der Ehe hervorgehenden Familien wiederum sind “die Element der bürgerlichen Gesellschaften; folglich ist ihr Einfluß in selbe unstreitig größer, als man wahrzunehmen scheint”. Sie bilden das Grundmodell gesellschaftlicher Vereinigung. 71 So können wir zumindest Hamanns eigene Schreibweise als eine gezielte und provozierende Applikation des Konzepts der Kondeszendenz, der Analogie und eines handelnden Sprechens erachten. Deutlich wird dies in Hamanns Anm. zu seiner Übersetzung von Buffons Über den Styl (1776; N IV, besonders S. 423-425), wo er “Actus”, sinnliche Wahrnehmung, Leben, Kraft und Ökonomie aufs schönste miteinander verbindet. Eric Achermann 314 72 Beylage zum Dangeuil, N IV, S. 231. 73 “Nicht Leyer! - noch Pinsel! - eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen! ” Hamann bezieht sich auf die Predigt Johannes des Täufers Matth 3, 12 und so also auf den Messias, der die Spreu vom Weizen trennen, die Spreu anschließend verbrennen und den Weizen im Geiste taufen wird. 74 Edward Young: The Complaint, or Night-Thoughts on Life, Death and Immortality (1742-54). Second Night. In: The Works of the Author of Night-Thoughts. Bd. III. London 1762, S. 37. 75 Traditionell werden drei Funktionen von Geld unterschieden: Tauschen, Messen und Horten. Die “Urstelle” für diese Unterscheidung ist Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1133a7-1133b28. Erst im 19. Jh. kommt die vierte Funktion, diejenige des Geldes »als Standard für aufgeschobene Zahlungen« hinzu. Vgl. Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. Bd. I. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965, S. 103. 76 In diesem Punkt steht Hamann der kausalen Erklärungstheorie von Eigennamen und ihrer sogenannten “causal chain” oder “chain of communication” in Kripkes Naming and Necessity nahe; vgl. Saul A. Kripke: Naming and Necessity (1972). Oxford: Blackwell 1981, S. 91-97; sowie die knappe Darstellung bei Susan Haack: Philosophy of Logics. Cambridge: University Press 1978, S. 59f. 77 Vgl. hierzu die Bemerkungen zu lebenden und toten Sprachen, die Hamann im Kleeblatt Hellenistischer Briefe (1762; N II, S. 181-183) gegen Johann David Michaelis’ Beurteilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen (1757) anbringt. 78 Charles Dutot: Réflexions politiques sur les finances et le commerce (1738). Hg. v. Paul Harsin. Bd. I. Liège 1935, S. 238. Hamann besass die Texte der hauptsächlichen Vertreter des Lawschen Systems und damit also einer prononcierten Zirkulationstheorie, nämlich die Texte Laws, Forbonnais’ und Dutots. Vgl. hierzu auch Hamanns Exzerpten zu Forbonnais’ Elemens du commerce (Berliner Notizbuch, N V, S. 184f.), sowie Achermann, Werte und Worte, S. 186-192. 79 Dutot, Réflexions politiques sur les finances et le commerce, Bd. I, S. 72f. 80 Die Ehrenrettung beschränkt sich auf Laws Geldtheorie; in moralischer Hinsicht verurteilt Hamann den Handel, den Law mit seinen willkürlichen Zeichen getrieben. Vgl. Vermischte Anmerkungen, N II, S. 130: “Sein Herz aber war seinem Verstand nicht gewachsen; dies brach seinen Entwürfen den Hals […].” 81 Hamann wird nicht müde, mitunter recht krude, auf die Beziehung zwischen Wörtern und Gliedern der Zeugung hinzuweisen. Vgl. Josef Nadler: Der Schlüssel ( N VI, S. 313): “Pudenda. […] Bei H. mit allen verwandten Ausdrücken ein ‘Haupt’wort.” 82 Vgl. hierzu die klassische, wenn auch spätere Beschreibung bei Adam Smith: Inquiry into the Wealth of the Nations, II, 2 (Of Money considered as a particular Branch of the general Stock of the Society, or of the Expense of maintaining the National Capital). Bd. II. Basel 1791, S. 49 u. 70; sowie IV, 5 (Of Bounties), S. 20f. Adam Smith dürft sich dabei einer Stelle in den Essays Humes erinnert haben, der sich dieses Vergleichs mit einigem Geschick bedient (David Hume: Essay, Moral, Political, and Literary [1742], II, 5 [Of the Balance of Trade]. In: ders.: Essays and Treatises on Several Subjects. Bd. I. London 1777, S. 330f.): “Now, it is evident, that the same causes, which would correct these exorbitant inequalities, were they to happen miraculously, must prevent their happening in the common course of nature, and must for ever, in all neighbouring nations, preserve money nearly proportionable to the art and industry of each nation. All water, wherever it communicates, remains always at a level. Ask naturalists the reason; they tell you, that, were it to be raised in any one place, the superior gravity of that part not being balanced, must depress it, till it meet a counterpoise; and that the same cause, which redresses the inequality when it happens, must for ever prevent it, without some violent external operation*.” Zu * Anm.: “There is another cause, though more limited in its operation, which checks the wrong balance of trade, to every particular nation to which the kingdom trades. When we import more goods than we export, the exchange turns against us, and this becomes a new encouragement to export; as much as the charge of carriage and insurance of the money which becomes due would amount to. For the exchange can never rise but a little higher that that sum.” In seinen Exzerpten aus dem Dangeul (N V, S. 182) notiert sich Hamann “à faire circuler - ordo renascetur”. 83 Metakritik, S. 362 N III, S. 287; vgl. Kreuzzüge des Philologen (Dem Leser unter der Rose! ), N II, S. 116: “Handlung, sagte Demosthenes, ist die Seele der Beredsamkeit, und auch der Schreibart.” Zu den Quellen vgl. Fussnote 37. 84 Die Mappe von Münster (Über das Spinozabüchlein Friedrich Heinrich Jacobis; 1787/ 88, N IV, S. 456): “Der Vortrag macht eben so oft die Sache; als das Kleid den Mann. Jede Sache ist ein unsichtbarer Embryo, dessen Begriff und Inhalt durch den Vortrag erst, gleichsam zur Welt kommen, und offenbar werden muß. Daher jener witzige Einfall des weisen Mannes: Rede, daß ich dich sehe.” Was die Bedeutung des “samenhaften Wortes” für Hamanns Verständnis seiner eigenen Sprachhandlung betrifft vgl. den Brief an Johann Gotthelf Lindner vom Zeichenhandel 315 1. Juli 1759 (ZH I, S. 333-338) sowie die Ausführungen hierzu bei: Sven-Aage Jørgensen: Nachwort zu: Johann Georg Hamann: Sokratischen Denkwürdigkeiten/ Aesthetica in nuce. Stuttgart 1968, S. 174. 85 Vgl. die Fußnote zu den Vermischten Anmerkungen, N II, S. 129: “ µ µ µ , µ ’ .” [wie aber der Wert einer Münze in einer sehr kleinen Masse eine sehr große Kraft / dynamis/ hat, so ist es die Kraft / deinotès/ des Wortes, mit wenig viel zu bedeuten. 86 Für die begriffliche Bestimmung der Konzepte “Dynamis”, “Entelechie” und “Energie” sowie deren Korrelate vgl. Alexander Aichele: Energie oder Entelechie? Der metaphysische Grund der Bewegung bei Leibniz und Aristoteles. In: Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G.W. Leibniz. VII. Internationaler Leibniz-Kongress. Nachtragsband. Hg. v. Hans Poser. Hannover 2002, S. 127-135. Das Hamann sowohl diese Begrifflichkeit als auch ihre Problematik bewusst war, zeigt nebst den zitierten Stellen: Philologische Einfälle und Zweifel, N III, S. 40. Der Kraftbegriff gehört ganz allgemein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den meistdiskutierten Modethemen der Naturphilosophie; vgl. etwa des jungen Kants populäre und durchaus reißerische Intervention in die Auseinandersetzung um den Cartesischen bzw. Leibnizschen Kraftbegriff, die Hamann zweifelsohne bekannt war: Immanuel Kant: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen (1746). In: Werkausgabe. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. I. Vorkritische Schriften bis 1768, 1. Frankfurt a/ M: Suhrkamp 1968, S. 15-218. 87 Dialogen die natürliche Religion betreffend übersetzt von einem fünfzigjährigen Geistlichen in Schwaben (1780), N III, S. 258. Die Stelle entspricht David Hume: Dialogues concerning Natural Religion (1779), VII. Hg. v. Martin Bell. Harmondsworth: Penguin 1990, S. 88. 88 Vgl. David Hume: Enquiry concerning Human Understanding (1748/ 1758), IV (Sceptical Doubts concerning the Operations of the Understanding). In: ders.: Essays and Treatises, Bd. I, S. 33: “It is confessed, that the utmost effort of human reason is to reduce the principles, productive of natural phenomena, to a greater simplicity, and to resolve the many particular effects into a few general causes, by means of reasonings from analogy, experience, and observation. But as to the causes of theses general causes, we should in vain attempt their discovery; nor shall we ever be able to satisfy ourselves, by any particular explication of them. These ultimate springs and principles are totally shut up from human curiosity and enquiry. Elasticity, gravity, cohesion of parts, communication of motion by impulse; these are probably the ultimate causes and principles which we shall ever discover in nature; and we may esteem ourselves sufficiently happy, if, by accurate enquiry and reasoning, we can trace up the particular phenomena to, or near to, these general principles.” Vgl. auch A Treatise of Human Nature, I, III , 15, S. 206f.: “I begin with observing that the terms of efficacy, agency, power, force, energy, necessity, connexion, and productive quality, are all nearly synonymous; and therefore ‘tis an absurdity to employ any of them in defining the rest. By this observation we reject at once all the vulgar definitions, which philosophers have given of power and efficacy; and instead of searching for the idea in these definitions, must look for it in the impressions, from which it is originally deriv’d.” 89 Aesthaetica in nuce, N II, S. 206f. Gunter Narr Verlag Tübingen Postfach 2567 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 752 88 Sprachwissenschaft Harald Weinrich Sprache, das heißt Sprachen Mit einem vollständigen Schriftenverzeichnis des Autors 1956-2003 Forum für Fachsprachen-Forschung 50, 2., erg. Auflage 2003, 411 Seiten, 39,-/ SFr 64,50 ISBN 3-8233-5339-X Der Weg dieses Buches führt von der Sprache zu den Sprachen. Mit der Sprache im generischen Singular beschäftigen sich grundlegend die Kapitel zur Textlinguistik, zum kurzzeitigen und langzeitigen Sprachgedächtnis und zur Leiblichkeit als anthropologischer Basis aller Sprachstrukturen. Von den Sprachen im Plural der Vielfalt handeln in differenzierender Betrachtung die Kapitel zu den Wörterbüchern, zum Sprachverkehr der Fach- und Wissenschaftssprachen und zur europäischen Sprachenpolitik. So kommt in diesem Buch das Allgemeine der Theorie zusammen mit dem Besonderen der Empirie gleichrangig zur Anschauung. Der zweite Teil des Buches umfaßt das Verzeichnis der wissenschaftlichen Schriften des Autors. “Die Gebildeten Deutschlands kennen (…) Harald Weinrich, weil er Sprachwissenschaft für Sprecher betreibt und weil er diese Wissenschaft in lesbaren Büchern urban und elegant, also für kluge Leser, darstellt (…). Zum 75. Geburtstag dieses Sprachmeisters legt der Narr-Verlag eine Sammlung von Arbeiten Weinrichs vor (…), die nicht nur die zentralen Themenbereiche dieser Sprach-Wissenschaft für Sprecher und kluge Leser dokumentiert, sondern auch die Eleganz seiner wissenschaftlichen Prosa und damit die Schönheit des Deutschen als Wissenschaftssprache. Weinrichs Überlegungen zu Sprache und Wissenschaft und seine Gedanken zur europäischen Sprachpolitik sollte man flotten deutschen Kulturministern auf den Schreibtisch legen, die das Deutsche als Wissenschaftssprache und ernstzunehmende Kultursprache leichtfertig verabschiedet haben. Von ausgesuchter Urbanität ist die Tatsache, dass nicht die Leser ihm, sondern dass Harald Weinrich seinen Lesern mit diesem Band ein Geburtstagsgeschenk macht.” Süddeutsche Zeitung Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? Das identitäts- und kulturstiftende Potential der Textsorte Geld - der Euro Monika Claßen Das oft leidenschaftliche, stets große Interesse, das den praktischen Fragen des Geldwesens und des Geldwerts gilt, erklärt sich ja nur daraus, dass sich im Geldwesen eines Volkes alles spiegelt, was dieses Volk will, tut, erleidet, ist, und dass zugleich vom Geldwesen eines Volkes ein wesentlicher Einfluss auf sein Wirtschaften und sein Schicksal überhaupt ausgeht. Der Zustand des Geldwesens eines Volkes ist ein Symptom aller seiner Zustände. (Joseph Alois Schumpeter) (Sprenger 1991: i) 1. Was ist ein Text? Ist Geld ein Text? Die Antwort der traditionellen Textlinguistik 1 auf diese Frage fällt in der Regel negativ aus. Dies liegt meines Erachtens hauptsächlich daran, dass ihre Vertreter/ innen, wie z.B. Robert-Alain de Beaugrande und Wolfgang Ulrich Dressler, eine relativ enge Textauffassung vertreten. Ihre Textauffassung ist insofern eng, als nur Texte schriftlicher oder mündlicher Kommunikation untersucht werden. Texte hingegen, die sich aus sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichensystemen zusammensetzen, wie z.B. Werbung, Todesanzeigen und Geldscheine und -münzen, werden auf nur eine einzige Ebene reduziert, nämlich die des sprachlichen Zeichensystems. Die Ebene, die das nicht-sprachliche Zeichensystem repräsentiert, wird vernachlässigt bzw. ignoriert. Ziel dieses Beitrages ist es nun, das allgemein anerkannte prozedurale Textmodell Beaugrandes/ Dresslers so zu modifizieren, dass mit ihm komplexe Texte, also Texte, die aus verschiedenen Zeichensystemen bestehen - wobei mindestens eines davon sprachlicher Art ist - erfasst werden können. Beaugrande/ Dressler stellen sieben Textualitätskriterien (Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität, Intertextualität) auf, die alle erfüllt sein müssen, damit ein Text seiner kommunikativen Funktion gerecht wird. Eine genauere Betrachtung ihrer sieben Kriterien zeigt allerdings, dass die von ihnen postulierte Gleichgewichtung der verschiedenen Kriterien so nicht aufrecht erhalten werden kann. Darüber hinaus ist es notwendig, ganz unabhängig davon, ob man einfache oder komplexe Texte mit Beaugrandes/ Dresslers Kriterien untersuchen möchte, zwei weitere Kriterien zu berücksichtigen: nämlich Kulturalität und Materialität. 1.1 Kritik an Beaugrande/ Dressler Die Kritik an Beaugrande/ Dressler lässt sich an drei unterschiedlichen Stellen festmachen. Der erste Kritikpunkt betrifft Beaugrandes/ Dresslers Forderung, dass alle sieben ihrer K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Monika Claßen 318 Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein Text seine kommunikative Funktion erfüllen kann. Beaugrande/ Dressler räumen zwar selbst ein, dass es häufig schwer ist, die Grenzlinie zwischen Texten und Nicht-Texten festzulegen (Beaugrande/ Dressler 1981: 118), gehen aber meines Erachtens zu wenig darauf ein, wie in solchen strittigen Fällen zu verfahren ist und welche Kriterien dann über die Textualität von Texten entscheiden. Ulla Fix beschäftigt sich in einem ihrer Aufsätze (1998a) genauer mit diesem Problem und weist darauf hin, dass das Kriterium der Kohäsion, das auf den ersten Blick den Eindruck vermittelt, als würde es allein auf der morphologisch-syntaktischen Ebene realisiert, vielmehr auch auf der lexikalischen Ebene verwirklicht wird (Fix 1998a: 165). Dies könne vor allem an Texten beobachtet werden, die von ihr als “grammatikarm” bezeichnet werden und sich vor allem in der Belletristik, insbesondere der Lyrik, finden lassen (Fix 1998a: 166). In diesen Texten wird Kohäsion nicht mehr auf der syntaktisch-morphologischen Ebene hergestellt, sondern über die Wortbedeutung. Die Frage, ob und inwieweit alle Textkriterien hundertprozentig erfüllt sein müssen und die Erkenntnisse von Fix sind für meine Überlegungen insofern von Bedeutung, als der Text Geld ähnliche Merkmale aufweist wie ein Gedicht oder andere belletristische Texte. Kohäsion entsteht bei Geldscheinen und -münzen nicht über die syntaktisch-morphologische Ebene, sondern über die Wortbedeutung. Die Struktur des Textes Geld lässt sich mit der Struktur mancher Gedichte vergleichen, die ebenfalls nur aus Wörtern, Wortgruppen und Zahlen bestehen, die wie oben beschrieben nur über die Wortbedeutung in kohäsive Verhältnisse zu bringen sind. Es lassen sich zwar auch vereinzelte Sätze finden, die z.B. auf die Strafbarkeit des Geldfälschens hinweisen oder die das Geld als offizielles Zahlungsmittel des entsprechenden Landes ausweisen, aber insgesamt lässt sich dies kaum mit einem zusammenhängenden Text, wie wir ihn z.B. aus der Zeitung oder anderen Zusammenhängen kennen, vergleichen. Wenn man also der Argumentation von Fix im Zusammenhang mit “grammatikarmen” Texten folgt, dann spricht nichts dagegen, ihre Argumentation auch in Verbindung mit Geldscheinen und -münzen geltend zu machen. Der zweite Kritikpunkt an dem Modell von Beaugrande/ Dressler steht im engen Zusammenhang mit dem ersten und betrifft die Gewichtung der unterschiedlichen Textkriterien. Neben der Tatsache, dass Beaugrande/ Dressler nur sehr oberflächlich darauf eingehen, dass nicht alle Kriterien im gleichen Maße erfüllt sein müssen, berücksichtigen sie ebenfalls nicht, dass das von ihnen angegebene Kriterium der Intertextualität sich auf einer anderen Ebene befindet als alle anderen Kriterien. Sie weisen darauf hin, dass ein Unterschied zwischen den ersten beiden Kriterien Kohäsion und Kohärenz, welche sie als textzentrierte Begriffe verstanden wissen wollen, und den restlichen fünf Kriterien, welche sie als verwenderzentriert bezeichnen, besteht (Beaugrande/ Dressler 1981: 8). Diese Unterscheidung halte ich für zutreffend und unproblematisch. Problematisch ist dahingegen, dass Beaugrande/ Dressler das Kriterium der Intertextualität auf der gleichen Ebene ansiedeln wie die übrigen vier verwenderzentrierten Kriterien. Meines Erachtens befindet es sich aber auf einer anderen Ebene als diese. Beaugrande/ Dressler definieren Intertextualität als “ganz allgemein, für die Entwicklung von TEXTSORTEN als Klasse von Texten mit typischen Mustern von Eigenschaften verantwortlich” (Beaugrande/ Dressler 1981: 13). Diese Eigenschaften eines Textes aber, die einem bestimmten Muster folgen, nach dem dieser Text einer bestimmten Textsorte zugeordnet wird, sind nichts anderes als seine spezielle Art der Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität und Situationalität. INTERTEXTUALITÄT 2 im Sinne von Textsorte beinhaltet also die anderen Kriterien und kann sich deshalb nicht auf der gleichen Ebene wie diese befinden. Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 319 Der dritte Kritikpunkt betrifft eine meiner Meinung nach notwendige Erweiterung des Modells von Beaugrande/ Dressler durch zwei weitere Kriterien, das der Materialität und das der Kulturalität. Diese beiden Kriterien sind von sehr unterschiedlicher Qualität und befinden sich dementsprechend auf unterschiedlichen Ebenen. Ich folge in meiner Argumentation in Bezug auf Kulturalität der Auffassung von Fix, wie diese sie in ihrem Aufsatz “Die erklärende Kraft von Textsorten. Textsortenbeschreibungen als Zugang zu mehrfach strukturiertem - auch kulturellem - Wissen über Texte” (1998b) entwickelt hat. Fix stellt dort Helmuth Feilke zitierend fest, dass “Textmusterwissen wie anderes sprachliches Wissen auch Teil eines ‘durch eine bestimmte Kommunikationsgemeinschaft hervorgebrachten Sprachwissens’ [ist], Teil einer von der Gemeinschaft geschaffenen und geprägten Kompetenz” (Fix 1998b: 16-17). Dieses Textmusterwissen ist geprägt durch das Phänomen Kultur und dementsprechend ist Kulturalität nach Fix Bestandteil jedes Textes, wohingegen andere Textkriterien nicht erfüllt sein müssen (Fix 1998b: 17). Kulturalität als Kriterium von Texten ist also Grundlage für alle Texte und damit das erste Prinzip von Texten, dem sich alle anderen unterordnen. Materialität als Textualitätskriterium befindet sich, wie alle anderen Kriterien auch, auf einer niedrigeren Ebene. Mit Materialität sind so unterschiedliche Dinge gemeint wie die Schrift eines Textes, seine Typografie, die möglicherweise verwendete Farbe, das verwendete Material, die Größe eines Textes, bei gesprochenen Texten die Lautstärke und Tonlage usw. Die Informationen, die im Materialitätskriterium enthalten sind, sind alle nicht-sprachlicher Art. Sie sind zwar teilweise Bestandteil sprachlicher Kommunikation, wie z.B. Schrift und Lautstärke, aber letztlich handelt es sich um nicht-sprachliche Zeichen. Ich werde anhand des Textes Geld zeigen, dass die Materialität Auswirkungen auf alle anderen Textkriterien hat und bei ihrer Umsetzung bzw. Interpretation eine wichtige Rolle spielt. Damit wäre die Materialität einerseits ein grundlegenderes Kriterium als die anderen, da es alle anderen Kriterien beeinflusst, andererseits wäre es aber immer noch dem Kriterium der INTERTEXTUALITÄT untergeordnet. Denn INTERTEXTUALITÄT heißt, dass eine bestimmte Textsorte vorliegt, die sich durch eine bestimmte Form von Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und eben auch Materialität von anderen Textsorten unterscheidet. 1.2 Die Entwicklung eines eigenen Textmodells in Anlehnung an Beaugrande/ Dressler Die bisherigen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass es notwendig ist, das Modell Beaugrandes/ Dresslers zu überarbeiten und zu ergänzen. Dies soll nun im Folgenden geschehen. Dabei übernehme ich mit den oben angeführten Modifikationen die Kriterien Beaugrandes/ Dresslers, sowie die mit ihnen charakteristisch verbundenen Merkmale, wie z.B. Textzentriertheit, Verwenderzentriertheit usw. Das nun schon mehrfach erwähnte Kriterium der Kulturalität bildet den Ausgangspunkt für die übrigen Kriterien. Es besagt sehr grundsätzlich, dass es in einer Kultur Texte gibt. Darüber hinaus wird damit aber auch zum Ausdruck gebracht, dass es nicht in jeder Kultur die gleichen Texte gibt. Nicht alle Textsorten sind in allen Kulturen bekannt (vgl. Fix 1999). Die Textsorte Banknote ist z.B. nicht überall bekannt. Es gibt nach wie vor Kulturen, die ohne Geld wirtschaften bzw. die mit Gegenständen handeln, die für sie Geldfunktion haben, wie z.B. Muscheln, Perlen oder Lebensmittel. Der Terminologie Beaugrandes/ Dresslers folgend hat das Kriterium der Kulturalität folgende Eigenschaften: Es ist textsortenkonstituierend, Monika Claßen 320 d.h. auf dieser Ebene entscheidet sich, welche Textsorten es gibt. Darüber hinaus verfügt es über die Merkmale Text- und Verwenderzentriertheit und betrifft sowohl die Textproduktion als auch die Textrezeption. Damit sind alle Merkmale, die von Beaugrande/ Dressler in ihrem Modell im Zusammenhang mit ihren Textualitätskriterien angewandt werden, in Einklang mit dem neuen Kriterium der Kulturalität gebracht worden. Auf der nächst niedrigeren Ebene ist das darauffolgende Kriterium angesiedelt, nämlich das Kriterium der INTERTEXTUALITÄT. Damit erhält es in meinem Modell ein anderes Gewicht als bei Beaugrande/ Dressler, wo es den übrigen Textkriterien gleichgestellt ist. Da ich weiter oben schon für diese Unterscheidung argumentiert habe, gehe ich hier nur noch ganz kurz auf diesen Sachverhalt ein. Bei Beaugrande/ Dressler besagt Intertextualität zum einen, dass in einem Text Kohäsion und Kohärenz herrschen müssen; zum anderen gilt aber, dass ein Text dann intertextuell ist, d.h. einer Textsorte angehört, wenn er sich in seiner Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität und Situationalität (und Materialität) einem bestimmten Muster zuordnen lässt, das ihn von anderen Texten unterscheidet. Damit hat die INTERTEXTUALITÄT nach meinem Verständnis das Merkmal, textkonstituierend zu sein. Da die INTERTEXTUALITÄT, wie die Kulturalität, allen anderen Kriterien vorgeschaltet ist, gilt auch für sie, dass sie außerdem die Merkmale Text- und Verwenderzentriertheit hat und sowohl die Textproduktion wie die Textrezeption beeinflusst. Die textregulierenden Prinzipien Effizienz, Effektivität und Angemessenheit, die den Bewertungsmaßstab dafür bilden, ob ein Text, der zu einer bestimmten Textsorte gehört, adäquat umgesetzt ist, umgeben die INTERTEXTUALITÄT und die ihr nachfolgenden Textkriterien. Dabei wird die Auffassung davon, was effizient, effektiv und angemessen ist, durch die kulturellen Gegebenheiten bestimmt. In dem Kriterium INTERTEXTUALITÄT verbirgt sich also noch einmal der Aspekt der Kulturalität; allerdings handelt es sich diesmal um ein Merkmal und nicht um ein eigenständiges Kriterium. 3 Kulturalität als Merkmal von INTERTEXTUALITÄT gilt entsprechend für alle der INTERTEXTUALITÄT untergeordneten Kriterien. Vom Phänomen der INTERTEXTUALITÄT kommend, erreichen wir nun die nächste Ebene, auf der die Textkriterien von Beaugrande/ Dressler angesiedelt sind. Der abstrakten Beschreibung ihrer Merkmale, also text- oder verwenderzentriert usw., entspricht die konkrete Realisierung in einem Text. Jeder Text hat seine eigene Art von Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität usw., doch dabei folgt er immer einem Muster, sodass das INTERTEXTUALITÄTS-Kriterium erfüllt ist. Auf dieser Ebene findet die Textrealisation statt. Das Kriterium der Materialität ist den übrigen Textkriterien vorgeschaltet. Damit ist nicht gemeint, dass es wichtiger als die anderen Kriterien ist, sondern dass das Kriterium der Materialität eines Textes in alle übrigen Kriterien eingeschlossen ist bzw. diese beeinflusst. Dies wird bei der Anwendung der Textkriterien auf Geld im nächsten Kapitel deutlich werden. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass Materialität die Merkmale text- und verwenderzentriert hat und sowohl die Textproduktion als auch die Textrezeption betrifft. Neben Kulturalität, INTERTEXTUALITÄT und Materialität nehme ich, genau wie Beaugrande/ Dressler, folgende Textkriterien an: Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität. Die nochmalige Nennung des Intertextualitätskriteriums ist kein Fehler, sondern hängt damit zusammen, dass ich es an dieser Stelle anders verstehe als Beaugrande/ Dressler. Intertextualität bedeutet an dieser Stelle zweierlei. Zum einen ist damit gemeint, dass Texte der gleichen Textsorte sich auf- Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 321 einander beziehen. Zum anderen ist darunter zu verstehen, dass Texte unterschiedlicher Textsorten zueinander einen Bezug herstellen. Alle übrigen Textkriterien verstehe ich genauso wie Beaugrande/ Dressler. Das bisher gesagte, lässt sich in einer Grafik wie folgt darstellen: Kulturalität textsortenkonstituierend textu. verwenderzentriert Textproduzent/ -in u. -rezipient/ -in Effizienz Angemessenheit Effektivität INTERTEXTUALITÄT textsortenkonstituierend textu. verwenderzentriert Textproduzent/ -in u. -rezipient/ -in Kulturalität Materialität textrealisierend textu. verwenderzentriert Textproduzent/ -in u. -rezipient/ -in Kohäsion textrealisierend textzentriert Kohärenz textrealisierend textzentriert Intentionalität textrealisierend verwenderzentriert Textrezipient/ -in Akzeptabilität textrealisierend verwenderzentriert Textrezipient/ -in Informativität textrealisierend verwenderzentriert Textrezipient/ -in Situationalität textrealisierend verwenderzentriert Textrezipient/ -in u. -produzent/ -in Intertextualität textrealisierend verwenderzentriert Textrezipient/ -in u. -produzent/ -in Monika Claßen 322 Die Quintessenz meiner Überlegungen ist nicht nur die nun hinlänglich erklärte Ergänzung durch die Kriterien Kulturalität und Materialität, sondern auch die Erkenntnis, dass die Frage nach der Textualität von Texten auf ganz unterschiedlichen Ebenen beantwortet wird. Da ist die Ebene der Textsortenkonstituierung, die der Kulturalität entspricht. Ihr folgt die Ebene der Textkonstituierung, die mit dem Kriterium der INTERTEXTUALITÄT verbunden ist. Die schon begonnene Fokussierung mündet nun in die Ebene der Textrealisation, die ihren Ausdruck in den sieben Kriterien von Beaugrande/ Dressler und dem Kriterium der Materialität findet. 1.3 Geld als TEXT. Anwendung der Textkriterien auf Geld Da ich an anderer Stelle (Claßen 2000) schon erläutert habe, wie sich die Textkriterien auf den TEXT 4 Geld anwenden lassen, werde ich an dieser Stelle in verkürzter Form auf ihre Anwendung eingehen und insbesondere diejenigen Kriterien betrachten, die ich neu eingeführt habe, also Kulturalität, INTERTEXTUALITÄT und Materialität. K ULTURALITÄT Das Kriterium der Kulturalität besagt im Zusammenhang mit TEXTEN, dass die entsprechende Textsorte entweder bekannt ist oder nicht. Für die meisten heute existierenden Kulturen, gilt, dass der TEXT Geld, in Form von Geldscheinen und -münzen, bekannt ist, und somit das Kulturalitätskriterium erfüllt ist. I NTERTEXTUALITÄT INTERTEXTUALITÄT meint, dass ein TEXT über bestimmte Merkmale verfügt, die ihn von anderen TEXTEN unterscheiden, sodass er sich einer bestimmten Textsorte zuordnen lässt. Die INTERTEXTUALITÄT des TEXTES Geld lässt sich letztlich nur dadurch beweisen, dass die übrigen Textkriterien betrachtet werden. Auf diese Art und Weise lässt sich zum einen die Frage klären, ob überhaupt ein TEXT gegeben ist, und zum anderen, was diesen TEXT gegenüber anderen TEXTEN auszeichnet, sodass er sich einem bestimmten Textmuster zuordnen lässt. Mit der Hinwendung zu den Textkriterien Materialität, Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Situationalität, Informativität und Intertextualität begeben wir uns auf die Ebene der Textrealisation, auf der es immer um einen konkreten TEXT geht, in diesem Fall um den 100-DM-Schein. M ATERIALITÄT und K OHÄSION Der Einfluss der Materialität auf die Kohäsion ist nur ein mittelbarer, indem z.B. ein bestimmtes Wort immer groß geschrieben wird oder eine andere Farbe hat oder in einer anderen Schrift gesetzt ist usw. In der Regel dürften aber ungewöhnliche kohäsive Verhältnisse im Sinne von ungewöhnlicher Materialität nicht dazu führen, dass ein TEXT aufgrund dieser nicht mehr als kohäsiv wahrgenommen wird. Auf der Schriftebene würde nur Großschreibung oder nur Kleinschreibung irritieren, aber deshalb würde ein Text der Schriftebene nicht als weniger kohäsiv bewertet werden. Er ist vielmehr so, dass eine besondere Form der Materialität ein Indikator dafür ist, dass damit etwas Bestimmtes betont werden soll. Für die Schrift auf den deutschen Geldscheinen lässt sich sagen, dass es auffällig ist, dass zwei sehr unterschiedliche Schrifttypen verwendet wurden: zum einen wurde eine serifenlose Antiqua und zum anderen die Frakturschrift verwendet, die auch als deutsche Schrift bezeichnet wird. Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 323 Abb. 1: 100-DM-Schein (Rekto/ Verso) herausgegeben durch die Deutsche Bundesbank (74 x 154 mm) Die Wahl der Frakturschrift für das Wort Banknote hatte vermutlich nicht nur kulturelle Gründe, sondern lässt sich auch damit begründen, dass diese Schrift ein weiteres Sicherheitsmerkmal darstellte, da es wesentlich schwieriger ist, eine gelungene Fälschung des Wortes Banknote in Frakturschrift herzustellen, als ein Wort zu fälschen, das in serifenloser Schrift gesetzt ist. Die Materialität entscheidet zwar nicht über die Kohäsivität eines Textes, beinhaltet aber sehr wohl Informationen, die die Kohäsion erleichtern oder erschweren können bzw. die richtungsweisend für die übrigen Kriterien sein können. M ATERIALITÄT und K OHÄRENZ Der TEXT Geld wird nur dann als kohärent wahrgenommen, wenn das Konzept Geld bekannt ist. Zu dem Konzept Geld gehört nicht nur das Wissen um seine Funktionsweise, sondern Monika Claßen 324 auch das Wissen darum, welche Erscheinungsformen es hat, d.h. welche Formen der Materialität es annehmen kann. Papiergeld z.B. besteht nicht einfach aus normalem Papier beliebiger Größe, sondern aus speziellem Papier bestimmter Größe. Es wird nicht willkürlich bedruckt, sondern die Geldscheine einer Währung folgen immer einem bestimmten Muster. Die Mustervorgaben erfolgen dabei durch die jeweilige Bundesbank (vgl. Deutsche Bundesbank 1995: 137-147) bzw. im Falle des Euro durch die Europäische Zentralbank und enthalten genaue Vorgaben über die Aufteilung, das Format, die Farben, die Drucktechnik usw. M ATERIALITÄT und I NTENTIONALITÄT Die Intention der das Geld emittierenden Geldinstitute ist nicht nur, einen kohäsiven und kohärenten TEXT zu schaffen, sondern auch, einen TEXT zu produzieren, der sich von TEXTEN einer anderen oder der gleichen Textsorte unterscheidet, der von den Textrezipierenden akzeptiert wird und der fälschungssicher ist (vgl. Deutsche Bundesbank 1995: 11-12). Dieser Intention wird erst Genüge geleistet, wenn die Möglichkeiten der Materialität völlig ausgeschöpft werden. Wenn Geldscheine nur aus einer Schriftebene bestünden, könnte nicht im gleichen Maße, wie das bei dem komplexen TEXT Geld der Fall ist, der sich aus Schrift- und Bildebene zusammensetzt, die Unterscheidbarkeit, Fälschungssicherheit und Identifikation gewährleistet werden. Die Reduzierung des TEXTES Geld auf die Schriftebene führt unweigerlich dazu, dass er dadurch in seiner Funktionalität eingeschränkt wird. Erst durch das Zusammenspiel von Schrift- und Bildebene funktionieren Geldscheine und -münzen als offizielles Zahlungsmittel; denn nur dadurch erhalten die Textrezipient/ -innen die Sicherheit, dass es sich bei dem TEXT Geld um einen wertbeständigen Gegenstand handelt, der mit gutem Gewissen akzeptiert werden kann. M ATERIALITÄT und A KZEPTABILITÄT Ebenso wie das Kriterium der Intentionalität lässt sich das Kriterium der Akzeptabilität nicht in seiner vollen Bandbreite erfassen, wenn nur die Schriftebene als Text wahrgenommen wird. Erst die Kombination von Bild- und Schriftebene machen den TEXT Geld für die Rezipierenden akzeptabel. Den Rezipientinnen und Rezipienten geht es ja nicht nur darum, einen kohäsiven und kohärenten Text vorzufinden, sondern gerade im Zusammenhang mit Geld, das ein Wertaufbewahrungsmittel ist, haben sie ein Interesse daran, dass es ein gut geschütztes Wertaufbewahrungsmittel ist, welches sich nicht ohne weiteres fälschen lässt. Da Geldscheine sehr unterschiedliche Werte repräsentieren, von 5 bis zu 500 EUR, ist es außerdem im Interesse der Textrezipierenden, dass sie sich leicht unterscheiden lassen. Beiden Bedürfnissen wird durch die Materialität Genüge getan, die sich vor allem in der Größe der Geldscheine, der Materialwahl, der unterschiedlichen Farbgebung und der Verwendung von speziellen Sicherheitsmerkmalen wie Kinegrammen und Sicherheitsfäden äußert. M ATERIALITÄT und I NFORMATIVITÄT Allein die Schriftebene betrachtet, ist der Informationsgrad des TEXTES Geld sehr gering. Die einzige Information, die sich auf der Schriftebene von Geldschein zu Geldschein innerhalb einer Währung unterscheidet, ist die Angabe des jeweiligen Wertes. Alle anderen Informationen wie Verfasser, Unterschrift usw. bleiben gleich. Der Informationswert steigt sofort an, wenn man die Bildebene hinzunimmt und die Materialität des TEXTES berücksichtigt. Im Gegensatz zur Schriftebene ändert sich die Information der Bildebene von Geldschein zu Geldschein. Es gibt keine Währung, deren Geldscheine in allen Stückelungen vollkommen gleich sind. Die Schriftebene gewährt Einblick in den monetären Wert einer Währung, die Bildebene dahingegen in die ideellen und kulturellen Werte einer Gesellschaft. Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 325 Abb. 2: 10-DM-Schein (Rekto/ Verso) herausgegeben durch die Bank deutscher Länder 1948 M ATERIALITÄT und S ITUATIONALITÄT Die Situation, in der der TEXT Geld verwendet wird, sieht in der Regel so aus, dass man schnell entscheiden können muss, ob das, was einem als Geld angeboten wird, wirklich echtes Geld ist und ob es dem Wert entspricht, den man erwartet. Diese Entscheidung wird wesentlich durch die Materialität des TEXTES Geld erleichtert, denn es ist für uns leichter, den TEXT Geld nicht nur anhand der Schriftebene zu unterscheiden, sondern auch im Zusammenhang mit seiner Größe, Farbe und seinem Material. All dies musste im Zusammenhang mit dem Euro neu gelernt werden, um sich vor gefälschtem Geld zu schützen. M ATERIALITÄT und I NTERTEXTUALITÄT Das Kriterium der Materialität in Bezug auf Intertextualität lässt sich vor allem am Design von Währungen festmachen und betrifft damit vor allem die Bildebene. Intertextualität lässt sich zwar auch an der Schriftebene feststellen, wird dort aber nicht durch Materialität beeinflusst. Sie besteht in der Regel darin, dass Währungsnamen übernommen werden, wie z.B. Kanadischer oder Australischer Dollar usw. in Anlehnung an den US-Dollar. Dahingegen lässt sich auf der Bildebene der Einfluss der Materialität eindeutig nachweisen. Monika Claßen 326 Abb. 3: Trinkgeld® (Rekto) der Firma VÜNDEC (75 x 170 mm) Wenn man sich z.B. den 10-DM-Schein von 1948 ansieht, erkennt man ganz deutlich, dass sich die Designer des Geldscheines am Aussehen des US-Dollars orientiert haben. Die Farbwahl und die räumliche Aufteilung des Geldscheines erinnern sehr stark an diesen. Die Erklärung für dieses Phänomen dürfte darin zu sehen sein, dass die Bank der deutschen Länder als Vorläuferin der Deutschen Bundesbank eine Institution war, die durch die Alliierten nach dem Krieg geschaffen wurde. Darüber hinaus wurden die Scheine von der American Banknote Company in New York gedruckt. Ganz deutlich wird die Rolle der Materialität dann, wenn es zum Textsortenwechsel kommt, d.h. wenn auf die Textsorte Geld durch eine andere Textsorte Bezug genommen wird. Dieses Beispiel zeigt einen 1000-DM-Schein, der sich bei näheren Betrachtungen als ein Verpackungsmaterial für ein Lebensmittel entpuppt. Dass es sich bei diesem 1000-DM- Schein nicht um echtes Geld handelt, wird sowohl auf der Schriftebene als auch auf der Bildebene deutlich gemacht, denn beide sind mehr oder weniger stark verändert worden. Wesentlich schneller erhält man aber über die Echtheit des “Geldes” Klarheit, wenn man es anfasst, da es nicht aus Papier, sondern aus Plastik hergestellt ist. 2. Das identitäts- und kulturstiftende Potential der Textsorte Geld 2.1 Geld als Nationalsymbol - der Euro Geld, oder besser die Währung eines Landes, ist eines von mehreren nationalen Symbolen. Dazu gehören nach Sasha Weitman außerdem die Nationalflagge, der Name eines Landes, die Bezeichnung des Regierungssystems, die Nationalhymne, nationale Personifikationen, nationale Gedenkstätten, nationale Uniformen und ihre Embleme, die nationale Geschichte, das Motto einer Nation, die Gestaltung nationaler Briefmarken, die Beschriftung von Geldmünzen, nationale Feiertage und nationale Auszeichnungen, Preise und Ehrungen (Weitman 1973: 365). 5 Weitman untersucht in seinem Aufsatz die Nationalflaggen von 137 Staaten und wendet dabei fünf Kriterien an: 1. die Proportionsverhältnisse (Länge : Breite); 2. die verwen- Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 327 deten Farben; 3. die räumliche Aufteilung der Fahne (vertikale oder horizontale Streifen usw.); 4. das Erfassen eines auf der Fahne abgebildeten Gegenstandes und seine Anordnung auf der Fahne und 5. die genaue Beschreibung des Gegenstandes (Weitman 1973: 334). Weitman unterscheidet die Analyseergebnisse in allgemeine und besondere Eigenschaften, die hier aus Platzgründen nur punktuell wiedergegeben werden. Zu den allgemeinen Eigenschaften von Nationalflaggen gehört z.B. ihre Unzerstörbarkeit/ Unsterblichkeit und ihre Heiligkeit. Die Unzerstörbarkeit/ Unsterblichkeit von Flaggen wird zum einen daran deutlich, dass sie aus ausgesprochen widerstandsfähigem Material gefertigt sind, sodass sie jedem Wetter widerstehen und lange benutzt werden können. Zum anderen ist es verboten, Flaggen mit Toten zu begraben und sollten sie doch von Wetter und Zeit ausgegerbt sein, so werden sie nicht einfach weggeworfen, sondern verbrannt (Weitman 1973: 336-337). Ihre Heiligkeit äußert sich darin, dass es für den Umgang mit ihnen eine Etikette gibt, die genau beschreibt, wann, wo und wie welche Fahnen verwendet werden dürfen. In den USA - genau wie in Deutschland - werden Verstöße gegen die Fahnenetikette als Verstöße gegen den Staat gewertet und entsprechend bestraft (Weitman 1973: 337). Zu den besonderen Eigenschaften von Fahnen zählt Weitman die Einmaligkeit, die Gleichheit und Normalität sowie die Zugehörigkeit, die durch die Fahnenproportionen, die Farbwahl, die Feldaufteilung usw. bestimmt werden. Mit Einmaligkeit ist gemeint, dass keine zwei Fahnen gleich sind. Sie unterscheiden sich in mindestens einem Punkt, sei es die Farbwahl, die Feldaufteilung oder die Proportionen (Weitman 1973: 338). Die Eigenschaft der Gleichheit/ Normalität steht im auffälligen Gegensatz zur Eigenschaft der Einmaligkeit, denn einerseits gilt, dass es keine zwei gleichen Fahnen gibt, und andererseits ähneln sie sich sehr. Weitman erklärt sich die Konformität in der Gestaltung von Fahnen so, dass damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass man “dazugehört”. Die Fahne als nationalstaatliches Symbol ist anerkannt und wenn man selbst als Nationalstaat anerkannt werden will, benutzt man gängige Symbole, durch die die eigene Nationalstaatlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Die Eigenschaft Zugehörigkeit besagt schließlich, dass sich trotz aller Unterschiedlichkeit bestimmte Fahnen einander mehr ähneln als andere. Weitman erklärt sich dieses Phänomen mit der geokulturellen Nähe der jeweiligen Staaten zueinander (Weitman 1973: 347). 6 Wenn die Kategorien Weitmans auf Geldscheine und -münzen auch nicht im Verhältnis 1 : 1 zu übertragen sind und ihre Untersuchung sich als wesentlich umfangreicher erweisen würde, da es sich um einen komplexeren TEXT handelt, so lassen sich doch einige Parallelen ziehen. Es fällt z.B. auf, dass Geldscheine und -münzen sich trotz ihrer Unterschiedlichkeit sehr ähneln. Es gibt keine Währung, deren Geldscheine nicht rechteckig sind und deren Münzen nicht mehr oder weniger rund sind. Es gibt zwar Unterschiede zwischen den kleinsten bzw. größten Scheinen einer Währung und denen einer anderen Währung, aber diese halten sich in Grenzen. Bezüglich ihres Formates lassen sich die Geldscheine von Währungen in drei Gruppen einteilen: in diejenigen Währungen, deren Geldscheine alle die gleiche Größe haben, unabhängig von ihrem Nennwert, in diejenigen Währungen, deren Geldscheine proportional zu ihrem Nennwert größer werden und in diejenigen Währungen, deren Geldscheine die gleiche Formathöhe haben, aber in der Länge variieren (Monestier 1982: 43). An dieser Stelle sei noch auf wenigstens eine weitere Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit hingewiesen, die vor allem die Schriftebene des Geldes betrifft, nämlich die Währungsbezeichnung. Dieter W. Portmann, der Übersetzer des Buches Banknoten der Welt von Martin Monestier, hat sich die Mühe gemacht, die dort aufgeführten Währungen nach ihrer Namenszugehörigkeit auszuzählen und ist dabei zu dem erstaunlichen Ergebnis gekommen, dass nicht einmal die Hälfte der 166 aufgeführten Währungen einen eigenen Namen Monika Claßen 328 Abb. 4: 1-Dollar-Schein (Rekto) herausgegeben durch die Central Bank of Trinidad and Tobago haben. Die häufigste Währungsbezeichnung ist der Franc oder Franken, gefolgt vom Dollar, dem Pfund und der Peseta und dem Peso (Monestier 1982: 1-2). Davon abweichende Währungsnamen orientieren sich häufig am Namen des eigenen Landes, wie z.B. der Afghani, der Leone oder der Zaire oder sie orientieren sich an den Namen für das Land wichtiger historischer Persönlichkeiten, wie z.B. der Sucre Equadors oder der Bolívar Venezuelas (Monestier 1982: 3). 7 Die geokulturelle Nähe und damit die gemeinsame kulturgeschichtliche Vergangenheit dürften der Grund dafür sein, dass verschiedene Währungen gleiche Währungsbezeichnungen und ähnliches Design haben. Gerade die Währungsbezeichnungen Pfund, Franc und Peseta erklären sich damit, dass es sich bei denjenigen Ländern, die diese Währungsbezeichnung führen, um ehemalige englische, französische oder spanische Kolonien handelt. Doch diese Erklärung greift nicht im Zusammenhang mit dem US-Dollar, sind die USA doch nicht im gleichen Maße Kolonialmacht gewesen, wie das bei den anderen Ländern der Fall gewesen ist. Im Fall des US-Dollars ist auffällig, dass einzelne Währungen, die nach ihm benannt sind, sich nicht nur auf die Übernahme des Namens beschränkt haben, sondern sich auch im Design am US-Dollar orientiert haben. Im Fall des 1-Dollar-Scheins von Trinidad und Tobago lässt sich sogar noch eine dritte Ebene eröffnen, nämlich durch die Abbildung Elisabeth II., der Königin von England. Auf der einen Seite hat man sich bei der Gestaltung des Geldscheines an dem Design des Nachbarn USA orientiert, andererseits wollte man wohl die historischen Wurzeln als englische Kolonie und Mitglied des Commonwealth of Nations zum Ausdruck bringen. Für die Verwendung der Währungsbezeichnung Dollar und die grafische Ähnlichkeit einzelner Währungen mit dem US-Dollar gibt es meiner Meinung nach noch eine weitere Erklärung, nämlich, dass der US-Dollar symbolträchtiger ist als andere Währungen. Die Benennung der eigenen Währung nach dem Dollar ist der Versuch, an dem Prestige des US- Dollars als der Welthandelswährung zu partizipieren. Dass es sich bei Geld um ein Nationalsymbol handelt, lässt sich außer an dem bisher Gesagten noch an zwei weiteren Sachverhalten nachvollziehen: zum einen an der Tatsache, dass in den Veröffentlichungen der Nationalbanken und in anderen Schriften von ihm als einem Prestigeobjekt bzw. der Visitenkarte des eigenen Landes oder tatsächlich sogar als Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 329 einem Nationalsymbol die Rede ist (Abrams 1995: iv; Deutsche Bundesbank 1995: 8 und 11-12; Poggenpohl 1995: 281-282; Monestier 1983: 63). Zum anderen macht sich die Tatsache, dass die Währung eines Landes ein Nationalsymbol ist, immer dann bemerkbar, wenn neue Banknoten oder gar eine ganze Banknotenserie herausgegeben wird. Aktuellstes Beispiel dafür ist die neue europäische Gemeinschaftswährung, der Euro. An anderer Stelle (Claßen 2000: 401) habe ich darauf hingewiesen, dass die Schrift- und Bildebene des TEXTES Geld über das Konzept Wert miteinander verbunden sind. Auf der Schriftebene wird der Nennwert des Geldscheines dargestellt und auf der Bildebene wird das dargestellt, was als kulturgeschichtlich wertvoll erachtet wird. Entsprechend finden sich auf Geldscheinen Abbildungen von historischen Persönlichkeiten, typischen Landschaftsstrichen oder bekannten nationalen Gebäuden. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie für das jeweilige Land charakteristisch sind und damit repräsentativen Charakter haben. Der Euro zeichnet sich auf den ersten Blick in seinem Design durch das genau Gegenteil aus, nämlich dadurch, völlig unkonkret zu sein und keine speziellen oder charakteristischen Werte zu repräsentieren. Abb. 5: 100-EUR-Schein (Rekto/ Verso) herausgegeben durch die Europäische Zentralbank 2002 (82 x 147 mm) Monika Claßen 330 Als die Europäische Zentralbank 1995 den Wettbewerb für die Gestaltung der neuen euro päischen Währung ausschrieb, gab sie zwei Themen vor: 1. Zeitalter und Stile in Europa und 2. ein abstrakt modernes Design. Das erste Thema, Zeitalter und Stile in Europa, hat sich schließlich durchgesetzt. Alle Banknoten zeigen auf den Rekta Fenster oder Türen und auf den Versa Brücken, die verschiedenen Stilepochen zugeordnet werden können. Dabei war es von größter Wichtigkeit, dass keines der Fenster, keine der Türen oder der Brücken sich mit einem real existierenden Fenster, einer real existierenden Tür oder Brücke in Verbindung bringen lässt. Kein an der Währungsunion beteiligtes Land sollte sich durch ein einseitig nationales Design bevor- oder benachteiligt fühlen, deshalb sollten die Abbildungen zwar einerseits die typischen Merkmale der jeweiligen Epoche tragen, aber keinesfalls mit einem bestimmten nationalen Gebäude identifizierbar sein. Ein detailverliebtes Design wie es sich bei den deutschen Geldscheinen hat finden lassen, ist bei den Euro-Geldscheinen nicht möglich gewesen (vgl. Claßen (2000)). Doch erscheint es bei näherem Betrachten ungerecht, die Euro-Scheine als “antiseptisch” zu bezeichnen, wie das ein Angestellter der Deutschen Bundesbank getan hat. Es gilt, sich vor Augen zu halten, welche Rahmenvorgaben den Designer/ -innen des Euro gemacht worden sind und welche Geschichte der Euro hat. Das Euro-Design ist nicht nur der Neutralität verpflichtet, sondern ihr geradezu ausgeliefert, denn im Gegensatz zu anderen Währungen kann sich der Euro nicht auf irgendeine Vorgängerwährung berufen und an ihr anknüpfen. Der Euro ist eine Währung, die keine Vergangenheit hat und somit in noch viel größerem Maße als andere Währungen um das Vertrauen der Bürger/ -innen werben muss, als das sowieso schon der Fall ist. Gérard Caron, einer der Berater der Europäischen Zentralbank bezüglich des Euro-Designs, formuliert das wie folgt: The jury’s choice has been more conservative, and there are some good reasons about this choice: being too modern the euro banknotes won’t be considered as a banknote, but as a picture or illustration! Don’t forget that this money has no background, no past, no tradition: a non traditional money represented by a non traditional design would be too risky. 8 Caron verweist damit auf einen Aspekt, der wesentlicher Bestandteil des Banknotendesigns ist, nämlich in den Entwürfen neuer Banknoten alten Vorbildern zu folgen, falls es sich dabei um erfolgreiche Vorbilder gehandelt hat (Deutsche Bundesbank 1995: 11-12). In dem Fall, dass eine Währung z.B. durch Inflation einen hohen Wert- und Vertrauensverlust erlitten hat, ist man stets bemüht, die nachfolgenden Banknoten möglichst anders zu gestalten, sodass sie nicht in Verbindung mit ihren Vorgängerinnen gebracht werden. Hat sich eine Währung dahingegen als stabil und kaufkräftig erwiesen, so wird versucht, das Design im Großen und Ganzen beizubehalten, damit das ihr entgegengebrachte Vertrauen nicht erschüttert wird. Für den Euro gibt es, wie schon gesagt, keine Vorlage, auf die er sich berufen kann, denn es hat noch nie eine europäische Gemeinschaftswährung gegeben. Aus diesem Grund war es notwendig, bei seinem Design einerseits einen neuen Weg zu beschreiten, indem man erstmalig das Design für eine Gemeinschaftswährung schuf, und andererseits einen Bezug zu traditionellen Währungen herstellte, um so das Vertrauen der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen. 9 Den Bürger/ -innen wird es sicherlich leichter fallen, die neue Währung zu akzeptieren, wenn diese mit ihrer Kenntnis davon, wie Geld auszusehen und sich anzufühlen hat - linguistisch gesprochen mit ihrem Textmusterwissen - zu großen Teilen übereinstimmt. Nun stellte sich allerdings die Frage, welchen gemeinsamen kulturellen Wert man auf der Bildebene darstellen kann, der gleichzeitig allgemeingültig und doch speziell genug sein soll, um über genug Aussagekraft zu verfügen. Robert Kalina, der die Entwürfe für die heutigen Euro-Geldscheine angefertigt hat, hat die in allen europäischen Staaten gleicher- Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 331 maßen zu findenden Architekturstile als kleinsten gemeinsamen kulturellen Nenner entdeckt und setzte sich deshalb mit seinen Entwürfen im Wettbewerb durch. Nun ließe sich vielleicht sagen, dass es in gewisser Weise ein Gemeinplatz ist auf das gemeinsame europäische architektonische Erbe zu verweisen, schließlich hat jede und jeder schon einmal im Urlaub im Ausland eine romanische, gotische oder barocke Kirche gesehen, wie sie oder er sie auch aus der Heimat kennt. Doch Angelika Trachtenberg, eine weitere Expertin des Beratungsgremiums der Europäischen Zentralbank für das Design des Euro, entkräftet diesen Vorwurf, indem sie auf den kommunikativen bzw. semiotischen Wert von Architektur hinweist: Der Gestaltung gelingt es, aus der verbindenden kulturellen europäischen Vergangenheit in eine gemeinsame europäische Zukunft aufzubrechen. Der Zukunftsaspekt ist das Wichtige. Denn europäische Identität ist zur Zeit ja nicht wirklich vorhanden, darum sollte es im Design auch nicht vorgespiegelt werden. […] Ganz besonders die Symbolik der Brücke ist hier wichtig. Brücken verbinden Menschen, verbinden Kontinente, verbinden Epochen, verbinden Länder. Und genau so sind die Brücken der Entwürfe inszeniert. […] Das wichtigste Attribut des Euros ist “verbindend”. Vergangenheit mit Zukunft, Länder, Menschen, Kontinente. Ein weiteres wichtiges Attribut ist “sich öffnen” (so wie man Fenster öffnet), sich öffnen für neue Herausforderungen der Zukunft, für neue Gedanken; dazu gehört ganz sicherlich auch WIR-Denken statt übertriebenes, nationales Statusbewußtsein. […] Es geht um ein neues europäisches Bewußtsein, um eine WIR-Identität und nicht um eingegrenztes Schrebergartendenken. Aus diesem Grund war es auch richtig, nationale Individualitäten zu vermeiden. Es wäre nicht möglich gewesen, 15 europäische Länder im gleichen Ausmaß zu befriedigen. Darum ist das Thema der Persönlichkeiten der Vergangenheit irrelevant, da nicht entscheidbar und nicht gerecht. Vielleicht gibt es in 10 Jahren “Europäer”, Träger der neuen zukünftigen Gemeinsamkeit, die dies wieder ermöglichen. Der Symbolgehalt des Euro speist sich also nicht - im Gegensatz zu allen anderen Währungen - aus dem, was einmal war, sondern aus dem, was sein wird bzw. sein soll. Niemals zuvor ist es vorgekommen, dass Staaten freiwillig auf ihre Währungshoheit verzichtet haben, ist diese doch Zeichen für die Souveränität eines Staates und bedeutet bis zu einem gewissen Grad wirtschaftliche Unabhängigkeit. Deshalb mutet es auch befremdend an, wenn wir hören, dass ein Land wie Argentinien sehr ernsthaft darüber nachgedacht hat, seine Währung durch den US-Dollar zu ersetzen (Hellmann 1999: 29). In dieser Situation wird es ganz deutlich, dass die Währung eines Landes tatsächlich ein Nationalsymbol ist. Allerdings scheinen die verschiedenen Nationalsymbole, über die ein Land verfügt, von sehr unterschiedlicher Qualität zu sein. Die Landesflagge oder Nationalhymne auf der einen Seite und die landeseigenen Briefmarken und Geldscheine auf der anderen Seite haben einen unterschiedlichen Symbolgehalt. Für die ersteren gibt es eine Etikette und sie sind in rituelle Handlungen eingebunden. Für den Umgang mit Briefmarken und Geldscheine lässt sich ein solches Verhalten nicht feststellen, obwohl es auch für sie bestimmte Gesetzesvorschriften gibt, die das Fälschen von Geld- und Wertzeichen unter Strafe stellen (Strafgesetzbuch 1999: 770-785). Ein weiteres Indiz dafür, dass die Flagge eines Landes und nicht die Währung eines Landes als ein Symbol für es wahrgenommen wird, ist die Tatsache, dass bei Demonstrationen, die sich gegen dieses Land richten, nicht etwa dessen Geldscheine hochgehalten und womöglich verbrannt werden, sondern dessen Fahne. Geldscheine, Briefmarken usw. werden offensichtlich so lange mehr als Gebrauchsgegenstände denn als Nationalsymbol wahrgenommen, so lange ihre alltägliche Funktionsweise, z.B. durch die Veränderung ihres Designs, nicht in Frage gestellt wird. Die Nationalhymne oder die Landesfahne scheinen dahingegen von vornherein nicht als Gebrauchsgegenstände wahrgenommen zu werden, Monika Claßen 332 sondern über sakrosankte Eigenschaften zu verfügen. Dies liegt natürlich auch daran, dass die verschiedenen Symbole in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden. Briefmarken und Geld sind Teil unseres alltäglichen Lebens, wohingegen die Nationalhymne und die Landesfahne nur zu besonderen Anlässen eine Rolle in unserem Leben spielen. 2.2 Geld als Kommunikationsmedium - antisemitische Geldscheine Die Kommunikativität von Geld ist nur seine sekundäre Funktion. Seine primäre Funktion ist dreigeteilt. Es ist 1. Zahlungsmittel, 2. Recheneinheit und 3. Wertaufbewahrungsmittel. Die Funktion, sowohl Kommunikationsals auch Propagandamittel zu sein, lässt sich in unterschiedlichem Maße auf der Schrift- und Bildebene von Geld feststellen. Die Schriftebene besteht in der Regel aus einer sehr neutralen, wenn auch wichtigen Nachricht, nämlich dem Wert des jeweiligen Geldscheins oder -stücks. Die “Botschaft” der Bildebene ist einerseits einfach und andererseits komplex: einfach insofern, als auf der Bildebene Personen, Ereignisse oder Gegenden abgebildet werden, die sich alle unter dem Begriff “kultureller-Werteines-Landes” zusammenfassen lassen; komplex, weil es je nach Währung sehr unterschiedliche Sachverhalte sind, die als wertvoll angesehen werden. Für die antisemitischen Geldscheine, die in zwei große Gruppen zu unterteilen sind, lassen sich zwei unterschiedliche Kommunikationsstrategien feststellen. Das antisemitische Notgeld, das nach dem Ersten Weltkrieg bis 1922 gedruckt wurde, folgt, da es sich um Geldersatz handelte, dem Textmuster Geldschein, sodass die Textbestandteile denjenigen eines “richtigen” Geldscheines entsprechen, wohingegen die antisemitische Botschaft ausschließlich durch die Bildebene vermittelt wird. Bei den antisemitisch überdruckten Geldscheinen wird ein mehr oder weniger wertlos gewordener Geldschein als Medium für die antisemitische Botschaft verwendet. Die meisten antisemitisch überdruckten Geldscheine stammen aus dem Jahr 1923, sind aber wohlmöglich später überdruckt worden. Ihre zeitliche und geografische Bestimmung ist ausgesprochen schwierig, da sie selbst nur sehr selten Auskunft darüber geben. Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 333 Abb. 6: Antisemitisches Notgeld (Rekto) herausgegeben durch die Stadt Sternberg 1922 (97 x 128 mm) Monika Claßen 334 Abb. 7: 1000-Mark-Reichsbanknote mit antisemitischem Aufdruck auf dem Verso (85 x 165 mm) Für die meisten der antisemitischen Notgeldscheine gilt, dass sie grafisch - im Gegensatz zu den überdruckten Inflationsscheinen - relativ aufwendig gestaltet sind. Zu den in dieser Beziehung aufwendigsten gehören die 100-Pfennig-Scheine der Stadt Sternberg aus dem Jahr 1921. Für diese wurden offensichtlich Holzschnitte von 1492 als Vorlage benutzt, die einen alten und gängigen Vorwurf gegen die Juden zum Thema haben, nämlich die Hostienschändung (Graus 1997: 46-49). Neben der Themenwahl ist auch die Darstellung der Juden als Personen auf allen antisemitischen Geldscheinen sehr ähnlich und folgt bestimmten stereotypen Vorstellungen, die sich vor allem an der Physiognomie (Bock/ Filipschack 1997: 29-31) und dem gedrungenen Körperbau (Weissberg 1999: 279) festmachen lassen. Im Großen und Ganzen scheint es so gewesen zu sein, dass zumindest von staatlicher Seite kein Einwand gegen diese Scheine vorgebracht wurde, wobei in diesem Zusammenhang wiederum berücksichtigt werden muss, dass das Notgeld in der Regel nur für einen sehr begrenzten geografischen Raum gültig war, d.h. aus der Duldung antisemitischer Geldscheine durch die lokalen Behörden lässt sich nicht gleichzeitig schließen, dass auch die nächst höheren Instanzen mit dieser Art von Notgeld einverstanden waren. Antisemitisch überdruckte Geldscheine sind laut Wolfgang Haney wesentlich häufiger vertreten als antisemitisches Notgeld. Haney verfügt über die wohl umfangreichste Sammlung dieser Arten von Geldscheinen in Deutschland. Er geht davon aus, dass es vielleicht insgesamt 200 bis 220 verschiedene Motive für antisemitisch überdruckte Geldscheine gibt, wobei diese Angaben in gewisser Weise irreführend sind, da jeder Aufdruck, und sei er auch wortgleich mit dem Aufdruck eines anderen Scheins, als eigenes Motiv gezählt wird, wenn er sich nur in Typografie oder Schrift unterscheidet. In den seltensten Fällen lassen sich die antisemitisch überdruckten Geldscheine genau datieren. Die Geldscheine, die verwendet wurden, sind zwar alle aus dem Jahr 1923, daraus kann aber nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass auch die Aufdrucke aus diesem Jahr stammen. Es spricht einiges dafür, dass Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 335 Abb. 8: 1-Millionen-Mark Reichsbanknote mit antisemitischem Aufdruck auf dem Verso diese auch in späteren Jahren noch angebracht wurden. So besitzt Haney eine Postkarte des Leipziger Papierwarenhändlers Emil B. Böhme, der seinem Parteigenossen Hermann Richter im Jahr 1938 mitteilt, dass er sich nun wieder im Besitz der Freifahrkarten nach Jerusalem und Moskau befindet und diese wieder über ihn erworben werden können. Damit ist zwar noch nicht bewiesen, dass antisemitisch bedruckte Geldscheine auch noch wesentlich später als 1923 zu Propagandazwecken verwendet wurden, aber diese briefliche Benachrichtigung lässt zumindest vermuten, dass einige der antisemitischen Aufdrucke auch noch aus späteren Jahren stammen. Das “Nationalsozialistische Glaubensbekenntnis” ist nicht nur interessant, weil es sich eines bekannten Textes bedient, sondern weil sich an ihm auch zeigen lässt, welche Intentionen mit den antisemitisch überdruckten Geldscheinen verfolgt wurden. In erster Linie war dies sicherlich die Verunglimpfung der jüdischen Bevölkerung, aber darüber hinaus auch die Aufforderung, eine bestimmte politische Partei zu wählen. Neben solchen Aufdrucken finden sich auf anderen Scheinen auch Aufdrucke, die dazu aufrufen, den Völkischen Beobachter zu kaufen. 10 Daraus lässt sich schließen, dass diese Geldscheine gar nicht mehr als Zahlungsmittel wahrgenommen wurden, sondern als Flugblatt und insofern haben wir den seltenen Fall, dass die Zahlungsfunktion des Geldes durch die sekundäre Funktion, Kommunikationsbzw. Propagandamittel zu sein, überdeckt wird. Allerdings ist seine Funktion, Zahlungsmittel zu sein, nicht völlig aus dem Blick geraten, denn mit den aufgedruckten Texten wurde häufig ein direkter Bezug zu ihr hergestellt. Man denke nur an den Spruch: “Das Gold, das Silber und den Speck nahm uns der Jud’ und ließ uns diesen Dreck! ”, wie er sich auf der “Fahrkarte nach Jerusalem” (vgl. Abb. 7) findet. 3. Zusammenfassung Die Frage, ob es sich bei Geldscheinen und -münzen um einen Text handelt, ist eindeutig mit “Ja” zu beantworten. Die- Monika Claßen 336 sem einfachen “Ja” liegen allerdings einige sehr grundsätzliche Überlegungen zugrunde, die in der traditionellen Textlinguistik zu wenig beachtet werden: 1. In einer adäquaten Auseinandersetzung mit TEXTEN muss ihre Komplexität erfasst und ernst genommen werden. Nicht-sprachliche Bestandteile dürfen nicht als bloßes Beiwerk betrachtet werden, sondern müssen als essenzielle Bestandteile des komplexen TEXTES wahrgenommen werden. Komplexe TEXTE sind Texte, die sich nicht nur auf das sprachliche Zeichensystem beschränken, sondern auch andere, nicht-sprachliche Zeichensysteme beinhalten. Wenn man eines der verschiedenen an einem komplexen TEXT beteiligten Zeichensysteme vernachlässigt, dann erfasst man den in Frage stehenden Text nur unzureichend. 2. Die Erfassung von Äußerungen als komplexe TEXTE lässt sich ohne weiteres mit bestehenden Textauffassungen in Einklang bringen, bedarf allerdings einer Reinterpretation und Ergänzung, wie das prozedurale Textmodell von Beaugrande/ Dressler zeigt. 2.1 Die Analyse des Modells von Beaugrande/ Dressler hat gezeigt, dass die von ihnen angeführten Textualitätskriterien sich sowohl auf sprachliche als auch nicht-sprachliche Zeichensysteme anwenden lassen. Allerdings ist auch offenbar geworden, dass ihr Kriterienkatalog sinnvollerweise um zwei weitere Kriterien erweitert werden muss - nämlich Kulturalität und Materialität - und dass die von Beaugrande/ Dressler postulierte Gleichgewichtung der Kriterien so nicht aufrecht zu erhalten ist. 3. Erst durch die Analyse von Geldscheinen und -münzen als komplexer TEXT wird das ihnen innewohnende identitäts- und kulturstiftende Potential deutlich. Dieses Potential ist kaum auf der Schriftebene enthalten, sondern findet sich größtenteils auf der Bildebene, denn hier werden die kulturellen und ideellen Werte des jeweiligen Landes repräsentiert. 3.1 Im Zusammenhang mit dem Euro ergibt sich die überraschende Erkenntnis, dass die dort abgebildeten Werte sich nicht, wie bei allen anderen Währungen, auf die Vergangenheit beziehen, also auf berühmte Persönlichkeiten, historische Begebenheiten usw. verweisen, sondern auf die Zukunft verweisen und zum Ausdruck bringen, wie Europa einmal sein soll. 3.2 Schließlich ist durch die Unterscheidung der verschiedenen an einem Text beteiligten Zeichensysteme eine genauere Analyse der sekundären Funktion von Geld, nämlich Kommunikations- und Propagandamittel zu sein, möglich. Im Fall des antisemitischen Notgeldes findet die Kommunikation bzw. die Propaganda über die Bildebene statt, wohingegen die antisemitisch überdruckten Geldscheine sich der Schriftebene bedienen. Ist Geld ein Text und was hat es uns zu sagen? 337 Abbildungsnachweis Die Abbildungen, die hier nicht aufgeführt sind, befinden sich in meinem eigenen Besitz. Abbildung 2: Kranister (1989: 229). Abbildung 4: Monestier (1982: 368). Abbildung 6-8: Sammlung Wolfgang Haney, Berlin. Literatur Abrams, Richard K. 1995: The design and printing of bank notes. Considerations when introducing a new currency. [IMF Working Paper Nr. 26] Beaugrande, Robert-Alain de; Wolfgang Ulrich Dressler 1981: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen: Niemeyer. [Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 28] Bock, Gabriele; Wolfgang Filipschack 1997: “Elemente des Judenstereotyps in Massenmedien”, in: Dichanz, Horst; Nadine Hauer; Peter Hölzle; Imme Horn (Hgg.). Antisemitismus in Medien. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 28-31. Claßen, Monika 2000: “Geld als Text”, in: Fix, Ulla; Hans Wellmann (Hg.). Bild im Text - Text und Bild. Heidelberg: C. Winter, 399-407. 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Fix verdeutlicht in diesem Aufsatz am Beispiel von Wohnungsanzeigen in Deutschland und Russland, inwiefern die Bewertung eines Textes als effizient, effektiv und angemessen stark von den kulturellen Gegebenheiten abhängt. 4 Wenn ich im Folgenden von dem TEXT Geld spreche, so meine ich damit das komplexe Zeichensystem Geld, das sich aus einer Schriftebene, die im Alltag als Text bezeichnet wird, und einer Bildebene zusammensetzt. Diese Unterscheidung scheint mir insofern notwendig zu sein, als mit dem Begriff Text in der Regel nur mündliche und schriftliche Äußerungen assoziiert werden. Es wird sich zeigen, das der TEXT Geld seine volle Funktionsfähigkeit nur dann erfüllt, wenn sowohl die Schriftals auch die Bildebene berücksichtigt werden. Dementsprechend meint das normal geschriebene Wort Text das, was in der Regel unter Text verstanden wird, nämlich einen mündlich oder schriftlich verfassten Text. Diese Trennung der beiden Begriffe “TEXT” und “Text” ist allerdings nur dort notwendig, wo komplexe TEXTE untersucht werden, die sich aus unterschiedlichen Zeichensystemen zusammensetzen. In Kapitel 2, in dem es um das kultur- und identitätsstiftende Potential des Textes Geld geht, verwende ich die Normalschreibung, da dort Textualität nur von sekundärer Bedeutung ist. Im Fall von Komposita mit dem Wort TEXT verzichte ich auf die Großschreibung, es heißt also dann nicht TEXTkriterien, TEXTsorte usw. 5 In Deutschland gehören folgende Dinge zu den rechtlich geschützten Nationalsymbolen: die Farben, die Flagge, das Wappen und die Hymne der Bundesrepublik Deutschland (§ 90 a StGB) und inländische oder ausländische Uniformen, Amtskleidungen oder Amtsbezeichnungen (§ 132 a StGB). 6 Man sehe sich nur die Fahnen der skandinavischen Länder an, die sich alle für die gleiche Feldaufteilung entschieden haben, nämlich ein Kreuz, das um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht ist und so die Fahne in vier Rechtecke aufteilt. 7 Antonio José de Sucre y de Alcalá (1795-1830) und Simón de Bolívar (1783-1830) waren Generäle, die gegen die spanische Zentralgewalt Südamerikas kämpften. 8 Diese und folgende Antworten entstammen einem Fragebogen, den ich den verschiedenen Mitgliedern des Beratungsgremiums der Europäischen Zentralbank zugeschickt habe. 9 In Bezugnahme auf Weitmans Überlegungen bezüglich der Ähnlichkeit von Flaggen bzw. Geldscheinen, scheint es mir interessant zu sein, dass offensichtlich ganz bewusst kein grafischer Bezug zum US-Dollar gesucht worden ist. Der Euro ist eben eine europäische Währung und keine amerikanische Währung. 10 Neben antisemitisch überdruckten Geldscheinen gibt es laut Haney auch Geldscheine, die von Sozialisten und Kommunisten bedruckt wurden und zur Wahl ihrer Parteien aufriefen. Die Philosophie des Geldes und die moderne Wissenssoziologie Anna Wessely 1. Der Versuch, Simmels enzyklopädische Philosophie des Geldes mit den Fragestellungen der wissenssoziologischen Forschung in Beziehung zu setzen, hat mit einigen Schwierigkeiten zu rechnen. Dieses Buch gehört ja zu jener Gattung der Philosophie, die sich in das eingespielte System der wissenschaftlichen Arbeitsteilung nicht fügen will und eine fachspezifische Problematik nur als Teil eines übergreifenden metaphysischen Zusammenhanges gelten läßt. In einer beiläufig anmutenden Bemerkung hebt Simmel hervor, daß in dieser Art von Philosophie “einerseits das aufgenommene Material eine durchaus sekundäre Rolle spielt, andrerseits das Produkt sich am wenigsten von seinem subjektiven Ursprung gelöst hat, vielmehr ganz als Leistung dieser einen Persönlichkeit auftritt” (PHG, S. 633) 1 . Das in die Philosophie des Geldes aufgenommene Material enthält in der Tat eine Fülle von soziologisch relevanten Beobachtungen und Deutungen. Das Produkt selbst ist aber eine weit ausschweifende Darstellung von Simmels Philosophie der Relativität, worin die soziologischen Ausführungen (wie übrigens auch die psychologischen, nationalökonomischen und historischen Erörterungen) entweder als Belege und Beispiele untergebracht wurden oder eine reflexive Begründung der zentralen Thesen liefern, d.h. die historische Kontingenz ihrer Formulierbarkeit reflektieren sollten. 2. Innerhalb der Wissenssoziologie als institutionalisierter Disziplin kann man grob zwei Forschungsrichtungen unterscheiden. Die erste und auch ältere entstand unter dem Einfluß der geschichtsphilosophischen, milieutheoretischen oder geistesgeschichtlichen Konstruktionen der Jahrhundertwende. Das Interesse gilt hier vor allem der stilistischen Einheit einzelner Epochen, den Weltanschauungen und ihre Objektivationen in den verschiedenen Gebieten der Kultur. Der Soziologe soll die gemeinsamen Strukturprinzipien der mannigfaltigen Kulturgebilde einer Gesellschaft herausarbeiten, diese Prinzipien als die konstitutiven Elemente eines Weltbildes darstellen, um dann dieses Weltbild einer bestimmten sozialen Klasse oder mehreren gesellschaftlichen Gruppen als dessen Trägern zuzurechnen. Das Verfahren wird der Geschichtswissenschaft, vor allem der Kunstgeschichte entlehnt, wo ein anonymes Werk zuerst aufgrund stilkritischer Erwägungen einer bestimmten Gruppe von Werken bekannter Künstler angeschlossen und dann einem von ihnen (oder wenigstens seinem Kreis) zugeschrieben wird. Bei diesem zweiten Schritt schenkt der Kenner den automatisch-unbewußt ausgeführten Details des Werkes besondere Aufmerksamkeit, da sie angeblich die Spuren, den Abdruck der individuellen Eigenart einer Künstlerpersönlichkeit enthalten. In einer ähnlichen Einstellung versucht auch die wissenssoziologische Attribution, die für die Mitglieder einer Kultur unbemerkt bleibenden Züge ihres Weltbildes und ihrer Werke zu erkennen, wobei die Rolle der teilweise unbewußten Automatismen den Interessen und/ oder den entscheidenden gesellschaftlichen Erfahrungen einer Gruppe zuerteilt wird. Oft aber wird auf K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Anna Wessely 340 die Herausbildung dieser Vermittlungen verzichtet und die Kultur als ein den Gesellschaftskörper umhüllender Dunst, als seine Emanation dargestellt. 2 Die andere Forschungsrichtung unterscheidet sich grundsätzlich von der vorhergehenden durch ihren gewählten Ausgangspunkt, der nicht mehr von den abgeschlossenen Ergebnissen der Wissensproduktion, sondern von ihrem Prozeß gebildet wird. Folglich setzt die Analyse bei den (kollektiven) Handelnden und ihren teils informellen, teils institutionalisierten Interaktionsmustern an. Hierdurch wird es leichter, von der Akkumulation des Wissens, seiner augenscheinlich immanenten Logik Rechnung zu geben, ohne dabei die soziologische Erklärungsabsicht aufgeben oder sie in ihrer Relevanz beschränken zu müssen. Freilich gibt es innerhalb dieser Richtung mehrere Varianten, angefangen von Mertons Selbstbeschränkung auf die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Forschung, über Bourdieus Konzentration auf die Verteilung der feldspezifischen Profite sowie auf die daraus entstehende Logik der Konkurrenz, bis hin zu den ambitiösen Versuchen der Edinburgh School, die philosophische Rekonstruktion mit der soziologischen Erforschung der Entwicklung von Wissen zu vereinen und die Untersuchungen bis zur Weltbildanalyse zu erweitern. Es bleibt jedoch das gemeinsame Merkmal all dieser Varianten, daß die in den Erklärungen herangezogenen Interessen der Produzenten und Vermittler von Wissen nicht außerhalb ihrer Tätigkeit liegen, mit dem untersuchten Wissen nicht erst in eine einsehbare Beziehung gesetzt werden müssen, sondern von vornherein wirksame Elemente in dem Wachstum und Wandel von Wissen sind. 3. Simmels Aussagen über die Gebundenheit von gewissen Denkweisen an bestimmte historische Perioden oder soziale Gruppen lassen sich eindeutig in die zuerst genannte Forschungsrichtung einreihen. Ohne die Virtuosität seiner Beschreibung der formalen Organisation der modernen Lebenswelt und seiner Darstellung des modernen Lebensstils leugnen zu wollen, würde ich behaupten, daß die Philosophie des Geldes keine einzige im strengen Sinne wissenssoziologische Aussage macht -, und dies aus dem einfachen Grunde, daß die individuellen oder kollektiven Handelnden, deren Motive, Zwecke oder Interessen den Wandel von Richtung und kategorialer Struktur des Denkens prägen und ihm seine spezifischen Wertakzente verleihen sollen, von Simmel nie zureichend bestimmt werden. Das Subjekt in seinen einschlägigen Sätzen sind “wir” Menschen, “der Grieche” oder “der griechische Geist”, “die Neuzeit”, “das indische Volk”, “der Gebildete und der Proletarier”, bestenfalls noch “die liberalen Kreise”. Der vermutete Zusammenhang zwischen Lebens- und Wissensformen ruht auf meist unausgesprochenen psychologischen Hypothesen, auf den verallgemeinerten alltäglichen Erfahrungen eines scharfsinnigen Beobachters. Simmel geht es nicht um den Aufweis kausaler oder funktionaler Beziehungen zwischen Interessen und ihrem Ausdruck bzw. ihren Auswirkungen auf den Wandel des Wissens, sondern um die Darstellung der Aufeinanderbezogenheit aller Elemente einer Kultur. Da die Aufbauprinzipien der sich somit ergebenden stilistischen Einheit ästhetischer Natur sind, kann jedes Element jedes andere hervorrufen, ergänzen oder rechtfertigen. Statt der in der Soziologie üblichen hierarchischen Strukturmodelle wird das Modell des um sein ideelles Zentrum organisierten Kunstwerkes vorgezogen, worin alle Teile zugleich als Ausstrahlungen und konstitutive Komponenten der Idee des Ganzen aufgefaßt werden. Die Annahme einer universellen Wechselwirkung macht die Herausarbeitung von kausalen Ketten und Vermittlungsinstanzen überflüssig. Dieses Verfahren provozierte später Adornos ablehnende methodologische Kritik, jenen Vorwurf, daß Simmel die vereinzelten, sinnlich greifbaren Züge einer Kultur direkt, ohne Vermittlung Die Philosophie des Geldes und die moderne Wissenssoziologie 341 durch den Gesamtprozeß mit den entsprechenden Zügen der Basis verbände. 3 Diese Verbindung kann übrigens, da sie auf ästhetischem Wege hergestellt wird, ebenso das Ergebnis von spontaner Homologie wie von Analogiebildung und Symbolisierung oder eben einer kontrapunktischen Konstruktion sein. Damit erscheint auch die Frage nach Ursachen, nach zeitlicher oder logischer Aufeinanderfolge als schief gestellt oder irrelevant. Simmels Deutung der klassischen griechischen Kultur veranschaulicht sowohl die künstlerische Überzeugungskraft als auch die Widersprüchlichkeit seiner Erklärungen (PHG, S. 301,302): “das ist die ungeheure Spannweite des griechischen Geistes, daß er seine Ideale nicht nur in der Fortsetzung und Komplettierung der Gegebenheit suchte, wie es bei weniger großen und schwungvollen Volksnaturellen geschieht: sondern daß ihre leidenschaftliche, gefährdete, durch fortwährende Parteiungen und Kämpfe zerrissene Realität ihre Vollendung in ihrem Anderen suchte, in der festen Begrenztheit und den ruhigen Formen ihres Denkens und Bildens. […] All diese inneren und äußeren Momente der Lebensgestaltung sind so wechselwirkende, daß man kaum eines als das zeitlich fundamentale, unbedingt veranlassende bezeichnen kann. Der Charakter einer agrarischen Wirtschaft, mit ihrer Zuverlässigkeit, mit ihrer geringen und wenig variablen Zahl der Mittelglieder, mit ihrem Betonen der Konsumtion gegenüber der Produktion einerseits, die auf die Substanzialität der Dinge gerichtete Sinnesart, die Scheu vor allem Unberechenbaren, bloß Labilen und Dynamischen andrerseits sind doch wohl nur verschiedenartige, durch das Medium differenzierter Interessen gebrochene Strahlen einer einheitlichen historischen Grundbeschaffenheit, die wir freilich mit unserem auf das Zerlegen angelegten Verstande nicht unmittelbar greifen und benennen können - oder sie gehören jenen Bildungen an, zwischen denen die Frage nach der Priorität überhaupt falsch gestellt ist, weil ihr Wesen von vornherein in der Wechselwirkung besteht, eines sich auf das andere und das andere auf das eine und so ins Unendliche aufbaut, in einem Zirkel, der für die Einzelheiten des Erkennens fehlerhaft, für seine grundlegenden Momente aber wesentlich und unvermeidlich ist.” 4. Man kann aber die Philosophie des Geldes auch aus dem Blickwinkel der anderen wissenssoziologischen Richtung lesen, und dann wartet sie mit einer Überraschung auf: Simmels Analyse des Erkenntnisprozesses und der Relativität von Objektivität und Wahrheit verspricht nämlich eine solide epistemologische Fundierung für die Soziologie der Wissensproduktion. Diese Theorie baut in vielem auf den im Jahre 1895 geschriebenen Aufsatz “Über eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie” auf und übernimmt fast wörtlich einige von dessen Formulierungen. Sie schafft jedoch ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen einer evolutionären Epistemologie und den soziologisch wichtigen Aspekten der Konstitution und Vermittlung von Wissen. Jener Aufsatz, darin bemüht, “den Dualismus zwischen der Welt als Erscheinung, wie sie logisch-theoretisch für uns existiert, und der Welt als derjenigen Realität, die auf unser praktisches Handeln antwortet”, aufzuheben, assimiliert die theoretische Erkenntnis an die Evolution des praktischen Orientierungswissens mit der Begründung, “daß auch die Denkformen, die die Welt als Vorstellung erzeugen, von den praktischen Wirkungen und Gegenwirkungen bestimmt werden, die unsere geistige Konstitution, nicht anders wie unsere körperliche, nach evolutionistischen Notwendigkeiten formen.’ 4 Die Philosophie des Geldes läßt bereits die meisten “psychologischen” Argumente des früheren Aufsatzes weg, schenkt dagegen den sozialen Prozessen der Konsensbildung, des Lernens und der Institutionalisierung des Erkennens in den Fachwissenschaften mehr Beachtung. Ausgegangen wird von dem spezifischen physiologischen Aufbau und den Bedürfnissen der verschiedenen Organismen, deren jeder sich in seiner ökologischen Nische zu orientieren und zu erhalten hat. Unter den Vorstellungen eines bewußtseinsfähigen Organismus selektiert Anna Wessely 342 das lebenserhaltende Handeln jene aus, die sich bewährt, sich als nützlich erwiesen haben. Folglich ist Wahrheit “für jede mit Bewußtsein ausgestattete Art eine inhaltlich andere und kein Spiegelbild der Dinge an sich” (PHG, S. 102). Dieser Gedanke der biologisch fundierten Relativität der Erkenntnis wurde später 5 zur metaphysischen Bestimmung des Individuums und seines individuellen Gesetzes erweitert. Er erhielt aber auch eine soziologisch wichtige, leider nicht weiter ausgeführte Formulierung. In dem Aufsatz über “Weibliche Kultur”, die die historisch entstandene Not feministischer Theoriebildung freilegte und mit dem “Gegensatz zwischen dem ganz allgemeinen Wesen der Frauen und der ganz allgemeinen Form unserer Kultur” begründete: 6 “Freilich kann hier konsequenterweise nur ein ganz radikaler Dualismus helfen: nur wenn man der weiblichen Existenz als solcher eine prinzipiell andere Basis, eine prinzipiell anders gerichtete Lebensströmung als der männlichen zuerkennt, zwei Lebenstotalitäten, jede nach einer völlig autonomen Formel erbaut - kann jene naive Verwechslung der männlichen Werte mit den Werten überhaupt weichen. Sie ist von historischen Machtverhältnissen getragen, die sich logisch in dem verhängnisvollen Doppelsinn des Begriffes vom ‘Sachlichen’ ausdrücken: das Sachliche erscheint als die rein neutrale Idee, in gleichmäßiger Höhe über den männlichweiblichen Einseitigkeiten; aber nun ist das ‘Sachliche’ doch auch die Sonderform der Leistung, die der spezifisch männlichen Wesensart entspricht. Das Eine eine Idee von übergeschichtlicher, überpsychologischer Abstraktheit, das Andere ein historisches, der differentiellen Männlichkeit entspringendes Gebilde, - so daß die von dem letzteren ausgehenden Kriterien, durch das gleiche Wort getragen, sich mit der ganzen Idealität des ersteren decken und daß die Wesen, deren Natur sie von der Bewährung an der spezifisch männlichen Sachlichkeit ausschließt, von dem Standpunkt der übergeschichtlichen, der schlechthin menschlichen Sachlichkeit aus (den unsere Kultur überhaupt nicht oder nur sehr sporadisch realisiert) deklassiert erscheinen.” Wie ist denn unsere Auffassung von Sachlichkeit entstanden? Simmel beschreibt diesen Prozeß folgendermaßen: Die Vorstellungen, die sich im Handeln bewährt haben, bilden feste Punkte der Umweltorientierung, die dann aufgrund von erfahrenen Zusammenhängen und mit Hilfe rudimentärer Theorien miteinander so verbunden werden, daß sie ein Netzwerk von Erkenntnissen ergeben. Das Prinzip der Objektkonstitution und der Formulierung von “Gesetzen” ist grundsätzlich dasselbe: die Wahrnehmungen werden mit den Kategorien der Selbsterfahrung zum Wissen geordnet (PHG, S. 656). Man schreibt dem als erkannt gedachten Gegenstand eine notwendige Einheit seiner wahrgenommenen Eigenschaften, den Erfahrungszusammenhängen gesetzmäßige Notwendigkeit zu (PHG, S. 105-106). Somit gibt das jeweilige Wissen “das objektive Gegenbild dessen” ab, “was wir in uns selbst als unser Wertvolles und Definitives vorstellen” (PHG, S. 94). Dieses ist wertvoller einerseits als der Inbegriff der das nützliche Handeln anleitenden Prinzipien und andererseits als ein Bild von der Welt, das mit dem Selbstbild des Menschen in Eintracht ist. Die Elemente dieses Netzwerkes stützen sich gegenseitig ab, und “dadurch, daß jede an der anderen ihre Ergänzung und eben durch diese ihre Legitimierung findet, nähern sie sich - wenngleich in einem unendlichen Prozeß des Sich-gegenseitig-Hervorrufens - dem Ideale der objektiven Wahrheit” (PHG. S. 114). Simmels Bestimmung dieser Objektivität als der gegenseitigen Beziehung von inhaltlich subjektiven Elementen und als der intersubjektiven Gültigkeit des Wissens zieht bereits den sozialen Kontext der Wahrheitsfindung und der Wissensübermittlung in die Untersuchung ein. Objektivität wird durch den Konsens eines Gesellschaftskreises hergestellt; besser: sie ist zuerst “mechanisch und äußerlich”, durch soziale Regelung gesichert. Die sozial überlieferten Wissensbestände werden mit ihrer bloß durch die Autorität der Tradition verbürgten Gültig- Die Philosophie des Geldes und die moderne Wissenssoziologie 343 keit von dem Einzelnen “als rein logisch erscheinende Forderungen” hingenommen. Somit akzeptiert er die bindende Kraft von Logik und sozial aufbewahrtem Wissen, den “Zwang unserer Denknormen” (PHG, S. 103) als gesellschaftlichen Zwang. Gegenüber seinen persönlichen Eindrücken erscheint ihm das tradierte Wissen “als das sachlich Gerechtfertigte, als der Ausdruck einer objektiven Proportion” (PHG, S. 82). Traditionen stellen nicht nur gesellschaftlichen Zwang, sondern auch eine kulturelle Ressource dar. Einmal inhaltlich, da jeder ausgesprochene Gedanke “unwiderruflich öffentliches Eigentum aller (ist), die die psychische Kraft, ihn nachzudenken, aufwenden” (PHG, S. 567). Dies sind sie aber auch formal, da im Netzwerk des jeweiligen Wissens “ein neuer, und noch so revolutionärer Inhalt des Erkennens seine Beweisbarkeit für uns doch nur aus den Inhalten, Axiomen und Methoden des bisherigen Erkenntnisstandes ziehen kann” (PHG, S. 98). Auf diesem Wege des gegenseitigen Sich-Beweisens wächst das öffentliche, gemeinsame Wissen. Somit wird das Erkennen, folgert Simmel, “ein freischwebender Prozeß, dessen Elemente sich gegenseitig ihre Stellung bestimmen” (PHG, S. 100) und “unter sich ein Reich des Theoretischen (ausbilden), das für jede neu auftretende Vorstellung nach jetzt inneren Kriterien über Zugehörigkeit oder Entgegengesetztheit zu ihm entscheidet” (PHG, S. 103). Dieser selbsttragende Prozeß wird in der kulturellen Form der Wissenschaften institutionalisiert, wo nicht mehr ausschließlich praktische Nützlichkeit die Zwecke bestimmt und die ehemaligen “festen Punkte” in Relativitäten, die konstitutiven Elemente des Wissens in regulative umgewandelt werden können. 5. Weltanschauungsanalyse und soziologisch gerichtete Epistemologie kreuzen sich in der Philosophie des Geldes an einem einzigen Punkt, der aber sowohl theoretisch als auch in der Tragweite der Aussagen über empirische Sachverhalte von größter Bedeutung ist. Im letzten Kapitel des Buches untersucht Simmel die Rationalisierung des Lebensstiles, die Intellektualität der modernen Kultur und die daraus ableitbare, steigende gesellschaftliche Macht der Intellektuellen. Gültige Erkenntnis verlangt Distanznahme, Unpräjudiziertheit, allgemein ausgedrückt: die Schwächung der Affekte. Ihr Medium, der Intellekt wird zum gleichgültigen, charakterlosen Mittel wie das Geld. In der modernen Gesellschaft verlängern und vervielfachen sich die teleologischen Reihen des Handelns als Folge der immer größeren gegenseitigen Abhängigkeit der Tätigkeiten. Die objektive Kultur wächst in einem Tempo an, mit dem die subjektive längst nicht mehr Schritt halten kann. Langsam verwandeln sich alle Bestandteile und Momente des individuellen Lebens in Mittel: “die gegenseitige Verbindung der sonst mit selbstgenügsamen Zwecken abgeschlossenen Reihen zu einem Komplex relativer Elemente ist nicht nur das praktische Gegenbild der wachsenden Kausalerkenntnis der Natur und der Verwandlung des Absoluten in ihr in Relativitäten; sondern, da alle Struktur von Mitteln - für unsere jetzige Betrachtung - eine von vorwärts betrachtete Kausalverbindung ist, so wird damit auch die praktische Welt mehr und mehr zu einem Problem für die Intelligenz; oder genauer: die vorstellungsmäßigen Elemente des Handelns wachsen objektiv und subjektiv zu berechenbaren, rationellen Verbindungen zusammen und schalten dadurch die gefühlsmäßigen Betonungen und Entscheidungen mehr und mehr aus, die sich nur an die Cäsuren des Lebensverlaufes, an die Endzwecke in Ihm, anschließen” (PHG, S. 594). Das Bild wird noch düsterer, wenn man bedenkt, daß schließlich auch die Endzwecke vergessen werden. Ein objektiver Stil des Lebens wird zur Norm, der für das Individuum eine Anna Wessely 344 schlechthinnige Abhängigkeit bedeutet, da es sich bloß durch den Intellekt führen läßt, d.h. sein Handeln und Denken den sachlichen Zusammenhängen unterordnet. In einer solchen Gesellschaft gewinnen die Intellektuellen einen nicht mehr einzuholenden Vorsprung gegenüber allen Gefühlsmenschen, sogar gegenüber allen anderen sozialen Schichten. Ihr Privileg, die Bildung, scheint keines zu sein, da es sich von dem prinzipiell jedem zugänglichen und allgemein mitteilbaren Wissensvorrat speist. Und doch schafft die Bildung “die unangreifbarste, weil ungreifbarste Aristokratie, einen Unterschied zwischen Hoch und Niedrig, der nicht wie ein ökonomisch-sozialer durch ein Dekret oder durch eine Revolution auszulöschen ist, und auch nicht durch den guten Willen der Betreffenden” (PHG, S. 606-607). Da logisch-rationales Denken und Teilhabe an der objektiven Kultur unerläßliche Bedingungen des erfolgreichen praktischen Handelns geworden sind, können die irgendwie bereits Begünstigten das angehäufte, objektivierte Wissen in ein Kapital umwandeln, dessen Profite nur für sie zu haben sind (PHG, S. 611). Ihre Macht ist unangreifbar, weil sie ja in der Sprache des an vernünftige Einsicht appellierenden Diskurses mit dem Hinweis auf die Gleichheit aller legitimiert wird. Das Unverständnis des Intellekts gegenüber den Leidenschaften, die Gleichgültigkeit der rationalen Kalkulation gegenüber den persönlichen Wertsetzungen ebnet jedoch auch den Weg zur Versöhnlichkeit. Somit plädieren die neuen Machthaber dafür, Konflikte durch Verständigung zu lösen, in der Hoffnung, daß ihre Mitbürger nicht mehr den Mut aufbringen, sich jener “überlegenen Logik […] durch ein eigensinniges: ich will nicht [zu] entziehen” (PHG, S. 604). Anmerkungen 1 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf Band 6 (PHG) der Georg Simmel Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 1989. 2 Alfred Weber z.B. begriff Kultur ‘als seelisch-geistige Ausdrucksform in der Lebenssubstanz oder seelischgeistige Haltung ihr gegenüber”, die das hervorbringt, “was wir Kulturformen, Kulturemanationen oder kulturelle Schicksalshaltungen nennen können.” Stichwort “Kultursoziologie”, in: A. Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 287. 3 Siehe Adornos Brief an Benjamin in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I,3, Frankfurt am Main 1976. S. 1108. 4 G. Simmel, “Ueber eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie”, in: Zur Philosophie der Kunst. Potsdam 1922. S. 125. 5 “Zur Philosophie des Schauspielers’, In: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre. München 1923, S. 251. 6 “Weibliche Kultur”, in: Philosophische Kultur. Zweite, um einige Zusätze vermehrte Auflage. Leipzig 1919. S. 266-267. Zur Logik der Weltbildanalyse in Georg Simmels Philosophie des Geldes Klaus Lichtblau I. Georg Simmels Werk hat in den vergangenen zehn Jahren eine bemerkenswerte internationale Renaissance erfahren. Diese auch in dem Unternehmen einer Gesamtausgabe zum Ausdruck kommende Aktualität seines Denkens steht dabei in einem engen Zusammenhang mit der wirkungsgeschichtlichen Bedeutung, die seinen Arbeiten schon zu Lebzeiten von vielen seiner Zeitgenossen zuerkannt worden ist. 1 Insbesondere die Entwicklung der deutschsprachigen Soziologie seit der Jahrhundertwende ist nur schwer ohne eine Berücksichtigung der wegweisenden Funktion seiner Philosophie des Geldes und seiner verschiedenen kulturphilosophischen Essays in ihrer Eigenart zu verstehen. Insofern ist dem Urteil von Georg Lukács aus dem Jahre 1919 zuzustimmen, wenn er schreibt: “Eine Soziologie der Kultur, wie sie von Max Weber, Troeltsch, Sombart und anderen unternommen wird, ist - so sehr sie alle auch methodisch von ihm abweichen mögen - doch nur auf dem von ihm geschaffenen Boden möglich geworden.” 2 Walter Benjamin hat darüber hinaus in Georg Simmel zu Recht einen “Ahnen des Kulturbolschewismus” gesehen, dessen kulturkritische Schriften viele zentrale Motive des “westlichen Marxismus” und der “Kritischen Theorie” vorweggenommen haben. 3 Augenscheinlich ist jedoch in beiden Rezeptionsprozessen eine zentrale Unterscheidung zwischen “Inhalt” und “Form” von Simmels Analyse der modernen Geldwirtschaft und ihren verschiedenen kulturellen Erscheinungsformen vorgenommen worden, die mit starken methodologischen bzw. “ideologiekritischen” Bedenken gegenüber seiner eigenen Untersuchungsmethode verbunden gewesen ist. Insofern muß nach wie vor davon ausgegangen werden, daß uns der enorme wirkungsgeschichtliche Einfluß von Simmels Philosophie des Geldes nur wenig direkten Aufschluß über deren spezifischen kognitiven Status zu geben vermag. Dieser Sachverhalt soll im folgenden exemplarisch an einem Beispiel veranschaulicht werden: Während Werner Sombart und Max Weber an einer Untersuchung der Bedeutung des “kapitalistischen Geistes” für die Genese der modernen Erwerbswirtschaft in Gestalt einer historischen Kausalanalyse interessiert gewesen sind, hat Simmel seiner Philosophie des Geldes ein solches historiographisches Interesse ausdrücklich abgesprochen; denn er hat seine Aufmerksamkeit primär auf eine Analyse der inneren “Bedeutsamkeit” der modernen Geldwirtschaft und der in ihr zum Ausdruck kommenden “Wertgefühle” gerichtet. 4 Dem Umstand, daß Simmel damit grundsätzlich eine ahistorische Form der Analyse wählte, muß daher ein größeres Gewicht beigemessen werden als z.B. dem von Max Weber geäußerten Vorwurf, daß Simmel nicht zureichend zwischen Geldwirtschaft im allgemeinen und dem modernen Kapitalismus im Sinne einer rational strukturierten und betriebsförmig geordneten Arbeitsorganisation im besonderen unterschieden habe. 5 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Klaus Lichtblau 346 Diese Differenz zwischen dem Projekt einer historisch-kulturwissenschaftlichen Analyse der Genese des modernen Kapitalismus, wie es unter anderem von Sombart und Max Weber verfolgt worden ist, und dem spezifischen kognitiven Status von Simmels Philosophie des Geldes beinhaltet zugleich eine unterschiedliche Einschätzung des Verhältnisses zwischen einer einzelwissenschaftlich verfahrenden Wirklichkeitserkenntnis und einem umfassenden philosophischen Deutungsanspruch, die uns etwas mehr Klarheit über Simmels eigentliche Absicht zu geben vermag. Während Max Webers Werk nämlich durch eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines einheitlichen Verständnisses der modernen Welt geprägt war, wie es einst in den verschiedenen religiösen und metaphysischen Weltbildern zum Ausdruck kam, ist Simmel gerade an einer Klärung der Bedingungen für die Entwicklung eines den spezifischen Erfahrungsgehalten der Moderne gerecht werdenden philosophischen Weltbildes interessiert. Webers Plädoyer für ein “nachmetaphysisches Denken” steht insofern durchaus in einem spannungsreichen Verhältnis zu Simmels Bemühungen um eine Rehabilitierung der Metaphysik als einer eigenständigen Form der Weltbetrachtung. 6 Gleichwohl war auch Simmel der Ansicht, daß eine solch spezifisch “moderne” Metaphysik nicht mehr ohne weiteres axiomatisch durchzuführen sei, sondern sich vor dem Hintergrund des fortgeschrittenen Erkenntnisstandes der Einzelwissenschaften zu bewähren habe. Simmel hat in diesem Zusammenhang sowohl eine “untere” als auch eine “obere” Grenze jeder einzelwissenschaftlichen Wirklichkeitserkenntnis angegeben, um deutlich zu machen, welche Erkenntnisleistungen grundsätzlich nicht von den Einzelwissenschaften bewältigt werden können, sondern nach wie vor den legitimen Gegenstand einer genuin philosophischen Reflexion bilden. Denn zum einen ist jede einzelwissenschaftliche Erkenntnis auf begriffliche und methodische Voraussetzungen angewiesen, deren apriorischen Charakter sie selbst nicht weiter begründen kann und die deshalb im Rahmen einer Erkenntnistheorie der jeweiligen Einzelwissenschaft analysiert und beschrieben werden müssen. 7 Zum anderen ist eine einzelwissenschaftlich verfahrende Form der Erkenntnis aufgrund ihres fragmentarischen Charakters aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage, die einzelnen Inhalte des positiven Wissens “durch abschließende Begriffe zu einem Weltbild zu ergänzen und auf die Ganzheit des Lebens zu beziehen”. 8 Dies ist für ihn die Aufgabe einer “philosophischen Spekulation” bzw. einer Metaphysik der entsprechenden Einzelwissenschaft, deren bleibender formaler Wert sich gerade dadurch auszeichne, “überhaupt ein vollendetes Weltbild nach durchgehenden Prinzipien anzustreben”. 9 Wissenschaft und Philosophie sind Simmel zufolge insofern komplementär aufeinander bezogen: Als “Anticipation des realistischen Erkennens” bilde die philosophische Spekulation nämlich zum einen einen heuristischen Vorgriff auf ein mögliches positives Wissen, das durch den Fortschritt der einzelwissenschaftlichen Wirklichkeitserkenntnis prinzipiell auch einer “exakten” Form des Denkens zugänglich gemacht werden kann; andererseits ermögliche die Philosophie auf symbolischem Wege die Befriedigung eines metaphysischen Bedürfnisses, die uns in einer “realistischen” Form versagt bleibe. 10 Nicht zufällig betont Simmel dabei die enge “Wahlverwandtschaft” zwischen dem spezifischen Bedeutungsgehalt eines großen Kunstwerks und der Eigenart einer modernen metaphysischen Weltbetrachtung. Denn während die traditionellen philosophischen Systeme unmittelbar auf eine Interpretation der “Gesamtheit des Daseins” ausgerichtet waren, geht seine Philosophie des Geldes, ähnlich wie die Kunst, von einem einzelnen Gegenstand aus, um diesem dann “durch seine Erweiterung und Hinausführung zur Totalität und zum Allgemeinsten gerecht zu werden”. 11 Insofern kann Simmel auch zu Recht sagen, daß keine Zeile seiner großangelegten Untersuchung über das Wesen der modernen Geldwirtschaft in einem Zur Logik der Weltbildanalyse 347 engeren nationalökonomischen Sinne zu verstehen sei. Denn zum einen beabsichtige sie eine Darstellung der wirtschaftlichen Formen als “Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja metaphysischer Voraussetzungen”; und zum anderen eine Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die “Ursachen der geistigen Kultur”. 12 Gleichwohl bleibt zu klären, warum Simmel das Geld zum Ausgangspunkt für die Entwicklung eines “prinzipiell bestimmten Weltbildes” nahm, um die allgemeine Signatur des modernen Zeitalters zu verdeutlichen. Und es ist zu fragen, welche spezifische “Logik” bzw. welche methodischen Prämissen mit einer solchen Weltbildanalyse verbunden sind, die zugleich beansprucht, das Erbe der metaphysischen Tradition für eine philosophische Deutung der Moderne fruchtbar zu machen. II. Unter “Weltbild” versteht Simmel eine einheitliche Interpretation des Seins, die umfassend genug ist, um der “Ganzheit des Lebens” in einer spezifischen Weise gerecht zu werden, und zwar ausgehend von jeweils einem der großen Gegensatzpaare, welche die Geschichte des menschlichen Denkens geprägt haben. Die Erfahrung von Gegensätzen und Konflikten, die das Leben als solches kennzeichnen, ist dabei sowohl reale als auch logische Voraussetzung für einen grundsätzlichen Pluralismus der Weltbilder, über den nicht doktrinär entschieden werden kann, da in ihm spezifische Wertempfindungen zum Ausdruck kommen, die zugleich prinzipiell mögliche Einstellungen zur Welt kennzeichnen. Gegenüber der Einseitigkeit einer rein materialistischen Weltanschauung ist eine idealistische somit im gleichen Recht. Entscheidend bleibt, daß ein solches Weltbild dem ihm jeweils zugrunde liegenden zentralen Gegensatz überhaupt in einer logisch befriedigenden Weise Rechnung zu tragen vermag. So zeichnen sich zum Beispiel die in großen Übergangsepochen geprägten Weltbilder dadurch aus, daß sie den historischen Gegensatz zwischen dem “Alten” und dem “Neuen” in einer für ihre Zeit charakteristischen Form verarbeitet haben. 13 Als mögliche Pole nennt Simmel aber auch den Gegensatz zwischen dem Materiellen und dem Ideellen, dem Verstandesmäßigen und dem Willensmäßigen, dem Absoluten und dem Relativen sowie andere Gegensatzpaare, die weit genug gespannt sind, “um ein Weltbild darein zu fassen”. 14 Ausgangspunkt von Simmels Philosophie des Geldes bildet die Unterscheidung zwischen zwei fundamental verschiedenen Formen der Weltorientierung, die auf den Dualismus zwischen einer theoretischen Einstellung zur Welt und dem praktischen Sichverhalten in der Welt zurückzuführen sind. Das durch die Vorherrschaft des Intellekts geprägte naturwissenschaftliche Weltbild beruht demzufolge auf einer Auffassung der Wirklichkeit, in der die Inhalte dieser Welt unterschiedslos der Herrschaft des Naturgesetzes unterworfen sind. Diese Gleichgültigkeit und Indifferenz der natürlichen Welt wird Simmel zufolge erst durchbrochen, wenn wir sie nicht mehr unter dem Gesichtspunkt ihrer objektiven Wirklichkeit, sondern im Hinblick auf ihren möglichen Wert bezüglich unserer Bedürfnisse und Interessen betrachten. Indem wir bestimmten Dingen einen Wert zusprechen, betonen wir nämlich gerade den Unterschied, der sie im Rahmen unserer Wertpräferenzen gegenüber anderen Gegenständen auszeichnet. Jede Bewertung von Gegenständen ist insofern an die Existenz einer Rangordnung der Werte gebunden, die zugleich Aufschluß über unser subjektives Wertempfinden gibt. Der psychologische Vorgang des Wertens bildet dabei selbst noch einen Bestandteil der natürlichen Welt; die mit dieser Bewertung verbundene inhaltliche Bedeutung ist dagegen “etwas dieser Welt unabhängig Gegenüberstehendes, und so wenig ein Stück ihrer, daß es vielmehr die ganze Welt ist, von einem besonderen Gesichtspunkt angesehen”. 15 Klaus Lichtblau 348 Diese prinzipielle Möglichkeit der Wertung stellt Simmel zufolge ein nicht weiter begründbares Vermögen bzw. “Urphänomen” dar. Aufgrund ihres fundamentalen Charakters kommt der Kategorie des Wertes ähnlich wie der Kategorie des Seins insofern eine grundlegende Funktion im Rahmen der Konstitution unseres Weltbildes zu. 16 Simmel unterscheidet deshalb zwischen der intellektuellen Struktur unseres Weltbildes, in dem sich die Entwicklung des theoretischen Denkens widerspiegelt, und dem durch unser Wertempfinden geprägten Gehalt dieses Weltbildes, der sich im wesentlichen unserer willensmäßigen Praxis innerhalb der natürlich vorgegebenen Welt verdankt. 17 Das heißt nicht, daß diese beiden Formen der Ausgestaltung unseres Weltbildes beziehungslos zueinander stehen müßten, wohl aber, daß der Entwicklung der Kategorie des wirtschaftlichen Wertes im Rahmen einer Philosophie des Geldes die Funktion einer “Weltformel” zukommt, in der sich die Einheit unserer theoretischen Erkenntnis und willensmäßigen Praxis am umfassendsten widerspiegelt. Im folgenden möchte ich deshalb zunächst auf die Parallelität in Simmels Darstellung der intellektuellen und der praktischen Dimension des von ihm rekonstruierten modernen Weltbildes eingehen, bevor ich anschließend die übergreifende Funktion und den symbolischen Gehalt des Geldes für ein adäquates Verständnis der Moderne zu charakterisieren versuche. III. Simmel sieht eine grundlegende “Analogie” bzw. “Korrelation” zwischen dem Rationalismus und Intellektualismus des durch die modernen Naturwissenschaften geprägten Weltbildes und der spezifischen Form der Objektivität des wirtschaftlichen Wertes, wie sie innerhalb der entfalteten Geldwirtschaft zum Ausdruck kommt. Sowohl die wissenschaftliche Form der Naturerkenntnis als auch die ökonomische Praxis des Warentausches sind durch eine “evolutionistische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt” geprägt, in welcher sich die vormals substantielle Einheit des antiken Weltbildes in die selbständigen Extreme des Subjektiven und des Objektiven ausdifferenziert hat. 18 Innerhalb der teleologischen Struktur des menschlichen Handelns ist die gefühlsmäßige und affektuelle Dimension des Willensprozesses notwendig an die Setzung eines Endzweckes gebunden, während die Entwicklung der verstandesmäßigen Funktionen mit dem zunehmenden Einsatz der Mittel einhergeht, die zur Erreichung des gewünschten Endzweckes erforderlich sind. Durch den Gebrauch des Geldes als allgemeinem Medium des ökonomischen Austausches verlängern sich die einzelnen Handlungsverkettungen schließlich zu einem “ungeheuren teleologischen Zusammenhang”, dessen logische Struktur sich der des “naturgesetzlichen Kosmos” nähert. 19 Denn indem das Geld alle Gegenstände des praktischen Bedarfs auf ihren rein ökonomischen Wert reduziert, erscheint es wie der naturwissenschaftliche Begriff der Energie als ein inhaltlich völlig abstrakter Vergleichsmaßstab, dessen “Charakterlosigkeit” gerade darin besteht, die getauschten Gegenstände allein nach Maßgabe ihrer quantitativen Bestimmtheit zur Geltung kommen zu lassen. 20 Diese Gleichgültigkeit gegenüber der individuellen Eigenheit aber teilt das Geld mit den logischen Funktionen des menschlichen Intellekts, deren “Form arithmetischer Genauigkeit” auf die Welt der Dinge selbst “zurückstrahlen” muß, wenn sie als Maxime des praktischen Handelns zur Anwendung gelangt. Simmel läßt dabei bewußt offen, ob sich der spezifisch rationalistische Charakter der Neuzeit ausschließlich der formalen Bestimmtheit des Geldes verdankt oder ob in diesem Zusammenhang nicht auch von einer eigenständigen Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes ausgegangen werden muß, wenn er schreibt: “Erst die Zur Logik der Weltbildanalyse 349 Geldwirtschaft hat in das praktische Leben - und wer weiß, ob nicht auch in das theoretische - das Ideal zahlenmäßiger Berechenbarkeit gebracht.” 21 Gegenüber einer eindeutigen kausalgenetischen Hypothese zieht Simmel es denn auch vor, von einer formalen “Analogie” bzw. einer “Korrelation” oder “Wechselwirkung” zwischen dem Geld und dem Intellekt zu sprechen, die zugleich einen “Hinweis auf ein tiefer gelegenes, ihnen gemeinsames Prinzip” zu geben vermag, “das die Gleichheit ihrer Entwicklung trägt”. 22 Diesen Parallelismus zwischen der Entwicklung der Geldwirtschaft und der theoretischnaturwissenschaftlichen Form des Denkens versucht Simmel anhand der Genese einer beide Sphären umfassenden Weltbildstruktur aufzuzeigen, die zugleich die spezifische Eigenart der okzidentalen Moderne gegenüber anderen Epochen und Kulturen deutlich machen soll. Simmel argumentiert auch in diesem Zusammenhang nicht historisch-narrativ, sondern führt einen Strukturvergleich durch, um das traditionelle, antik-mittelalterliche Weltbild von dem der Moderne begrifflich abzugrenzen. Die antiken und mittelalterlichen Wert- und Preistheorien beruhen noch auf der Vorstellung, daß der ökonomische Wert einer Ware dieser gewissermaßen als etwas Objektives und Substantielles zugrunde läge, das auch unabhängig von einem konkreten Tauschverhältnis zu bestimmen sei. Jedem Tauschvorgang sollte - so lautete die entsprechende ethische Maxime - deshalb immer auch jener “gerechte Preis” zugrunde gelegt werden, der mit dieser vorrangigen Bestimmtheit des Wertes einer Ware “an sich” übereinstimmt. Diese Wertauffassung entspricht in historischer Hinsicht einer Epoche, deren ökonomische Verhältnisse im wesentlichen durch die Naturalwirtschaft bestimmt sind bzw. die im Erwerb von Gebrauchsgütern, nicht aber im Gelderwerb als Selbstzweck das eigentliche Ziel des ökonomischen Tausches sieht. 23 Sie ist zugleich Ausdruck eines substantiell-absolutistischen Weltbildes, das hinter allen Prozessen und Erscheinungsformen das Wirken einer “Kraft” sieht, die auch unabhängig von den zufälligen Beziehungen zwischen den Dingen bestimmbar ist und absolute Geltung für sich beanspruchen kann. Das Erkenntnisinteresse der traditionellen Metaphysik besteht deshalb darin, dieses “Absolute” aus der Mannigfaltigkeit der Phänomene und der zwischen ihnen stattfindenden Prozesse herauszuabstrahieren und letztere als die bloßen Erscheinungsformen desselben begreifbar zu machen. 24 Die Eigenart des modernen Weltbildes besteht hingegen gerade darin, diese “Festigkeit und Absolutheit der Weltinhalte” in reine Bewegungen und Relationen aufzulösen und der Vorstellung einer “absoluten Wahrheit” die eines “Stromes der ewigen Entwicklung” des menschlichen Denkens gegenüberzustellen. 25 Simmel zeigt dabei exemplarisch auf, wie die moderne Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie versucht, Kriterien für eine Objektivität des Denkens nicht mehr durch einen Rekurs auf vorgängige Wesensbestimmungen anzugeben, sondern rein intern als Relationen zwischen den einzelnen, sich wechselseitig bestimmenden Denkoperationen zu begründen: “Das Erkennen ist so ein freischwebender Prozeß, dessen Elemente sich gegenseitig ihre Stellung bestimmen. … Daß unser Bild der Welt auf diese Weise ‘in der Luft schwebt’, ist nur in Ordnung, da ja unsere Welt selbst es tut.” 26 Jener der Moderne eigentümliche, fundamentale Charakter der Relativität ist es denn auch, der Simmel dazu bewogen hat, eine Parallele zwischen dieser “Weltformel” und der “Formel des wirtschaftlichen Wertes” herzustellen. Denn auch das Geld ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihm der Wert der Dinge, als ihre ökonomische “Wechselwirkung” verstanden, seinen “reinsten Ausdruck und Gipfel” gefunden hat: Es ist der symbolische Ausdruck dessen, daß diese sich ihren Wert gegenseitig bestimmen und nur innerhalb dieses Verhältnisses als ökonomische Tatbestände gefaßt werden können. 27 Damit fügt es sich aber zugleich bruchlos in das relativistische Weltbild der Moderne ein, dessen epochale und metaphysische Eigenart Klaus Lichtblau 350 es seinerseits deutend zu erschließen hilft: “Dies ist die philosophische Bedeutung des Geldes: daß es innerhalb der praktischen Welt die entschiedenste Sichtbarkeit, die deutlichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins ist, nach der die Dinge ihren Sinn aneinander finden … Die reinste Wechselwirkung hat in ihm die reinste Darstellung gefunden, es ist die Greifbarkeit des Abstraktesten, das Einzelgebilde, das am meisten seinen Sinn in der Übereinzelheit hat.” 28 Diese fundamentale Formentsprechung zwischen dem theoretischen Weltbild der Moderne und den praktischen Verhältnissen innerhalb der modernen Geldwirtschaft ist die tiefere Voraussetzung dafür, daß eine Philosophie des Geldes überhaupt den Anspruch auf eine umfassende epochale Deutung der Kultur der Moderne erheben kann. Denn sie verweist auf grundlegende Übereinstimmungen zwischen den logischen Formen unseres Intellekts und den Objektivationen unseres praktischen Handelns, die in Gestalt des Geldes einen adäquaten symbolischen Ausdruck gefunden haben. Als Verkörperung des Prinzips der Indifferenz, dessen funktionaler Wert allein in seiner permanenten Zirkulation begründet liegt, verkörpert das Geld mithin den Charakter des Rationalen und Logischen selbst, welcher die formale Einheitlichkeit und Geschlossenheit des modernen Weltbildes verbürgt. Um klären zu können, warum seine eigene Zirkulation zugleich zum Symbol der neuzeitlichen Erfahrung von Geschichte als einer “zeitlosen Bewegung” werden kann, soll im folgenden zunächst Simmels Auffassung bezüglich der symbolischen Natur aller menschlichen Erkenntnis dargestellt werden, um dann seine Beschreibung des spezifischen temporalen Erfahrungsgehalts der Moderne innerhalb seiner Analyse des modernen Weltbildes zu charakterisieren. IV. Ausgangspunkt von Simmels Erörterung der spezifischen Erkenntnisleistung von Symbolisierungsprozessen ist die Feststellung, daß die noch innerhalb des vormodernen Weltbildes verankerte metaphysische Einheit von Subjekt und Objekt im Rahmen der durch die moderne Geldwirtschaft geprägten Form der Vergesellschaftung durch eine evolutionistische Beziehung zwischen dem Bereich des Subjektiven und Objektiven ersetzt worden ist. Dieser Differenzierungsprozeß prägt dabei sowohl unsere theoretischen Formen der Erkenntnis als auch unser praktisches Verhalten in der Welt. Simmel zufolge kann man nämlich die verschiedenen Kulturstufen danach charakterisieren und voneinander abgrenzen, in welchem Ausmaß sie sich der Vermittlung von Werkzeugen und Symbolen im Rahmen der zweckrationalen Orientierung des Handelns bedienen und gewissermaßen als Zwischenstufen in das Verhältnis des Menschen zu den ihn umgebenden Gegenständen einschieben. 29 Im Unterschied zum reinen Werkzeug ist es aber jeder Symbolisierung eigentümlich, daß sie zum einen eine abstrakte, d.h. intellektuelle Verknüpfung zwischen ihrer Ausdrucksgestalt und den durch sie dargestellten Inhalten bewirkt; zum anderen deuten sich die gegenständliche Erscheinungswelt und der Bereich des Intelligiblen gegenseitig. 30 Simmel geht nämlich davon aus, daß uns unsere eigenen und fremdpsychischen Erlebnisse nicht unmittelbar zugänglich sind, sondern daß sie allein vermittels räumlicher und zeitlicher “Symbole” bzw. “Analogien” beschrieben werden können. Andererseits zerfiele auch die gegenständliche bzw. “äußere” Welt in eine Vielfalt von zusammenhanglosen Fragmenten, würden wir sie nicht nach Maßgabe jenes “inneren Bildes” ordnen, das allein als Produkt spezifischer “seelischer” Funktionen zustandekommt. Insofern kann Simmel auch sagen, “daß die Seele das Bild der Gesellschaft und die Gesellschaft das Bild der Seele ist”. 31 Zur Logik der Weltbildanalyse 351 Simmels Rehabilitierung des Symbolischen steht hierbei in der Tradition des von Goethe, Schleiermacher und den Romantikern geprägten Symbolverständnisses, demzufolge die “Idee” (das Allgemeine) immer nur in Gestalt eines Individuellen sinnlich in Erscheinung treten und “symbolisch” erfaßt werden kann. Auch Goethe hatte diese entscheidende Neuprägung des Symbolbegriffs, der sich historisch aus der altprotestantischen Hermeneutik und Sakramentenlehre herleitet, zur Überwindung der “millionenfachen Hydra der Empirie” eingeführt und all jene Gegenstände als symbolisch bezeichnet, die in der Lage sind, uns in eine “sentimentalische Stimmung” zu versetzen: “Symbolische Gegenstände … sind eminente Fälle, die in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit als Repräsentanten von vielen anderen darstehen, eine gewisse Totalität in sich schließen und so von außen als von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen”. 32 Goethes Symbolverständnis muß vor dem Hintergrund seines pantheistischen Weltbildes gesehen werden, das von Simmel in Gestalt eines ästhetischen Pantheismus in modifizierter Form übernommen worden ist. 33 Simmel schließt dabei zugleich an die Ästhetik Johannes Volkelts an, derzufolge in der “Wechselwirkung” von Geist und Natur bzw. “Innenwelt” und “Außenwelt” sowie in der dadurch gegebenen Möglichkeit einer symbolischen Interpretation der gesamten gegenständlichen Erscheinungswelt der spezifische Geltungsanspruch eines “philosophischen Pantheismus” begründet liegt. 34 Ist im Rahmen einer solchen pantheistischen Weltanschauung die Möglichkeit gegeben, bezüglich jeder einzelnen empirischen Erscheinungsform zugleich den ihr zugrunde liegenden “Typus” aufzuzeigen und allen Gegenständen des Alltags bzw. Manifestationen des modernen Lebens eine ästhetische Bedeutsamkeit zuzusprechen, so besteht die Eigenart des ihr entgegengesetzten “ästhetischen Individualismus” gerade darin, diese “Indifferenz” durch eine Betonung der “Rangordnung der Werte” zu ersetzen, welche durch den spezifischen “Abstand” zwischen dem jeweiligen “Wert der Dinge” definiert ist. Simmel sieht diesen Gegensatz zwischen dem ästhetischen Individualismus und dem ästhetischen Pantheismus gerade als Kennzeichen der modernen Kultur an, welches zum einen die gesellschaftliche Bedeutung des “großen Kunstwerks” innerhalb einer autonomen ästhetischen Wertsphäre und zum anderen die ästhetische Bedeutung der verschiedenen kulturellen Manifestationen des modernen Lebens begründet. Beide ästhetische Ausdrucksformen sind gleichermaßen einer “symbolischen Deutung” zugänglich. Denn “Symbolik” ist ihm zufolge das eigentliche “Grundwesen aller Kunst”. 35 Simmel hat diese Auffassung bezüglich des symbolischen Charakters aller kulturellen Objektivationen in seiner Philosophie des Geldes am systematischsten begründet. Es gelingt ihm dabei, an einem “einzelnen Beispiel” zugleich die Möglichkeit seiner “Erweiterung” zum Allgemeinsten hin nachzuweisen. Die Analyse des Geldes wird dabei nicht nur zum Paradigma für eine allgemeine kulturwissenschaftliche Theorie der symbolischen Formen, wie sie später von Ernst Cassirer weiterentwickelt worden ist, sondern bildet zugleich das Programm für eine genuine Weltbildanalyse, welche vermittels einer Rekonstruktion der “Korrelationen” und “Analogien” zwischen den theoretischen und praktischen Erscheinungsformen des modernen Rationalismus und Intellektualismus den heuristischen Bezugsrahmen für die späteren kultursoziologischen Arbeiten von Werner Sombart, Max Weber, Karl Mannheim u.a. vorgegeben hat. Die Herstellung eines “Gesamtbildes” der einzelnen seelischen Inhalte und der äußeren Erscheinungswelt ist aber eine Aufgabe, die Simmel nicht einer einzelwissenschaftlichen Form der Wirklichkeitserkenntnis abverlangt, sondern als legitimes philosophisches Anliegen ansieht. Denn die durch die moderne Geldwirtschaft geprägte Form der subjektiven Erfahrung von Wirklichkeit ist in sich viel zu fragmentarisch gebrochen, als daß sie die Möglichkeit Klaus Lichtblau 352 eines restlosen begrifflichen Erkennens garantieren könnte. Gerade die geldwirtschaftlich bedingte “Distanz” zu den Dingen und die mit ihr einhergehende “Hyperästhesie” impliziere insofern den Reiz des Fragmentes, der bloßen Andeutung, des Aphorismus und des Symbolischen. 36 Simmels 1908 erschienene soziologische Schriftensammlung trägt dieser Eigenart der modernen Wirklichkeitserfahrung dahingehend Rechnung, daß sie bewußt auf eine vorschnelle Systematisierung ihrer Untersuchungsergebnisse verzichtet und sich in methodischer Hinsicht auf eine Ansammlung von Beispielen, in inhaltlicher Hinsicht dagegen auf eine Zusammenstellung von Fragmenten beschränkt. 37 Und seine Philosophie des Geldes tut dies, indem sie auf symbolischem Wege, d.h. in Gestalt einer Weltbildanalyse eine Annäherung an jene “Ganzheit des Lebens” versucht, die sich sowohl einer rein empirischen als auch einer begrifflich-rationalen Erfassung entzieht. Im letzten Kapitel seiner Philosophie des Geldes hat Simmel dem durch die Geldwirtschaft geprägten “Stil des Lebens” eine ausführliche Untersuchung gewidmet. Er beschreibt dabei die Kategorie der Distanz als eine räumliche, Rhythmus und Symmetrie als eine zeitlich-räumliche und das Tempo als eine zeitliche Symbolik bzw. “Analogie” des modernen Lebensstils. Im Rahmen seiner Analyse der spezifisch temporalen Erfahrung einer Beschleunigung aller Lebensvollzüge innerhalb der Moderne kommt dabei dem gegensätzlichen Verhältnis zwischen dem Begriff der Beharrung und dem der Veränderung ein ausgezeichneter Stellenwert zu. Simmel stellt drei unterschiedliche Ausprägungen dieses Gegensatzes zwischen der “Form des Beharrens” und der “Form der Bewegung” einander gegenüber, um die prinzipiellen Möglichkeiten einer temporalen Strukturierung von Weltbildern zu verdeutlichen. Wird die Welt nämlich als unveränderliche Substanz aufgefaßt, so muß zumindest eine unaufhörliche Veränderung der Formen angenommen werden, in der sich diese Substanz ausdrückt, soll dem dynamischen Charakter alles Geschehens Rechnung getragen werden können. Werden dagegen die realen Elemente als in fortdauernder Bewegung angesehen, so sind es umgekehrt die Formen selbst, denen ein entsprechendes Beharrungsvermögen zugesprochen wird. 38 Eine dritte mögliche Ausgestaltung dieses Gegensatzes besteht Simmel zufolge aber darin, daß einer “absoluten Form des Beharrens”, wie sie durch die neuzeitliche Idee des Naturgesetzes zum Ausdruck gebracht wird, eine entsprechende absolute Form der Bewegung gegenübergestellt wird, die am reinsten in der permanenten Zirkulation des Geldes zum Ausdruck kommt und sich einem bestimmten Zeitmaß überhaupt entzieht. Simmel sieht in der Vorstellung einer solchen “absoluten Veränderung” bzw. einer “species aeternitatis mit umgekehrten Vorzeichen” aber gerade die spezifische temporale Struktur des modernen Weltbildes, in welchem der traditionelle Begriff der Dauer durch eine reine “Form des Übergangs” bzw. der Nicht-Dauer ersetzt worden ist. Indem das Geld als actus purus zum Träger einer Bewegung avanciert, “in dem eben alles, was nicht Bewegung ist, völlig ausgelöscht ist”, 39 wird es zum adäquaten Symbol für jene “allgemeine Relativität der Welt”, die sowohl unser intellektuelles Weltbild als auch unser praktisches, ökonomisches und gefühlsmäßiges Verhalten prägt. Simmels Anspruch war es, an einem konkreten Gebilde der historischen Welt die allgemeine Signatur des modernen Zeitalters zu veranschaulichen. Daß er im Geld eine “Weltformel” zu finden hoffte, welche zugleich den “relativistischen Charakter des Seins” in umfassender Weise widerspiegelt, war bei ihm nicht durch ein historisch-genetisches Erkenntnisinteresse, sondern durch das Bedürfnis nach einer einheitlichen philosophischen Interpretation der spezifischen Erfahrungsgehalte der Moderne motiviert. 40 Eine Beantwortung der Frage, ob ihm dieses in einer uns auch heute noch überzeugenden Form gelungen ist, hängt sicherlich stark davon ab, in welchem Ausmaß wir die von ihm aufgestellten Kriterien für Zur Logik der Weltbildanalyse 353 eine philosophische Zeitdiagnose zu teilen bereit sind. Daß die Entwicklung von Weltbildern auch in einer historisch-soziologischen Art und Weise untersucht werden kann, haben entsprechende kultur- und wissenssoziologische Forschungen im Anschluß an die Arbeiten von Max Weber und Karl Mannheim gezeigt. Mit Simmel ist jedoch daran festzuhalten, daß einer philosophischen Analyse von Weltbildern nicht nur eine heuristische Funktion für die Entwicklung einer entsprechenden historisch-empirischen Forschungsprogrammatik zukommen kann; wenn sie in der Lage ist, unsere eigenen Bedürfnisse nach einer epochalen Standortvergewisserung unserer gegenwärtigen Zeiterfahrung mit den entsprechenden Antworten der philosophischen Überlieferung zu konfrontieren, 41 hat sie einen bleibenden eigenständigen Wert. In diesem Sinne ist der genuin philosophische Anspruch von Simmels Philosophie des Geldes auch heute noch ernst zu nehmen. Anmerkungen 1 Siehe hierzu auch Klaus Lichtblau, Ein Werk, das es noch zu entdecken gilt. Bericht über die Georg Simmel Gesamtausgabe, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 42 (1990), S. 333-338. 2 Georg Lukács, Georg Simmel (1918), in: Kurt Gassen / Michael Landmann (Hrsg.), Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin: Duncker & Humblot 1958, S. 175. 3 Vgl. Walter Benjamin, Briefe, hrsg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, Bd. 2, S. 808. Zur eigenartig verspäteten bzw. “nachholenden” positiven Würdigung des Werkes von Georg Simmel im Umfeld der “Kritischen Theorie” vgl. auch Jürgen Habermas, Simmel als Zeitdiagnostiker, in: Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin: Wagenbach 1983, S. 243-253. Zur ausführlichen Diskussion dieses rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhangs siehe ferner David Frisby, Fragmente der Moderne. Georg Simmel - Siegfried Kracauer - Walter Benjamin, Rheda-Wiedenbrück: Daedalus Verlag 1989. 4 Vgl. Simmel, Philosophie des Geldes, 4. Aufl. München/ Leipzig: Duncker & Humblot 1922, S. VI f. 5 Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen; J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 5. 6 Vgl. hierz. Klaus Lichtblau, Causality or Interaction? Simmel, Weber and Interpretive Sociology, in: Theory, Culture & Society, Bd. 8 (1991}, Heft 3, S. 33-62. Zu Simmels Bedeutung innerhalb der seit der Jahrhundertwende zu beobachtenden Rehabilitierung des metaphysische- Denkens im deutschen Sprach- und Kulturraum siehe auch Peter Wust, Die Auferstehung der Metaphysik, Hamburg: Felix Meiner 1963, S. 204ff. 7 Vgl. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Leipzig: Duncker & Humblot 1892, S. 103; ders., Philosophie des Geldes, S. V; ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl. Berlin; Duncker & Humblot 1968, S. 20ff. 8 Simmel, Philosophie des Geldes, S. V. 9 Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, S. 63. 10 Ebd., S. 60f. u. 106. 11 Simmel, Philosophie des Geldes, S. VIII. 12 Ebd. 13 Vgl. Simmel, Dantes Psychologie, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 15 (1884), S. 20. 14 Simmel. Philosophie des Geldes, S. IX u. 582. 15 Ebd., S. 4. 16 Zur ausführlichen Diskussion von Simmels Wertphilosophie und ihrer “Wahlverwandtschaft” zu Friedrich Nietzsches Kultur- und Wissenschaftskritik siehe auch Klaus Lichtblau, Das “Pathos der Distanz”. Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei Georg Simmel, in: Heinz-Jürgen Dahme/ Otthein Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 231-281. 17 Philosophie des Geldes, S. 11. 18 Vgl. ebd., S. 9ff. 19 Ebd., S. 482. Klaus Lichtblau 354 20 Zu den entsprechenden Parallelen zwischen Simmels Analyse des Geldes und Marx’ Lehre vom Warenfetischismus und der jeweils entsprechenden Form der Perhorreszierung der “Wertabstraktion” siehe auch August Koppel, Für oder Wider Karl Marx. Prolegomena zu einer Biographie, Karlsruhe: G. Braunsche Hofbuchdruckerei 1905, bes. Kap. 1: “Von Marx zu Simmel” et passim; ferner Heinrich Brinckmann. Methode und Geschichte. Die Analyse der Entfremdung in Georg Simmels ‘Philosophie des Geldes’, Gießen: Focus-Verlag 1974. 21 Philosophie des Geldes, S. 499. 22 Ebd., S. 494. Max Weber sprach in diesem Zusammenhang von einer “Wahlverwandtschaft”, um die kausalgenetisch nicht eindeutig zu klärenden Beziehungen zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen des “okzidentalen Rationalismus” rein metaphorisch zum Ausdruck zu bringen. Demgegenüber glaubte Max Scheler diese “Logik der Wechselwirkung” durch eine Bezugnahme auf den “Ethos” und das “Lebensgefühl” bzw. den Lebensstil der führenden sozialen Gruppen und Klassen einer Epoche dechiffrieren zu können. Vgl. hierzu meine Besprechung des Buches von Lieteke van Vucht Tijssen, “Auf dem Weg zur Relativierung der Vernunft. Eine vergleichende Rekonstruktion der kultur- und wissenssoziologischen Auffassungen Max Schelers und Max Webers” (Berlin: Duncker & Humblot 1989), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43 (1991), S. 396-397. 23 Vgl. Philosophie des Geldes, S. 95. Zur Eigenart dieser antik-mittelalterlichen Wert- und Preislehren siehe auch J. Zmavc, Die Werttheorie bei Aristoteles und Thomas von Aquin, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 12 (1899), S. 407-433; Henri Garnier, L’idée du juste prix chez les théologiens et canonistes du moyen âge, Paris 1900; Rudolf Kaulla, Die geschichtliche Entwicklung der modernen Werttheorien, Tübingen: H. Laupp’sche Buchhandlung 1906, S. 1-60; Carl Brinckmann, Geschichtliche Wandlungen in der Idee des Gerechten Preises, in: Die Welt als Geschichte 5 (1939), S. 418-437; Benjamin Nelson, The Idea of Usury. From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood, second enlarged Edition Chicago: Chicago University Press 1969; Cornelius Castoriadis, Valeur, égalité, justice, politique: De Marx à Aristote et d’Aristote à nous, in: Textures 12-13 (1975), S. 3-66. 24 Philosophie des Geldes, S. 63. 25 Ebd., S. 64. 26 Ebd., S. 68. Diese Konzeption des Erkennens als einem “freischwebenden Prozeß” stellt eine Antizipation des später von Alfred Weber und Karl Mannheim verwendeten Topos der “freischwebenden Intelligenz” dar. Die Sache selbst hatte aber Simmel bereits im ersten Kapitel seiner Philosophie des Geldes als auch in seiner “Soziologie des Fremden” dargelegt, welche in seiner 1908 erschienenen soziologischen Schriftensammlung als Exkurs aufgenommen worden ist. 27 Philosophie des Geldes, S. 87. 28 Ebd., S. 98f. 29 Ebd., S. 123ff. u. 197ff. 30 Ebd., S. 534ff. 31 Simmel, Soziologie, S. 568. 32 Brief an F. Schiller vom 17.8.1797; vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl. Tübingen: J.C.B. Mohr 1975, S. 72. 33 Vgl. Simmel, Soziologische Aesthetik, in: Die Zukunft 17 (1896), S. 204-216 (hier: 205f.); ders., Philosophie des Geldes, 1. Aufl. 1900, S. X; ders., Vom Pantheismus, in: Das freie Wort 2 (1902/ 03), S. 306-312. 34 Vgl. Johannes Volkelt, Der Symbolbegriff in der neuesten Ästhetik, Jena: Verlag Hermann Dufft 1876, § 14. 35 Simmel, Über ästhetische Quantitäten, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene 5 (19031, S. 208-212 (hier: 211). Zur Eigenart von Simmels “soziologischer Ästhetik” und “Philosophie der Kunst” siehe auch Klaus Lichtblau, Ästhetische Konzeptionen im Werk Georg Simmels, in: Simmel Newsletter 1 (1991), S. 22-35. 36 Simmel, Soziologische Ästhetik, in: Die Zukunft 17 (1896), S. 204. 37 Vgl. Simmel, Soziologie, S. 14. 38 Vgl. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 581. 39 Ebd., S. 583. 40 Vgl. hierzu auch die subtile Analyse von David Frisby, Fragmente der Moderne, a.a.O., S. 45ff. 41 Siehe hierzu auch Klaus Lichtblau, Soziologie und Zeitdiagnose. Oder: Die Moderne im Selbstbezug, in: Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 15-47. Die Dreigliedrigkeit der Repräsentanz Ein Beitrag Georg Simmels zur Semiotik des Geldes Klaus Frerichs Der auf dem berühmten, 1514 entstandenen Werk von Quentin Massys dargestellte ‘Goldwäger’ oder ‘Geldwechsler’, unter dessen - mit Verlaub gesagt - Patrozinium dieses Kolloquium stattfindet, bestimmt mit der geldwirtschaftlich gebotenen Objektivität nicht nur den Goldgehalt der Münzen, sondern zugleich die Relation des auf der Münze angegebenen Gehalts zu dem tatsächlichen. Er überprüft ein Zeichen, indem er das Bezeichnete abwägend objektiviert. In der dabei ermittelten Differenz wird das Wesen des Geldes erkennbar - nicht im Unterschied zwischen dem angegebenen und dem gewogenen Wert, sondern in der so aufscheinenden Differenz zwischen der Münze als einem Zeichen und derselben Münze als einem bezeichneten Ding. Georg Simmels Philosophie des Geldes ist eine Theorie dieser Differenz, genauer: eine Theorie der wechselnden Formen, welche die Differenz zwischen dem Geld als einem Zeichen versus dem Geld als einem bezeichneten Ding annimmt und in denen sie den geldwirtschaftlich handelnden Subjekten erscheint. Ich möchte es daher - in zwei Rekonstruktionsschritten - unternehmen, Simmels Theorie als einen bemerkenswerten Beitrag zur Semiotik des Geldes darzustellen. Ein solcher Zugang liegt schon deshalb nahe, weil Simmel in mannigfachen Formulierungen die Entfaltung des Geldes als fortschreitende ‘Symbolisierung des Wertes’, als Werden des Geldes ‘zum reinen Symbol’ beschreibt und genau daran die These von der zunehmenden ‘Vergeistigung des Geldes’ knüpft. Zugang über Marx In der Thematisierung des Geldes als ‘Zeichen seiner selbst’ ist Simmel gewiß nicht originell. Er kannte das Problem u.a. aus dem Kapital von Marx und wohl auch aus dessen älterer, in diesem Punkte ausführlicheren Arbeit Zur Kritik der politischen Ökonomie. 1 In beiden Schriften hat Marx die Symbolwerdung des Geldes als Wesenszug geldwirtschaftlicher Entwicklung dargestellt. Die sog. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, posthum publizierte Vorstudien zur Kritik von 1859, bezeugen, wie sehr sich Marx mit dem Problem gequält hat, warum Geld überhaupt zu einem ‘bloßen Symbol’ werden kann, ja muß. Auch in Zur Kritik der politischen Ökonomie behandelt Marx die semiotischen Aspekte des Geldes sehr eingehend und in Auseinandersetzung mit der gesamten Tradition der ökonomischen Theoriebildung, wobei er - in seinem Gesamtwerk selten genug - sogar allgemeine, nur mittelbar mit der Geldthematik verbundene Reflexionen zum Charakter von Zeichen anstellt. (Am Rande sei angemerkt, daß Marx und Simmel bei der Erörterung des Zusammenhanges von Geld und Zeichen ein und dasselbe Beispiel - Ersatz von Fellen durch bestempelte Fellspitzen als Tauschmittel im alten Rußland - verwenden, wenn auch mit leicht unterschied- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Klaus Frerichs 356 lichen Akzentsetzungen. 2 Ich muß den wirklich Simmelkundigen die Nachprüfung überlassen, woher Simmel das Exempel bezogen hat. Sollte sich nachweisen lassen, daß er gerade diese und die angrenzenden Passagen aus Zur Kritik der politischen Ökonomie gekannt hat, wären noch weitere Übereinstimmungen in den Gedankenführungen der beiden Denker eher verständlich.) Im ersten Band des Kapital, den Simmel sicherlich gründlich gelesen hat, stellt Marx erneut die Frage nach der Transformation des Geldes in ein reines Symbol und beantwortet sie sowohl apodiktisch als auch vermeintlich abschließend: Nur sofern das Papiergeld Goldquanta repräsentiert, die, wie alle andren Warenquanta, auch Wertquanta, ist es Wertzeichen. - Es fragt sich schließlich, warum das Gold durch bloße wertlose Zeichen seiner selbst ersetzt werden kann? Es ist aber […] nur […] ersetzbar, soweit es in seiner Funktion als Münze oder Zirkulationsmittel isoliert oder verselbständigt wird […] [Die vom Papiergeld ersetzbare Minimalmasse Gold] haust beständig in der Zirkulationssphäre, funktioniert fortwährend als Zirkulationsmittel und existiert daher ausschließlich als Träger dieser Funktion […] Daher genügt auch die bloß symbolische Existenz des Geldes in einem Prozeß, der es beständig aus einer Hand in die andre entfernt. Sein funktionelles Dasein absorbiert sozusagen sein materielles. […] es funktioniert nur noch als Zeichen seiner selbst und kann daher auch durch Zeichen ersetzt werden. Nur bedarf das Zeichen des Geldes seiner eignen objektiv gesellschaftlichen Gültigkeit, und diese erhält das Papiersymbol durch den Zwangskurs. 3 Der Text dürfte die Nähe der Simmelschen Argumentation zu der von Marx unverkennbar machen, insbesondere hinsichtlich der Redeweisen von dem funktionellen versus dem materiellen Dasein des Geldes und dessen in dieser Trennung begründeter ‘bloß symbolischer Existenz’. An der Wendung, Papiergeld sei nur insofern Wert-Zeichen, als es Goldquanta repräsentiere, ist allerdings der wesentliche Unterschied der Perspektiven ebenso deutlich abzulesen. Dennoch bietet der Marxsche Text einen guten Zugang zur spezifischen Geldtheorie von Simmel, indem er eine eigentümliche Metapher anbietet, die bei Marx keine weitere Explikation erfährt, für Simmel aber geradezu als Leitmotiv gedient haben könnte. Ich meine den Satz: “Sein [des Geldes] funktionelles Dasein absorbiert sozusagen sein materielles.” Der distanzierend halbherzige Ausdruck “sozusagen”, für Marxens ansonsten herbe Diktion eher ungewöhnlich, deutet auf Ambivalenz gegenüber einer Einsicht, die zum roten Faden der Marxschen Gedankenführung mehr quer denn längs liegt. Nicht Repräsentanz und damit Differenz, sondern Absorption wird zum Modell eines Verhältnisses, das für die Geldtheorie zentral ist: des Verhältnisses von Symbol und Symbolisiertem. Der Wechsel vom Repräsentanzzum Absorptions-Modell kann jedoch auch so vollzogen werden, daß man von der traditionellen Repräsentanztheorie des Symbols - aliquid stat pro aliquo - ausgeht und den Prozeß des stare pro selbst als eine immanente Umkehrung der Repräsentanz begreift. An anderer Stelle hat Marx diese Umkehrung beschrieben; in den ‘Aphorismen über das Geld’ heißt es prägnant: “Das Geld ist ursprünglich der Repräsentant aller Werte; in der Praxis dreht sich die Sache um, und alle realen Produkte und Arbeiten werden die Repräsentanten des Geldes”. 4 Doch wie die Absorptions-Metapher, so ist auch die Denkfigur der Umkehrung für die Leitlinie der Geld-Theorie von Marx folgenlos geblieben. Der genuine Beitrag Simmels zur Theorie des Geldes und in eins zur allgemeinen Semiotik könnte vorläufig so verstanden werden, daß er genau diesen Bruch in der theoretischen Tradition vertieft, indem er die Repräsentanztheorie des Geldes und dabei des Symbols allgemein zu einer Theorie der tendenziellen Absorption des Symbolisierten durch das Symbol Die Dreigliedrigkeit der Repräsentanz 357 weiterdenkt. In seiner Sprache läßt sich der Absorptionsprozeß als eine ‘Rückwirkung des Vertretenden (der Vertretung, wie Simmel häufig sagt) auf das Vertretene’ formulieren. Dies entspricht der allgemeinen Kritik Simmels am Denken in einbahnig-linearen Beziehungsmustern und seiner Präferenz für das Grundmodell der Wechselwirkung. In der Philosophie des Geldes findet sich eine eigentümliche Passage, die sich wie eine Antwort auf den zuvor zitierten Marx-Text liest: Man kann sagen, daß der Wert des Geldes immer mehr von seinem terminus a quo auf seinen terminus ad quem übergeht, und daß so das Metallgeld, in bezug auf die psychologische Vergleichgültigung seines Materialwertes, mit dem Papiergeld auf einer Stufe steht. Man darf die materiale Wertlosigkeit dieses letzteren nicht deshalb als irrelevant erklären, weil es nur eine Anweisung auf Metall wäre. Dagegen spricht schon die Tatsache, daß selbst ein völlig ungedecktes Papiergeld doch immer als Geld gewertet wird. Denn wenn man auch auf den politischen Zwang hinweisen wollte, der allein solchem Papiergeld seinen Kurs verschaffte [wie es Marx tut, K.F.], so heißt das ja gerade, daß andere Gründe als der der unmittelbaren und materialen Verwertung einem bestimmten Stoff den Geldwert verleihen können und jetzt tatsächlich verleihen. 5 Genau im Anschluß an diese Zurückweisung des Theorems, Papiergeld habe Wert nur als Stellvertreter des Gold-(Metall-)Geldes, formuliert Simmel seine eigene Leitthese, das Symbol wirke auf das Symbolisierte zurück; er tut dies in der Sprache der traditionellen Repräsentanztheorie: Der steigende Ersatz des baren Metallgeldes durch Papiergeld und die mannigfaltigen Formen des Kredits wirken unvermeidlich auf den Charakter jenes selbst zurück - ungefähr wie im Persönlichen jemand, der sich fortwährend durch andere vertreten läßt, schließlich keine andere Schätzung erfährt, als die seinen Vertretern gebührende. 6 Erster Rekonstruktionsschritt: der Verweisungskreis Wenn wir diese Denkfigur auf die Grundformel der Repräsentanz - aliquid stat pro aliquo - anwenden, dann ergibt sich ein Interpretationsschema, das uns zu einer Überprüfung und Erweiterung genau dieser Grundformel nötigen wird: Dasjenige etwas (aliquid), das für etwas anderes (aliquo) steht, es vertritt, hat zunächst nur eine gleichsam parasitäre Bedeutung (der Ausdruck “Bedeutung” meint hier und im folgenden nicht die Zeichen-Bedeutung, sondern soviel wie “soziale Funktion”). Als Vertretung ist es der Schatten des Vertretenen; es partizipiert nur an der Eigenbedeutung, die das Vertretene außerhalb der Repräsentanz-Beziehung hat. In dieser Form der Repräsentanz ist aliquid vollständig durch seine Verweisung auf aliquo charakterisiert. Symbole, deren Wesen darin zu bestehen scheint, daß man durch sie hindurch auf das Symbolisierte sieht, weisen häufig auch eine Gestaltähnlichkeit oder, in Simmels Worten, Form-Gleichheit mit aliquo auf. Für die Geschichte des Geldes exemplifiziert Simmel dies u.a. an milesischen Bronzemünzen, welche die Gestalt von Fischen haben: Nun wird angenommen, daß jenes Fischervolk ursprünglich den Thunfisch als Tauscheinheit benutzte und es […] bei Einführung der Münze nötig fand, den Wert je eines Thunfisches in einer Münze darzustellen, die durch die Gleichheit ihrer Form diese Gleichwertigkeit und Ersetzbarkeit unmittelbar versinnlichte - während man an anderen Stellen, weniger nachdrücklich und doch auf das äußerliche Sichentsprechen nicht verzichtend, auf die Münze nur das Bild des Klaus Frerichs 358 Gegenstandes (Ochse, Fisch, Axt) prägte, der in der Tauschepoche die Grundeinheit bildete und dessen Wert eben die Münze darstellte. 7 Nun vollzieht sich aber - wie von Simmel am Beispiel einer Person erläutert, die sich ständig von anderen vertreten läßt - durch permanente und verallgemeinerte Repräsentanz eine sukzessive Umkehrung der Verweisung. Es entsteht dabei ein Verweisungskreis, der sowohl aus der Position von aliquo als auch aus der von aliquid beschrieben werden muß. Wenn Simmel sagt, der ständig durch andere Vertretene genieße schließlich keine Wertschätzung außer derjenigen, die seine Verteter erfahren, dann ist dies allgemein so zu formulieren, daß nunmehr aliquo eben keine Bedeutung mehr außerhalb der Repräsentanz-Beziehung zukommt. Aliquo verweist auf aliquid zurück und ist, wenn wir uns den Prozeß vollendet denken, eben nur noch dasjenige etwas, das von jenem etwas vertreten wird. Die Umkehrung der Verweisung ist auch eine Umkehrung der Bedeutung - die von aliquo ist nun parasitär, sie erschöpft sich darin, daß aliquo in aliquid seine Vertretung findet. Aus der Sicht von aliquid, also des Symbols, führt der Verweisungskreis zu einer seltsamen Struktur, die sich bezeichnenderweise nur tautologisch darstellen läßt: Aliquid vertritt aliquo als etwas, das von aliquid vertreten wird. Es verweist durch aliquo hindurch auf sich selbst zurück. Genau diese Struktur der Selbstbezüglichkeit klingt schon bei Marx an, wenn er das Geld als ‘Zeichen seiner selbst’ bestimmt. Doch erst bei Simmel wird der Verweisungskreis halbexplizit, halb-implizit zum Interpretationsschema für den Prozeß, den das Geld sowohl durchmacht als auch betreibt. Das entfaltete Geld bildet, mit einem trefflichen Ausdruck von Simmel gesagt, das Paradigma eines ‘sekundären Symbols’. Die Entwicklung von einem stoffwertigen über ein stoffwertloses, aber stoffwertgedecktes zu einem stoffwertlosen und nicht-stoffwertgedeckten Geld - letzteres wäre mit Simmel positiv als ein ‘formwertiges’ Geld zu bestimmen - stellt sich aus dieser Sicht als Entwicklung von einer unmittelbaren über eine symbolisch vermittelte zu einer symbolisch verdichteten oder absorbierten Bedeutung dar. Denn ein ‘sekundäres’ Symbol hat die Bedeutung des Symbolisierten gleichsam aufgesogen und in seiner eigenen Gestalt eine neue Existenz gegeben. Als, so Simmel, ‘bloßes Symbol’ hat es das Symbolisierte mit sich zusammengeschlossen. Damit kommen wir aber zu dem paradoxen Resultat, daß gerade ein ‘bloßes’, ein ‘sekundäres’ Symbol gar nicht mehr als Symbol bestimmt werden kann - sofern man sich weiterhin von der Vorstellung leiten lassen will, ein Symbol lebe von der Verweisung auf etwas anderes als es selbst. Schon aus der Tatsache, daß der Verweisungskreis von der Position aus, die aliquid in ihm einnimmt, nur tautologisch zu beschreiben ist - es vertritt etwas, dessen Sein darin besteht, von ihm vertreten zu werden - können wir entnehmen, wie der Prozeß der Rückverweisung notwendigerweise in eine Selbstaufhebung der Repräsentanz mündet: Sobald sich der Verweisungskreis schließt, schrumpft er gleichsam zu dem Punkt zusammen, in dem sich das Symbolisierte und das Symbol treffen. Indem aber die Differenz zwischen aliquo und aliquid, die nur noch als zwei Aspekte einer Sache erscheinen, aufgehoben wird, erlischt auch die traditionell verstandene Repräsentanz, die immer nur als Beziehung zweier ‘etwasse’ bestehen kann. Was als unmittelbare Einheit von Sein und Bedeutung beginnt, dann das Symbol als Schatten des Symbolisierten hervorbringt, führt über die allmähliche Absorption des Symbolisierten durch das Symbol zu einer neuen Einheit von Sein und Bedeutung. Sekundäre Symbole wie das ungedeckte Papiergeld haben gerade den Symbolcharakter abgestreift, indem sie sich des Symbolisierten bemächtigt haben. Sie sind neue Realitäten, die nicht länger etwas vertreten (repräsentieren), sondern an dessen Stelle Die Dreigliedrigkeit der Repräsentanz 359 getreten sind. Gegen Marx, aber mit Simmel könnten wir sagen, daß sich das Papiergeld gerade auf dem Wege der Vertretung des Goldgeldes jenem gegenüber vollkommen verselbständigt hat. Papiergeld ist demnach kein Symbol mehr, sondern eine vermittelte Wirklichkeit, deren Bedeutung darin besteht, daß sie einmal eine symbolische gewesen ist. Simmel hat die Selbstaufhebung des so gefaßten Symbols, die es im Prozeß der Repräsentanz vollzieht und erleidet, sehr genau gesehen. Er hat daraus aber gefolgert, der Verweisungskreis dürfe sich niemals schließen. Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem ‘substanziellen Eigenwert des Geldes und seinem bloß funktionellen und symbolischen Wesen’ beschreibt er deshalb wie folgt: […] immer mehr ersetzt das zweite den ersteren, während irgendein Maß dieses ersteren noch immer vorhanden sein muß, weil bei absoluter Vollendung dieser Entwicklung auch der Funktions- und Symbolcharakter des Geldes seinen Halt und seine zweckmäßige Bedeutung einbüßen würde. 8 Für den traditionell bestimmten Symbolcharakter des Geldes gilt dies, wie soeben dargestellt wurde, in der Tat. Wir dürften jedoch heute ergänzen, daß sich der Funktionswert des Geldes gerade durch die Aufhebung des derart verstandenen Symbolcharakters vollendet. Das Geld gewinnt erst so eine seinem Begriff - eine Funktion nicht zu haben, sondern zu sein - adäquate Gestalt. Allenfalls könnten wir das voll entfaltete Geld als das Negativ eines Symbols bestimmen, da es nunmehr eine Existenzform angenommen hat, in der - gemäß dem zitierten Marxschen Aphorismus - alle Produkte und Arbeiten als seine Repräsentanten erscheinen. Zweiter Rekonstruktionsschritt: die dreigliedrige Struktur des Symbols Eine Rekonstruktion der Simmelschen Gedankenführung sollte sich allerdings nicht an Wendungen und Textpassagen orientieren, die uns verleiten, Simmels Argumentation die traditionelle Repräsentanz-Formel zu unterlegen. Die in der Philosophie des Geldes enthaltene Theorie des Symbols muß vielmehr dem Gang der Argumentation - unabhängig auch von dem, was Simmel selbst darüber zu sagen weiß - entnommen werden. Der obige Versuch, Simmels Beschreibung der Transformation des Geldes in ein nicht mehr konvertierbares Papiergeld gemäß einer zweigliedrigen Repräsentanz-Formel (aliquid pro aliquo) nachzuvollziehen, hat jedoch schon zu Formulierungen genötigt, die an eben dieser vermeintlichen Zweigliedrigkeit des Symbolischen zweifeln lassen. De facto macht Simmel in seinen Überlegungen von einer dreigliedrigen Strukturformel des Symbols Gebrauch: Aliquid repräsentiert (vertritt) aliquo niemals in indifferenter Weise, sondern so, daß aliquo attributiv bestimmt wird; die Repräsentanz charakterisiert aliquo als etwas und entfaltet dabei eine qualifizierende oder auch ‘dequalifizierende’ Wirkung auf aliquo. Die vollständige Strukturformel lautet: Etwas wird von etwas als etwas repräsentiert; mit leichter Akzentverschiebung, aber unter Beibehaltung der Struktur formuliert: Etwas wird als etwas von etwas repräsentiert. Von dieser vervollständigten Grundformel aus lassen sich die Entwicklungsprozesse des Geldes - und damit auch die von Marx inspirierte Absorptions-Metapher - besser verstehen. Der ‘steigende Ersatz des baren Metallgeldes durch Papiergeld’, an dem Simmel die Rückwirkung des Vertretenden auf das Vertretene und Marx die Selbstbezüglichkeit des Geldes verdeutlicht, ist nunmehr so zu beschreiben: Das Papiergeld repräsentiert Goldquanta - in der Formulierung von Marx gesagt -, aber diese Repräsentanz hat charakterisierende und qualifizierende Wirkung; das Papiergeld repräsentiert die Goldquanta gerade nicht als Gold-Quanta, Klaus Frerichs 360 sondern als Gold-Quanta, als rein quantitativ bestimmtes Zirkulationsmittel. Im Papiergeld verselbständigt sich die Zirkulationsfunktion des Metall-(Gold-)Geldes gegenüber seinem ‘materiellen Dasein’, weil die Repräsentanz durch Papiergeld das Metallgeld gleichsam entstofflicht, das Metall nur noch als ‘Träger einer Funktion’ erscheinen läßt - einer Funktion, die auch von anderen Stoffen und Dingen getragen werden könnte. Die vermeintliche Rückwirkung des Vertretenden auf das Vertretene ist in der Repräsentanz selbst bereits enthalten. Jedes Symbol ist die Herauslösung und tendenziell auch Verselbständigung eines Moments, einer Daseinsweise des Symbolisierten, das vom Symbol eben nicht nur ‘vertreten’, sondern in eins als ein so-und-so bestimmtes etwas charakterisiert wird. Die Symbolwerdung des Geldes, das Werden des Geldes zum reinen oder bloßen Symbol, beruht auf einer fortschreitenden Vertretung substanzwertigen Geldes durch substanzarmes oder gar -loses Geld, das genau diejenigen funktionalen Qualitäten des substanzwertigen Geldes in sich verdichtet, die vom Substanzwert vollkommen unabhängig sind. Das Papiergeld repräsentiert das Metallgeld als eine rein funktionale Entität. 9 Das repräsentierte Metall- (Gold-)Geld fällt dadurch in die Seinsweise eines ‘Schatzes’, eines Hortes hochwertiger Güter zurück. Indem somit die substantiellen und die funktionalen Qualitäten des Metallgeldes, die in ihm nahezu ununterscheidbar verschmolzen sind, im Prozeß der Repräsentanz gegenständlich auseinandertreten, wird allererst sinnfällig erfahrbar, daß Metall-Geld gerade nicht als Metall-Geld seinen Dienst leistet. Deshalb kann - doppelsinnig gesagt - das Papiergeld die Funktion des Metallgeldes übernehmen: es als funktionale Entität vertreten und eben dadurch endlich auch ablösen. Allein die dreigliedrige Repräsentanz-Formel macht also verständlich, warum Simmel den funktionalen und den symbolischen Charakter des entfalteten Geldes wiederholt in einem Atemzuge nennt. Denn im Prozeß der Repräsentanz löst sich das Geld von seiner materiellen Bindung; pari passu wird es reine Funktion, weil das Symbol den Substanzwert in den Hintergrund rückt, und reines Symbol, weil das Geld schließlich nicht mehr als substantielle, sondern nur noch als funktionale Entität wahrgenommen und behandelt wird. Anmerkungen 1 Vgl. Marx 1971, bes. S. 87-101. 2 Vgl. Marx 1971, S. 85f.; Simmel 1989, S. 169. 3 Marx 1970, S. 142f. 4 Marx o. J., S. 67f. 5 Simmel 1989, S. 158. 6 Simmel 1989, S. 158. 7 Simmel 1989, S. 160; Hervorhebung im Original. 8 Simmel 1989, S. 196. 9 Es ist von größtem theoretischen und theoriehistorischen Interesse, daß bereits von dem ‘Rationalisten’ Leibniz eine Theorie des (sprachlichen) Denkens entwickelt worden ist, deren Modell das Repräsentanz-Verhältnis des Papiergeldes zum Metallgeld bildet. Wegen der außergewöhnlichen Bedeutung und des geringen Bekanntheitsgrades des Textes seien die wichtigsten Passagen ausführlich zitiert: “[…] gleichwie man in großen Handels- Städten, auch im Spiel und sonsten, nicht allezeit Geld zahlet, sondern sich an dessen Statt der Zeddel oder Marken bis zur letzten Abrechnung oder Zahlung bedienet; also thut auch der Verstand mit den Bildnissen der Dinge […] wenn man im Reden und auch selbst im Gedenken kein Wort sprechen wollte, ohne sich ein eigentliches Bildniß von dessen Bedeutung zu machen, würde man überaus langsam sprechen, oder vielmehr verstummen müssen, auch den Lauf der Gedanken nothwendig hemmen […] Daher braucht man oft die Wort als Ziffern, oder als Rechen-Pfennige, an statt der Bildnisse und Sachen, bis man Stufenweise zum Facit schreitet, Die Dreigliedrigkeit der Repräsentanz 361 und beym Vernunft-Schluß zur Sache selbst gelanget. Woraus erscheinet, wie ein Großes daran gelegen, daß die Worte als Vorbilde und gleichsam als Wechsel-Zeddel des Verstandes wohl gefasset, wohl unterschieden, zulänglich, häufig, leichtfließend und angenehm seyn.” (Leibniz 1966, S. 520f.). Die Worte vertreten die ‘Bildnisse der Dinge’ gemäß der Leibnizschen Konzeption nicht primär als Bildnis der Dinge - hinsichtlich ihres gegenständlichen Bezugs -, sondern als Bildnisse der Dinge - hinsichtlich ihrer Beziehung untereinander, ihrer Verknüpfungs-Funktion in Denkprozessen, bei denen ‘man stufenweise zum Fazit schreitet’. Die Worte (Wörter) vertreten also die Bilder als (denk-)funktionale Entitäten. Literatur Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache, in: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers. von A. Buchenau, durchgesehen u. mit Einleitung u. Erläuterungen hg. von Ernst Cassirer. Band 2. 3. Auflage. Hamburg 1966 [1924]. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Frankfurt/ M., Wien o. J. [Nachdruck der Moskauer Ausgabe von 1939 und 1941]. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. l. Band. Berlin 1970 (MEW, Band 23). Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Band 13, S. 3-160. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt/ M. 1989. (Georg Simmel Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt; Band 6). Sprachwissenschaft A. Francke Axel Hübler Das Konzept ›Körper‹ in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften UTB 2182 M, 2001, 373 Seiten, div. Abb. u. Tab., 19,90/ SFr 33,50 UTB-ISBN 3-8252-2182-2 Das Buch vermittelt einen breit angelegten kritischen, ideengeschichtlichen Überblick darüber, wie in Vergangenheit und Gegenwart unterschiedlichste Disziplinen aus dem Bereich der Sprach- und Kommunikationswissenschaften den Körper in ihre Untersuchungen mit einbezogen haben; dabei wird ‚Körper‘ entweder als kommunikatives Ausdrucksmittel oder als Organisationsprinzip für die Sache selbst gesehen. Berücksichtigt werden einschlägige Beiträge aus der Rhetorik, den Konversations- und Anstandslehren, aus Sprachphilosophie und Evolutionstheorie, aus Sozialpsychologie, Neurologie und Linguistik. Die lebendige und gut verständliche Form der sprachlichen Darstellung wird durch eine Fülle von Beispielen und bildlich-graphischen Illustrationen ergänzt und ermöglicht nicht nur Fachwissenschaftlern und Studenten, sondern auch interessierten Laien einen leichten Zugang zu einem hochaktuellen Thema. Das Geld, die Zeichen und der Tod Weltbildwandel im Mittelalter Achim Eschbach 1. Das Geld Nach heutigen Kenntnissen denken nur die höchstentwickelten Lebewesen über ihr eigenes Ende nach, während es eine Fülle äußerst interessanter Belege dafür gibt, daß verschiedene Arten die erstaunlichsten Bestattungsriten und Formen der Trauer um ihre Verstorbenen entwickelt haben. Gemessen an der Dauer der gesamten Menschheitsgeschichte tauchen Belege für Gedanken über eine mögliche Ausgestaltung einer Existenz nach dem Tode relativ spät auf, was Herbig (1986: 204ff.) im Widerspruch zu Roy A. Rappaport und André Leroi- Gourhan zu der zweifellos problematischen Disjunktion von symbolischer Interaktion und religiösen Praktiken veranlaßte. So wenig aber sprachlose Lebewesen in grauer Vorzeit plötzlich und überraschend die Sprache erfunden haben, wodurch sie allererst zu Menschen wurden, so wenig haben längst symbolisch interagierende Menschen in historischer Zeit plötzlich und unvermittelt Religionen erfunden. Jürgen von Kempski (1992: 21ff.) hat dieser mythischen Schöpfung aus dem Nichts einen sehr anregenden Aufsatz gewidmet, weshalb ich daran anknüpfend nur noch darauf zu verweisen brauche, daß eine creatio ex nihilo dem semiotischen Grundprinzip der permanenten Interpretation widerspricht, demzufolge ein jedes Zeichen andere Zeichen voraussetzt, auf die es sich interpretierend beziehen kann. So wie es eine Denknotwendigkeit ist Zeichen vorauszusetzen, um Zeichen interpretieren zu können, setzt die gesellschaftliche Interaktion gewisse Vor- und Rücksichten voraus, weil anders Gesellschaft gar nicht möglich wäre; daß sich das System der gesellschaftlichen Vor- und Rücksichten im Laufe der Zeit erheblich gewandelt hat, soll im weiteren an einem ausgewählten Beispiel eingehender untersucht werden. Die Menschen haben ihre Kommunikation mit den Göttern in einem Prozeß fortschreitender Semiotisierung strukturiert. Waren es anfangs stoffwertvolle Gegenstände des Alltags wie z.B. Speisen oder Tieropfer, die sicherlich kaum einmal sprach- und gestenlos dargeboten wurden, setzte sehr bald eine symbolische Repräsentation des Opfers ein; Priester übernahmen die direkte Kommunikation mit den Göttern und akzeptierten als Opfergaben nur noch Tiere einer besonderen Qualität und Beschaffenheit, was die Entwicklung geeigneter Bemessungsgrundlagen und Maßeinheiten verlangt. Eine präzise bemessene Opfergabe wird zur Werteinheit, zu heiligem Geld, wie Bernhard Laum sagt, das in einem Profanisierungsprozeß auch außerhalb religiöser Riten Geltung erlangt und in einem parallelverlaufenden Abstraktionsprozeß durch stoffwertvolle, d.h. goldene oder silberne Münzen, die ikonisch das Opfertier, z.B. den Stier, den Hahn, den Fisch oder eine Frucht wie z.B. den Apfel, die Traube, die Ähre präsentieren, ersetzt werden. Alle weiterführenden Schritte, bei denen stoffwertvolle Metalle durch stoffwertlose Träger wie z.B. Papier oder Plastik ausgetauscht werden, bieten semiotisch gesehen keine wesentlichen Neuerungen, wenn man einmal von K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 25 (2002) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Achim Eschbach 364 der allerdings nicht unwesentlichen Tatsache absieht, daß ein immer größerer Aufwand getrieben werden muß, um das Vertrauen in die stoffwertlosen Repräsentanten zu sichern: Die Sorgen und Ängste der DM-Besitzer vor der Einführung des Euro sind zum wenigsten geldtheoretisch begründet, dafür um so stärker magisch-psychologisch. Der Verlust der Anschaulichkeit und Stoffgebundenheit kann nur durch einen höheren Determinationsgrad kompensiert werden, damit das symbolische Geld die gleiche Verhaltenssicherheit gestattet wie das semiotisch schwächer determinierte Geld früherer Entwicklungsstufen. Die Etablierung eines Bemessungssystems für die Angemessenheit und Akzeptanz einer Opfergabe kommt nicht mit rein materiellen Kriterien aus, wie schon das erste Beispiel eines Vergleichs zweier Opfer im Alten Testament veranschaulicht: Abel, der Schäfer, opferte von den Erstlingen seiner Herde, und Kain, der Ackermann, brachte dem Herrn Opfer von den Früchten seines Feldes: “Und der Herr sah gnädiglich an Abel und sein Opfer. Aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädiglich an” (l. Mose 4.). Wenn man die Annahme resp. Ablehnung der Opfer weder auf materielle Differenzen zurückführen noch als einen Willkürakt begreifen möchte, kann die unterschiedliche Beurteilung nur aus der Haltung abgeleitet werden, mit der das Opfer dargebracht wird, und in der Tat heißt es: “Wenn du fromm bist, so bist du angenehm; bist du aber nicht fromm, so ruhet die Sünde vor der Thür” (ibid.). Semiotisch gesehen läuft diese Unterscheidung darauf hinaus, daß das Opfer sich nicht autoreferenziell selbst bezeichnet und genügt, sondern darüberhinaus einen semiotischen Mehrwert besitzt, der in der Intention des Opfernden zu suchen ist. Die Ermittlung der Bedeutung des semiotischen Mehrwerts ist ein schwieriges Geschäft, um dessen Erledigung sich verschiedene mit der Exegese und Hermeneutik befaßte Professionen (Theologen, Juristen, Philologen, Psychologen, Semiotiker etc.) bemühen, ohne dieses Geschäft jemals verbindlich abschließen zu können. Das erste alttestamentliche Opferbeispiel widerspiegelt darüberhinaus auch noch das Problem der Determination resp. Prädestination: Hat Kain richtig betrachtet eine faire Chance, anders zu handeln, als er es tatsächlich tut? Darf man den am Boden kriechenden Rauch seines Opferfeuers als echtes Zeichen seines Mißerfolges deuten oder handelt es sich nicht vielmehr um eine materielle Konsequenz einmal gesetzter Bedingungen? Nur dann, wenn dem Opfernden die Möglichkeit eröffnet ist, seine Haltung frei zu wählen, kann eine semiotische Argumentation sinnvoll geführt werden. So eindeutig das Geld religiösen Ursprüngen entstammt, so ambivalent ist doch der theologische wie profane Umgang mit diesem Opferderivat. Schon Plato wollte die Geldwechsler aus dem Tempelbezirk verbannen, Jesus hat diese Absicht recht handgreiflich in die Tat umgesetzt, als er die Tische der Wechsler im Tempel umstieß (Matthäi 20) und die katholische Kirche betrachtete - im übrigen in weitgehender Übereinstimmung mit dem Judentum und dem Islam - Vergehen gegen die Sozialordnung (e.g. Habgier; Wucherzinsgeschäfte) als schwerste Sünden, die mit den heftigsten Sanktionen belegt wurden. Was aber um alles in der Welt hat diese Geldphobie erzeugt? Zahlreiche inhaltlich gleichlautende Antworten hat Ernest Borneman (1977) in seiner Psychologie des Geldes versammelt, aus der ich drei Zitate anführen möchte, um den psychoanalytischen Argumentationsduktus zu veranschaulichen. Sigmund Freud schreibt: “In Wahrheit ist überall, wo die archaische Denkweise herrschend war oder geblieben ist, in den alten Kulturen, im Mythos, Märchen, Aberglauben, im unbewußten Denken, im Traume und in der Neurose das Geld in innigste Beziehungen zum Drecke gebracht. Es ist bekannt, daß das Gold, welches der Teufel seinen Buhlen schenkt, sich nach seinem Weggehen in Dreck verwandelt, und der Teufel ist doch gewiß nichts anderes als die Personifikation des verdrängten unbewußten Trieblebens” (in Borneman, 1977: 90). Das Geld, die Zeichen und der Tod 365 Sein ungarischer Kollege Sändor Ferenczi weiß: “Aus der Lust am Darminhalt wird Freude am Gelde, das aber nach dem Gesagten auch nichts anderes ist als geruchloser, entwässerter und glänzend gemachter Kot, ‘pecunia non olet’” (ibid., 101), und Ernest Borneman selbst berichtet: “Midas, König von Phrygien, erbat sich von Dionysos, den er als Gast gespeist hatte, daß alles, was er anfasse, sich in Gold verwandeln möge, und entdeckte dann zu spät, daß er nun weder essen noch trinken, weder lieben noch sich warm halten konnte, da Speise und Trank, Frauen und Kleidung sich bei seiner Berührung in kaltes, starres Gold verwandelten. Nirgends in der abendländischen Mythologie ist die Widersinnigkeit, die zerstörende, alles Vitale negierende Wirkung des Geldes in komprimierterer Form beschrieben worden” (ibid., 447), was sich mühelos dahingehend zusammenfassen läßt, daß die positive Vollform gar nicht denkbar wäre ohne ihre ins Gegenteil verkehrte negative Leerform, was Joachim Schacht in seiner Kulturanthropologie des Geldes folgendermaßen formuliert: “Das Geldwesen benutzt die Sprache der Religion, aber es höhlt sie aus. Als zeichenhaftes Objekt mit latent-absolutistischer magischer Scheinfreiheit von Zeit ist das Geld das dinglichfiktive ‘Abzieh-Bild eines in ein abstraktes Material ‘investierten’ Gottesbildes, das in ihm ‘versiegelt’ ist wie in einem ‘Grabmal’: Insofern ist es die Totenmaske Gottes (Schacht, 1967: 152). 2. Die Zeichen Vor den großen Umbrüchen, die sich im 12. und 13. Jahrhundert ereigneten, fällt es schwer, aus der Perspektive einer kritischen Semiotik von seriösen zeichentheoretischen Studien zu sprechen. Natürlich ist bekannt, daß Heraklit und Plato, Aristoteles und Sextus Empiricus, Boethius und Augustinus wichtige semiotische Gedanken gefaßt haben, die uns in vielfacher Hinsicht bis heute terminologisch und inhaltlich bewegen; diese und die vielen ungenannten Denker deshalb aber ex post zu Zeichentheoretikern zu erklären, wäre schlicht unzeitgemäß und sachlich falsch, da sich die Formulierung einer Theorie der Zeichen für diese Epoche noch gar nicht als Problem gestellt hatte. Im wesentlichen war dies darin begründet, daß die präsemiotische, prärationalistische Ära mit einem analogischen Zeichenbegriff operierte, der es erlaubte, alles mit allem in Verbindung zu bringen, weil ein Etwas aufgrund wie auch immer gearteter Nachbarschaftsbeziehungen, Ähnlichkeiten, Proportionalitäten, Familienähnlichkeiten etc. auf ein beliebig Anderes verweisen konnte. Der präsemiotische Zeichenbegriff, der nur die Minimalforderung zu erfüllen hat, daß etwas für etwas anderes eintreten muß, um als dessen Zeichen auftreten zu dürfen, mündet nur zu leicht in das allgemeine Geraune, das Umberto Eco (1990) sehr zu Recht heftig kritisiert hat. Die unendliche Abdrift, die vom Hölzchen aufs Stöckchen führt, trägt nicht zur genaueren Erkenntnis des Erkenntnisgegenstandes bei, da sie sich nicht um die genauere, präzisere Bestimmung des Gegenstandes bemüht, sondern sich damit begnügt, ihren Gegenstand in immer wieder neue Nachbarschaften zu stellen, zu denen gewisse “Ähnlichkeiten” bestehen. Charles Sanders Peirce hat vor dieser übertriebenen und ungerechtfertigten Analogisierung deutlich gewarnt, als er zu diesem schweren logischen Fehler sagte: Achim Eschbach 366 “Es gibt keinen größeren und häufigeren Fehler in der praktischen Logik als die Annahme, daß Dinge, die sich in einigen Hinsichten sehr ähnlich sind, sich deswegen um so wahrscheinlicher in anderen Hinsichten gleichen” (C.P., 2.634). Phasen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs sind nicht allein wegen ihrer angestrebten Veränderungen von außerordentlichem Interesse, sondern vor allem auch deshalb, weil an den Bruchstellen die sich voneinander ablösenden Paradigmen in all ihren Widersprüchen mit besonderer Schärfe und Klarheit zu Tage treten. Späteren Forschergenerationen mag das Jahr 1989 ein dankbarer Untersuchungsgegenstand sein; ich möchte mich hier auf das ausgehende 13. Jahrhundert und speziell auf das Jahr 1274 konzentrieren, in dem eine Reihe dramatischer Verwandlungen zusammentrafen. 1274 ist nicht nur das Geburtsjahr des Fegefeuers, wie Jacques Le Goff (1991) argumentiert. Sondern zugleich der Kristallisationskern vielfältiger Veränderungen auf allen möglichen Gebieten. Elisabeth Gössmann erklärt, daß in dieser Zeit des Wandels insbesondere eine reflektierende Rationalität eine archaische Symbol- und Bildhaftigkeit, ein vorrationales Denken ablöste (cf. Gössmann, 1973: 41). Dieselbe Auffassung, daß nämlich die semiotische Forschungsarbeit des Mittelalters durch einen langsamen Übergang vom Symbol zum Zeichen zu kennzeichnen sei, hatte Julia Kristeva bereits fünf Jahre früher vertreten: “La deuxième moitié du moyen âge (XIIIe - XV siècle) est une période de transition pour la culture européenne: la pensée du signe remplace celle du symbole” (Kristeva, 1968: 35). An anderer Stelle fügt sie hinzu: “Le nominalisme marque une étape décisive du passage du symbole au signe dans le discours moyenâgeux. C’est surtout dans les doctrines de Guillaume d’Occam, qui s’opposent violemment à celles de Duns Scott et dénoncent l’impossibilité d’appuyer le dogme sur la philosophie, que le nominalisroe prend sa forme la plus nette. II est une attaque contre la pensée du symbole sous son aspect réaliste (doctrine d’inspiration platonicienne qui considère que les universaux ou les unités abstraites sont indépendentes de l’intellect, et qui est représentée par saint Thomas et Duns Scott) et sous son aspect conceptualiste (qui considère que les universaux existent mais sont produits par l’intelligence” (ibid., 40) . Die Entwicklung der mittelalterlichen Semiotik wurde von einer Gruppe von Logikern, Philosophen und Sprachwissenschaftlern getragen, die sich als “magistri moderni” von ihren Vorgängern unterschieden, die sie als “antiqui” bezeichneten und deren Bemühungen in dem Aufbau einer spekulativen Grammatik gipfelten. Die Entwicklung der spekulativen Grammatik war durch eine Reihe von Faktoren bedingt, die sich in folgenden vier Punkten zusammenfassen lassen: l. Die Wiederentdeckung wichtiger Teile der aristotelischen Logik unterstützte die Logikalisierung der Grammatik; 2. Wilhelm von Conches, Petrus Helias und Petrus Abälard entwickelten die systematischen Voraussetzungen und terminologischen Mittel der spekulativen Grammatik; 3. die Auseinandersetzung zwischen den an der klassischen Literatur orientierten Schulen von Orleans und Chartres und der Pariser Artistenfakultät wegen des wachsenden Einflusses der (aristotelischen) Logik geht zugunsten der logischen Grammatiker von Paris aus; 4. die summae modorum significandi der spekulativen Grammatiker nehmen die neuen Erkenntnisse der wiederentdeckten aristotelischen Werke auf. Die Neuartigkeit des modistischen Ansatzes ist darin zu suchen, daß die spekulative Erforschung der Syntaktik und Semantik der Wortklassen in direkter Korrespondenz zur Realität vorgenommen wird, die gemäß der realistischen Ontologie der Modisten allen sprachlichen Phänomenen vorausgeht. Die modistische Überzeugung, daß sprachliche Das Geld, die Zeichen und der Tod 367 Phänomene nicht in sich selbst, sondern in der umgebenden Realität begründet sind, ermöglichte die Formulierung der Annahme, daß eine universale Grammatik existiert, deren Strukturen sich in Korrespondenz zur Weltstruktur entwickeln und somit unabhängig von speziellen Einzelsprachen sind. Die Erforschung dieser universalen Grammatik, die Gültigkeit für alle speziellen Einzelsprachen besitzt, kann nur von einer Zeichentheorie geleistet werden, die alle speziellen Sprachtheorien einschließt und auf eine Metaebene hebt, d.h. Metatheorie ist. In einer Formulierung, die in dieser Form von Charles S. Peirce stammen könnte, betont eine logische Abhandlung aus dem 14. Jahrhundert die zentrale Stellung des Zeichenbegriffs für die neue Logik: “Quoniam logica est doctrina principaliter de signis, quibus utimur pro significatis” (Pinborg, 1971: 238), was ich als einen Beleg dafür bewerten möchte, daß die antike Substitutionstheorie des Zeichens nunmehr in Richtung der modernen Repräsentationstheorie überschritten ist. Die modistische Analyse verfolgt den Weg von dem bezeichnenden zu dem bezeichneten Objekt von den modi essendi über die modi intelligendi zu den modi significandi. Zur Beantwortung der Fragen, welche Beziehungen sprachliche Elemente zur Realität unterhalten, wie die Erkenntnis der sprachlichen Elemente vorzustellen ist und wie diese Erkenntnisse zu formulieren sind, entwickelten die Modisten ein äußerst subtiles erkenntnistheoretisches System. Nach Auffassung der modistischen Semiotiker hat jedes materielle und immaterielle Objekt eine spezifische Seinsweise, den modus essendi der im Erkenntnisprozeß in spezifischer Weise, dem modus intelligendi erfaßt und in spezifischer Weise, dem modus significandi bezeichnet werden kann. Die drei modi stehen in engem Zusammenhang mit den partes orationis dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand des Grammatikers, der nicht an isolierten sprachlichen Elementen, den dictiones interessiert ist, sondern die Relationen dieser Elemente betrachtet. Die partes orationis sind aus modistischer Sicht als Objekte beschreibbar, die von einem Gegenstand, der Erkenntnis dieses Gegenstandes, der Bezeichnung dieses Gegenstandes und der Artikulation der sprachlichen Zeichen konstituiert wird. Die Beziehungen und Differenzen der drei modi basieren auf den Objekten, dem Erkenntnisprozeß und der Sprache, so daß die Entwicklung von den modi essendi zu den modi intelligendi fortschreitet und in den modi significandi abschließt. Jedes extramentale materielle und immaterielle Objekt weist eine Anzahl allgemein erfahrbarer Eigenschaften auf, die unabhängig und vor der intellektuellen Erkenntnis existieren. Diese Objekteigenschaften, die modi essendi, sind zwar keine grammatikalischen Kategorien, weisen aber als letzte Differenzierungsprinzipien dennoch enge Beziehungen zu den anderen modi auf, da sie deren Form und Funktion in entscheidendem Maße beeinflussen, denn jeder Erkenntnis- und Bezeichnungsvorgang muß letztlich in einer distinkten Materie begründet sein. Für sich betrachtet geben die modi essendi weder Auskunft über die Erkenntnisweise des Objektes, noch die Form einer möglichen Bezeichnung, sondern beziehen sich ausschließlich auf das Objekt bzw. dessen Eigenschaften, d.h. sie sind als die unmittelbare und beziehungslose, empirisch vorliegende Wirklichkeit unter der Perspektive der Existenz zu fassen. Wurden die Objekteigenschaften als letzte Differenzierungsprinzipien der übrigen modi charakterisiert, so können sie jedoch nicht als unmittelbarer Ursprung der modi significandi angesehen werden, denn die Realität ist nur insofern bedeutungsdifferenzierend, als sie erkannt ist. Die Herstellung einer Beziehung von Objektbereich und Bedeutungsbereich bedarf der vermittelnden Tätigkeit des Intellekts, denn erst die Formen der Erkenntnis, die Achim Eschbach 368 modi intelligendi, sind die unmittelbaren Ursachen bzw. Bestimmungskriterien der modi significandi. Die modi intelligendi geben Auskunft über die Formen der Wahrnehmung und intellektuellen Aneignung der Objekte und deren Eigenschaften, d.h. die Art und Weise der gegenständlichen Erfassung. Neben der auf die modi essendi gerichteten Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktion der modi intelligendi ist eine zweite Funktion zu unterscheiden, die den Bezug zu den modi significandi herstellt. Zur Beschreibung dieser doppelten Funktion der modi intelligendi unterschieden die Modisten einen modus intelligendi activus und einen modus intelligendi passivus. Die Differenzierung in einen aktiven und einen passiven Modus, die auf der Ebene des beziehungslosen Seins noch nicht vorgenommen werden mußte, aber für die modi intelligendi wie für die modi significandi gilt, entspricht der materia-forma-Dichotomie der modistischen Metasprache. Diese Dichotomie versucht dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die modi materialiter identisch sind, sich jedoch je nach Betrachtungsweise formaliter unterscheiden. Sind die Objekte bzw. Objekteigenschaften in der intellektuellen Betrachtung angesprochen, so ist die Rede vom modus intelligendi activus. Ergebnis der intellektuellen Erfassung der Objekteigenschaften ist eine noch ungerichtete Bedeutungspotentialität, da auf dieser Ebene sowohl die intellektuelle Erfassung der Bedeutung als auch die bloße Wahrnehmung des Gegenstandes eingeschlossen sind. Wird unter Beibehaltung des Erkenntnisgegenstandes die Ebene der bloßen Erkenntnisfähigkeit in Richtung auf die Bedeutungsweise des erkannten Objektes verlassen, so ist der Geltungsbereich der modi intelligendi passivi betroffen. Im Gegensatz zu den aktiven modi, die die Vermittlung zwischen Objekt und Intellekt herstellen, beziehen sich die passiven modi (in durchaus aktiver Weise) auf die Relation von Intellekt und Bedeutung. Die doppelte Orientierung der material identischen, doch formal verschiedenen modi intelligendi ist demnach die Bedingung der Möglichkeit, den modi significandi ein fundamentum in re zu schaffen. Die bisherigen Überlegungen haben sowohl die Kriterien bereitgestellt, die Objekte der menschlichen Erkenntnis in ihrer Beziehung zu dem erkennenden Intellekt zu beschreiben, als auch einen Hinweis auf die Funktion der erkannten Objekteigenschaften gegeben. In der Hierarchie der sprachlichen Elemente verweist die noch beziehungslose dictio auf den Zusammenhang menschlicher Rede, wobei allerdings noch unklar ist, wie diese Beziehung konkret hergestellt werden kann. Zur Vermittlung der beziehungslosen Bedeutungselemente und der bedeutsamen menschlichen Rede führen die Modisten die modi significandi ein, die ein bedeutungsfähiges Sprachelement nach seinen möglichen Bedeutungsweisen differenzieren. Der modus significandi passivus wird als Bedeutungsweise des bedeuteten Objektes aufgefaßt, d.h., daß er sich auf die bedeuteten Objekteigenschaften hinsichtlich ihrer funktionalen Bedeutung bezieht, während der modus significandi activus gemäß der von einem bedeutenden Sprachelement übernommenen jeweiligen Bedeutungsfunktion die weitere Anwendung der erzielten Ergebnisse lenkt, d.h., daß er die Objekteigenschaften in der Form der funktionalen Bedeutung ausdrückt. Die besondere Aufgabe des modus significandi passivus besteht darin, eine Beziehung zwischen dem bedeuteten modus essendi und dem modus significandi activus aufzubauen. Die Möglichkeit einer Wahrnehmung solchen Beziehung resultiert daraus, daß ein identisches Objekt einerseits intellektuell erfaßt wird und andererseits bei formaler Betrachtungsweise die Eigenschaften des bedeuteten Objektes angesprochen sind, auf die sich auch der modus Das Geld, die Zeichen und der Tod 369 significandi passivus bezieht, so daß man sagen kann, daß der modus significandi passivus zu dem Objekt selbst gehört und die Beziehung zwischen seinen Eigenschaften und deren Bedeutung herstellt. Der modus significandi activus spezifiziert die Bedeutungen derjenigen Elemente, die der Intellekt im Erkenntnisprozeß erfaßt hat. Mit diesem aktiven Bedeutungsmodus ist der Abschluß des sprachlichen und erkenntnistheoretischen Entwicklungsprozesses erreicht, denn einerseits organisiert dieser Modus vox und dictio in der menschlichen Rede und nimmt andererseits dabei die Ergebnisse der beiden vorangegangenen Modi auf. Mit dem Ende des 13. Jahrhunderts liegt demnach erstmalig eine semiotisch befriedigende Zeichen- und Bedeutungstheorie vor, die ihren reifen Ausdruck in dem Tractatus de modis significandi von Thomas von Erfurt fand, den Martin Heidegger in seiner Habilitationsschrift noch mit Duns Scotus verwechselt hatte, und in dem Tractatus de signis des Joannis a Sancto Thoma dreihundert Jahre später fortgeführt wurde, der weitere zweihundertfünfzig Jahre später in der Semiotik des ausgezeichneten Kenners der mittelalterlichen Sprachlogiken Charles Sanders Peirce aufgehoben wurde. 3. Der Tod Djavid C. Borower leitet seinen Bericht über das Symposion “Der Tod als Phänomen der Weltkulturen und Religionen” mit der Bemerkung ein: “Der Tod ist aus unserem Horizont getreten. Er ist ein namenloser Unbekannter geworden, für dessen Anonymität die Worte fehlen” (Borower, 1995: 44). Worte mögen angesichts von Auschwitz, Hiroshima und Srebrennica, der Völkermorde in Kambodscha und Afrika möglicherweise dem einen oder anderen fehlen, implizieren aber die schreckliche Gefahr, daß wir mit der Anonymisierung des Todes gleich auch noch die Namen der Täter und der Opfer auslöschen. Auch wenn der Tod zu einem namenlosen Gesellen absinken mag, ändert das doch nichts an der Tatsache, daß das individuelle Sterben eine je persönliche und unvermeidliche Konsequenz unseres zeitlichen Seins ist, ob eine Gesellschaft ihre Sterbenden im Kreise der Familie begleitet, in Sterbehäuser ausquartiert oder auf namenlosen ‘killing fields’ verliert. Die Entdeckung der Grotte Chauvet offenbarte die bislang ältesten bekanntgewordenen Höhlenmalereien, die nicht nur wegen ihres Alters, sondern auch wegen ihrer gestalterischen Meisterschaft und ihrer Motivwahl verblüffen. Zahlreiche weitere Belege, über die z.B. Marija Gimbutas in verschiedenen ihrer neueren Publikationen ebenso berichtet wie Marie E.P. König in ihrer Abhandlung Die Zeichensprache des frühen Menschen legen zumindest die Vermutung nahe, daß die Menschen zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt als bislang allgemein angenommen in künstlerischer, sprachlicher und kultischer Hinsicht ein wesentlich höheres Niveau erreicht hatten. Wenn es aber zutrifft, daß Menschen, seit Menschliches sie bewegt, über sich selbst und ihr eigenes Ende nachdenken, sich mit ihren Mitmenschen darüber sprachlich, künstlerisch und in ihren Riten und Gebräuchen austauschen, müssen wir dennoch einräumen, daß es einen Zeitpunkt gegeben hat, zu dem archaisches Denken in modernes Denken umgeschlagen ist. Frantisek Graus (1987: 30f.) macht darauf aufmerksam, daß sich die Einstellung zum Tode im Mittelalter stark geändert hat, was die Annahme nahelegt, daß sich zu dem zur Diskussion stehenden Zeitpunkt ein Weltbildwandel ereignete. Die Mutmaßung wird durch ein weiteres Argument von Aaron Gurjewitsch bestärkt, der zu bedenken gibt, daß es trotz aller Ähnlichkeiten des mittelalterlichen und des heutigen Menschen einen wesentlichen Unterschied gab: Achim Eschbach 370 “Zwar lebten und schafften, kämpften und beteten, liebten und haßten, lachten und weinten diese Menschen nicht anders als Menschen anderer Zeiten, doch was sie auch taten und fühlten, niedergedrückt von Sorgen oder beflügelt von Hoffnungen - für sie spielte sich das alles unweigerlich vor dem Hintergrund des Todes ab. Der Tod war ein untrennbarer Bestandteil ihres Lebens. Die Klage ‘ubi sunt … , qui ante nos in mundo fuere? ’ (‘wo sind die, die vor uns war’n? ’), die Mahnung ‘Memento mori! ’ (‘Gedenke des Todesi’) und die Darstellungen des ‘dance macabre’ (des ‘Totentanzes’) sind nicht einfach Beispiele für eine damals weit verbreitete, ‘modische’ Richtung in Kunst und Literatur; vielmehr sind das Themen, die gleich Leitmotiven in ganz eigener Weise Religion und Philosophie, Kunst und Alltag des Mittelalters durchzogen sowie weitgehend auch Denken und Verhalten seiner Menschen prägten. Diese Menschen erfüllte eine einzige Furcht - die Furcht vor einem plötzlichen Tode, der sie unvorbereitet, ohne Geleit durch Gebet und andere gute Werke ereilen könnte; diese Menschen durchdrang die Furcht vor einem Tod, der ihnen keine Zeit mehr lassen würde zu beichten, ihre Sünden zu bereuen und Vergebung zu erlangen. Der Tod war in der Tat ihr ständiger Begleiter, ihr erster und ihr letzter Gedanke, unermüdlich warnten Prediger die Menschen immer wieder davor. Beichte und Buße bis zum letzten Stündlein vor sich herzuschieben, da doch Gott nur rechtzeitige Reue und Buße Wohlgefallen” (Gurjewitsch, 1995: 105f.). Der Zeitpunkt des Umschlags der hier in Frage stehenden Denkgewohnheit ist relativ genau bestimmbar, weil es sich um den Moment handelt, in dem bipolares, dichotomisches Denken umschlug in triadisches, vermittelndes Denken, als zwischen die alten Antinomien von Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein, Ewigkeit und Endlichkeit Zwischenstadien eingeführt wurden, die zwischen den Extremen vermitteln sollten. Was sich fast mechanisch anhört, sollte viel eher in semiotisch-erkenntnistheoretischen Kategorien bedacht und beurteilt werden. Für das endliche Denken des Menschen gibt es nichts Unerträglicheres, als sich mit dem Unvorstellbaren, Undenkbaren, Unendlichen abfinden zu müssen. Charles Sanders Peirce hat geradezu den Beweis geführt, daß es zu den vier Unvermögen des Menschen zählt, das absolut Undenkbare zu denken. Was für eine Schlußfolgerung sollen wir aus dieser Geistesakrobatik ziehen? Selbst wenn es zutrifft, daß wir unfähig sind, das absolut Undenkbare zu denken, hat das die Menschen nicht daran gehindert, mit großer Phantasie jenseitige Welten zu entwerfen und mit himmlischen Heerscharen resp. ganzen Legionen von Teufeln und Quälgeistern zu bevölkern. Die Kölner Ausstellung Himmel Hölle Fegefeuer (Jezler, 1994) beschreibt das Jenseitsbild im Mittelalter; Georges Minois (1994) stellt die Geschichte der Hölle als Geschichte einer Fiktion dar; Herbert Vorgrimler (1993) entwickelt die Geschichte der Hölle von den Unterweltvorstellungen im Alten Orient bis zu dem Höllenverständnis in der Theologie des 20. Jahrhunderts und Alfonso di Noia (1994) behandelt in seinem Buch Der Teufel Wesen, Wirkung und Geschichte des Dämonischen. All diesen Abhandlungen ist gemeinsam, daß unsere abendländische Kultur von den frühesten Anfängen bis in die Gegenwart von einem System eng miteinander verwandter Jenseitsvorstellungen in einer Weise geprägt ist, wie es von kaum einem weiteren Konzept in ähnlicher Weise behauptet werden dürfte. Dieses Ergebnis sollte insofern nicht überraschen, als die abendländische Kultur über vielfältige Traditionsstränge eine dichte Binnenvernetzung aufweist und weil wir zweitens bei dem Entwurf gewisser Jenseitsbilder, die an die Stelle des absolut Undenkbaren treten sollen, uns nur unserer menschlichen Kategorien bedienen können, so daß das Paradies ebenso wie die Hölle sehr anthropomorph und diesseitig ausgestattet werden, was konsequenterweise auch für die zu erwartenden Freuden wie die zu befürchtenden Strafen gilt, die einem im Jenseits winken, wobei natürlich vor allem die Höllenpein im Laufe der Zeit und analog zu den diesseitigen Umgangsformen mit Delinquenten deutlichen Wandlungen unterworfen war. Mit Das Geld, die Zeichen und der Tod 371 der Gestaltung gewisser, epochenspezifischer Jenseitsvorstellungen war und ist der Umgang mit dem Tod, dem absolut Undenkbaren, nicht etwa gelöst, sondern nur verlagert, da an die Stelle der einen Denkunmöglichkeit das nicht minder hermetische Konzept der Ewigkeit gerückt war, das wir in unseren endlichen menschlichen Kategorien, die nun einmal unabdingbar zeitlich gebunden sind, nicht erfassen können. Zu einer Revolutionierung der christlichen Jenseitsvorstellungen ist es in dem Moment gekommen, als die Entscheidung, ob ein Verstorbener ins Paradies oder in die Hölle kommt, auf ein fernes Jüngstes Gericht verschoben wurde und die Verstorbenen zur Tilgung ihrer Sündenschuld im Fegefeuer büßen mußten. Neuartig an diesem Fegefeuer, dessen Geburt Jacques Le Goff so faszinierend beschrieben hat, ist weder der Gedanke der Buße der Sündenschuld noch die Vertagung des endgültigen Richterspruchs auf das Jüngste Gericht, sondern die zeitliche Begrenzung des Aufenthaltes im Fegefeuer: So heftig ein Mensch in seinem Leben gefehlt haben mochte, war das Ende der Fegefeuerqualen doch in eine kalkulierbare Nähe gerückt und der geläuterte Sünder durfte sicher sein, nach Absolvierung seiner Strafe ins Paradies zu gelangen, wohin der einzige Ausgang des Fegefeuers führt. Dem Tod war deshalb der Stachel genommen, weil er nicht mehr der Beginn einer beängstigenden Ewigkeit war, sondern nur noch der Übergang in eine andere, wegen ihrer zeitlichen Verfaßtheit aber recht menschenähnliche Existenzform. Die mittelalterlichen Bußpraktiken taten das ihrige dazu, mit dem Beginn der neuen Jenseitsformen zu versöhnen: Da die katholischen Theologen in Anlehnung an das System des mittelalterlichen Blutgeldes in den sog. Poenitentialen einen exakten Katalog der Strafen aufgestellt hatten, die man für bestimmte Missetaten zu erwarten hatte, war es nur folgerichtig, wenn die verhängte Strafe auch an Stellvertreter delegierbar war; möglich und bald üblich wurde auch die finanzielle Begleichung der Buße, in der man einen Vorläufer des späteren Indulgenzenhandels sehen kann. Schließlich bestanden auch noch für die Hinterbliebenen gewisse Möglichkeiten, das Strafmaß ihrer im Fegefeuer büßenden Verstorbenen zu mindern, indem sie gute Werke taten und den Armen Almosen gaben, indem sie Messen lesen ließen, wallfahrten, fasteten und beteten; all dies konnte zur Abkürzung des Bußaufenthaltes der Verstorbenen im Fegefeuer angerechnet werden und man geht nicht fehl in der Annahme, daß diese Profanisierung und Ökonomisierung des Jenseits vor dem Hintergrund des Handels und der Geldwirtschaft zu sehen ist, die seit dem 13. Jahrhundert immer größere Bedeutung erlangten (cf. Gurjewitsch, 1980: 314). Jacques Le Goff geht noch einen Schritt weiter, wenn er den neuartigen kirchlichen Umgang mit dem früher tabuisierten Geld, die Erfindung des Fegefeuers und den Beginn des Kapitalismus in einen direkten kausalen Zusammenhang stellt; dies scheint mir zwar nicht grundsätzlich falsch zu sein, impliziert in dieser monokausalen Form jedoch gefährliche Verkürzungen, weil wesentliche Faktoren, die an dem Weltbildwandel im Mittelalter ebenfalls nachhaltig beteiligt waren, ausgeblendet werden (cf. Bieler, 1961). Diesem Mangel kann erst eine integrale kultursemiotische Betrachtungsweise Abhilfe schaffen. Auch wenn das lateinische Mittelalter ein katholisches Zeitalter war, ist der Katholizismus trotz heftiger Bemühungen nicht die einzige christliche Konfession geblieben und gerade die Erfindung des “katholischen” Fegefeuers mit seinen nachfolgenden Entgleisungen, als die ich beispielsweise den Ablaßhandel betrachte, haben nicht wenig zur Reformationsbewegung beigetragen, obwohl man sich davor hüten sollte, die kirchlichen Entgleisungen zu den Entstehungsbedingungen der Reformtheologie zu stilisieren, weil man dann äußere Anlässe mit theologischen Inhalten verwechselt. Sehr viel fruchtbarer scheint mir der Weg, den Bernard Cottret beschreitet, der sich in seinem vorzüglichen Aufsatz “Pour une sémiotique de la réforme” (Cottret, 1984) um den Achim Eschbach 372 Nachweis bemüht, daß die Reformation zu einer grundlegenden “révolution du signe” geführt habe. Um die Ausmaße dieser Zeichenrevolution zu erfassen, muß man sich nur vor Augen führen, daß zu der protestantischen Neuerung u.a. die “épuration des édifices, rejet de l’adoration des espèces, répudiation du sacrifice de la messe, adoption des langues vernaculaires” ibid., 265) gehörten, die Pierre Chaunu um folgende semiotische Maximen ergänzt: “L’Europe protestante pose la valeur sacrale du non-geste. Pour le protestant français et le puritain, refus donc du signe de croix pour le quaker, refus de saluer même le Roi. On ne retire son chapeau que devant l’Éternel. Pour les anabaptistes, refus de portes les armes. Gestes en creux, gestuaire, donc, du non-geste” (Chaunu, 1981: 291). Ohne diese zweifelsohne spannende semiotische Fährte hier in extenso zu verfolgen, möchte ich erwähnen, daß Bernard Cottret anhand zweier Textpassagen aus dem Consensus Tigurinus und der Brève résolution von Jean Calvin den Nachweis führt, daß Calvin hier die Eucharistie als “une figure qu’on dit métonymie” (Cottret, 1984: 268) bezeichnet, was ich als eine Semiotisierung der katholischen Transsubstantiationslehre betrachte. Ich werde an späterer Stelle argumentieren, daß diese Semiotisierung bemerkenswerte Parallelen zu verwandten Semiotisierungen aufweist, bei denen es um die Einführung des Vermittlungskonzeptes geht. 4. Weltbildwandel Ludwig Wittgenstein eröffnete seinen Tractatus logico-philosophicus mit dem Satz: “Die Welt ist alles, was der Fall ist”, und diesen Einleitungssatz erläutert er: “Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen)” (TLP, 2. und 2.01). Dieser gegenstandsrealistischen Position gegenüber ließe sich einwenden, daß die Menschen ihr Verhalten nicht an einer ‘objektiven’ Realität orientieren, sondern an der Meinung, dem Modell oder der Interpretation, die sie sich von den realen Gegebenheiten gebildet haben, was im übrigen von der modernen Wahrnehmungspsychologie umfassend bestätigt wird. Seitens der Sozialgeschichte wurde die komplizierte Verschränkung sozialer Strukturen und ihrem Begriff von sich selbst von Georges Duby mit seiner Feststellung anschaulich beschrieben, daß die Menschen ihr Verhalten nicht entsprechend den realen Gegebenheiten und Verhältnissen ausrichten, sondern nach dem Bild, das sie sich von diesen machen und das niemals eine getreue Widerspiegelung jener Verhältnisse darstellt. Vielmehr bemühen sich die Menschen, ihr Verhalten nach Verhaltensmustern auszurichten, die sich im Laufe der Geschichte den materiellen und realen Gegebenheiten mehr oder minder anpassen (cf. Duby, 1974: 148). Die Deutungen, die die Menschen an die Gegenstände ihrer Erfahrung herantragen, sind notwendigerweise individuelle Deutungen, die jedoch nichtsdestoweniger gesellschaftlich vermittelt sind, weshalb man von kollektiven Interpretationsmustern oder Deutungsschemata sprechen kann (cf. Geertz, 1973: 55ff.). Ein Ensemble von Interpretationsmustern oder Deutungsschemata vereinigt sich zu einem Weltbild, in dem “‘Wirklichkeit’ jeweils ‘gewußt’, angeeignet, gedeutet, reflektiert und verstanden wird und die besonderen Regeln ihrer Bauform und Funktionsweisen folgen. Die spezifische Leistung dieser imaginären Ordnungen besteht darin, daß sie die Wahrnehmung und Deutung unterschiedlicher Bereiche von Wirklichkeit vorstrukturieren, sie damit erfahrbar und verstehbar machen. Sie dienen, anders gesagt, der Orientierung im diffusen Feld der ‘Wirklichkeit’, d.h. der Wissensüberlieferung, der objektiven Gegebenheiten und materiellen Strukturen, sind aber ihrerseits Das Geld, die Zeichen und der Tod 373 ebenfalls an die historischen Möglichkeiten des Denkens gebunden” (Bachowski/ Röcke, 1995: 10). Eine sehr nützliche Umschreibung des Mentalitätsbegriffs, den ich für ein Synonym des Weltbildbegriffs halte, bietet Frantisek Graus in dem Einleitungsreferat des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Mentalitäten im Mittelalter: “Mentalität ist der gemeinsame Tonus längerfristiger Verhaltensformen und Meinungen von Individuen innerhalb von Gruppen. Sie sind nie einheitlich, oft widersprüchlich, bilden spezifische ‘verinnerlichte Muster’ (patterns). Mentalitäten äußern sich sowohl in spezifischer Ansprechbarkeit auf Impulse als auch in Reaktionsformen. Sie können nicht von Insidern formuliert, wohl aber getestet werden” (Graus, 1987: 17). Charles S. Peirce hat sich vor allem in seiner späteren Philosophie, nachdem er die Wende zum Pragmatizismus vollzogen hatte, intensiver mit der Frage nach dem Aufbau von Handlungsgewohnheiten (habits), der Festigung von Überzeugungen (beliefs) und dem Wandel von Handlungsgewohnheiten (habit change) auseinandergesetzt, um Einblick in die Regularitäten der Entwicklung und Veränderung derartiger Deutungsmuster zu erlangen. Peirce war im Zuge seiner relationslogischen Studien zu der Einsicht gelangt, daß er seine frühere Erkenntnistheorie in einem entscheidenden Punkt revidieren mußte: Hatte er in seinen frühen Schriften bei der Bestimmung der Bedeutung des Begriffs einer Sache noch in durchaus traditioneller Weise die Begriffsdefinition an die qualitative Essenz im Schema von Genus und Differenz geknüpft, bringt die Relationenlogik die Einsicht mit sich, daß die Bedeutung des Begriffs der Sache auch in den Relationen dieser Sache zu anderen Sachen bestehen kann. Die neue Peircesche Bedeutungstheorie, die Klaus Oehler (1993: 81) sehr zu Recht als ein Stück Logik der Forschung betrachtet, charakterisiert er folgendermaßen: “Durch eine Erweiterung des Begriffs des Wesens, der nun auch Gesetze umfaßt, und die Identifikation des Wesens einer Sache mit ihren Gewohnheiten (habits), gelingt Peirce der entscheidende Schritt in Richtung auf eine Theorie der Realität, die schließlich als die Theorie des Pragmatismus Gestalt annimmt” (ibid., 80) . Die erste Formulierung seiner Bedeutungstheorie legte Peirce in seinem programmatischen Aufsatz von 1878 “How to Make Our Ideas Clear” vor, in der die ursprüngliche Fassung der “Pragmatischen Maxime” erscheint: “Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bezüge haben können, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in Gedanken zukommen lassen. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstandes” (C.P., 5.402). Da die pragmatische Maxime Anlaß zu sehr unterschiedlichen Interpretationen geboten hat, von denen sich Peirce späterhin auch terminologisch absetzte, ist an dieser Stelle die Erläuterung erforderlich, daß die in der Maxime aufgestellte Behauptung, daß die Bedeutung der Begriff seiner Wirkungen sei, Bedeutung nicht auf den Begriff wahrnehmbarer Eigenschaften einschränkt, sondern das konzeptuelle Gefüge von Bedingungsverhältnissen gemeint ist, in denen Bedingungen von Wahrnehmungen und wahrgenommene Eigenschaften aufeinander bezogen werden (Oehler, 1993: 83). Dieser Bestimmungsschritt befreit den Bedeutungsbegriff aus seinem statischen Panzer und führt zu seiner Dynamisierung und Funktionalisierung. Klaus Oehler schreibt zu dieser entscheidenden Wende in dem Peirceschen Denken: “Wenn das, was die Naturgesetze fixieren, die Gewohnheiten der Dinge sind, muß unser Denken sich in eine Einstellung bringen, die es ihm möglich macht, immer mehr dieser Gewohnheiten zu erfassen und mit ihnen zum Zwecke des Überlebens angemessen umzugehen, daß heißt, sich ihnen anzupassen” (ibid.). Achim Eschbach 374 Unser Denken ist allerdings nicht nur darum bemüht, sich auf die Gewohnheiten der Dinge einzustellen, sondern in einer analogen Bewegung darauf gerichtet, Handlungsgewohnheiten auszubilden, und Klaus Oehler weist darauf hin, daß Peirce sogar behauptet, “daß die ganze Funktion des Denkens die ist, Gewohnheiten des Denkens zu erzeugen” (C.P., 5.400). Diese idiosynkratische Formulierung verliert ihre Fremdheit, wenn erklärt wird, daß Peirce unter ‘Gewohnheit’ ein Gesetz versteht, d.h. ein Bedingungsverhältnis, in dem die Prämissen und die nachfolgende Konsequenz in einer bestimmbaren Relation stehen. Diese Erläuterung des Peirceschen Gewohnheitsbegriffs ist aber nichts anderes als eine synonyme Formulierung seiner dritten Kategorie: “Category the Third is the Idea of that which is such as it is as being a Third or Medium between a Second and its First. That is to say, it is Representation äs an element of the Phenomenon” (C.P., 5.67). Die Anpassung unseres Denkens an die Gewohnheiten der Dinge und die Ausbildung von Handlungsgewohnheiten vollziehen sich also nach demselben kategorialen Prinzip der Zeicheninterpretation und Klaus Oehler betont, daß die menschliche Kreativität gerade darin bestünde, solche konditionalen Relationen nicht nur in ihrem puren Vorhandensein zu konstatieren, sondern zu erzeugen und für unser Handeln fruchtbar zu machen (Oehler, 1993: 83). Die pragmatistische Wende der Peirceschen Philosophie hat demnach dazu geführt, daß das Wesen der Dinge nicht mehr aus den qualitativen Eigenschaften abgeleitet, sondern mit deren Verhalten gleichgesetzt wird. Das Wesen eines Dinges ist die Summe seiner Gewohnheiten. Daraus ergibt sich die Forderung, daß wir die Gesetze ermitteln müssen, die das Verhalten, d.h. die Gewohnheiten der Dinge bestimmen. Charles Peirce hat sich bei der Ausarbeitung seiner Wissenschaftstheorie stark auf die doubt-belief-Theorie des schottischen Philosophen Alexander Bain gestützt, dessen Kernthese aus der Behauptung einer wesenhaften Beziehung zwischen Für-wahr-Halten (belief) und Handlung (action) besteht. Die Menschen sind nach Meinung von Bain und Peirce von Natur aus zum Glauben, zum Für-wahr-Halten disponiert, und sie sind erst dann dazu bereit, gewisse Überzeugungen in Zweifel zu ziehen, wenn sie auf so erhebliche Widerstände stoßen, daß sie ihre bisherigen Annahmen überprüfen müssen. Nicht die cartesianische Lust am Zweifeln ist der Motor der Bewegung, sondern die Behebung der entstandenen Verunsicherung bestehender Überzeugungen ist das Ziel. Es geht um die Etablierung einer neuen Überzeugung, die allerdings aufgrund der vorangegangenen Verunsicherung nur eine solche sein kann, die eine vertiefte, präzisere Kenntnis der Gewohnheiten der Dinge impliziert. Nach der Behebung des Zweifels wissen wir mehr über die Dinge, weil wir einen verbesserten Einblick in ihre gesetzmäßigen Beziehungen gewonnen haben. Diesen wesentlichen Punkt hat Peirce in seiner Abhandlung “The Fixation of Belief” mit großer Klarheit herausgearbeitet, weshalb ich den Kern der dort entwickelten These ausführlich wiedergeben möchte: “The Irritation of doubt is the only immediate motive for the struggle to attain belief. It is certainly best for us that our beliefs should be such as may truly guide our actions so as to satisfy our desires; and this reflection will make us reject every belief which does not seem to have been so formed as to insure this result. But it will only do so by creating a doubt in the place of that belief. With the doubt, therefore, the struggle begins, and with the cessation of doubt it ends. Hence, the sole object of inquiry is the settlement of opinion. We may fancy that this is not enough for us, and that we seek, not merely an opinion, but a true opinion. But put this fancy to the test, and it proves groundless; for as soon as a firm belief is reached we are entirely satisfied, whether the belief be true or false. And it is clear that nothing out of the sphere Das Geld, die Zeichen und der Tod 375 of our knowledge can be our object, for nothing which does not affect the mind can be the motive for mental effort. The most that can be maintained is, that we seek for a belief that we shall think to be true. But we think each one of our beliefs to be true, and, indeed, it is mere tautology to say so. That the settlement of opinion is the sole end of inquiry is a very important proposition. It sweeps away, at once, various vague and erroneous conceptions of proof” (C.P., 5.375). 5. Weltbildwandel im Mittelalter Zur Erläuterung und Überprüfung des bisher Gesagten, aber auch als Probe auf die analytische Verwendbarkeit möchte ich abschließend ein Fallbeispiel diskutieren. Daß ich dazu das ausgehende 13. Jahrhundert gewählt habe, mag durchaus durch Umberto Ecos Rosenroman motiviert sein, der wie kaum ein anderer mir bekannter Roman ein Lehrstück in angewandter Semiotik ist. Es besteht aber auch kein Zweifel daran, daß die in Frage stehende Epoche ein Zeitalter des Niedergangs und Umbruchs, des Zweifels und der Verzweiflung war. Ferdinand Seibt (1987) hat in seiner umfassenden Abhandlung Glanz und Elend des Mittelalters eine große und sehr nützliche Dokumentation dieses Zeitalters vorgelegt. Zu den wohl tiefgreifendsten Wandlungen kommt es in dem betreffenden Zeitraum in der Philosophie, der Mutter der Wissenschaften; van Steenberghen (1955 und 1966) sowie Kretzmann (1982) bieten einen umfassenden Überblick über das Ausmaß der Veränderungen in dieser leitenden Disziplin. Da die neue Semiotik aus der mittelalterlichen Philosophie erwachsen ist, verdienen diese Studien ganz besondere Aufmerksamkeit. Aber nicht nur in der Philosophie vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen; wir werden auch Zeugen heftiger kirchlicher und weltlicher Konflikte, wir beobachten die Kämpfe zwischen Ketzertum und Inquisition; die scholastische Orthodoxie begegnet dem ersten zaghaften Beginn der Naturwissenschaften, oder kurz gesagt: Das stabile, statische Weltbild des Mittelalters, dessen Sinnbild die Kathedrale war, erfährt eine grundlegende Erschütterung. Aaron Gurjewitsch schreibt dazu: “Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins. Die Idee der Entwicklung ist ihm (…) fremd. Die Welt verändert und entwickelt sich nicht. Die von Anbeginn vollendete Schöpfung Gottes verweilt in einem Zustand unveränderlichen Seins. Sie stellt eine stufenförmige Hierarchie, aber keinen dynamischen Prozeß dar” (Gurjewitsch, 1980: 204). Wenn die Statik des mittelalterlichen Weltbildes im 13. Jahrhundert ins Wanken geriet, so war davon in erster Linie der strenge Dualismus der mittelalterlichen Vorstellungen betroffen, der das Universum in polare Gegensatzpaare gliederte, die sich auf einer vertikalen Achse gegenüberstanden. Gott steht dem Teufel gegenüber, die Höhe, die Reinheit, der Edelmut der Tiefe, der Unreinheit, dem Bösen, der Geist der Materie, der Körper der Seele usw. Die Veränderung des mittelalterlichen Weltbildes muß sich in einer nachvollziehbaren Weise in den zentralen, weltbildkonstituierenden Kategorien niederschlagen, wenn sich die These von dramatischen Weltbildwandlungen nicht als Fiktion erweisen soll. Aaron Gurjewitsch hat in seiner profunden Studien über Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen den Nachweis geführt, daß nicht nur ein zentrales mittelalterliches Konzept ins Wanken geriet, sondern gleich mehrere: das Recht, die Arbeit, die Persönlichkeit, der Raum und die Zeit. Weil diese Konzepte nicht unvermittelt und äquivalent nebeneinander stehen, sondern sich in einem Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten befinden, erscheint es im vorliegenden Zusammenhang angebracht, dasjenige von ihnen herauszugreifen, das bei einer Neubestimmung weitestreichende Konsequenzen für das gesamte System mit sich Achim Eschbach 376 brächte. Diese zentrale Kategorie ist die Zeit, in der sich das christliche Paradoxon, die Antinomie von jenseitiger Ewigkeit und menschlicher Endlichkeit widerspiegelt. Der mittelalterliche Mensch hatte keine Macht über die Zeit, weil sie nicht ihm, sondern Gott gehörte; man könnte mit Jacques Le Goff geradezu davon sprechen, daß es keine einheitliche Vorstellung von der Zeit gab, sondern vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Zeiten: “Die Kirche und die christliche Ideologie überwand die Zersplitterung in unzählige Zeitmaße bei den lokalen und Familiengruppen und oktroyierte ihnen ihre Zeitauffassung, indem sie die irdische Zeit der himmlischen ‘Ewigkeit’ unterordnete” (Gurjewitsch, 1980: 171). Zur selben Zeit, nämlich gegen Ende des 13. Jahrhunderts, wurden die mechanischen Uhren erfunden und schon kurze Zeit später trugen viele Rathaustürme Europas diese neuen Uhren. Damit entglitt die Kontrolle der Zeit den Händen des Klerus und ging in die Hände der weltlichen Öffentlichkeit über, die damit zur Herrin über die Zeit mit ihrem besonderen Rhythmus wurde (cf. ibid., 175). Die technische Innovationsleistung bei der Erfindung der mechanischen Uhr ist allerdings nicht die Ursache für die Änderung der Kategorie der Zeit, sondern bestenfalls ein Indiz dafür, daß sich große Änderungen ereignet haben. In dieselbe Epoche fällt auch die Erfindung des Fegefeuers, dessen Geburt Jacques Le Goff exakt auf das Jahr 1274 datiert. Aber auch das Fegefeuer ist nicht der Grund für die Wandlung der Zeitkategorie, sondern viel eher eine Folge aus sich ändernden Zeitvorstellungen. Um in dieser Frage voranzukommen, müssen wir nach den tatsächlichen Ursachen forschen, die eine altbewährte Überzeugung derartig erschüttern konnte, daß es zu einem Weltbildwandel führte. Materialisten und andere Stoffdenker würden hier zu Recht auf die beträchtlichen materiellen, technologischen und soziokulturellen Veränderungen hinweisen, die sich in der in Frage stehenden Epoche in dramatischer Abfolge vollzogen haben, ohne damit aber je beantworten zu können, warum gerade zu diesem Zeitpunkt diese speziellen Neuerungen auftauchten. Will man nicht alles dem blinden Zufall überlassen und möchte man sich gleichfalls nicht einem nicht minder irrationalen Weltgeist ausliefern, bleibt als Alternative nur die Möglichkeit offen, dasjenige Prinzip zu benennen, das dazu in der Lage war, eine große, altehrwürdige Gewohnheit in Zweifel zu ziehen und auf den neubestimmten Fundamenten eine neue Ordnung, d.h. eine aktuell plausiblere Gewohnheit zu errichten. Ich möchte die These aufstellen, daß der von den modistischen Semiotikern formulierte Begriff der Vermittlung zu dem harmlosen Instrument wurde, das dazu in der Lage war, in letzter Konsequenz einen Weltbildwandel herbeizuführen. Das Vermittlungskonzept war insofern revolutionär, als es eine grundstürzende Unruhe in eine bisher festgefügte und unverrückbare Welt von Oppositionen brachte. Diese Unruhe rührte daher, daß plötzlich der Gedanke gefaßt werden konnte, wie es denn zu der bisherigen Ordnung kommen konnte und wie eine andere Ordnung, die bislang nicht für möglich gehalten wurde, denkbarerweise aussehen konnte. Das Vermittlungskonzept ist darüberhinaus ein zutiefst personales Konzept, ja, es setzt allererst die Entfaltung einer individuellen Persönlichkeit in Gang mit der Frage, wer es denn sei, der eine geistige oder körperliche Aktion mit dem Interesse ausführt, bestimmte Ziele zu erreichen. Das Vermittlungskonzept richtet sich demnach gegen eine Vorstellung, der zu Folge ein großes und ungegliedertes Weltganzes da ist, ohne daß eine Möglichkeit bestünde, eine Segmentierung oder Elementarisierung einzelner Akteure vorzunehmen. Das Vermittlungskonzept impliziert die Möglichkeit, Beziehungen zu durchschauen und kreativ neu zu gestalten, wo vorher nur der Vollzug festgeschriebener Funktio- Das Geld, die Zeichen und der Tod 377 nen möglich war. Über den Gedanken von der Einheit der mittelalterlichen Kategorien hatte Aaron Gurjewitsch gesagt: “Die Zeit wird in räumlichen Kategorien erkannt, der Raum aber wird gemessen durch die Zeit, die für die Überwindung einer Entfernung aufgewandt wurde (darin liegt nichts spezifisch Mittelalterliches). Doch die Zeit erweist sich auch als eine wesentliche Charakteristik des Rechts: Wahr ist jenes Recht, das auf die alte Zeit zurückgeht, das ‘seit alters her’ besteht. Das hohe Alter ist eine ebensolche organische Eigenschaft des Rechts wie die Gerechtigkeit und Güte. Auf das Zeitverständnis führt uns auch die Analyse der Lehre von der Sündhaftigkeit des Wuchers zurück: Die Zeit ist Gottes Schöpfung und Allgemeingut; und deshalb darf man mit ihr nicht spekulieren” (Gurjewitsch, 1980: 328). Entziehe ich der Kategorie der Zeit jedoch ihre Aura der Beziehungslosigkeit und Absolutheit und beziehe ich die Zeit auf das handelnde Individuum, dessen Lebens- und Arbeitszeit dann einen meßbaren Wert erhält, der auch ein Geldäquivalent besitzt, dann beginnt sich hinter der umstürzlerischen Wirkung des Vermittlungskonzeptes die neue Gewohnheit abzuzeichnen, in deren Zentrum als neue Herrscherin über die Zeit die Persönlichkeit steht, die die zukünftige Ordnung der Welt nach ihren Vorstellungen gestaltet. Daß diese neue Zeit sich bei der Geburt des Fegefeuers nur in ersten Schemen zeigte, brauchte kaum eigens betont zu werden, wenn nicht noch einmal verdeutlicht werden sollte, daß dieser eigenartige neue Ort erstmalig die Vermittlung, Vermenschlichung und damit Manipulierbarkeit von bislang Unvermitteltem bewerkstelligte. Wenn das Fegefeuer heute selbst bei den Katholiken viel an Attraktivität eingebüßt hat und theologisch keine bedeutende Funktion mehr besitzt und wenn man den Tod in unserer postmodernen Epoche in neuen Kategorien zu betrachten beginnt, so widerlegt dies nicht das zuvor Gesagte, sondern deutet vielmehr darauf hin, daß sich nach ca. siebenhundert Jahren ein weiterer Weltbildsturz ereignet hat. Literatur Bachorski, Hans-Jürgen und Röcke, Werner (eds.): Weltbildwandel. Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1995. Bieler, André: “Calvin, das Geld und der Kapitalismus”. 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Schneemann Universität Bern Institut für Kunstgeschichte Hodlerstr. 8 CH-3011 Bern peter.schneemann@ikg.unibe.ch Prof. Dr. Anna Wessely Eötvös-Lorand-Tudományegyetem Szociológia Intézet Pollack M. tér 10 1088 Budapest Ungarn wessely@ludens.elte.hu
