eJournals

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
263-4
KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 26 (2003) No. 3-4 Special Issue / Themenheft Tanz-Zeichen. Vom Gedächtnis der Bewegung Herausgegeben von Ernest W.B. Hess-Lüttich Ernest W.B. Hess-Lüttich Einleitung: Tanz-Zeichen. Vom Gedächtnis der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Gerold Ungeheuer ( ) Der Tanzmeister bei den Philosophen Miszellen aus der Semiotik des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Nicola Kaminski 'Er tanzte nur einen Winter' Versfußbewegung vor/ nach der Schlacht am Weißen Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Mathias Spohr Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets (1760) aus mediengeschichtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Mathias Spohr Social Compatibility in a Two Gender Society: The Waltz as a Technical Medium . . 217 Gustav Frank Assoziationen/ Dissoziationen Von den “stummen Künsten” (Hofmannsthal) zum “sichtbaren Menschen” (Balázs): eine Triangulation des ‘Neuen Tanzes’ durch Literatur und Film . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Gregor Gumpert “In dancing she was dancing.” Freier Tanz und Literatur im Zeichen der Einfachheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Hans Krah Tanz-Einstellungen Ein Blick auf die Geschichte des Tanzes im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Contents 154 Kai Kirchmann Lauter schlechte Kopien … Formen und Funktionen des Tanzes in den Filmen Federico Fellinis . . . . . . . . . . . . . 273 Ernest W.B. Hess-Lüttich The language of music, gaze, and dance Benjamin Britten's opera Death in Venice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Ernest W.B. Hess-Lüttich Totentänze - John Neumeiers Ballett Tod in Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Christina Thurner In die Luft geschrieben Beobachtungen zur Semiose im zeitgenössischen Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Dagmar Schmauks Tanz, Geschlecht, Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Claudia Rosiny Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform Bedeutungsebenen in Monoloog von Anne Terese de Keersmaeker . . . . . . . . . . . . . . 331 Addresses of authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 90,- (special price for private persons 58,-) plus postage. Single copy (double issue) 48,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2004 Gunter Narr Verlag Tübingen P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: Nagelsatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0171-0834 Einleitung Tanz-Zeichen Vom Gedächtnis der Bewegung Ernest W. B. Hess-Lüttich I Im Sema dreht der Derwisch sich seit alters. Im Ritual liegt der Ursprung des Tanzes wie der Religion. Man zeigt dem Gotte (den Göttern) an, sich lösen zu wollen von irdischer Haftung und Begrenzung in der Hinwendung zum Höheren, Anderen, Ersehnten oder Unverstandenen. Manche Götter tanzen mit: Shiva und Vishnu sind hinduistische Urbilder des Tanzes. Krishna und Gopi vereint im ‘ewigen Tanz’. Baal Markod ist der phönizische ‘Herr des Tanzes’. Im Schlangentanz erflehen die Hopi Regen vom indianischen Himmel. Die Priester der westafrikanischen Yoruba suchen ihre Gottheit im eigenen Körper in der Trance des Tanzes. Im ekstatischen Tanz vereinen sich Tänzer und Gott. Der Maskentanz erweckt den Geist zum Leben und preist die tierische Gottheit. Der Attiskult im antiken Griechenland, der Artemiskult und der Dionysoskult vor allen, finden im Tanz ihren mythischen Ausdruck. In indischen Tempeln tanzen die Bajaderen. Altägypten pflegt den Kult des Tanzes ebenso wie Mesopotamien. Der sakrale Tanz ist im Judentum so fest verankert wie im Frühchristentum. König David selbst tanzt, berichtet das Alte Testament (2. Sam. 18, 6), hochgestimmt beim Einholen der Bundeslade. Tanz als Ausdruck religiöser Inspiration, als Zeichen magischer Initiation, als apotropäische Kraft, den Dämon zu bannen. Tanz um Buddhas Grab und den Toten zu Ehren. Totentänze in China, Indien und Ägypten, im Europa des Mittelalters. Grabtänze, Freudentänze, Kriegstänze, Jagdtänze, Hochzeits- und Fruchtbarkeitstänze. Tanz im geselligen Kreis und als Veitstanz des Besessenen. Tanz als höfische Kunst mit streng gezirkeltem Regelwerk, als Akademiefach französischer Aristokraten und als robuste Lustbarkeit des fränkischen Volkes im Sonntagsreigen. Der gestische Glanz des javanischen Tanzes und das Rätselwerk des japanischen Kabuki. Tanz ist, so scheint es, über die Zeiten und Welten hinweg, eine kulturanthroplogische Konstante menschlicher Existenz. Selbst die christliche Kirche vermochte den Tanz nicht zu töten. Sie ächtete ihn als heidnische Verirrung, verbannte ihn aus Liturgie und Gemeinde - geholfen hat’s nichts, der Mensch will tanzen dürfen. Das Tanzverbot der Taliban reiht sich ein die Geschichte der vergeblichen Versuche, den Menschen seines Tanzes zu berauben. Der Versuch muß scheitern, denn er ist, scheint’s, wider die Natur. Natur? Tanz als Kulturleistung der Völker hat eine faszinierende Geschichte. Sie aufzuschreiben und nachzuzeichnen, sie zu ergründen und zu erklären ist Aufgabe der Tanz- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 156 wissenschaft. Eine junge Disziplin, merkwürdigerweise, denn ihr Gegenstand ist so alt wie die Menschheit. Im deutschsprachigen Gebiet ist sie - im Unterschied zum angelsächsischen und frankophonen Raum - an den Universitäten noch klein und exklusiv, hier und da ein neuer Lehrstuhl, in Berlin flugs mit dem Leibniz-Preis gekrönt, in Dresden und Köln, in Hamburg und Leipzig, Wien und Salzburg, selbst in Bern neue Studiengänge im Aufbau, fast überall als erstmalig und einzigartig annonciert. Die Experten wirken in unterschiedlichem Umfeld. Meist sind sie der Musikwissenschaft zugeordnet, aber auch der Theater-, Kultur- oder Sportwissenschaft. Ihr Aufgabenfeld ist weit gesteckt. Sie entdecken den Tanz, soweit er von Gruppen getragen wird und überdauernde Merkmale aufweist, als kulturelles Phänomen in jeder seiner Erscheinungsformen. Sie fragen nach seinen Wurzeln, seiner Entwicklung, seiner Vielfalt in Kultur und Geschichte, seinen Formen und Funktionen. Umso erstaunlicher erscheint bislang die Zurückhaltung, Tanz als Text empirisch zu erforschen; als System von Zeichen und Regeln und damit als Gegenstand semiotischer Analyse wurde er noch kaum entdeckt. Zwar haben schon Algirdas Julien Greimas und Joseph Courtés Tanz als “gestischen Text” definiert wie auch Pantomime, Ballett, Zeremonie. Aber meist beschränkte sich die semiotische Neugier auf den Teilaspekt der Gesten (z.B. die Handgesten im klassischen indischen Tanz, die Ikegami schon 1971 beschrieben hat), ganz selten auf das Ballett (Ausnahme: Shapiro 1981). Selbst die modernen Handbücher der Semiotik (wie die von Bouissac 1998 oder Nöth 2000) verzeichnen keinen gesonderten Eintrag dazu. Im neuesten und umfassendsten aller semiotischen Standardwerke, dem vierbändigen Handbuch zur Semiotik in der gewichtigen Reihe der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft des Verlages de Gruyter (Posner et al. eds. 1998 -2004) kommt der Tanz nur ganz versteckt zur Sprache, im Zusammenhang mit Tanz-Kulten (wie den Speer-, Reis-, Weber-, Schirmtänzen auf Bali) im südostasiatischen (besonders indonesischen, philippinischen) Raum (Huber 1998: 1917ff.). Dabei gab es schon früh das kunst- und zeichentheoretische Bemühen um den Tanz, dessen flüchtige Bewegung es in Zeichen und Regeln festzuhalten galt, um ihn studieren und vermitteln zu können. Seit sich im Europa des späten 13. Jahrhunderts eine ständische Tanzkultur entfaltete, gab es alsbald differenzierte Aufzeichnungen und gattungstypologische Überlegungen dazu. Die frühen Tanzdrucke und Lautenbücher im 14. Jahrhundert belegen eine paarweise Verknüpfung von gerad- und ungeradtaktigem Tanz, die sich im höfischen Gesellschaftstanz des 15. und 16. Jahrhunderts zum geordneten Wechsel von Schreit- und Springtanz ausdifferenziert, aus dem sich dann die Suite entwickelt (cf. Kaminski, in diesem Band). Vor allem in Italien und Frankreich legen Tanztheoretiker wie Domenico da Piacenza und Guglielmo Ebreo, später Caroso, Negri und Arbeau den Grundstein für eine akademische Reflexion der Tanz-Kunst. Nach ihrer Heirat mit Heinrich II. bringt Katharina von Medici 1533 ihre Tanz-Experten aus Italien mit, Baldassare di Belgiojoso wird Tanzmeister und choreographiert 1581 das berühmte “Ballet comique de la reine”, das den Tanz endgültig zum Zeichen höfischer Pracht und Macht erhebt. 1661 gründet Ludwig XIV. die Académie royale de danse, und das nun professionell geschulte Ballet de cour wird zum Vorbild für die detailgenaue Planung von Festen an europäischen Fürstenhöfen. Der Tanzmeister des Königs, Pierre Beauchamps, codifiziert die fünf Positionen der Füße, die das klassische Ballett bis heute bestimmen. In seinem 1700 publizierten Hauptwerk Choréographie ou L’Art d’écrire la danse faßt Raoul Auger Feuillet die Bemühungen um die Entwicklung einer verbindlichen Tanzschrift seit Beauchamps zusammen und gibt darin mittels Zeichen den zurückgelegten Weg der Tänzer wieder mitsamt ihren entsprechenden Arm- und Fußbewegungen. Tanz-Zeichen 157 Mit dieser berühmten Tanzschrift setzen sich für die Semiotik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts bedeutsame Philosophen wie Wolff, Lambert und Condillac auseinander in der Entwicklung ihrer zeichentheoretischen Überlegungen. Gerold Ungeheuer hat diese wichtige Diskussion sorgfältig nachgezeichnet in seiner Pionier-Studie “Der Tanzmeister bei den Philosophen”, die in dieser Zeitschrift erstmals 1980 erschien (K ODIKAS / C ODE . An International Journal of Semiotics 2.4: 353 -376) und die wir hier zum Auftakt eines Themenheftes über aktuelle Ansätze tanz-theoretischer Reflexion und tanz-semiotischer Analyse und zum Gedenken an den kurz nach Erscheinen des Aufsatzes verstorbenen Autor noch einmal abdrucken. Heute hat sich die Choreologie zu einer eigenen Disziplin, Kunstfertigkeit und beruflichen Aufgabe entwickelt, um Bewegung semiotisch zu fixieren. Seit der österreichische Choreograph Rudolf Laban 1929 eine komplizierte Tanzschrift entwickelte, die als Kinetographie z.T. noch heute in Gebrauch ist (und übrigens auch im medizinischen Bereich verwandt wird) und in der Semiotik des Tanzes auch unter der Bezeichnung Labonotation beschrieben wird (cf. Calbris 1990), haben die Bemühungen um die Codierung der Bewegung enorme Fortschritte gemacht. Rudolf Benesh setzte 1955 mit seiner Benesh Movement Notation den Standard. Das Zeichensystem ist flexibel genug, mit der Ballett-Entwicklung Schritt zu halten. An dem der Londoner Royal Academy of Dance angeschlossenen Institute of Choreology kann man sich darin professionell ausbilden lassen. Die Benesh-Notation mit ihren fünf Linien ist der Musik-Partitur vergleichbar. Des Tänzers Körper wird darin in fünf Regionen unterteilt mit der Taille auf der Mittellinie, immer von der Bühnenrückwand aus gesehen. Der Code enthält Zeichen für Hand- und Fußpositionen, Linien für die Bewegungen, die Ausgangspunkt und Ziel der Positionen anzeigen, und eine die Bewegung segmentierende Takteinteilung, die der Musik-Partitur korrespondiert. Auf diese Weise lassen sich Parallelbewegungen einer beliebigen Zahl von Tänzern in einer einzigen Notation abbilden. Nur die Veränderungen von Positionen werden registriert. Das macht die Benesh-Notation bei den heutigen ‘Tanzmeistern’ so beliebt, weil sie - im Zusammenspiel mit Video-Aufzeichnungen einer Choreographie - die zugrundeliegende Idee einer jeden eigenständigen Tanzfigur fixiert und damit vermittelbar, diskutierbar, re- Ernest W.B. Hess-Lüttich 158 konstruierbar macht. “Die Benesh-Notation ist sehr präzise, quasi mathematisch akkurat und besitzt eine wichtige Kontrollfunktion”, sagt der Argentinier Eduardo Bertini, einer der vier Ballettmeister beim Hamburg Ballett, dessen neueste Choreographie Tod in Venedig 2004 (s. Hess-Lüttich, in diesem Band) ebenfalls in einer solchen Notation choreologisch aufgezeichnet wurde - als “Gedächtnis der Bewegung” … 1 II Der bahnbrechende Erfolg seiner ‘Versgesetzgebung’ erhob das 1624 erschienene Buch von der Deutschen Poeterey von Martin Opitz in den Rang eines Gründungsdokuments. Damit konnte der ältere Rivale Georg Rodolf Weckherlin die Hoffnung auf die Anerkennung als der “erste vnserer besseren Poesy erfinder” begraben. Aber warum macht plötzlich, im Jahre 1624, das neue Paradigma alternierend-akzentuierender Verse Schule? Warum kann sich dagegen der europäisch (besonders an der Romania) orientierte poetische Aufbruch im Zeichen frei betonender silbenzählender Verse in Deutschland nicht dauerhaft durchsetzen? Solchen Fragen unter anderen stellt sich N ICOLA K AMINSKI (Tübingen) in ihrem Beitrag über die Versfußbewegung vor und nach der Schlacht am Weißen Berg unter dem Obertitel “Er tanzte nur einen Winter”. Ihr Interesse gilt dabei auch dem im selben Jahr kurz vorher erschienenen und von Julius Wilhelm Zincgref redigierten Werk Teutsche Poemata. Es ist entstehungsgeschichtlich verankert im politischen und ästhetischen Kontext der Heidelberger Bewegung um Friedrich V. bis unmittelbar vor der entscheidenden Niederlage der pfälzisch-böhmischen Reichsutopie in der Schlacht am Weißen Berg. In dieser von Opitz gleich nach ihrem Erscheinen aufs schärfste verdammten Ausgabe findet sich eine Ode “An den Cupidinem”, die in leicht überarbeiteter Gestalt auch in die im Folgejahr veröffentlichten, autorisierten Deutschen Poemata aufgenommen wird und den Leser janusköpfig einem seltsamen metrischen Vexiereffekt aussetzt: aus der geläufigen Retrospektive vom Buch von der Deutschen Poeterey aus scheint der Text selbstverständlich alternierend-akzentuierend zu lesen; folgt man hingegen dem Zusatz der Erstfassung “Auff die Courante: Si c’est pour mon pucelage”, so bewegt sich derselbe Text in ganz anderen, dem Modell eines im 3 / 2 -Takt notierten schnellen Springtanzes verpflichteten daktylischen Bahnen - eine Lektüre, die unter den für die Teutschen Poemata noch geltenden Bedingungen eines in romanischer Manier bloß silbenzählenden Verses ohne weiteres möglich ist. Ausgehend von diesem den metrischen Umbruch archivierenden Vexiergedicht, entziffert K AMINSKI in einer den ästhetischen und politisch-militärischen Diskurs engführenden Lektüre die diskursiven Regeln der Abfolge zweier konkurrierender poetologischer Paradigmen und die je unterschiedliche Codierung der Versfußbewegung: einerseits Weckherlins 1616 in der Festbeschreibung Triumf entworfene und den tanzenden Fürsten in einem ‘internationalen’ Ballett förmlich auf den Leib geschriebene poetics of alliance, andererseits Opitz’ Formierung der deutschen Wörter zu einer in alternierendem Gleichschritt marschierenden, uniformen ‘Besatzungstruppe’, die im Zeichen des gegenwärtigen Krieges die realpolitische Heteronomie- und Verwüstungserfahrung in der germanisch-akzentuierenden ‘Besetzung’ ausländischer poetischer Felder ästhetisch umkehrt. Die diskursive Zäsur aber, an der metrikgeschichtlich der martialisch codierte Marsch die höfische Courante ablöst, markiert das in der Schlacht am Weißen Berg sich manifestierende Scheitern der pfälzischen politics of alliance: nicht zuletzt symbolische Vernichtung der an den neuen König von Tanz-Zeichen 159 Böhmen geknüpften politischen Hoffnungen, der daraus seinerseits als Symbol vergangener Zukunft hervorgeht, eben als bloßer ‘Winterkönig’. Weniger aus historisch-philologischer als aus mediengeschichtlicher Perspektive behandelt demgegenüber M ATHIAS S POHR (Zürich) Jean Georges Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets von 1760. Für ihn ist der Unterschied zwischen Theoretiker und Praktiker ein gesellschaftlicher: ein Herr beobachtet kommentierend seinen Diener. In der Hinwendung zur Praxis, wie sie seit dem 18. Jahrhundert zelebriert wird, sieht er dabei das durchaus Zwiespältige einer Hochschätzung, die sich gleichwohl vom hoch Geschätzten unterscheiden will - wie sich auch heute der Mensch von seinen Texten, Bildern und Maschinen zu unterscheiden glaube. Dieser Gestus sei charakteristisch für Noverres Lettres sur la danse et sur les ballets. Anhand dieser Schrift will Spohr drei Paradoxien beobachten, die für das 19. Jahrhundert mit seiner Aufwertung einer konsensunabhängigen Kausalität bestimmend werden: (i) Aufzeichnungen werden zugleich verdrängt und vorausgesetzt, indem man nur das Lesen gelten lässt; (ii) durch weitere Teilung, so will man glauben, könne ein Isoliertes zu einem Zusammenhängenden werden; (iii) Bewirken und Bitten seien synonym. In einem zweiten (englischen) Beitrag untersucht M ATHIAS S POHR den Walzer als “technisches Medium”. In dem Tanz mit seiner ungeheuren Popularität seit dem Ende des 18.Jahrhunderts sieht Spohr ein Zeichen für die Ablösung Europas von der Ständegesellschaft, in der noch die ursprüngliche Verschiedenheit der Menschen und nicht ihre ursprüngliche Gleichheit propagiert wurde. Er sei ein Symbol für all jene ‘neuen’ Gemeinsamkeiten, die auf Gleichstellung der Teilnehmer beruhten, wie das biologische Geschlecht, die nationale Zugehörigkeit oder Sportarten und Spielregeln. In diesem Sinne sei er ein ‘technisches Medium’. Weil der Walzer austauschbar mache, werde bei ihm, wie bei allen ‘Identitäten’, im Gegenzug das Verbindende betont - nicht weil er über das Physische hinaus verbinde, sondern als rhetorische Strategie, um die Austauschbarkeit der Partner zu rechtfertigen. Die Aufdeckung dieser Strategie entzaubere die ‘Identitäten’. Den Schritt zum ‘Neuen Tanz’ unternimmt G USTAV F RANK (Nottingham) unter dem Titel “Assoziationen/ Dissoziationen” in seinen Beobachtungen “Zur Triangulation des Tanzes durch die ‘stummen Künste’ (Hofmannsthal) und den ‘sichtbaren Menschen’ (Balázs)”. Die aus der Analyse vor allem von Hofmannsthals einschlägig berühmten Mitterwurzer-Essay abgeleiteten Überlegungen zu der ihnen innewohnenden Semiotik und Poetik des Tanzes seit den 1890er Jahren verfolgt er in medienübergreifender Perspektive weiter im Blick auf kontemporäre Entwicklungen im zeitgenössischen Film und dessen Theorie unter dem Aspekt des Interesses an einer “Semiotik des Schweigens” (cf. Hess-Lüttich 1978). Am Beispiel eines Textes von Gertrude Stein, Orta or one dancing, geht G REGOR G UMPERT (Berlin/ Bayreuth) in seinem Beitrag “‘In dancing she was dancing’. Freier Tanz und Literatur im Zeichen der Einfachheit” der Frage nach: Kann Literatur zum Tanz hin konvergieren, und wenn ja: Was sind die Kennzeichen des Konvergenzprozesses? Dabei zeigt sich, daß in der Tat eine Anverwandlung von Verfahrensweisen der einen Kunst durch die andere möglich ist und daß diese sich in der Reduktion des Sprach- und Bewegungsmaterials vollzieht. Dabei verfolgen beide Künste, im Sinne eines Diktums Adornos, “ihr immanentes Prinzip”; eben darin aber konvergieren sie. H ANS K RAH (Passau) richtet in seinen “Tanz-Einstellungen” seinen “Blick auf die Geschichte des Tanzes im Film” und bereitet damit umfassend den Boden für die Einzelstudien zu den “Formen und Funktionen des Tanzes in den Filmen Federico Fellinis”, die K AI K IRCHMANN (Erlangen) unter dem Titel “Lauter schlechte Kopien …” beisteuert. Ernest W.B. Hess-Lüttich 160 Nach seinen Studien zu Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig und Luchino Viscontis Film Morte a Venezia (in Hess-Lüttich 2000) widmet sich E RNEST W.B. H ESS - L ÜTTICH (Bern) in zwei getrennten, aber eng aufeinander bezogenen Aufsätzen noch einmal demselben Stoff in zwei weiteren medialen Varianten: Oper und Ballett. In seinem englischen Beitrag über Benjamin Brittens Oper Death in Venice widmet er besonderes Augenmerk dem Verhältnis von Musik und Tanz zum Ausdruck des Verhältnisses der Protagonisten Aschenbach und Tadzio. Bezogen auf die Novelle ist dieses Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Epheben in zahllosen Studien herausgearbeitet worden. Für die gelungene Rezeption des Stoffes in anderen Medien spielt es jedoch ebenfalls eine zentrale Rolle und kann zugleich als Beispiel dienen für die Analyse des Verhältnisses von Literatur und anderen Medien wie in diesem Falle Film, Oper und Ballett. Dabei gilt freilich das Interesse weniger inhaltlich dem Thema der Ephebophilie als vielmehr dem seiner je medienspezifischen Behandlung, auch unter dem Aspekt der Fortentwicklung des begrifflich-methodischen Instrumentariums zur Analyse von in verschiedenen Medien (oder multimedial) codierten Texten. Dabei wird zum einen geprüft, inwieweit die Semiotik als methodisches Scharnier gelten (oder fruchtbar gemacht werden) kann, um das sich verschiedene Ansätze zur Analyse von intermedialen Transferprozessen drehen könnten. Zum anderen wird den medienspezifischen Veränderungen genaueres Augenmerk gewidmet, denen Texte beim Übergang von einem Medium ins andere unterliegen. Die sich dabei ergebenden Problemstellungen werden im Hinblick auf vier Aspekte genauer profiliert: die Sprache der Musik (syntaktische Bedeutung), die Sprache des Blicks (Mann und Knabe), die Sprache des Tanzes (Apoll und Dionysos), die Sprache des Übergangs (intermediale Übersetzung). Im Zentrum steht dabei der Tanz als wortlose Kommunikation und Zeichen metaphysischer Allusion. Während der Vorbereitungen zu diesem Heft entstand gleichzeitig in Hamburg eine neue Adaptation des Stoffes: John Neumeiers Choreographie Tod in Venedig. Deshalb erschien es reizvoll, die Analyse dieses Balletts vor dem Hintergrund seiner kritischen Aufnahme in den Feuilletons der deutschen Presse hier noch mit einzubeziehen. E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH resumiert zunächst die wichtigsten öffentlichen Bewertungen der Premiere, die überwiegend negativ ausfielen, und konfrontiert deren Begründungen mit einer nach Szenen gegliederten Aufführungsanalyse unter dem intermedialen Aspekt der intertextuellen Bezugskette. Dadurch gelangt er zu ganz anderen Schlüssen als die professionellen Kritiker im Kultur- Journalismus. Geht man von der Definition aus, Semiose sei ein dynamischer Prozess, dann ist diesem Prozess stets schon Bewegung eingeschrieben. C HRISTINA T HURNER (Basel) betrachtet sie jedoch in ihrem Beitrag über “Bewegte Semiose im zeitgenössischen Tanz” unter dem Obertitel “In die Luft geschrieben” unter einem doppelten Aspekt. Einerseits meint sie (beim Tanz) konkrete Bewegung eines oder mehrerer Körper auf der Bühne. Andererseits beruft sich die Autorin aber auch auf die Bewegung des zeichenhaften Verweisens. Diese beiden Bewegungen fallen nämlich in einigen neueren, sogenannten zeitgenössischen Tanzstücken in signifikanter Weise zusammen. In diesen Stücken reflektiert der Tanz auf der Bühne seine eigene physische und imaginäre Zeichenproduktion. Thurner diskutiert Beispiele solcher Reflexionen, insbesondere die Performance Soft Wear von Meg Stuart aus dem Jahre 2000 sowie die Stücke Braindance (1999) und The Moebius Strip (2001) von Gilles Jobin. Sowohl anhand der semantisch vervielfältigten Körper in Stuarts Soft Wear als auch am Beispiel der ostentativen Körperversuche in Jobins Braindance und der physisch medialen Endlosverweise in The Moebius Strip wird dargelegt, wie differenziert und vielgestaltig der Tanz als nonverbale, flüchtige Kunstform den Prozess seiner eigenen Semiose reflektiert und Tanz-Zeichen 161 präsentiert. Mittels seiner charakteristischen Merkmale und Möglichkeiten bringt er Paradigmen hervor, die im Fokus der Theorie stehen. Der zeitgenössische Tanz emanzipiert sich dadurch von dem Klischee der poetischen, überkulturell verständlichen, weil nur gefühlsmässig zu erfassenden Körperkunst und profiliert sich als eine künstlerische Ausdrucksform, die bisweilen sogar metazeichenhafte Züge annimmt. Ausgangspunkt des Beitrags von D AGMAR S CHMAUKS (Berlin) über “Tanz, Geschlecht, Identität” ist eine kleine Tanzszene, in der eine Frau eine Spieldosen-Ballerina imitiert. Aus semiotischer Sicht bestehen solche ‘Verwandlungen’ darin, dass der Sender die Aufmachungs- und Verhaltenskodes des ‘Zielobjekts’ übernimmt. In ähnlichen Fällen spielt ein Schauspieler eine andere Person, die auch das jeweils andere Geschlecht haben kann. Aus Sicht des Betrachters sind solche Aufführungen nur dann glaubwürdig, wenn außer den statischen Zeichensystemen (Kleidung, Make-Up, Haartracht usw.) auch die dynamischen (Stimme, Mimik, Gestik usw.) in gleichgerichteter Weise manipuliert werden. Im Zentrum der Analyse stehen die Unterschiede zwischen Akteur und Rolle, zwischen dem Lebendigen und dem Unbelebten sowie zwischen den Geschlechtern. In allen skizzierten Fällen geht es darum, den semiotischen Unterschied bewußt offenzuhalten, also erkennbar jemand zu sein, der erkennbar etwas anderes darstellt. Denn sobald dieser Unterschied nicht mehr auszumachen ist, liegt der völlig anders geartete Fall der absichtlichen Täuschung vor. Videotanz bezeichnet eine junge intermediale Kunstform, bei der sich Tanz und Film respektive Video vermischen - Choreographien für die Kamera, die auf einer Theaterbühne nicht möglich wären. Vaterfigur des Videotanzes ist der Protagonist des postmodernen Tanzes Merce Cunningham. Derart in den USA entstanden, verbreitete sich die Kunstform parallel zu einem wachsenden Interesse am zeitgenössischen Tanz und Tanztheater und einer zunehmenden Mediatisierung der zeitgenössischen Tanzbühnen von Frankreich aus in den achtziger Jahren auch in Europa. Videotanz basiert auf historischen Vorläufern in der Filmgeschichte, die Konzepte heute zeigen ein breites Spektrum. In ihrem Aufsatz “Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform” umreißt C LAU - DIA R OSINY (Bern) die Filmgeschichte in Bezug auf den Videotanz und formuliert Thesen zum Panorama der intermedialen Kunstform. Abschließend beschreibt sie exemplarisch das Zusammenspiel der Zeichen auf der Bild- und Tonebene anhand eines kurzen Werks - Monoloog - der belgischen Choreographin Anne Teresa de Keersmaeker, die sich bereits Ende der achtziger Jahre für das filmische Medium interessierte und heute als eine der wichtigsten Protagonistinnen des europäischen Tanztheaters gilt. Anmerkung 1 So der Titel eines Beitrags von Christian Kipper (2004) über die Choreologin Susanne Menck, die auch Neumeiers Choreographie Tod in Venedig aufgezeichnet hat. Diesem Beitrag ist auch die Abbildung entnommen. - Der folgende Überblick basiert auf den Zusammenfassungen der Autoren ihrer Beiträge zu diesem Themenheft, soweit sie dem Herausgeber solche zur Verfügung gestellt haben. Aus Gründen der Einheitlichkeit wurden sie in den Text des Vorwortes eingearbeitet und dafür stilistisch behutsam angepaßt. Literatur Bouissac, Paul (ed.) 1998: Encyclopedia of Semiotics, Oxford: Oxford University Press Calbris, Geneviève 1990: The Semiotics of French Gestures, Bloomington: Indiana University Press Ernest W.B. Hess-Lüttich 162 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1978: “Dramaturgie des Schweigens. Zur Semiologie des Sprachversagens im Drama”, in: Folia Linguistica XII.1/ 2: 31- 64 Hess-Lüttich, Ernest W.B. & Roland Posner (eds.) 1990: Code-Wechsel. Texte im Medienvergleich, Opladen: Westdeutscher Verlag Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2000: Literary Theory and Media Practice. Six Essays on Semiotics, Aesthetics, and Technology, New York: C UNY Huber, Kurt 1998: “Zeichenkonzeptionen in Indonesien und den Philippinen”, in: Posner et al. (eds.) 1997-2004, vol. 2 (1998): 1910 -1927 [zum Tanz: 1917-1921] Ikegami, Yoshihiko 1971: “A stratificational analysis of hand gestures in Indian classical dancing”, in: Semiotica 4: 365 -391 Kipper, Christian 2003: “Das Gedächtnis der Bewegung”, in: Magazin Festspielhaus Baden-Baden 2/ 2004: 66 -70 Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/ Weimar: Metzler Posner, Roland et al. (eds.) 1997-2004: Semiotik/ Semiotics, vol. 1- 4, Berlin/ New York: de Gruyter Shapiro, Marianne 1981: “Preliminaries to a semiotics of ballet”, in: Steiner (ed.) 1981: 216 -227 Steiner, Wendy (ed.) 1981: The Sign in Music and Literature, Austin: University of Texas Press Ungeheuer, Gerold 1990: “Der Tanzmeister bei den Philosophen: Miszellen aus der Semiotik des 18. Jahrhunderts [1980]”, in: id. 1990: 244 -280 Ungeheuer, Gerold 1990: Kommunikationstheoretische Schriften II: Symbolische Erkenntnis und Kommunikation (= A SSK 15), ed. H. Walter Schmitz, Aachen: Alano Rader Der Tanzmeister bei den Philosophen Miszellen aus der Semiotik des 18. Jahrhunderts Gerold Ungeheuer (†) Im 33. Kapitel “Des beaux arts” seines Geschichtswerkes “Siècle de Louis XIV” (1751, endgültige Fassung 1766) schreibt Voltaire: “Les connaissances qui appartiennent à la musique et aux arts qui en dépendent, ont fait tant de progrès que sur la fin du règne de Louis XIV on a inventé l’art de noter la danse; de sorte qu’aujourd’hui il est vrai de dire qu’on danse à livre ouvert.” Die Nachricht bezieht sich auf Feuillet, der im Jahre 1700 ein Buch über die von ihm systematisch ausgearbeitete “Tanzschrift” veröffentlichte. Mindestens drei Philosophen des 18. Jahrhunderts, nämlich Wolff, Condillac und Lambert, haben das Feuilletsche Notationssystem in semiotischen Gedankengängen beispielhaft erwähnt. Wenn der Name Feuillet auftaucht, werden die Leser der Philosophen kaum wissen, was es damit auf sich hat, und andererseits wird den wenigen Lesern von Feuillet kaum bekannt sein, daß der Ballettmeister zwar geringer philosophischer, aber doch immerhin der Aufmerksamkeit der Philosophen gewürdigt worden ist. Für besondere Zwecke des höfischen Lebens hat Feuillet ein erstaunlich reichhaltiges und abgeschlossenes Zeichensystem entwickelt. Es erscheint mir reizvoll darzustellen, mit welchen Überlegungen verbunden die Philosophen auf das Feuilletsche System eingegangen sind und für welche Teile ihrer Semiotik das Beispiel der “Tanzschrift” vorgetragen wurde. 1. Feuillet Raoul Auger Feuillet, “Maître de Dance de Paris”, veröffentlicht im Jahre 1700 ein Buch von etwas mehr als hundert Seiten mit dem Titel: “Chorégraphie ou l’art de décrire la dance, par caractères, figures et signes démonstratifs, avec lesquels on apprend facilement de soy-même toutes sortes de dances. Ouvrage tres-utile aux Maîtres à Dancer & à toutes les personnes qui s’appliquent à la dance.” Nach seinem System komponiert und notiert läßt er in demselben Jahr einen “Recueil de Dances” folgen, zusammen mit einer anderen Sammlung von Tänzen, die zwar Feuillet notiert hat die aber von Pecour komponiert wurden; diesem Pecour, “Pensionnaire des Menus Plaisirs du Roy, et Compositeur des Ballets de l’Academie Royale de Musique de Paris”, ist auch die Chorégraphie gewidmet. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gerold Ungeheuer 164 Feuillet war Schüler des berühmten Charles Louis Beauchamps, Ballettmeister, Oberintendant des Hofballetts Ludwigs XIV., seit Eröffnung der Académie Royale de Danse im Jahre 1661 zusammen mit dem Komponisten Lully Direktor dieses Instituts. 1666 wurde ihm als erstem vom König der Titel “Maître de Dance” verliehen; Beauchamps war es, der eine Ordnung und Systematik der Bewegungselemente des Tanzes entwickelte, auf denen Feuillet aufbauen konnte. Im Vorwort berichtet Feuillet von einem ähnlichen älteren Werk, das er im Dictionnaire Historique von Furetière erwähnt gefunden hatte, von dem er aber kein Exemplar mehr auftreiben konnte. Er zitiert: “II y a un Traité curieux, fait par Thoinet Arbeau, imprimé à Langres en 1588. qu’il a intitulé ORCHESOGRAPHIE; c’est le premier ou peut-être le seul qui a notté & figuré les Pas de la Dance de son temps de la même maniere qu’on notte le Chant & les Airs.” Darauf hinzuweisen war Feuillet dadurch veranlaßt, daß einige behauptet hatten, die Idee einer Tanzschrift sei aus Holland gekommen. In seinem Buch kommt Feuillet ohne Umschweife zur Sache; der Aufbau des Zeichensystems vollzieht sich, klar und deutlich beschrieben, von den elementaren Positionen des Tanzes bis zu den komplizierten Gebilden der Tänze selbst. Unter den Elementarzeichen, die materiale Grundeinheiten betreffen, finden sich solche für die Position des Tänzers auf der Tanzfläche, für “le Pas” “le Plié”, “l’Elevé”, “la Cabriolle”, “le Glissé” und “le Tourné”. Für die höheren, sozusagen funktionalen Einheiten (die hier getroffene Unterscheidung ist freilich von Feuillet nicht thematisch ausgeführt) sind die Zeichen schon recht differenziert; neben den fortlaufenden Zeichenerläuterungen im Text findet man dafür allein 40 Seiten (S. 47ff.) Tabellenwerk. Da Feuillet in seinem Zeichensystem die Lage der Tanzfläche wie auch die Körperorientierung des Tänzers voraussetzt, ist diese Tanznotierung bei den Notenschriften der Musik eher einer Tabulatur als einer modern aufgezeichneten Komposition zu vergleichen. Auf S. 33 schreibt er beispielsweise unter dem Titel “De la maniere que l’on doit tenir le Livre pour déchiffrer les Dances qui sont écrites”: “II faut sçavoir que chaque fueillet sur lequel la Dance est écrite represente la Salle où on dance, dont les quatre côtez du fueillet en representent les quatre côtez …” Die fünf folgenden Abbildungen mögen einen Eindruck geben von der graphischen Attraktion, die das Werk von Feuillet ausübt. Abb. l ist ein Beispiel für den Text, in dem die einfachsten Zeichen eingeführt werden. Die Abbn. 2 und 3 sind Beispiele aus dem Tabellenwerk für die höheren Einheiten des Tanzes; Abb. 4 ist eine Tanzkomposition für einen Tänzer, Abb. 5 ist ein auskomponiertes Ballett. Der Tanzmeister bei den Philosophen 165 Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Gerold Ungeheuer 166 Abb. 5 1709 wurde Feuillets Werk ins Englische übersetzt; Gottfried Taubert, “Tantzmeister zu Leipzig”, verfertigte eine deutsche Übersetzung und veröffentlichte sie im dritten Teil seines 1717 in Leipzig erschienenen, umfangreichen Werkes “Rechtschaffener Tantzmeister oder gründliche Erklärung der Frantzösischen Tantz-Kunst”. Dieses kuriose, knapp 1200 Seiten starke Buch enthält in wilder Materialfülle eine Geschichte des Tanzes, eine allseitige Beschreibung der zeitgenössischen Tanzpraktiken, eine “Apologie für die wahre Tantz-Kunst” (ein hartes Geschäft im pietistischen Deutschland! ), eine Beschreibung der ethischen wie auch tanztechnischen Grundlagen des beginnenden bürgerlichen Gesellschaftstanzes und schließlich auch eine Art Theorie des Tanzes, in der die Chorégraphie des Feuillet vorgestellt wird: ein bedeutsames Werk zur Kulturgeschichte des frühen 18. Jahrhunderts. Über die Chorégraphie gibt Taubert zu Beginn des 44. Kapitels (S. 737) eine treffliche Charakterisierung, die an die semiotischen Kategorien der Zeit anknüpft: “Es ist die Frantzösische Chorégraphie, oder Tantz-Beschreibung, eine Kunst, vermöge welcher man alle und jede Frantzösische Täntze, das ist, so wol die niedrigen Kammer-Täntze, oder Dances de Bal, als auch die hohen theatralischen Entrées und Ballets, sie mögen gleich von einer, zwey, vier, acht und mehr Personen zugleich getantzet werden, von Schritt zu Schritt in verständlichen Zeichen und Characteres, gleichwie die Melodien in Noten, setzen, und sie dadurch nicht allein Lebenslang vor der schnöden Vergessenheit bewahren, sondern sie auch guten Freunden in der Fremde schrifftlich communiciren kan. Und sind also die Choregraphischen und per Arithmeticam &. artem combinatoriam verfertigten Tabellen nichts anders, als praescriptae ad memoriam notae, Tantz-Charten, und solche schrifftliche Anmerckungen, dadurch ein Tantz-Meister, oder anderer, der in diesem Exercitio etwas rechtes gethan hat, nicht allein mit leichter Mühe alle diejenigen Frantzösischen Täntze, welche jährlich zu Paris auf der daselbst befindlichen Academie Roiale de Dance von den besten Maitren der gantzen Welt componiret, und durch gewisse Characteres und Figuren publiciret werden, von ihm selbst lernen, sondern auch die anderwerts gelernten, oder welche er selber componiret, zu Papier bringen, und sie, gleichwie die Airs und Melodien davon, in die Fremde verschicken kan. Kurtz: Diese Characteres haben ihren sonderbaren Nutzen so wol in Compositione, als auch Correspondence. Denn res audita aut cogitata perit, litera scripta manet! ” 252 Taubert berichtet dann auch über einen Streit in der zeitgenössischen Tanzmeister-Literatur darüber, ob Beauchamps oder Feuillet der Erfinder der neuen Tanzschrift gewesen ist. Ein gewisser Wagenseil habe geschrieben, Beauchamps habe die Tanznotation erfunden, “Welches Kunst-Stück ihm aber der besagte Feüillet heimlich abgestohlen, und unter seinem Namen publiciret hat” (S. 740). Auch ein Herr Pasch war dieser Meinung. Mit Recht verweist Der Tanzmeister bei den Philosophen 167 Taubert demgegenüber auf die “Privilege du Roy”, die dem Feuilletschen Werk vorangestellt ist. Aus den Darstellungen von Feuillet und Taubert lassen sich bezüglich der neuen Tanzschrift folgende Merkmale herausstellen, die als besonders wichtig erachtet wurden: 1. Sie ist in außerordentlicher Weise eine Stütze für das Gedächtnis. In diesem mnemotechnischen Sinne dient sie sowohl dem Komponisten der Tänze wie auch den Tänzern, die wie in einem Buch lesend die Tänze einstudieren können. 2. Die im Feuilletschen System notierten Tänze können leicht kommuniziert werden. 3. Man ist sich bewußt, daß die Tanzschrift ein Sonderfall der viel diskutierten “ars characteristica” ist (Taubert: “ars combinatoria”). 4. Es wird nirgends erwähnt, daß diese Tanzschrift auch eine “ratio inveniendi” für den Kompositeur von Tänzen sein könnte. Der von Taubert erwähnte sciagraphische Charakter (S. 655) hätte darauf hinweisen können. 2. Wolff 1732 (2. Aufl. 1738) veröffentlicht Christian Wolff seine Psychologia Empirica. In der Reihe seiner lateinischen Werke waren vorher schon erschienen die Philosophia Rationalis sive Logica (1728), die Philosophia Prima sive Ontologia (1730) und die Cosmologia Generalis (1731); der Psychologia Empirica folgte 1734 die Psychologia Rationalis. In den Erläuterungen des § 292 der Psychologia Empirica wird auf das Feuilletsche Zeichensystem mit folgenden Worten eingegangen: “Habemus quoque hodie signa artis saltatoriae, a quodam artis hujus Magistro, cui Feuillet est nomen, in Choregraphia, seu Arte saltationes per Characteres exprimendi sermone Gallico edita, exposita. Ope eorundem saltationes noviter inventae absenti communicari facilius ac multo brevius possunt, quam si verbis describendae forent.” Ich übersetze: “Wir haben jetzt auch Zeichen für die Tanzkunst, die von einem Meister dieser Kunst namens Feuillet in einem Werk in französischer Sprache über die Choregraphie oder die Kunst, Tanzschritte durch Zeichen auszudrücken, dargestellt wurden. Mit ihrer Hilfe könnten neu erfundene Tänze abwesenden Personen leichter und viel kürzer mitgeteilt werden, als wenn sie mit Worten beschrieben wären.” Der § 292 gehört zu der kurzen Paragraphenreihe, die in Part. I, Sect. III, Cap. II, “De intellectu in genere et differentia cognitionis”, den § 289, in dem die “cognitio symbolica” allgemein definiert wird, mit dem § 294, der über die “ars characteristica” handelt, und den nachfolgenden Paragraphen der Lingua-Konzeptionen inhaltlich verbindet. Es sei kurz erläutert, welche Funktion der Hinweis auf das Feuilletsche Zeichensystem in Wolffs Gedankengang zu erfüllen hat. (Eine genauere Analyse hierzu wie auch zu dem, was später zu erläutern ist, findet man in meinen beiden Aufsätzen “Sprache und symbolische Erkenntnis bei Wolff’ und “De Wolfii significatu hieroglyphico”.) Zentral wird in § 292 behauptet, daß (auch) durch nicht-sprachliche Zeichen bestimmter Art die deutliche Erkenntnis einer Sache erreicht werden kann: Gerold Ungeheuer 168 “Wenn die einzelnen Gedanken, die die Kenntnis von einer Sache ausmachen, durch Zeichen, die keine Wörter sind, denotiert werden, dann kann die Kombination dieser Zeichen eine deutliche Erkenntnis dieser Sache wie auf einen Blick herbeiführen.” “Si quae notionem rei ingrediuntur signis denotantur a vocabulis diversis eorum combinatione distinctam rei notionem veluti spectandam exhibere licet.” “Quae notionem rei ingrediuntur” ist Standardformel bei Wolff, dem der definierte Terminus “notio distincta” korrespondiert; “signis a vocabulis diversis” deutet darauf hin, daß zuerst eine Bezeichnung mit Wörtern vorliegt, die dann durch nicht-sprachliche Zeichen ersetzt werden. Die Übersetzung von “veluti spectandam” mit “wie auf einen Blick” wird durch ein im Text vorkommendes “ut uno obtutu” nahegelegt. Daß ich “notio” nicht mit “Begriff” übersetze, hängt mit der semantischen Entwicklung zusammen, die das Wort seit Wolffs Zeiten durchgemacht hat. Das Feuilletsche Notationssystem soll nun als Beispiel dafür dienen, was in diesem, auf Anhieb recht trivialen Satz allgemein behauptet wird. Und in der Tat ist nach heutigem Verständnis die Selbstverständlichkeit dessen, was da gesagt wird, kaum zu überbieten. Zwei Urteilsmöglichkeiten bleiben offen: die eine besteht in dem kurzen und schnellen, durchaus häufigen Satz, daß Wolff eben trivial ist, die andere wäre das Ergebnis, das man erhält, wenn man versucht, den § 292 aus einem größeren Zusammenhang heraus zu erklären. Ich entscheide mich für die zweite Möglichkeit, weil nach meinem Wissen Wolff in Gedanken und Worten anders rhapsodiert, als wir Modernen es seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewohnt sind. Das Wolffsche System der Psychologia Empirica unterscheidet zwischen niederen und höheren Erkenntniskräften, die im Zusammenwirken verschiedener Vermögen (“facultates”) erklärt sind. Jene haben ihr Zentrum in der sinnlichen Erkenntnis, diese in den Handlungen des Verstehens, d.h. in dem, was “intellectus” meint. Diese Unterscheidungen haben bei Wolff aber nur eine philosophische Nützlichkeit, keinen Anspruch auf Tatsächlichkeit (“… terminus philosophicus est, cui nulla inest veritas.”, § 55). Immer geht es um die Fähigkeit des Erkennens, und die höhere Erkenntnis im Intellektualbereich ist dadurch gekennzeichnet, daß deutliches Wissen angeeignet wird (“… ideas & notiones distinctas acquirimus.”, § 55). Ein Wissen, ein Gedanke, ein Begriff, eine Kenntnis ist dann deutlich oder distinkt, wenn das Erkenntnisobjekt als in sich gegliedert und zusammengesetzt aufgefaßt und die Glieder und Teile gegeneinander abgegrenzt werden können. Der Paragraph, in dem Feuillet zitiert wird, gehört nun in diejenige Sektion des Werkes, in der die höheren Erkenntniskräfte analysiert werden. Der Intellekt wird als Vermögen definiert, sich eine Sache (“res”) distinkt vorstellen (“repraesentare”) zu können (§ 275). Ab Mitte des 2. Kap. wird fortlaufend eine parallele Analyse von intuitiver und symbolischer Erkenntnis beibehalten. Der hier interessierende § 292 gehört zu dem Problembereich der “cognitio symbolica”. Nun muß hinzugefügt werden, daß in Sect. II bei den niederen Erkenntniskräften (§§ 138 -172), weit vor Einführung der “cognitio symbolica” in § 289 also, im Kapitel über die “facultas fingendi” unter dem Terminus “figura hieroglyphica” bzw. “significatus hieroglyphicus” eine Vorstufe der symbolischen Erkenntnis behandelt wird. Daß dies hier zu berücksichtigen ist, erkennt man aus dem § 291, der von der Möglichkeit dunkler Zeichenverwendung handelt und dafür den “mos scribendi veterum hieroglyphicus” als Beispiel anführt, der in § 151 “ars hieroglyphice significandi veterum” heißt. Es muß also offensichtlich geklärt werden, inwiefern Zeichensysteme vom Feuilletschen Typus zwischen den Der Tanzmeister bei den Philosophen 169 “figurae hieroglyphicae” und den “linguae” rangieren, wobei klar ist, daß man sich in jedem Falle im Gebiet der “signa artificialia”, d.h. derjenigen Zeichen befindet, deren “significatus” bzw. deren “vis significandi” “ab arbitrio hominum” (§ 272) (“ad placitum”) konstituiert ist. Hierzu muß der Unterschied von “idea”, “notio” und “phantasma” erläutert werden. Alle drei Termini bezeichnen “repraesentationes rerum” und meinen insoweit dasselbe. Die Differenz liegt (diese Art der Verbegrifflichung hat lange Tradition) im Hinblick, im Aspekt, im “quatenus”. Eine “repraesentatio rei” heißt “idea”, insofern die Sache objektiv (“objective”, § 48), d.h. als dem erkennenden Individuum gegenüberstehende (“… quatenus rem quandam refert, seu quatenus objective consideratur.”, § 48) betrachtet wird; sie heißt “notio”, insofern die Repräsentierung im allgemeinen oder nach Arten und Gattungen (“genera et species”, § 49) in Rechnung gestellt wird. “Phantasma” aber ist die durch die Imagination hervorgerufene Idee (§ 93), wobei “imaginatio” als die Fähigkeit aufgefaßt ist, sinnliche Erfahrung in Abwesenheit der Dinge selbst zu reproduzieren (§ 92). Die “perceptio” aber ist allgemein als der “actus mentis” definiert (§ 24), durch den ein Objekt vorgestellt (“repraesentare”) wird. Die hieroglyphischen Figuren gehören nun deswegen in den Bereich der niederen Erkenntniskräfte, weil ihre Zeichenfunktion in Phantasmata begründet ist, in denen freilich nur wenige Merkmale (“notae”) der bezeichneten Sache nach bemerkter Ähnlichkeit sinnlich vorgestellt zu sein brauchen (z.B. Dreieck für göttliche Dreifaltigkeit). Daher ist hieroglyphische Zeichengebung auch ständig der Gefahr (oder dem Vorteil) der Verdunkelung ausgesetzt. Die Wörter der Sprachen hingegen beziehen sich direkt auf die “notiones”, die sie anzeigen (“indigitare” oder “indicare”), ohne daß wahrgenommene Ähnlichkeit in irgendeiner Weise vermittelt. Feuilletsche Zeichensysteme haben insofern eine Zwischenposition, als sie grundsätzlich vermittels sprachlicher Formulierungen eingerichtet sind: das System der Grundzeichen wird sprachlich definiert wie auch die Regeln der Zusammensetzung, und eine in Feuilletschen Zeichen formulierte Nachricht sagt nur kurz und bündig, was die zugehörige sprachliche Ausformulierung, wenn auch lang und umständlich, voraussetzt. Der besondere Inhalt des § 292, der die Möglichkeit distinkter Erkenntnis vermittels Feuilletscher Notation behauptet, ist in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich. Für sprachliche Zeichen und ihre Verwendung ist die Möglichkeit distinkter Erkenntnisvermittlung deswegen vorauszusetzen, weil sie für diesen Zweck gerade mit Erfolg eingerichtet worden sind. Für die nicht-sprachlichen Zeichensysteme der Hieroglyphik (im Wolffschen Sinne) und des Feuilletschen Typus aber muß dies erst gezeigt werden. Und dies tut Wolff, in kleinsten Schritten, in einem diskursiv angelegten Paragraphenlabyrinth, wie es seine Art ist. Um dies alles richtig einordnen zu können, muß man die zeitgenössische und die schon das ganze 17. Jahrhundert andauernde Diskussion um die Hieroglyphenproblematik und Fragen der Schrift und Emblematik allgemein bedenken (dazu siehe V.-David (1965), Rossi (1960), Knowlson (1975)). Die vielfältigsten Überlegungen zur Pasigraphie, Polygraphie, Stenographie, Steganographie und Kryptographie gehören dem Zeitalter an. So mußte die graphisch so beeindruckende Tanzschrift des Feuillet ihre Wirkung haben bei denen, die ex officio über Zeichen und Zeichenverbindungen nachdachten. Es bleibt das Motiv des “veluti spectandam”, des “ut uno obtutu”, die Sciagraphie, wie Taubert sich ausdrückt, die als Nebenprodukt der sprachlich begründeten, nicht-sprachlichen Zeichen erscheint. Wolff gibt hierzu eine generelle Erklärung im letzten Kapitel “De signo” der Ontologia. Dieser Teil des Textes, der selten zu Ende gelesen wurde, enthält im letzten § 967 eine wichtige Bemerkung über komplexe Stellvertreterzeichen für Definitionen und Sätze, deren Inhalt wohl auf Leibniz zurückgeht. Es heißt dort: Gerold Ungeheuer 170 “Da Zeichen für Definitionen und Propositionen, die abgeleitete und stellvertretende Zeichen sind, die Bedeutungen ihrer Elementarzeichen aus arbiträrer Einrichtung besitzen, die des abgeleiteten Zeichens aber aus den bezeichneten Sachen, werden sie also auch in jener Hinsicht künstliche Zeichen sein, in dieser jedoch den natürlichen Zeichen nachgebildet sein: also sind sie aus künstlichen und natürlichen Zeichenqualitäten gemischt.” “Quoniam signa derivativa definitionum ac propositionum vicaria significatum primitivum ab arbitrio significatum imponends, derivatum autem a rebus significatis habent; ideo respectu illius artificialia sunt, respectu hujus naturalia imitantur, consequenter ex artificialibus & naturalibus mixta.” Die zugefügte kurze Bemerkung könnte jeder modernen Diskussion über Zeichentheorien als Richtschnur oder zur Ermahnung dienen: “Haec ideo monenda fuere, ne scrupulum facessant, quae de signis artificialibus tanquam pure arbitrariis in superioribus docuimus.” Da entsprechende Termini fehlen, ist das Hauptstück des Paragraphen nur mit umständlichen Umschreibungen ins Deutsche zu übersetzen. “Signa derivativa”, abgeleitete Zeichen, sind solche, die aus anderen Zeichen (desselben Systems) hervorgegangen sind; bei den “signa primitiva” ist dies eben nicht der Fall, sie sind Elementar- oder Grundzeichen. Das schwerfällige “ab aliis signis se prioribus ortum trahunt” (§ 964, Ontol.) ist nur der Versuch einer allgemeinsten Formulierung; die Kombination der Grundzeichen in einer “ars characteristica combinatoria” ist ein Sonderfall der allgemeiner definierten “derivatio”. “Signa vicaria” sind Stellvertreterzeichen, die anstelle von anderen Zeichen, abgeleiteten oder elementaren, gebraucht werden. Definition und Proposition werden in der Logica als “orationes” verstanden, mit denen man anderen etwas mitteilen kann. Davon ausgehend wird man annehmen können, daß die in § 967 der Ontologia gemeinten “signa derivativa vicaria” Zeichen sind, die anstelle von Wörtern oder Wortverbindungen verwendet werden. Es scheint mir aber auch die andere Deutung (die ich jetzt nicht weiter verfolge) möglich, nach der die Formulierung mit sprachlichen Zeichen selbst gemeint sein kann. Der wichtigste Punkt in der Überlegung dieses § 967 betrifft den Sachverhalt, daß in einem Zeichensystem mit arbiträren Grundzeichen bei der Herstellung von abgeleiteten Zeichen sich ein Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem ergibt, das man als analog zu den natürlichen Zeichen ansehen muß. Diese Einsicht hat Leibniz deutlich formuliert, und sie ist dann das Thema der Semiotik von Lambert geworden. Für das vorliegende Problem der Feuilletschen Zeichensysteme gibt sie für das “ut uno obtutu” die Grundlage ab. In § 290 der Psychologia Empirica, zwei Paragraphen vor der Erwähnung Feuillets und ein Paragraph nach der Einrührung der “cognitio symbolica”, wird dieser Gedanke auch tatsächlich mit Hinweis auf das Zeichen-Kapitel der Ontologia aufgenommen. “Vicarium” ist dort explizit ausgeführt mit “loco vocabulorum”, aber das “ab aliis signis se prioribus ortum trahunt” bleibt erhalten. Erst in unserem § 292 taucht die “combinatio” auf, und das, was behauptet wird, geht ohne Widerspruch aus den erläuterten Voraussetzungen als Ergebnis hervor. Es scheint mir sicher zu sein, daß Wolff das System von Feuillet über das Buch von Taubert kennengelernt hat: was Taubert erwähnt, erwähnt auch Wolff, und was Taubert beiseite läßt, findet man auch bei Wolff nicht. Taubert hat auch, wie oben zitiert, die Reizwörter gebracht (“ars combinatoria” usw.), die Wolffs Aufmerksamkeit erregen mußten. Man findet jedoch den Unterschied, daß Wolff sich auf die Zeichenfunktion im Erkenntnisbereich konzentriert, während Feuillet und Taubert auch sehr stark das praktische Moment hervor- Der Tanzmeister bei den Philosophen 171 gehoben haben. Daher sind für den Philosophen vor allem drei Punkte wichtig: die Konstitution der Zeichen, die Kommunizierbarkeit des Bezeichneten und die Eigenschaft, kompendiös bezeichnen zu können. Im übrigen mag aus dieser Studie schon deutlich geworden sein, daß die Semiotik Wolffs den einfachen Zuschnitt nicht besitzt, der neuerdings immer wieder beschrieben wird. Wolffs Zeichenlehre ist Teil seiner Erkenntnistheorie, sie ist weder allein von der Ars Characteristica her zu fassen noch als Propädeutik der Logik verstehbar. Der zentrale Begriff ist der der symbolischen Erkenntnis, nicht der des Zeichens. In jedem seiner Werke wird davon nur ein Stück sichtbar, wenngleich die Psychologia Empirica im Mittelpunkt steht. Ohne die Gedankenmasse der Semiotica Moralis jedoch, die im vierten Teil “De conjectandis hominum moribus” des zweiten Bandes seiner Philosophia Practica Universalis begraben liegt, wird man sich kein vollständiges Bild machen können (über die Semiotica Moralis von mir an anderer Stelle). 3. Condillac Die starken Empfindungen, die man verspüren kann, wenn man von Wolff zu Condillac wechselt, lassen sich nicht leicht unterdrücken: es ändert sich die Sprache, das Denken verläuft in anderen Spuren, ein neuer Fluß der Gedanken bricht auf, leichter, weniger genau, auf Anhieb durchschaubarer, die Anstrengung verfliegt; kurz: ein Umschlag der Atmosphäre. Das erste Werk Condillacs, der “Essai sur l’origine des connoissances humaines” (ich zitiere nach der Edition des Gesamtwerks von Georges Le Roy im “Corpus Général des Philosophes Francais”, T. XXXIII, Paris 1947-51), erschien im Jahre 1746 mit dem Untertitel “ouvrage où l’on réduit à un seul principe tout ce qui concerne l’entendement”. Dieses einzige Prinzip besteht, um es kurz zu sagen, “dans la liaison des idées, soit avec les signes, soit entre elles” (Introduction, S. 4). Der Essai hat zwei Hauptteile: “Des matériaux de nos connoissances et particulièrement des opérations de l’ame” und “Du langage et de la méthode”. Im 3. Kapitel “De la Prosodie des langues grecque et latine et, par occasion, de la déclamation des anciens” der ersten Sektion des zweiten Hauptteils findet man zu Beginn des § 24 folgende Bemerkung zu Feuillet: “On ne sauroit tirer aucune induction de la chorégraphie, ou de l’art d’écrire en notes les pas et les figures d’une entrée de ballet. Feuillée (sic! ) n’a eu que des signes à imaginer, parce que, dans la danse, tous les pas et tous les mouvements, du moins ceux qu’il a su noter, sont appréciés. Dans notre déclamation, les sons, pour la plupart, sont inappréciables: ils sont ce que, dans les ballets, sont certaines expressions que la chorégraphie n’apprend pas à écrire.” Aus dem Textstück versteht man zunächst, daß gegen die Feuilletsche Tanzschrift ein negatives Argument vorgebracht wird, ohne daß dies für die Notation selbst negativ zu sein braucht: das choregraphische System kann zwar Tänze zeichenhaft beschreiben, aber nicht “Deklamationen” (was immer dies sein mag). Als Grund dafür wird angegeben, daß die Tanzschritte und Tanzbewegungen “appréciés”, Deklamationen hingegen “inappréciables” sind. In seinem eigenen “Dictionnaire des Synonymes” gibt Condillac für “aprécier” das lexikalische Äquivalent “évaluer”, was nicht überrascht; sonst kann man wohl auch “estimer” finden. Was aber bedeutet dies für das Feuilletsche Zeichensystem? Wie immer die Antwort ausfallen mag, soviel kann jedenfalls schon jetzt gesagt werden, daß Condillac hier implizit ein Problem stellt, das Wolff überhaupt nicht behandelt hat. Auf die Frage, wie eine Sache Gerold Ungeheuer 172 beschaffen sein muß, damit sie Feuilletsch bezeichnet werden kann, lautet seine Antwort: sie muß “apréciée” oder “apréciable” sein. Wolff hat sich auf die Beschaffenheit der Zeichen und ihrer Systeme konzentriert, Condillac beschäftigt sich mit der Bezeichenbarkeit der Sachen. Aus dem engeren und weiteren Kontext, in dem Feuillet genannt wird, erkennt man zwei Argumentationszüge: einen übergeordneten, der das Problem des Ursprungs und der Entwicklung der Sprache, und einen eingebetteten, der den Übergang von der Prosodie gesprochener Sprache zur Musik behandelt. Die Überschrift der l. Sektion des zweiten Hauptteils spezifiziert das sprachliche Thema: “De l’origine et des progrès du langage”. Als Methode konzipiert Condillac keine narrative Induktion nach alten Erzählungen und neuen Berichten über das sprachliche Leben der Wilden, sondern eine begriffliche Konstruktion heutiger menschlicher Sprachbeherrschung aus minimalen Lebensbedingungen des Menschen derart, daß der Konstruktionsprozeß selbst eine mindestens plausible Rekonstruktion der Sprachentwicklung bzw. der Geschichte menschlicher Interaktion ergibt. Bei einem solchen Vorgehen spielen Beispiele die Rolle von Hinweisen darauf, daß die geschichtliche Rekonstruktion plausibel ist; die konstruktiven Grundlagen hingegen findet man sozusagen m der seelischen Erstausstattung, die Menschen zugestanden wird, und im Begriffsrepertoire, das für die Beschreibung der höheren Konstruktionsstufen bereitliegt. Mit dem “Traité des sensations” ist dieses Verfahren im Vehikel der “Statue” (oder wie immer man “la statue” übersetzen möchte) besonders ausgearbeitet und bekannt geworden. In den beiden Hauptteilen des Essai beginnt Condillac in derselben methodischen Einstellung, wenngleich die Intention nachfolgend nicht allzu streng ausgeführt wird: “Considérons un homme au premier moment de son existence” beginnt § 3 zu Beginn des ersten Teiles, “Mais je suppose que, quelque temps après le déluge, deux enfans, de l’un et de l’autre sexe, aient été égarés dans des déserts, avant qu’ils connussent l’usage d’aucun signe.” heißt es im zweiten Satz des 2. Teils. Der Unterschied zu Wolffs Methode ist maximal. Zwar arbeitet Wolff natürlich auch konstruktiv, aber er geht aus von den fundamentalen Eigenschaften der Seele und insofern vom Allgemeinen und deduziert fortlaufend nach eingebrachten Axiomen und Definitionen die notwendigen Spezifizierungen. In der Einleitung zum Essai skizziert Condillac sein “dessein”: “…, j’ai commencé au langage d’action. On verra comment il a produit tous les arts qui sont propres à exprimer nos pensées; l’art des gestes, la danse, la parole, la déclamation, l’art de la noter, celui des pantomimes, la musique, la poésie, l’éloquence, l’écriture et les différens caractères des langues. Cette histoire du langage montrera les circonstances où les signes sont imaginés; elle en fera connoître le vrai sens, apprendra à en prévenir les abus, et ne laissera, je pense, aucun doute sur l’origine de nos idées.” (S. 4, Sp. 2) Jene beiden Kinder, in der Wüste alleingelassen, sind geübt in den einfachen Tätigkeiten der Seele (“des opérations de leur ame”, Sect. l, Ch. l): in Wahrnehmung (“la perception”). Bewußtsein (“la conscience”), Aufmerksamkeit (“l’attention”), Erinnerung (“la réminiscence”) und wenig ausgebildet in der Fähigkeit der Imagination (“l’imagination”). Man hat hier ziemlich vollständig den von Wolff aus der Tradition übernommenen Katalog der niederen Erkenntniskräfte vor sich. Die Seele ist nach Condillac zu höheren, zu Handlungen des Verstandes fähig, und diese Entwicklung kann nur unter Mithilfe von Zeichensystemen geschehen. Am systematischen Beispiel der Wüstenkinder zeigt er, daß die Bildung solcher Zeichensysteme im Üben oder Einüben (“l’exercice”) eindrucksvoller und einprägsamer Seelenhandlungen vorangetrieben wird, die aus der Wahrnehmung von Bedürfnissen, Der Tanzmeister bei den Philosophen 173 vornehmlich von sozialen Notwendigkeiten, hervorgehen. Im ersten Schub entwickelt sich so zwar die Handlungssprache, “le langage d’action”, die “vraisemblablement” nur aus “des contorsions et agitations violentes” (§ 5) besteht, doch war sie immer von Lauten und Schreien begleitet: “des cris de chaque passions”, “les cris naturels”. Und dieses Zusammenspiel von Lautung und Körperaktion blieb erhalten, als sich langsam aus Gewohnheit und Übung die ersten willkürlichen Zeichen (“des signes arbitraires”, § 6) einer artikulierten Lautsprache (“le langage des sons articulés”, § 8) herausbildeten. Condillac nennt dies “im discours entremêlé de mots et d’actions” (§ 9), eine besonders bei öffentlichen und feierlichen Anlässen gepflegte Sprache, die die Alten einen Tanz genannt haben (§ 10, “voilà pourquoi il est dit que David dansoit devant l’arche”), aus dem sich bei stärker werdender Verbalsprache, sie aber immer begleitend, ein Tanz der Gesten (“la danse des gestes”, § 11) und ein Tanz der Schritte (“la danse des pas”) heraushoben. Im folgenden 2. Kap., Sektion l, des zweiten Hauptteils wird die Prosodie der (ersten) Lautsprachen behandelt, von denen Condillac zunächst behauptet, daß sie nach dem Modell der Aktionssprache artikulieren und anstelle heftiger Körperbewegungen die Stimme in deutlich hörbaren Intervallen auf- und abführen. Diese Prosodie frühester lautsprachlicher Artikulation war beinahe (“improprement”, § 14) Gesang (“un chant”), man könnte sagen, daß sie gesangsmäßig war, weil sie sich nur geringfügig vom eigentlichen Gesang entfernte (“… qu’elle participoit du chant”). Die spätere Entwicklung bis auf den heutigen Tag verfeinerte freilich die prosodischen Inflexionen und vergrößerte den Abstand zum Gesanghaften, wenngleich die Prosodien des Griechischen und Lateinischen den alten Zustand noch vorführen können. Damit ist im Gedankengang des zweiten Hauptteils des Essai für Condillac die Ausgangsposition geschaffen, von der aus er sein Nebenthema in Angriff nehmen kann: Prosodie, Deklamation, Pantomime, Musik, Poesie. Erst im 9. Kap. nimmt er mit § 80 unter dem Titel “Des mots” das übergeordnete Thema der Sprachentwicklung wieder auf. Feuillet aber erhält mit seiner Tanzschrift zu Beginn des Nebenthemas seine beispielhafte Funktion. In diesem dritten Kapitel nämlich führt Condillac eine Auseinandersetzung mit Du Bos (“Réflexions critiques sur la Poésie et sur la Peinture”, l. Aufl. 1719) über die Prosodie und Deklamation der Alten. Du Bos nimmt an, daß die griechische und lateinische Prosodie nicht viel von der verschieden war, wie man sie von modernen Sprachen kannte; sie war also weder Gesang noch Musik, und da man doch andererseits wußte, daß Griechen wie Römer ihre Deklamationen nach einer Notenschrift fixieren konnten, muß er zeigen, daß eine solche Notierung auch mit zeitgenössischen Prosodien keine Schwierigkeiten bereitet. Er legt aber kein Beispiel einer Transkription, sondern Antworten vor, die Musiker ihm in dieser Sache gegeben haben; vor allem aber verweist er auf die Tanzschrift des Feuillet als einem semiotischen Beispiel, und diesen Beweisgang zitiert auch Condillac kurz vor seinem eigenen Hinweis auf Feuillet. Für Condillac aber ist nun gerade die bekannte Tatsache der alten prosodischen Notationssysteme ein hinreichender Beweis dafür, daß es sich “nahezu” um einen Gesang gehandelt haben muß, weil - und dies ist sein Hauptargument - überhaupt nur gesanghafte Prosodien notiert werden können: “Il ne suffit point, pour un chant, que les sons s’y succèdent par des degrés très-distincts; il faut encore qu’ils soient assez soutenus pour faire entendre leurs harmoniques, et que les intervalles en soient appréciables”. An dieser Stelle des § 14 taucht der erste Hinweis dafür auf, wie man jenes “apprécié” im Feuillet-Zitat zu verstehen habe. Es stellt sich heraus, daß Condillac sich in seiner Beweisrührung völlig auf wesentliche Elemente der Rameauschen Musiktheorie verläßt, dessen letztes Werk “Généra- Gerold Ungeheuer 174 tion harmonique ou Traité de Musique théorique et pratique” aus dem Jahr 1737 er im ersten Satz des § 22 auch als “Génération harmonique” anführt (ohne den Autor zu nennen). In § 16 behauptet er von den Alten ein dreigeteiltes Wissen: “Ils n’ignorent pas: 1° qu’on ne peut noter un son, qu’autant qu’on a pu l’apprécier; 2° qu’en harmonie, rien n’est appréciable que par la résonnance des corps sonores; 3° enfin, que cette résonnance ne donne d’autres sons, ni d’autres intervalles, que ceux qui entrent dans le chant.” Diese Trichotomie wird dann in § 22 gegen Du Bos durch eine weitere ergänzt, deren Inhalte zuvor schon (§ 20) als “des principes de la génération harmonique”, von denen “ce savant abbé” wohl nichts verstehe, charakterisiert sind: “II est démontré dans la Génération harmonique: 1° qu’on ne peut apprécier un son, qu’autant qu’il est assez soutenu pour faire entendre ses harmoniques; 2° que la voix ne peut entonner plusieurs sons de suite, faisant entr’eux des intervalles déterminés, si eile n’est guidée par une basse fondamentale; 3° qu’il n’y a point de basse fondamentale qui puisse donner une succession par quart de tons.” Nur wenigen Musiktheoretikern dürfte bekannt geworden sein, welchen kuriosen Gebrauch Condillac von der Rameauschen Fundamentalbaßlehre gemacht hat. Es ist hier jedoch nicht die Stelle, an der dieses musikgeschichtliche Moment oder eine kritische Analyse der Condillacschen Argumentation weiter verfolgt werden könnte. Es ist aber nun deutlich geworden, wie “apprécier” zu verstehen ist und in welcher Absicht diese Qualifizierung auf das Feuilletsche Zeichensystem übertragen wird. “Appréciable”, d.h. bewertbar und in ihren Eigenschaften einzuschätzen, ist eine zu bezeichnende, zu notierende Sache offensichtlich dann, wenn diese Eigenschaften so klar hervortreten oder hervortreten können, daß eine eindeutige Zeichenzuordnung möglich wird. Dies ist bei den Tanzschritten der Fall, nicht aber, wie Condillac meint, bei den Intonationen moderner Prosodien. In § 24 gibt der einschränkende Satz “Feuillée n’a eu que des signes à imaginer …” eine Einschränkung bezüglich der allgemeinen Funktion der Zeichen, die Condillac im ersten Hauptteil beschreibt. Dort geht vor allem aus dem l. Kap. der 4. Sektion “De l’opération par laquelle nous donnons des signes à nos idées” hervor, daß erstens “imaginer” Terminus ist, da Zeichen aus vorstellender Imagination verliehen werden (“Cette opération résulte de l’imagination, qui presente …”), und daß zweitens man sich im Denken der Zeichen bedienen muß, um die Gedanken überhaupt deutlich werden zu lassen (“… et que nos notions ne sont exactes qu’autant que nous avons inventé avec ordre les signes qui doivent les fixer”, § 9). Trifft dies nun allgemein für unsere Gedankenoperationen zu, so ist beim Feuilletschen Zeichensystem gerade diese präzisierende Funktion außer Kraft, da die zu bezeichnenden Gegenstände exakt in diesem Sinne, d.h. “appréciables” vorgegeben sind. Und soweit sie dies sind, meint Condillac, sind sie von Feuillet auch mit Zeichen notiert, soweit sie es aber nicht sind, nämlich im Falle des Tanzes “certaines expressions”, können auch keine Zeichen gefunden werden, was wohl mit der Annahme zusammenhängt, daß wohl Gedanken, nicht aber Perzeptionen semiotisch präzisiert werden können. Dreiunddreißig Jahre nach Condillacs Essai erscheint 1779 in London Joshua Steeles “Prosodia Rationalis”, ein Buch, das mit differenzierter Begrifflichkeit für prosodische Erscheinungen den expliziten Vorschlag einer Prosodienotation enthält. Aber auch Steele ist noch mit den musiktheoretischen Grundlagen Rameaus beschäftigt, wenn er auch dessen Namen nicht nennt. Das Überraschende an diesem Spezialtraktat ist die historische Verbindung, die man mit Condillac bzw. mit dem französischen Disput um die Mitte des Jahr- Der Tanzmeister bei den Philosophen 175 hunderts finden kann. Steele (zu dem ganzen Komplex siehe auch Abercrombie (1951)) nämlich setzt sich mit der Prosodietheorie im 2. Band von “The Origin and Progress of Language”, Lord Monboddos Hauptwerk, auseinander. Darin vertritt Monboddo in der ersten Auflage eine Position, die der von Condillac sehr nahe kommt, was, worauf Aarsleff (1967, 1975) überzeugend hingewiesen hat, nicht verwunderlich ist, da er sich im Herbst 1763 wie auch in den Jahren 1764 und 1765 in Paris aufgehalten und Condillacs Essai wohl gekannt hat. Steele ist es, wie er mit Briefen in seiner Monographie nachweist, gelungen, Lord Monboddo von der Notationsfähigkeit der Prosodie zu überzeugen, was dieser durch inhaltliche Änderungen der späteren Auflagen seines Werkes auch angezeigt hat. Steele transkribiert so: 4. Lambert Johann Heinrich Lambert veröffentlicht 1764 sein “Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein”. Im l. Kap. “Von der symbolischen Erkenntniß überhaupt” des 3. Buches “Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge” handelt der § 26 von der Feuilletschen Tanzschrift: “Von der Choreographie des Feuillet läßt sich eben dieses sagen, doch mit dem Zusatze, daß, indem er bey Erfindung eines neuen Tanzes die Figur derselben zeichnet, die Zeichnung selbst mehr Geometrisches hat, und durch die Größe, Zeit und Anzahl jeder Schritte mit dem Takte proportionirt werden muß. Diese Bedingung, nebst der, daß die Figur schließen, und nach Abspielung eines jeden Theils der Contredanse ein neuer Theil der Figur des Tanzes anfangen muß, schränkt das Willkührliche dabey mehr ein, und die Zeichnung selbst verräth die Fehler, und nöthigt, sie zu vermeiden. Die Engländer haben Contredanses, wofür sie zwar keine Zeichnung gebrauchen: aber weil dieselben aus einer gewissen Anzahl von Figuren besteht, deren jede eine gewisse Anzahl von Takten dauert, so können sie durch bloße Combination dieser Figuren unzählig vielerley Abwechslungen und verschiedene Tänze fast ohne Mühe erfinden. Und da diese Figuren ihre Namen haben, z.E. Le pas, monter, tourner, la Chaine, le moulinet, Castof, le huit &c. so lassen sich alle diese Tänze mit wenigen Worten schriftlich verfassen, und ohne Schwierigkeit begreifen und bewerkstelligen. Uebrigens, da die Tänze selbst Figuren und Bewegungen sind, so ist auch die Zeichnung derselben in einem viel einfachem Verstande figürlich, als die Zeichnung der Töne in der Musik vermittelst der Noten.” Der Paragraph nimmt mehrfach Bezug auf den vorhergehenden Text des Kapitels. In der Tat wird man zweckmäßig auf den Inhalt des ganzen Hauptstücks eingehen müssen, um die Demonstration des Choreographie-Beispiels verstehen zu können. Gerold Ungeheuer 176 Die 69 Paragraphen dieses ersten Kapitels lassen sich nach Inhalt und Zusammenhang in drei Gruppen anordnen: 1. §§ 1-24: über die Grundlagen der symbolischen Erkenntnis; 2. §§ 25 - 49: Analyse verschiedener Zeichensysteme; 3. §§ 50 - 69: Probleme willkürlicher Zeichensetzung. Die Feuilletsche Tanzschrift wird nach dem Notensystem der Musik (§ 25) in der zweiten Paragraphengruppe an zweiter Stelle behandelt. Erörtert werden weiterhin die Kunstwörter für die Schlußfiguren der Logik (Barbara usw.), die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen, graphische Repräsentationen der Syllogismen (Lambert selbst hat solche vorgeschlagen), chymische und astronomische Zeichen, Einteilungen der Winkel nach Graden, Minuten und Sekunden, Stammbäume, Embleme, Zahlen und Ziffern, Symbole der Algebra, Notationen der Versform, Heraldik und Landkarten. Die §§ 50 - 69 sind zudem angereichert mit allgemeinen Bemerkungen, die die erste mit der dritten Paragraphengruppe verbinden. Der erste Kapitelabschnitt behandelt nun m den §§ 1-5 durchgängige Eigenschaften der Sprachen: der “Gebrauch zu reden”, Sprachen als nicht völlig systematische, aber auch nicht völlig regellose “Lehrgebäude”, die menschliche Natur als “erste Ursache der Sprache”, Unterscheidung des Notwendigen, Natürlichen und Willkürlichen in den Sprachen. Am Ende des § 5 wird eingegrenzt, daß Sprachen und überhaupt die symbolische Erkenntnis nur insoweit betrachtet werden sollen, als “sie einen Einfluß auf die Wahrheit” haben: eine Abgrenzung gegen rein grammatische Erörterungen. Hierauf folgt nun bis etwa § 16 eine Darlegung der Gründe, warum die symbolische Erkenntnis für Menschen unabdingbar ist. Zunächst wird der individuelle Grund analysiert, “daß die symbolische Erkenntniß uns ein unentbehrliches Hülfsmittel zum Denken ist” (§ 12), und dies nämlich deshalb, weil “wir die klaren Begriffe, so wir durch die äusseren Sinne erlangen, wachend nicht in ihrer völligen Klarheit erneuern können, es sey denn durch die Erneuerung der Empfindung” (§ 6). In § 7 heißt es dazu: ‘Wir würden immer Simulacra durch Gebärden, Bewegungen usw. suchen, um den Begriff, der dunkel in der Seele ist, und zu dessen Aufklärung die Veranlassung da ist, aufzuklären, oder wenigstens uns selbst oder anderen anzudeuten”; § 8 beginnt: “Da die eigentlich klaren Begriffe nur bey den Empfindungen statt haben, so ist nothwendig …” An der Bedeutung des Wortes “Begriff” haben seit Beginn des 18. Jahrhunderts unzählige Philosophen und der Wortgebrauch aller gearbeitet. Die Gleichheit des Wortzeichens ist weder eine Garantie dafür, daß im Jargon und in Fachsprachen unserer Zeit das mit dem Wort Bedeutete übereinstimmt, noch daß Wolff und seine Schüler oder daß Lambert dasselbe hätten meinen können, wie es uns so natürlich erscheint. Wolff hatte “Begriff ” auf “notio” festgelegt; aber was “notio” signifiziert und was “Begriff ” vor Kant bedeutet, kann mit unserem “Begriff ”-Gebrauch nur dunkel gedeutet werden. Nach Grua hat Leibniz etwa 1685 ein Buch des deutschen Mystikers Valentin Weigel gelesen, das 1613 veröffentlicht wurde aber schon Ende des 16. Jahrhunderts geschrieben war; sein Titel lautet: “Der güldene Griff / Alle Ding ohne Irrthumb zu erkennen / vielen Hochgelährten unbekandt / und doch allen Menschen nothwendig zu wissen”. In der “Dianoiologie”, dem ersten Buch seines Neuen Organen, führt Lambert in § l seinen “Begriff” ein: Der Tanzmeister bei den Philosophen 177 “Eine Sache begreifen heißt sich selbige vorstellen können, und zwar so, daß man die Sache für das ansieht, was sie ist, daß man sich darein finden, sich darnach richten, sie jedesmal wieder erkennen kann usw.” (Es dürfte wohl wenig bekannt sein, daß Fritz Mauthner in seinem Wörterbuch der Philosophie Lamberts Bestimmung als einzig akzeptable zuläßt.) Wenn nun also bei Lambert der Begriff eine Vorstellung in diesem Sinne ist, dann muß hinzugenommen werden, was er in § 8 sagt: “Die ersten Wege, wodurch wir zu Begriffen gelangen, sind die Empfindungen, und die Aufmerksamkeit, die wir gebrauchen, alles, was uns die Sinne an einer Sache empfinden machen, uns vorzustellen, oder dessen bewußt zu seyn.” Die semantische Geschichte des Wortes “Empfindung” ist zwar mindestens ebenso verwickelt wie die des Wortes “Bedeutung” (siehe dazu Schneider, 1960), doch macht Lambert klar, daß er den von den Perzeptionsorganen vermittelten sinnlichen Eindruck meint. Wenn er also in § 10 der Semiotik formuliert: “So lange die Sache, welche ein Zeichen vorstellet, nicht gegenwärtig ist, noch von uns empfunden wird, haben wir nur den Begriff des Zeichens klar …”, dann meint er die sinnliche Wahrnehmung des Zeichens als Vorstellung und sonst nichts. (An dieser Stelle kann ich auf die Studien verweisen, die ich über Lambert vorgelegt habe.) Wie aber kommen unter diesen Voraussetzungen die Reflexionsbegriffe, die Abstraktionen, die Intentionen, die begriffenen Relationen, die Arten und Gattungen zustande? Lambert hat darauf, jedenfalls im l. Kap. der Semiotik, zwei Antworten. Die erste bezieht sich in wesentlicher Ausführung auf Zeichen allgemein. In § 17, nachdem er zuvor in den §§ 13 -15 auf die kommunikative Funktion der Zeichen eingegangen ist, schreibt er: “Da wir ferner weder immer die Dinge empfinden, an welche wir denken, und viele Abstracta nicht empfunden werden können, so füllet die Empfindung der Zeichen die meisten Lücken in unserem Denken aus, und besonders ist unsere allgemeine und abstracte Erkenntniß durchaus symbolisch, weil alles, was wir unmittelbar empfinden können, individual ist.” Schärfer und klarer kann der stellvertretende Charakter der Semiosis im individuellen Denken kaum formuliert werden. Es ist aber zugleich auch eine historische Interpretation über die Vorgeschichte der “cognitio symbolica”, wie sie Leibniz in seinen Meditationen der “cognitio intuitiva” gegenüberstellt. Die zweite Antwort betrifft den semantischen Aufbau der natürlichen Sprachen (§§ 18 -22), wie er sich im Ineinanderwirken mit reflexivem Denken herstellt. Ausgangspunkt sind und bleiben die unmittelbaren Empfindungen der sinnlichen Wahrnehmung. Sie schaffen erste Zeichenzuordnungen, und aus ihnen erwachsen im Vergleich ähnlicher Empfindungen erste Wortbedeutungen. In der semantischen Tektonik des Wortsystems einer Sprache kommt auf diese Weise eine erste, die bedeutungskonkreteste, Wortklasse zustande, die durch zwei weitere, bedeutungsabstraktere, überhöht wird. Für diese Bedeutungsschichtung ist Grundlage eine Ähnlichkeitsrelation, die wiederum in der Notwendigkeit des genannten Simulacra-Gebrauchs gründet: eine “Vergleichung der Intellectualwelt und Körperwelt” findet statt, wie es in § 18 und anderswo heißt. Man stößt hier auf eine der wichtigsten semiotisch-linguistischen Vorstellungen mindestens des 17. und 18. Jahrhunderts, nämlich auf die Konzeption einer durchgehenden Tropisierung der natürlichen Sprachen derart, daß die lexiko-semantischen Grundrelationen als dieselben angesehen werden wie die, die im üblicherweise zur Rhetorik zählenden Gebiet der Tropik vorausgesetzt Gerold Ungeheuer 178 werden. In meiner Untersuchung über den Begriff der Allusion bei Du Marsais konnte ich bei diesem Autor denselben Gedankengang nachweisen. Dieser wiederum verweist auf Vossius, den wohl bedeutendsten Rhetoriktheoretiker des 17. Jahrhunderts. Auf den aber geht Leibniz im Vorwort zu seiner Nizolius-Ausgabe ein, wo er über den “usus loquendi” ausführt: “Plerumque autem usus ex Origine tropo quodam ortus est, …”, dem er einige Sätze darauf die Formel “per canales Troporum” hinzufügt (GP, IV, 139 -140). Wenn Lambert in § 23 den semiotischen Hauptsatz dahingehend formuliert, daß die Zeichen dann wissenschaftlich “im engeren Verstande” sind, sobald “die Theorie der Sache und die Theorie ihrer Zeichen mit einander verwechselt werden können” (ein Satz, der häufig zitiert, aber nicht immer verstanden wird), dann spricht er nur auf seine Weise die Hoffnung aus, die schon immer an die Ars Characteristica geknüpft war. Als wichtigstes Inhaltsmoment behauptet dieser Satz, daß jede im wissenschaftlichen Zeichensystem, d.h. in der “Theorie der Zeichen”, zulässige Kombination oder Division von Zeichen in regulärer Interpretation über die Zeichenprimitive mit der Sicherheit eines Kalküls zu einem Satz in der Theorie der Sachen führt. Von dieser Art sind nun gerade die natürlichen Sprachen nicht (auch nicht andere Zeichensysteme); sie sind aber auch nicht völlig entfernt von diesem Konstruktionsprinzip: durch ihre Teilregularitäten besitzen sie Elemente, Aspekte und Teilstücke, welche die Bedingungen des semiotischen Hauptsatzes erfüllen. In seiner Semiotik setzt es sich Lambert nun gerade zur Aufgabe, genauer zu untersuchen, wie weit diese Kalkülkraft der natürlichen Sprachen und anderer Zeichensysteme reicht und wie diese zum Vorteil der Wahrheit verstärkt und verbessert werden könnte. So kommt er in der kurzen Betrachtung über die Notenschrift der Musik (§ 25) zu dem Ergebnis, daß sie zwar “einen merklichen Grad der Vollkommenheit” besitzt, ein Mangel jedoch darin besteht, daß in ihr “die Criteria der Harmonie” selbst nicht zum Ausdruck kommen, “weil Dissonanzen, falsche Gesänge und Sprünge, ebenso wie die wahren, gezeichnet werden können”. Und er schließt mit der Bemerkung: “Man ist daher dabey genöthigt, nach den Regeln der Composition das Gute und Harmonische zu wählen. Die Noten selbst geben es nicht an.” Auf dieses Problem der Zeichen-Explizitheit bezieht sich der erste Satz des folgenden Feuillet-Paragraphen (§ 26), in dem Lambert mitteilt (siehe Zitat), daß “von der Choreographie des Feuillet sich eben dieses sagen läßt”. Es geht also darum, daß tatsächlich und warum in einer Tanznotierung nach dem Feuilletschen System “die Zeichnung selbst verräth die Fehler, und nöthigt, sie zu vermeiden”. Den Grund hierfür findet Lambert in dem “Zusatze” bzw. in der “Bedingung”, daß jede notierte Erfindung eines neuen Tanzes in ihrer Zeichnung etwas sehr “Geometrisches” an sich hat, indem sie “durch die Größe, Zeit und Anzahl jeder Schritte mit dem Takte proportionirt werden muß”, usw. Zur Zeichen-Explizitheit dieses Systems gehört es auch, daß viele der komplexen Tanzfiguren bereits tabellarisch niedergelegt sind; daß dies in den Überlegungen Lamberts eine Rolle spielt, erkennt man aus dem Exkurs über die “Contredanses der Engländer”. In der Analyse Lamberts wird also deutlich das “uno obtutu”-Motiv sichtbar, das auch bei Wolff das primäre Thema war. Der letzte Satz des Feuillet-Paragraphen, der erläutert, daß die Zeichnung der Tänze deswegen “in einem viel einfacheren Verstande figürlich [ist] als die Zeichnung der Töne in der Musik vermittelst der Noten”, weil nämlich die Tänze selbst “Figuren und Bewegungen” sind, verweist auf den vorausgehenden § 9. Dort heißt es zu Anfang “Die Empfindungen, die am meisten in unserer Gewalt sind, sind die Bewegungen des Leibes, die Figuren oder Zeichnungen, und die artikulirten Töne.” Der Tanzmeister bei den Philosophen 179 Zu Beginn des letzten Drittels nimmt Lambert in diesem ersten Kapitel der Semiotik das Choreographie-Beispiel noch einmal auf. Das Problem, als dessen Lösungsdetail dies geschieht, wird in § 49 gesetzt. Der semiotische Hauptsatz wird dort in der Form behauptet, daß im strengen Sinne wissenschaftliche Zeichensysteme weniger “Willkührliches” mit sich führen als solche, die nur für “Abkürzungen” gebraucht werden. “Wir haben demnach zu sehen, wie ferne bey den wissenschaftlichen Zeichen etwas Willkührliches bleibe.” Lambert beginnt seine Untersuchung in § 50 mit der Unterscheidung von Zeichen, “wodurch eine Sache vorgestellet wird”, und “Nachahmungen” oder “bloßen Bildern einer Sache”. In § 51 kommt er dann generell auf “Abbildungen” zu sprechen, bei denen er die im engeren Sinne aus “Abschriften des Originals” bestehenden von den Sinnbildern, den in Worten beschriebenen Eigenschaften der gemeinten Sache, den Metaphern und sinnlichen Bildern “von abstracten Dingen” trennt. Die zuletzt genannten Abbildungen grenzen nun deswegen an die Zeichen, die er wissenschaftlich nennt, weil sie eine in Stufen variierte Ähnlichkeitsbeziehung voraussetzen, die er nun in den folgenden Paragraphen erörtert. Bezogen auf den letzten Satz des § 51 “Die Stufen der Aehnlichkeit sind nun folgende.” beginnt der § 52: “Einmal, wenn die Sache, so gezeichnet werden soll, selbst eine Figur, Bewegung, Rangordnung, Succeßion usw. ist, so hat man die Zeichnung nicht weit herzuholen. In der Choreographie läßt sich die Figur des Tanzes durch Linien, die Größe eines jeden Schrittes durch numerirte Punkte, die Art des Schrittes durch einfache Züge, welche die Stellung des Fußes, und überhaupt des Leibes, anzeigen, an sich vorstellen, weil die Bewegung linear, und bey dem Tanze alles Figur ist.” Hier hat man in Lamberts präziser Sprache, die Klopstock so bewundert hat, alle Bedingungen beisammen, aus denen diejenigen Eigenschaften der Feuilletschen Tanzschrift herrühren, welche die drei Philosophen, je nach ihrem Interesse in anderer Auswahl, analysiert und beschrieben haben. 5. Ergebnisse und Vergleiche Feuillets Tanzschrift ist selbst semiotisches Dokument der Jahrhundertwende; faßt man sie jedoch, wie vorgerührt den Zitierungen folgend, als heuristisches Vehikel, dann enthüllt sie Feinheiten semiotischer Theoriebildung, die man in der Literatur über das 18. Jahrhundert nicht leicht zu Gesicht bekommt. Die begrifflichen Unterschiede scheinen bei den drei behandelten Philosophen recht erheblich; andererseits fallen doch auch gemeinsame Züge ins Auge. In einer abschließenden Betrachtung sollen die Momente der Übereinstimmung und der differenzierenden Eigenständigkeit erörtert werden. Aus einer auch nur vorläufigen Kenntnis der Philosophie im Zeitalter der deutschen Aufklärung weiß man, daß Wolff und Lambert eng zusammengehören. Lambert selbst hat die Vorgängerschaft und den Einfluß Wolffs, wenn auch kritisch, immer anerkannt. Er kann aber nicht einfach, wie es von Verehrern Kants oft geschieht, als Schüler Wolffs (der er ja auch in einem schulischen Sinne nie gewesen ist) abgeurteilt werden: seine Selbständigkeit im Denken ist unbezweifelbar. Leibniz-Wolff-Lambert ist eine Linie, die auf Kant zuläuft, ohne daß man die Zwischenglieder nur als Vorläufer Kants eingrenzen könnte. Hinter solchen Urteilen stände eine recht bekannte, mit illustren Namen abgedeckte, aber nichtsdestoweniger falsche Theorie der Philosophiegeschichte. Condillac steht in der anderen Tradition der französischen Aufklärung. Im nahen Umgang mit Rousseau und Diderot lebte er in jungen Jahren als “homme de lettres” in Paris (Le Roy, Gerold Ungeheuer 180 S. VIII), bevor er 1758 als Prinzenerzieher nach Parma ging. Er bezog Position in den gelehrten Auseinandersetzungen der französischen Kulturwelt (und dies bedeutet vor allem: der Pariser Intellektualität); intensiv beschäftigte er sich aber auch, wie sein “Traité des Systêmes” (1749) ausweist, mit den Großen des vergangenen Jahrhunderts; fasziniert aber war er von den Gedanken Lockes, dessen Werke seit langem in französischer Übersetzung vorlagen. Bei diesen doch sehr verschiedenen geistigen Entwicklungen und Lebensumständen der drei Philosophen darf man jedoch ihre Beziehung und gegenseitigen Kenntnisnahmen nicht vergessen. Daß Lambert immer wieder auf Wolff eingeht, wurde schon erwähnt. Ob Lambert auch Condillac kannte, ist völlig ungewiß. Ich habe ihn weder in den gedruckten Werken noch im handschriftlichen Nachlaß (Universitätsbibliothek Basel) erwähnt gefunden; nach meinen Nachforschungen enthält auch das alte, von Lambert begonnene Bücherverzeichnis der Hausbibliothek des Grafen von Salis in Chur, bei dem er von 1748 bis 1756 als Hofmeister angestellt war und in dessen Haus er sich als Gast bis 1764 immer wieder aufhielt (er schrieb dort das Manuskript des Neuen Organon), kein Wort von Condillac. Andererseits glaube ich in vielen Gedanken Lamberts eine Kenntnis Condillacs voraussetzen zu müssen, was angesichts der Tatsache, daß Lambert neben Wolff auch Locke berücksichtigt, ja gar nicht so unplausibel ist. Auch kennt Lambert, wie ich an anderer Stelle (“Lambert in Klopstocks ‘Gelehrtenrepublik’”) gezeigt habe, die französische Tradition der “grammaire générale et raisonnée”. Wolff gilt Condillac als Schüler von Leibniz, “le plus célèbre des ses disciples”, wie er im “Traité des Systêmes” (Ch. VIII) schreibt. Aber schon im Essai wird Wolff erwähnt; im § 27 der 4. Sektion des ersten Teiles geht Condillac auf den § 461 der Psychologia Rationalis ein (woraus man vielleicht schließen kann, daß er auch die Psychologia Empirica kannte). Es heißt dort: “M. Wolff remarque qu’il est bien difficile que la raison ait quelque exercice dans un homme qui n’a pas l’usage des signes d’institution. II en donne pour exemple les deux faites que je viens de rapporter, mais il ne les explique pas. D’ailleurs il n’a point connu l’absolue nécessité des signes, non plus que la manière dont ils concourent aux progrès des opérations de l’ame.” Der § 461 der Psychologia Rationalis ist ein langer Paragraph von fünfeinhalb Seiten. Der Hauptsatz lautet: “Usu sermonis faciliatur atque amplificatur usus rationis: absque sermonis usu rationis usus vix conceditur.” In den Ausführungen Wolffs ist nun tatsächlich nichts zu finden, das der “l’absolue nécessité des signes” Condillacs gleichkäme. Immerhin ist auch die Wolffsche Formulierung “… vix conceditur” radikal, wie Leibniz schon in den Meditationes radikal formulierte: “imo fere ubique”. Condillac erörtert nicht (er erkennt vielleicht auch nicht), warum für Wolff die eingestandene hohe Wirksamkeit der Zeichen bei der Herausbildung der höheren Erkenntniskräfte das Äußerste war, was zugestanden werden konnte, weil nämlich “cognitio symbolica” und “intuitiva” korrelativ zu berücksichtigen waren, womit Condillac nicht im geringsten belastet war. Für ihn war Wolff ein Philosoph der “métaphysique ambitieuse” (Essai, Intr.); dieser aber konnte doch zu einer Erkenntnis finden, der auch Condillac hätte zustimmen können: “Facultates superiores quasi sepultae sunt, ut ne vestigium quidem ipsarum appareat, quamdiu nisi per commercium cum hominibus aliis excitentur.” (Psych. Rat. § 461, Erläuterungen, l. Satz). Hinsichtlich der Feuilletschen Zeichen stimmen die Autoren in drei Punkten überein: 1. Die sinnliche Wahrnehmung eines Feuilletschen Komplexzeichens, mit dem ein Tanz notiert ist, gibt auf einen Blick Einsicht in die Struktur des komponierten Tanzes. Der Tanzmeister bei den Philosophen 181 2. Mit Feuilletschen Zeichen werden deutlich Kenntnisse (“notiones distinctae”) dargestellt. 3. Es besteht ein Gegensatz zu den arbiträren Zeichen der natürlichen Sprachen. Die Überschaubarkeit des Bezeichneten “auf einen Blick” wird am deutlichsten von Wolff herausgearbeitet: “uno obtutu”. Das Wort “obtutus” kommt im 17. und 18. Jahrhundert selten vor; Dascal (1978, S. 161) erwähnt “uno obtutu”-Vorkommen bei Leibniz in demselben Sinne, wie es Wolff gebraucht. Einige Male wird das Wort in der Panaugia des Comenius verwendet; genau viermal findet man es in den lateinischen Dissertationen von Kant, davon einmal im Wolffschen Sinne in “De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis” (siehe: Allgemeiner Kant-Index). Dahinter steht natürlich eine bestimmte Konzeption der intuitiven Erkenntnis, die in den Meditationes von Leibniz im kulminierenden “simul” ausgedrückt ist. Wollte man die Entwicklung genauer herausbringen, dann wäre vor allem auf die lange Geschichte der visuellen Metaphern in der Philosophie zu achten, vom “Spiegel” bis zum “Auge des Geistes”. Nach meinem bisherigen Überblick aber scheint die Hauptquelle Spinoza zu sein, der bereits zu Beginn seiner Principia Philosophiae schreibt “…, quae uno obtutu tanquam in pictura videri debent, …” (Pars prima, Prol., erster Abschn.) und der diese Formel dann auch in seinem Brief an Leibniz vom 9. Nov. 1671 (Epist. LII) wiederholt: “…, quando plurima obiecta uno obtutu comprehendere volumus, …”. Dieses intuitive Moment kommt bei Lambert dadurch heraus, daß bei ihm hervorgehoben ist, wie in Feuilletschen Zeichensystemen Fehler direkt sichtbar werden: die Reduktion symbolischer Erkenntnis auf intuitive ist in diesem Punkte durch die Art der Zeichen gewährleistet. Der zusammenfassende Blick auf das Bezeichnete, der durch Feuillet-Zeichen möglich wird, ist in dem analysierten Textstück mit zugehörigem Kontext bei Condillac nur sehr implizit, aber doch auffindbar vorhanden. Um dies einzusehen, ist der beste Ansatz sicherlich ein Verständnis der Zeichentheorie im ersten Teil des Essai, in der die Imagination, gespeist von den sinnlichen Wahrnehmungen, die eigentliche Zeichengeberin ist. Daß durch Feuillet-Zeichen deutliche Kenntnisse dargestellt und übermittelt werden können, sagt Wolff explizit, und bei Lambert und Condillac ist dieser Sachverhalt wesentlicher Bestandteil ihrer Semiotik. Für Wolff und Lambert steht die “notio distincta” unter jeweils eigenen Abwandlungen in der Nachfolge der Erkenntnisstufen, die Leibniz 1684 in seinen “Meditationes de cognitione, veritate et ideis” beschrieben hat, und sie kann nur von daher verstanden werden. Für “deutlich” oder “distinkt” stehen Condillac zwei Wörter zur Verfügung. Bezüglich der allgemeinen Funktion der Zeichen für die menschlichen Erkenntnisleistungen spricht er von “les notions exactes”: z.B. (Essai; I.IV.1. § 9) “… et que nos notions ne sont exactes qu’autant que nous avons inventé avec ordre les signes qui doivent les fixer.” Das andere Wort ist jenes bereits analysierte “apprécier”, das er im Zusammenhang mit der Tanzschrift, aber auch an späteren Stellen verwendet. Zugeschnitten auf diese engere Bedeutung, d.h. als Terminus, hat Condillac das Wort schon bei Rameau vorgefunden, der es auch in einem allgemeinen wahrnehmungsanalytischen Sinne verwendet hat. In dem Traktat “Génération harmonique, ou Traité de Musique théorique et pratique” (1737) lautet die “Premiere Proposition” des l. Kapitels (S. 2): “Ne connoissant point la nature de notre Ame, nous ne pouvons apprétier les rapports que se trouvent entre les différens sentimens dont nous sommes affectés: cependant lorsqu’il s’agit des Sons, nous supposons qu’ils ont entr’eux les mêmes rapports qu’ont entr’elles les causes que les produisent.” Der zweite Teil des Satzes enthält eine Überlegung, die man auch bei älteren Autoren findet; in den semiotisch einschlägigen Meditationen (“cognitio symbolica”) von Leibniz ist sie im Gerold Ungeheuer 182 zweiten Abschnitt mit der Formel “…, quippe cum causas suas habeant.” an der Stelle wiedergegeben, wo die konfuse Erkenntnis bestimmt wird. Dem “apprétier” entspricht dort “agnoscere”, das kein “discernere” enthält. Unter den Ursachen des Schalls oder der Töne versteht Rameau die physikalischen Vorgänge in den “Corps sonores” und das Verhältnis zwischen einfachen Tönen, die durch systematische und proportionierte Veränderungen der Schallkörper hervorgerufen werden. Natürlich spielen dabei die bekannten Verhältnisse der kleinsten ganzen Zahlen eine wesentliche Rolle, die er aber neu zusammenfaßt und mit deren Kenntnis er in genauer Beobachtung beinahe bis zu einer Zerlegung komplexer Klänge (die Fourier-Analyse ist noch weit entfernt) in elementare vorstößt. In Rameaus Werk ist jedenfalls die gesamte Argumentation von Condillac vorgebildet. In der “XI. Proposition” (S. 7) heißt es beispielsweise: “II y a des Sons qui, relativement aux bornes de nos sens, ne peuvent plus être apprétiés par l’Oreille, soit parce qu’ils sont trop graves, soit parce qu’ils sont trop aigus.” Und auf S. 23 spricht Rameau von der Möglichkeit, mit Hilfe künstlicher Mittel (das bezieht sich auf seine Beobachtungen und einfachen Experimente) die Bestimmbarkeit eines Tones zu erleichtern, der von sich aus unbestimmbar ist: “…; puisque le moïen artificiel dont on se sert pour faciliter l’apprétiation d’un Son inapprétiable par lui-même, …” (man findet weitere Verwendungen des Terminus auf den Seiten 10, 11/ 12, 16, 25, 53, 59). Der Fundamentalbaß aber ist, wie es im ersten Satz des Vorworts heißt, “l’unique Boussole de l’Oreille”. Es bedarf auch nur geringer semantischer Anstrengungen, um zu erkennen, daß “apprétier” “sentir” spezifiziert, was dann durch “distinguer” überhöht werden kann: die traditionellen Unterscheidungen der Wahrnehmungstheorie. Was nun die Differenz zu den ausdrücklich so bezeichneten arbiträren Zeichen der natürlichen Sprachen angeht, so ist dieses Moment bei Wolff und Lambert explizit gemacht und wurde auch in den ihnen gewidmeten Kapiteln dargestellt. Bei Condillac ist die Sache wegen seiner recht impliziten Erwähnung Feuillets weniger klar. Doch scheint er den Feuillet-Zeichen deswegen einen von den Sprachzeichen unterschiedlichen Status zu geben, weil diese eben gerade nicht, wie die sprachlichen Zeichen, der Präzisierung des Gemeinten dienen, sondern (nur) bereits Präzisiertes in einem Erfindungsakt der Imagination mit Zeichen versehen, welche anderen Vorteile man aus solchen Bezeichnungen immer auch zu ziehen vermag. An dieser Stelle wäre es angenehm, wenn man auf eine kritische Darstellung der gesamten semiotischen Erkenntnistheorie Condillacs verweisen könnte. Eine solche gibt es aber leider noch nicht (auch wenn viel über Condillac gesprochen wird), und eigene Untersuchungen verbieten sich natürlich in dieser Schlußbemerkung. Immerhin kann man auf die ausgezeichneten Veröffentlichungen von Aarsleff verweisen, in denen mit Sachkenntnis Teile des Ganzen erörtert werden. Abschließend kann noch bemerkt werden, daß auch Sulzers “Allgemeine Theorie der schönen Künste” (1771-74) ein Stichwort “Choregraphie” enthält, dessen zugehöriger Text anderthalb Spalten füllt. Das meiste darin ist, ohne daß es angemerkt wird, dem Feuilletschen Buch entnommen, dessen Titel in einer Fußnote erscheint. Zum semiotischen Problem sagt Sulzer, der Freund Lamberts, nichts; dafür berichtet er am Schluß die Skandalgeschichte: “Dieser Tanzmeister eignet sich die ganze Erfindung derselben zu: andre aber geben ihm Schuld, er habe die Sache dem berühmten Tanzmeister Beauchamps durch einen gelehrten Diebstahl entwendet.” - O Tempora! O Mores! Der Tanzmeister bei den Philosophen 183 Literaturverzeichnis Aarsleff, H.: The study of language in England 1780 -1860, Princeton 1967. Aarsleff, H.: The tradition of Condillac: origin of language in the eighteenth Century and the debate in the Berlin Academy before Herder; in: Hymes (1974). Aarsleff, H.: Condillac’s speechless Statue; Studia Leibnitiana Suppl. XV (1975) (Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses 1972), 287-302. Aarsleff, H.: The eighteenth Century, including Leibniz; in: Current trends in linguistics; Vol. 13, 383 - 479; 1975. Abercrombie, D.: Studies in phonetics and linguistics; Steele, Monboddo and Garrick. London 1951. I. A. Comenii de Rerum Humanarum Emendatione Consultatio Catholica, editio princeps, Academia Scientiarum Bohemoslovaca MCMLXVI; pars secunda: Panaugia. Condillac: Oeuvres philosophiques; ed. G. Le Roy (Auteurs Modernes, t. XXXIII), Paris 1947-1951. Dascal, M.: La sémiologie de Leibniz, Paris 1978. 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Weigel, V.: Der güldene Griff / Alle Ding ohne Inthumb zu erkennen / vielen Hochgelährten unbekandt / und doch allen Menschen nothwendig zu wissen.: Halle 1613. Erika Fischer-Lichte / Christian Horn / Sandra Umathum / Matthias Warstat (Hrsg.) Ritualität und Grenze Theatralität 5, 2003, 464 Seiten, zahlr. Abb., € 54,-/ SFr 92,- ISBN 3-7720-8013-8 „Ritualität und Grenze“, der fünfte Band der Reihe Theatralität, diskutiert Rituale in Kunst, Politik, Alltag und Wissenschaft. Im Mittelpunkt steht die rituelle Dimension theatraler Ereignisse. Im Hinblick auf Debatten um ein performatives Kulturverständnis behandeln die Untersuchungen zentrale Fragestellungen: Auf welche Weise können kulturelle Aufführungen rituellen Charakter annehmen und individuelle wie kollektive Transformationen ermöglichen? Inwieweit ergibt sich die Wirksamkeit von Ritualen aus ihrem Status als Aufführungen? In welchem Verhältnis stehen dabei Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung? Der Band umfasst Arbeiten aus nahezu allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Mit einem breiten, interdisziplinären Ansatz wird das Anliegen der Reihe fortgesetzt, Theatralität als kulturelles Modell zur Analyse vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeiten fruchtbar zu machen. Theaterwissenschaft A. Francke Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen www.francke.de · E-Mail: info@francke.de ‘Er tanzte nur einen Winter’ Versfußbewegung vor/ nach der Schlacht am Weißen Berg Nicola Kaminski S ERENUS . Der Vers hat schrecklich viel Füsse. P ETER S QUENTZ . So kan er desto besser gehen. Andreas Gryphius, Absurda Comica Oder Herr Peter Squentz Die Sylben kurtz und lang gleich auff einander lauffen/ Jambi Die kurtzen zwiefach sich zusammen nimmer hauffen/ Dactili Ludwig von Anhalt-Köthen, Wenige anleitung zue der Deutzschen Reim-kunst In den Teutschen Poemata des Martin Opitz, herausgekommen in Straßburg im Jahr 1624, findet man - an durchaus nicht exponierter Stelle - unter dem Titel An den Cupidinem das folgende Gedicht: O Du Gott der süssen Schmertzen/ Warumb daß man dich so blindt Vberal gemahlet findt? Es geht schwer ein meinem Hertzen/ Nun du seyest ohn Gesicht/ Jch kans aber glauben nicht. Sichstu nicht/ wie kanstu wissen/ Wo dein Pfeil hinfliegen soll? Blinde sehen sonst nicht wohl/ Du kanst fein gerade schiessen/ Nun du seyest/ etc. Die in Püschen vmbher ziehen/ Die in wüsten Wäldern sein/ Können doch der Liebes-Pein/ Vnd den Pfeilen nit entfliehen/ Nun du seyest/ etc. Die das weite Meer durchjagen/ Müssen fühlen deine stärck/ Jst das blinder Leuthe Werck? Soll ich recht die Warheit sagen; Nun 1 du/ etc. Gingstu nicht die enge Strassen Jn das Himmlische Gebew/ Gantz allein ohn alle schew/ Dörfftest Jovem auch anfassen? Nun du/ etc. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Nicola Kaminski 186 ´ ´ Kontest du nicht Pluto finden Jn der tieffen Höllen Schlundt/ Jn dem finsteren Abgrundt/ Jhn zuschiessen dich erwinden? Nun du seyest/ etc. Du wilt keine Klage wissen/ Auch von denen/ die durch dich Seind verwundet jnniglich/ Thust all jhre Klag außschlissen/ Blindt bistu wol nicht: Jch glaub Daß du seyst gewaltig taub. 2 Liest man diesen Text aus der gewohnten Retrospektive, von der längst ins kollektive rhythmische Empfinden übergegangenen metrischen Gesetzgebung des Buches von der Deutschen Poeterey im gleichen Jahr 1624 her, so stellen sich mit großer Selbstverständlichkeit trochäisch alternierende, akzentuierende Verse ein: “Ó Du Gótt der sü ssen Schmértzen/ | Wárumb dáß man dích so blíndt” usw. Nun ist dem Opitzschen Gedicht aber unter der Titelzeile auch noch eine Melodieangabe beigefügt: “Auff die Courante: Si c’est pour mon pucelage”. 3 Damit betritt ein konkurrierendes metrisches Paradigma den poetischen Plan, denn die Courante, beliebtester französischer Hoftanz des 17. Jahrhunderts, 4 wird von Anfang an ungeradtaktig notiert und, so schreibt 1612 Michael Praetorius im Vorwort der Tanzsammlung Terpsichore, “auff einen gar geschwinden Tact mensuriret”, ja in der tänzerischen Ausführung gar “gesprungen”. 5 Entsprechend ist auch die von Opitz namhaft gemachte Courante Si c’est pour mon pucelage, die sich unter der Bezeichnung “Air de Court” im 1603 erschienenen Thesaurus harmonicus des Jean-Baptiste Besard findet, im 3 / 2 -Takt notiert. 6 Für das Gedicht An den Cupidinem ergäbe sich unter diesen ‘tänzerischen’ Vorzeichen demnach eine ganz andere Prosodie in “Springereimen”, 7 daktylischen Maßen, wie sie sich nach der strengen Alternationsvorschrift des Buches von der Deutschen Poeterey freilich von vornherein zu verbieten scheint: 8 Ó Du Gott dér süssen Schmértzèn/ Wárumb daß mán dich so blíndt Vberal gémahlet fíndt? És geht schwer eín meinem Hértzèn/ Nún du seyést ohn Gesícht/ Jch kans abér glauben nícht. “Hilff Gott das sind treffliche Vers”, möchte man mit dem Prinzen Serenus aus Gryphius’ Schimpfspiel Herr Peter Squentz ausrufen. 9 Denn wiewohl sie nicht eben “nach Art der alten Pritschmeister Reymen” 10 klingen, sträubt sich vorderhand doch alles gegen einen derartigen Vortrag, wie er durch die Annoncierung des Gedichts als ‘auff eine Courante’ zu singendes Tanzlied geboten scheint. Im folgenden soll Opitz’ Text keiner Gedichtinterpretation unterzogen werden; vielmehr möchte ich ihn, ausgehend von dem soeben skizzierten widersprüchlichen Befund, zum Ort einer symptomatischen Lektüre machen, an dem sich ein grundlegender poetologischer Paradigmenwechsel abzeichnet. Sichtbar werden soll in doppelter Perspektivierung ein metrisches Vexierbild, welches, gespiegelt an der Opitzschen Versreform, das Davor und das Danach im Blick des Lesers archiviert - jenes im Zeichen der Courante, des gesprungenen französischen “dance for the kings”, 11 dieses im Zeichen der oranischen Heeresreform, mit der auch eine (freilich ganz anders geartete) Tanzbewegung korreliert, der Marsch. Die diskursive Zäsur aber, die den Liedtext metrisch umspringen läßt, ist aufs Jahr, ‘Er tanzte nur einen Winter’ 187 ja auf den Tag genau zu datieren: auf den 8. November 1620 nämlich, die vernichtende Niederlage Friedrichs V., des nachmaligen ‘Winterkönigs’, in der Schlacht am Weißen Berg. Drei diskursive Felder sind folglich aufgerufen, von denen her Opitz’ Lied lesbar zu machen ist und die in der nachfolgenden Darstellung ihrerseits in einer Art Reigen intermittierend um den Text konstelliert werden sollen: ein poetikgeschichtliches, ein kultursemiotisches (Codierungen von ‘Tanz’) und ein militärgeschichtliches. Eröffnen soll den Reigen - nicht nur weil für Versreform und Tanz ein erster Lektürehorizont bereits angedeutet ist, sondern weil ihm diskursgeschichtlich tatsächlich der Stellenwert eines ‘Auftakts’ zukommt - der Krieg. Oder eigentlich zunächst seine Vorgeschichte: eine dynastische Hochzeit, somit ein Ereignis von staatspolitischer Relevanz, das in die Zuständigkeit eines durchaus nicht blinden Cupido fällt. Krieg - vor/ nach 1620 Als am 14. Februar 1613 in der königlichen Kapelle in Whitehall der pfälzische Kurfürst Friedrich V. und die englische Prinzessin Elisabeth, Tochter von König Jakob I., vermählt wurden, da unterlag dieser Heirat ein eminent politischer Subtext: “the ideological subtext of alliances for autonomy”. 12 Friedrich stand als erster Kurfürst im Reich an der Spitze der 1608 gegründeten protestantischen Union, unterhielt enge Beziehungen zu den französischen Hugenotten, hatte über seine Mutter Verwandtschaft in die niederländische Republik - keine schlechte Partie, selbst für eine Königstochter. Umgekehrt versprach jene englische Königstochter den politischen Projektemachern in der Pfalz (so jedenfalls glaubte man diese Allianz pfälzischerseits verstanden zu haben) die ganze finanzielle und militärische Macht ihres Vaters, sollte es mit dem Kaiser zum Bruch kommen. Entsprechend wurde in London wie in Heidelberg diese Verbindung als Hochzeit von Themse und Rhein gefeiert - poetisch, theatralisch, in Ballettvorstellungen. Denn als Friedrich im Herbst 1613 nach Heidelberg zurückkehrte, wurde die Heimführung der Braut kaum minder prachtvoll inszeniert als im England eines Shakespeare, John Donne, Inigo Jones. 13 In der Folgezeit verwandelte man den Heidelberger Hof in ein Spiegelbild der Londoner Hofhaltung, holte französische Gartenarchitektur und englische Fest-, Theater- und Tanzkultur in die Pfalz, ja die neue Kurfürstin hielt sich sogar eine eigene englische Schauspieltruppe, “The Queen’s Men”. Gleichzeitig arbeitete man in Heidelberg planvoll - und verstärkt, seit man einen so mächtigen Verbündeten auf seiner Seite wußte - auf die entscheidende Auseinandersetzung mit Habsburg hin, mit dem Ziel eines unabhängigen Gegen-Reiches, vielleicht gar eines protestantischen Kaisers. Da kam die dem pfälzischen Kurfürsten im Sommer 1619 angetragene böhmische Königswürde eben recht. Die Entscheidung aber fand fast genau ein Jahr nach Friedrichs Krönung zum König von Böhmen statt, eben an jenem 8. November 1620 am Weißen Berg nahe Prag: eine militärhistorisch wenig bedeutende, kaum zwei Stunden währende Schlacht, 14 in der die böhmischen Truppen schon bald haltlos die Flucht ergriffen und mit ihrer panischen Rückzugsbewegung kurz darauf auch die königliche Familie und den gesamten Prager Hof ansteckten. Bedeutsam hingegen ist diese Schlacht in symbolischer Hinsicht: als vorläufiger Schlußstrich unter die pfälzisch-böhmische Bewegung, die politische Utopie eines von Habsburg unabhängigen protestantischen ‘Deutschland’. Versagt hatte vor allem die pfälzische Allianzpolitik. Hatte man sich doch zum einen in den internationalen Alliierten, besonders England, getäuscht, die weder finanziell noch militärisch halfen, als es in Böhmen kriegerischer Ernst wurde, zum anderen aber hatte man die innerprotestantische Uneinigkeit Nicola Kaminski 188 unterschätzt, nicht damit gerechnet, daß die Lutheraner einen calvinistischen König von Böhmen (Union hin oder her) kaisertreu im Stich lassen würden. Aus war es aber natürlich auch mit der königlichen Heidelberger Hofhaltung, mit den Festen, Tänzen, Theateraufführungen. Die Pfalz wurde von spanischen Truppen verwüstet, die berühmte Bibliotheca Palatina in den Vatikan entführt, und der ‘Winterkönig’ blieb, seiner Kurwürde entledigt, zeitlebens im Exil. Poeterey - vor/ um 1620 In jenes im Zeichen der englisch-pfälzischen Hochzeit politisch und kulturell aufblühende Heidelberg, das Heidelberg v o r der Katastrophe, kommt 1619 auch der junge Opitz - mit Empfehlungsschreiben und sogar einer ersten Sammlung seiner poetischen Früchte 15 ebenso wohlversehen wie durch das geistige Klima des in kryptocalvinistischem Geist geleiteten Beuthener Gymnasiums mental vorbereitet. 16 Schon bald gehört er dem politisch engagierten intellektuellen Zirkel um Georg Michael Lingelsheim und Julius Wilhelm Zincgref an und huldigt Anfang 1620 dem neugewählten König in einer lateinischen Oratio ad Serenissimum ac Potentissimum Principem Fridericum Regem Bohemiae. Vor allem aber entstehen in dieser Heidelberger Atmosphäre bis längstens Anfang Oktober 1620, 17 als Opitz die Pfalz angesichts der anrückenden spanischen Truppen fluchtartig in Richtung Niederlande verläßt, seine Teutschen Poemata, darunter auch das auf die Courante Si c’est pour mon pucelage zu singende Lied An den Cupidinem. Als bereits zur Publikation vorbereitetes Konvolut verbleiben sie in der Obhut Zincgrefs, gelangen jedoch aufgrund der Kriegswirren, der Belagerung und Besetzung Heidelbergs 1622 und Zincgrefs schwieriger persönlicher Situation ohne Anstellung und dauerhaften Wohnsitz erst 1624 zum Druck. Daß diese Ausgabe sich in unmittelbarer Tuchfühlung mit der aktuellen Entwicklung auf dem Feld der “Heidelberg politics” situiert, 18 zeigt die Vorrede des Herausgebers Zincgref 19 ebenso an wie Opitz’ Elegie Vber des Hochgelehrten vnd weitberümbten Danielis Heinsij Niderländische Poemata. 20 Am deutlichsten aber räumt das pointiert an den Schluß der Opitzschen Gedichte gestellte Gebet/ daß Gott die Spanier widerumb vom Rheinstrom wolle treiben. 1620 21 als (lokal wie zeitlich) ‘letztes Wort’ jeden Zweifel über den politischen Standpunkt seines lyrischen Sprechers aus. Tanz - vor 1620 Im März 1616 wird am Stuttgarter Hof - in Anwesenheit beinahe der gesamten protestantischen Union - “fürstliche kindtauf” gefeiert. Für die noch im selben Jahr unter dem Titel Triumf erscheinende Festbeschreibung 22 ebenso wie für die Festchoreographie zeichnet als Autor Georg Rodolf Weckherlin verantwortlich. Den politischen Subtext aber (tatsächlich geht es nämlich mitnichten um den Täufling) stiftet gleich mit dem ersten Satz jener “herrliche triumf”, den “vor wenig jahren” des “reichs erster Churfürst/ zu ehren seiner damahl ankommenden königlichen gemahlin/ in seiner weitbekanten stat Haydelberg gehalten” 23 - die kurfürstliche Hochzeit 1613 im Zeichen einer politics of alliance. Kaum nötig zu erwähnen, daß Friedrich und Elisabeth den Feierlichkeiten als Ehrengäste und Taufpaten beiwohnen (selbstverständlich wird das “junge printzlin” denn auch “Friderich genant” 24 ), ja daß Weckherlin seine Festbeschreibung für die des Deutschen nicht mächtige Prinzessin eigens ‘Er tanzte nur einen Winter’ 189 Abb. 1: Esaias van Hulsen: Repræsentatio der Fvrstlichen Avfzvg vnd Ritterspil. So der Dvrchlevchtig Hochgeborn Fvrst vnd Herr, Herr Johan Friderich Hertzog zu Württemberg, vnd Teeckh […] beÿ […] Fürstlicher kindtauffen, denn 10. biß auff denn 17 Martij, Anno 1616. […] gehalten, zweiter Kupferstich, unpaginiert (Exemplar der UB Tübingen). ins Englische übersetzt. 25 Den ersten Abend aber beschließt eine aufwendige Tanz-performance im neuen Lusthaus des Stuttgarter Schlosses (Abb. 1), welche die pfälzische Allianzpolitik zunächst in choreographische, dann in poetische Textur transformiert und daraus im Zeichen des Tanzes eine poetics of alliance gewinnt. Zuerst, so beschreibt das dritte Kapitel des Triumf (“Von dem balleth”), wird “das gehör mit einer/ nicht weniger lieblichen/ dan seltzamen music eingenommen”, sodann sieht man vnversehens […] eine thür eröfnen/ dardurch vier sehr grosse/ doch auch wolgebildete häupter/ je eines nach dem andern/ eingiengen/ vnd war ein jedes so groß/ das sich sechs personen darinnen vnverhinderlich verhalten/ vnd damit spacieren konten. Jn dem ersten waren drey gegen Nidergang; in dem andern drey gegen Mitnacht; in dem dritten drey gegen Aufgang; vnd in dem letzten (welches ein Mohr) so vil gegen Mittag ligende nationen. Nach dem nun dise köpf vor allen zusehern zweymahl herumb vnd nu gerad gegen den Printzen über (denen sie/ naigende zumahl jhre wunderbarliche nasen gegen der erden/ ehr erzaigeten) sich neben einander gesetzet: hat jhre music aufgehöret/ vnd kam auß dem ersten kopf ein lautenist/ einem Engelländischen schifman gleich/ gantz roht angezogen/ welcher dem/ der dieselbige nation deutete/ zu dantz spihlete. Diser war gezieret wie sich die Engelländische herren/ vor vngefahrlich zwaintzig jahren klaideten. Sein hut weiß/ mit silber gestickt/ mit einer weissen feder/ vnd sonsten sein klaid ein weiß-silberin stuck. Er dantzte eine gaillard/ nach derselben lands-art. Als er nu nahe bey den fürsten war/ kam auß dem kopf ein wilder Schotländer mit seinem trommenschläger/ zu dessen straich er auf Schottisch dantzte. Vnd alsbald der Engelländer jhne zu sich nahen sahe/ fieng er an gegen jhm auf gleiche weiß zudantzen/ vnd verfügte sich diser auf eine/ jener auf die andere seiten/ in dem eben auß dem ersten kopf ein Jrrländischer harpfenist erschiene/ welchem ein Jrrländer nachdantzte/ vnd also die zween erste auch jhme gleich zu dantzen verursachte. Auß dem andern kopf zog ein Frantzösischer geiger/ zu dessen spihl ein Nicola Kaminski 190 Frantzoß in leibfarben atlas geklaidet eine curanten dantzete. Auf disen kam der Teutsche/ mit einem braiten bart vnd bareth/ in rohten dafetin außgezogenen wammes vnd hosen/ vnd mit ecklenschuhen/ hupfende nach seines pfeifers spihl vnd nach vnsers lands gebrauch. Ein Lappenländer mit einer rawen bärenhaut/ seines lands-art nach/ angezogen/ habend einen stab in der hand/ tummelte sich in seinem dantz/ welchen jhme ein anderer greulicher Lapponier mit einer posaunen bliesse. 26 Und so fort. Es folgen aus dem dritten Kopf ein spanischer Tänzer mit einem “pandorist[en]”, ein italienischer mit einem “Citharisten” und ein polnischer, dem ein “sackpfeifer” aufspielt; der vierte fördert einen Mohren mit einem Tamburinspieler, einen Türken mit einem “schalmeyer” und “endlich […] de[n] Jndianer” zutage, welcher auch nacket/ gemahlet/ mit einer von federn gemachten haubtzier/ vnd einem federn mantel (wie die Americaner gehen) herauß gerüstet/ sich nach dem thon/ welchen jhm sein spihlman mit einem sehr grossen horn aufspihlete/ ergötzte. Da er nu in der ailf vorher dantzenden nationen gesicht kam/ fiengen sie alle an/ jhm/ der sich ab jhrer vnderschidligkeit verwunderte/ nachzufolgen: vnd alsdan vnder jhnen einen all-gemeinen dantz (welchen jhre zwölf spihlleut zusamen stimmeten) gar wunderbarlich vnd artlich zuverrichten. 27 Unter den Augen der versammelten protestantischen Fürsten setzen weltumspannend zwölf Nationaltänzer aus allen vier Himmelsrichtungen ‘inter-nationale’ alliance in Szene. 28 Und die Spielregeln dieser tänzerischen Kettenreaktion werden in einer Art Tanzpoetik sogleich nachgereicht: Vnd ist zuwissen/ das je eine nation der andern dantz nachgefolget/ das also der Engelländer/ als der erste/ auf die jhme nachkommende ailf: der Schotländer auf zehen: der Jrrländer auf neun: der Frantzos auf acht: vnd gleicher weiß die übrige/ auf die jhnen volgende arten nach-gedantzet haben. Vnd dises war als der eingang zu dem rechten balleth/ welches eben dise nationen (deren jede sich in der andern zuspieglen pfleget) bald in spiegler verklaidet/ hierauf folgender gestalt verbrachten. 29 Die tanzpoetologischen Schlüsselbegriffe heißen ‘nach-dantzen’ und ‘sich spieglen’. Denn zwar bringen die nacheinander in Landestracht auftanzenden Nationen jeweils auch einen landestypischen National-Tanz zur Darstellung, doch ist der Tanzschritt ihnen nicht fest auf den Leib geschrieben. Vielmehr löst im fortwährend sich verändernden ‘Nach-dantz’ Nationalidentität als statisches Konzept sich auf, wird überführt in unabschließbare wechselseitige Spiegelung. Nur konsequent, daß die zwölf Tänzer sich denn auch buchstäblich in “spiegler” verwandeln. Bis hierhin ist das unter Weckherlins Regie gebotene Spektakel choreographische Umsetzung der pfälzischen Allianzpolitik; in einer nächsten Etappe aber wird diese performance getanzter Spiegelung und spiegelnden Tanzes umgemünzt in Poesie höchsten Kunstanspruchs. Überreicht wird nämlich nun - nachdem den Übergang ein zweistimmig zu einer “süsse[n] music” gesungenes, “den dantz erklärendes liedlein” gemacht hat 30 - “der Princessin/ […] wie auch dem Churfürsten/ den Fürstin/ Fräwlin/ vnd dan den andern fürsten/ grafen/ herren vnd adelichem frawenzimmer […] volgendes sonnet/ in Teutscher/ Engelländischer/ oder Frantzösischer sprach/ nach jhrem willen”: Die spiegelmacher an das Frawenzimmer. Nymfen/ deren anblick mit wunderbarem schein Kan vnser hertz zugleich hailen oder versehren; Vnd deren angesicht/ ein spiegel aller ehren/ Vns erfüllet mit forcht/ mit hofnung/ lust/ vnd pein: ‘Er tanzte nur einen Winter’ 191 Wir bringen vnsern kram von spiegeln klar vnd rein/ Mit bit/ jhr wollet euch zuspieglen nicht beschweren: Die spiegel/ welche vns ewere schönheit lehren/ Lehren euch auch zumahl barmhertziger zusein. So gelieb es euch nun/ mit lieblichen anblicken Erleuchtend gnädiglich vnsern leuchtenden dantz/ Vnd spieglend euch in vns/ vns spiegler zu erquicken: Wan aber vngefehr ewerer augen glantz Vns gar entfreyhen solt/ so wollet vns zugeben/ Das wir in ewerm dienst fürhin stehts mögen leben. 31 Daß die Festgesellschaft sich nicht länger auf dem Boden des Stuttgarter Lusthauses bewegt, sondern programmatisch auf der Tanzfläche der Poesie und somit im Ressort des Poeten Weckherlin, signalisiert die Textualität dieses ersten deutschsprachigen Sonetts, 32 das ausdrücklich als “schrift verlesen” 33 wird. Konzeptionell hingegen bleibt diese voropitzische ‘deutsche Poeterey’ der getanzten politics of alliance aufs entschiedenste verpflichtet. Anders nämlich, als acht Jahre später in Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey kodifiziert, weist das Sonett der “spiegelmacher” keine alternierend akzentuierende Prosodie vor, vielmehr romanisch-silbenzählende Verse bei freier Betonung - versifikatorisch um 1616 der dernier cri. 34 Für das Reimschema dagegen hat - ungeachtet des ‘romanischen’ Druckbildes - nicht die romanische Sonettform mit ihrer Gliederung in zwei Quartette und zwei Terzette Modell gestanden, sondern die englische Spielart, das sogenannte Shakespeare-Sonett, bestehend aus drei Quartetten und abschließendem Reimpaar. 35 Kein Wunder, möchte man denken, immerhin hat der junge Weckherlin mehrere Jahre in England verbracht. Doch die Sache liegt komplexer. Denn in der für die pfälzische Kurfürstin angefertigten englischen Übersetzung des Triumf folgt das nun englische Sonett T HE L OOKING -G LASSE -M AKERS TO THE L ADIES 36 gerade nicht der englischen Coupletform, sondern hat in romanischer Manier zwei Terzette. Im Licht des vorausgegangenen Nationen-Balletts wird diese polyglotte Inszenierung lesbar als europäischer ‘Wechselsatz’, der die verschiedenen poetologischen Traditionen kombinatorisch verschränkt, ‘alliiert’: ein deutsches Poem in französisch gebauten Alexandrinern, die sich zu einem Sonett nach englischem Vorbild zusammenreimen - ein englisches Gedicht aus gleichfalls französischen Alexandrinern, zusammengefügt zu einem Sonett italienischer Bauart - ein ‘frantzösisches’, das der Neugier des Lesers vorenthalten bleibt, seiner Phantasie jedoch nach Vorgabe des (selbstverständlich) “eine curanten dantze[nden]” und dann (durchaus nicht selbstverständlich) dem Deutschen ‘nachdantzenden’ Franzosen 37 jeden nur erdenklichen Spielraum läßt. Damit aber wird Weckherlins performance deutscher Wörter, die in romanisch-alexandrinischem ‘Tanzschritt’ und in englischer ‘Formation’ das sonettistische Parkett betreten, der pfälzischen Allianzpolitik buchstäblich zum poetischen Spiegel, ihr Autor zum ‘Spiegelmacher’ höherer Ordnung. Und umgekehrt zeichnen die ursprünglich national codierten, im ‘Nachdantz’ jedoch spiegelnd zu ‘inter-nationalen’ Allianzen transformierten Fußbewegungen des Balletts der englisch-französischen Versfußbewegung des deutschen Gedichts exakt den Schritt vor. Exemplarisch vorgeführt wird diese wechselseitige Spiegelung von politics of alliance und poetics of alliance an den zwölf Tänzern selbst. Zunächst Repräsentanten von zwölf Nationen, die die ‘Inter-nationalität’ der Welt und deren universelle Allianzfähigkeit zur Anschauung bringen, dann jene geheimnisvollen “spiegelmacher”, in welcher Eigenschaft sie das von poetischer Allianz zeugende Sonett verantworten, werden sie am Ende nicht nur selbst auf ihre politische Identität Nicola Kaminski 192 transparent, sondern beginnen auch tanzend zu schreiben. “Dise dantzende spiegler/ die alle von des Wirtembergischen hofes Fürsten vnd riterschaft wahren”, damit schließt das Kapitel, schriben außtruckenlich durch jhres dantzes figuren/ jhrer Churf. Gn. Gn. (denen zu sonderlichen ehren alles beschahe) zween namen E LJSABETH vnd F RJDERJCH / vnd vollendeten zumahl jhren gläntzenden dantz mit gleicher zierligkeit vnd leichten förtigkeit. 38 Aus der mimetisch-ikonisch getanzten Botschaft ‘inter-nationaler’ Allianz ist der Schriftzug “E LJSABETH vnd F RJDERJCH ” geworden - von fürstlichen Füßen getanzte Unterzeichnung des protestantischen Unionsbündnisses unter kurpfälzischer Führung im Verbund mit England auch für die Zukunft. Poeterey - vor/ nach 1620 Opitz war 1616 in Stuttgart nicht anwesend. Wäre er es gewesen, so hätte er - das bezeugen seine frühen deutschsprachigen Gedichte ebenso wie der poetologische Erstling von 1617, Aristarchus sive De Contemptu Linguæ Teutonicæ, mit seiner Anleitung zu “Gallico more” gebauten deutschen Versen 39 - wohl kaum anders gedichtet. 40 Und virtuell, als Leser, war er es natürlich doch, denn selbstverständlich stand Weckherlins Triumf in der berühmten Bibliotheca Palatina in der Heidelberger Stiftskirche. 41 In Tuchfühlung kommen die beiden Poeten aber noch direkter, buchstäblich zwischen zwei Buchdeckeln, und zwar unter Federführung von Julius Wilhelm Zincgref. Zincgref nämlich hatte 1624 unter dem Titel Martini Opicii Teutsche Poemata nicht nur dessen in Heidelberg hinterlassene deutsche Gedichte bis Oktober 1620 und die ihm im Druck erreichbaren Jugendschriften bis 1622 herausgebracht; Zincgref hatte dieser Opitz-Ausgabe mit unverhohlenem Stolz auch einen über sechzigseitigen “anhang Mehr auserleßener geticht anderer Teutscher Pöeten” 42 angefügt, in dem Heidelberger Dichter zweier Generationen vertreten sind, aber auch Straßburger, Schlesier sowie mit immerhin acht Gedichten Georg Rodolf Weckherlin, darunter zwei aus dem Triumf. Komplementär zu der im Triumf choreographisch entworfenen poetics of alliance formiert sich hier auf regionaler Ebene eine rechte Poeten-Allianz - wie das ‘inter-nationale’ Ballett durchaus bunt, heterogen, n i c h t uniform und doch einhellig bezogen auf das Heidelberger Zentrum. 43 Ausgerechnet Opitz aber, der als ‘Poetenkönig’ neidlos an die Spitze dieser Ausgabe Gestellte, 44 erhebt Einspruch, verurteilt noch 1624 im Buch von der Deutschen Poeterey die Teutschen Poemata aufs schärfste und ersetzt sie im Folgejahr durch eine autorisierte Sammlung Deutscher Poemata. 45 In dieser neuen, in Bücher abgeteilten Ausgabe regiert ein teils thematisch, teils nach Gattungen verfahrendes Ordnungsprinzip, eine ganze Reihe von Gedichten erscheint nicht mehr, die anderen sind, zum Teil grundlegend, umgearbeitet; unter ihnen ist auch das Lied An den Cupidinem. Was ist geschehen? 46 Die von Zincgref 1624 herausgegebenen Teutschen Poemata lassen sich, wie skizziert, sehr genau in den Koordinaten jener poetics of alliance begreifen, wie sie als Spiegel der pfälzischen Allianzpolitik poetisch reflexiv Weckherlins Triumf entwirft. Eben darin aber betreten sie die (literatur)geschichtliche Bühne - Zincgrefs eigenen Wechsel auf Zukunft, die angehängten Gedichte “anderer mehr teutschen Poeten” möchten dem Leser “zu einem Muster vnnd Fürbilde” dienen, “wornach du dich in deiner Teutschen Poeterei hinfüro etlicher massen zu regulieren”, 47 Lügen strafend - markant post festum. Denn jene um Friedrich V. zentrierte Allianz gibt es seit der Schlacht am Weißen Berg nicht mehr, ebensowenig wie die 1622 von den Spaniern zerstörte kurpfälzische Residenz oder den Heidelberger Dichterkreis der Jahre 1619/ 20. 48 Auf das Konzept einer poetics of alliance war “hinfüro” ‘Er tanzte nur einen Winter’ 193 eine “Teutsche Poeterei” folglich nicht mehr zu gründen. Das diskursive Gebot der Stunde heißt vielmehr: Strategiewechsel. Krieg - vor/ um 1620 Im Jahr 1566 hatten gegen die spanische Besatzungsmacht gerichtete Unruhen das niederländische “Staatsgründungsexperiment” auf den Weg gebracht, dessen Gelingen durch die faktische Anerkennung der ‘Staten Generael der Vereenichde Nederlanden’ als völkerrechtliches Subjekt spätestens 1609 besiegelt wurde. 49 Um 1590 folgt, nachdem in den ersten zwanzig Jahren des Unabhängigkeitskrieges die Spanier den Niederländern militärisch überlegen waren, 50 unter der Ägide des Prinzen Moritz von Oranien und seiner Vettern Wilhelm Ludwig und Johann von Nassau eine der weitreichendsten Neuerungen der Zeit: die oranische Heeresreform. Ihr Impetus war ein genuin humanistisch-philologischer Gang ad fontes, zu den griechischen und römischen Militärschriftstellern, und deren produktive Rezeption nach den Bedürfnissen der eigenen Gegenwart; den Anstoß dazu hatten 1589 die Politicorum seu civilis doctrinae libri VI des Leidener Philologen Justus Lipsius gegeben. 51 Das “unbestrittene Herzstück” der Reform aber bildet die “militaris disciplina”. 52 Unermüdliches Exerzieren ist demnach angesagt, und dessen erstes Gebot lautet, so Wilhelm Dilich 1607 in seinem Kriegsbuch, “daß man im Marchiren in Schritt und Tritt Gleichheit halte/ ja in serie & jugo, Reihen und Gliedern/ die Sträcke in acht nehme/ keiner dem andern in jugis vorschreite/ oder in seriebus zur Seiten außschreite”. 53 Schon die spätantike Epitoma rei militaris des bei den Oraniern hoch gehandelten Vegetius hat dazu einen “schönen locum”: “Nihil magis in itinere vel in acie custodiendum est, quàm ut omnes milites incedendi ordinem servent, quod aliter fieri non potest, nisi assiduo exercitio ambulare celeriter & æqualiter discant.” In Dilichs Übersetzung: “Jm Treffen und Fortmarchiren ist nichts mehrer in acht zu nehmen/ dann daß die Soldaten rechtschaffene Ordnung halten/ welches dann besser nicht zu bewerckstelligen/ als wann sie zuvorhero durch alltägliche Ubung geschwind und fein gerad/ und gleich einher zu gehen/ und ihren March ordentlich zu halten/ gelernet”. 54 Nach Deutschland wurde diese neue, auf Drill und Disziplin setzende “Schola militaris” 55 schon in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts vermittelt. Neben Dilich, der im Auftrag des hessischen Landgrafen Moritz tätig war, ist der wichtigste Militärschriftsteller der neuen Schule Johann Jacobi von Wallhausen, 56 dessen Alphabetum pro tyrone pedestri oder der Soldaten zu Fuß jhr A.B.C., Kriegskunst zu Fuß, Kriegskunst zu Pferdt, Manuale militare, Ritterkunst, Romanische Kriegskunst, Archiley Kriegskunst, Künstliche Picquen- Handlung und andere mehr 1615, 1616, 1617 in kurzen Abständen erschienen und vielfach wiederaufgelegt wurden. An das neue ‘niederländische Wesen’ glaubte nach eigenem Bekunden auch Christian von Anhalt, Feldherr in der Schlacht am Weißen Berg; 57 immerhin war Moritz von Oranien der Onkel Friedrichs V. Gleichwohl war man - ungeachtet des Modellcharakters, den der “nordniederländische Staatsgründungskrieg” für den böhmischen hatte 58 - am 8. November 1620 der modernen Taktik bestenfalls halbherzig gefolgt. 59 Zwar hatte der königliche Befehlshaber sein Heer im Sinne der neuen Theorie in kleinen Truppenkörpern mit viel Bewegungsspielraum aufgestellt; 60 doch verstand man die daraus resultierende Flexibilität nicht zu nutzen. Weder verfügten die schlecht besoldeten, demoralisierten böhmischen und ungarischen Soldaten über hinreichende Ausbildung und Disziplin, noch besaß ihr Feldherr die nötige Entschlossenheit und Koordinationsgabe zu einer souverän geführten militärischen Operation. Die vielleicht entscheidende Chance zu Beginn der Nicola Kaminski 194 Schlacht, den bayerischen Heeresverband, der vorab unter Tilly die Brücke über die Scharka überschritten hatte, anzugreifen, ehe die kaiserlichen Truppen nachsetzen konnten, aber vergab Christian von Anhalt auf Anraten des Grafen Hohenlohe, 61 eines unbeirrbaren Verfechters der alten Schule, der für den neuen niederländischen Drill nur Spott und Verachtung übrig hatte. 62 Tanz - nach 1620 “Schon von Carol Magni zeiten hero/ sonderlich in den letzten 500. Jahren” habe man, schreibt Zincgref in seiner Vorrede zu den Teutschen Poemata (um das ehrwürdige Alter adliger Bemühung um die Künste zu erweisen), “nach weise der Römer vnd der Grichen diese dreyfache Exercitia oder Vbungen zu Hoff im schwang geführet/ Ritterspiel/ Fechtkunst vnd die Music”. 63 Und im Anhang “anderer mehr teutschen Poeten” 64 findet sich - ein Jahr vor dem Tod des Prinzen - Weckherlins Lobgesang. Von Herren Mauritzen Fürsten zu Vranien/ Grafen von Nassaw, der den oranischen Heeresreformer in zehnmal variiertem Refrain als “Ruhm”, “Spiegel”, “wahre[n] Text”, “Lehrbuch” und “Beispiel für Fürsten vnd Soldaten” feiert. 65 Doch sowenig Zincgrefs ritterliche “Exercitia” der neuen oranischen ‘Ritterkunst’ verpflichtet sind, 66 sowenig folgt Weckherlins Ode in ihrer metrischen Performanz dem Vorbild des Gepriesenen: “Jhr Ménschen báwet eínen Témpel/ | Für dén/ der áller Fü rsten Rúhm/ | Der áller Sóldatén exémpel” 67 - alternierend-akzentuierender Gleichschritt ist da, spätestens mit der dritten Zeile, nur um den Preis prosodischer Vergewaltigung der romanisch freibetonenden Verse zu halten. Das Postulat solcher ‘inter-disziplinären’ Interferenzen geht an der geschichtlichen Wirklichkeit gleichwohl nicht vorbei. Schon 1607 hatte Dilich in seinem auf humanistischem Fundament fußenden Kriegsbuch zur unverzichtbaren Voraussetzung einer Aktualisierung des antiken ordo incedendi gemacht, “daß die Trommenschläger den Schlag recht halten/ als nach welchem der Soldat tantzen muß”. 68 Mit diesem ‘Tantz’ ist aber natürlich keine Courante gemeint, auch kein deutscher ‘Hupff Auff’, sondern - das stellt die nachgereichte Begründung “Dann wo das nicht geschiehet können die Soldaten nicht recht marchiren” 69 unmißverständlich klar - der durch Taktschlag regulierte Marschtritt. Nicht von ungefähr setzt sich um dieselbe Zeit das moderne Taktsystem durch. 70 Auf der Schwelle vom Sprechen ü b e r den Reformator Moritz von Oranien zur rhythmischen Performanz des auch nach seinem Tod weiterlebenden “Marchiren[s]” in gleichem “Schritt und Tritt” 71 aber stehen die Nederduytschen Poemata des Leidener Philologen Daniel Heinsius. Erschienen 1616, ein Vierteljahrhundert nach der oranischen Heeresreform und sieben Jahre nach der vorerst erfolgreich gegen Spanien behaupteten Staatlichkeit der jungen Republik, formulieren sie zwar ein emphatisches Bekenntnis zur niederländischen Unabhängigkeit; 72 auf Prinz Moritz und seinen einzigen Sieg in offener Feldschlacht (bei Nieuwpoort 1600) kommt die Rede jedoch nicht. 73 Ihr epochales Novum machen die Nederduytschen Poemata als spezifisch ‘duytsches’ in Abgrenzung gegen die gesamte Romania nicht auf thematischem Feld geltend, sondern in einer neuartigen, freiheitlich codierten Versfußbewegung. “Daer wy nochtans connen toonen”, wertet die Vorrede die bislang im Vergleich mit Italien, Frankreich und Spanien “alleen ondancbaer tegen ons landt, ondancbaer tegen onse sprake” sich erzeigenden niederländischen Poeten auf, “dat jae self de voornaemste Fransoysen inde hare veel fauten begaen hebben, niet lettende op den toon ende mate vande vvoorden, die zy merckelicken gevvelt doen.” 74 Kein Zweifel, die demgegenüber diszipliniert nach “toon ende mate”, Akzent und ‘Er tanzte nur einen Winter’ 195 Takt, im Gleichschritt sich bewegenden niederländischen Wörter sind durch die oranische Schule gegangen. Eben darin archivieren sie rhythmisch die militärische Überlegenheit der reformierten niederländischen Truppen über die ungefügen spanischen “Tercios” oder “Gewalthaufen”. 75 Wenn Martin Opitz ein Jahr nach seiner Flucht aus Heidelberg und dem anschließenden Aufenthalt in Leiden diese Formulierung in die Vorrede zu seiner Übersetzung von Heinsius’ Lof-sanck van Iesvs Christvs übernimmt, dann scheint die musikalische Bedeutungskomponente von “toon ende mate” 76 verlorengegangen. “Auff den thon vnd das maß der Syllaben/ darinnen nicht der minste theil der ziehrligkeit bestehet/ habe ich”, schreibt er 1621 in routiniertem understatement, “wie sonsten/ auch hier genawe achtung gegeben: wiewol denselben auch die Frantzosen selber offtmals gewalt thun”. 77 Tatsächlich kehrt die als metrisch-musikalischer Takt (als “mate”) poetisch diskursivierte, vom “Schlag” des “Trommenschläger[s]” gleichmäßig skandierte oranische Fußbewegung, der veränderten politischen und militärischen Lage entsprechend, 78 wieder auf ihr eigentliches Feld zurück. Eröffnet wird die Vorrede nämlich durch eine Reminiszenz an Janus Gruter, Opitz’ aus den Niederlanden stammenden Heidelberger Mentor; der hatte ihn bei seinen ersten Übersetzungsversuchen aus dem Niederländischen zur Veröffentlichung ermuntert und ihm in einem lateinischen Epigramm den mythischen Ehrentitel eines “Mercurius […] alter et alter Amor” angeboten. Opitz’ Reaktion verrät jedoch ein Gespür für die diskursive Zäsur, welche die Schlacht am Weißen Berg seither irreversibel zwischen der Heidelberger Zeit und dem Jahr 1621 gezogen hat: “Jch bin aber der gedancken/ es seyen diese vngewaffnete Götter vnter dem wilden schall der Heertrompetten vnd gerausche der Waffen/ mit dem gantz Deutschlandt nun eine geraume zeit erfüllet gewesen/ nichts nütze.” 79 Jetzt, nach der Niederlage am 8. November 1620, spielt eine andere Musik, die Marschmusik der Oranier, nach der Soldaten tanzen können. Für “vngewaffnete Götter” wie Cupido ist es 1621 sowenig an der Zeit wie für die Courante. Poeterey - nach 1620 Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey, Manifest des diskursgeschichtlich gebotenen Strategiewechsels, hatte die im gleichen Jahr 1624 erschienenen und doch durch eine Kluft davon getrennten Teutschen Poemata in aller Öffentlichkeit zu Makulatur erklärt. Zugleich aber erläßt es die neue poetische Marschrichtung im kompromißlosen Habitus eines oranischen Exerzierreglements. Denn wenn jene Zincgrefsche Sammlung, die unter Opitz’ Namen ihrerseits unbedingte Novität auf dem Buchmarkt beanspruchte, 80 dazu imstande war, in ihrer charakteristischen Heterogenität sogar noch die Lof-sanck-Übersetzung samt Vorrede zu integrieren, 81 dann bedurfte es offenbar deutlicherer Worte, ja eines ganz anderen Tons. Wie Wilhelm Ludwig von Nassau in einem Brief an Moritz von Oranien besonderes Gewicht auf größtmögliche Unmißverständlichkeit der Kommandoworte legt, 82 so lautet das Herzstück der Opitzschen Reform nunmehr in unzweideutigem Klartext: Nachmals ist auch ein jeder verß entweder ein iambicus oder trochaicus; nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse grösse der sylben können inn acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen/ welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden. Ein Jambus ist dieser: Erhalt vns Herr bey deinem wort. Nicola Kaminski 196 Der folgende ein Trochéus: Mitten wir im leben sind. Dann in dem ersten verse die erste sylbe niedrig/ die andere hoch/ die dritte niedrig/ die vierde hoch/ vnd so fortan/ in dem anderen verse die erste sylbe hoch/ die andere niedrig/ die dritte hoch/ etc. außgesprochen werden. 83 Nicht mehr Tanzlieder sind jetzt angesagt, sondern alternierend im 4 / 4 -Takt notierte protestantische Kampflieder, 84 auch der die deutsche Kunstdichtung nach 1624 regelrecht uniformierende Alexandriner besteht aus jambischen Viertaktern. 85 Mit dieser Marschvorschrift, der nach den Elementarbewegungen flankierend weitere Anweisungen zum Exerzieren größerer Einheiten folgen 86 (eben des Alexandriners, des vers commun, des Sonetts, des Quatrains, auch der Ode), ist die in den Nederduytschen Poemata gezogene nationale Frontlinie aktualisiert auch auf dem Feld der “Deutschen Poeterey” eingetragen: germanische Akzentuation gegen romanisches Silbenzählen, somit auch gegen die mit der Romania alliierten ‘Welschverse’ 87 eines Weckherlin, Zincgref, ja selbst des Opitz v o r der Schlacht am Weißen Berg. Zugleich weht aber ein schärferer Wind. Denn die Situation des protestantischen Deutschland nach dem 8. November 1620 ist von derjenigen der niederländischen Republik im Jahr 1616 grundlegend verschieden - hie ein politisch, ökonomisch, militärisch florierendes Staatsgebilde, dessen Motor nicht zuletzt ein freies reformiertes Bekenntnis ist, dort ein zersplittertes, wirtschaftlich darniederliegendes, von der habsburgischen Gegenreformation und fremden Kriegsvölkern überzogenes Schlachtfeld. ‘Deutschland’ kann man das eigentlich gar nicht nennen. Opitz aber spricht von ‘Deutschland’, ja er erkühnt sich, offensiv gegen die Romania gerichtet, sogar zu einer symbolisch aufgeladenen Kriegsgeste: “vnd ich bin der tröstlichen hoffnung”, steht da zu lesen, “es werde […] auch die Deutsche [Poesie]/ zue welcher ich nach meinem armen vermögen allbereit die fahne auffgesteckt/ von stattlichen gemütern allso außgevbet werden/ das vnser Vaterland Franckreich vnd Jtalien wenig wird bevor dörffen geben.” 88 Und dann entwirft der selbsternannte ‘Fähnrich’ die “Deutsche Poeterey” im Medium poetischen Sprechens förmlich als Schlachtfeld. Des schweren Krieges last den Deutschland jetzt empfindet/ Vnd das Gott nicht vmbsonst so hefftig angezündet Den eifer seiner macht/ auch wo in solcher pein Trost her zue holen ist/ soll mein getichte sein 89 - mit diesen Eingangsversen des 1620/ 1621, unter dem Eindruck der Schlacht am Weißen Berg, geschriebenen, aber noch nicht publizierten Trostgedichtes in Widerwertigkeit deß Krieges eröffnet Opitz sein “newe[s] feldt” 90 . Wohl gemerkt: nicht im aktuell-thematischen Horizont, sondern in dezidiert poetologischer Perspektive - um ein regelrechtes Exempel für das Proömium eines “Heroisch[en] getichte[s]” 91 zu geben. Denn “diese wüste bahn”, “dieses newe feldt”, worauf der Sprecher als erster “den fuß” stellen will, 92 meint zwar auch, kontextuell vielleicht sogar primär, das militärisch “verwüstete Deutschland”. 93 Poetologisch aber wird als “wüste bahn” und “newe[s] feldt” eine poetische terra incognita konstituiert, auf der aus der flächendeckenden Verwüstungserfahrung als poetisches Subjekt das ‘empfindende Deutschland’ geboren wird. Damit ist nicht weniger als ein ästhetischer Imperativ formuliert: die realgeschichtlichen Gegebenheiten auf dem Feld der “Deutschen Poeterey” umzukehren, oranisch gedrillte deutsche Wörter in einen poetologischen ‘Er tanzte nur einen Winter’ 197 ´ Unabhängigkeitskrieg gegen die übermächtige Romania zu führen. Darum werden einerseits die “Lateinische[n]/ Frantzösische[n]/ Spanische[n] vnnd Welsche[n] wörter”, die seit “kurtzen Jharen” allenthalben “in den text vnserer rede geflickt werden”, rigoros ausgewiesen; 94 andererseits sind und bleiben es aber weiterhin romanische Formen, in welche die künftige “Deutsche Poeterey” zu bringen ist. Allerdings unterliegt das Verhältnis zur Romania jetzt einer neuen Semantik: nicht poetisch-poetologische Allianz, wie sie Weckherlins Sonett der “spiegelmacher” ‘inter-national’ mustergültig ‘vorgedantzt’ hatte, sondern nationalpoetische Besetzung “außländische[n]” 95 Terrains, im alternierenden Gleichschritt marschierende deutsche Wörter, die auf dem Feld etwa eines Ronsardschen Sonetts ihre Fahne aufstecken. Auf einem solcherart definierten ‘Schlachtfeld’ geht es nun aber schlechterdings nicht an, daß deutsche Wörter, unbekümmert um “toon ende mate”, einer französischen Courante ‘nachdantzen’. Gleichwohl muß das Lied An den Cupidinem das Feld nicht räumen, darf 1625 in den Deutschen Poemata vielmehr in der Abteilung “Oden oder Gesänge” Platz finden. Freilich: ohne seinen den ‘ungewaffneten’ (oder doch nicht kriegstauglich gewaffneten) Gott identifizierenden Titel und ohne die anstößige Melodieangabe “Auff die Courante: Si c’est pour mon pucelage”. 96 Statt dessen erscheint der Text jetzt unter signifikant neuer Überschrift: “Fast aus dem Holländischen”. 97 Das ist nicht nur dem Gedicht und seiner nun unzweideutig alternierenden Versfußbewegung ohne weiteres abzunehmen, es entspricht auch den philologischen Fakten. Tatsächlich nämlich geht Opitz’ Lied nicht direkt auf die französische Courante aus Besards Thesaurus zurück, sondern ist die Übersetzung eines anonymen Liedes aus der Sammlung Den Bloem-Hof Van de Nederlantsche Ieught, das als Melodie seinerseits jenes Si c’est pour mon pucelage nennt. Der Bloem-Hof allerdings ist schon 1608, acht Jahre v o r den Nederduytschen Poemata, herausgekommen, die in ihm enthaltenen Gedichte marschieren durchaus noch nicht einheitlich nach “toon ende mate”, 98 und die Opitzsche Vorlage ist im Liedtitel als Courante sogar eigens ausgewiesen. 99 Eben dieses Aus-der-Reihe-Tanzen, der Flirt mit dem französischen Courante-Schritt werden dem Lied An den Cupidinem aber nun im Zeichen des “Holländischen”, oranischer Reform, gründlich ausgetrieben, ja es wird regelrecht ein Exempel statuiert. Von insgesamt 42 Versen können in der neuen Fassung nicht mehr als elf bestehen, die anderen, darunter der Refrain, werden metrisch durchexerziert. “Es geht schwer ein meinem Hertzen”, lautete 1624, eigentlich aber v o r dem 8. November 1620, die erste Zeile, die n a c h 1620 auch metrisch nur mehr schwer eingehen will, u n t e r dem anachronistisch oktroyierten Gleichschritt mit dem viel eingängigeren Dreiertakt der Courante kokettiert. 1625 heißt der Vers, exakten Marschtritt um semantische Transparenz eintauschend, “Jch befind’ es nicht im Hertzen”. 100 Und nicht nur Opitz’ ‘voropitzischer’ Courante ergeht es so. Der metrischen Disziplinierung im Zeichen der oranischen Heeresreform vermögen sich auch die Gedichte Weckherlins nicht zu entziehen, wenn sie denn “hinfüro” 101 im versreformierten Deutschland ein Publikum haben wollen. Entsprechend setzt 1641 in den Gaistlichen und Weltlichen Gedichten das Sonett der “spiegelmacher an das Frawenzimmer” seine Versfüße folgsam im neuen, alternierend-akzentuierenden Schritt. 102 Nur die letzte Zeile, traditioneller Ort pointierter Zuspitzung, wartet unverhofft mit einer Pointe auf. Widersetzt sie sich doch nicht nur markant gegenmetrisch dem jambisch alternierenden Reglement (“So tröste beederseits Euch dér Krantz/ Vns die Schántz”), 103 sondern leistet sich obendrein noch den in der Opitzschen Poetik verpönten Binnenreim 104 - ausgerechnet auf die seinerzeit ‘triumfale’ Losung “Dantz”. Nicola Kaminski 198 Tanz - nach 1620 Von der letzten Strophe des Liedes An den Cupidinem, die die petrarkistische Pointe vom nicht blinden (und somit wahllos zielenden), sondern tauben (und darum gefühllosen) Cupido bringt, bleibt in der oranisch reformierten Neufassung so gut wie nichts übrig: Du wilt keine Klage wissen/ Du wilst keine Klage kennen/ Auch von denen/ die durch dich Keine Bitte nimpst du an/ Seind verwundet jnniglich/ Alles ist vmbsonst gethan: Thust all jhre Klag außschlissen/ Blinde sind die dich blind nennen; Blindt bistu wol nicht: Jch glaub Dieses geht mir besser ein/ Daß du seyst gewaltig taub. Daß du trefflich taub must seyn. 105 Ausgemustert werden dabei zwei ‘daktylische’ Wörter: “jnniglich” und “außschlissen”. Der abschreckende Beispielvers des Buches von der Deutschen Poeterey zu diesem Kapitel lautet “Venus die hat Juno nicht vermocht zue obsiegen”, und zu verdammen ist eine solche um “toon ende mate” sich nicht scherende Versifikation deshalb, weil Venus vnd Juno Jambische/ vermocht ein Trochéisch wort sein soll: obsiegen aber/ weil die erste sylbe hoch/ die andern zwo niedrig sein/ hat eben den thon welchen bey den lateinern der dactylus hat/ der sich zueweilen (denn er gleichwol auch kan geduldet werden/ wenn er mit vnterscheide gesatzt wird) in vnsere sprache/ wann man dem gesetze der reimen keine gewalt thun wil/ so wenig zwingen leßt/ als castitas, pulchritudo vnd dergleichen in die lateinischen hexametros vnnd pentametros zue bringen sind. 106 Aber auch im ursprünglichen Lied wären “jnniglich” und “außschlissen” nicht daktylisch zu skandieren gewesen. Vielmehr übt der ungeradtaktige Courante-Schritt erst recht gegenmetrische “gewalt” aus, was zu frappant mißgebildeten Versfüßen führt (“jnniglích”, “außschlíssèn”). Dann ist aber die Frage, wie überhaupt Courante-Rhythmus und metrische Gestalt im Lied An den Cupidinem zueinander in Beziehung stehen sollen. Die verblüffende Antwort heißt: aus der Perspektive v o r 1624 (oder eigentlich 1620) stehen sie in keinerlei Beziehung, die silbenzählende Metrik der romanischen Sprachen ist bei der Vertonung betonungsneutral. 107 Entsprechend bleibt in Besards Thesaurus die Relation zwischen Melodie und Text, Note und Silbe innerhalb der Liedzeilen denn auch durchaus unbestimmt, stellen melismatische Folgen nicht die Ausnahme dar (Abb. 2). Die Notwendigkeit, sich rhythmisch zwischen Wort- und Satzakzent des Liedtextes (“toon”) und musikalischem Takt der Melodie (“mate”) zu entscheiden, tritt überhaupt erst in dem Moment auf, da das Zusammenfallen von “toon ende mate” Gesetz wird. Von nun an muß ein Gedicht, das sich rhythmisch zur Courante bekennt, seine Füße so setzen, daß der natürliche Sprachakzent daktylisch fällt. Dem regelmäßig akzentuierenden Prinzip der Opitzschen Versreform können selbst erklärte Anti-Opitzianer wie Johannes Plavius sich nicht entziehen, der 1630 unter dem Titel Courante oder drähe-tantz folgendes Lied veröffentlicht: Gedencket/ wie kräncket vnd lencket einn doch Die lieb’ vnd jhr trübe-betrübetes 108 joch! Vor dacht’ ich; wer macht mich: wer achtt mich/ mit fug/ Wie Plato/ wie Cato/ wie Crates/ so klug/ Nu reisst meinen sinn/ Als ich nu werd’ inn’/ Jn liebe die liebe beliebete -hin. So zwinget/ so dringet/ so bringet vns weh Mit tücken/ mit blicken/ mit stricken in d’eh. ‘Er tanzte nur einen Winter’ 199 Abb. 2: Jean-Baptiste Besard: Thesaurus harmonicus divini Laurencini Romani, nec non praestantissimorum musicorum, qui hoc seculo in diversis orbis partibus excellunt, selectissima omnis generis cantus in testudine modulamina continens […]. Köln 1603 (ND Genf 1975), fol. 68 r . Nicola Kaminski 200 Vor wust’ ich von lust nicht/ drumb must’ ich in frewd’ Jn singen/ in klingen hinbringen die zeit: Mein hertze/ von schmertzen/ von kertzen befreyt/ War einig/ alleinig vnd schleunig geneigt Zu der musen konst/ Die ich achte donst/ Aus liebe der lieben beliebeten gonst So zwinget/ so dringet/ so bringet vns weh Mit schmertzen/ mit schertzen/ mit hertzen in d’eh. Vor dacht’ ich/ was acht’ ich die macht vnd die krafft Der liebe/ da üben betrüben verschafft/ Vor dacht’ ich/ verlacht mich/ verachtt mich Amor/ So lehrt mich/ so neert mich/ so ehrt mich davor 109 Aller Musen schaar/ Den ich gantz vnd gar Jm leben gar eben ergeben/ fürwar. Nu zwinget/ nu dringet/ nu bringet mich weh Gantz völlig/ gutwillig vnd billich in d’eh. O krone nu schone/ belohne mir nun/ Jn frewden mein leiden/ mein meiden mein thun Es mehret-/ es neeret-/ Es mehrtsich in mir Durch bangen/ gefangen verlangen nach dir. O mein ander ich/ Der ich williglich Mein leben gar eben ergeben/ sieh mich Ernewe/ befrey’ vnd erfrewe mein weh/ So spring’ ich mit singen vnd klingen in d’eh. 110 Der prosodische Affront ist nicht zu übersehen. Provokant weist die Courante ihre verbotenen daktylischen Versfüße vor, 111 zu allem Überfluß wird jeder Daktylus durch Binnenreim auch noch eigens untermalt. Um jedoch überhaupt Rebellion gegen die oranische Alternationsvorschrift artikulieren zu können, muß das Gedicht sich eben auf jene von Opitz zum entscheidenden Differenzkriterium erhobene germanische Akzentuation einlassen. Seltsam unentschieden, ja geradezu zwiegesichtig geben sich freilich die jeweils binnenreimlosen Kurzverse. Sind sie in der ersten Strophe - “Nu reísst meinen sínn/ | Als ích nu werd’ ínn’” - noch ohne weiteres daktylisch zu lesen, so beginnt in der zweiten mit “Zu dér musen kónst/ | Die ích achte dónst” die Lektüre bereits zu stolpern, um in der dritten bei “Allér Musen scháar” vollends aus dem Tritt zu geraten. Offenbar plaziert die Courante inmitten einer binnenreimbeschwingten Umgebung von “Springereimen” metrische Stolpersteine, die den Leser, will er dem nach dem 8. November 1620 unumgänglichen Prinzip der Akzentuation treu bleiben, zu metrischer Relektüre nötigen. Und zwar, erstaunlich genug, nach trochäisch alternierendem Muster, dem sämtliche Kurzzeilen sich anstandslos fügen: “Nú reisst meínen sínn/ | Áls ich nú werd’ ínn’”, “Zú der músen kónst/ | Díe ich áchte dónst”, “Áller Músen scháar”, und so fort. Indem aber das Bewegungskontinuum des “drähe-tantz[es]” jeweils in der Strophenmitte aus dem Takt gerät, werden die im Tanz sich verheddernden Füße zum spiegelnden Zerrbild jener metrischen Disziplinierung, die Opitz an seiner eigenen Courante exekutiert hatte. 112 Die Zukunft der “Deutschen Poeterey” steht gleichwohl im Zeichen von “toon ende mate”. Und in dieser Perspektive erwächst der inhaltlichen Pointe des Liedes An den Cupidi- ‘Er tanzte nur einen Winter’ 201 nem n a c h dem Winter 1620 nun auch diskursive Signifikanz. “Jch schwere”, hatte 1618 das lyrische Ich in einem Opitzschen Hochzeitsgedicht beteuert, “daß Venus zu mir kam (es ist noch nicht ein Jahr) | […] | Sie bat/ ich wolt’ jhr Kindt lassen bey mir einkehren/ | Vnd es die Teutsche Sprach/ so gut ich’s wiste/ lehren”. 113 Daß es freilich um den prospektiven ‘Lehrer’ kaum besser steht als um den ‘Lehrling’ Cupido, verraten konterkarierend die durchaus nicht ‘duytsch’ spurenden Alexandriner. Das klingt auch in den Teutschen Poemata nicht wesentlich anders: “Sie wolte”, heißt es dort, “daß jhr Sohn hier bey mir solte bleiben/ | Vnd vnser Teutsche Sprach auffs best ichs wüste treiben”. 114 Und selbst in den reformierten Deutschen Poemata bleibt der muttersprachliche Erziehungsauftrag noch holprig. 115 Offenbar fehlt es dem Schüler an rechter Begabung zur oranischen Marschdisziplin, und die Courante im Bloem-Hof wußte auch schon, warum: “Blinden houden doch gheen maet.” 116 N a c h dem 8. November 1620 läßt sich die Diagnose nun aber noch treffender formulieren: Wie soll man oranisch exerzieren mit einem, der “gewaltig taub” ist? Um ein letztes Mal dem Krieg das Wort zu erteilen: “Assuefaciendi sunt copiae”, schreibt Aelian, antike Lieblingsautorität der Oranier, tam pedestres quam equestres partim voce, partim signis, quae visu percipi valeant, ut rem apte ac opportune, quam quisque exigat usus, possit expedire. […] Certiora sunt ea, quae voce indicantur […]. 117 Entsprechend geben im oranischen Exerzierreglement denn auch die hörbaren “woorden van commandementen” 118 den Ton an. Anmerkungen 1 Verbessert aus “Nu”. 2 Martin Opitz: Teutsche Pöemata vnd Aristarchus Wieder die verachtung Teutscher Sprach […]. Straßburg 1624 (ND Hildesheim/ New York 1975), S. 56f. 3 Ebd., S. 56. 4 Vgl. Marliese Glück: Courante. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe hg. v. Ludwig Finscher. Sachteil. Bd. 2. Kassel u.a. 1995, Sp. 1029 -1035, hier Sp. 1031, die Marin Mersennes Harmonie universelle (Paris 1636) zitiert: “La Courante est la plus frequente des toutes les dances pratiquées en France”. 5 Ebd., Sp. 1030. Zum Tempo der Courante ausführlich Uwe Kraemer: Die Courante in der deutschen Orchester- und Klaviermusik des 17. Jahrhunderts. Diss. Hamburg 1968, S. 58 - 65, zur tänzerischen Ausführung Karl Heinz Taubert: Höfische Tänze. Ihre Geschichte und Choreographie. Mainz 1968, S. 97-109. 6 Jean-Baptiste Besard: Thesaurus harmonicus divini Laurencini Romani, nec non praestantissimorum musicorum, qui hoc seculo in diversis orbis partibus excellunt, selectissima omnis generis cantus in testudine modulamina continens […]. Köln 1603 (ND Genf 1975), fol. 68 r . 7 So werden die Daktylen etwa bei den Pegnitzschäfern vielfach bezeichnet, vgl. z.B. Johann Klaj: Geburtstag Deß Friedens […]. In: Johann Klaj. Friedensdichtungen und kleinere poetische Schriften. Hg. v. Conrad Wiedemann. Tübingen 1968, S. [111]. 8 Vgl. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Nach der Edition von Wilhelm Braune neu hg. v. Richard Alewyn. Tübingen 1963, S. 37f. 9 Andreas Gryphius: Absurda Comica Oder Herr Peter Squentz. Schimpfspiel. Kritische Ausgabe. Hg. v. Gerhard Dünnhaupt und Karl-Heinz Habersetzer. Stuttgart 1983, S. 27. 10 Ebd. 11 Vgl. Wendy Hilton: A Dance for the Kings. The 17th-Century French Courante. Its Character, Step-Patterns, Metric and Proportional Foundations. In: Early Music 5 (1977), S. 161-172. Nicola Kaminski 202 12 Das hat Jane O. Newman: Marriages of Convenience. Patterns of Alliance in Heidelberg Politics and Opitz’s Poetics. In: MLN 100 (1985), S. 537-576, im Anschluß an Frances A. Yates: The Rosicrucian Enlightenment. London/ Boston, Mass. 1972, bes. S. 1-29, gezeigt. Die nachfolgende Skizze stützt sich vor allem auf diese beiden Arbeiten. Zitat: Newman, S. 544. 13 Aufwendig dokumentiert in: Beschreibung Der Reiß: Empfahung deß Ritterlichen Ordens: Volbringung des Heyraths: vnd glücklicher Heimführung: Wie auch der ansehnlichen Einführung: gehaltener Ritterspiel vnd Frewdenfests: Des Durchleuchtigsten/ Hochgebornen Fürsten vnd Herrn/ Herrn Friederichen deß Fünften/ Pfaltzgraven bey Rhein/ […] Mit der auch Durchleuchtigsten/ Hochgebornen Fürstin/ Vnd Königlichen Princessin/ Elisabethen/ deß Großmechtigsten Herrn/ Herrn I ACOBI deß Ersten Königs zu GroßBritannien Einigen Tochter. Mit schönen Kupfferstücken gezieret. Heidelberg 1613 (Mikrofiche-Ausgabe des Exemplars der Bibliotheca Palatina). 14 Vgl. die realpolitische Einschätzung bei Konrad Repgen: Dreißigjähriger Krieg. In: ders.: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen. Hg. v. Franz Bosbach und Christoph Kampmann. Paderborn 1998, S. 291-318, hier S. 293. 15 Dieser Widmungsband für den neulateinischen Dichter und Bibliothekar der Palatina Janus Gruter ist zugänglich in: Martin Opitz. Jugendschriften vor 1619. Faksimileausgabe des Janus Gruter gewidmeten Sammelbandes mit den handschriftlichen Ergänzungen und Berichtigungen des Verfassers. Hg. v. Jörg-Ulrich Fechner. Stuttgart 1970; vgl. auch das Nachwort des Herausgebers, S. 1*-17*. 16 Vgl. dazu Heinz Entner: Zum Kontext von Martin Opitz’ Aristarchus. In: Germanica Wratislaviensia 47 (1982), S. 3 -58. 17 Zum terminus ante quem für Opitz’ Redaktion der Teutschen Poemata vgl. Janis Little Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz. Bern 1973, S. 11 sowie S. 272, Anm. 3. 18 Darin weicht meine Lektüre von derjenigen Newmans (Anm. 12) grundsätzlich ab, die die strukturelle Affinität von “Heidelberg politics” und “Opitz’s poetics” auf das erst 1624 geschriebene Buch von der Deutschen Poeterey beziehen möchte, wo dieser ‘subtext of alliance’ aber gerade nicht mehr virulent ist. 19 Vgl. Zincgrefs ausdrückliche Engführung von Nationalsprache (bzw. -literatur) und Nationalpolitik in der Feststellung, es sei “nicht ein geringeres Joch […]/ von einer außländischen Sprach/ als von einer außländischen Nation beherrschet vnd Tyrannisiret [zu] werden”, Teutsche Poemata (Anm. 2), fol.): ( 2 v . 20 Insofern Opitz die vergebliche Belagerung Leidens durch die Spanier 1574 poetisch mit den 1616 unter republikanischen Vorzeichen erschienenen Nederduytschen Poemata des Daniel Heinsius verschränkt und so in seinem Schlußbekenntnis zu ‘hochdeutscher’ Nachfolge implizit auch für politische Orientierung am Freiheitskampf der niederländischen Generalstaaten votiert, vgl. ebd., S. 9f. 21 Ebd., S. 104. 22 Triumf Newlich bey der F. kindtauf zu Stutgart gehalten. Beschriben Durch G. Rodolfen Weckherlin. Stuttgart 1616. Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Ludwig Krapf / Christian Wagenknecht (Hgg.): Stuttgarter Hoffeste. Texte und Materialien zur höfischen Repräsentation im frühen 17. Jahrhundert. Tübingen 1979, S. 3 -186. 23 Ebd., S. 15. 24 Ebd., S. 19 und 21. 25 Die Übersetzung ist gleichfalls noch 1616 unter dem Titel Trivmphall Shevvs Set forth lately at Stutgart im selben Verlag erschienen. Krapf/ Wagenknecht bieten die englische Fassung im Paralleldruck mit der deutschen. 26 Weckherlin (Anm. 22), S. 23/ 25. 27 Ebd., S. 25/ 27. 28 Dabei wird die topographische Geographie überlagert von einer politisch semantisierten, besonders augenfällig für das Personal des vorgeblich aus dem Osten kommenden Kopfes: Allein die Polen vermögen dieser Zuordnung zu entsprechen, während Spanien und Italien zum ‘Osten’ nur dann sinnvoll gerechnet werden können, wenn damit das ‘Ostenreich’, Österreich, eben der habsburgisch-katholische Machtbereich gemeint ist. Diese in der Inszenierung angelegte ‘Lagersemantik’ wird jedoch demonstrativ überspielt. 29 Weckherlin (Anm. 22), S. 27. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 29. 32 Vgl. Silvia Weimar-Kluser: Die höfische Dichtung Georg Rudolf Weckherlins. Bern/ Frankfurt a.M. 1971, S. 48. Von “ein[em] der frühesten deutschsprachigen Sonette” spricht Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Eine pragmatische Gattungskonzeption. Tübingen (im Druck; Ms., S. 218) mit Rücksicht auf vereinzelte Vorläufer des 16. Jahrhunderts. 33 Weckherlin (Anm. 22), S. 29. ‘Er tanzte nur einen Winter’ 203 34 Vgl. dazu Christian Wagenknecht: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie. Mit einem Anhang: Quellenschriften zur Versgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. München 1971, S. 20 -24, der von der “‘ratio nova’ der deutschen Renaissancepoesie” spricht (S. 20). 35 Vgl. Leonard Wilson Forster: Georg Rudolf Weckherlin. Zur Kenntnis seines Lebens in England. Basel 1944, S. 25. 36 Weckherlin (Anm. 22), S. 28. 37 Ebd., S. 25. 38 Ebd., S. 31. 39 Der Aristarchus wird zitiert nach der Ausgabe von Fechner (Anm. 15), S. [65]-[90], hier S. [83]. Ein metrisches Gesetz nach romanischem Vorbild, das ebensogut auf den Weckherlinschen Triumf gemünzt sein könnte, wird wenig später formuliert: “Observandus saltem accurate syllabarum numerus, ne longiores duo versus tredecim, breviores duodecim syllabas excedant: quarum in his ultima longo semper tono; in illis molli & fugiente quasi producenda est. Et ˜ attendendum, ut ubique sexta ab initio syllaba dictione integra claudatur, & versus ibi veluti intersecetur. Est & aliud genus, quod Franci Vers communs appellant, decem ac undecim syllabarum, quod post quartam respirat semper & interquiescit” (S. [86]f.). 40 Vgl. Wagenknecht (Anm. 34), S. 23f., der auch auf die derselben romanischen Prosodie verpflichteten Alexandriner hinweist, die Tobias Hübner 1613 zur Beschreibung Der Reiß (Anm. 13) auf die Heidelberger Hochzeit beigesteuert hatte. 41 Vgl. die 1990 von Saur, München, produzierte Microfiche-Ausgabe des Triumf nach dem Exemplar der Bibliotheca Palatina. 42 Teutsche Poemata (Anm. 2), Titelblatt. Der Anhang umfaßt S. 161-224. 43 Zur Charakterisierung der im Anhang versammelten Poeten vgl. Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern von Schede bis Zincgref. In: ZfdA 103 (1974), S. 200 -241, hier S. 226 -236. 44 Diese Pionierleistung streicht Zincgref in seiner Vorrede zu den Teutschen Poemata (Anm. 2), fol.): ( 3 r / ): ( 3 v , deutlich heraus: “Vnser Opitius, welcher vns recht gewiesen/ was vor ein grosser vnderschied zwischen einem Poeten vnd einem Reimenmacher oder Versificatoren sey/ hat es gewagt/ das Eiß gebrochen/ vnd den new ankommenden Göttinen [den Musen] die Furth mitten durch den vngestümmen Strom Menschlicher Vrtheil vorgebahnet/ also daß sie jetzo nicht minder mit vnserer/ als vor diesem mit anderer Völcker Zungen der werthen Nachkommenheit zusprechen […]”. 45 Vgl. Opitz (Anm. 8), S. 21f., zu seinen “deutschen Poematis, die vnlengst zue Straßburg auß gegangen”: “Welches buches halben/ das zum theil vor etlichen jahren von mir selber/ zum theil in meinem abwesen von andern vngeordnet vnd vnvbersehen zuesammen gelesen ist worden/ ich alle bitte denen es zue gesichte kommen ist/ sie wollen die vielfältigen mängel vnd irrungen so darinnen sich befinden/ beydes meiner jugend/ (angesehen das viel darunter ist/ welches ich/ da ich noch fast ein knabe gewesen/ geschrieben habe) vnnd dann denen zuerechnen/ die auß keiner bösen meinung meinen gueten namen dadurch zue erweitern bedacht gewesen sein. Jch verheiße hiermitt/ ehestes alle das jenige/ was ich von dergleichen sachen bey handen habe/ in gewiße bücher ab zue theilen/ vnd zue rettung meines gerüchtes/ welches wegen voriger vbereileten edition sich mercklich verletzt befindet/ durch offentlichen druck jederman gemeine zu machen.” Der vollständige Titel der versprochenen Neuausgabe lautet denn auch unmißverständlich: Acht Bücher, Deutscher Poematum durch Jhn selber heraus gegeben/ auch also vermehret vnnd vbersehen/ das die vorigen darmitte nicht zu uergleichen sindt. 46 Die gängigen Erklärungen dieses symbolischen Autodafés, teils metrischer Art (Opitz habe inzwischen Klarheit über seine metrischen Grundsätze gewonnen, woran gemessen die Heidelberger Gedichte aus der Zeit bis Herbst 1620 nicht durchgängig hätten bestehen können), teils politischer Art (Gedichte wie das Gebet/ daß Gott die Spanier widerumb vom Rheinstrom wolle treiben waren nicht mehr opportun), etwa bei Günter Häntzschel: “Die Keusche Venus mit den gelerten Musis”. Martin Opitz in Heidelberg. In: Klaus Manger / Gerhard vom Hofe (Hgg.): Heidelberg im poetischen Augenblick. Die Stadt in Dichtung und bildender Kunst. Heidelberg 1987, S. 45 - 81, hier S. 50f. 47 Teutsche Poemata (Anm. 2), S. 161. 48 Vgl. Erich Trunz: Nachwort des Herausgebers. In: Martin Opitz: Geistliche Poemata 1638. Hg. v. Erich Trunz. Tübingen 2 1975, S. 1*-28*, hier S. 13*: “Als im Oktober 1620 ein habsburgisches Heer sich der Stadt näherte, ging der Kreis um Lingelsheim auseinander. Zincgref floh nach Frankfurt, dann nach Straßburg. Dorthin ging auch Lingelsheim. Barth fuhr nach Leipzig, Hamilton nach der Schweiz, Opitz nach Holland.” Weckherlin, so wäre zu ergänzen, war bereits und blieb nun vollends in England. 49 Vgl. dazu Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt a.M. 1992, S. 63 -74; Zitat: S. 74. Nicola Kaminski 204 50 Vgl. Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Bd. 4: Neuzeit. Berlin/ New York 2000 (zuerst Berlin 1920), S. 197; zur oranischen Heeresreform insgesamt S. 197-220. 51 Vgl. Wolfgang Reinhard: Humanismus und Militarismus. Antike-Rezeption und Kriegshandwerk in der oranischen Heeresreform. In: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus. Weinheim 1986, S. 185 -204, hier S. 191-193, und Gerhard Oestreich: Der römische Stoizismus und die oranische Heeresreform [1953]. In: Ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, S. 11-34. 52 Vgl. Burkhardt (Anm. 49), S. 70, sowie Reinhard (Anm. 51), S. 199. Grundlegend Werner Hahlweg: Die Heeresreform der Oranier und die Antike. Studien zur Geschichte des Kriegswesens der Niederlande, Deutschlands, Frankreichs, Englands, Italiens, Spaniens und der Schweiz vom Jahre 1589 bis zum Dreißigjährigen Kriege. Berlin 1941. 53 Dilich verfaßte sein Kriegsbuch aufgrund eigenen Studiums der oranischen Heeresreform in den Niederlanden sowie auf Anregung des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel, der selbst zu den ersten Verfechtern der Reform auf deutschem Boden gehörte. Hier zitiert nach der erst posthum erschienenen erweiterten Neubearbeitung aus den 40er Jahren: Wilhelm Dilich: Kriegsbuch darin die Alte und Newe Militia aller örter vermehret, eigentlich beschriben und allen kriegsnewlingen, Baw- und Büchsenmeistern, zu nutz publicirett. Frankfurt a.M. 1689, Teil II, S. 80. Vgl. dazu Hahlweg (Anm. 52), S. 154 -157. 54 Dilich (Anm. 53), Teil II, S. 81. 55 Ebd., Teil I, S. 93. 56 Wallhausen, der 1617 Direktor der von Johann von Nassau in Siegen gegründeten Kriegsschule war, steht auch mit seiner Biographie für die Geburt des neuen oranischen Heerwesens aus dem Geist humanistischer Philologie ein; war er doch, bevor er 1599 nach einem Duell von der Marburger Universität in die Niederlande floh und dort die militärische Laufbahn einschlug, für den Pfarrberuf vorgesehen. Vgl. dazu Ulrich Wendland: Zur Lebensgeschichte des Danziger Hauptmanns Johann Jacobi von Wallhausen. In: Mitteilungen des Westpreußischen Geschichtsvereins 35 (1936), S. 81-92. Zu Wallhausen ferner Werner Hahlweg: Einleitung. In: Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen Johann von Nassau-Siegen. Bearbeitet von Werner Hahlweg. Mit zahlreichen Abbildungen hg. v. der Historischen Kommission für Nassau. Wiesbaden 1973, S. 1*-54*, hier S. 22*-24*. 57 Vgl. Delbrück (Anm. 50), S. 259f. 58 Burkhardt (Anm. 49), S. 74. 59 Vgl. dazu Delbrück (Anm. 50), S. 250 -260. 60 Dazu Reinhard (Anm. 51), S. 197f. 61 Delbrück (Anm. 50), S. 251f. 62 Vgl. ebd., S. 204: “Die alten Kriegsmänner, auch der Graf Hohenlohe, der militärische Mentor des Prinzen Moritz [von Oranien], lachten und spotteten über solche Künste, die in ernster Schlacht doch verwehen würden”. 63 Teutsche Poemata (Anm. 2), fol.): ( 4 r . 64 Ebd., S. 161. 65 Ebd., S. 196f. - Moritz von Oranien starb 1625 im Alter von 57 Jahren. “In seinen letzten Lebensjahren konnte M. nicht mehr an seine früheren militärischen Erfolge anknüpfen.” Georg Schmidt: Moritz Graf von Nassau- Katzenelnbogen, Prinz von Oranien. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 18. Berlin 1997, S. 139 -141, hier S. 141. Weckherlins Ode erschien zuerst 1619 in seinem Andern Buch Oden vnd Gesäng; vgl. Georg Rodolf Weckherlin. Gedichte. Ausgewählt und hg. v. Christian Wagenknecht. Stuttgart 1972, S. 46 - 48. 66 Diesem alten, ‘ritterlichen’ Paradigma entspricht auch die Bündelung von Unterweisung im (höfischen) Tanz, Musikunterricht und Ausbildung der Prinzen im Fechten und Reiten in der Hand des Tanzmeisters. Ingrid Brainard: Der Höfische Tanz. Darstellende Kunst und Höfische Repräsentation. In: August Buck u.a. (Hgg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Bd. II. Hamburg 1981, S. 379 -394, hier S. 382. 67 Teutsche Poemata (Anm. 2), S. 196, Str. 1, V. 1-3. 68 Dilich (Anm. 53), Teil II, S. 80. 69 Ebd. 70 Vgl. Siegfried Kross: Geschichte des deutschen Liedes. Darmstadt 1989, S. 16f. 71 Dilich (Anm. 53), Teil II, S. 80. 72 Besonders deutlich im Widmungspoem von Heinsius’ Freund Petrus Scriverius, der die Nederduytschen Poemata auch herausgegeben hat; darin entwirft er die durch Heinsius repräsentierte “Neerlandsche Poësy” als Produkt einer unüberwindlich indigenen “Duytsche[n] tael” im Kontrast zu “Vranckrijck”, das “genootdruckt ‘Er tanzte nur einen Winter’ 205 zijnen hals in’t Roomsche iuck” gesteckt habe: “VVy houden onse tael, vvy sijn noch even coen. | Maer Vranckrijck is verheert, en houdt niet op van pralen: | Zy dencken niet vvaer haer de naem komt vande VValen. | Ist niet, om dat haer spraeck by minsten ende meest | Gevvisselt en vervvaelt vvel eertijdts is gevveest? | O Galli sonder gall, ghy liet u soo manieren! | Daer tegen sijn vvy noch gebleven Batavieren, | Geen dienstbaerheyt gevvent: en op een vrijen grondt | Ist dat vvy noch van outs behouden onsen mondt: | Van niemandt niet gesnoert, van niemant niet gebonden, | Iae in het minste niet van yemandt oock geschonden. | VVech, vvech uytheemsch gedrocht. de Vlaemsche soete maecht | Die sal vvel schicken, dat zy Hollandt vvel-behaecht”. Daniel Heinsius: Nederduytsche Poemata. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1616. Hg. und eingeleitet von Barbara Becker-Cantarino. Bern/ Frankfurt a.M. 1983, “Voor-reden”, S. 11 und 12. Derselben Tonart sind auch die ersten drei Gedichte von Heinsius selbst verpflichtet: Op de doot ende treffelicke victorie van de mannelicken helt I ACOB H EEMSKERCK , Admirael, begraven binnen Amsterdam, Aen Leyden und Op het belech van O OSTENDE , ebd. S. 3 -13. 73 Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Einleitung, ebd., S. 11*-84*, hier S. 44*; hingegen verfaßte Heinsius 1625 eine lateinische Gedenkrede auf Moritz von Oranien, die sich großer Beliebtheit erfreute (ebd., S. 19*). 74 Ebd., “Voor-reden”, S. 6. 75 Zur spanischen Truppenorganisation, die bis zur oranischen Heeresreform die effektivste Europas war, vgl. Reinhard (Anm. 51), S. 189: “Die spanische Armee war in Kompanien von 120 bis 150 Mann und Regimenter von 1200 bis 1500 Mann gegliedert. Taktische Einheit war der ‘Tercio’ in Gestalt eines quadratischen Gewalthaufens von Spießträgern, dem an den Seiten oder den Ecken die Arkebusiere, die Büchsenschützen, beigegeben waren. Dieses Gebilde war schwer zu schlagen und nach allen Seiten gleichmäßig gedeckt, wegen seiner Schwerfälligkeit aber primär von defensivem Charakter. Außerdem konnte die unter Umständen beträchtliche Feuerkraft in dieser Aufstellung nicht voll ausgenutzt werden. Sie hatte aber den Vorteil, daß ungeübte Spießträger leicht zu integrieren waren. Es gab ja keine eigentliche Ausbildung, sowenig wie eine Uniform […].” 76 Vgl. Cornelis Kiel: Etymologicum Teutonicæ Linguæ: sive Dictionarium Teutonico-Latinum […]. Editio tertia, prioribus auctior & correctior. Antwerpen 1594, S. 302. Demnach bedeutet “Maete” (worauf man von “Mate” verwiesen wird) zwar allgemein “Mensura, modus, modulus, metrum, mensus, proportio, numerus, moderatio, temperamentum. ger. maß”, zugleich wird aber auch das spezielle Lemma “maete/ slagh van den sanck. Modi, moduli, mensura cantus” notiert. Vgl. auch Thesaurus Theutonicæ Linguæ. Schat der Neder-duytscher spraken […]. Antwerpen 1573, fol. f 4 v : “Mate des sangs. Mesure de musique. Modulatio”. “Toon” wird bei Kiel als “Tonus, sonus, tenor, accentus, numerus” erklärt (S. 562). Den Hinweis auf die musikalische Konnotation von “mate” verdanke ich Maik Bozza (Tübingen). 77 Martin Opitz: Dan. Heinsii Lobgesang Jesu Christi des einigen vnd ewigen Sohnes Gottes: Auß dem Holländischen in Hoch-Deutsch gebracht. Görlitz 1621. Zitiert nach: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. I: Die Werke von 1614 bis 1621. Stuttgart 1968, S. 267-390, hier S. 275. Das anstelle dieser Vorrede in den Deutschen Poemata 1625 der Übersetzung vorangestellte lateinische Widmungsgedicht, welches die Überschrift jedoch bereits auf den 1. Januar 1620 datiert, hatte, bezogen auf den Versuch metrischer Nachbildung der niederländischen Vorlage, noch um Nachsicht geworben: “Da veniam, Batavae decus et laus unica terrae, | Excidit a numeris si mea cura tuis.” Ebd., S. 277, V. 5f. 78 Das gilt nicht nur für die deutschen Verhältnisse, sondern auch für die niederländische Republik; war der 1609 auf zwölf Jahre geschlossene Waffenstillstand mit Spanien, währenddessen Heinsius sowohl die Nederduytschen Poemata als auch den Lof-sanck van Iesvs Christvs veröffentlicht hatte, doch bereits im April 1621 abgelaufen. Die der Vorrede vorangestellte Widmung an Caspar Kirchner ist datiert “zu außgange des M DC XXI. Jahres” (ebd., S. 273). 79 Ebd., S. 273f., hier S. 274. 80 “Der gleichen in dieser Sprach Hiebevor nicht auß kommen”, heißt es auf dem Titelblatt der Teutschen Poemata (Anm. 2) im Anschluß an die Aufzählung der enthaltenen Werke samt Anhang. 81 Ebd., S. 118 -142, direkt nach dem Aristarchus mit seiner Empfehlung “Gallico more” gebauter Verse (S. 112). Zincgref legte seinem Abdruck offenkundig die 1621 erschienene Einzelausgabe zugrunde. 82 Vgl. die erste und die dritte Prämisse des Exerzierens im Brief des Grafen Wilhelm Ludwig von Nassau an Prinz Moritz von Oranien am 8. Dezember 1594: “Erstlick, dat geen soldaten te sprecken behoort, om die bevelen desto beter te verstaen. […] Ten derden, dat voor al in het gebieden het species moet voorgenoemt werden, om te mijden die confusie. Exempli gratia: Als ick segge: ‘Keert u rechts om’, sal die soldaet wegen het woort ‘keren’, so haest ‘slinx om keren’, aleer hij verstanden hefte ofte verwacht heft te hooren het woort rechts om. Maer segge ick erst het species: ‘Rechts om keert u’, weet ende verstaet die soldaet, dat hij rechtsom wat doen Nicola Kaminski 206 sal ende verwachtet het bevel, het sij dan, dat hij sich keren, swencken off in die gleder off rijen treden sal ofte die gleder ofte rijen swencken sal.” Zitiert nach Hahlweg (Anm. 52), S. 255 -264, hier S. 259. 83 Opitz (Anm. 8), S. 37f. 84 Das gilt insbesondere für das erste der beiden zitierten Lieder Martin Luthers, das Kinderlied/ Zu singen/ wider die zween Ertzfeinde Christi vnd seiner heiligen Kirchen/ den Bapst vnd Türcken, auf dessen Eingangszeile sich der antipapistische Appell “Vnd steur des Bapsts vnd Türcken Mord” reimt. Martin Luther: Die deutschen geistlichen Lieder. Hg. v. Gerhard Hahn. Tübingen 1967, S. 53, Nr. 35. Im Duktus klingt das gar nicht so anders als das Gebet/ daß Gott die Spanier widerumb vom Rheinstrom wolle treiben. 1620 in den Teutschen Poemata; entscheidend ist aber, daß der militante Kampfimpetus jetzt ästhetisch - metrisch - diskursiviert wird. 85 Vgl. Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses. Bd. 3. Berlin 2 1956, S. 162f., der den Alexandriner als “Achttakterlangzeile” bzw. als “Langzeile aus zwei Viertaktern” bestimmt. Die neuerdings übliche, nur die positiv realisierten Hebungen zählende Auffassung des Alexandriners als eines sechshebigen Jambus (so etwa Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. München 2 1989, S. 63f. und S. 127) nimmt in Kauf, daß die obligatorische Mittelzäsur sowie das (klingende oder stumpfe) Versende damit ihre Hörbarkeit einbüßen. 86 Zum oranischen Exerzierreglement und seinem Fortschreiten “von der Ausbildung des einzelnen Mannes bis zum Exerzieren der größten Truppenverbände einer Waffe” vgl. Hahlweg (Anm. 52), S. 113 -119; Zitat: S. 113, Anm. 271. Besonders verblüffend etwa die Strukturanalogie zwischen dem von den Oraniern favorisierten chorischen Kontremarsch (vgl. dazu Reinhard [Anm. 51], S. 195f.) und der Reimordnung der Sestine. 87 Zum Begriff und seiner Problematik vgl. Wagenknecht (Anm. 34), S. 27. 88 Opitz (Anm. 8), S. 14. 89 Ebd., S. 18. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 17. 92 Ebd., S. 18. 93 Diese Formulierung wählt 1636 Gryphius’ Sonett Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes. 94 Opitz (Anm. 8), S. 24f. 95 Ebd., S. 25. 96 Überhaupt verschwinden in den Deutschen Poemata die Melodieangaben aus den Gedichttiteln; vgl. dagegen Teutsche Poemata (Anm. 2), S. 52 (“Auff die Melodey: Kehr vmb mein Seel/ etc.”), S. 89 (“Vff die Melodey/ Aupres du bord de Seine”), S. 92 (“Ein anders [Lied]/ auff die Melodey/ Allons dans ce boccage”), S. 100 (“Liedt/ im thon: Ma belle je vous prie”), S. 101f. (“Vff die weiße: Angelica die Edle” sowie, darauf bezogen, “Palinodie oder widerruff deß vorigen Lieds”). 97 Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626. 2. Teil. Stuttgart 1979, S. 673 - 675, hier S. 673. 98 Vgl. die Bemerkung zur literaturgeschichtlichen Situation vor Heinsius in Scriverius’ “Voor-reden” (Anm. 72), S. 6f.: “Gelijck [wie die nicht auf “toon ende mate” achtenden Franzosen] oock meest de onse, die tot noch toe eenich gedicht in haer moeders tale geschreven ende uytgegeven hebben.” Auch das übernimmt Opitz in die Vorrede zur Lof-sanck-Übersetzung: “von vns aber noch fast keiner/ meines wissens/ sich darauff [auf “den thon vnd das maß der Syllaben”] verstanden”, Opitz (Anm. 77), S. 275. Zur metrischen “Uneinheitlichkeit” des Bloem-Hof und zum Nebeneinander von “Alte[m] und Neue[m] […] in ungeordneter Vielfalt” vgl. Ulrich Bornemann: Anlehnung und Abgrenzung. Untersuchungen zur Rezeption der niederländischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts. Assen/ Amsterdam 1976, S. 41, sowie ausführlich L.M. van Dis: Inleiding. In: Den Bloem-hof van de Nederlantsche ieught. Naar de drukken van 1608 en 1610 uitgegeven, ingeleid en geannoteerd door L.M. van Dis met medewerking van Jac. Smit. Amsterdam/ Antwerpen 1955, S. V-XVII, bes. S. VI-XIII. Bemerkenswert ist zum einen die konzeptuelle Ähnlichkeit mit den Teutschen Poemata und insbesondere ihrem Anhang, zum anderen, daß “Opitz bis auf wenige Ausnahmen nur solche Gedichte übersetzt, die im neuen Stil verfasst sind” (Bornemann, S. 41); das Cupido-Gedicht zählt zu diesen Ausnahmen. 99 Bloem-hof (Anm. 98), S. 24f. Titel und Untertitel (bzw. Melodieangabe) des Liedes lauten schlicht: “Courante. Si cest pour mon pucellage”. 100 Opitz (Anm. 97), S. 673. 101 Teutsche Poemata (Anm. 2), S. 161. 102 Auch die ursprünglich englische Formation mit abschließendem Couplet ist jetzt zugunsten zweier Terzette in romanischer (und durch Opitz kanonisierter) Manier aufgegeben, vgl. Opitz (Anm. 8), S. 41- 43. ‘Er tanzte nur einen Winter’ 207 ¯ ¯ ¯ ¯ 103 Georg Rodolf Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte. Amsterdam 1641, S. 273. 104 Vgl. Opitz (Anm. 8), S. 39. 105 Teutsche Poemata (Anm. 2), S. 57, und Opitz (Anm. 97), S. 674f. 106 Opitz (Anm. 8), S. 38. 107 Kross (Anm. 70), S. 16. Sowie freilich Text und Melodie im gesungenen Lied aufeinandertreffen, bedeutet das in der Praxis einer akzentuierenden Sprache, daß der musikalische Rhythmus den Sprachakzent unterwirft. Vgl. das von Gary C. Thomas: Dance Music and the Origins of the Dactylic Meter. In: Daphnis 16 (1987), S. 107-146, hier S. 136f., zitierte Beispiel von Johann Hermann Scheins Madrigal Die Vöglein singen aus dem Jahr 1624, dessen erste acht Zeilen nach den rhythmischen Vorgaben einer Galliard-Melodie folgendermaßen zu singen sind: “Díe Vöglein síngèn, | Díe Tierlein spríngèn, | Díe Lüftlein saúsèn, | Díe Bächlein braúsèn, | Díe Bäumlein láchèn. | Díe Felsen kráchèn, | Díe Schäflein weídèn, | Aúf grüner Heídèn”. 1645 gibt der Dichter und Komponist Martin Rinckart in einem analogen Fall als Begründung ausdrücklich an: “Denn daß es also nothwendig müsse gezeichnet und gemessen werden/ das erfordern und weisen die Noten/ und dero Klang und Gesang/ und nicht anders” (ebd., S. 136, Anm. 45). 108 Verbessert aus “betrübtes”. 109 Verbessert aus “davor.”. 110 Zitiert nach Heinrich Kindermann (Hg.): Danziger Barockdichtung. Leipzig 1939, S. 58f. 111 Und zwar, wie Bornemann (Anm. 98), S. 192, zu Recht betont, “trotz Opitz’ Gebot und noch vor Zesens und Buchners Segen” seit den ausgehenden 30er Jahren. 112 Zugleich bietet Plavius’ Courante mit ihrer Kombination von daktylischen und trochäischen Versfüßen auch ein musikalisches Lösungsmodell an. Gilt doch für die Musik, daß sie “sowohl alternierende Sprachbetonung im dreiteiligen Takt (als Folge von Länge und Kürze) als auch daktylische und anapästische Metren im geraden Takt umzusetzen” vermag (Kross [Anm. 70], S. 16). Entsprechend stellt Marin Mersennes Harmonie universelle 1636 zur (auftaktigen) Courante fest, sie lasse die Tanzenden “courir souz un air mesuré par le pied Iambique u -“ (zitiert nach Hilton [Anm. 11], S. 172, Anm. 9), und Raoul Auger Feuillet präzisiert in seiner Chorégraphie von 1700, sie messe “deux Pas pour chaque Mesure, dont le premier occupe les deux premiers temps de la mesure & le deuxième Pas n’occupe que le troisième temps” (ebd., S. 166). Für Opitz’ Lied An den Cupidinem ergäbe sich demnach - ebenso wie für die Kurzzeilen von Plavius’ Courante - der Ausweg ungeradtaktigalternierender, da quantitierender Prosodie: “O Du Gott der süssen Schmertzen” usf. Mit oranischem Marschschritt hat das freilich nicht mehr viel zu tun; nicht umsonst hatte das Buch von der Deutschen Poeterey die Einführung der akzentuierenden Metrik strikt mit der Abschaffung des (antiken) Quantitierens verknüpft. In diesem Horizont stellt die vorgeblich in der Opitz-Nachfolge vollzogene Akkreditierung des Daktylus durch Buchner, Zesen u.a. tatsächlich eher einen Schulterschluß mit dem Opitzgegner Plavius dar, insofern sie unter dem Deckmantel der Akzentuation im Rückgriff auf quantitierende Schrittmessung den militärischen Gleichschritt der Versreform tänzerisch unterläuft; vgl. dazu ausführlich Thomas (Anm. 107). 113 Auff Herren Matthei Ruttarti/ vnd Jungfraw Annæ Namßlerin Hochzeit. In: Opitz (Anm. 77), S. 92-94, hier S. 92, V. 17, 19 und 21f. 114 Teutsche Poemata (Anm. 2), S. 2. 115 Vgl. Opitz (Anm. 97), S. 602, V. 21f.: “Jhr Wille war/ jhr Sohn der solte bey mir bleiben/ | Vnd vnsre Deutsche Sprach’ auffs best’ ich wüste treiben”. 116 Bloem-hof (Anm. 98), S. 24, Str. 2, V. 3. 117 Lateinische Übersetzung der Taktik des Ailianos von Theodoros Gazes, Leiden 1592. Zitiert nach Hahlweg (Anm. 52), S. 197-230, hier S. 222. 118 Exerzierreglement für die niederländische Infanterie unter Moritz von Oranien 1610. Zitiert nach ebd., S. 287-291, hier S. 287. Theaterwissenschaft Erika Fischer-Lichte Christian Horn Matthias Warstat Sandra Umathum (Hrsg.) Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften Theatralität 6, 2004, 266 Seiten, 4 Abb., € 39,90/ SFr 67,50 ISBN 3-7720-8052-9 „Theatralität“ hat sich im letzten Jahrzehnt zu einem der zentralen Forschungskonzepte in den Kulturwissenschaften entwickelt. Wer von Theatralität spricht, meint den Aufführungscharakter von Kultur und fokussiert den Blick auf die schier endlose Abfolge von inszenierten Ereignissen in allen Lebensbereichen. Die produktive Übernahme dieser Perspektive hat die kulturwissenschaftlichen Fächer nachhaltig verändert und der Forschung entscheidende neue Impulse geliefert. Theater zum Modell für Wirklichkeit zu erheben, führt dazu, Methoden, Interessen und Darstellungsweisen der Wissenschaften grundlegend zu überdenken. Im sechsten Band der Reihe Theatralität bilanzieren führende Vertreter von zehn kulturwissenschaftlichen Disziplinen die Entwicklung ihrer Fächer im Zuge der Theatralitätsforschung. A. Francke Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · D-72015 Tübingen www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets (1760) aus mediengeschichtlicher Sicht Mathias Spohr Wenn das 19. Jahrhundert 125 Jahre zählt - von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg - besteht das 18. Jahrhundert nur aus 75: Nach dem Tod des Sonnenkönigs 1715 setzt eine umfassende Revision absolutistischer Repräsentativität ein, mündend in eine “Epoche”, die man mit Etiketten wie “Empfindsamkeit” oder “Rokoko” bedacht hat. Scheinbar handelte es sich bei diesen Veränderungen um Verbesserungen, Errungenschaften; zumindest wurde dies noch im 20. Jahrhundert so dargestellt: Künstliches sei hier endlich zu Natürlichem geworden. Eine “barocke”, äußerliche Ornamentik, schickliche Ziererei, höfisches Gehabe werde nun zunehmend mit Leben erfüllt. 1 So die Lehrmeinung. Die politischen Veränderungen im Vorfeld der Französischen Revolution hängen damit zusammen. Etwa seit 1750 erscheinen bedeutende theoretische Schriften, die diese Entwicklungen gewissermaßen zusammenfassen. Dazu gehören die 1760 in Lyon erschienenen Lettres sur la danse, et sur les ballets von Jean-Georges Noverre. 2 Noverres “ballet en action”, ein Balletttypus, dem mit diesen Ausführungen der Weg gebahnt werden soll, ersetzt statische Tanzformen durch dramatische Handlung, Maskenhaftigkeit durch “natürlichen” Ausdruck. 3 De facto wurde hier ein wachsender Einfluss der öffentlichen Jahrmarktspantomimen auf den stets noch exklusiven höfischen Tanz theoretisch legitimiert, ein Anspruch des trivialen Genres auf das noble - was Noverre auch gewunden zugibt, aber nicht ohne die Bekräftigung, dass ihm nur das Noble am Herzen liege. Bewundernd betrachtet der Hoftänzer Noverre die tänzerischen Jahrmarktsattraktionen, aber er will sich doch von ihnen unterscheiden. Wie bei manchen Autoren seiner Zeit zeigt sich bei ihm ein recht zwiespältiges Verhältnis von Theorie und Praxis. Einer, der ein bedeutender Praktiker zu sein versucht, wird vielmehr zum bedeutenden Theoretiker, ganz entgegen der mittelalterlichen Tradition, in der Theorie als Praxisverzicht, nicht im Hinblick auf Nutzanwendung, verstanden wurde. Noverre ist hingegen schon einer jener modernen Theoretiker, die Loblieder auf die Praxis singen, Praxisferne beklagen und dabei doch irgendwie verhinderte oder sich selbst verhindernde Praktiker sind - weil sie entweder den Anforderungen dieser Praxis nicht recht genügen oder sich trotz allem Bekenntnisdampf vornehm von ihr zu unterscheiden versuchen. Im Grunde sind auch diese Theoretiker nicht frei von einer idealisierenden Praxisferne, sonst wären sie nicht zu Theoretikern geworden. Jean-Jacques Rousseau gab seine Kinder im Waisenhaus ab, um besser seine Erziehungstheorien schreiben zu können. Obwohl Noverre in Wien, Mailand oder London bedeutende Positionen errang, wurde keines seiner programmatischen Ballette zum “Repertoirestück”, ähnlich wie Denis Diderots K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Mathias Spohr 210 bürgerliche Rührstücke auf dem Theater keine große Wirkung hatten, wogegen seine theoretisch dargelegte Idee dazu sehr einflussreich war. Gewiss war Noverre eher ein Theaterpraktiker als Diderot, aber seine besondere Qualität war es, über diese Praxis reden bzw. schreiben zu können, bis seine Zuhörer und Leser glaubten, dass sie für sich selbst stehe. Und so konnte er eine kurze Zeit lang Ballettmeister an der Pariser Opéra werden, zehn Jahre bevor die Revolution einiges wegfegte. Noverre war nicht im modernen Sinne eines Zählbaren erfolgreich, weil er sich dezidiert an ein aristokratisches Publikum, an hoch gestellte Entscheidungsträger und höchstens in zweiter Linie an die Basis einer “bürgerlichen” Öffentlichkeit wandte. So richten sich seine Tanzbriefe denn auch an einen aristokratischen “Monsieur”, der als Liebhaber oder Kenner dieser standesgemäßen Zerstreuung vom Fachmann unterrichtet wird. In den absolutistischen Instituten und Akademien wurde Ordnung zelebriert - Aufrechterhalten bestehender Modelle - und das widersprach jenem Geist des 18. Jahrhunderts, der zunehmend die persönliche Leistung der Ordnung vorzog. Noverre weist in seinen Lettres mehrmals darauf hin, dass die “émulation”, der Wettbewerb, der Tanztechnik in jüngster Zeit große Fortschritte beschert habe - Fortschritte, die jene Modelle veraltet erscheinen ließen. Ordnungsglaube verhindert Noverres Ansicht nach den Wettbewerb und damit den Fortschritt. 4 In der Pariser Opéra wie in der Comédie-Française wurden weiterhin die klassischen, oder um es mit der leicht abschätzigen deutschen Bezeichnung zu sagen, “klassizistischen” Vorbilder des 17. Jahrhunderts gepflegt - eine stete Angriffsfläche für die Kritik der Neuerer. Voilà donc de froides copies qui multiplient de cent manières différentes l’original, et qui le défigurent continuellement. […] Enfin, Monsieur, l’Opéra est, si j’ose m’exprimer ainsi, le spectacle des singes. 5 Natürlich schaffte sich Noverre mit dieser Kritik kaum Freunde an diesem Institut, das aber dennoch erklärtes Ziel seiner Bemühungen war: Die normierenden Institutionen wurden gerade durch ihre vehemente Bekämpfung in ihrer Bedeutung bestätigt, um solche Gegner dann früher oder später in sich aufzunehmen. Polemik dieser Art war häufig und konnte sehr erfolgreich sein, wie Rousseaus Streitschrift Discours sur les sciences et les arts (1750) bewies, die sich pauschal gegen die Errungenschaften der Zivilisation richtete. Das “18. Jahrhundert” ist geradezu besessen von einem Zersetzen der aufklärerischen Ideale eines Descartes oder Leibniz. Von Julien Offray de la Mettries L’Homme machine (1748) bis zu Denis Diderots Satiren wird der Ordnungsglaube des Rationalismus bissig zu Grabe getragen, und auch Immanuel Kants Hauptwerke tragen den Titel “Kritik” - was dann von einer Geisteswissenschaft seit dem späteren 19. Jahrhundert, die diese Zeit als ein Aufbauen statt ein Zerstören zu begreifen versuchte, beflissen zugedeckt wurde. In Noverres Schrift, und dies sei die Thematik des vorliegenden Aufsatzes, zeigen sich sehr deutlich drei problematische, weil paradoxe Vorstellungen einer Technikideologie, die sich im 18. Jahrhundert als Reaktion auf den absolutistischen Rationalismus entwickelt und im 19. und 20. Jahrhundert - gerade was semiotische Theoriebildung betrifft - etwelche Verwirrung stiftet. Noverres Tanztechnik soll hier stellvertretend für jede erdenkliche Technik stehen. 6 Induktion der Künste auf eine gemeinsame Basis ist erklärtes Ziel jener Zeit, wie es sich in etwa in Charles Batteux’ Les Beaux-Arts réduits à un même principe (1746) niederschlägt. Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets 211 Wirklichkeit als ein Lesen Tanz und Bild, wie Noverre ausführt, seien übersprachliche Sprachen: “La peinture et la danse ont cet avantage sur les autres arts […] que leur langage est universellement entendu et qu’ils font partout une égale sensation.” 7 Die “égale sensation” belegt die Gleichberechtigung der Betrachter, die nicht etwa durch fehlende Bildung von der Bedeutung des Vorgeführten getrennt seien. Bildbetrachter können fremdsprachig oder Analphabeten sein. So wird die Illusion eines direkten Verstehens gefördert, das keiner Übersetzung oder Entschlüsselung bedürfe. Aber gerade bei Noverres eigenen Balletten zeigte sich, dass ihre Unmittelbarkeit ausführlicher Kommentare bedurfte. 8 “Un ballet est un tableau”, 9 behauptet Noverre ganz zu Beginn. Und weiter noch: Que les maîtres de ballets qui voudront se former une idée juste de leur art, jettent attentivement les yeux sur les batailles d’Alexandre, peintes par Lebrun ; sur celles de Louis XIV, peintes par Van der Meulen […] 10 Tanz besteht also, wenn man diese Aussage beim Wort nimmt, in einem Lesen maßgeblicher Bilder. Gleichzeitig wird jedoch behauptet, dass der Tanz Natur sei im Unterschied zum Bild, das nur eine Kopie von Natur darstelle. “Un beau tableau n’est qu’une copie de la nature ; un beau ballet est la nature même […]” 11 In dieser widersprüchlichen Vorstellung wird die Priorität der Aufzeichnung gegenüber jeder “lebendigen” Wirklichkeit festgeschrieben: Die Kopie wird zum Plan gemacht, dem das Kopierte umgekehrt gehorchen solle. Das Ur-“Bild” entsteht erst als idealisiertes Abbild seiner gering geschätzten Kopie. 12 Der Körperlichkeit wird somit das Bild vorausgesetzt, der Mündlichkeit die Schrift. Aber zugleich wird nur das Lesen der Aufzeichnung, ihre Verwirklichung, als Natur anerkannt. Die Aufzeichnung wird einerseits negiert, als etwas zu Überwindendes, aber andererseits doch als vorbildlich betrachtet. Die Norm wird gerade durch ihre Bekämpfung verinnerlicht - wie ja auch die durch die Grammatiker von Port-Royal absolutistisch vereinheitlichte französische Sprache über die Revolution hinaus verbindlich bleibt und dann sogar als Muster der Gleichberechtigung gelten kann: als eine “Hochsprache”, die etwa George Bernard Shaw in seiner Vorrede zu Pygmalion (1916) als Desiderat des Englischen betrachtet. Solche impliziten Aufzeichnungen, die als gleichberechtigende Normen einem Beschriebenen vorauszugehen scheinen, sind bis zu Ferdinand de Saussure und über ihn hinaus ein Problem bei der Unterscheidung von signifiant und signifié. Jacques Derrida hat sie als latente Urschrift vor allem in Rousseaus Naturvorstellungen erkannt. 13 Tanz soll nach Noverre vom “compositeur” direkt in die Körper der Tänzer eingeschrieben werden, als lebendes Bild. Scharf verurteilt er in diesem Zusammenhang den “chorégraphe” als jemanden, der Tanz auf Papier festzuhalten versucht. Musiknoten könnten schnell gelesen, aber Tanzschrift nur sehr langsam entziffert werden: La Chorégraphie […] est l’art d’écrire la danse à l’aide de différents signes, comme on écrit la musique à l’aide de figures ou de caractères désignés par la dénomination de notes, avec cette différence qu’un bon musicien lira deux cents mesures dans un instant, et qu’un excellent Chorégraphe ne déchiffrera pas deux cents mesures de danse en deux heures. 14 Blattlesen sei für den Choreographen nicht ebenso möglich wie für den Musiker. Deshalb bleibt er für Noverre ein bedauernswerter Behinderter oder kleinlicher Akademiker. Ein automatisierbares, rationalisierbares Entziffern beim Lesen von Texten oder Musiknoten scheint unmittelbar zum lebendurchfluteten Kunstwerk werden zu können, wohingegen ein mühevolles, mit zahl- Mathias Spohr 212 reichen Unsicherheiten behaftetes Lesen von Tanzschrift nur zu einer starren Mechanik führe. Schülerhaftes, zu wenig beherrschtes Lesen wirkt “ausdruckslos”: Gerade die automatisierbare Handlung scheint also lebendig zu sein und die zögernde, fehlerhafte und unberechenbare Handlung erscheint mechanisch. Das Tote und das Lebendige sind in dieser Vorstellung vertauscht: Gerade das Automatisierte ist im hohen Grade mechanisch, während das unbeholfen Tastende die Kontingenz einer sozialen Verständigung behält. Durch Differenzierung zum Natürlichen Eindimensionalität sei künstlich, aber Differenzierung mache Kunst zur Natur, so lautet das mehrfach wiederholte Credo von Noverres Ästhetik. Noverre ist kein demokratischer Reformer. Für ihn ist der “homme bien né” differenziert und der “homme rustique” eindimensional: L’homme grossier et rustique ne peut fournir au peintre qu’un seul instant ; celui qui suit sa vengeance est toujours celui d’une joie basse et triviale. L’homme bien né lui en présente au contraire une multitude ; il exprime sa passion et son trouble de cent manières différentes […] 15 Durch Differenzierung geschähe also eine ethische und soziale Aufwertung des Trivialen, als Unterscheidung eines Besonderen von einem Allgemeinen. Diese Vorstellung wird paradox mit der genau entgegengesetzten Ansicht vermischt, dass durch Differenzierung eine Brechung höfischer Konventionen in Richtung eines allgemein Menschlichen erfolge, das im Unterschied zu höfischer Verstellungskunst und Intrigenkrämerei als höchste ethische Instanz gilt. Gerade durch Bildung scheint die verwerfliche Konvention abgestreift zu werden. Durch Brechung der bloß ornamentalen Symmetrien 16 in der Tanzbewegung, Ablegen der typisierenden Masken, Fließendmachen der harten Übergänge, werde Kunst zunehmend zu Natur und zugleich zu etwas höher Stehendem - so wie man heute die Illusion hat, dass ein Foto durch höhere Auflösung, differenziertere Farben, weitere Momentaufnahmen und hinzugefügten Ton immer “natürlicher” werde. In diesem Glauben wird die Technizität der Beobachtung hingegen fortlaufend verstärkt. Natürlich wird ein Text nicht dadurch lebendig, dass man den grob vereinheitlichenden Buchstaben A durch “angemessene” Lautzeichen für verschiedenste A-Laute ersetzt. Nur als Kontrast zum Allgemeinen des Vokals A gäbe es das Besondere des differenzierteren phonetischen Zeichens. Mit ihm würde zugleich eine Individualisierung und die Naturähnlichkeit mit einem “wirklich” Gesprochenen reproduzierbar gemacht - eine Forderung nach Natürlichkeit, die letzten Endes nur das Sprechen selbst erfüllen kann. Auch eine “differenziertere” Fassung bleibt Schrift. Das heißt: Die Isolation der Elemente aus einem Zusammenhang, deren individuelle Kombination mit einem spezifischen Umfeld eben diese Isolation wiederum aufheben soll, muss vorausgesetzt werden. Jedes Zusammenhängende wäre aus einem zuvor Isolierten zusammengefügt; dabei geht der Zusammenhang jedem denkbaren Isolieren voraus. Doch die Illusion, dass durch “Differenzierung” isolierbarer Bausteine zum Toten, Modellhaften ein Lebendiges, Bewegliches addiert werde, weil dadurch ein konkreter Zusammenhang hergestellt würde - zum vereinheitlichenden Text tritt scheinbar das individualisierende Lesen, zur übertragbaren Funktion eine unverwechselbare ausführende Handlung - motiviert den technischen Fortschritt: Entlastung des eigenen Handelns durch Automatisierung - als vorgefertigtes Verstehen, als gewährleistete Unterscheidung vom Anonymen bzw. als vorfixierte und dadurch allgemein verfügbare Individualität. Aufzeichnungen und Maschinen scheinen durch diese - aus konkreten Beobachtern Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets 213 ausgelagerte und mechanisch wieder zu erweckende - Eigenleistung wie Marionetten lebendig zu werden und doch beherrschbar zu bleiben. Bis zum späteren 19. Jahrhundert entwickelt sich aus der Zielsetzung “l’art est de savoir déguiser l’art” 17 eine paradoxe Tabuisierung des Automatistischen und Mechanistischen, die mit der Forderung nach höchster technischer Brillanz gekoppelt ist - wie man dies am deutlichsten in der damaligen Musik beobachten kann. 18 Bei Noverre gibt es diese Tabuisierung vorausgesetzter Techniken und Aufzeichnungen freilich noch nicht in dem Maße. Die “nackte” technische Fähigkeit, wird von ihm ausdrücklich geschätzt, und dieses Bekenntnis versteht sich nicht zuletzt als soziale Aufwertung der niederen Tätigkeit von Praktikern, die ohne den Segen einer Autorität bloße Maschinen sind: […] j’admire l’homme machine, je rends justice à sa force, à son agilité ; mais il ne me fait éprouver aucune agitation ; il ne m’attendrit pas et ne me cause pas plus de sensation que l’arrangement des mots suivants : fait … pas … le … la … honte … non … crime … et … l’échafaud. Cependant, ces mots arrangés par le grand homme, composent ce beau vers du Comte d’Essex : Le crime fait la honte et non pas l’échafaud. 19 Funktionalisierte Menschen und Wörter werden eins in diesem Bild. Und es ist der große Autor - in diesem Beispiel ein Aristokrat -, der durch seinen differenzierten Geschmack dem Trivialen, Mechanischen erst einen Sinn, einen Zusammenhang verleiht. Das Zusammenfügen eines zuvor Isolierten, Nummerierbaren - seien es Buchstaben, Wörter, Tanzschritte, fixierte Bewegungen als Bausteine von Bewegungsabläufen, Opernakte oder Wettbewerbsteilnehmer, die nichts als ihre Regeln gemeinsam haben - scheint den Zusammenhang erst auszumachen. Die Vorstellung, die sich dahinter verbirgt, ist eine soziale: Der mittlerweile entfesselte Wettbewerb isolierter Teilnehmer solle nicht zu Vereinzelung führen wie bei den wettstreitenden Künsten im Theater, die möglichst nichts miteinander zu tun haben wollten, sondern das Ziel sei vielmehr ein Zusammenwirken dieser Einzelkämpfer im Sinne einer kommunikativen Einigung. Le poète s’imagine que son art l’élève au-dessus du musicien ; celui-ci craindrait de déroger s’il consultait le maître de ballets ; celui-là ne se communique point au dessinateur ; le peintredécorateur ne parle qu’aux peintres en sous-ordre, et le machiniste enfin souvent méprisé du peintre, commande souverainement aux manœuvres du théâtre. 20 Jeder beschränkt hier sein Interesse auf das, was er beherrscht. Die Parallele zu universitären Disziplinen ist nicht abwegig. Wenn eine Spezialisierung und Individualisierung befördert wird wie mit der Spartentrennung in den großen Theatern, dann droht das solcherart Differenzierte auseinander zu fallen, sobald die Autorität der Gesamtleitung abbröckelt. Das ist die Problematik jeder nach-feudalen, auf sich selbst gestellten Ordnung. Synthese ist daher Noverres zentrales, stets wiederholtes Anliegen. Durch Formung zum Kunstwerk sollen die Bestandteile einer solchen Institution zur sozialen Einheit eines “ensemble” zusammenwachsen, sodass ihr Zusammenwirken auch einen Konsens bedeute - einen Konsens, der einerseits gegenüber autoritären, von außen auferlegten Ordnungen und andererseits gegenüber einem eigensinnigen und zerstörerischen Konkurrenzkampf betont wird. Nicht aus Eitelkeit, sondern aus Liebe zu seiner Funktion beschäftige er sich mit Tanz, 21 so erklärt Noverre und setzt dafür Anerkennung voraus. - Es genügt nicht mehr, um das vorhergehende Zitat wieder aufzunehmen, dass der “grand homme” die passenden Wörter als gefügige Werkzeuge zum Sinnspruch kombiniert oder der “compositeur” die passenden Tänzer als Menschenmaterial zum lebenden Bild gruppiert, sondern sie sollen diese auferlegte Bedeutung wie stolze Uniformierte aus eigenem Antrieb lebendig erhalten. Die fremdbestimmten Mathias Spohr 214 Bausteine - Buchstaben, Wörter, Künste und Künstler - sollen sich die Hand geben, um zu zeigen, dass sie schon von sich aus eine Bedeutung hätten, die auf synthetisierende Beobachter nicht angewiesen sei, weil sie als Gemeinsamkeit bereits aus ihnen spreche. Arglos und beiläufig ist hier auch schon von nationalen Identitäten die Rede - und dass bei ihnen zu Gunsten klarer Erkennbarkeiten auf eine allzu genaue Naturnachahmung verzichtet werden solle. 22 Ein Erkennen durch beliebige Beobachter soll schon durch das Bedeutende vorweggenommen werden, das seine eigene unerhörte Bedeutung selbstbewusst beherrscht, was den von außen auferlegten Zusammenhang “natürlich” - und das heißt hier: zwanglos - erscheinen lässt. Auf diese sozial bedingte Weise entsteht die paradoxe Vorstellung, dass ein isolierbares Bedeutendes dem Bedeuteten ursprünglich sei, dass es ihm als freiwillig und getreu ausgeführte Vorschrift grundsätzlich vorausgehe. Das Naturzeichen als Signal Statt geometrischer Figuren, denen eine allegorische Bedeutung gegeben wird, die man lernen und wissen muss oder die dem Bedeutenden als lesbare Beschriftung angeklebt wird, fordert Noverre ein aus sich selbst heraus Erkennbares. Und dies werde durch Imitation der wahren Natur anstelle konventioneller Zuordnungen gewährleistet: Les interprètes de Sophocle, d’Euripide et d’Aristophane, disent cependant que les danses des Egyptiens représentaient les mouvements célestes et l’harmonie de l’Univers : ils dansaient en rond autour des autels qu’ils regardaient comme le soleil, et cette figure qu’ils décrivaient en se tenant par les mains désignait le zodiaque ou le cercle des signes ; mais tout cela n’était, ainsi que bien d’autres choses, que des figures et des mouvements de convention, auxquels on attachait une signification invariable. Je crois donc, Monsieur, qu’il nous serait plus facile de peindre nos semblables ; que l’imitation en serait plus naturelle et plus séduisante. 23 Natürlich ist es der absolutistische Hoftanz, den Noverre hier in eine antike Vorzeit verlegt, um sich leichter von ihm distanzieren zu können. Einer Imitation des überlieferten Hofzeremoniells zieht er, auch wenn er das nicht ausdrücklich zu sagen wagt, eine Imitation der aktuellen Jahrmarktsspektakel vor, denn jene vitaleren Figuren seien “nos semblables”. Auch bei den wilden Völkern Germaniens könne man bemerkenswerte Musik und Tänze beobachten, die ihnen die Natur selbst eingegeben habe, die sie mit naturgetreuer Präzision ausführten und von denen man als kultivierter Franzose nur lernen könne. 24 Von der universellen Geltung der französischen Hofsitten aus wird hier auf das Exotische eines “Nationalen” würdigend herabgeblickt. Noverre wirkte derzeit für Herzog Karl Eugen am Stuttgarter Hoftheater. Interessant ist die Strategie, mit der die Aufwertung jenes sozial Niederen und dennoch nicht Trivialen, das Natur genannt wird, geschieht: Ein kreatürlicher Hilfeschrei hätte eine unmittelbare Wirkung gegenüber der schicklichen Konvention. Entgegen der höfischen oder höflichen Ziererei sei es der “cri de la nature”, 25 der zuinnerst bewegt. Damit folgt Noverre der durch Rousseau verbreiteten Vorstellung von einem durch Konvention verdeckten allgemein menschlichen Ursprung der Sprache, dem die Darsteller auf der Bühne mit ihrer Kunst zu Hilfe kommen sollten. Il faut un temps pour articuler sa pensée, il n’en faut point à la physionomie pour la rendre avec énergie ; c’est un éclair qui part du cœur, qui brille dans les yeux, et qui répandant sa lumière sur tous les traits annonce le bruit des passions, et laisse voir pour ainsi dire l’âme à nu. 26 Noverres Lettres sur la danse, et sur les ballets 215 Wie zuvor wird hier eine Rationalisierbarkeit, Formalisierbarkeit, Automatisierbarkeit des Erkennens als Kriterium von Natur angeführt. Einer künstlichen, durch ihre barocke Umständlichkeit erkennbaren Mechanik “von außen” wird eine natürliche Mechanik “von innen” entgegengehalten, die es zu fördern gelte, um ein Innerstes unverstellt wirken zu lassen 27 - vor allem das bloß simulierte Innerste von Bühnenfiguren. Getreue Imitation von Natur, als ein perfektes Lesen, konstituiert erst diese Natur. Ein ungewollt sich Äußerndes scheint in dieser Vorstellung ebenso das Produkt einer Kausalkette zu sein wie der kalkulierte Effekt. Diese “psychologische” Vorstellung vom Naturzeichen als Alarmglocke, wie sie sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzt, versucht Bewirken und Bitten synonym zu setzen. Ein solches Zeichen scheint von sich aus gewaltsam zu schreiben statt interpretierend gelesen zu werden. Es macht “Eindruck” im mechanischen Wortsinn. Und die Beobachter reagieren “unmittelbar” darauf, um zu helfen, nicht weil sie manipuliert würden oder die eigene Macht spielen lassen wollten. Bereitwillig lässt sich der Naturfreund in Kausalketten einspannen: Er lässt Natur zu ihrem Recht kommen, um selbst zu seinem Recht zu kommen. Diese Naturvorstellung dient zur Legitimierung von Kausalität, denn ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung ist ein Erzwingen, kein Beschwören, und deshalb nach mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorstellungen nicht kommunikativ. Diesem Vorbehalt wird seit dem 17./ 18. Jahrhundert entgegengehalten, dass Natur ja selbst etwas “Wirkendes” sei. 28 Und weil dieses Wirken blind sei, dürfe es auch beherrscht werden, ohne dass dabei ein göttlicher Wille hintergangen werde. Technik - ein Beherrschen durch Kalkulieren - rechtfertigt sich damit, dass sie ihre Wirkung lediglich im Hinblick auf eine Beziehung erziele: Am Ende der Kausalkette stehe ein Konsens, kein Zwang, denn der kausale Zusammenhang werde durch Technik entblößt, “transparent” und dadurch harmlos, weil allgemein verfügbar gemacht. Dessen ungeachtet stammt ein erheblicher Teil der heute verfügbaren Kommunikationstechnik vom Militärischen her. Um abschließend einen Bogen von den Paradoxien des 18. Jahrhunderts zum 20. Jahrhundert zu spannen: Ein selbstherrliches Bewirken gegenüber einem demütigen Beschwören zu legitimieren, war eine Absicht, die viele Einwanderer in die Vereinigten Staaten einigte. Sie waren traditionellen Gemeinschaften entronnen und wollten ihre Leistung über hindernde Vorrechte der Herkunft gestellt sehen, gewissermaßen als Verwirklichung von Rousseaus Contrat social (1762), der in der Zeitstimmung von Noverres Lettres entstand. Im USamerikanischen Behaviorismus - Charles Morris deutete das Peircesche Interpretieren kurzerhand in ein Funktionieren um - fand die Ideologie der “natürlichen Wirkung” nicht zufällig ihre prägnanteste Form. Der Reflex erschien als ein durch wissenschaftliche Versuchsanordnungen offen zu legender Ur-Mechanismus: Response auf einen Stimulus als dämonische, aber aufgedeckte Medienwirkung. Das Zwanghafte von Ursache und Wirkung rechtfertigte sich als Naturerscheinung - mit Fleiß gefunden, nicht konstruiert. Auch hier verdichteten sich soziale Idealvorstellungen zu objektivistischen Suggestionen. Anmerkungen 1 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 2: Vom “künstlichen” zum “natürlichen” Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung, Tübingen: Narr 2 1989 2 Hier zitiert nach: Jean-Georges Noverre, Lettres sur la Danse, éd. Thierry Mathis, Paris: Ramsay 1978 3 Für eine Literaturübersicht siehe The New Grove Dictionary of Music and Musicians, London: Macmillan 2 2001, vol. 18, S. 221-222 Mathias Spohr 216 4 “Cette privation d’objets instructifs a cependant excité en moi une émulation vive dont je n’aurais pas été peutêtre animé, si j’avais eu la facilité de n’être qu’un imitateur froid et servile.” Lettre XIV, S. 306 -307 5 Lettre VIII, S. 184 -185 6 Techniken und Aufzeichnungen werden hier parallel gesetzt im Sinne eines Isolierbaren und Reproduzierbaren. 7 Lettre IV, S. 120 8 Vgl. etwa Sibylle Dahms, Noverre: Adelheid von Ponthieu, in: Carl Dahlhaus, Sieghart Döhring (Hrsg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 4, München: Piper 1991, S. 480 - 482 9 Lettre I, S. 93 10 Lettre III, S. 115 11 Lettre IV, S. 121 12 Die Vorstellung eines “natürlichen”, aber imaginär bleibenden Modells im Unterschied zum abgelehnten konventionellen Modell gibt es ebenfalls bei Rousseau: M. Spohr, Jean-Jacques Rousseau und die “Naturtreue”, in: Musiktheorie 14: 1999, H. 3, S. 247-252 13 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris: Minuit 1967 14 Lettre XIII, S. 287 15 Lettre VI, S. 140 16 “Convenez donc avec moi, Monsieur, que la symétrie, fille de l’art, sera toujours bannie de la danse en action.” Lettre I, S. 99 17 Lettre I, S. 100 18 Vgl. M. Spohr, Gibt es musikalische Unterschiede zwischen U- und E-Musik? in: Die Fledermaus. Sonderheft. Symposium Johann Strauß: Musik - Umfeld - Interpretation, Tutzing: Schneider 2003, S. 51- 67 19 Lettre II, S. 108 20 Lettre VIII, S. 171-172 21 “l’amour de mon art, et non l’amour de moi-même est le seul qui m’anime” Lettre XIII, S. 291 22 Lettre XIV, S. 323 23 Lettre VIII, S. 195 -196 24 Lettre XII, S. 282-283 25 Lettre VIII, S. 192; Lettre X, S. 246 26 Lettre IX, S. 198 27 Norbert Elias hat diese Verschiebung der Aufmerksamkeit vom “Wie” einer zelebrierten Machart auf das “Was” eines unmittelbar zugänglich gemachten Inhalts am Beispiel der Barocklyrik im Übergang zur “Klassik” formuliert: Norbert Elias, Das Schicksal der deutschen Barocklyrik. Zwischen höfischer und bürgerlicher Tradition, in: Merkur 41: 1987, S. 451- 468 28 Michel Foucault hat gezeigt, dass der Begriff vom Naturzeichen als ein kausal Ausgelöstes bereits für Port- Royal im Zentrum steht: Les mots et les choses, Paris: Gallimard 1966, S. 72 Social Compatibility in a Two Gender Society The Waltz as a Technical Medium Mathias Spohr The origin of the waltz is obscured by mystifications, its history uncertain, its reconstructions ideologically motivated. The word waltz, the name of the dance, dates back to the middle of the 18th century. To what extent the waltz is related to other dances such as the Ländler, the irregular Allemande, the so-called Deutscher Tanz, the Contredanse, and the minuet, remains disputed. How far the term ‘waltz’ is connected with turning dance, with pair dance, with quick dance in three-four time, with non-aristocratic dance or German folk dance, is ultimately a question of taste. 1 It is, however, undisputed that the Viennese waltz did not exist previously in the way it has been danced since the Biedermeier period on a ballroom floor. The notorious exuberance of the Langaus ceded to weightless gliding. Dance and its music changed, yet the waltz retained its aura. The waltz replaced the minuet at the Viennese court and determined the new concept of social equality in a representative social sphere. This is precisely what gave the waltz its magical allure. The waltz in Goethe’s Leiden des jungen Werthers (1774) is an important element in establishing the relationship between Werther and Lotte, even though it was still considered vulgar at this stage. 2 Pierre Gardel’s ballet La Dansomanie, set in the French Revolution, introduced the waltz for the very first time at the Paris Opéra in 1800. 3 Originally a folk dance, the waltz rapidly became socially acceptable among the aristocracy. In German-speaking countries it offered a welcome opportunity to break with French Court customs, which the aristocracy often failed to master. Since the Congress of Vienna European society has danced the waltz, irrespective of social or national boundaries - just as nowadays we all use the same cash tills or share the same screens. Just like idealistic social equality, ‘German’ as a distinct cultural emancipation found its symbol in the waltz. 4 Dance characterising a national quality, a tradition dating back to the end of the Middle Ages, is regularly evoked from the late 18th century onwards to assign and differentiate a social framework. Waltz, first mentioned in a Viennese comedy by Kurz-Bernardon in 1754, is indeed a fact related to this aspect of determining national characteristics: “[…] Bald spielen, bald tanzen, / Bald Steyrisch, / Bald Schwäbisch, / Hanackisch, / Slavakisch, / Bald walzen umatum, / […]” as the lyrics go. 5 These distinctions with regard to languages, costumes, effects of stage machinery, musical and dance form, express a compartmentalised way of thinking such as we learn at school: it thus becomes instantly apparent what belongs together yet also what differs socially, as in the case of national anthems or flags. “Frames” of this kind are a civilised mode of perception. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Mathias Spohr 218 The waltz provided an identity, expressing in the 19th century a stability, which maintained the old order. The Viennese waltz arrayed all citizens in a monarchical glamour, substituting for political and economic reforms, beyond and above failed revolutions. It was an empty frame fitting for any member of the multicultural society of the late 19th century Vienna. Yet being a middle-class dance it was tainted and even scorned at the Berlin Court where dated Rococo dance forms were practised. After the First World War Oscar Bie pronounced the waltz dead, 6 probably a fair statement at that time, but premature. However, it can hardly be denied that since the rise of pop music in the sixties, the waltz has to a large extent lost its social function. The waltz’s obvious historicity stands in contrast to a rhetoric transfiguring it into something timeless and universal. In his newly published biography of Johann Strauss junior Franz Endler maintains that the waltz had existed as far back as anyone can remember. 7 In an earlier study by Leonie Dubois the genesis of the waltz is rooted in transports of happiness at being recognised by the beloved, of the male who spontaneously encloses the woman in his arms and turns her on his own axis. 8 In other words, Dubois interprets the waltz as a kind of mating impulse: seeing the waltz as being as old as sexual intercourse is not a particularly reasonable assumption considering the whole history of dance. Nevertheless it is interesting to note what intentions lie behind such remarks. In a recent article Reingard Witzmann compares the turning of couples with the movement of planets. Ideally, the partners’ mutual centre of gravity ‘becomes’ a sine curve. 9 It sounds very fascinating and scientific. Both the couple and the planets adhere to physical laws: media fascination and passion are equated with rigorous discipline. This does not, however, render Reingard Witzmann’s interpretation invalid. Her application of the rhetorical topos is symptomatic of the modern era’s unleashing of the media. Such transfigurations have one feature in common, a technical procedure reproduced again and again, thus imbuing it with the solemnity of a natural process - such is the waltz. The professional dancers I know despise the waltz. Female ‘nature’ as constructed in the 18th century, a combination of devotion, selfsacrifice and grace had less to do with ‘nature’ than with social mores. This so-called ‘nature’ allied all women from Queen to peasant woman, creating a unified framework, at least on the theatrical stage, and in a demi-caractère category. Any differentiation between the sexes thus institutionalised, is nowadays referred to as the ‘two gender society’. It is an arbitrary allocation of roles that has been portrayed as an indispensable truth - is but a norm transfigured to nature, merely because it managed to surmount class barriers. In this respect the waltz and ‘female nature’ can be compared. Both are frames or media, frames allowing social equality, or at any rate the illusion of it, in order to stabilise the legitimate structures behind them. Just as it was once with court dance, this is the case nowadays with the computer. I prefer to use the term ‘frame’, since all technical media have these features in common. In German-speaking countries there has always been a tendency to create a cult around such frames, for a political unity similar to the secretly admired Absolutist State, was lacking. German legal tradition tends towards a strict observance of norms, rather than a differentiation of individual cases, as in the Anglo-Saxon tradition. The aesthetics of autonomy, semiotics and behaviourism have much in common: we establish a sign and declare it to be something that is given naturally, while being fascinated by its apparent immediacy. Any great work of art, the waltz, female nature; all of our sign systems are influenced by this tendency. Relationships appear to be manageable through the application of communication techniques. 10 This is both practical and reassuring. There is no Social Compatibility in a Two Gender Society 219 sign independent of its social frame, which achieves guaranteed “effect”, without a previously fixed convention. Charles Sanders Peirce’s studies in semiotics are closely linked to the conception of the world determined by industrialisation. His assertions are only valid within the context of modern civilised society. There is no such thing as a valid sign in its own right, just as we cannot apply validity to a work of art. Though, we need the illusion. In the seventies Marvin Minsky and Erving Goffman popularised the idea of frame as an explanatory media for psychological and social phenomena. While Minsky understands frames much like signs, 11 Goffman focuses on the social aspect of frames. 12 Both view frames as a constantly applicable principle of assignment and differentiation. Their approaches are compatible. Yet both are still fixed within the behaviouristic tradition and their frames are considered natural, a given within human biology - which is indeed one of the main objections raised by their critics. I would suggest a radical simplification of this principle of framing, connecting it with Marshall McLuhan’s notion of the media, 13 as well as with Niklas Luhmann’s concept of systems. 14 We belong to a tradition that perceives social units as spheres of regular activity, be it the body as an object of medicine or the office as a bureaucratic organisation. We are situated in a world of frames such as TV and computer screens, stages, paintings or technical, social and legal norms. Thus I would maintain that the essential difference between our frames and us is a difference between that which has life and that, which is devoid of life. This distinction requires serious consideration. It is the crux of the problem. Consequently a sign is devoid of life as is a machine. In contrast, social units are living structures (the structure is not living, but people are living). In our culture, these contrasting criteria have been subordinated to the principle of cause and effect. The main point about any so-called ‘natural law’, i. e. until the beginning of the 20th century, is its stability, its validity irrespective of time and space. Furthermore, the concept of a natural law asserts that the inanimate behaves according to social rules within a cosmic order - so strictly that we should consider it exemplary. However naive this may seem from a modern scientific point of view, it is in this tradition of superimposing the living and the dead that our continuous adaptation of rules valid in the organic physical world is related to social phenomena. 15 Dancing couples thus become sine curves, as do the patient’s bodily functions on the monitors of an intensive care unit. Likewise the synthesiser replaces the orchestra, the recording live musicians, the computer an entire department of a firm’s bookkeeping: a synthesis of voices reduced to anonymous functions, as a symbolic social unit. Social frames, defined in our culture over many centuries by technical co-operation, are replaced by purely functional procedures. We are inclined to perceive purely functional systems as actively co-ordinated collective processes, as we separate effects as constant ‘signs’ from changeable elements. Even in printed musical form, quite independent from dance as performance, the waltz became a popular commercial product on lifeless sheets of paper. Similarly written law and its observance, a plan and its realisation as a social event should be seen to correspond as neatly as possible. In our hands we have what seems the deliberate intention to see and show, and we suspect a ‘being’ behind it - a black box to which we can refer safely on the basis of our knowledge of our toolbox of familiar causal connections. And the simpler our interchange of the symbolic with the living, the more likely we are to become victims of our own fascination for the media. Mathias Spohr 220 The role of dance in maintaining power at the court of Louis XIV was based on its effect of producing social transparency. Everybody was forced to dance and at the same time given a chance to compete, using his or her dexterity and judgmental skills, much like sporting events nowadays. The technically produced effect determined a person’s reputation. Selfconscious behaviour, being watched by others, observing others, gave every member of the court a certain influence. Traces of this tradition still remain in current tabloid reporting. The levelling out of social differences, yet the focus on the King meant that the influence of the aristocracy as a counterpart to the ruler was undercut. This notion of bringing every individual into line, of his own accord in front of a frame still exists in innumerable variations. It leads to a continuous distancing effect within representativeness; it produces an overabundance of copies, a most obvious disadvantage. In the 18th century the middle classes resisted this trend by propagating a cult of inwardness, while at the same time they tried to maintain the frame-principle, as it provided a very effective medium for social discipline: that of rule and be ruled at the same time. Formal dance was kept alive, as was military drill with slight adjustments. This contradiction in terms resulted in the unlikely notion of ‘identity’ which has continued to haunt us ever since. The technical and social aspects of frames were still regarded as inseparable. Signs pretend to include social frames - like a musical full score, which seems to contain the social frame of an orchestra, though an anonymous one, adequate for millions of different performances. Reality and appearance were united by means of mechanical coupling, technical synchronisation: a mickey mousing of co-ordinated media to appear as a “natural” synthesis. Analogies remain clumsy attempts at establishing a relationship between elements and beings, which cannot be solved by any technique. The reflex-like combinations of stimuli and response, as arranged in dance, music or military drill, do not constitute acts of communication, though they might appear to be spontaneous and immediate. What happens here is that channelling or frame is provided. When still a child the later Emma Hamilton was sold to a brothel, hardly a good start to a career. Nevertheless, thanks to a new ideal, a common female nature, she was able to grasp the chance to climb the social ladder purely on her own merits. She became Lady Hamilton and granted the freedom to make her own decisions. Skilled in staging living pictures, Emma Hamilton represented female nature in the image of antique prototypes. Antiquity functioned here as the traditional frame for objectivity. Her perfect technique in posing and staging suggested a visualisation of ‘being like that’, similar to the models of our times. This modern unity of nature and art is always in danger, because it has to hide its artificiality. Just like all our civilised ‘identities’ it is technically constructed, presuming that the analogies and laboriously produced symmetries are natural. Hence it becomes important that women are staged by real women, in order to hide the fact of staging itself, in contrast to the tradition of the 17th century where there was no impetus to construct nature with those ‘authentic’ analogies. But in our culture of media the endless reproductions (“fabrications” according to Goffman’s terminology) have to conceal themselves. When gender roles are defined and staged in real life without admitting the character of disguise, the travesties still common on stage up to the end of the 18th century become indecent or immoral. In the waltz, the man leads. At least it has to look like that. Gender-specific behaviour is strictly defined. Women enjoy being waltzed around for hours, men complain about the strain. “Transported by irresistible music, enveloped in the arms of their dance partners” 16 - controlled and guided by powerful media: this was a feminine ideal formulated by an observer at the Congress of Vienna in 1815. As a model of behaviour it allowed exhaustion Social Compatibility in a Two Gender Society 221 in a pretended passiveness, decent re-acting instead of acting, corresponding to the demands of ‘female nature’. Disguised in this way women could enjoy restricted liberty. The waltz stages a symbolic relationship for the dancing couple, not a courteous ‘publication’ of greeting and meeting each other, but a simulation of private intimacy - and Goethe’s Werther longed for a transformation of this symbol into reality. A step on each beat, unlike in the minuet, the waltz produces identity with its music. In the Valse cotillon however, the couples are drawn out into performing various patterns in careful co-ordination. A popular parlour game since the Biedermeier age, this was often staged at the theatres of the Viennese suburbs. 17 Despite its constant circular movement the waltz possesses a static quality. The equilibrium of physics seems to be an equilibrium of souls in harmony, blending within its physical and metaphorical meanings. Similarly within the music: Johann Strauss junior enriched the forms and rhythms inherited from Lanner as well as from his father with subtle rhythmic irregularities, in order to deflect monotony. 18 In the music and the dance, energy and aggressivity are inverted. They are neutralised, not allowed to step outside the borders of intimacy, heightening the prowling of the tiger in the cage, yet accelerating, deepening the technicality and the voluntary aspect to make it appear so simple. The static and dynamic qualities of the waltz are closely entwined. Thus a symbol was provided for the industrialisation, which came late to Austria, the urbanisation and the almost interminable reign of the inflexible Emperor Franz Joseph who designated himself first official. 19 We cannot deny the fading influence of the waltz during the 20th century. The numerous ballrooms of 19th century Vienna are used for other purposes today, if they still exist at all. The interest in the waltz as a dance has become a sporting rather than a social one. The decay of forms in social life is indubitably linked to the development of automation, even if we do not like to admit it. Bytes dance in our computer processors, playing the sounds and pictures we desire. The various versions of techno music illustrate a sharp separation of the living and the dead, an unconstrained social framework to a very strict order of signs issuing from loudspeakers. Automation is situated outside our bodies, though omnipresent, a symbol of our social life, no less important than the 19th century waltz. Once young couples danced, played music, went to theatre performances, read the same romance, albeit supervised by a chaperon. They stared at the same frame, an exercise in identification, the couple constituting a social frame within technically reproduced frames, as interfaces, without direct facing, because this would have contravened the laws of decency. A technical coupling and co-ordination replaces too intimate a contact. Art-lovers will object. Nowadays we are confronted with too many frames, which facilitate this, co-ordination instead of contact, loose couplings leading to isolation. By divesting signs of life, scripting them, denoting them as classical, cloning them, we insist that they live. In reality this is simply absurd. But it works, for in doing so we expand the potential social frame of these signs. If the signs had no effect, their social aspect would not exist at all, and all these signs would remain lifeless, like umpteen musical compositions. Thus we cannot do without signs engendering a natural effect, which guarantees a social frame. This leads me to the following thesis: the inner frame seems to have a physical effect on the outer. So we celebrate a cult of causal connections. The composer creates his work driven by an ‘inner urge’ just like a machine. He inspires the conductor, the conductor inspires the orchestra, the orchestra the audience, and so on. The dancers are spurred on by the music. All the modern media are powerful manipulators. At least we try to perceive it as such, so that we Mathias Spohr 222 can forget that these effects are always simulated, projected from outside inside, instead of proceeding ‘naturally’ from inside outside. It is not the effect of the waltz that transports through its magical power, but the waltz, which provides a plausible pretext to meet and to celebrate, even for us now. We are constructing causes by simulating effects, as any good actor does. Similarly, it is the astounding effect of the decimal system that forces us to celebrate a Johann-Strauss-centenary like the potential millennium bug’s effect on computer systems. Naturally, the dancers are not driven by the music as is a clock by its spring, or as were the dancing figures on the popular music boxes of the 19th century. The ideal of automation is always strongly associated with dance. At the French Royal Court during the Second Empire, a mechanical piano often provided the music accompaniment for the dance, according to Andrew Lamb’s biography of the Waldteufel family. The aristocracy and their guests did not wish to expose themselves to the prying eyes of musicians. 20 The waltz permits a change of partner, in spite of its spatial intimacy. Like any frame it is a relationship without participators. Even in our times when we shy away from the touch of the other, this is daring, for it happens without any strict rule. Our lifeless counterparts such as mobile phones or cameras make it possible to swap partners without physical contact. On the other hand, instead of waltzing we make love. This one night stand is not so different from the dance of previous times. It is a frame in which a personal relationship could be established like in a waltz or in a marriage. The frame does not guarantee success, we cannot escape the frame, while at the same time personal relationships try to circumnavigate causal rules as an omnipotent principle of civilised life, managed as if by machines. Signs are made up of effects isolated from the living world and constrain us to follow their mechanical rules. Since frames have been made more available during the last few centuries, their availability inflicts itself upon us. We have to accept it, differentiating the active social world from the world of signs devoid of life, avoiding clinging to ‘identities’, which retain a technical nature. Notes 1 Rudolf Flotzinger, Gernot Gruber, Musikgeschichte Österreichs, Bd. II: Vom Barock zur Gegenwart, Graz, Wien, Köln: Böhlau 1979, pp. 269 -273 2 Rudolf Braun, David Gugerli, Macht des Tanzes, Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550 -1914, München: Beck 1993, Die tanzenden Bürger, pp. 166 -274 3 Germaine Prudhommeau, Pierre Gardel: La Dansomanie, in: Carl Dahlhaus, Sieghart Döhring (eds.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 2, München: Piper 1987, pp. 328 -331 4 Fritz Klingenbeck, Unsterblicher Walzer. Die Geschichte des deutschen Nationaltanzes, Wien: Frick 2 1943 5 Josef Felix von Kurz, Der auf das neue begeisterte und belebte Bernardon, Kärntnertortheater Wien 1754, in: Otto Rommel, Barocktradition im österreichisch-bayrischen Volkstheater, Bd. 1: Die Maschinenkomödie, Leipzig: Reclam 1935, Reprint Darmstadt: Wiss. Buchges. 1974, p. 77 6 “[…] der Walzer. Im Glanze seiner unsterblichen Musik tanzt sich der Gesellschaftstanz ein Ende, nicht unwürdig seiner großen Geschichte.” Oskar Bie, Der Tanz. Zweite erweiterte und um zahlreiche neue Bilder verbesserte Auflage, Berlin: Barel, Marquardt & Co. 1919, p. 236 7 Franz Endler, Johann Strauß. Um die Welt im Dreivierteltakt, Wien: Amalthea 1998, p. 18 8 “[…] der Uranfang dieses Tanzes aber liegt dort, wo der Mann in überschäumender Lebensfreude und im Glückstaumel der Erhörung sein Mädchen gepackt und sich mit ihr um die eigene Achse gedreht hat.”, Leonie Dubois, Der Tanzwalzer, unpublished doctoral thesis, Diss. phil. Wien: Institut für Theaterwissenschaft, 640 9 “[…] Moderne Computeranalysen von Turnierpaaren zeigen, daß dieser gemeinsame Schwerpunkt bei exaktem Bewegungsablauf im Idealfall eine harmonische Sinuskurve ergibt.” Reingard Witzmann, Tanzekstase & Social Compatibility in a Two Gender Society 223 Walzertraum - Gesellschaft und Ballkultur in Wien, in: Johann Strauß. Unter Donner und Blitz. Begleitbuch und Katalog zur 251. Sonderausstellung im Historischen Museum der Stadt Wien, Wien 1999, p. 137 10 See also Gabriele Brandstetter, Körper formen. Konstruktion und Dekonstruktion im Tanz, in: Martin Bergelt, Hortensia Völckers (eds.), Körper formen. Dance 95. Internationales Tanzfestival München, München 1995, pp. 9 -17 11 Marvin Minsky, The Society of Mind. New York: Simon & Schuster 1986 12 Erving Goffman, Frame Analysis, An Essay on the Organization of Experience. New York: Harper & Row 1974 13 Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York: New American 1964 14 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 15 “Eine […] musikalische Idee aber ist […] Selbstzweck […], wenn sie […] gleich in hohem Grad jene symbolische, die großen Weltgesetze wiederspiegelnde Bedeutsamkeit besitzen kann, welche wir in jedem Kunstschönen vorfinden.” Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision einer Ästhetik der Tonkunst, Leipzig: Weigel 1854, Reprint Darmstadt: Wiss. Buchges. 1991, p. 32 16 “Man mußte diese hinreißend schönen Frauen sehen, ganz in Blumen und Diamanten durch die unwiderstehliche Musik fortgezogen, hingegossen in den Arm ihrer Tänzer.” cit. after L. Dubois, Der Tanzwalzer (note 8), p. 96 17 M. Spohr, Robert der Teuxel oder: Die Konkurrenz zwischen Hofoper und Vorstadttheatern, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller, Hans Moeller (Hrsg.) Meyerbeer und der Tanz, Paderborn/ München: Ricordi 1998, pp. 304 -322 18 “Der Tanzende dürfe nicht maschinenmäßig bewegt werden.” (Strauß father’s opinion on dance music, 1833) cit. after Norbert Linke, Musik erobert die Welt oder Wie die Wiener Familie Strauß die “Unterhaltungsmusik” revolutionierte, Wien: Herold 1987, p. 104 19 M. Spohr, Das “letzte” Volksstück im Theater an der Wien: Nach Egypten von Anton Bittner und Adolf Müller (1869), in: Nestroyana 14: 1994, Heft 3 - 4, pp. 81-90 20 Andrew Lamb, Skater’s Waltz. The Story of the Waldteufels, Croydon: Fullers Wood 1995, p. 77f. UTB Linguistik A. Francke Kirsten Adamzik Sprache: Wege zum Verstehen UTB 2172 M, 2., überarbeitete Auflage 2004, VIII, 343 Seiten, 16 Abb., 4 Tab., 18,90/ SFr 33,40 UTB-ISBN 3-8252-2172-5 Das Buch stellt eine allgemein verständliche Einführung in das Phänomen Sprache und die Wissenschaft davon dar. Es setzt an alltäglichen Fragen und Erfahrungen an und führt von da zu zentralen Konzepten, die in der Sprachwissenschaft entwickelt worden sind. Im Vordergrund stehen die Bereiche Semiotik, Kommunikation, Soziolinguistik, Pragmatik, Semantik, Lexikologie, Grammatik und Textlinguistik. Erkenntnisse, die in diesen Forschungszweigen vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erarbeitet wurden, bilden den theoretischen Hintergrund der Darstellung; in den Vordergrund werden jedoch die sprachlichen Einheiten selbst gerückt. Für Studierende ist der Darstellung ein Glossar zum Nachschlagen wissenschaftlicher Termini und ein Verzeichnis grundlegender Literatur beigegeben. Eine Reihe von literarischen und journalistischen Texten über Sprache ergänzt und illustriert die Ausführungen und macht den Band zugleich zu einem kleinen Sprach-Lesebuch. Assoziationen / Dissoziationen Von den “stummen Künsten” (Hofmannsthal) zum “sichtbaren Menschen” (Balázs): eine Triangulation des ‘Neuen Tanzes’ durch Literatur und Film Gustav Frank Ihm sind die Musen hold, und doch erkoren Hat er der stummen Künste mindern Preis (Torquato Tasso: Das befreite Jerusalem, 11. Gesang, 70) Zu den wohl meistzitierten Referenztexten in der Literatur zum ‘Neuen Tanz’ gehören Passagen aus kleineren Aufsätzen Hugo von Hofmannsthals. 1 Der Beitrag versucht, diese Arbeiten Hofmannsthals ebenfalls für ein Verständnis des Tanzes fruchtbar zu machen, indem er ihrem Argumentationsgang folgend ihre Semiotik und Poetik entnimmt. Diese reißen einen spezifischen kulturellen Raum einer visuellen Kultur auf, in dem sich der ‘Neue Tanz’ erst ansiedeln und entfalten kann. Als ‘Neuer Tanz’ soll hier ein vielgestaltiger und in sich durchaus widersprüchlicher kultureller Komplex tänzerischen Ausdrucks abgekürzt und vereinfachend benannt werden, der zum Ende der unbestrittenen Vorherrschaft des Balletts führte und sich danach weiter entfaltete, also die Entwicklung des Tanzes etwa seit den 1890er Jahren. 2 In diesen Raum der visuellen Kultur, der sich einer spezifischen Semiotik des Schweigens verdankte, trat auch der Film in seiner Geschichte ein und zog neue Grenzen um die Bedeutung des ‘Tanzes’. Literatur, ‘Neuer Tanz’ und Film assoziierten sich in funktionsbestimmten Phasen ihrer Entwicklung, bestimmten sich damit wechselseitig zum gegenseitigen Vorteil und traten auseinander im Moment, wo die Aporien ihrer Selbstbestimmung durch diese Verbindung zu überwiegen begannen, offensichtlich wurden und die Partner in einer Konkurrenzsituation eine neue Position einnahmen. 1. Der Schauspieler als Mime “Buch” und “Erlebnis”, “Lügen” und “Leben” stellt Hofmannsthal in seinem Mitterwurzer- Essay “Eine Monographie” von 1895 einander diametral gegenüber. 3 Wenige, auffällig einfach gehaltene Sätze verleihen schon zu Beginn einer “kindischen Kraft” (M 230) der Worte des Essays gegen seinen Anlaß, das Buch des Professors “über einen lebenden Schauspieler” (M 228), eben die titelgebende Monographie, Ausdruck. Damit rückt vor das als ‘tot’ markierte Buch endgültig sein lebendiger Gegenstand, und erst der letzte Satz wird K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gustav Frank 226 es wieder aus seiner Vergessenheit reißen, nur um es endgültig in diese zu stoßen. Wie weit sich der Essay damit von seinem Titel entfernt, wie gering er also die Konvention achtet, die eine Besprechung erwarten ließe, macht der Sprachduktus des ersten Satzes deutlich, noch bevor am Ende des ersten Absatzes “Bücher im allgemeinen” (M 228), ja Worte im allgemeinen gerichtet sind durch den “tiefen Ekel”, der den Leuten vor ihnen nachgesagt wird. Worte und Bücher, egal ob sie auf “‘Gedanken’”, also Wahrheit und Wissen ausgehen, oder auf “‘Schönheiten’”, also der Literatur zugehören, stehen im Gegensatz zum “Leben” (M 228). Die Feier eines eigentlichen ‘Lebens’ als letzte Sinnressource in einer säkularen Zeit quert als eines der vorherrschenden Elemente die Mehrzahl der Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Diese “Lebensideologie” kann Hofmannsthals Essay voraussetzen, ohne sie weiter entfalten zu müssen. 4 Der hier gefeierte “lebende Schauspieler” und, mehrfach wird dieses als gleichsam selbstverständliche Kategorie für die Zuschreibung höchsten Wertes bemüht, das “Erlebnis” dieses Schauspielers gehören offenbar diesem “Leben” an, das einfach ist, jedoch von der Vielzahl, der Iteration von “unendlich komplexen Lügen” (M 228) entstellt, die in fünffacher Wortwiederholung den zweiten Absatz eröffnen. Sie durchziehen den Zeitgeist ebenso wie die Tradition, die Wissenschaft wie den Staat und die Lebenswelt des Einzelnen. Die Gedanken als Form der Wissensdiskurse ziehen die “Lügen der Wissenschaft” als starre Form von diesem Leben ab und geraten damit von vorneherein in einen elementaren Gegensatz zu seiner Dynamik, der Bewegung und Veränderung als seinem einzigen Beständigen. Doch nicht nur die Beredsamkeit der wissenschaftlichen Zweckprosa unterliegt dem Verdikt über das Wort, auch die schöne Literatur ist ausdrücklich davon getroffen; denn auch für sie gilt: “Das ‘gut Ausgedrückte’ erregt spontan den Verdacht, nicht empfunden zu sein.” (M 228f) Schönheit aus dem Zusammenfallen subjektiv erlebter Momente der Wirklichkeit in einem Sinnzusammenhang zu gewinnen, gerät so unter Verdacht; denn dergleichen erscheint nurmehr als leerer Traditionsbezug, als Exekution von Begriffen durch ihre anschauliche Illustration, als billige Illusionstechnik. Das “Erlebnis” zieht dagegen seinen Wert aus der “Einzigkeit” (M 229) der erfahrenen Situation, ihrer Unwiederholbarkeit und Unwiederbringlichkeit; es ist so singulär wie diskontinuierlich und isoliert gedacht und damit nicht anschlußfähig an Tradition und Begriff: Jedes “konventionelle[ ] Zeichen” (M 229) findet in ihm sein Gegenteil. Dieser Einwand ist grundsätzlicher Natur, so daß die Kritik hier nicht allein der Konvention, sondern auch dem - zumindest ihrem Verständnis vom - ‘Zeichen’ zu gelten scheint. Konventionen sind allgemeine, die Zeichen, mittels derer sie kommuniziert werden, gehören einer intersubjektiven und damit über-subjektiven Öffentlichkeit an; mit den Worten drücken also nicht länger Individuen sich aus, sondern das Kollektive drückt sich mittels ihrer in den einzelnen ein. Deshalb kann das Erlebnis seinen Schwerpunkt nicht in einem äußeren intersubjektiven Geschehen haben, sondern es ist nur möglich in der Gestalt des “inneren Erlebnisses” (M 229). Damit knüpft der Aufsatz das Erlebnis an ein doppeltes Bedingungsgefüge: Das äußere Geschehen darf kein (konventionelles) Zeichen sein, das innere Erlebnis hat seinen Ort “jenseits des Bewußtseins” (M 231) dort, wo “jedes tiefe Wissen um sich selbst […] den Worten und Begriffen völlig, völlig entzogen” ist (M 231). Und damit stößt der Essay an eine fundamentale Grenze der Sprache, jenseits derer zum einen die Kommunikation als zwischenmenschliche Interaktion aufhört, jenseits derer zum anderen auch ein Kontinent wahren und wertvollen Wissens liegt, der verbal-sprachlich (noch) gar nicht repräsentiert werden kann. Assoziationen / Dissoziationen 227 Der geniale Schauspieler arbeitet genau auf dieser Grenze, ist ihr Grenzgänger. Er bringt korporeal, an der sichtbaren Oberfläche seines Körpers durch eine “von jenseits des Bewußtseins gelenkte Unterwürfigkeit und Ausdrucksfähigkeit des Leibes” (M 231) das zur Anschauung, wofür es keine Worte gibt und was sich als inneres Geschehen der Ein-Sicht jedes anderen entzieht. Was von ihm nicht bewußt hergestellt wird, ist dann “das beiläufige Gedächtnisbild des inneren Erlebnisses” (M 229): ein nicht-intentional sich einstellendes visuelles - (An-)Zeichen? Uneinsehbare Seele und sichtbarer Leib korrespondieren in Mitterwurzers Spiel, das “sinnliche Offenbarungen des inneren Zustandes” (M 230) bereithält: In Mitterwurzer, der “seine Beredsamkeit das Schweigen gelehrt” hat, “kommt die Seele hervor, wie ein Leibliches, und macht vor uns Erlebnisse durch” (M 230). 2. Die Semiotik des Schweigens als Grundlegung einer neuen Poetik Indem er vom Schauspieler handelt, kann der Essay die Aufmerksamkeit vom System der sprachlichen Zeichen, das von den traditionellen Begriffen korrumpiert ist, auf Zeichensysteme verschieben, die das Sprechen begleiten. Jetzt liegt der Akzent auf der Gebärde, der “Gewalt über die Mienen” (M 231), überhaupt auf dem “Ausdruck des Leibes” (M 230), der gegen die Begriffsverfallenheit des Theaters und seiner Literatur ausgespielt wird: “Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit.” (M 230) Die Körperzeichen, die der Aufzeichnung und systematischen Kodifizierung widerstreiten und deren Anteil am Gelingen der Kommunikation als nicht tradierenswert gering veranschlagt wurden, sind dem Text bevorzugte Gegenstände. Sie sind mithin Textanlaß, nicht die hochbewertete theatraleliterarische Tradition. Folglich sind es jetzt auch die Menschen, die “fortwährend wie in ‘Rollen’, in Scheingefühlen” (M 229) reden. Lüge und Wahrheit, Illusion und Authentizität, Bühne und Leben haben ihre Position vertauscht. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von der Schrift-Rolle, die ein dramatischer Text vorschreibt und bislang als Traditionsverhalten einem Schauspielerkörper einschrieb, hin zu den Zeichen, über die dieser Körper gebietet. Ja, in der Hierarchie der theatralen Zeichen wird derart weitgehend umgewertet, daß Text und Rolle allenfalls als Anlässe kenntlich werden, Gestik und Mimik auszustellen. Relevanz besitzt dann nicht mehr länger ein Stück als dramatischer Sinn-, sozialer Deutungs- und historischer Traditionszusammenhang oder seine Hauptfigur als Modell einer Biographie, einer Person, eines Verhaltens, sondern Körperzeichen, die die Schauspielerpersönlichkeit Mitterwurzer daraus gewinnt. Von der Überlieferung ist alles preiszugeben. Was bleibt, ist das kaum schon Vorgeschriebene und Geregelte, das Situative, Momenthafte, das kulturelle Ereignis als Erlebnis, nicht das Schauspiel und die Rolle, nur die Körperkunst. Die Einstellung der Wahrnehmung auf das isolierte Detail der Mimik und Gestik, das nicht länger in Dienst genommen wird für den Aufbau eines Sinnzusammenhangs, den dramatische Texte errichten, zerstört jegliche Theaterillusion, das Dargestellte stünde für anderes als sich selbst. Dieses eigentlich erstaunliche Plädoyer für eine Schärfung des Blicks für das Detail und das Abblenden des Sinnzusammenhangs, den es ursprünglich stiften sollte, und damit für eine naturalistische Auffassung bei Hofmannsthal zeigt, daß Ästhetizismus und Naturalismus keine Gegensätze sind, sondern einander zu ergänzen vermögen. Erst das Zerbrechen des Kontinuums der Begriffe, die im konventionellen Zeichen zur Anschauung erhoben wurden, eröffnet den Zugang zum Leben als inneres Erlebnis. Gustav Frank 228 Die Erschaffung des Schauspielers als Mimen erhält ihre letzte Konsequenz durch den Ausschluß der Stimme. In einer Umkehrung ihres herkömmlichen Verhältnisses werden in Mitterwurzers “Mund […] die Worte auf einmal wieder etwas ganz Elementares, der letzte eindringlichste Ausdruck des Leibes” (M 230). Offensichtlich interessiert den Essay nicht länger eine individuelle Aktualisierung eines Sprachals Bühnenkunstwerk, wozu die Stimme des Akteurs als Einfallstor der Interpretation in den Text dienen könnte, sondern es geht ihm um die Verwerfung und Ablösung des Zeichensystems der Sprache. Nimmt man diese Ausschließung der Sprache ernst, dann wird schon das Vorliegen des Essays, und von Dichtung ist in ihm ja gar nicht mehr die Rede, erklärungsbedürftig, ja scheinbar zum Paradox. Die jüngere Forschung hat das zum Anlaß genommen, zu behaupten: “Alle diese Projekte aber sind Schrift und bleiben eine in der Beschreibung ihres Anderen schwelgende Schrift.” 5 Das verkürzt die Arbeit an einer Semiotik stummer Künste jedoch unzulässig auf ihre materiale Komponente, ja verkennt auch die konzeptionelle Arbeit an dieser materialen Komponente. Und diese Semiotik stummer Künste gilt es offenbar auszuführen, um das im Essay noch Abwesenende, das literarische Sprechen, auf eine neue Grundlage zu stellen. Diese Semiotik fundiert letztlich die implizite Poetik, die sich weniger im als durch den Essay andeutet. Daß sie, wie das Thema Literatur überhaupt, nicht ausdrücklich verhandelt wird, mag als Indiz dafür gelten, als wie prekär ihre Lage unter Umständen eingeschätzt werden muß, die zu einer Verwerfung von verbaler Sprache und sprachlicher Kommunikation gezwungen haben. Thema ist also nicht länger, wie etwas Selbstverständliches wie Literatur auszugestalten, sondern wie sie überhaupt noch zu ermöglichen sei: Der Aufsatz richtet sich auf die Ermöglichungsbedingungen literarischer Rede; denn unter den vorherrschenden Zweifeln an ihrem Voraussetzungssystem, der natürlichen Sprache, wird es hochgradig unwahrscheinlich, daß noch Literatur entsteht. Sollte sie allerdings dennoch geschrieben werden können, dann wäre sie, so die Implikation, Kunst in höchstem Grade, weil in ihr das unmöglich Scheinende gelingt. Literatur wird so auf ein Operieren an den Rändern, ja über die Grenzen verbal-sprachlicher Kommunikation hinaus verwiesen. Damit wird sie zwar nicht ihrer Bindung an die Schrift ledig, doch soll sie sich ja auch in der Hauptsache von Vor-Schriften lösen, die sie in der Tradition an das Illustrieren von Begriffen gebunden hatten. Ihre Möglichkeit kann offenbar, so der Gestus des Aufsatzes, nicht mehr argumentativ eingeholt und eigentlich bezeichnet werden, sondern muß in actu evident werden, kann nicht herbeigeredet, sondern muß im performativen Vollzug des Textgeschehens offensichtlich werden. Nicht mehr sinnhafte Repräsentation einer allen gemeinsamen Wirklichkeit, sondern die Präsenz einer singulären Erlebnisqualität wird zum Grenzwert literarischen Schreibens. Damit sind es nicht länger die kulturell dominanten Zeichensysteme, deren Überfrachtung mit vorgefertigten Sinnmomenten den Text von vorneherein überschreiben würde, sondern die niederen, wenig bestimmten Zeichen, in deren Dienst der Text zunächst tritt. Deren Unbedeutendheit und Vergänglichkeit gerät ihm zur Legitimation: Es gibt kein Notations- oder Zeichensystem, in dem Körperbewegungen wie Mimik und Gestik eigentlich aufgeschrieben werden könnten, so daß nur die uneigentliche, die literarische Rede von ihnen bleibt. Und es gibt keine verbindliche Deutungskonvention: Erst in einer Form gestalteten und gedeuteten Erlebens treten sie überhaupt hervor. Möglich wird der Text also, weil er etwas Außergewöhnliches zur Anschauung bringt. Nicht auf die Re-Produktion, die Kunst der Wiederholung auf der Bühne ist es abgesehen, die Wieder-Holung der Kunst, der instantan wirkungsmächtigen und doch eigentlich insignifikanten Körperkunst der Schauspielerpersona als Erlebnis ist Darstellungsziel. Assoziationen / Dissoziationen 229 Was den Text selbst zum Erlebnis erhebt, ist seine singuläre Wahrnehmung eines einzigartigen Ereignisses, ist sein Anspruch auf literarisches Gelingen vor der Folie des Mißlingens der Rede von Tagesjournalismus und Wissenschaft, die nur konventionelle Vergleiche zu machen verstehen: “Die Journalisten deuten ihn [Mitterwurzer] nicht aus, und ein Professor notiert die Veränderungen seines Gesichtes und die Verschwiegenheit seiner Stimme wie Siege des Sulla oder Entwürfe des Palladio.” (M 232) Der Text macht mithin etwas Neues sehen, indem er ein neues Sehen vorführt. Zudem: Nicht mehr, was erlebt wird, sondern allenfalls noch wie erlebt wird, vor allem jedoch daß erlebt wird, gilt es darzustellen. So entsteht eine Literatur der Qualitäten und Intensitäten; nicht länger eine überzeugende, somit illusionierende Repräsentation, sondern eine eigene Erlebnisqualität an sich beansprucht das Werk: Es bildet nicht ein Erlebnis ab und nach, sondern will selbst eines sein und hervorrufen. Dieser Anspruch richtet sich auch nicht mehr auf allgemeine Voraussetzungen von Rezipienten sondern auf singuläre Werk- Leser-Konstellationen. Dieser Anspruch färbt schließlich auch die Vorstellungen von der angemessenen Rezeption. Es geht darum, die lesegeschichtliche Umstellung auf extensive Lektüre rückgängig zu machen: Nicht ein gesamter Text realisiert in dieser Sicht einen Sinn, sondern Teil-Texte, ja einfache Text-Teile evozieren Wahrnehmungen und generieren so Intensitäten. In ihrer Faszination durch das “Material”, ihrer Einsicht in das “tiefste Wesen des Marmors” (M 230), spielt diese Leseanleitung mit der Hinwendung zur graphischen Basis der Schrift als Extrempunkt, mit der Umdeutung der Grammatik zum Muster der Verteilung von skripturalen Ornamenten auf der Buchseite, mit der Lösung von der Semantik als Erlösung der Sprache von der hergebrachten Signifikation und Repräsentation. Damit ist jedoch nicht das Ziel erreicht, sondern zunächst nur die destruktive Voraussetzung einer neuen Konstruktion von Sprache und Dichtung für neue Funktionen erfüllt. Diese Konstruktion läßt sich denn auch durch Verfahren erreichen, die Zeichen in seriellen uneigentlichen Verkettungen durch “wie wenn”- und “als ob”-Fügungen von ihren eigentlichen Bedeutungen mehr und mehr abschneiden, indem ein Vergleich auf einen Vergleich auf einen Vergleich verweist. Wo aber schließlich die Zeichen in ihrer seriellen Verkettung zu Signifikanten werden, denen eigentliche Signifikate abhanden kommen, werden sie gleichsam frei, um Neues zu bezeichnen, für das noch keine eigentlichen Begriffe existieren. Genau diese doppelte Bewegung wird dann etwa Robert Musils Arbeiten um 1910, die Prosa der Vereinigungen, kennzeichnen. Damit ist auch eine neue Gemeinschaft von Autor und Leser gefordert, die in der äquivalenten Erfahrung des Textes, von dem Produktion und Rezeption nur zwei kaum zu unterscheidende Seiten ausmachen sollten, bestünde. Ja mehr noch: Voraussetzung, daß der Text ‘kommuniziert’, wäre eine Verschmelzung von Produzent, Figur und Leser; denn nur so kann das Paradox der solipsistischen Individualität der Emotion im ‘Erlebnis’ des Textes aufgehoben werden. Die neue Literatur wird möglich, weil sie die Grenzen der Schrift- und Buchkultur transzendiert: “Der Fehler dieses Buchs ist, ein Buch zu sein. Daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten u. sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, was es ist.” 6 3. Wortlose, ortlose, niedere Künste: Konturen einer visuellen Kultur Im Blick auf den Schauspieler wird das Schauspiel als Körperkunst wiedergeboren. Was vorher theatrale Wortkunst war, wird in Hofmannsthals Text neu wahrnehmbar - vor Gustav Frank 230 jeglicher praktischen Bühnenreform. Während das Theater als bürgerliche Öffentlichkeit eines Bürgertums ohne politische Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert mehr und mehr Bedeutsamkeit gewann, hatten sich seine Formen zunehmend entleert. Von Stücken und Rollen, denen Mitterwurzer neues Leben eingehaucht hätte, ist denn hier auch gar nicht mehr die Rede; wenn dagegen der Hinweis auf seine Lesung aus dem Struwwelpeter die einzige konkrete Rollennennung des Textes bleibt, dann ist das Affront genug gegen diese literarische Tradition und dieses Theater. Am Schauspiel als Ort der bürgerlichen Repräsentationskultur der Zeit wird die Umwertung der Künste durchgeführt. Von der Kritik an der Sprache nimmt die Umwertung ihren Ausgang. “So ist eine verzweifelte Liebe zu allen Künsten erwacht, die schweigend ausgeübt werden: die Musik, das Tanzen und alle Künste der Akrobaten und Gaukler.” (M 228) Der bürgerlichen Repräsentationskultur stehen die niederen Künste der Akrobaten und Gaukler gegenüber; dieser Kontext ebenso wie die Kritik an der Begriffsverfallenheit bestimmen die Musik und das Tanzen als möglichst weit entfernt von der zeitgenössischen Opern- und Ballettpraxis. Schon die Verschiebung des Interesses auf die traditionell suspekte Figur des Schauspielers 7 weist in die Richtung der niederen Künste, umso mehr dessen Wiedergeburt als Mime, der sich nach Hofmannsthals Auskunft “selbst als Gaukler” (M 231) begreift. Das Konzept einer wortlosen Kunst, das seinen Ausgang von einer Polemik gegen das Schauspiel nimmt, eröffnet so das Feld für die ambulant geübten und verachteten Künste. Wie wenig das Potential der polemischen Wendung hier schon ausgeschöpft ist, wie nah am Ausgangspunkt Hofmannsthal noch bleibt, wird mit Blick auf die Tradition seit dem 18. Jahrhundert deutlich. Mehr als der Schauspieler verkörperte die Figur der Schauspielerin die Ambivalenz gegenüber der leibhaftigen Vorführung bürgerlicher Verhältnisse auf der öffentlichen Bühne, während die gleichzeitig sich ausbildenden polaren Geschlechterrollenstereotypen der Frau den familialen Innenraum anwiesen. 8 Und mehr als die Schauspielerin verkörperte die Figur der Tänzerin das problematische Veröffentlichen der Frau, das hier schon durch das Wort nicht mehr in einen Sinnzusammenhang rückgebunden war. Zehn Jahre später wird Hofmannsthal erkennen, daß ihm die Tänzerin noch weit besser als der Schauspieler ins Konzept paßt. Die Negation des bürgerlichen Theaters durch die Aufwertung des Schauspielers als Mimen, das Ausspielen seiner Körperkunst gegen die Wortkunst, bedeutete also nur den ersten Schritt eines antibürgerlichen Programms der Grenzüberschreitung. 9 Der zweite Schritt besteht in der Erschließung eines Gegenraumes, den diese Körperkünste selbst ausfüllen. Dieser Gegenraum ist nicht nur der andere, ‘niedere’ Ort an den Rändern der etablierten und staatlich geförderten Kultur, den etwa die wenigen kommerziellen Bühnen in der deutschsprachigen Welt des 19. Jahrhunderts einnehmen, sondern er ist mehr noch charakterisiert durch seine Herkunft aus dem ortlosen, ambulanten Gewerbe: Körperkunst und soziale Mobilität stehen gleichermaßen für eine vitale Beweglichkeit, die an den Strom des Lebens anschließt. Die hohen Künste, die allgemein akzeptierte Kultur, dienen Hofmannsthal hier zwar noch als Anknüpfungspunkt, die niederen Künste erscheinen jedoch schon als Horizont der Denkbewegung. Nachdem das Zeichensystem der natürlichen Sprache einer vernichtenden Kritik unterzogen und durch Gestik und Mimik in der Wertschätzung verdrängt worden ist, bilden diese die Brücke vom Schauspiel zu den niederen Künsten, die allesamt als Körperkünste erscheinen. Folgt man der Logik des Essays, dann wird verständlich, daß er den renommierten Schauspieler zwar um der Anleihe von dessen sozial transgressiver Vitalität willen dem ambulanten Gaukler der Jahrmärkte annähert, warum er jedoch an den Gauklern und Artisten Assoziationen / Dissoziationen 231 selbst als Körperkünstler weniger interessiert sein muß. Ihre Körperkünste sind offenbar auf die Ausstellung des Körpers als Körper gerichtet, während der Schauspieler Erlebnisse der unsichtbaren Seele leiblich sichtbar werden zu lassen versteht. Damit bestimmt der Essay das Feld der Körperkünste als eines der visuellen Kultur, auf dem zunächst Uneinsehbares sichtbar wird. Nur weil sie derart als visualisierende Künste bestimmt werden, kann die literarische Rede sich schließlich ebenfalls auf diesem Feld ansiedeln. Der Wechsel der Zeichenmodelle, auf die Literatur sich begründen will, dieser Prozeß der semiotischen Umstellung der Literatur auf die Moderne, läßt einen kulturellen Raum entstehen, der durch konkrete Ereignisse und herbeizitierbare Phänomene nicht gedeckt und zunächst noch gar nicht vollständig zu füllen ist; zwar sind einige wichtige und notwendige von deren Merkmalen festgelegt, allein Belege mangeln. So gewinnt eine visuelle Kultur erstmals Konturen, aber auch nicht mehr. 4. Exkurs über “einen Augiasstall begrifflichen Denkens” Dieser frühen Konturierung einer ‘visuellen Kultur’ sind Wortkunst und Malerei gleichermaßen verdächtig, und das aus gutem Grund. Die Kritik Hofmannsthals zielt auf den Zusammenhang von Begriff und Anschauung, und die formal auffällige Parenthese zur Bildkunst läßt dies besonders deutlich hervortreten: “(Die Malerei schweigt zwar auch, aber man kann durch eine Hintertüre auch aus ihr einen Augiasstall des begrifflichen Denkens machen, und so hat man sie gleichfalls unmöglich gemacht.)” (M 228). Begriffe werden als abstrakte, leblose Formen gewertet. In ihnen erstarrt subjektive Erfahrung, zu Zwecken intersubjektiver Kommunikation zugerichtet. Konventionelle Sprache hat sich damit vom subjektiven Erleben und vom ‘Leben’ als dem emphatisch bejahten Kollektivsingular der Zeit derart weit entfernt, daß sie an den Pol der Bewegungslosigkeit als eines metaphorischen ‘Todes’ gerückt erscheinen kann. Insofern sie sich dazu versteht, sprechend darzustellen, hat sich die Bildkunst ebenfalls dazu erniedrigt, nur noch allgemeine Begriffe zur Anschauung zu bringen. Je perfekter die Bildillusion dabei ausfällt, desto mehr muß sie den Sinnenschein als Veranstaltung, als akademische Konvention, wenn nicht gar als literarische Überanstrengung des Bildes denunzieren. Diese Kritik zielt auf eine akademische Malerei, die sich im Einklang mit der vorherrschenden Laokoon-Ästhetik religiöser, historischer und literarischer Sujets bediente. In diesen geschichtlichen Systemen der Ikonologie verbanden sich Bedeutungsmomente mit bestimmten Bildgegenständen. Diese werden jetzt jedoch als theatralische Drapage konventioneller Begriffe gelesen. Mit dieser Wahrnehmung zerbricht für Hofmannsthal das überkommene Verhältnis der Wort- und der Bildkünste. Als die historische Form der Erfahrung hatte sie die Goethezeit im Laokoon-Regime komplementär in eine semiotische und epistemologische Ordnung eingespannt: “Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.” 10 Die Deutung, welche das klassische ut pictura poesis in Lessings Laokoon-Essay erfahren hatte, 11 war die vorherrschende Konvention seither gewesen. 12 Sie hatte das Wechselverhältnis von Begriff und Anschauung begründet, das Literatur und Bildkunst darauf verpflichtete, anschaulich zu reden und sinnhaft zu gestalten. Soweit sie diesem Zusammenhang verpflichtet sind, werden beide Künste jetzt gleichermaßen verworfen. Das Zerbrechen dieses Zusammenhangs führt beide Künste vor die Frage, Gustav Frank 232 welches die Bedingungen sind, unter denen sie noch möglich sind. Für die Bildkunst scheint die Loslösung von den belasteten Begriffen und eine neue Legitimation weitaus einfacher. Sie hat sich der visuellen Wahrnehmung neuerlich zu stellen, deren historische Form jetzt vor allem neue Techniken, neues Wissen und neue Medien bestimmen. 13 Bildkünste kommen für eine poetologische Erneuerung in Betracht, sofern aus ihnen Bildprogramme zu gewinnen sind, die sich gegen die akademische Malerei des 19. Jahrhunderts, gegen die Ausrichtung an der Illustration von Begriffen, die Einbindung in Sinnzusammenhänge durch die illusionistische Darstellung von Sinnmomenten verwenden lassen. Der Zeichencharakter der Bilder wird dadurch ein von Grund auf anderer. In Betracht für Reflexionen der Poetik kommen mithin die Avantgarden, vor allem sobald ihre Verfahren einer Vermittlung bedürfen oder ihre Werke sich als singuläre Ereignisse erleben lassen, an die neues Sehen anschließbar ist. Die von Hofmannsthal angestrebte Grenzüberschreitung ist jedoch offenbar größer, wenn neben der Zeichenhaftigkeit auch der Kunstanspruch problematisch ist oder noch gar nicht gestellt wird: Circensische und andere Körperkünste genießen diesen doppelten Vorzug garantierter semiotischer Unterdeterminiertheit der Bewegungen als Zeichensysteme und der semantischen Überdeterminiertheit als Grenzüberschreitung in moralischer, nicht zuletzt erotischer, und sozialer Hinsicht. Der Essay richtet seinen Blick also nicht auf die sich ebenfalls erneuernde Bildkunst, sondern auf die gemeinsame belastete Beziehung zum Begriff. Seine Suche nach Möglichkeitsbedingungen von Literatur geht auf historisch unbelastete Künste aus. Das steht einer genauen Beobachtung der Entwicklung der Bildkünste nicht entgegen, die sich ja von derselben Vorgeschichte zu befreien haben, sondern macht sie besonders wertvoll. 14 Die Malerei ist jedoch für Hofmannsthal kein privilegierter Ort in diesem Entwurfsstadium einer visuellen Kultur. 5. Das Schweigen der Tänzer In diesem konzeptuellen Stadium findet “das Tanzen” schon Erwähnung, bevor für Hofmannsthal eine spezifische kulturelle Formation ‘Tanz’ wahrnehmbar war, die sein Interesse am Schauspieler ablösen konnte, weil sie mehr als dieser geeignet war, literarische Rede zu rechtfertigen, ja sie geradezu hervorzurufen. Wenn Hofmannsthal also vom Tanzen spricht, dann kann er nur das Potential eines unreglementierten Tanzes als unverstellten psychischen Selbstausdrucks im Sinn haben, wie es in der deutschen Literatur der 1830er Jahre, in Heines Florentinischen Nächten etwa oder in der Figur des Flämmchen in Immermanns Roman Die Epigonen, erstmals festgehalten war. Nach dieser Episode im Vormärz war die Literatur des Realismus vorwiegend an der paradoxen Figur der ‘tugendhaften Tänzerin’, also am Widerspruch einer öffentlich ihre Körperlichkeit ausstellenden Frau und der geschlechtsspezifischen Moral interessiert. In die Reihe der wort- und ortlosen Körperkünste fügen sich das romantische und klassische Ballett nicht; denn von der Autorität des Bühnentanzes zu lösen vermochten sich die berühmten Tänzerinnen des 19. Jahrhunderts bis in sein letztes Jahrzehnt nie. Auch wo die Tanzpraxis der Solistinnen ihr nicht mehr durchgehend folgte, blieb sie auf die Normen und die Orte der danse d’école bezogen. Während der Ballettanz also traditionell determiniert und vollständig ‘lesbares’ Zeichensystem konventioneller Körperbewegungen war, ist der ‘Neue Tanz’ seit den 1890er Jahren auch semiotisch als dessen Gegenteil angelegt. Mehr Assoziationen / Dissoziationen 233 noch als Gestik und Mimik enträt er jeglicher hergebrachten Zeichenhaftigkeit; seine Körperbewegungen sind zunächst leere Signifikanten. Doch der ‘Neue Tanz’, der sich offenkundig aus der Verwertung von Tänzerinnenkörpern in der Oper und auf den kommerziellen Bühnen der Operettenspielstätten und Varietés mehr und mehr herauslöst, erweist sich als eine kulturelle Formation erst in dem Moment, als er sich polemisch zum Ballett zu verhalten beginnt. Als polemische Formation ist er komplementär auf den traditionellen Bühnentanz als seine Negativfolie bezogen. In dieser Konstellation füllen sich von dorther kulturell und semantisch zunächst unterbestimmte Bewegungen mit semantischen Gehalten, genauer gesagt erfolgt wohl schon die Auswahl aus allen Bewegungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre oppositionelle Semantik: Spitzenschuh und Spitzentanz mit ihrer Verweisungsfunktion auf körpertranszendente Sinngehalte stehen etwa bloßer Fuß und Ausstellung graver Bodenhaftung als Rehabilitation von Sinnlichkeit gegenüber. Weil er nicht durch die überkommenen Begriffe der traditionellen Sinnsysteme bestimmt ist, erweist sich dieser ‘Neue Tanz’ als offen für vielfältige Anschlüsse, die ein Tanzdiskurs generiert, in dem sich Bewegungen, Tanzpraktiken und Reden über den Tanz verknüpfen. Erst als Tanzdiskurs aus Bewegungsformen und ihnen zugewiesenen Bedeutungen konsolidiert sich der ‘Neue Tanz’ als kulturelle Formation. Seine Etablierung und Durchsetzung als Körperkunst vollzieht sich im zeitgenössischen Diskursuniversum. Von daher sind bestimmte Suchrichtungen nach Legitimation zwar nicht festgelegt, liegen jedoch nahe. Isadora Duncans Ausrichtung an Bildwerken der griechischen Antike konnte sich in einem Moment vollziehen, als der autoritative Historismus deren dionysische Aspekte zuzulassen begann. 15 Ihr Tanz erwies sich auf der Höhe von Kunstgeschichte und Wissenschaft und suchte seinen Ort in Museum und Bibliothek. In der Bibliothek des nach seinem industriellen Stifter Guimet benannten Museums mit seiner berühmten Sammlung von Asiatika hatte übrigens noch 1905 Mata Hari ihren ersten öffentlichen Auftritt. 16 Die Auseinandersetzung mit einer durch naturwissenschaftliche und technische Entwicklungen der Zeit vollständig veränderten visuellen Wahrnehmung suchte LoÎe Fuller bei ihren tänzerischen Experimenten mit Leinwänden, Licht und Radium. 17 Ihre europäische Karriere beginnt mit Auftritten in den Folies-Bergère Anfang der 1890er Jahre, 1900 hat sie einen eigenen Pavillon auf der Weltausstellung. 18 Wie sehr sich in der Phase Hochkultur und kommerzielle Massenkultur aufeinander zu bewegten, belegt auch die Anekdote, daß sich Ruth St. Denis nicht unmittelbar von der Kunstgeschichte, sondern von der Reklame für die Zigarettenmarke “Egyptian Deities” mit der thronenden Isis zu ihren ersten Solotänzen inspirieren ließ. 19 Alle Schattierungen der zeitgenössischen Bewegungen etwa der Körperreform und der Frauenemanzipation ließen sich in Tanzbewegungen ausdrücken oder aus ihnen lesen, verflochten sich mit den Protagonisten des ‘Neuen Tanzes’. 20 Eine faszinierende “Entdeckungsreise unter die Kultur” ermöglichten die sogenannten “Traumtänze” etwa einer Madelein G. 21 Die unwillkürlichen Körperbewegungen schienen den nicht-bewußten Tiefen der Psyche zu korrespondieren und beide in ihrer vermeintlichen Formlosigkeit mit dem Strom des Lebens verbunden. Die Faszination von den Möglichkeiten des ‘Neuen Tanzes’ - sie läßt sich hier nur sehr oberflächlich illustrieren - beruhte nicht zuletzt auf dem Schweigen der Tänzer. Das rückte den Tanz plötzlich in eine zentrale Position im Prozeß der Umstellung der kulturellen Semantiken in der Moderne. Denn wieviel reicher an Anschlüssen und an Anlässen zum Text ist dieser ‘Neue Tanz’ und seine Protagonistinnen als selbst Schauspieler und Schauspiele- Gustav Frank 234 rinnen der Jahrhundertwende! Reicher an subjektiven Erlebnispotentialen weil ärmer an kultureller Kodifizierung; denn neben den zunächst noch aus der Polemik gewonnenen und begründeten Körper- und vestimentären Zeichen eröffnet sich eine Vielzahl an vorgefundenen sowie erst noch zu entwickelnden Bewegungsrepertoirs einem sich mehr und mehr ausdifferenzierenden ‘Neuen Tanz’. Sinn und Sozialität werden in der Moderne leibhaft gestiftet. 22 6. Exkurs über Archive einer stummen Kunst “Die Autorität des Dichters trübt allzuoft den Blick für das eigentliche Thema: Nicht der Tanz an sich steht also im Mittelpunkt des Rezipienten, sondern vielmehr die Gedanken der Dichter, Schriftsteller, Maler und Komponisten über den Tanz.” 23 Wo ist der Tanz an sich? Offenbar geht er ohne genuines Aufschreibesystem im ephemeren Tanzereignis auf, von dem unter diesen Bedingungen nicht einmal zu entscheiden ist, ob es sich am nächsten Tanzabend wiederholt. Sprachlos, aufzeichungslos macht er von Beginn an Gebrauch von Photo und Film als Dokumenten. Gibt es den ‘Neuen Tanz’ als Monument (im Foucaultschen Sinne)? Oder existiert er nicht vielmehr nur als komplexer Tanzdiskurs, als eine Kombination von Praktiken und Reden, Orten und Regeln? Wie Wissenschaft, Literatur, Theater und die dem Genre verpflichtete Bildkunst ist auch das Ballett eine grammatisch und semantisch durch ihre Tradition überdeterminierte Kunstform, getanzter Begriff. Insofern ist der Körper hier wie Bühne, Leinwand und Rede behandelt, er reproduziert. Wo ist er als Produktion, als Präsenz statt Repräsentation? Klagen über die Quellenlage in der Tanzgeschichte finden sich häufig bei der mehr empirischen, von der Theaterwissenschaft kommenden und wie diese an der Aufführungspraxis interessierten Tanzwissenschaft, die in den von den Textwissenschaften kommenden und von vorneherein mehr an Textzeugnissen interessierten Arbeiten gar nicht thematisiert wird. Die Quellenlage ist nun wohl nicht einfach nur beklagenswert dünn, nicht im Prozeß der Überlieferung sind Bild- und Textzeugen an die Stelle eines ursprünglichen Tanzes getreten, sondern der Tanz als kulturell äußerst bedeutsames Phänomen seit der Wende zum 20. Jahrhundert hatte wohl nie eine andere kulturelle Gestalt. Der ‘Neue Tanz’ dieser Phase ist anders als die syntaktisch und semantisch eindeutig festliegende danse d’école oder auch das traditionelle, Dramentexte exekutierende Theater nichts anderes als genau dieses gesamte Ensemble von Tänzerinnen, flüchtigen Tanzereignissen und ihren visuellen und textuellen Korrespondenten: Gebrauchskünste: Plakat, Werbung (als Wechselwirkung mit der Konsumkultur, von der Inspiration zu Kostüm und Choreographie ausgeht); Porträtkunst von Kaulbach und Stuck; Photo(ateliers) (d’Ora, Nadar, Reutlinger): Star; Position, Pose; frühester Film (Mlle Ancion als Serpentintänzerin bei den Skladanovskys 1895 24 ); Feuilleton-Essay, Tanzkritik, Literatur. Sie alle wahren das “Schweigen” über die Choreographien und ihre Qualitäten. 25 7. “inkommensurabel” Der Topos der Unvergleichbarkeit ist die charakteristische rhetorische Gestalt des ‘Neuen Tanzes’. Um diese konstruierte semantische Leerstelle legen sich Schicht um Schicht vielfältige Bedeutungen und Wertungen, ganze Typologien kultureller Praxen und Semanti- Assoziationen / Dissoziationen 235 ken, die Wahrnehmung von Geschichte, ‘Fremde’ und Moderne. Das Tanzereignis als solches wird ausdrücklich ausgespart, es ist die numinose Quelle, der Stimulus der Rede: “Aber ich will von meiner Tänzerin reden. Doch ich werde kaum versuchen, ihr Tanzen zu beschreiben.” (U 224) 26 Wer benennen könnte, was sie besagt, hätte sie erschöpft: “Der Fortgang dieses Tanzes ist unschilderbar. Die Schilderung müßte sich an Details hängen, die ganz unwesentlich sind, und das Bild wäre verzerrt.” (U 226) Die Mimesis als visuelles und textuelles Verfahren wird zurückgewiesen, wieder wird das Erlebnis zu evozieren gesucht. Diesmal wird dazu der Effekt einer Konfrontation gewählt, der Momente bewußter sprachlicher Einfachheit mit der Gegenwart als einer “raffinierten” und mithin wissenschaftlich und medial “komplexen Zeit” (U 223) überraschend kontrastiert, in der “Söhne von Brahmanen in den Laboratorien von Cambridge und Harvard der Materie die Bestätigung uralter Weisheiten entringen” (U 223) und ein “Interviewer” Rodin über “die Tänzerinnen aus Annam” befragt (U 226). Bezeichnend ist, daß Hofmannsthals Text “Die unvergleichliche Tänzerin” entstand und publiziert wurde, bevor er selbst Ruth St. Denis gesehen hatte: “Auch wird man sie hier sehen.” (U 224) Ruth St. Denis’ einzige, wenn auch dreijährige Europa-Tournee begann 1906. Bevor sie nach Wien kam, trat sie erfolgreich in Berlin auf; ab Oktober 1906 an der Komischen Oper im Entr’acte der Oper Lakmé, danach wurde sie als Solotänzerin an den Wintergarten engagiert. Ihr Tanz, von dem ihm sein Freund Harry Graf Kessler enthusiastisch im Brief berichtete, 27 fügte sich also offensichtlich in den Rahmen von Hofmannsthals Konzept ‘stummer Künste’; es füllte diesen Rahmen in einer “noch vor einem Jahrzehnt” (U 223), also zur Zeit des Mitterwurzer-Essays, noch nicht vorstellbaren Weise. Vergleicht man die beiden Texte, wird ein Zeitindex sichtbar, der den enthusiastischen Ton in der Schilderung von Ruth St. Denis als aus einer enormen semantischen Leistungsfähigkeit des ‘Neuen Tanzes’ gewonnen erscheinen läßt. Er gilt damit nicht nur den Anspruch ab, Literatur unter dem Druck einer entwerteten Tradition zu ermöglichen, sondern womöglich auch unter den Bedingungen einer wissenschaftlich, technisch und medial avancierten Moderne. Der ‘Neue Tanz’ ermöglicht es, die Fülle der Tradition (von Lionardo, Goethe, Tizian, Giorgione ist die Rede) und die Maschinen- und Medienzeit mit dem Leitwert des ‘Lebens’ kurzzuschließen: “seltsame Verbindung eines seltsam lebendigen Wesens mit uralten Traditionen” (U 226f). Diese Leistung erbringt nur ein Tanz, der zum einen vermag, was auch der Schauspieler vermochte und ein Pantomime wie Severin (U 226): “die berauschendste Verkettung von Gebärden, deren nicht eine an die Pose auch nur streift […], deren nicht eine Konvention ist” (U 226), in denen sich “eine innere seelische Notwendigkeit” ausspricht, die auch “die großen Gebärden der Duse über jede Möglichkeit, sie anders zu denken, hinaushebt” (U 225). Der zum anderen aber darüber hinausgeht, indem er jeglichen Verweis unterbindet, Zeichen seiner selbst wird, Signifikant und Signifikat zusammenfallen läßt: “Eben den Tanz, den Tanz an sich, die stumme Musik des menschlichen Leibes” (U 225), “diese strenge, fast abweisende Unmittelbarkeit, dies Kommentarlose” (U 227). Was ein literarischer Text angesichts dieser abweisenden Unmittelbarkeit sein und leisten kann, ist in der Beispielrede eingeschlossen vom “deutsche[n] Juden, Zeltgenosse von Tataren und Tschungusen, [der] von den undurchdringlichsten, erhabensten aller heiligen Bücher des Ostens eine doppelte Übersetzung anfertigt, zuerst französisch, dann deutsch, jede ein bewunderungswürdiges Meisterwerk lapidarer Sprache, ‘Urworte orphisch’ aneinanderreihend …” (U 223f, Herv. GF) Gustav Frank 236 Umgekehrt ist diese moderne und zugleich einfache vor-begriffliche Sprache auf das Gegenüber eines absoluten Tanzes ohne semantischen Kontext angewiesen. Dies macht Hofmannsthal deutlich, wenn er Ruth St. Denis von Isadora Duncan abhebt, deren legitimatorischer Anschluß an den Historismus er verurteilt. Duncan rückt hier in die Position ein, die der Professor gegenüber Mitterwurzers Körperkunst einnahm, nicht zuletzt durch das zum ‘Gedanken’ parallel benutzte pejorative Kennwort ‘Schönheit’ angezeigt: “Diese tanzt. Die Duncan hatte etwas von einem sehr gewinnenden und leidenschaftlich dem Schönen hingegebenen Professor der Archäologie. Diese ist die lydische Tänzerin, aus dem Relief herabgestiegen.” (U 228) 28 Der Hinweis auf die Duse zeigt auch, daß dieser spätere Text sich das gender-Potential des Themas erschlossen hat. Nicht weniger als dreimal, davon zweimal in fast wörtlicher Wiederholung (U 225 u. 227), kommt er auf die Ablehnung des Frauenbildes zu sprechen, das St. Denis’ Tanz verkörpert: “Aber es werden nur wenige Menschen sie wirklich goutieren. Am wenigsten die Frauen.” (U 227) Auch wenn der Tanz nur sich selbst bedeutet, bedeutet er als Erlebnis und als kulturelles Ereignis doch offensichtlich sehr viel. Was er insofern war und bedeutete, bestimmte die Wortkunst entscheidend mit. Das Verhältnis von Literatur und Tanz untersteht dabei selbst einer gender-Ordnung. Das in der Rede vom Tanz implizierte Hierarchiegefälle zwischen dem Tanz als Möglichkeitsbedingung und der so ermöglichten literarischen Rede kehrt sich in der literarischen Praxis offenbar um und zeigt so, daß der ‘Neue Tanz’ als Teil einer Poetik entworfen worden ist. Wo eine choreographische Idee die szenische Konzeption vorherbestimmt und so zur Vor- Schrift von Literatur wird, hat dieser ‘Tanz’ sich zu weit verselbständigt, als daß er noch zum Anlaß einer Übersetzung, zum Finden einer neuen, lapidaren Sprache taugen würde. Das ist im Salome-Projekt von Hofmannsthal und Ruth St. Denis der Fall, das Kessler noch von Berlin aus zustande zu bringen versucht. 29 Das Scheitern des Projekts belegt, wie prekär eine intermediale Öffnung der modernen Literatur für die Literatur in dieser Phase ist, und zeugt vom Vorrang des semiotischen und poetologischen Konzepts ‘Tanz’, in dessen Schatten sich der ‘Neue Tanz’ als eigenständiges Phänomen entwickelt hatte. 30 Wenn Hofmannsthal also sagt: “Auch wird man sie hier sehen.” (U 224), dann meint er damit nicht, daß die Wiener später als Publikum im Erlebnis des Tanzes der St. Denis selbst einholen könnten, was ihm nicht auszusagen gelingen kann, sondern kokettiert durchaus damit, daß man sie ‘hier’, hic et nunc im Text ‘sehen’ wird. Literatur beansprucht letztlich eine konstitutive Rolle für die visuelle Kultur. 8. Der sichtbare Mensch Die Krise der literarischen Repräsentation begünstigte auch den Film, der Hofmannsthal ebenfalls interessierte und für den er neben seinen Balletten und Pantomimen seit 1913 auch Filmszenarien schrieb. 31 Auch der Film erfüllte einige der Kriterien aus Hofmannsthals Konzept der stummen Künste, das wie der Film im selben Jahr 1895 entstand: er war überwiegend wortlose, ortlose, niedere und kommerzielle Unterhaltungskultur. Film und ‘Neuer Tanz’ begegneten sich früh in ihrer Geschichte, insofern sie zur Nummernfolge der Varietés gehörten. Die Durchsetzung des Films erfolgte, als er sich nach einer Frühphase des “Kinos der Attraktionen” 32 mit literarischen Vorbildern zum erzählenden Film verband, der in Kinos stationär wurde. Als Kunstform akzeptiert wurde der Film erst mit dem Beginn der theore- Assoziationen / Dissoziationen 237 tischen Rede vom Film. Zu den wichtigsten frühen theoretischen Texten zum Film gehört Béla Balázs’ Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films von 1924. Balázs entwickelte seine Gedanken nicht als genuine Filmtheorie. Er führte vielmehr Überlegungen fort, die zu einem Konzept visueller Kultur gehörten, das sich in Hofmannsthals Mitterwurzer-Essay abzuzeichnen begann. Erst Balázs fügte jedoch verschiedenste Elemente zu einem theoretischen Konzept zusammen, dem er auch, soweit ich sehe, als erster den Namen “visuelle Kultur” gab. Bezeichnender Weise spielt für dieses Konzept das Verhältnis von Film, Literatur und Tanz zueinander eine zentrale Rolle. Balázs nahm die Sprachkritik der Jahrhundertwende auf, die auch für Hofmannsthal lange vor dem Chandos-Brief zentral war. Er wendete sie jedoch gegen die gesamte Kulturgeschichte seit der Erfindung des Buchdrucks, gegen die Schriftkultur der gesamten Gutenberg- Galaxis: “Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat mit der Zeit das Gesicht des Menschen unleserlich gemacht. Sie haben so viel vom Papier lesen können, daß sie die andere Mitteilungsform vernachlässigen konnten. […] So wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen Kultur eine begriffliche.” 33 Die folgenden Argumente wirken bereits vertraut. Auch bei Balázs verschließt das Wort als Begriff den Zugang zur Seele. “Denn der Mensch der visuellen Kultur ersetzt mit seinen Gebärden nicht Worte […]. Seine Gebärden bedeuten überhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationelles Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt, kommt von einer Schichte der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können. Hier wird der Geist unmittelbar zum Körper, wortelos, sichtbar.” (S 52) Doch anders als Hofmannsthal spricht Balázs nicht von einer Liebe zu den Künsten, sondern von einer “Sehnsucht nach dem verstummten, vergessenen, unsichtbar gewordenen leiblichen Menschen.” (S 54) Der ‘Mensch’ in einem emphatischen Sinne ist deshalb der restituierte sichtbare Mensch. Diese Restitution als kulturgeschichtliche Wende kündigt sich im Film an. Doch: “Ist es ein Zufall, daß gerade in den letzten Jahrzehnten gleichzeitig mit dem Film auch der künstlerische Tanz zu einem allgemeinen Kulturbedürfnis wurde? ” (S 54) Was Tanz und Film unterscheidet, zieht offenbar dem ersteren eine Grenze und prädestiniert den letzteren: “die dekorativen Choreographien der Tänzer und Tänzerinnen [werden] diese neue Sprache nicht bringen […]. Der Film ist es, der den unter Begriffen und Worten verschütten Menschen wieder zu unmittelbarer Sichtbarkeit hervorheben wird.” (S 54) Wie im Falle des ‘Neuen Tanzes’ geht es um eine Archäologie, die unter die Kultur führt, nicht zuletzt jedoch unter die, die der Historismus aufgeführt hat. In seiner Argumentation scheint Balázs also direkt an Hofmannsthal anzuschließen. Und auch bei ihm repräsentiert Ruth St. Denis, nicht Isadora Duncan, den ‘Neuen Tanz’, jedoch fast als etwas schon Vergangenes bereits aus der Perspektive ihrer “Selbstbiographie” (S 56). Der Unterschied zum Tanz besteht in zwei Momenten. Film bedeutet eine neuerliche Grenzüberschreitung. Er demokratisiert, was im Tanz elitär und nur wenigen zugänglich geblieben war, und überschreitet damit nicht nur bei den Künstlern sondern auch bei den Publika eine soziale Grenze: er ist “die Volkskunst unseres Jahrhunderts” (S 46). Und Film ist nicht “umrahmte, vom Leben abgesonderte Kunst” (S 56). Daß die Tanzbewegung auf nichts anderes verweist als auf sich selbst, wird hier gegen den Tanz ausgespielt. Sie nimmt vom Leben, und damit ist hier neben demjenigen des “irrationellen Selbst” das Alltagsleben, die Lebens- und Arbeitswelt der Massen gemeint, nichts an und belehrt es umgekehrt auch nicht. Anders der Film. Gustav Frank 238 Balázs zieht hier nicht nur die Summe der Entwicklung des Stummfilms bis an die Grenze des heraufkommenden Tonfilmzeitalters, 34 sondern auch sein Bild vom Tanz ist Mitte der 1920er Jahre, darauf deutete der Verweis auf Ruth St. Denis, eine der prime movers, schon hin, retrospektiv. Umgekehrt zeichnet damit seine Kritik des Tanzes um 1910 dem Tanz Entwicklungslinien vor, die sich entlang der von ihm benannten Defizite ergeben. Wie sehr der ‘Neue Tanz’ Volkskunst geworden ist, zeigt sowohl seine Institutionalisierung in einer Vielzahl von Schulen als auch die Präsenz dieser Schulen als vorbildliches Anschauungsmaterial im unendlich breiten Strom von Publikationen zur Körperkultur und im Kulturfilm der Ufa. 35 Bilder vom Ausdruckstanz gehören mithin zum visuellen Gedächtnis der 1920er Jahre. Noch vor Balázs’ Kritik begannen die Bewegungschöre Rudolf von Labans, die auf den Laien zugeschnitten waren, selbst viele hundert Akteure zu beteiligen. 36 Angesichts der sozio-politischen Entwicklungen der Zeit bleibt der Tanz auch hier nicht neutral, sondern setzt sich mit sozialen Problemen auseinander wie etwa Jo Mihalys Choreographien belegen können. 37 Tänzerische Formen sind nahezu allgegenwärtig; sie konstitutieren sogar etwa bei Valeska Gert eine Art Meta-Tanz, der zeitgenössische Bewegungsrepertoires nicht nur die des Tanzes kritisch zu verhandeln versteht. 38 Tanz und stummer Film sind sich also nicht nur in der Großaufnahme, die Balázs besonders herausstellt und in die eingeht, was an Mimik und Gestik vom Schauspieler und der Tänzerin zu lernen war, 39 sehr nahe, sondern der Tanz scheint auch in seinen Tendenzen der 20er Jahre dem Film ähnlich, solange die Mediendifferenz durch den gemeinsamen Bezug auf den sichtbaren Menschen überbrückt wird. Hofmannsthals Versuch, an Körperzeichen nicht-traditionelle Dichtung anzuschließen, war auf die Stummheit des Tanzes als Schweigen der Tänzer angewiesen. In dem Moment, als der ‘Neue Tanz’ sich als kulturelle Formation konsolidierte, bildete er eigene Institutionen aus und um ihn gestalteten sich eigene Diskurse, die Gründer, Heroen und Geschichte fixierten. Versuche der Tanz-Notation, Experimente mit Tanz-Schrift, wie sie etwa Laban unternahm, wären innerhalb des frühen Konzepts aporetisch gewesen. Gerade das Zentrum der dichterischen Rede vom Tanz, das Tanzereignis, mußte leer, unbestimmt bleiben. Wo die Tanzbewegung selbst in ein Zeichensystem gebannt ist, geht ihre Dynamik als Stimulus, um ihren Ort andere Zeichen kreisen und tanzen zu lassen, verloren. Ebenso wo sie sich anschickt, auf anderes zu verweisen, anderes zu bedeuten als die schöne Beweglichkeit des Lebens. Eine Etappe ihrer gemeinsamen Geschichte, in der Literatur, Tanz und Film durch das gemeinsame Konzept des sichtbaren Menschen aufeinander bezogen waren, geht in einer neuen Konkurrenzsituation von Tanz und Film als institutionell konsolidierte Künste zu Ende. 9. Triangulation ‘Neuer Tanz’ ist ein diskursives Ensemble aus Praktiken und Körpertechniken sowie Texten und Institutionen. Tanzereignisse, Choreographien und Auftritte einzelner Tänzer und Gruppen machen nicht mehr als einen Teil derselben aus. Sie sind nicht verloren, weil die Zeit keine Techniken angemessener Archivierung besaß, sondern sie existieren nur in ihrer historischen Form kultureller Wahrnehmung. Die Rede vom Tanz selbst läßt sich nicht als sein Anderes loslösen. Die literarische Rede ist jedoch nicht nur Form der Wahrnehmung, sie Assoziationen / Dissoziationen 239 ist eine zentrale Ermöglichungsbedingung des ‘Neuen Tanzes’. Diese spezifische Form der literarischen Rede ist wiederum Teil ihres charakteristischen Weges in die Moderne. Tanz und Literatur begegnen einander hier nicht zufällig. Tanz ist nicht ornamental für die Literatur, sondern notwendig für ihre Selbstbestimmung und ihren Legitimationsdiskurs. Literatur ist nicht kontingenter Partner des ‘Neuen Tanzes’, sondern schafft konzeptionell erst den kulturellen Raum, an dem der ‘Neue Tanz’ seinen Platz finden kann. Der nach 1910 mit neuer Orientierung aufkommende narrative Stummfilm, der zu eigenen Ausdrucksmitteln findet, komplementiert und begrenzt die kulturellen Räume von Literatur und Tanz wiederum signifikant. Sein Platz entsteht dort, wo die Entwicklung der avantgardistischen Literatur diese in Aporien führt 40 und die medialen und sozialen Grenzen des im Tanz sichtbar werdenden Menschen liegen. Mit dem der Geodäsie entlehnten Begriff der Triangulation, “dem Inbegriff aller Arbeiten, welche einer geregelten topographischen Aufnahme eines Landes vorhergehen müssen” 41 , soll das hier gewählte Verfahren gekennzeichnet sein, das auf diese Situation des Wechselbezuges reagiert. In dieser Situation ist keine der Künste ohne die andere zu bestimmen. Erst zwei bekannte Punkte erlauben es, jeden dritten anzugeben. Anmerkungen 1 Vgl. etwa Gregor Gumpert: Die Rede vom Tanz. Körperästhetik in der Literatur der Jahrhundertwende. München 1994. Garbiele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1995. 2 Vgl. zur Geschichte des Bühnentanzes grundlegend Klaus Kieser / Katja Schneider: “Grundzüge des theatralen Tanzes”. Reclams Ballettführer. Hg. Klaus Kieser / Katja Schneider. 13. Aufl. Stuttgart 2002. S. 11-35. 3 Hugo von Hofmannsthal: “Eine Monographie. ‘Friedrich Mitterwurzer’ von Eugen Guglia”. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa I. Hg. Herbert Steiner. Frankfurt a.M. 1956, S. 228 -232. (Im folgenden im Text nach dieser Ausgabe nachgewiesen mit der Sigle M und der Seitenzahl.) 4 Vgl. zur “Lebensideologie” Martin Lindner: Leben in der Krise: Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne; mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Gläser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart, Weimar 1994. S. 5 -145. 5 Uwe C. Steiner: Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke. München 1996. S. 158. 6 So über die Vereinigungen Robert Musil: Tagebücher. Hg. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976. Bd. 1, S. 347. 7 Vgl. Annette Meyhöfer: Das Motiv des Schauspielers in der Literatur der Jahrhundertwende. Köln/ Wien 1989. 8 Vgl. Ursula Geitner: Schauspielerinnen. Der theatralische Eintritt der Frauen in die Moderne. Bielefeld 1988. Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst. Frankfurt a.M. 1989. 9 Vgl. Michael Titzmann: “‘Grenzziehung’ vs. ‘Grenztilgung’. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‘Realismus’ und ‘Frühe Moderne’. Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten - realistische Imaginationen. Hg. Hans Krah / Claus-Michael Ort. Kiel 2002. S. 181-209. 10 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. I. K.: Werkausgabe. Hg. Wilhelm Weischedel. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1982. Bd. 3, S. 98. 11 Vgl. David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon: Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984. (Anglica Germanica Series 2) 12 Zu Krise und Restauration des Laokoon-Regimes im 19. Jahrhundert vgl. Gustav Frank: “‘Schöner Schein’ nach der Goethezeit: Die Wanderjahre an den Grenzen einer Ästhetik des Nacheinander”. Goethe im Vormärz. Hg. Detlev Kopp / Hans-Martin Kruckis. JB Forum Vormärz Forschung 9 (2003), S. 109 -140. 13 Vgl. Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Gießen 1989. Gustav Frank 240 14 Wichtig als Ermöglichungsbedingung einer neuen Literatur ist jedoch, daß sich nunmehr auch das Wechselverhältnis der Künste verändert. War bislang eine Grenzüberschreitung und Vereinigung fragwürdig, weil sie die einheitliche, bruchlose Illusionierung der jeweiligen Kunst irritiert und auf die Mittel durchsichtig gemacht hätte, deren Effekt diese ist, so sind jetzt alle denkbaren Wort-Bild-Formen möglich. Hofmannsthal beobachtet als Essayist die Entwicklungen der bildenden Kunst und arbeitet auch selbst an Wort-Bild-Übergängen. Dabei wird kenntlich, wie er an Bildkunst nur insofern interessiert ist, als sie wie der Schauspieler das nicht-bewußte Seelengeschehen zur Anschauung bringt. Vgl. dazu Ursula Renner: Die Zauberschrift der Bilder. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg 2000. S. 11: “Nicht erst mit dem legendären Chandos-Brief, wie die Forschung zumeist behauptet, sondern bereits seit seinen frühesten Publikationen Anfang der neunziger Jahre fragt Hofmannsthal, was der (Begriffs-)Sprache […] entgegengesetzt werden kann, wenn Psychisches, das Suchprogramm des 19. Jahrhunderts, kommuniziert werden soll. Eine Antwort findet er im nonverbalen Zeichensystem der bildenden Kunst. Wie die bedeutungsimprägnierten und deutungsoffenen Träume können auch die materiellen Bilder Zeugnis ablegen von den ‘subjektiven Wahrheiten’ der Seele. Nicht daß sie vermeintlich mimetisch abbilden, ist ihr Vorzug, sondern daß sie etwas von der Tiefendimension des Lebens an die Oberfläche bringen. Bilder, weil Medien, ‘transponieren’ das ‘Leben’ und machen anschaulich, ‘was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert.’ (RA III 400)” 15 Vgl. Achim Aurnhammer / Thomas Pittrof (Hgg.): “Mehr Dionysos als Apoll”. Antiklassizistische Antike- Rezeption um 1900. Frankfurt a.M. 2002 (Das Abendland; NF Bd. 30) 16 So Brygida Ochaim: “Varieté-Tänzerinnen um 1900”. Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne.(Katalog) Hg. B.O. / Claudia Balk. Frankfurt a.M./ Basel 1998. S. 69 -116, hier S. 95. 17 Vgl. Gustav Frank / Katja Schneider: “Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Moderne (1890 -1938): semiotische Voraussetzungen und sprachtheoretische Folgen”. Kodikas/ Code-Ars Semeiotica 24/ 1 (2001): S. 46 -72. Den Anschluß an die Debatten um die Wahrnehmung und den Okkultismus diskutiert Giovanni Lista: “LoÎe Fuller oder die Macht des Geistes”. Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian. 1900 -1915. (Katalog) Hg. Schirn Kunsthalle / Veit Loers. Ostfildern 1995. S. 588 -599. 18 Zu Fuller vgl. Gabriele Brandstetter / Brygida Ochaim: LoÎe Fuller. Tanz, Licht-Spiel, Art Nouveau. Freiburg 1989. 19 Brygida Ochaim: “Varieté-Tänzerinnen um 1900”. Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne.(Katalog) Hg. B.O. / Claudia Balk. Frankfurt a.M./ Basel 1998. S. 69 -116, hier S. 69. 20 Vgl. etwa Ulrich Linse: “Das ‘natürliche’ Leben: Die Lebensreform”. Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500 -2000. Hg. Richard van Dülmen. Wien u. a. 1998; S. 435 - 456. 21 Baxmann 22 Vgl. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995. Inge Baxmann: Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München 2000. 23 Gunhild Oberzaucher-Schüller: “Vorbilder und Wegbereiter. Über den Einfluß der ‘prime movers’ des amerikanischen Modern Dance auf das Werden des Freien Tanzes in Mitteleuropa”. Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hg. G.O.-S. Wilhelmshaven 1992. S. 347-366, hier S. 357 (Herv. GF). 24 Vgl. Heide Schlüpmann: Die Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Basel/ Frankfurt a.M. 1990. S. 26. 25 Vgl. Claudia Balk: ”Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne”. Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne.(Katalog) Hg. Brygida Ochaim / C. B. Frankfurt a.M./ Basel 1998. S. 7- 68, hier S. 61, FN 10: “Mehr emotionalisierte als informative Zeitungsberichte sowie Autobiographien und Biographien, die primär als Erfolgsgeschichten geschrieben sind. Über den Tanz selbst ist nur wenig Ergiebiges zu erfahren.” 26 Hugo von Hofmannsthal: “Die unvergleichliche Tänzerin”. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II. Hg. Herbert Steiner. Frankfurt a.M. 1976. S. 222-228. (Im folgenden im Text nach dieser Ausgabe nachgewiesen mit der Sigle U und der Seitenzahl.) 27 Vgl. Hugo von Hofmannsthal / Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898 -1929. Hg. Hilde Burger. Frankfurt a.M. 1968. S. 130 -131. 28 Wenn in diesem Beitrag Hofmannsthals Werk besonders hervorgehoben erscheint, dann weil sich in ihm Tendenzen der zeitgenössischen Diskurse auf engem Raum verdichten. Die abschließenden Sätze seines Aufsatzes sind dafür wiederum repräsentativ, wenn man sie im Kontext der im folgenden Jahr erscheinenden kleinen Schrift Sigmund Freuds liest: Der Wahn und die Träume in W. Jensens “Gradiva”. Leipzig/ Wien 1907. 29 Vgl. Hugo von Hofmannsthal / Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898 -1929. Hg. Hilde Burger. Frankfurt a.M. 1968. S. 135ff. Assoziationen / Dissoziationen 241 30 Vgl. zum Verlauf des Salome-Projekts Claudia Balk: “Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne”. Varieté-Tänzerinnen um 1900: Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne. (Katalog) Hg. Brygida Ochaim / C. B. Frankfurt a.M./ Basel 1998. S. 7- 68, hier S. 40 - 42. 31 Dazu Heinz Hiebler: “‘… mit Worten (Farben) ausdrücken, was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert …’ Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne”. Hofmannsthal JB 10 (2002). S. 89 -160. 32 Vgl. Tom Gunning: “The Cinema of Attraction. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde”. Wide Angle Vol. 8/ 3 u. 4 (1986): S. 63 -70. 33 Béla Balázs. Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. [1924] Zitiert nach: B. B. Schriften zum Film. Band 1: ‘Der sichtbare Mensch’. Kritiken und Aufsätze 1922-1926. Hg. Helmut H. Diederichs / Wolfgang Gersch / Magda Nagy. Berlin 1982. S. 51f. (Im folgenden im Text nach dieser Ausgabe nachgewiesen mit der Sigle S und der Seitenzahl.) 34 Vgl. Gustav Frank: “Weekend und vox. Beobachtungen zum entstehenden Tonfilm”. “Modern times”? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies / Kontinuitäten der Kultur: 1925 -1955 Hg. G. F. / Rachel Palfreyman / Stefan Scherer. Bielefeld (im Erscheinen). 35 Vgl. etwa aus demselben Jahr Bildtafeln und Text in Fritz Giese: Die Körperseele. Gedanken über persönliche Gestaltung. München 1924. Vgl. Wege zu Kraft und Schönheit (Ufa 1924/ 26). 36 Vgl. “… jeder Mensch ist ein Tänzer.” Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. (Katalog) Hg. Hedwig Müller / Patricia Stöckemann. Gießen 1993. 37 Vgl. Yvonne Hardt: “Vom Krieg, der Pantomime und der Hoffnung. Die Ausdruckstänzerin Jo Mihaly”. tanzdrama 64 (3/ 2002): S. 16 -18. 38 Vgl. dazu Gustav Frank / Katja Schneider: “Schnittstellen von Tanz und Technik in der Frühen Moderne (1890 -1938): semiotische Voraussetzungen und sprachtheoretische Folgen”. Kodikas/ Code-Ars Semeiotica 24/ 1 (2001): S. 46 -72, besonders S. 66f. 39 Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M. 9 1983. Bd. 1, S. 472: “Der gute Film hat diese Umbetonung oder Sichtbarmachung auf den Leib und die Bewegung bezogen, offenbar belehrt vom neuen Tanz; wonach dieser also das Rätsel lösen mag, wie die Geste gerade so filmhaft reich werden konnte.” 40 Vgl. Gustav Frank: “Probleme der Sichtbarkeit. Die visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts und Okkult-Fantastisches in Literatur und Film um 1910: Afgrunden (Gad/ Nielsen), Die Versuchung der stillen Veronika (Musil), Der Student von Prag (Rye/ Ewers/ Wegener/ Seeber)”. Recherches Germaniques Hors Série 1 (2002), S. 59 -101. 41 Meyers Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage. Bd. 16: Sirup bis Turkmenien. Leipzig/ Wien: Bibliographisches Institut 1897, S. 1010. “In dancing she was dancing.” Freier Tanz und Literatur im Zeichen der Einfachheit Gregor Gumpert für lole Das Einfache, zumal das erarbeitete Einfache, ist das Schwerste. Und doch, oder gerade darum, wird Einfachheit in vielerlei Zusammenhängen umworben: Einfachheit der Darstellung komplexer Sachverhalte in der Wissenschaft; bündige, faßliche Normen des Handelns in der Ethik; und - neben Theorie und Praxis - die Einfachheit des Ausdrucks, die Unmittelbarkeit der Ansprache im künstlerischen Werk. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts - ‘Beginn’ meint hier die Zeit von der Jahrhundertwende bis zur Vorkriegsmoderne - läßt sich gerade in aestheticis eine Liebe zur Einfachheit, oder sollte man sagen: eine Verliebtheit in das Einfache, beobachten, eine entschiedene Hinwendung zu oft provokanter Simplizität. Genannt seien zwei Eckpunkte aus verschiedenen Künsten: die Klavierstücke Gymnopédies und Gnossiennes von Erik Satie, 1888 und 1890; Kasimir Malewitschs Bild Schwarzes Viereck auf weißem Grund von 1913. Für Saties musikalische wie für Malewitschs bildkünstlerische Komposition ist die Reduktion aufs Elementare kennzeichnend. Sie zeigt an, daß Einfachheit hier nicht platt gesetzt, daß nichts übersprungen wurde, daß sich die Werke vielmehr einem - oft genug: mühevollen - Prozeß der Rückführung, der Konzentration, der ‘Essentialisierung’ verdanken. Einfachheit ist schwer zu erarbeiten; und die Arbeit, die zu ihr führt, mitunter schwer zu würdigen. Im Ensemble der Künste rückt in den Jahren um 1900 der Tanz zum Wegbereiter einer neuen Einfachheit auf. Es ist, in erster Linie, Isadora Duncans, der amerikanischen Tänzerin, Revolution, mit der sich eine schlichte, tatsächlich oder vermeintlich ungekünstelte, eine vom Regelcodex der danse d’école gelöste Bewegungssprache durchsetzt. Die tanzästhetischen und -historischen Fakten sind bekannt: Duncans Favorisierung des griechischen Altertums und antiken Bewegungsvokabulars, soweit es aus Plastik und Malerei erschließbar ist; die Kontemplation von Naturbewegungen und die Überführung dieser Bewegungen in tänzerische Verläufe; die organische Prozessualität der tänzerischen Gestalt: Beginn mit einer Pose, aus der sich die Bewegung zwanglos entwickelt - Münden in eine neue Pose, aus der die weitere Bewegung entfaltet wird; Stilbildung als Aufgabe und Verpflichtung der einzelnen Podiumstänzerin; Verzicht auf eine lehr- und lernbare Technik. Der von Duncan inaugurierte sogenannte Freie Tanz und der Tanz derer, die ihr in künstlerischer Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit folgen, fasziniert zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bildhauer und Maler, Theaterreformer und Schriftsteller, die nach neuen Wegen des Ausdrucks suchen. Sie alle nehmen am Freien Tanz - nicht nur, aber doch mit geschärftem Blick eben hierfür - die Einfachheit seines Bewegungsmaterials wahr. Denn was hier zur Anschauung gelangt, ist K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gregor Gumpert 244 zunächst nichts anderes und nicht mehr als ein “Wenden und Beugen des Oberkörpers, Neigen und Zurückwerfen des Kopfes, des Halses und Nackens, Heben und Senken der Schultern, dann Knien und Liegen, sich in langsamen Phasen Erheben.” 1 Die Schwesterkünste des Tanzes machen die Einfachheit, die ihnen der Freie Tanz vorführt, auf je unterschiedliche Weise für sich produktiv. Eines der überzeugendsten - und medial am nächsten liegenden - Beispiele ist die Schöpfung einer beweglichen Bühnenarchitektur, der sogenannten screens, durch Edward Gordon Craig, den englischen Theatertheoretiker und -reformer. Zu den screens - hölzernen Rahmen, über die Segeltuch gespannt ist und die auf einziehbare Laufrollen montiert sind - gelangt Craig inspiriert durch Duncan: Der Freie Tanz setzt ihn auf die Spur bei seiner Suche nach einem Instrument zur Veranschaulichung von Bewegungen, und zwar der ‘klarsten, nacktesten und einfachsten Bewegungen’ überhaupt (wie Craig 1908 formuliert 2 ). Durch die Stellung der screens zueinander ergeben sich auf einer Bühne plastische Formen, die das Publikum als architektonische Struktur wahrnimmt; dank geschickter bühnentechnischer Manipulation aber wechseln die screens ohne Umbaupause ihre Stellung und bringen so, in fließendem Übergang, Form auf Form hervor. Duncans Posen, in denen einfachste Bewegungen angelegt sind, Bewegungen, die sich wiederum zu neuen Posen sammeln, begegnen hier an unbelebtem Material, an einer a-naturalistischen Bühnenarchitektur wieder. Mit Blick auf die Literatur - und das Verhältnis zwischen Tanz und Literatur soll im folgenden interessieren - ist weniger offensichtlich, inwiefern die eine Kunst an der anderen, und zumal an deren neuer Einfachheit, Maß nehmen könne. Dabei ist die Bandbreite der Beziehungen zwischen beiden Künsten und ihren Vertretern denkbar groß: Schriftsteller und Tänzerinnen arbeiten zusammen - Hugo von Hofmannsthal und Grete Wiesenthal -, und es entstehen Texte für den Tanz: Pantomimenszenarien zur tänzerischen Realisation, Tanzspiele als Gesamtkunstwerke en miniature - etwa “At the Hawk’s Well”, ‘An der Falkenquelle’, von William Butler Yeats in Zusammenarbeit mit dem japanischen Tänzer Michio Ito. Die poetologisch bedeutsame Dimension des nicht-akademischen Tanzes hatte am Ausgang des 19. Jahrhunderts schon Stéphane Mallarmé in seinen “Considérations sur l’art du Ballet et la Loïe Fuller” entwickelt; ihm folgen im 20. Jahrhundert Autoren wie Paul Valéry und Rainer Maria Rilke. In schwer übersehbarer Fülle schließlich spielt der neue Tanz eine thematisch zentrale oder motivisch beigeordnete Rolle in Gedichten und Prosatexten von der Jahrhundertwende bis weit über die Vorkriegsmoderne hinaus. Wo aber finden sich jene Berührungspunkte sub specie simplicitatis, um die es hier gehen soll? Es liegt nahe, sich bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage zunächst an die literarischen Klassiker der Beschäftigung mit dem Tanz zu halten. Einer unter ihnen ist Hugo von Hofmannsthal; seine Essays Die unvergleichliche Tänzerin, 1906, und Über die Pantomime, 1911, sind Grundtexte der literarischen Reflexion auf den neuen Tanz. Im Essay von 1906 widmet sich Hofmannsthal einer Darbietung von Ruth St. Denis, einer Tänzerin, die - anders als Isadora Duncan - nicht an die griechische Antike, sondern an fernöstliche Traditionen anknüpfte. Der Dichter ruft eine Reihe von Topoi auf: Der Tanz ist unbeschreiblich; was er zur Anschauung bringt, läßt sich nicht im Medium der Worte vermitteln; er teilt ein Mysterium mit; er gibt “Emanationen absoluter sinnlicher Schönheit” 3 ; er ist von einer Archaik, die höchst zeitgemäß erscheint - “Ich fühle dieses Schauspiel bis zum äußersten imprägniert mit dem Aroma des ganz einzigen Moments, in dem wir leben.” 4 Entscheidend im hier interessierenden Zusammenhang ist jedoch die Charakteristik der Bühnenwirklichkeit des Tanzes. Der Dichter schildert, wie die Tänzerin sitzt, wie sie sich erhebt - “Dieses Aufstehen ist wie ein Wunder” 5 -, wie sie schließlich eine Folge “un- “In dancing she was dancing” 245 aufhörlicher […], richtiger Bewegungen” 6 ausführt. Hofmannsthals Kennzeichnungen erinnern an eine Bemerkung, die Edward Gordon Craig einmal über Isadora Duncan machte: Die Tänzerin habe gezeigt, “what it is to move: to step, to walk, to run; few people can do these things.” 7 Im Pantomimen-Essay von 1911 kommt Hofmannsthal noch einmal auf Ruth St. Denis zu sprechen. Er betont ihr Vermögen, der einfachsten Handlung einen zeremoniellen Charakter zu geben, und benennt die “Folge der einfachsten Gebärden, […] Schreiten und Neigen, Entzünden und Weihen”, in denen sich “unermeßliche Wahrheit, geistige Schönheit entfalten.” 8 Wie sind Hofmannsthals Beobachtungen und tanzästhetische Bestimmungen zu deuten? Ein platonisches, oder besser: ein platonisierendes, Modell scheint zugrundezuliegen. Denn was wären ‘richtige Bewegungen’ anderes als die körperlich, die sinnfällig gewordenen Urbilder der geschwächten, der getrübten, der vermischten und verstellten Bewegungen unseres Alltags? In dieser Perspektive wird verständlich, daß Hofmannsthal von “Emanationen absoluter sinnlicher Schönheit” spricht, also von etwas, was es nicht geben kann: Absolute Schönheit ist unsinnlich, die Emanationen absoluter Schönheit sind sinnlich. Der Tanz realisiert - im strengen Wortsinn: er verwirklicht - ein Unmögliches: Er läßt, für einen Augenblick, Ideen Fleisch werden. Wenn diese Deutung der Überlegungen Hofmannsthals richtig ist, so wird, zumindest in Umrissen, der Weg erkennbar, der von der Tanzkunst und der Einfachheit der Bewegung - und das heißt eben: von deren Ungetrübtheit, Unvermischtheit, von ihrer Einheit mit sich selbst - zur Einfachheit der Kunst der Worte, der Dichtkunst führen könnte. Es ist freilich ein Weg, den Hofmannsthal selbst nicht beschritten hat. An der Einfachheit des neuen Tanzes Maß zu nehmen, hieße für die Dichtkunst: eine Sprache zu schaffen, in der die Worte nackt und bloß würden, kahl und ledig aller unreinen Anhaftung - ihrer störenden Beiklänge, ihrer verwirrenden Grautöne, ihrer geschichtlichen Fracht. Es hieße, die Worte in ihrer Materialiät, ihrer Klanglichkeit, zu sich selbst kommen zu lassen, um sie als ‘Urworte’ zu gebrauchen. Es hieße schließlich, eine - nach konventioneller Meinung - alles andere als dichterisch schöne Sprache zu sprechen, eine Sprache nämlich, die Verzicht leistete auf das, was lange Zeit als das ‘Dichterische’ galt. Diese Sprache besäße wohl jene “Unmittelbarkeit”, die Hofmannsthal an Ruth St. Denis’ Tanz rühmt: “Die ungeheure Unmittelbarkeit dessen, was sie tut, diese strenge, fast abweisende Unmittelbarkeit, dies Kommentarlose […]”. 9 Hofmannsthal hat einen solchen Umgang mit der Sprache nicht gepflegt. Er blieb zeitlebens dem - im weitesten Sinne - symbolistischen Kunstparadigma verpflichtet, das gerade die Arbeit mit den Potentialen der Konnotation, dem Reichtum der Nuance in den Vordergrund rückt: Zwischen den Worten soll ein Verweisungszusammenhang eigener Geltung sich herstellen “comme une virtuelle traînée de feux sur des pierreries”, gleich einer ‘funkelnden Leuchtspur’ über Edelsteinen - so drückt Mallarmé es in Crise de vers aus. 10 Und überdies: Hofmannsthals im Pantomimen-Essay von 1911 aufgestellte Bestimmung der Leistung des Wortgebildes einerseits, des tänzerischen Werks anderseits, sein Beharren auf der fundamentalen Differenz beider, ist dem Versuch einer Übertragung von Verfahrensweisen hinderlich. So wählte Hofmannsthal den für ihn einzig gangbaren Weg der Produktion für den Tanz, der Schöpfung von Szenarien und Libretti, in denen die Poesie der Worte und die Dramaturgie der Erfindung dienstbar der schweigenden Kunst des Körpers werden. Daß der Dichter hiermit Texte schuf, die auch zu lesen sich lohnt, wäre eigener Betrachtung wert. 11 * Gregor Gumpert 246 Die Einfachheit einer neuen Dichtung in Analogie zur Einfachheit des neuen Tanzes - es sind andere literarische Kreise aufzusuchen, um diese Analogie in der Tat bestätigt zu finden. In einem anderen poetischen Universum als dem Hofmannsthals begrenzt die Dichtkunst die Fülle ihrer überkommenen Ausdrucksmöglichkeiten und erwirbt sich in der Beschränkung neue; sie beschwört noch einmal, und anders als je zuvor, die Macht des einzelnen Worts; sie führt eine radikale Reduktion durch und gewinnt im entschiedenen Minimalismus monumentale Züge. Es ist das Werk einer Hohenpriesterin dichterischer Einfachheit, in dem all dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingelöst wird - das Werk der amerikanischen Dichterin Gertrude Stein. She was one being one. She was one always being that one. She was one always having being that one. She was one always going on being that one. She was one being one. 12 So könnte Stein von sich selbst Rede führen, so könnte sie ein Selbstporträt zeichnen, in dem sie sich einfach, in der immerwährenden Einheit und Bestimmtheit ihrer selbst, sprachlich darstellt. Doch spricht die Dichterin in diesem Text - überschrieben Orta or one dancing, verfaßt in den Jahren 1911/ 12 und posthum veröffentlicht 1951 - nicht von sich, jedenfalls nicht expressis verbis von sich, sondern von einer großen Künstlerkollegin und Vorkämpferin des Einfachen, die hier, verschlüsselt, unter dem Namen Orta Davray erscheint - gemeint aber ist: Isadora Duncan. 13 Steins Duncan-Porträt ist in mehrerlei Hinsicht aufschlußreich: als eindrucksvolles Dokument einer schwierigen Einfachheit in der Literatur der Vorkriegsmoderne, einer Einfachheit, die die Analyse vor Probleme stellt; als Zeugnis der einen Kunst über die andere, der Dichtung über den Tanz - ein Text, der seinerseits als “verbal dance of great rhythmic skill” 14 beschrieben worden ist; und schließlich als Reflexion, die im Sprechen über den Tanz auch über Dichtung spricht, genauer: die Tanzen und Schreiben in nächste Nähe rückt. Alle drei Momente spielen ineinander. Was sagt Stein über den Tanz, und wie sagt sie es? Sie sagt sehr wenig und zugleich sehr viel. Man könnte behaupten, sie sage alles und nichts - dies aber auf eine überaus eindringliche Weise, die den Gedanken fließen, ihn mitunter gar, in der Tautologie, kreisen läßt: In being one dancing this one is one being one remembering anything in dancing. In being one dancing this one is one remembering something in dancing. In being one dancing this one was dancing and dancing being that thing being dancing this one was doing that thing was doing dancing. In being one dancing this one was one being dancing. In being dancing this one was dancing. In dancing this one was dancing. 15 Der erste Eindruck des Passus als Ganzen dürfte der einer mit großem Nachdruck, mit insistierendem Gestus vorgebrachten Rede sein. Jeder Satz - gewiß eigenwillig, aber den Regeln der Grammatik gemäß formuliert - ist ganz und gar verständlich. Kompositionell wird mit Wiederholung und Variation gearbeitet; die Komplexität im Aufbau nimmt zunächst zu, dann wieder ab, bis hin zur formelhaften Schlußwendung: “In dancing this one was dancing.” Grundsätzlich bleibt es im Duncan-Porträt bei den hier genannten Verfahren. Dabei sind Umstellungen möglich: Der erste Satz des dem eben zitierten folgenden Passus geht von der formelhaften Schlußwendung aus, führt eine Variation ein - aus “this one” wird “she” - und entfaltet den Gedanken in längeren Satzgebilden unter geringfügig neuem Aspekt. Als kleine Überraschung schleicht sich das Wort “existing”, ledig allen philosophischen Schwergewichts, in den Redefluß ein und wird seinerseits der Wiederholung unterworfen: “In dancing she was dancing” 247 In dancing she was dancing. She was dancing and dancing and in being that one the one dancing and dancing she was dancing and dancing. In dancing, dancing being existing, she was dancing, and in being one dancing dancing was being existing. 16 Die Tänzerin tanzt wirklich - ihr Tanzen ist nichts als Tanzen - in ihrem Tanz ist Tanz überhaupt gegenwärtig. Mit diesen dürren Worten ließe sich die ‘Aussage’, die der soeben gelesene Passus einzuschärfen bemüht scheint, wiedergeben. Damit wäre alles und nichts gesagt; vor allem aber: Die dichterische Einfachheit des Steinschen Textes, der gleichfalls alles und nichts sagt, der aber in der Tat den Fluß, den Entwicklungscharakter, das organische Moment der Darbietungen Isadora Duncans in Worten nachzubilden unternimmt, diese dichterische Einfachheit wäre abhanden gekommen. Die Analyse von Texten Gertrude Steins tut gut daran, sich auf Strukturbeschreibungen zu beschränken, statt aus den Redeinhalten ein diskutables ‘Argument’ abzuziehen. Es gilt hier eher, auf die Dichtung zu blicken, als hinter sie gelangen zu wollen. In Hinsicht auf die Frage nach einer Analogie von Tanzen und Schreiben ist im Duncan- Porträt ein Satz von zentralem Interesse. Er lautet: “She was then resembling some one, one who was not dancing, one who was writing […]”. 17 Eine Ähnlichkeit der porträtierten Tänzerin mit einer oder einem Schreibenden wird festgestellt. Die Feststellung weist auf die genaue Verbindung, die, in Steins Perspektive, zwischen der einen und der anderen ästhetischen Praxis besteht. Tanzen und Schreiben, und das heißt: ein Schreiben wie das im Duncan-Porträt vorgeführte, konvergieren. Von hier aus gelesen, läßt sich Steins Text nicht allein als eine Etüde über ‘dancing’, sondern auch als eine über ‘writing’ auffassen, als eine Meditation über Dichtkunst im Zeichen der neuen, am neuen Tanz geschulten Einfachheit. Es ist bemerkenswert, daß gerade dieser Satz: “She was then resembling some one, one who was not dancing, one who was writing”, der wie kaum ein anderer des Porträts den dicht geschlossenen Immanenzzusammenhang der Rede durchbricht, für Stein selbst offenbar nicht unproblematisch war. Der Satz begegnet im Erstdruck des Textes von 1951, im Typoskript, das die Dichterin als Druckvorlage erstellt hatte, und im Manuskript; in einem Typoskript aber, das Stein zurückbehielt, ist er mit Tinte gestrichen. 18 Er ging, so steht zu vermuten, Stein selbst zu weit, indem er eine Lektüre des Textes pro domo geradezu herausforderte. Die Dichterin mag ihn in ihrem Arbeitsexemplar gestrichen haben, um eine völlige Konzentration auf den einen Gegenstand des Porträts zu erreichen, der unvermischt und in der Einheit seiner selbst, einfach zur Geltung kommen sollte. * Es wäre verfehlt, Gertrude Steins hier vorgestellten Text als Dokument einer ‘Beeinflussung’ durch den Freien Tanz, im besonderen durch Isadora Duncan, zu verstehen. Der Stil, in dem das Porträt gehalten ist, liegt zur Entstehungszeit des Textes - in den Jahren 1911/ 12 - bereits fest; erinnert sei nur an einige Passagen aus dem opus magnum The Making of Americans. Being a History of a Family’s Progress, geschrieben 1906-08, veröffentlicht 1925. Zeitgleich mit der Etüde über ‘dancing’ entstehen literarische Porträts der Maler Picasso und Matisse - die Dichterin zeigt sich stärker an der Bildkunst als am Tanz interessiert. Ihr Buch Tender Buttons, 1914, zeugt davon; im Medium der Worte soll hier eine Gegenstandsrepräsentation geleistet werden, die derjenigen der kubistischen Malerei analog ist. Im Freien Tanz und im Werk ihrer Künstlerkollegin Isadora Duncan dürfte Stein nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine willkommene Bestätigung ihrer eigenen ästhetischen Gregor Gumpert 248 Praxis erblickt haben. Dabei mußte sie freilich über zumindest eine grundlegende Differenz hinwegsehen: Die Einfachheit, die Duncan erstrebte, sollte eine Einfachheit des Natürlichen sein; die Sprache dagegen, die Stein spricht, ist und bleibt - in der Reduktion des Vokabulars, der strengen Beschränkung auf bestimmte Verbformen, der Geradlinigkeit parataktischer Reihung und anderem mehr - in hohem Maße artifiziell. Sie ist inszeniert und wirkt befremdlich. Daß auch Duncans ‘Natürlichkeit’, eine auf der Bühne dargebotene Natürlichkeit, inszeniert ist, leitet auf Fragen, die eigens zu erörtern wären. Auch wenn sich im Duncan-Porträt kein ‘Einfluß’ der einen Kunst auf die andere dokumentiert, ist der Text doch paradigmengeschichtlich und mit Blick auf Konvergenzprozesse zwischen den Künsten von großem erhellenden Wert. Dies sei im folgenden angedeutet. Im Ensemble der Künste sind die Beziehungen, die sich unter den einzelnen Mitwirkenden ausbilden, stets vielgestaltig. Überblickt man die Jahrzehnte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Vorkriegsmoderne, so fällt auf, daß in ihnen die Suche nach einer ‘Leitkunst’ bedeutsam war, nach einer Kunst, deren Verfaßtheit und Verfahrensweisen paradigmatisch für die anderen sein konnten. Théophile Gautier, dem Baudelaire die Fleurs du mal widmet, ruft 1857 in seinem Gedicht “L’Art”, aufgenommen in die Sammlung Emaux et Camées (‘Emaillen und Gemmen’), die Bildhauer-, die Steinschneide- und die Emaillierkunst als musterhaft aus. Was diese sind, soll die Dichtung werden: eine Kunst des genauen Fixierens und der klaren Umrißlinie, die ihren Gebilden Dauer verleiht. Das Gedicht “L’Art” schließt mit der Anweisung: Sculpte, lime, ciselle; Que ton rêve flottant Se scelle Dans le bloc résistant! 19 Um den ‘schwebenden Traum’ in Worte zu fassen, orientiert sich später, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die Dichtung des Symbolismus an der Musik: “De la musique avant toute chose”, beginnt Verlaines “Art poétique” von 1882. 20 Bereits einige Jahre zuvor hatte der englische Kunsttheoretiker Walter Pater formuliert: “All art constantly aspires towards the condition of music” 21 ; das Privileg der Musik, nach deren Zustand oder Seinsweise die anderen Künste streben, erkannte Pater in der vollkommenen Ineinsbildung von “matter” und “form”. 22 In Hinsicht auf die literarischen Avantgarden der Vorkriegsmoderne schließlich, die gegen das symbolistische Kunstparadigma opponieren, läßt sich feststellen: “For the modern period, […] painting takes the place of music as the central […] art. In modernism, all art aspires towards the condition of painting.” 23 Mit ihrem Interesse an bildkünstlerischen Verfahren, an der kubistischen Malerei, ordnet sich Stein aufs genaueste in diesen paradigmengeschichtlichen Zusammenhang ein. Am Übergang jedoch vom symbolistisch-musikalischen zum avantgardistisch-malerischen Paradigma steht um 1900 der Tanz: als bewegte, sich - wie die Musik - in zeitlichem Verlauf manifestierende, dabei - wie die Bildkunst - optisch wahrnehmbare Gestalt. Steins Aufmerksamkeit auf den Tanz und ihr weiterer Weg der Orientierung an der Bildkunst spiegeln die Rolle des Tanzes als eines im Ensemble der Künste bedeutsamen paradigmengeschichtlichen Zwischenspiels. Bei der Ausbildung paradigmatischer Verhältnisse unter den Künsten, bisweilen aber auch unabhängig hiervon, kann es zu Konvergenzprozessen kommen, die sich als Über- “In dancing she was dancing” 249 nahme, oder besser: als Anverwandlung, von Verfahrensweisen der einen Kunst durch die andere beschreiben lassen. Über solche Konvergenzprozesse hat Theodor W. Adorno in seiner Studie Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, veröffentlicht 1965 in einer Festschrift für Daniel-Henry Kahnweiler, Erhellendes gesagt. Adorno stellt fest, daß die Künste ineinander übergehen, “[n]icht jedoch durch Anähnelung, durch Pseudomorphose. […] Sobald die eine Kunst die andere nachahmt, entfernt sie sich von ihr, indem sie den Zwang des eigenen Materials verleugnet, und verkommt zum Synkretismus in der vagen Vorstellung eines undialektischen Kontinuums von Künsten überhaupt. […] Die Künste konvergieren nur, wo jede ihr immanentes Prinzip rein verfolgt.” 24 An Steins Duncan-Porträt ist als literarischem Text nur die eine Richtung des Konvergenzprozesses zu überblicken: die Hinwendung der Dichtung zum Tanz. Dabei fällt auf: Was Stein am Freien Tanz nicht müde wird zu betonen, ist die völlige Realisierung von Tanz als Tanz, eben der Sachverhalt, daß (mit Adornos Worten) die Tanzkunst hier “ihr immanentes Prinzip rein verfolgt”. Allererst so wird der Tanz, in Adornos und offenkundig auch in Steins Perspektive, konvergenzfähig - und kann sich die Dichtung ihm nähern, indem sie ihrerseits ihr “immanentes Prinzip” realisiert. Gertrude Stein führt eine Rede, wie sie dichterischer kaum sein kann; in dem Sinn, daß das ‘Wovon’, der Gegenstand der Rede, spezifisch im ‘Wie’, in der Redeweise, deutbar wird. Anders gesagt: Das Gemeinte wandert ein in den Bau der Rede und bildet mit ihm die einfache Gestalt, die kompakte Einheit der Steinschen Dichtung: “In dancing she was dancing.” Anmerkungen 1 Max Niehaus: Isadora Duncan. Leben - Werk - Wirkung, Wilhelmshaven 1981, p. 131 sq. 2 “plainest, barest and simplest movements”. Edward Gordon Craig: “The Artists of the Theatre of the Future”, in: The Mask, vol. I, no. 1, March 1908, p. 3 -5; nos. 3 - 4, May - June 1908, p. 57-70; hier: p. 69. 3 Hugo von Hofmannsthal: “Die unvergleichliche Tänzerin”, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II, ed. Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1951, p. 256 -263; hier: p. 261. 4 Ibid., p. 257. 5 ibid., p. 259. 6 ibid., p. 260. 7 Edward Gordon Craig: “Memories of Isadora Duncan”, in: The Listener, vol. XLVII, no. 1214, June 5, 1952; zit. nach Arnold Rood (ed.): Gordon Craig on Movement and Dance, New York 1977, p. 247-252; hier: p. 250. 8 Hugo von Hofmannsthal: “Über die Pantomime”, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa III, ed. Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1952, p. 46 -50; hier: p. 48. 9 “Die unvergleichliche Tänzerin”, in: Prosa II, p. 262. 10 Stéphane Mallarmé: “Crise de vers” (1886/ 1897), in: Œuvres complètes, ed. Henri Mondor et G. Jean-Aubry, Paris 1945, réimpr. 1989, p. 360 -368; hier: p. 366. 11 Cf. Gregor Gumpert: Die Rede vom Tanz. Körperästhetik in der Literatur der Jahrhundertwende, München 1994, p. 140 -146. 12 Gertrude Stein: “Orta or one dancing”, in: Ulla E. Dydo (ed.): A Stein Reader, Evanston, Ill. 1993, p. 120 -136; hier: p. 134. 13 Cf. zum Zusammenhang die editorische Bemerkung von Ulla E. Dydo in A Stein Reader, p. 120 sq. 14 Ulla E. Dydo, ibid., p. 120. 15 “Orta or one dancing”, in: A Stein Reader, p. 134. 16 Ibid. 17 Ibid., p. 130. 18 Cf. die editorische Bemerkung von Ulla E. Dydo in A Stein Reader, p. 120. 19 Théophile Gautier: “L’Art”, in: Emaux et Camées, ed. Jean Pommier, Lille et Genève 1947, p. 130 -132; hier: p. 132. Gregor Gumpert 250 20 Paul Verlaine: “Art poétique”, in: Œuvres poétiques complètes, ed. Y.-G. Le Dantec, Paris 1954, p. 206 -207; hier: p. 206. 21 Walter Pater: “The School of Giorgione” [erstmals veröffentlicht 1877 in der ‘Fortnightly Review’], in: The Renaissance. Studies in Art and Poetry. The 1893 Text, ed. Donald L. Hill, Berkely and London 1980, p. 102-122; hier: p. 106. 22 Ibid., p. 109. 23 Reed Way Dasenbrock: The Literary Vorticism of Ezra Pound & Wyndham Lewis. Towards the Condition of Painting, Baltimore and London 1985, p. 5. 24 Theoder W. Adorno: “Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei”, in: Gesammelte Schriften, ed. Rolf Tiedemann, Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, p. 628 - 642; hier: p. 629. Tanz-Einstellungen Ein Blick auf die Geschichte des Tanzes im Film Hans Krah 1. Tanz und Film, Film und Tanz Das Ausdrucksmedium Tanz korrespondiert weniger mit Musik als mit Bewegung. Tanz ist Bewegung im Raum, wodurch dieser Raum konstituiert wird. Bewegte Bilder zeichnen auch das Medium Film aus, auch dieses schafft sich seinen eigenen Raum. Der Film scheint somit prädisponiert für die Darstellung und Integration von Tanz zu sein. Nicht erst zur Tonfilmzeit rückt der Tanz denn in den filmischen Horizont. Bereits die Produktionen eines Meliés führen Tanzszenen vor, und auch die Welle der Salome-Verfilmungen kommt ohne Ton aus. 1 Die Beziehungen und Verflechtungen der beiden Medien Film und Tanz sind vielfältig. So etwa in der Tanz-Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wenn spezifisch mediale Techniken des neuen (und technischen) Mediums Film - Unterbrechung, Fragmentierung etc. - und filmische Kodierungsweisen für die Formensprache des Tanzes eingesetzt werden, 2 oder wenn am Ende des Jahrhunderts dem Tanz in Experimentalfilmen neue Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen werden. 3 Ebenso waren und sind immer wieder Choreographen an der Produktion von Filmen beteiligt oder Tänzer als Darsteller und Filmschauspieler zu sehen. 4 Tanz im Film (und damit ist im folgenden das Mainstream-Kino und somit der Spielfilm gemeint) ist allerdings nie mit Tanz als aktuellem eigenständigem Ausdrucks-Medium und autonomer Kunstform identisch, und selten wird im Film auf diesen Status Bezug genommen: Nicht der zeitgenössischen Tanzkunst, dem Tanztheater, wird mit Tanz im Film ein Forum eröffnet. Diese, dieses, wird statt dessen konventionalisiert. Tanz wird transformiert in kulturelle Vorstellungen - Modelle - über den Tanz und funktionalisiert: Tanz dient der filmischen Bedeutungsgenerierung. Der Film bildet Tanz nicht einfach ab, sondern konstruiert ein ‘Modell von Tanz’: Tanz im Film ist nie nur Dokument einer vorfilmisch existenten Wirklichkeit, 5 Filmtanz nie nur nach den Beschreibungskategorien von ‘Tanz’ zu beschreiben. Tanz im Film ist den spezifisch filmischen Mitteln unterworfen: den allgemeinen der Modi der Vermittlung an sich, und den speziellen, wie gerade der Gegenstand ‘Tanz’ inszeniert wird. Das Medium Film konstituiert sich als modellbildendes semiotisches System durch die Konstruktion eines ‘Rahmens’ und bildet immer eine eigene Wirklichkeit ab, 6 und wenn diese mit der uns bekannten Wirklichkeit identisch zu sein scheint, so ist dieser Effekt selbst Strategie und Ergebnis einer spezifisch gewählten Konstruktion. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Hans Krah 252 So ist der Film nicht an einen ‘Stoff’ gebunden: Es gibt keine vorgegebene Abhängigkeit von einem Stoff als Instanz der Inszenierung, an die es sich zu halten gälte. Abweichungen von Vorgaben sind ohne weiteres möglich, und, vor allem, der Film regelt und organisiert (und zwar jeder Film aufs neue), wie der adaptierte Stoff zu sehen, in welche Kontexte er wie argumentativ einzuordnen ist. So etwa, welche Charakterisierung und Bewertung Mata Hari widerfährt 7 oder wie selbst der scheinbar festgefügte Salome-Stoff für ihm gegenläufige Konzepte dienstbar zu machen ist: Die Salome Rita Hayworths in Salome (USA 1953, William Dieterle) versucht nicht nur, durch ihren Tanz Johannes das Leben zu retten, sie wird zudem christlich ausgerichtet auf das ‘Heil’, das sich in der Bergpredigt transzendiert und im Mann (Stewart Granger) konkretisiert findet. Zudem kann der Film einen Metadiskurs über Tanz integrieren, kann gleichzeitig mit der Darstellung von Tanz auch Aussagen über den Status von Tanz machen. Dies gilt etwa und insbesondere dafür, welche Rückschlüsse der Tanz im Film über das Verhältnis der jeweiligen Kultur zum Körper zuläßt und welche Aussagen darüber zu machen sind, wie der Körper in der jeweiligen Kultur inszeniert und funktionalisiert werden kann (siehe unten). Der Film ist wie alle anderen Künste auch Teil der Denkgeschichte: Tanz im Film verrät mehr über die Kultur, in der der jeweilige Film entstanden ist, als über Tanz. Die Funktion von Tanzszenen erschöpft sich nicht rein in Attraktion und Unterhaltung, auch wenn dies im Musical oder Revuefilm so erscheinen mag und hier der visuell dargestellte Tanz allein aufgrund seines quantitativen Anteils dominant ein sinnliches Erleben indiziert und auf ein solches ausgerichtet ist. Auch dies ist eine Funktion, eine grundlegende, die allen Tanzdarstellungen zugrunde liegt und bei allen mehr oder weniger zentral mitschwingen dürfte. Diese Ausrichtung auf sinnliches Erleben ist gerade im Film eine erst bewußt zu installierende Funktion, da dem Film als technischem Medium eine solche Qualität zunächst abgeht und sie ihm erst sekundär wieder eingeschrieben werden muß. Der Film spricht zwar Auge und Ohr an, aber nicht unmittelbar, nicht als ephemere Qualität, wie sie Tanz, Theater und andere Performancekünste aufweisen. Die zweidimensionale Leinwand zum ‘Leben’ zu erwecken ist dem Film zwar gelungen, durchaus aber erst als Ergebnis der verschiedensten Erlebnis-Strategien. Der Tanz ist im Film darüber hinaus immer eingebunden in die Narration, in eine Geschichte, wie locker oder thematisch und wie relevant oder beiläufig dies auch sein kann. Zwar kann die Funktion der Befriedigung von visuellen Bedürfnissen - die Bereitstellung sinnlich opulenter Bilder, durch den Tanz konfigurierter abstrakter Formationen und von Bewegung um der Bewegung willen - eine große Autonomie gegenüber der filmischen Umwelt und damit der Handlung erlangen; dies macht einen Großteil der Faszination von Tanz im Film aus. Dem Tanz haben sich im Laufe der Filmgeschichte aber auch weitere Funktionen angelagert. Er kann als spezifisch modellierter Topos Bedeutung kondensieren und so argumentative Kohärenz stiften, er kann der Selbstthematisierung des eigenen Mediums Film im Unterschied, im Vergleich zu anderen Künsten dienen, und er kann bei der Verhandlung von kulturell diskutierten Werten und Normen eingesetzt sein und hier je unterschiedlich zugewiesene Lösungen für Konflikte bieten. So sehr diese Aspekte kombiniert sein können und je Einzelfilm unterschiedlich gewichtet sind, so gilt prinzipiell, daß der Tanz als ‘Modell von Welt’ fungiert, d.h., daß mit dem Tanz zusätzliche Vorstellungen über eine reine Tanzästhetik hinaus transportiert werden. Tanz-Einstellungen 253 2. Tanz-Rhetorik Filmgeschichtlich ein älteres Modell, das sich früh entwickelt hat, dessen Existenz in modalisierter Form und spezifischen Genres aber bis in die gegenwärtige Filmproduktion reicht, ist die Bindung des Tanzes an einen klar umrissenen Vorstellungshorizont, der Semantik, Evaluation, Darstellungspragmatik und Funktionszusammenhang umschließt, und den Tanz als Verlockung, Bedrohung, Gefahr und Scheinrealität setzt. Die Rede ist vom Tanz als Topos der Verführung. Kulturelle Referenz, auf die dieses filmische Konzept zurückgreift, dürfte die insbesondere durch die Adaption in Oscar Wildes Theaterstück von 1893 präfigurierte Salome und ihr ‘Tanz der sieben Schleier’ sein. 8 Salome-Verfilmungen finden sich denn bereits in der Frühzeit des Films, so 1908, 1918 und 1923. 9 Sie etablieren, gemeinsam mit und in Abhängigkeit von anderen medialen Erscheinungsformen, 10 einen Katalog an Merkmalen, der dann auch für Tanzszenen ohne einen konkreten Salome-Bezug seine Gültigkeit erlangt hat. Tanz repräsentiert in dieser Konzeption in christlicher Terminologie die Sünde und in moderner eine Abweichung von der Normalität. Diese Form des Tanzes wird einem Ritual analog in Szene gesetzt, ist also immer mehr als reine Unterhaltung; dient dieser Tanz in der erzählten Geschichte der Unterhaltung, dann ist diese selbst als Nicht-Unterhaltung inszeniert, wie etwa in Mata Hari (1931) zu sehen ist. 11 Der Tanz ist etwas, was es nicht immer gibt, dessen Aufführung eine Besonderheit darstellt. In ihm werden technisch Elemente von Tempeltanz, Bauchtanz und Ausdruckstanz vermengt, und es wird eine Aura des Übermenschlichen evoziert, als sei der Tanz von Kräften über oder unter dem Menschlichen animiert. Dergestalt den Realitätsstatus sprengend bzw. die Normalität überbietend, erscheint er in der filmischen Diegesis 12 als Faszination. Diese ist gekoppelt an die Exotik und Fremdheit, die der Tänzerin (! ) im Verhältnis zur filmischen Umwelt zukommt. In dieser Fremdheit sind ekstatische und wilde mit sakralen Elementen gepaart. Die Tänzerin erscheint als Hohepriesterin einer paganen Macht, so, wenn Mata Hari vor der Statue des Shiva tanzt. Diese Macht verkörpert in der filmischen Logik immer ein Gegenprinzip, zumeist eines, das sich durch Triebhaftigkeit und Grausamkeit auszeichnet und mehr oder weniger deutlich immer mit einem spezifischen Konstrukt von Weiblichkeit verbunden wird. Der Tanz läßt aus der patriarchalen Ordnung der Welt einen Blick in eine andere, ausgegrenzte Welt zu, in animalische Bereiche; die Tänzerin öffnet diese Bereiche. Allerdings bleibt diese Entgrenzung an den Körper der Tänzerin gebunden. Diese vollführt zwar raumausgreifende und Raum in Besitz nehmende Bewegungen, diese Raumaneignung ist aber an eine äußere und markierte Grenze, die der Performance, gebunden. Die möglich erscheinende Auflösung der Ordnung durch den Tanz relativiert sich durch feste Rahmenbedingungen, in die der Tanz eingebunden ist; seine Auswirkungen sind letztlich kalkulierbar. Eine Auflösung vollzieht sich allerdings an der Tänzerin. Der Tanz ist stets ein nichtakrobatischer Tanz, ein Ausdruckstanz, scheinbar ohne kodifizierte Regeln der Bewegungsabläufe, ohne feste, vorgegebene Schrittfolgen, eingegeben vom Gefühl bzw. von der durch die höhere Macht repräsentierten ‘Natur’ der Tänzerin. Signalisiert wird eine Veräußerlichung von Gefühl, die auf die Person, die den Tanz vollführt, rückgebunden wird: im Tanz äußert sich, so die filmisch Setzung, das Innere; das eigentliche Wesen der Person tritt zutage. Die Performance gilt als notwendig authentisch, als unmittelbares Dokument und Zeugnis, insbesondere der moralischen Integrität. Aufgelöst erscheint also die Grenze von außen und innen, die Person der Tänzerin bietet sich ganz dar. Ein Verstellen im Tanz ist nicht möglich, so ist präsupponiert, Tanz ist Wahrheitsbeweis. 13 Hans Krah 254 Diese Zurschaustellung des Wesens bedeutet aber nicht gleichzeitig eine Zurschaustellung des Körpers. Dieser ist statt dessen immer verhüllt, mit Schleiern und fließenden Gewändern, so daß die Kontur der Tanzenden nicht genau wahrnehmbar ist. Zum einen indiziert dies den Scheinstatus, der diesem Tanz zukommt, da er die ‘tatsächlichen’ Umrisse der Wirklichkeit im wörtlichen Sinne verschleiert. Zum anderen impliziert diese Auflösung die Auflösung der Person, verhindert deren eindeutige Identifizierung, 14 und signalisiert mithin, daß eine Identität der Person gefährdet oder eine solche nicht gegeben ist. Zu sehen ist dies etwa indirekt und unterschwellig anhand Mata Haris (1931) und Lilys in Legend (Legende, GB 1985, Ridley Scott), explizit verdeutlicht wird dieses Konstrukt in Metropolis (D 1926, Fritz Lang), wenn die tanzende Maria nicht Maria, sondern deren Doppelgängerin, die Automate, ist, oder en détail in Salome’s Last Dance von Ken Russel (Salomes letzter Tanz, GB 1988), wenn Salome im Tanz kurzzeitig das Geschlecht zu wechseln scheint. Solche Spaltungen indizieren, daß das Wesen, das die Tänzerin offenbart, selbst als wesentlich undurchschaubar, als aus verschiedenen Anteilen zusammengesetzt gedacht wird. Dieser Tanz ist des weiteren mit Geschlechterrollen und dem Verhältnis der Geschlechter verbunden und demgemäß zentral mit Erotik und Sexualität. Dieser Tanz korreliert immer mit erotischer Attraktion und Attraktivität, ist äquivalentes Substitut für Sexualität und dementsprechend zu übersetzen: “Tanz für mich” ist die Aufforderung, sexuell verfügbar zu sein. Unterschwellig schwingt die Konnotation des Tanzes, Zeichen sexueller Verfügbarkeit zu sein, in allen Filmen mit. In der Salome aus den 50er Jahren artikuliert sich dies explizit, wenn als bewußte Regel der Welt gilt, daß, wer vor Herodes tanzt, damit zugleich auch die Einwilligung für den anschließenden Beischlaf gibt. In Verbindung zu sehen ist diese Dimension des Tanzes mit seiner Präsentation im Discours, also der Art und Weise, wie der Tanz durch kinematographische Mittel, durch Point of view, Montage, Kamerahandlung, vermittelt wird. Generell gilt, daß der Tanz im Überblick, von einer entfernten Kameraposition aus, gezeigt wird. Diese Tänze werden zumeist nicht und nicht zentral fragmentiert, d.h. nicht Detail- und Großaufnahmen einzelner (Körper-)Teile dominieren, sondern die Einstellungen der Tänzerin in der Totalen. Verbunden ist dies statt dessen damit, daß durch die Schnittechnik das männliche Begehren direkt in die Präsentation des Tanzes eingebunden wird. Die Einstellungen der Tanz- Tanz-Einstellungen 255 szenen sind prinzipiell alternierend mit Einstellungen der Blicke der zumeist männlichen Zuschauer des Tanzes montiert. Zu dem, was filmisch den Tanz konstituiert, zur Topologie des Tanzes, gehört also das diegetische Publikum dazu, gehört die Reaktion auf den Tanz: Dieser Tanz ist immer in Relation zu sehen, als Tanz und Beobachtung des Tanzes. Primär ist der Tanz dabei Objekt von männlicher Betrachtung - statt der anschließenden körperlichen Inbesitznahme nach dem Tanz, die in den Filmen nicht vollzogen wird, realisiert sich eine Inbesitznahme durch Blicke, die die sexuelle substituieren -, sekundär und potentiell auch von weiblicher Reaktion auf diese männliche Betrachtung. 15 Die Übersicht, die der filmische Point of view gewährleistet, distanziert den Filmrezipienten von dem Geschehen. Nicht er selbst ist Betrachter/ Voyeur des Tanzes, sondern maximal Voyeur der filmisch evozierten Topologie: Damit ist er in der Rolle des distanzierten und auf Distanz gehaltenen Beobachters, der in das Geschehen nicht unmittelbar involviert und den durch dieses Geschehen initiierten Gefährdungen nicht ausgesetzt ist. Das “Tanz für mich” ist stets ein ambivalenter Wunsch, da sich die Machtverhältnisse vertauschen und Abhängigkeiten oszillieren können. Der Beobachter wird vom Beobachteten abhängig - das Objekt entfaltet eine Eigendynamik, die es inhärent bereits immer besessen hat und die es nur zu katalysieren galt. Der Tanz wird so zur Chiffre der Bedrohung und Gefahr. Ist der Tanz einerseits Erlaubnis, Eingeständnis der sexuellen Verfügbarkeit, so macht er dadurch andererseits den Mann verwundbar. Denn dieses ‘Versprechen’ wird nie eingelöst, verbleibt auf dem Status des - freilich körperlichen - Zeichens. Nur als Tänzerin ist die Person Körper, als Frau entzieht sie sich, wie dies durch den Tanz selbst bereits symbolisiert ist, wenn sie in der Auflösung nicht greifbar, nicht faßbar ist. Die Frau als Tänzerin steht über dem Mann, wobei diese Hierarchisierung automatisch damit einhergeht, daß sich das scheinbar göttliche Wesen als dämonisches erweist. Dies zeigt sich gerade dann am deutlichsten, wenn die Frau durch den Tanz in Besitz des dem Mann gehörenden Schwertes gelangt, zu gelangen trachtet: In The Golden Blade (Das goldene Schwert, USA 1953, Nathan Juran) etwa dient der Tanz funktional nur dazu, dem Helden sein Wunderschwert, das “immun und unbesiegbar” macht, zu rauben. Diese ‘Verführungsleistung’ ist immer an eine Singularisierung gebunden. Im Kollektiv ist der Tanz nicht bedrohlich, dies ist er nur, wenn er in einer Tänzerin, in einem exzeptionellen Körper gebündelt ist. Der Tanz ist also auch insofern mehr als Tanz, als die Performance nicht ‘spurlos’ vorübergeht, sondern Auswirkungen in der dargestellten Welt zeigt: Der Kopf des Täufers auf einer silbernen Platte steht stellvertretend für das Ausgeliefertsein des Mannes an die Frau, die nun über diesen verfügen kann - was zumindest metaphorisch den Tod des Mannes impliziert. Innerdiegetisch ist denn der Tanz von der Norminstanz des Films immer negativ bewertet, wobei sich diese Bewertung narrativ im Gang der Handlung bestätigt, durch die Konsequenzen, die der Tanz hat. Die sexuell-private Ebene ist stets an eine gesellschaftlichpolitische Dimension gekoppelt. Der Tanz raubt den Verstand, setzt die Ratio außer Kraft und verursacht entweder Handlungen, bei denen der einzelne eine Verletzung der Werteordnung begeht oder durch die die männliche Solidargemeinschaft selbst in Gefahr gerät, auseinanderzubrechen. Unproduktive Konkurrenz entsteht, die sich destruktiv auszuwirken droht und letztlich als zivilisationsgefährdend gesetzt ist. In Mata Hari (1931) etwa ist der erste Fall vorgeführt, wenn die durch das Betrachten des Tanzes zu Verehrern gewordenen Männer zu Landesverrätern werden und die Wertehierarchie ‘Gott-Vaterland-Ehre’ dem Wert ‘Mata Hari’ untergeordnet wird, in Metropolis der zweite, wenn sich die Tanzzuschauer gegenseitig belauern und beeifern. Losgelassen sind die sieben Todsünden, wie dies in Parallelmontage symbolisiert wird. 16 In Excalibur (USA 1981, John Boorman) hat die Hans Krah 256 Aufforderung des Grafen von Cornwall an seine Frau Igraine, vor ihm und Uther Pendragon zu tanzen, konsequenterweise den Bruch des Friedens und den Raub von Igraine durch Uther zur Folge. Dem Tanz ist eine Ereignishaftigkeit inkorporiert, er ist immer Ereignis, ist immer Ordnungsverletzung, 17 stellt er doch ein Eindringen (der durch die Frau repräsentierten und an sie gebündelten Semantiken) in die öffentliche Sphäre, in die Sphäre der Politik und des Mannes dar. Tangiert werden grundlegende Grenzen, abgebildet wird mit dem Tanz eine Verletzung der grundlegenden Ordnung der dargestellten Welten; eine Ordnung, die der Normalität und (damit) der Realität entspricht. Der Tanz ist quasi realitätsinkompatibel - und einem phantastischen Ereignis angenähert. 18 Nicht zufällig dürfte der Fantasyfilm - neben Historien- und Abenteuerfilmen - das Trägergenre sein, in dem sich diese Konzeption des Tanzes in der Filmgeschichte bis in die jüngste Zeit rekurrent findet. 19 Der Tanz ist zwar zumeist (ein) Höhepunkt des Films, aber nie unmittelbar dessen Ende. Denn so wie die Performance der Reaktion des Zuschauers bedarf, bedarf der Film der Reaktion auf den Tanz. Zum einen der oben beschriebenen, worin sich die Warnung vor dieser Gefahr artikuliert, zum anderen werden diese Reaktionen regelmäßig mit Gegenreaktionen konfrontiert. Die ‘Gefahren’ sind letztlich zu bewältigen, der Tanz ist nie geeignet, wirklich die männliche Ordnung auf Dauer zu schädigen. Am Ende kommt es immer zur Überwindung des im Tanz enthaltenen Gefahrenpotentials und zur Restituierung der männlichen Ordnung - und damit zur Aufrechterhaltung der Zivilisation. Diese Zurücknahme der Bedrohung geht (selbstverständlich) zu Lasten der Tänzerin. Salome wird von Herodes getötet, 20 Mata Hari erschossen, der Automat Maria als Hexe verbrannt. Ein Überleben ist zumeist nur im Modell der Heimholung der ‘normalisierten’ Frau, die von ihren durch den Tanz symbolisierten abweichenden Anteilen gereinigt ist (exemplarisch in Legende), zu garantieren. Aber auch dieses Modell kann, wie Mata Hari zeigt, den sühnenden Tod erfordern. Darüber hinaus wird die Gefährdung ‘Tanz’ selbst im Modell des männlichen Kampfes, der männlichen Konkurrenz untereinander, inszeniert. In den wenigsten Fällen handelt es sich um ein autonomes weibliches Tanzen - das ursprüngliche Salome-Modell ist in diesem Punkt schnell verändert -; statt dessen findet der Tanz unter männlicher Anregung eines ‘Meisters’ statt, so etwa in Metropolis, Legend, Dr. Mabuse, der Spieler (D 1922, Fritz Lang), The Golden Voyage of Sindbad (Sindbads gefährliche Abenteuer, USA 1973, Gordon Hessler), Excalibur, The Golden Blade. Diese Tanzrhetorik ist kein besonders modernes Konzept, es ist aber ein sehr resistentes, immer wieder wiederholtes Modell. Wird sie in den frühen Filmen fokussiert inszeniert, über Protagonistinnen wie Salome oder Mata Hari, so verselbständigt sich diese Tanzrhetorik schnell als zur Verfügung stehender filmischer Kode, der als Bedeutungselement auch nichtnarrativ oder nur in Episode zur Verfügung steht und als Topos zitiert werden kann (so z.B. bereits in Dr. Mabuse). Der Tanz stellt damit kein ‘kontingentes’ Phänomen mehr dar, sondern ist filmisch kodifiziert. Er ist aufgeladen mit Bedeutung und weist eine implizite Referenz auf, die abrufbar und über kulturelles Wissen anwendbar ist, ohne daß dies filmisch expliziert werden müßte. Der Verweis reicht, um das konnotierte Bedeutungsspektrum zu etablieren; die Episode reicht, da sie mehr als Episode ist, zur Chiffre wird - “Tänzerinnen zu haben” wird Inventar, wird Attribut des ‘Bösen’ oder moralisch Verworfenen (etwa in Il figlio di Spartacus [Der Sohn des Spartakus, Italien 1962, Sergio Corbucci]), eine negative Bewertung indiziert es allemal, so ist in den Filmen als fester Topos inszeniert. Tanz-Einstellungen 257 Durch diese Vorgeformtheit wird gleichzeitig verhindert, daß sich andere Bedeutungen, andere, zusätzliche Kontexte an den Tanz anlagern könnten. Der Tanz ist nicht frei, sondern aufgrund seiner festumrissenen Semantik resistent davor, auch etwas anderes bedeuten, andere Botschaften transportieren und für andere Kontexte funktionalisiert werden zu können. 21 Damit korrespondiert, daß Filme, die dieses Tanzmodell enthalten, denn auch keine Tanzfilme im Genresinn sind. 3. Tanz-Film Mit Beginn des Tonfilms etabliert sich schnell ein neues filmisches Genre, das sich als Musik-, Tanz-, Revuefilm umschreiben läßt. Dies scheint evident, spielt doch die akustische Qualität in diesem Korpus eine zentrale Rolle, und scheint der Tanz gleichsam natürlich prädisponiert, die neue Technik zur Geltung zu bringen. Daß viele der ersten Tonfilme Revuefilme sind, läßt sich zudem aber auch hinsichtlich der Debatte um den Tonfilm sehen. Diesem wird ja vorgeworfen, nicht mehr Kunst zu sein. Insofern sich nun die Produktion auf Filme konzentriert, die selbst künstlerische Handlungen darstellen, ist ein Element gegeben, in der Argumentation zwischen den Fronten zu vermitteln und die angebliche Aufhebung der Kunst durch den Tonfilm zu substituieren. In der Terminologie von Lévi-Strauss haben diese Filme Trickster-Status, da sie in ihren Geschichten, etwa durch die Einbeziehung von Tanz, Realität nicht einfach abbilden, sondern eine solche vermittelt über Kunst darstellen. Sei der Tonfilm weniger künstlerisch in der filmischen Machart, so gleiche er dies durch die Präsentation von Kunst aus. An dieses Problemfeld schließt sich das folgende an. Der Film ist nicht einfach nur Vermittlungsinstanz, sondern eigenständiges Medium, und als dieses mußte sich der Film im Laufe der Filmgeschichte erst durchsetzen - und immer wieder im Vergleich mit anderen, alten und neuen, Medien seine sich selbst zugeschriebenen Qualitäten hervorheben, freilich als Selbstinszenierung. 22 Für das Verhältnis von Tanz und Film heißt dies konkret: Gerade der Tanzfilm zeigt, welche ‘Vorteile’ der Film gegenüber dem Tanz bietet, worin der Zusatznutzen der filmischen Präsentation von Tanz gegenüber dem eigentlichen Tanz liegt. In nicht wenigen der frühen Revuefilme ist gerade das Verhältnis von Theater und Film - Broadway und Hollywood - in der Diegese, also den dargestellten Geschichten explizit Thema, 23 und auch da, wo dies nicht der Fall ist, lassen sich implizit und unterschwellig prinzipielle Differenzierungen, die an das Medium gebunden sind, feststellen. Insofern der Tanz in eine Geschichte integriert ist, ja vielmehr der Tanz selbst als Geschichte inszeniert wird, erlaubt dies gegenüber dem Tanz als Kunstform eine Aufhebung des punktuellen zeitlichen Moments. Durch die Integration in eine Geschichte bildet der Tanz nicht nur den dramatischen Höhepunkt am Ende des Films, insofern spätestens dann der Tanz in der Bühnensituation als fertig choreographierter aufgeführt wird, bereits der Gesamtfilm entspricht dem Tanz. Die Show am Ende ist im Film in ihren pragmatischen Rahmen gestellt, d.h. die erzählte Geschichte ist regelmäßig die der Genese der Show, der Rahmenbedingungen der Produktion, die von Audition, Training, Vorbereitung etc., mit ihren Mühen, ihrer Arbeit, ihren Intrigen. Der syntagmatische Prozeß des eigentlich vor dem Tanz stattfindenden Geschehens, das in einer Tanzaufführung selbstverständlich ausgeblendet bleibt und notwendig ausgeblendet bleiben muß, verleibt sich dem Paradigma Film ein und wird im Paradigma Film medial aufgewertet: Das Syntagma Film, als zeitlich geordnetes Nacheinander im chronologischen Verlauf - und damit die im Film gezeigte Geschichte - wird sekundär, Hans Krah 258 zugunsten der im Film von Anfang an dargestellten Topik ‘Tanz’. Damit kann sowohl eine Narrativierung des Tanzes - und können die dadurch bedingten Vorteile - als auch die Irrelevanz einer solchen Narration als genuin filmische Leistung präsentiert werden: Gerade durch die Darstellung der Geschichte, der Genese des Tanzes, kann diese Geschichte in ihren eigentlichen, realen Folgen, Auswirkungen und Konsequenzen eliminiert werden. Sie ist im Film präsent und damit transzendiert, ist von ihrer eigentlichen Funktion der Selektion entbunden. Bereits die Proben sind so perfekt wie die spätere Show. Anhand von A Chorus Line (USA 1985, Richard Attenborough) läßt sich dies veranschaulichen: In der vorgeführten Handlung geht es um die Auswahl von Tänzern für eine Show. Der Plot läuft auf die Reduktion der Tänzer auf acht Verbleibende hinaus, die für die Show benötigt werden. Im Film sind nun aber zunächst alle vorhanden, die sich der Audition unterziehen, und damit sind diese Tänzer alle mehr oder weniger Stars, auch die, die im Laufe der Audition ausgeschieden werden - und denen somit kein beruflicher Erfolg auf der Showbühne beschieden ist. Das Ende des Films verdeutlicht diesen Horizont, indem es sich von seinen eigenen, diegetischen Vorgaben löst und den Film selbst - ohne Vermittlung - zur Bühne werden läßt. Die Show, um deren Realisierung es in der vorgeführten Geschichte geht, kann nicht mit der Show identisch sein, die am Ende des Films tatsächlich visuell vorgeführt wird. Auf der Bühne stehen nicht nur die acht Auserwählten, sondern auch alle anderen - selbst derjenige, der sich den Fuß verletzt hat und damit eigentlich, im Rahmen der Logik der vorgeführten Geschichte, nicht mehr als Tänzer zur Verfügung steht. Zudem werden die Tänzer nicht als ‘Chorus Line’ präsentiert, als Hintergrundstänzer, worum es eigentlich ging, sondern als den gesamten Bühnenraum und die gesamte Aufmerksamkeit der Zuschauer in Anspruch nehmend; kein Solotänzer ist vorhanden, alle sind gleichermaßen beteiligt. Diese Show hat sich von ihrer Geschichte emanzipiert, ist eine ganz andere als die angekündigte, und ist damit direkter Reflex auf den Film, das Medium Film. Einerseits kann eine Reduzierung vorgenommen werden, dramaturgisch wie ideologisch bedingt (wer ausscheidet, besitzt nicht die richtige Einstellung, vertritt nicht die vom Film propagierten Werte und Normen, so wäre zu belegen), gleichzeitig erweist sich diese Reduzierung aber als zumindest im Film nicht ‘real’ von Belang, ist auf den Bereich des ideologisch Wünschenswerten verlagert. 24 Damit kann das Medium beides zugleich, Attraktion und ideologische Regulation qua Narration, leisten. Im Medium Film sind Dreidimensionalität und Körperhaftigkeit generell reduziert auf den zweidimensionalen Raum des Filmbildes. Dies scheint zunächst ein Nachteil gegenüber dem Medium Tanz zu sein. Doch dieser Raum ist nur ein Teil dessen, was Raum im Film bedeutet. Neben dieser Dimension und aufbauend auf ihr konstituiert sich Film zweitens aus dem Architekturraum, demjenigen Anteil, der aus der Fläche den Eindruck von Dreidimensionalität entstehen läßt, und drittens aus dem filmischen Raum, der basierend auf den visualisierten Ausschnitten als virtueller Raum und Gesamtwelt im Kopf des Zuschauers entsteht. Damit ist im Film die Simulation von Körperlichkeit, von Körpern gegeben, die per se an den Rahmen dieser Simulation gebunden und damit in ihrer (bedrohlichen) Körperlichkeit begrenzt und gebändigt sind. Zudem besteht sowohl, indem die erste Komponente der Raumkonstituierung betont wird, die Möglichkeit der Funktionalisierung der Flächenhaftigkeit - als Ornament - als auch - trotz oder gerade wegen der Reduzierung und Begrenzung ‘echter’ Räume - die Möglichkeit der Raumerweiterung im filmischen Raum. Durch Montage, Kamerahandlung und Point of view läßt sich der Bühnenraum ‘öffnen’, lassen sich Wahrnehmungshorizonte und Blickperspektiven ausdehnen. Im Film ist somit die Auflösung der Grundbedingung und des Grundbezuges von Tanz möglich: des Raumes. Fragmentierung, also die Auswahl von Details und die Veränderung des Ausschnittes durch verschiede- Tanz-Einstellungen 259 ne Einstellungsgrößen, ermöglicht einerseits die Fokussierung von Details und in der gewählten Auswahl eine Betonung, Relevantsetzung und Bedeutungsaufladung des Gezeigten, die es sonst nicht gehabt hätte, und scheint dadurch den Raum zunächst zu begrenzen. Doch diese Auswahl bedeutet andererseits auch eine Autonomisierung des Gezeigten von dem eigentlich und ursprünglich zugehörigen Rahmen: Ein einzelnes Bein wird nicht mehr als Teil des Körpers gedacht, sondern als Bein - und kann als dieses metaphorisch/ zeichenhaft interpretiert werden, ermöglicht also einen erweiterten Symbolraum. Begrenzt wird zudem nicht der Raum, zumindest wird die Begrenzung nicht diesem angelastet, sondern der momentane Blick: Die Grenzen und Begrenzungen werden vom Raum auf die Wahrnehmungsebene verschoben. Dadurch erlaubt die Fragmentierung gleichzeitig eine Aufhebung von Begrenzung und Beengung an sich, d.h. der Architekturraum, die präsentierte Bühne, verschwindet aus der Wahrnehmung und dem Bewußtsein. Forciert wird die Konstruktion eines virtuellen Raumes, der dem realen übergeordnet und überlegen ist. Die Bühnengrenze ist als diese Bühnenbegrenzung nicht mehr sichtbar, und damit ist sie ihrer Funktion als Grenze enthoben. Durch Fragmentierung, variable Einstellungsgrößen und unterschiedliche Kameraperspektiven wie -standorten wird die Distanz zwischen Objekt und Subjekt aufgehoben, die Kamera - und mit ihr der Zuschauer - ist mitten im Raum; konstituiert wird über diese neuen Blickqualitäten ein neuer Raum, der sich nun nicht mehr auf die tatsächliche Topographie stützt, sich nicht darauf zu stützen braucht, sondern auf die Wahrnehmungsdimension. Was in der filmischen Konstruktion damit geleistet wird, ist das Verschwinden der Rampe, derjenigen Grenze, die im Theater einerseits Publikum und Bühnengeschehen trennt und andererseits gerade durch diese Trennung den Kunststatus dieses Geschehens konstituiert, indem sie feste Verhältnisse schafft. Drei graduell verschiedene Schritte lassen sich im Film bei der Präsentation solchen Geschehens festhalten: Bei den ersten beiden präsentieren die Filme regelmäßig Theaterbühnen in ihren filmischen Diegesen. Deren Präsentation kann dabei zum einen immer noch eine sein, bei der der Raum der Bühne, in ihren architektonischen Ausmaßen, diegetisch noch real möglich wäre, auch wenn genau diese Dimension nivelliert wird, da deren Konturierung als Ganzes dem Blick entschwunden ist - und damit eine Auflösung dieser Rahmenbedingung geschaffen wird. So kann dann in einem zweiten Schritt nahtlos, d.h. als gradueller Übergang, diese Präsentation in eine Konzeption übergehen, in der der präsentierte Bühnenraum per se nicht mehr real möglich ist und sich ein Bühnenraum, obwohl er im Film als solcher eingeführt wird, von seiner räumlichen Dimensionierung nicht mehr als architektonisch machbar erweist. Dies ist die häufigste Form der Präsentation in den Revuefilmen, und hier wird der Unterschied zur Rezeptionssituation im Theater am deutlichsten dokumentiert. Vorgeführt werden Raumerweiterungen und insbesondere Raumkonzeptionen, die ein diegetisches Publikum (also die Zuschauer, die im Film die Zuschauer der vorgeführten Show bilden) von der Betrachtung des Geschehens generell ausschließen oder es, rekonstruiert man die Raumverhältnisse, zumindest nicht Hans Krah 260 an der den Tanz bestimmenden Choreographie teilhaben lassen. Footlight Parade (Parade im Rampenlicht, USA 1933, Lloyd Bacon, Busby Berkeley) und hierin insbesondere Busby Berkeleys Inszenierung des Wasserballetts verdeutlicht dies aufs extremste. Hier ist das Wasserbecken von allen vier Seiten begrenzt, von allen vier Seiten springen die Schwimmerinnen ins Wasser - obwohl diese Darbietung explizit in einem Theater vor Publikum situiert gesetzt ist. Nur vom Blick von oben ist diese Gesamtkonzeption allerdings zu erkennen, nur von hier - und somit nur vom Filmrezipienten - ist die eigentliche Ordnung und Ästhetik, ist die ornamentale Bedeutung, die durch die proxemische Anordnung der Einzelkörper als Ganzes gebildet wird, zu sehen. Nicht aber von einem diegetischen Zuschauer der Revue, dem der hier geschaffene Kunstgenuß von seinem Blickfeld aus, seinem Sitz in den Zuschauerreihen, gänzlich versperrt ist oder dessen Perspektive zumindest nur eine eingeschränkte, die Bedeutung nicht voll erfassende chaotische Wahrnehmung zulassen würde. 25 Demgemäß ist er hier, im Unterschied zum oben Gesagten zur Tanzrhetorik, regelmäßig auch ausgeblendet, die Kamera konzentriert sich auf das Bühnengeschehen, ohne simultan Reaktionen darauf einzufangen und in parallelen Einstellungen dazu zu kontrastieren. Regelmäßig und generell zeichnet diese Inszenierungsstrategie die Präsentation der Tanzszenen im Revuefilm der 30er und 40er Jahre aus, tendenziell auf den Schlußhöhepunkt ausgerichtet. Das Geschehen wird zunächst immer auf einer Bühne situiert, um sich von diesem räumlichen Punkt aus von den Bedingungen zu emanzipieren, sich von den räumlichen Vorgaben zu entgrenzen und erst nach Beendigung der Aufführung wieder dahin zurückzukehren. 26 Während der Präsentation gibt es keine Schwenks auf das Publikum, keine Pausen; Bühnenbilder verändern sich quasi von selbst. Die Darstellung verabsolutiert sich, ist einer konkreten Aufführungssituation und deren pragmatischen Zwängen enthoben. Die Bühne wird damit nur mehr durch den Film konstruiert, der Film setzt sich selbst als Bühne. Der dritte Schritt, der hier noch zu vollziehen ist, ist der vollständige Verzicht auf die Darstellung einer diegetischen Bühne (und ein diegetisches Publikum), was dann den Übergang zum reinen Musical bedeutet. 27 Tanz (und Gesang) ist hier dann Ausdruck der momentanen Gefühlslage, nicht mehr diegetische Kunst, sondern Kommunikationsform. Dies geht mit einer vollständigen Auflösung diegetischer Grenzen (zwischen Tanz und Nicht-Tanz) einher, vor allem räumlicher, die auch mit der Auflösung anderer korrespondieren kann; so etwa Zeitauflösungen, d.h. auch Erinnerungen oder Erzählungen werden tanzend, im Tanz gezeigt, oder die Auflösung von Realität und Phantasie, wie dies wohl am schönsten der Tanz von Gene Kelly mit der Trickfilmmaus Jerry in Anchors Aweigh (Urlaub in Hollywood, USA 1944, George Sidney) zu dokumentieren vermag. 28 Was in der expliziten Inszenierung einer Bühnensituation zudem implizit gemacht wird, ist die Gegenüberstellung - und Unterscheidung - eines Theaterpublikums und eines Filmpublikums. Zumindest in der Frühphase der 30er und 40er Jahre ist hier ein Aspekt der Popularisierung zu greifen. Nicht allerdings eine, die der Verbreitung des Tanzes dient. So dient bereits die Multiplizierung von Tänzern auf der Filmbühne nicht nur dem Effekt der dramaturgischen Steigerung, in ihr zeigt sich auch eine kollektive, populäre Funktion - Filmstar kann jeder sein -, eine Positionierung, die dem elitären Tanz, der Tanzkunst vom Medium Film abgesprochen wird. Die Ausdifferenzierung des Publikums, das in der Revue, im Theater begrenzt ist, in der Diegese also den Eindruck des Mondänen, Elitären, Abweichenden erzeugt, so deutlich in Premiere (Österreich 1937, Geza von Bolvary) zu sehen, dient also auch dazu, den ‘Normalmenschen’, den der Filmzuschauer repräsentiert, an der ‘Kunst’ teilnehmen zu lassen. Film geriert sich also als ‘demokratisch’ und popularisierend vermittelnd. Tanz-Einstellungen 261 Die Choreographie ist bei den Revuefilmen dabei durchgängig von Virtuosität bestimmt. Wie gerade das Beispiel Steptanz zeigt, geht es um Akrobatik, technisches Können und Perfektion. Einerseits ist damit die Grundlage geschaffen für das narrativ-ideologische Schema der Konkurrenz, der/ die Beste zu sein, andererseits wird eine Exzeptionalität und Singularität des Tanzes durch diesen Rahmen auch relativiert. Tanzen ist kein Ereignis und keine Ausnahme mehr, sondern dergestalt kontextualisiert selbst Abbild gesellschaftlicher und marktwirtschaftlicher Paradigmen. Star zu werden innerhalb sozial gegebener Umstände und unter widrigen Bedingungen (die Wirtschaftskrise der 30er Jahre), aus der Reihe zu tanzen und dennoch als Star in der Ordnung der Welt eingebunden zu bleiben - in dieser rudimentären ideologischen Funktion des Aufsteigens, des Verbildlichens und Verkörperns des American dream ist der Tanz fruchtbar gemacht. Gefestigt wird damit zum einen das Sozialgefüge, zum anderen auch die Relevanz des Mediums. Ist man Star, dann steht man im Starsystem selbst medial zur Verfügung, ist für die anderen in dieser Rolle zu funktionalisieren. 29 Gerade die Relevanz der Selbstthematisierung des Mediums, und sei sie nur implizit, dürfte dafür verantwortlich sein, daß diese Filme eine gewisse Resistenz gegenüber ideologischer Funktionalisierung aufweisen, eine gewisse Offenheit hinsichtlich einer Vermittlung von Werten und Normen strukturell angelegt erscheint. Insofern das Medium, der mediale Aspekt bewußtgemacht wird, ist eine Simulation von Unmittelbarkeit, die insbesondere im NS-Film zur ästhetischen Strategie der Vermittlung ideologischer Positionen gehört, eher erschwert. Gerade im Bereich der Geschlechterrollen ist tendenziell eine weniger rigide Position zu konstatieren. So verläuft die Entwicklung des Tanzfilms denn auch zunächst relativ parallel, d.h., die oben skizzierten Konzeptionen liegen amerikanischen wie deutschen Produktionen gleichermaßen zugrunde. Der deutsche Revuefilm der 30er Jahre erscheint im Vergleich mit anderen Produktionen der Zeit tatsächlich weniger ideologisch infiltriert. 30 Daß dies aber nicht notwendig so sein muß und keine Eigenschaft des Tanzfilms genuin ist, läßt sich besonders deutlich am Beispiel Kora Terry (D 1940, Georg Jacoby) zeigen. In diesem Tanzfilm ist die vorgeführte Geschichte in einem dezidiert ideologischen Kontext situiert und funktional an ihn gekoppelt, ist allerdings in Abweichung zu den herkömmlichen Revuefilmen auch mit einem anderen Modell von Tanz kombiniert, insofern die eingangs skizzierte Tanzrhetorik bemüht wird; eine Engführung, die ansonsten nicht gegeben ist. Damit kann Attraktion vorgeführt und gleichzeitig kommentiert werden. Kora Terry, die ältere Schwester von Mara Terry und wie diese Tänzerin, verkörpert ein Frauenbild, das eine Kombination und Bündelung sämtlicher Negationen des Normkonformen und damit des propagierten (NS-)Wertsystems darstellt. Dies betrifft nicht nur die Ebene der Geschlechterrolle, Kora ist eine aktive, untreue, männerzerstörende Frau, die ihre (ledigen) Mutterpflichten vernachläßigt, dies betrifft auch das geforderte Verhalten gegenüber anderen, sie ist egoistisch, nur auf sich bezogen. Insbesondere ihr Verhalten gegenüber der Volksgemeinschaft an sich, sie wird zur Verräterin, stellt sie außerhalb des Akzeptablen und Tole- Hans Krah 262 rierbaren. Kora ist es nun, die in ihrer Show Tänze aufführt, die erotisch lasziv und eindeutig sexuell konnotiert sind, und dies ist im Film durchaus in ästhetisch schönen Bildern und technisch perfekt inszeniert und wird somit als diese Performance auch filmisch als visueller Genuß vermittelt. Diese scheinbare Ambivalenz ist allerdings nur unter bestimmten Rahmenbedingungen der Inszenierung ‘erlaubt’ - und damit in ihrem Status als tatsächliche Ambivalenz deutlich relativiert. So ist sie gebunden an die sowieso verwerfliche Frau, die diese Abweichung denn letal zu büßen hat (wenn die in ihrem Wesen normkonforme Mara nach dem Tod von Terry die Rolle ihrer Schwester übernimmt, tanzt sie nicht mehr diese Tänze), gebunden an den Aufführungsort im Ausland, in Afrika außerhalb des europäischen Abendlands, und gebunden an den Rahmen der Aufführung und die Aufführungssemantik der oben skizzierten Tanzrhetorik. 31 Dieser Tanz stellt nicht den Schlußhöhepunkt dar, sondern als Extrempunkt der Normabweichung einen Wendepunkt im Geschehen, der Anlaß der Katharsis ist und zum Ausgangspunkt der Wiederherstellung der Ordnung wird. Und vor allem gibt es in der Inszenierung dieses Tanzes keine mediale Entgrenzung und Raumauflösung, sondern er bleibt an die diegetische Bühne und damit an deren Grenzen gebunden. Die Distanz bleibt gewahrt. Die ideologisch-moralische Verkommenheit kann - schwelgerisch - dargestellt werden, da sie in die Narration eingebunden ist und gegen sich selbst verwendet wird. Der Film erfüllt sowohl das Bedürfnis nach Exotik und Erotik, bei gleichzeitiger massiver Sanktionierung und Funktionalisierung für das ideologisch Wünschenswerte. Daß der Tanz hier die zu transportierende Ideologie als ein Element unterstützt, die Ideologie also vorgelagert ist und der Tanz innerhalb dieses Rahmens argumentativ eingesetzt ist, ist eine ältere Konzeption, die mit dem Bild von Tanz korrespondiert, wie es in der Tanzrhetorik dargelegt wurde. Daneben entwickelt sich im Laufe der Filmgeschichte eine weitere Form, wie der Tanz ideologisch (im weiteren Sinne) funktionalisiert werden kann. 4. Tanz-Emphase Tanz ist ein vielfältiges Phänomen, das sowohl zwischen alltäglicher Unterhaltungskultur und akademischer Ausbildung als auch zwischen von allen praktizierter Tätigkeit (im Volkstanz) und bewundernd zu rezipierender Darbietung exzeptioneller anderer changiert. Professionalität und Perfektion auf der einen Seite stehen der jedem prinzipiell zugänglichen Bewegungsdisposition auf der anderen Seite gegenüber. Die Breite dieses Spektrums läßt den Tanz als Interaktionsform für jede Form kommunikativen Handelns repräsentativ werden. Die dem Tanz inhärenten Paradigmen, die Konstituenten, in deren Spannungsfeld er sich positioniert, können so im filmischen Tanz funktionalisiert werden: Der Aspekt der Technik, Präzision, Körperbeherrschung wird dann in Differenz zu Gefühl gesetzt, der der Ordnung zu individuellem Ausdruck, der der Kunst und des Artifiziellen zu dem der Natur. Damit wird der Tanz Tanz-Einstellungen 263 selbst Träger von Ideologie. 32 Diese Form des Tanzes im Film, die als das engere Genre Tanzfilm verstanden werden kann, ist eine jüngere Entwicklung des Umgangs mit Tanz im Film und konstituiert sich in den späten 40er Jahren. Verbunden ist dies erstens mit einer Autonomisierung von Tanz (im filmischen Kontext). In den Filmen hat sich der Tanz von seinen Mitkünsten emanzipiert, in die er gerade im Revuefilm (der 30er und 40er Jahre) als eine unter anderen integriert ist. Der Tanz ist nicht mehr nur ein Element in einer Reihe verschiedener Kunstformen, wie sie in einer Revue nummernmäßig nacheinander präsentiert werden, etwa Musik-, Gesangs-, Akrobatik-, Sketcheinlagen, 33 und er wird nicht mehr gleichzeitig von Gesang begleitet. Nun singt der Tänzer nicht mehr, sondern er tanzt ausschließlich. Der Tanz wird zum ein und alles. Zudem und damit verbunden erhält der Tanz zweitens einen anderen Status. Dadurch, daß er nun nicht mehr dem Paradigma Kunst untergeordnet ist, scheint er auch gleichzeitig dazu prädisponiert zu sein, Leben abzubilden, Leben an sich widerzuspiegeln. Tanz und Lebenswelt des Tänzers werden enggeführt, der Tanz wird als intrinsisches Merkmal an die Person - und Psyche - des Tänzers gebunden, seine Ausübung ist nicht mehr eine zu veräußerlichende Möglichkeit, sondern wird Conditio sine qua non. Damit ist der Tanz mehr als nur Tanz; er, der Umgang mit ihm und die mit ihm verhandelten Probleme und Lösungen repräsentieren das Weltmodell an sich, sind Projektionen, wie eine wünschenswerte Ordnung vorgestellt wird. Dies kann zum einen die Kultur an sich betreffen, das Verhältnis des einzelnen zur Gesamtheit regulierend. So werden mit dem Tanz nicht nur die oben aufgelisteten Kategorien relevant, sondern zudem an den Tanz spezifische Zusatzmerkmale gebündelt und Zuschreibungen geleistet, etwa die des Männlichen oder des Weiblichen, und damit ist der Tanzgeschichte eine generelle Werte- und Normendiskussion inkorporiert. Tanz wird zum Stellvertreterkampfplatz. Zum anderen wird die Person des Tänzers fokussiert. Der Tanz wird in eine Geschichte eingebaut, nun aber nicht mehr rekursiv in eine Geschichte eines/ des Tanzes, einer Tanzaufführung, sondern in eine Lebensgeschichte: eine Selbstfindungsgeschichte, eine Aufstiegsgeschichte, eine Adoleszenzgeschichte. Somit wird die Narration spezifisch relevant, da über sie die ideologische Funktionalisierung läuft und durch sie das Tanzgeschehen auf eine quasi transzendente, verallgemeinerbare Ebene verschoben wird. Daß diese Tendenz zur Mythisierung dominant ist und mittlerweile den kulturellen Konsens prägt, ist gerade dort zu erkennen, wo sie gebrochen wird, wo Filme Demythisierung betreiben und damit die ansonsten stillschweigende Akzeptanz dieses Topos der Tanz-Emphase thematisch werden lassen. Eingebürgerte Erwartungshaltungen werden denn insbesondere und generell in den Filmen der End-60er und 70er Jahre relativiert - und als ideologische Konstrukte entlarvt. 34 So etwa in Episode in Fame (Fame - Der Weg zum Ruhm, USA 1979, Alan Parker), wenn der Rausschmiß aus der Tanzklasse eben nicht die Konsequenz hat, sich vor die U-Bahn zu schmeißen, oder insgesamt in They Shoot Horses, Don’t They? (Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß, USA 1969, Sidney Pollack), wo sich der Mythos des Nicht-Aufgebens als ökonomisches Kalkül erweist und sich dadurch gerade eine tödliche Konsequenz ergibt. Faßbar wird diese Autonomisierung und Neufunktionalisierung des Tanzes paradigmatisch mit dem Film The Red Shoes (Die roten Schuhe, GB 1948, Emeric Pressburger), in dem diese Zeichenfunktion des Tanzes als über sich hinaus verweisend und einen spezifischen Bezug zum Leben der Tänzerin etablierend deutlich in Szene gesetzt ist. Hier ist der Tanz, insofern die individuelle Lebensgeschichte einer Tänzerin fokussiert ist, zunächst frei von den festen Kontexten, wie sie bisher dem Tanz zugeordnet waren, sei es der festen Semantik, sei es der Integration in Künste und den Gesamtrahmen ‘Tanz’ oder - als Musical Hans Krah 264 - dem Darstellungsmodus ‘Tanz’. Dieser scheinbare Eigenwert wird dann aber sekundär genutzt. Dies korreliert damit, daß ein Spannungsverhältnis zwischen Tanz und Leben konstruiert wird. Im Revuefilm korrespondierte die Ausübung des Tanzes harmonisch mit dem Leben. Das Am-besten-tanzen-Können impliziert, daß auch im privaten Bereich ein Happy-End, eine Ehe mit dem/ der Richtigen, zustande kommt. Wer hier tanzt, wird belohnt, tanzen heißt dezidiert nicht, auf privates Glück zu verzichten. Eine Entscheidung zwischen (beruflichem) Tanz und privatem (Beziehungs-)Glück ist nie wirklich erforderlich. Wo dies als Konflikt inszeniert ist, zeigt der Handlungsverlauf, daß es sich bei diesem Problem um ein Scheinproblem handelt (etwa in Dancing Lady [Ich tanze nur für dich, USA 1934, Robert Z. Leonard]). Der Tanz dient einer Bewußtwerdung und hilft der Partnerfindung. In The Red Shoes wird dieses Verhältnis nun zum zentralen Konflikt. Hier werden Tanz und Privatheit als Opposition inszeniert, als exklusive Bereiche: der eine schließt den anderen notwendig aus. Die beiden Bereiche sind zudem nicht gleichrangig. Der Tanz wird als Abweichung stilisiert. Funktionalisiert werden dabei Strategien beider anderer Tanzmodelle, wie sie bisher skizziert wurden. Aufgegriffen werden auf abstrakter Ebene Paradigmen der Tanzrhetorik. Vorgeführt wird zwar keine Verführung durch den Tanz, wohl aber eine Verführung zum Tanz, und d.h. zur Abkehr vom ‘normalen’ Leben. Und diese Abkehr ist für die Protagonistin Victoria Paige eben nicht lebbar. Im Unterschied zu den Revuefilmen geht der Tanz in diesem Konzept nun auch mit Tod und Tragik einher. Gemildert ist diese Tragik allerdings dadurch, daß dieser Tod unweigerlich ist, daß alles von vornherein auf den Tod ausgerichtet ist, wie die phantastische Dimension, konkretisiert im Bezug zu Andersens Märchen von den roten Schuhen, vorgibt. Der Tanz wird zur Parabel des Lebens und erhält eine allegorische Funktion; er bildet mise en abyme das Leben, den Zustand von Victoria Paige ab. Diese Vernetzung von Tanz und Leben wird insbesondere durch die Kombination von Elementen der Tanzrhetorik, die phantastische Dimension, und des Merkmals der Raumauflösung der Revuefilme installiert. Wie dort ist die diegetische Aufführung des titelgebenden Balletts ‘Die roten Schuhe’ der Konzeption des Verlassens der diegetischen Aufführungsbedingungen verpflichtet - und sie ist verdichtet und gesteigert. Kein Publikum ist zu sehen, keine Pausen, die Bühne verschwindet zugunsten eines imaginären Raumes, der in seiner Hermetik ein Eigenleben suggeriert. Gerade dadurch läßt sich dieser Tanz aber auch als losgelöst von seinem Realitätsstatus als öffentliche Aufführung interpretieren: Der Tanz transzendiert zum Innenraum, läßt sich als Traum, als Psychogramm der Tänzerin lesen. Was sie in ihrem Tanz schafft, ist ein Abbild ihres inneren Zustands. Die phantastische Dimension ist psychologisch deutbar, der Tanz führt ins Innere der Person, ist traumanalog. Dies wird forciert durch den Bezug zum Intertext ‘Die roten Schuhe’, eine Referenz, die zudem eine Zusatzdimension eröffnet, die über den engeren filmischen Kontext hinausgeht. 35 Zum einen wird damit eine quasi vorgegebene, auf die Welt Bezug nehmende Interpretationshilfe installiert, zum anderen die Unausweichlichkeit der vorgeführten Konfliktlösung als evident gesetzt und zum dritten, da es sich ja um einen phantastischen Kontext handelt, ein Signal gegeben, die Handlung uneigentlich zu lesen und als zeichenhafte Verhandlung zu deuten. Im Revuefilm, dies sei an dieser Stelle angemerkt, ist ein solches Ausgreifen auf zusätzliche, außertextuelle Verweisebenen eher nicht gegeben; dort dominiert eine Selbstbezüglichkeit, gerade auch in dem, was in den Shows diegetisch aufgeführt wird. Auf der diegetischen Bühne im Film ist rekursiv das zu sehen, was den Film über in der Diegese vorgeführt wurde, die Kunst entspringt dem Leben, oder anders ausgedrückt, Filmgeschichte und filmische Kunst werden aufeinander abgebildet: der Verlauf auf das momentane, punktuelle Ereignis. Tanz-Einstellungen 265 So etwa, wenn die Kulissen der Show in Born to Dance (Zum Tanzen geboren, USA 1936, Roy Del Ruth) ein Kriegsschiff darstellen, genau dieser Marinekontext aber den diegetischen Geschehenskontext außerhalb der Show bildet. Oder wenn in Hallo Janine! (D 1939, Carl Boese) die Geschichte genau dazu dient, am Ende den fehlenden Titel für die Show zu liefern, eben ‘Hallo Janine’. Nun, in The Red Shoes, fungiert die Kunst durch ihre Referenz als Leitlinie, dem Geschehen zusätzliche Bedeutung zuzusprechen, und dient dabei als Deutung, als Interpretationshilfe und damit als Interpretationslenkung. Es geht um Paradigmenvermittlung und ideologische Regulation. Ist es im Ballett als phantastisches Element ein Teufelspakt, der die Protagonistin durch den ‘Gewinn’ der roten Tanzschuhe von ihrem herkömmlichen Leben abzieht und tanzend zugrunde gehen läßt, so ist es in der erzählten Geschichte um die Tänzerin Victoria Paige ein Wertkonflikt, der sie am Ende in den Selbstmord treibt. Diese Parallelisierung dient ideologischen Zwecken. Denn sie kaschiert, daß dieser Wertkonflikt, der in der strikten und unhinterfragten Trennung zwischen beruflichem Tanzen einerseits und individueller Erfüllung und Ehe andererseits begründet ist, auf einer kulturellen Setzung beruht, die dieser rigiden Grenzziehung durch die Parallelisierung einer rationalen Diskussion enthebt. Gleichfalls determiniert sie den Gang der Handlung, sie blendet alternative Handlungs- und Problemlösungsvarianten aus. 36 Die Trennung der beiden Bereiche ‘künstlerische Entfaltung’ und ‘privates Glück’ gilt zudem nicht generell, sondern ist wesentlich an die Zusatzdifferenzierung männlich/ weiblich gebunden. Der Problemkomplex gilt nur für Frauen, nur hier bedarf es einer ideologischen Regulation. Denn eigentlich geht es in The Red Shoes um die Verhandlung von Geschlechterrollen, um eine Abweichung von einer spezifischen Frauenrolle, die narrative Sanktionierung dieser Nicht-Erfülllung und damit die Dokumentation von Werthierarchien und Normvorstellungen: konkret das Zurückstehen der Frau hinter die Belange des Mannes. Gekoppelt wird dies mit unterschiedlichen Medialitätskonzeptionen männlicher und weiblicher Kunst: Eine Körperbindung von Kunst wird an die Geschlechter verteilt. So kann der männliche Künstler als Komponist bei der Uraufführung seines Werkes körperlich absent sein, ohne auf die Aufführung seiner Kunst verzichten zu müssen, Victoria Paige als Tänzerin kann dies nicht. Das angebliche männliche Entgegenkommen, mit dem der Film auf der Oberfläche argumentiert, erweist sich als Teil der filmischen Strategie, eine Reintegration der Frau in ihre traditionelle Rolle nicht als männlichen Zwang erscheinen zu lassen, sondern als auf gemeinsamen Prämissen beruhend und natürlich notwendig, um das ‘Leben’ der Frau zu erhalten. Argumentationen, die in ihrer kulturellen Relevanz in die Nachkriegsgeschichte zu verorten und vor dem Hintergrund einer (patriarchalen) Rekonstituierung aufgebrochener Rollenmuster zu verstehen sind. Die Verknüpfung von Tanz und Leben, wie sie für The Red Shoes zu rekonstruieren ist, ist historisch wie an dieses spezifische Einzelbeispiel gebunden, sowohl was die Struktur, als Mise en abyme und Parabel, als auch was die Funktion betrifft. Eine Koppelung an sich, also die je individuell unterschiedlich gesetzte Verbindung von Tanz und Leben ist allerdings paradigmatisch und kulturell funktional. Das Genre Tanzfilm, der Tanz bzw. dessen Funktionalisierung wird Seismograph für die Kultur, Tanzfilme sind Dokumente ihrer Zeit, für Probleme und propagierte Lösungen. Einige Linien und zentrale Schnittpunkte dieses Diskurses seien abschließend skizziert. Ist in The Red Shoes der Tanz noch eingebunden in die professionelle und akademische Ebene des Ballettanzes, und damit in diesem Kunstrahmen dem ‘Normalmenschen’ entzogen, so emanzipiert er sich im Laufe der 50er Jahre hiervon. Etwa ab den späten 50er Jahren ist Hans Krah 266 der Tanz statt dessen an die Differenz der Generationen gebunden, ist mit emphatischer Jugend und Jugendbewegung korreliert und wird Ausdruck und Zeichen eines jugendlichen Aufbegehrens. Diese Grundkonstante des Tanzes, die sich in vielfältigen Ausprägungen konkretisiert und den Mythos ‘Tanz’ mit etabliert, gerät dann in den End-60ern selbst in den Blickpunkt und kulminiert zum Ort der Auseinandersetzung mit sozialen Zuständen und Mißständen. Wieder wird der Tanz zum Mise en abyme, nun aber nicht einer Individualpsyche oder des Traums vom Glück und des Moments eines sinnhaft zu deutenden Aufbegehrens, sondern in gegenteiliger Semantisierung als Symptom des gesellschaftlichen Status quo: In They Shoot Horses, Don’t They? indizieren die unmenschlichen Bedingungen des Dauertanzwettbewerbs auch das Fehlen jeglichen Freiraums im Leben an sich, der Film legt auf nüchterne und unsentimentale Weise nahe, daß die einzige und konsequente Lösung nur darin bestehen kann, sich gnadenhalber erschießen zu lassen. Die Situierung der Handlung in den 30er Jahren der wirtschaftlichen Depression erzeugt dabei einerseits Distanz, andererseits entlarvt sie die mediale Darstellung dieser Zeit - in den Revuefilmen - als realitätsfern und gerade den Tanz als Mittel der ideologischen Regulation und Projektion von Wünschen. In den 70er Jahren wird hieran angeknüpft, wenngleich die Radikalität zugunsten eines eher ‘dokumentarischen’ Blicks auf die gegebenen Verhältnisse, ohne dominante moralische Bewertung, zurückgenommen ist. So wird in den 70er Jahren nicht auf das tradierte Aufsteigermodell rekurriert. Der Tanz ist statt dessen Zeichen eines Lebensgefühls, einer Einstellung, und wird an Adoleszenz gebunden. Vorgeführt werden nicht Geschichten, die eine stringente Narration aufweisen, die auf ein vorgegebenes Ziel ausgerichtet sind, sondern Zustandsbeschreibungen eines Zeitgefühls - individuell wie kulturell. Der Tanz bildet dabei nicht Leben ab, sondern ist diesem, dem Alltagsleben, gegenübergestellt. Tanz und Tanzen werden zum heterotopen Freiraum, der neben dem Raum des Alltags existiert und in dem und durch den der Alltag temporär verlassen werden kann. Im Tanzen ‘erlaubt’ es die Bewegung, erstarrte Ordnungen symbolisch zu verlassen, ohne daß sich die beiden Räume in ihrer Semantik durch den je anderen beeinflussen würden; Saturday Night Fever (Nur Samstag Nacht, USA 1977, John Badham) gibt dieses Programm vor. 37 Der Tanz - wie der gesamte Film - bietet keine Problemlösung, sondern dient dem Aufzeigen problematischer Verhältnisse, insbesondere des gebrochenen Verhältnisses zu Tradition und Mythen. In den 80er Jahren ist weniger eine Fortsetzung und Weiterentwicklung als ein deutlicher Bruch mit den Positionen der 70er Jahre zu verzeichnen. Nun wird der Tanz in den Diskurs um Wert- und Normenorientierung eingebunden, als Helfer, Verunsicherungen zu beenden. Dies ist mit einer Zurücknahme an gesellschaftlicher Reflexion verbunden. An den bestehenden (sozialen) Verhältnissen wird nicht mehr gerührt, diese entziehen sich selbst einer indirekten und impliziten Verantwortung für die Lebensverhältnisse des einzelnen. Nun werden Tanz und Leben wieder enggeführt, nicht als ein Nebeneinander wie in den 70ern, sondern nun gilt es, durch den Tanz (und damit in alleiniger Verantwortung der Person) das Leben zu meistern. Der Tanz dient nun dazu, Selbstverwirklichung und Anpassung sich ‘harmonisch’ verbinden zu lassen und das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft und seine Rolle in ihr zu bestimmen und neu zu regeln. Gerade der Tanz ist als dieses Instrument der Einübung in neue Paradigmen und Werte geeignet, da er gleichzeitig Freiraum für den einzelnen konnotiert - als Ausdruck des Selbst fungiert - und diese Bedeutungskomponente als freiwillige und einsichtige Akzeptanz der Ordnung, nach einer oder über eine Phase der Rebellion, funktionalisiert werden kann. Eine gegenläufige Strategie, mit der in den Filmen Tanz-Einstellungen 267 der 80er Jahre die Einübung und Verinnerlichung von tradierten Normen praktiziert wird, ist, wie An Officer and a Gentleman (Ein Offizier und Gentleman, USA 1982, Taylor Hackford) vorgibt, die vorübergehende Reduktion eines/ jeden Freiraums in der militärischen Ausbildung. Beiden Strategien gemeinsam ist das zentrale Paradigma der Körperdisziplinierung. Über die propagierte Relevanz des (eigenen) Körpers und dessen Modellierung und Inszenierung - Arbeit am Körper - werden ideologische Positionen dem Individuum eingeschrieben. Diese Körperdisziplinierung und damit die Einübung in Werte und Normen, statt einer kritischen Reflexion, geht mit neuen Körperkonzepten einher, wie sie sich in der Dominanz von Training, Bodybuilding, Körperkult fassen lassen - etwas, was so im Film der 70er Jahre nicht zu verzeichnen ist. Die neue Zuweisung von Sinn und Ziel und die Integration des Individuums in die Gemeinschaft (als gesetzte und tradierte Wert- und Normenordnung) zeigen sich im Unterschied zu den Filmen der 70er Jahre insbesondere dort, wo Filme in Sequels wiederaufgegriffen werden und nun nicht dort weitererzählt wird, wo die ersten Filme enden, sondern neue Geschichten erzählt werden, bzw. die gleiche Geschichte in einem Akt der Überschreibung und Reinterpretation noch einmal erzählt wird, nun aber als stringente Aufstiegsgeschichte, wie etwa in Staying Alive (USA 1982, Sylvester Stallone) als Sequel von Saturday Night Fever. Flashdance (USA 1983, Adrian Lyne) zeigt dann diese neuen Paradigmen, denen der Tanz nun zugeordnet ist, anhand von Parallelgeschichten und inszeniert deutlich anhand der Protagonistin die neuen filmischen Strategien: Ideologisierung (insbesondere hinsichtlich einer neuen Festigung von Geschlechterrollen in traditioneller Weise und einer Anerkennung spezifischer Traditionen) geht mit einer Ästhetisierung der Bilder und einer Professionalisierung des Körpers durch Eintrainierung einher. Zwei zusätzliche Strategien der Problemlösungen sind Harmonisierung und Historisierung. Die Harmonisierung bedient sich der Operation der Entgrenzung und Raumauflösung. Diese findet sich nun allerdings nicht mehr auf der Ebene des Mediums, sondern wird von der Bildebene in die Geschichte verlagert. Die Grenze der Bühne wird nicht mehr durch filmische Inszenierungsmittel aufgelöst, sondern, diegetisch real, dadurch, daß sich Publikum und Akteure im Schlußhöhepunkt vermischen, wie dies etwa Dirty Dancing (USA 1987, Emile Ardolino) vorführt. Versinnbildlicht werden soll dadurch, daß Grenzen nicht mehr relevant sind, daß sich Ordnungen also überwinden lassen. Insofern dies allerdings nur punktuell und verlagert auf den Tanz, die Tanzperformance, gilt, stellen diese Grenzauflösungen immer nur symbolische Auflösungen dar, die Problemkonstellationen der dargestellten Welt nur überlagern. Sie vermitteln evident, daß Probleme gelöst werden, ohne daß wirklich Probleme gelöst werden, sich diese Auflösungen auf Ordnungsveränderungen auswirken würden: Selten wird eine tatsächliche Überwindung erstarrter Formen abgebildet. Zumeist, wie in Dirty Dancing, kaschiert diese Oberflächenebene nur, daß sich eigentlich nichts ändert, daß Ordnungen - hier die patriarchal dominierte - prinzipiell anerkannt werden und nur mit deren Einverständnis dann eine Pseudo-Auflösung als harmonische inszeniert werden kann. Diese Strategie verbindet sich mit einer Historisierung der vorgeführten Geschichten, die diese Operationalisierungen kaschiert und auffängt. Die zeitliche Situierung der dargestellten Geschichten ist relevant und bedeutsam, da dadurch mit kulturellem Wissen über den Tanz und den zeitgeschichtlichen Kontext argumentiert werden kann. Wenn etwa in Dirty Dancing die Geschichte (anstatt eine Gegenwartshandlung zu sein) in die 60er Jahre verlagert ist, dann werden die vorgeführten Probleme scheinbar in die Vergangenheit verlagert und als Probleme dieser Zeit ausgegeben, und dadurch wird durch kulturelles Wissen über die historische Hans Krah 268 Situation argumentative Evidenz erzeugt. Die vorgeführten Probleme der Generationen, von Vater und Tochter, und des Verhältnisses von Mann und Frau scheinen in der vorgeführten Konzeption und Relevanz als glaubhaft, als echte und ernste Problemkonstellationen, die es in den 60er Jahren eben gab. Die vorgeführten Lösungen erscheinen innerhalb dieses Paradigmas ebenfalls als die einzig möglichen und praktikablen. Die spezifische Individuation der Protagonistin vom Mauerblümchen zur scheinbar selbstbewußten Frau und ihr Versuch des Ausbruchs aus der bestehenden Ordnung kann als Selbstfindung ausgegeben werden, auch wenn diese einerseits eine nun freiwillige und einsichtige Unterordnung unter die bestehenden Verhältnisse bedeutet und insbesondere die väterliche Autorität unangetastet läßt und sie andererseits nur in der Übergabe der Frau vom Vater an den Partner besteht, der - als Tanzlehrer - die Frau - durch den Tanz - zur Frau erst formt. Insofern diese Konzeption in der Filmargumentation in den Rahmen einer natürlichen Ordnung gebettet wird, die historische Verlagerung also gerade nicht einer Relativierung von Werten und Normen dient, sondern deren universelle anthropologische Gültigkeit präsupponiert und postuliert, erhält sie gleichwohl als Modellvorstellung und Wünschenswertes Geltung auch für die Zeit der Textproduktion. Die vorgeführten Werte und Normen und die Problemlösungen bei Konflikten werden als unhinterfragbare Konstanten menschlichen Zusammenlebens gesetzt - und deren konservativ-restaurative Implikationen einer Diskussion enthoben. Wo eine solche Historisierung nicht gegeben ist, erweisen sich die Filme denn zumeist als weniger ideologisch ausgerichtet, wie das analog konstruierte Gegenbeispiel zu Dirty Dancing, Strictly Ballroom (Australien 1992, Baz Luhrmann), zeigt. Auch in diesem Film zentriert sich das Ordnungsmodell um gleiche Paradigmen, Mann/ Frau, Natur/ Kunst, Ordnung/ Aufbegehren, ohne allerdings die damit verbundenen Grenzziehungen, Hierarchisierungen und Merkmalsbündelungen zu übernehmen, sondern sie mit Hilfe der Auflösung der Achse fremd/ vertraut zumindest zu hinterfragen und sie so tatsächlich zu einem Instrument von Selbstfindung zu machen. Die analoge Auflösung von Zuschauern und Akteuren am Ende des Films kann hier dann tatsächlich für einen veränderten Zustand stehen, für die geglückte Überwindung eines in Ordnungsfetischismus überkommenen Systems; dies funktioniert allerdings auch nur, da dieses System selbst bereits als Abweichung markiert ist, als künstliches einem auf Natürlichkeit basierenden Prinzip weicht und Familie nicht zeichenhaft in die Vermittlung dieses ideologischen Programms eingebunden war, sondern dieser Ordnung gegenüberstand. Tanz als Ausbruch aus gegebenen Verhältnissen und unbegründeten Ordnungen und damit als Instrument der Selbstfindung, dies scheint in Überwindung der 80er Jahre wieder verstärkt das Modell zu sein, für das der Tanz funktionalisiert wird. Billy Elliott - I will dance (GB 2000, Stephen Daldry) mag hierfür stehen, ein Film, der zwar ebenfalls zunächst in der Vergangenheit situiert ist, Mitte der 80er Jahre beginnt, dessen Histoire aber bis zur Gegenwart reicht und damit nicht einer Historisierung, sondern filmstrategisch funktional der Abbildung eines individuellen Lebensverlaufs dient, der dann wieder sekundär repräsentativ ist: Veränderung ist möglich. Insofern er aber auf eine Ideologisierung verzichtet, verzichtet er als Tanzfilm auch auf die ästhetische Inszenierung von Tanzaufführungen, auf das sinnliche Erleben visueller Attraktion. Demgegenüber steht ein Film wie Moulin Rouge (Australien/ USA 2001, Baz Luhrmann), der diese Dimension dominieren läßt und dabei das Prinzip der Auflösung vom Raum auf die Zeit erweitert. Insofern die Entgrenzung hier auch auf die historische Verortung bezogen ist, wird dieser ihre ideologische Funktionalisierbarkeit von vornherein entzogen, zugleich springt die Auflösung auf das Modell von Tanz über: Mit Moulin Rouge bricht der Tanz im Tanz-Einstellungen 269 Film selbst aus den festen Vorstellungen - eines vorherrschenden Modells über Tanz - aus und eröffnet damit (wieder) die Möglichkeit des freien Umgangs im Film. Anmerkungen 1 Vgl. zum Musikfilm allgemein Klaus Kanzog, “Wir machen Musik, da geht euch der Hut hoch! ” Zur Definition, zum Spektrum und zur Geschichte des deutschen Musikfilms, in Michael Schaudig (Hg.), Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematograpie: Strukturen, Diskurse, Kontexte, München 1996, S. 197-240. 2 Siehe Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/ M. 1995, S. 442- 467. 3 Etwa Peter Greenaway und sein Projekt ‘Rosa’ (Belgien 1992, 15 min.). 4 Etwa Harald Kreutzberg in G.W. Pabsts Paracelsus (D, 1943). 5 Dies gilt im besonderen auch für Filme, die sich als Tanz-Biographien präsentieren. 6 Zur theoretischen Fundierung sei auf Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, und dens., Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films, Frankfurt/ M. 1977, verwiesen. 7 Etwa in Mata Hari (USA 1931, George Fitzmaurice). 8 Vgl. zum Salome-Stoff Matthäus 14, 3 -12; Markus 6, 17-23, beide ohne die Namensnennung Salome. Bei beiden ist es zudem Herodias, die ihrer Tochter eingibt, für den Tanz vor Herodes das Haupt des Täufers zu verlangen. Die Uminterpretation, daß Salome selbst für sich das Haupt will, geht wesentlich auf Wildes Adaption zurück. Siehe zum Salome-Komplex auch Brandstetter, S. 225 -245. 9 Salome (USA 1908, J. Stuart Blackton), Salome (USA 1918, J. Gordon Edwards), Salome (USA 1923, Malcolm Strauss), Salome (USA 1923, Charles Bryant, mit Natacha Rambova, Prod.: Alla Nazimova). 10 Gemeint sind die Ikonographien, wie sie sich in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende finden. 11 Zum Auftritt der historischen Mata Hari im Pariser Musée Guiment am 13. März 1905 siehe Brandstetter, S. 85 - 87. 12 Die Diegesis als Konstrukt der filmischen Beschreibung umfaßt die dargestellte fiktionale Welt in ihrer rekonstruierbaren Gesamtheit, d.h. ihre raumzeitliche Situierung, ihr Kausalsystem und die in ihr stattfindenden Geschehnisse. Zu ihr gehören also die Figuren und der von ihnen auditiv und visuell zugängliche und wahrnehmbare Raum. Die Bezeichnung “diegetisch” bezieht sich demgemäß als Standpunktangabe auf die Position und Wahrnehmungsperspektive des Dargestellten. 13 So etwa in Kora Terry (D 1940, Georg Jacoby), wenn die vermeintlich verruchte Schwester einen positiv konnotierten Tanz aufführt - und sich eben als die brave Schwester entpuppt. Explizit als Beweis für das Bestehen eines (erotischen) Normverstoßes dient der Tempeltanz in Das indische Grabmal (BRD/ Frankreich/ Italien 1958, Fritz Lang). 14 Diese Argumentation funktioniert vor der Folie des Denkens, daß die eindeutige und feste Personengrenze konstitutiver Bestandteil von “Person” ist. Diese Position dürfte zwar ein Relikt des 19. Jahrhunderts, dennoch aber im Allgemeinwissen verankert sein. 15 So etwa Herodias in Salome (1923, Bryant), oder Cara Carozza in Dr. Mabuse, der Spieler (D 1922, Fritz Lang, Teil 1: Der große Spieler - Ein Bild der Zeit). Deren Kommentar “Können tut sie gar nichts” ist von der Ebene der Virtuosität zu übersetzen als: ‘Sie ist keine Rivalin’. 16 In der literarischen Vorlage, dem Roman von Thea von Harbou von 1926, ist diese Ebene noch deutlicher beschrieben. 17 Begriffe und Konzepte aus Lotmans Grenzüberschreitungstheorie, vgl. einführend und zusammenfassend Hans Krah, Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen, in: Kodikas/ Code Ars Semeiotica 22, 1999, 1-2, S. 3 -12. 18 Siehe dazu Hans Krah und Marianne Wünsch, Phantastisch/ Phantastik, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, hg. von Karlheinz Barck u.a. Stuttgart, Weimar 2002, S. 798-814. 19 So in The Golden Voyage of Sindbad (Sindbads gefährliche Abenteuer, USA 1973, Gordon Hessler), wenn der Magier die Statue der Göttin Kali tanzen läßt, in Legend (Legende, GB 1985, Ridley Scott), Excalibur (USA 1981, John Boorman), Batman and Robin (Batman und Robin, USA 1997, Joel Schumacher) mit dem Auftritt von Poison Ivy. Hans Krah 270 20 Bereits Oscar Wildes Umdeutung korreliert damit, daß Herodes abschließend Salome tötet - diese Konstellation dürfte im 20. Jahrhundert mehr Reiz haben, als auf eine Einflußnahme von Herodias auf ihre Tochter (und damit auf eine starke Mutter) zu rekurrieren. 21 Im Tanz selbst können solche Klischees und Stereotype fruchtbar gemacht werden, im Film ist dies aufgrund der Medialität per se anders gelagert, wenngleich es selbstverständlich Ausnahmen gibt. So verwendet etwa Arnold Fancks Der heilige Berg (D, 1926) diese Semantik in seinem Plot. Hier wird der Versuch inszeniert, diese Semantik über eine esoterische Tanzvariante (Leni Riefenstahls), Sport und ‘erhabene’ Natur, zu entfunktionalisieren; die männliche Solidarität, die durch den Tanz verloren zu gehen scheint, bricht nicht - auch wenn es den beiden Männern das Leben kostet; die Tänzerin kann am Leben bleiben. 22 Siehe hierzu auch Ursula von Keitz, Der Blick ins Imaginäre. Über ‘Erzählen’ und ‘Sehen’ bei Murnau, in: Klaus Kreimeier (Hg.): Die Metaphysik des Dekors. Raum, Architektur und Licht im klassischen deutschen Stummfilm. Marburg 1994, S. 80 -99. 23 So etwa in Footlight Parade (Parade im Rampenlicht, USA 1933, Lloyd Bacon, Busby Berkeley), Hellzappopin (In der Hölle ist der Teufel los, USA 1941, H.C. Potter), The Ice-Follies 1939 (Tanz auf dem Eis, USA 1939, Reinhold Schünzel). Zum amerikanischen Revuefilm und Musical siehe einführend allgemein Jane Feuer, The Hollywood Musical, London 1982; Rick Altman, The American Film Musical, Bloomington 1987. 24 ‘Ideologie’ (und ‘ideologisch’) ist hier und im folgenden im Sinne einer Paradigmenvermittlung verstanden. Diese Verwendung deckt sich mit der “diskursive[n] Definition der Ideologie als Regulationsprozesse”, wie sie Stephen Lowry: Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilmen des Nationalsozialismus. Tübingen 1991, S. 49, bestimmt. Die ideologischen Diskursformationen “stellen Normen und Verhaltensregeln auf, bestimmen Werte, modellieren Gefühle und Affekte, definieren Sinn und schaffen Konsens. Genauso wichtig ist auch ihre negative Funktion: zu verhindern, daß potentiell kritische Bedeutungen entstehen und artikuliert werden” (Lowry, S. 46). Gegebenheiten werden als selbstverständlich wahrgenommen und nicht hinterfragt. Wertsysteme sind immer direkte Strategie einer Kultur, bestimmte Verhaltensweisen, Vorstellungen etc. als Werte zu setzen und über bestimmte Verfahren zu vermitteln. 25 Teilweise sind diese Inszenierungen sogar bühnentechnisch unmöglich und nur durch filmische Tricks zu realisieren, so etwa die Spiegelungen in Premiere, die nur durch die Technik des Splitscreen und somit nur filmisch existent sind. 26 Die Technik der Entgrenzung kann dann zusätzlich, wie in Premiere, zum Aufbau eines Starimages funktionalisiert sein; vgl. Jan-Oliver Decker, Die Leidenschaft, die Leiden schafft, oder wie inszeniert man eine Stimme? Anmerkungen zum Starimage von Zarah Leander, in: Hans Krah (Hg.), Geschichte(n). NS-Film - NS- Spuren heute, Kiel 1999, S. 97-122. 27 Zwischenformen und graduelle Abstufungen sind ohne weiteres möglich, etwa in Born to Dance oder Take me out to the Ball Game (Spiel zu dritt, USA 1949, Busby Berkeley), wo zwar bereits Musicaleinlagen vorhanden sind, gleichzeitig aber noch die Fiktion der Bühne, auf die der Film dann am Ende auch hinzielt. 28 Andererseits wird der Tanz damit auch gebunden und ist nicht mehr freies Zeichensystem, signalisiert er doch genau diesen Wechsel des Erzählmodus. 29 In den deutschen Filmen wird daneben häufig der bereits ‘fertige’ Star präsentiert, und nicht dessen Aufstieg, um ihn in dieser Rolle für die Volksgemeinschaft zu funktionalisieren. So etwa in Die Frau meiner Träume (D 1944, Georg Jacoby). 30 Vgl. etwa auch Klaus Kreimeier, Die UFA Story. Geschichte eines Filmkonzerns. München 1995, S. 282ff. Die Betonung liegt allerdings im ‘weniger’, gemeint ist also ein gradueller Unterschied, der sich zudem mit der Chronologie, frühere Filme, spätere Filme, verändern dürfte. Gemeint ist nicht die Behauptung einer generellen Absenz von Ideologie im sogenannten NS-Unterhaltungsfilm (siehe dazu Hans Krah und Marianne Wünsch, Der Film des Nationalsozialismus als Vorbehaltsfilm oder ‘Ufa-Klassiker’: vom Umgang mit der Vergangenheit. Eine Einführung, in: Hans Krah (Hg.), NS-Film - NS-Spuren heute. Kiel 1999, S. 9 -29). Allgemein zum deutschen Revuefilm siehe Wir tanzen um die Welt. Deutsche Revuefilme 1933 -1945. Zusammengestellt von Helga Belach, München 1979. 31 So etwa als Detail das Tanzattribut ‘Schlange’, das auf den Verführungskontext verweist. 32 Verstanden, wie in Anm. 24 erläutert. 33 Deutlich ist dieses Prinzip etwa in Ziegfelds Follies (Ziegfelds himmlische Träume, USA 1946, Lemuel Ayers, Roy del Ruth) zu sehen. 34 Vgl. dazu Hans Krah und Wolfgang Struck, Gebrochene Helden / gebrochene Traditionen / gebrochene Mythen: der Film der 70er Jahre, in: Hans Krah (Hg.), All-Gemeinwissen. Kulturelle Kommunikation in populären Medien, Kiel 2001, S. 117-137. Tanz-Einstellungen 271 35 Ebenso referiert das filminterne ‘Ballet Lermontov’ auf das Ballet Russe unter der Leitung von Sergei Diaghilev, der in der Figur des Boris Lermontov abgebildet ist. 36 Dies entspricht einer Mythisierung im Sinne Barthes’ (siehe Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/ M. 1988). 37 Siehe hierzu auch Krah/ Struck, S. 118ff. »der Strom von Bildern und Gedanken, der uns trägt« Castrum Peregrini Presse . Postbus 645 . nl-1000 ap Amsterdam mail@castrumperegrini.nl . www. castrumperegrini.nl Castrum Peregrini: Zeitschrift für Literatur, Kunst- und Geistesgeschichte Gegründet 1951 in Amsterdam, herausgegeben von einer internationalen Redaktion “Dichtung und ihre Übersetzung haben den zentralen Platz im ‘ Castrum’ behauptet, aber ihr historisches Feld hat sich erweitert und reicht von der Renaissance bis in die Gegenwart. Und nach wie vor spielt die bildende Kunst ihre Rolle in der Zeitschrift. Auch hier hebt der Ton, in dem von der Kunst die Rede ist, das ‘Castrum’ von vergleichbaren Kulturzeitschriften ab, von den akademischen Spielarten des kunsthistorischen Diskurses ganz zu schweigen. ” Frankfurter Allgemeine Zeitung “Von Moden und Zeitgeist unberührt, gewinnt Castrum Peregrini seine Anhängerschaft durch ihre Welt-OÆenheit für eine literarische und künstlerische ‘Humanitas’. Sie ist der persischen Mystik ebenso aufgeschlossen wie den Sonetten Michelangelos, sie beleuchtet die Dichtung und Wirkung Georges und gibt zugleich neuem lyrischen SchaÆen ein Podium. ” Mitteldeutsche Zeitung “Jedwedem Zeitgeist abhold und von erfrischender Resistenz gegenüber aktuellen Festlichkeiten. ” Sächsische Zeitung “Castrum Peregrini ist ein Leckerbissen für seine Leser, denen zugemutet wird, sich mit Übersetzungen persischer SuØ-Literatur ebenso auseinanderzusetzen wie mit Beiträgen zur Archäologie und Kunstgeschichte. ” Deutschlandfunk “Ein absoluter Solitär in der medialen Landschaft. ” Die Welt Jahresabonnement, ca. 400 Seiten mit Abbildungen, Euro 49,- (Studenten/ einjähriger Einführungspreis Euro 30,-). IS SN 0008-7556 Lauter schlechte Kopien … Formen und Funktionen des Tanzes in den Filmen Federico Fellinis Kay Kirchmann “What is your opinion of our great Federico Fellini? ” “He dances! ” Dialogpassage aus Pier Paolo Pasolinis La ricotta / Der Weichkäse Selbst guten Kennern des italienischen Regisseurs Federico Fellini (1920-1993) wird Tanz nicht an vorderster Stelle in den Sinn kommen, wenn es um die rekurrierenden Motive und Topoi seiner insgesamt 21 Spielfilme (hinzu kommen seine drei Beiträge zu verschiedenen Episodenfilmen) geht, die er zwischen 1950 und 1990 drehte. Und doch findet sich in einem jüngst erschienen “Fellini Lexicon” ein gleich mehrseitiges Lemna “Dance” (Rohdie 2002, S. 40-45), das einleitend lakonisch attestiert: “Most Fellini films have dance sequences. Usually there are several in in a single film. In La dolce vita, there are ten dance numbers. In Otto e mezzo, there are nine. In La città della donne, seven. In La voce della luna, five” (ebd., S. 40). Einmal entsprechend sensibilisiert, fällt einem dann tatsächlich auf, wie sehr im eigenen (und mutmaßlich auch im kollektiven) Bildgedächtnis prominente Filmszenen Fellinis gespeichert sind, in denen Tanz eine zentrale Rolle einnimmt: der Auftritt im TV- Studio aus Ginger e Fred/ Ginger und Fred (1985), Anita Ekbergs ekstatischer Tanz in den Caracalla-Thermen aus La dolce vita/ Das süße Leben (1960), der Tanz mit der mechanischen Puppe aus Casanova/ Fellinis Casanova (1976), der abschließende zirzensische Reigen aus Otto e mezzo/ Achteinhalb (1963) … Zu diesen hochgradig memorierungsfähigen Szenen gehört sicherlich auch die folgende Sequenz, die in ihrer Struktur bereits erste Hinweise auf die Funktion derartiger Tänze in und für Fellinis Gesamtwerk gibt. Im Juli 1914 begibt sich eine illustre Gesellschaft an Bord des Ozeandampfers ‘Gloria N.’, um die Asche einer berühmten Opernsängerin auf dem Weg zur Seebestattung zu begleiten: Operndiven beiderlei Geschlechts, Dirigenten, Künstler, Impressarios, Adlige, begüterte Nichtsnutze … Während diese Vertreter eines großbürgerlichen Kulturbetriebs die mehrtägige Schiffsreise zur permanenten narzisstischen Selbstbespiegelung, zu Rankünen und Kabalen nutzen, bricht die sorgfältig ausgeblendete soziale und politische Realität eines Tages in Gestalt serbischer Flüchtlinge, die vom Kapitän auf See aufgelesen und auf dem obligaten Achterdeck einquartiert wurden, in die elitäre Hermetik ein. Von den Protagonisten des Oberdecks halb fasziniert, halb misstrauisch beäugt, beginnen die Serben eines nachts die Lieder ihrer verlorenen Heimat zu intonieren und einen ihren Volkstänze zu zelebrieren. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Kay Kirchmann 274 Sofort begeben sich zwei ältere Tanzforscher hinunter zum ‘bunten Völkchen’, um zu erklären, dass die Serben hier in unzulässiger Weise Fruchtbarkeitstänze mit Folklore vermischen und um den Tänzern nunmehr die ‘richtigen’ Posen beizubringen: Die Moderne durchbricht in Gestalt ihrer wissenschaftlichen Zweckrationalität die magische Selbstvergessenheit der Tanzenden und versucht, das Archaisch-Vitale einer Volkskultur zu domestizieren. Mehr und mehr Angehörige der großbürgerlichen Kultur defilieren schließlich hinunter auf das Achterdeck, mischen sich unter die Tanzenden - jedoch mit eindeutig erotisch geprägten Ambitionen: Unfähig, die kulturelle Alterität dieser Tanztradition auch nur wahrzunehmen, projizieren sie die affektmodulierenden Funktionen der bürgerlichen Tanzpraxis in diese Situation hinein, missverstehen die pagane Tradition als Medium einer sublimierten erotischen Begegnung. Schließlich verfallen auch die auf dem Oberdeck Verbliebenen dem Reiz des Tanzes, lassen sich nun ihrerseits zu grotesk anmutenden Hüpf- und Kreisbewegungen animieren, die bei ihnen aber ohnehin wiederum nur als Vehikel zur Erlangung sozialer Gratifikation fungieren … Wie und in welcher Form auch immer sich die Protagonisten (groß-)bürgerlicher Modernität bemühen, am Vitalismus des Volkstanzes zu partizipieren - sie bleiben dabei auf den Status einer schlechten Kopie reduziert, ohne Kenntnis des subtilen Regelwerks, ohne Verständnis für eine kulturelle Dynamik, die sich jenseits bürgerlicher Normen und Verkehrsformen situiert, ohne jede Grazie und ohne wirkliche Lust an der Bewegung um ihrer selbst willen. Der Topos einer Begegnung zwischen den Kulturen und Klassen im Tanz bleibt eine leere Phrase, statt dessen ist hier nur ein fundamentales Missverstehen und Sich-verfehlen am Werke, liegt eine unüberschreitbare Inkongruenz von modernen und vormodernen Gesellschaftsformationen vor. Die Kritik am Projekt der Moderne, das in Italien bekanntlich erst verspätet einsetzte (vgl. Hausmann 1994) und das die extrem heterogenen kulturellen, ökonomischen und sozialen Strukturen der jungen Nation vor nachhaltige, bis heute nicht rundum bewältigte Probleme stellte, zieht sich wie ein roter Faden durch den italienischen Film nach der Blütephase des Neorealismus 1945-1954 (vgl. Schlappner 1958). Die Skepsis gegenüber einer primär als bürgerlich identifizierten Modernisierung verbindet - ungeachtet aller stilistischen, ideologischen und intellektuellen Differenzen - denn auch die wichtigsten Regisseure des italienischen Kinos der späten fünfziger, sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts: Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini und eben Federico Fellini (vgl. Buache 1969). Mit Antonioni teilt Fellini den klinischen Blick auf die Defizite der neuen urbanen Mittelstandsschichten (vgl. Fellini 1995, S. 80), wie er selbst ihn etwa in La dolce vita vorführte, mit Pasolini die geheime Sympathie für die durch die moderne Homogenisierung bedrohte Volkskultur - nur, dass anders als bei Pasolini (vgl. Klimke 1988) Fellinis Zeichnung dieses ‘Volkes’ frei von agitatorischen und sozialutopistischen Untertönen, statt dessen immer mit einer gewissen Ironie versehen ist. Mit großer und notorischer Skepsis gegenüber den Postulaten des ‘politischen’ Films ausgestattet (vgl. Burke 1996, S. 312ff. sowie Fellini 1989, passim), artikuliert sich Fellinis Trauerarbeit am Untergang einer ehedem lebendigen Volkskultur eher in einer Tonlage, die zwischen mildem Sarkasmus und Melancholie angesiedelt ist. Die oben beschriebene Szene aus Fellinis E la nave va/ Fellinis Schiff der Träume (1983) kann insofern als paradigmatisch für seine Inszenierung von sozialen Deformationen in (und bedingt durch den Siegeszug) einer kapitalistisch-bürgerlich geprägten Moderne angesehen werden. Diesem Blick auf kulturelle Schismen und Konfliktlagen, wie sie sich in dieser konfrontativen Wucht wahrscheinlich nur in Gesellschaften beobachten lassen, die von der Modernisierung binnen kürzester Zeit gleichsam ‘überrollt’ worden sind, verdankt sich wohl Lauter schlechte Kopien … 275 auch Fellinis bestenfalls ambivalente Haltung zur sogenannten Hochkultur überhaupt. Biographisch vom Comic und der Karikatur herkommend, sind Fellinis Affektionen für den Zirkus, das Vaudeville, aber auch den populären amerikanischen Film (vgl. Fellini 1995, S. 86f.) so legendär wie in zahllosen Selbstzeugnissen unmissverständlich artikuliert. Zu den vielen Dingen, die er nicht mag, zählte er selbst “Theatralik, Brecht, Pirandello, Dario Fo, Magritte und Ballett”, während er zu seinen Favoriten u.a. “James Bond, die Marx Brothers, Matisse, Piero della Francesca, Chandler, Simenon, Dickens, Kafka, Totò und den Onestep” (Fellini 1989, S.110f.) rechnete. Ballett, nein - Onestep, ja; in dieser simplen, aber signifikanten Dichotomie konturiert sich denn auch schon programmatisch jenes Spektrum an Tanzformen, das überhaupt nur Eingang in Fellinis kinematografischen Kosmos finden kann und wird: Populäre Tänze, Gesellschaftstänze, Volkstänze, kurzum - alles, was vom Odium des bürgerlichen Kunstbegriffs und seinen Performativitätspraxen frei ist. Entsprechend fällt denn auch die kaleidoskopartige Auflistung einschlägiger Sequenzen in dem eingangs erwähnten Lexikoneintrag aus: The dance numbers are various: There are chorus lines, New Year’s Eve balls, striptease, rock and roll, belly dancing, the Charleston, the waltz, the mambo, cha-cha-cha, jive, tap dancing, Flamenco, a clicking of heels. There is dancing at weddings, parties, celebrations, discothèques, night clubs, on stage, at rehearsals, in public toilets. There are dancing dwarfs, Serbs, clowns, peasants, whores, transvestites, orientals and gays. Children are danced with, and dolls. There is a bullfight dance. There is piggy-back dancing. (Rohdie 2002, S. 40) Die reine Quantität derartiger Szenen sollte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass Tanz dennoch nicht das Zentrum von Fellinis Filmen ausmacht, sondern nur einen unter vielen Inszenierungsparametern darstellt. Und dennoch verschaffen einem diese vielen, wenn auch oft nur recht kurzen Tanzsequenzen durchaus interessante Einsichten in Fellinis Themen, seine ästhetischen Grundüberzeugungen und seine individuelle Symbolproduktion. Denn auch wenn man angesichts der aufgeführten stupenden Vielzahl an Stilen, Lokalitäten und Konstellationen keine eindimensionale Inszenierung des Tanzes bei Fellini wird erwarten dürfen, so lassen sich hierin aber sehr wohl wiederkehrende dramaturgische patterns und Funktionskontexte beobachten, welche die Semantik dieser Tanzinszenierungen unmittelbar an Fellinis Leitmotive, wie z.B. die oben angesprochene Modernitäts-Kritik, anschließbar macht. In einem ersten Klassifikationsversuch lassen sich dabei vier basale Formen und Gattungen des Tanze(n)s ausdifferenzieren: da sind zunächst die - jedoch vergleichsweise raren - Volkstänze, unter denen das eingangs analysierte Beispiel wohl das prägnanteste darstellt; da ist ferner der klassische Gesellschaftstanz (Walzer, Foxtrott, Cha Cha Cha etc.), wie er v.a. im Kontext der vielen, meist ‘verunglückten’ Feste, Feiern und Partys auftaucht, wie sie Fellini immer wieder mit beißendem Spott inszeniert; außerdem die solistischen Tänze, die oft vor einer Gruppe anderer Menschen spontan und regelfrei zelebriert werden; und schließlich und endlich die Bühnentänze vor einem zahlenden Publikum. Wie sich zeigen wird, bleibt dieses Spektrum verschiedener Tanzgattungen dabei im wesentlichen durch zwei übergreifende Phänomene ver- und zusammengebunden, die insofern zugleich als ein wiederkehrendes Inszenierungsmuster ersichtlich werden: 1. Die Tanzenden sind in aller Regel völlig unbegabt, versuchen sich bestenfalls als schlechte Kopien einschlägiger Vorbilder aus anderen Medien; 2. Diese Tänze werden so gut wie nie vollendet, sondern abge-, wenigstens aber unterbrochen. Kay Kirchmann 276 Abb. 1 (aus La dolce Vita) Genau hierin manifestiert sich denn auch die tiefere Semantik von Fellinis Tanzszenen, die es im folgenden darzulegen gilt. Beginnen wir mit dem Typus Gesellschaftstanz: Wie schon erwähnt, gibt es in Fellinis Filmen eine Vielzahl an Feiern, die vom Familienfest bis hin zu orgienähnlichen Partys reichen. Gegen das Klischee von der sinnenfrohen italienischen Konzelebration derartiger Anlässe inszeniert Fellini diese Feiern durchgehend als Fiasko, als Ort und Medium zwischenmenschlicher Konflikte, existentieller Einsamkeit und letztlich kläglich scheiternder Kommunikations- und Interaktionsversuche. Gesellschaftliches Leben verkommt hierin zum negativen Spektakel, zum Vehikel permanenter Selbstinszenierung geltungssüchtiger Individuen, zur Bühne der Eitelkeiten und planen Begierden. Das Fest fügt sich somit nahtlos ein in jene falsche “theatricalisation of the world [wherein] the most ordinary and banal activities can become theatre” (ebd., S. 127). Entsprechend degeneriert denn auch der Tanz auf solchen Feiern zur theatralischen Inszenierung des Geschlechtlichen, wird die Begegnung zwischen Mann und Frau im und beim Tanz lediglich genutzt, vordergründige Komplimente zu lancieren (z.B. beim Tanz zwischen Marcello und Silvia in La dolce vita) und die meist fremde Frau zum Beischlaf zu überreden (z.B. auf dem Fest in Amarcord 1973). Während des Tanzens wird also - in aller Regel von den Männern - signifikant viel geredet, geschmeichelt, verbale Selbstdarstellung betrieben und entsprechend uninspiriert und unrhythmisch getanzt. Der Gesellschaftstanz fungiert und funktioniert bei Fellini weder als Instrument der Triebsublimation noch als subtile Form der erotischen Inauguration - er wird vielmehr dezidiert bar jedes erotischen Untertons inszeniert, praktiziert von untalentierten und unsinnlich agierenden Paaren ohne jede Grazie und Begeisterung für die Sache selbst. Der Tanz ist und bleibt ein leidlich erfolgreich genutztes Mittel zum Zweck, bietet allenfalls billige Gelegenheit zur primär verbal vollzogenen Werbung, und er kann entsprechend vorzeitig abgebrochen werden, wenn die platte ‘Anmache’ endgültig gescheitert ist oder zum gewünschten Erfolg geführt hat. Auffallend ist dabei, dass selbst dann und dort, wo das Werben scheinbar erfolgreich war, keine wirkliche Kommunikation zwischen Mann und Frau stattfindet [Abb. 1]: In aller Regel lassen die Frauen das Procedere stillschweigend über sich ergehen, wenden sich schließlich entweder abrupt ab oder willigen merkwürdig uninspiriert ein, gemeinsam die Tanzfläche zu verlassen. Nichtigkeit und Austauschbarkeit derart entsinnlichter und sinnentleerter Pseudo-Kommunikation, die für Fellini Ausdruck und Resultat einer modernen “Entmystifizierung der Rituale und der Abwertung des Zeremoniells” (Fellini 1989, S. 128) sind, finden in dem schon angesprochenen Tanz Casanovas mit der mechanischen Puppe ihren schlechthin sinnfälligen Ausdruck: So mechanisch wie hier erscheint der Vollzug des Paartanzes in allen Fellini-Filmen, so mechanisch wie die Puppe selbst und der ihr spiegelbildlich zugeordnete “mechanische Eros [d]er menschlichen Kolbenmaschine” (Fellini 1989, S. 20) namens Casanova, so mechanisch Lauter schlechte Kopien … 277 spult sich das ganze (beschränkte) erotische Kommunikations- und Interaktionsrepertoire der Protagonisten aller Fellini-Filme ab. Die existentielle Kommunikationslosigkeit zwischen den Geschlechtern gipfelt schließlich in jenen verzweifelt-exaltierten Solotänzen, mittels derer z.B. auf den Orgien in La dolce vita (vergeblich) versucht wird, endlich Aufmerksamkeit und Affekte auf sich zu lenken. Soweit ich sehe, gibt es bei Fellini nur eine einzige gegenläufige Inszenierung des Paartanzes, die zugleich unmissverständlich als (wenngleich historisch überholtes) Gegenprogramm fungiert: den Walzer-Tanz von Marcellos knapp sechzigjährigem Vater mit dem Animiermädchen Fanny in der Bar “Cha Cha” aus La Dolce Vita. Im Drehbuch ausdrücklich als “wirklich guter Tänzer” (Fellini/ Lo Duca 1961, S. 88) herausgestellt, zelebriert Signore Rubini sr. den Walzer mit dem ganzen Charme, der ganzen Würde und der ganzen Lebenslust des Grandsigneurs, ohne ernsthafte erotische Ambition und gerade deshalb mit beträchtlicher Wirkung auf seine junge Tanzpartnerin, die ihn zurecht als fleischgewordenes Gegenstück zu seinem Sohn und dessen bohémehaften Freunden versteht. Signore Rubini sieht die ganze Szenerie des Nachtlokals und der Tanzens eben “mit den Augen einer vergangenen Epoche” (ebd., S. 82), und gerade dies versetzt ihn in die Lage, den Tanz zum Medium wahrhafter sozialer Kommunikation zu machen. Doch gerade die eineindeutige Markierung des Vaters als liebenswerter, aber nicht mehr zeitgemäßer Figur verdeutlicht ein weiteres Mal Fellinis mitleidlosen Blick auf die Verlustgrößen, die mit der Etablierung einer modernen Großstadtkultur unwiderruflich einhergehen. Signore Rubinis Walzer bleibt ein seltenes Moment der Utopie in Fellinis filmischen Tanzinszenierungen, ist darin zugleich aber nur ein fernes Echo einer längst untergegangenen Tanz-, Lebens- und Liebeskultur. Neben das angeführte Moment des solipsistisch-narzisstischen Solotanzes treten andere Figurationen des solistischen Tanzens mit deutlich anderer Semantisierung. Es handelt sich hierbei um kurze, durchweg sehr schnell wieder abge- oder unterbrochene Bewegungsfragmente, Manifestationen temporärer Selbstvergessenheit in einer jedes Regelwerk und jede Choreographie sprengenden tänzerischen Lust an der Bewegung. Es sind zudem ephemere Glücksmomente, in denen das tanzende Subjekt vorübergehend in der Lage ist, seine es beobachtende Umwelt mit ihrem Erwartungsdruck auszublenden - und wahrscheinlich gerade deshalb von dieser Umwelt über kurz oder lang wieder in das Geflecht sozialer Zwänge rückgebunden wird. Signifikant in diesem Zusammenhang ist fraglos, dass derartige Tanzfragmente sich häufig an dafür nicht vorgesehenen Lokalitäten zutragen, den gesellschaftlich legitimierten räumlichen und institutionellen Kontext des Tanzens kurzfristig aussetzen und überschreiten. Zu dieser Figuration des Tanzes zählen u.a. die von ‘Ginger’/ Amalia beobachteten Tanzeinlagen der jungen Frau auf dem Parkplatz vor (! ) der Diskothek sowie des dunkelhäutigen Autogrammjägers im Bahnhof von Rom (Ginger e Fred), Cabirias ausgelassener Tanz auf dem Kontakthof (La notte di Cabiria/ Die Nächte der Cabiria 1957) und im Nachtclub [Abb. 2], Silvias kurzfristige Ekstase beim Flamenco (La dolce vita) oder das glückselige Hüpfen des jungen Internatsschülers Guido am Strand (Otto e mezzo). In solchen Szenen artikuliert sich Fellinis ästhetische Utopie einer konstruktiven Regression in einen prä-sozialisierten, prä-rationalisierten Zustand, der seine Protagonisten vorübergehend in die Lage versetzt, (wieder) zu “spielen wie die Kinder” (Fellini 1989, S. 138), bevor entweder die Vertreter der ‘erwachsenen’ Gesellschaftsordnung (die Priester in Otto e mezzo, der eifersüchtige Ehemann in La dolce vita etc.) sanktionierend eingreifen und den Tanz unterbinden, oder die internalisierten Fremdzwänge dafür Sorge tragen, dass die Figuren selbst schamhaft wieder von ihrem Tun ablassen. Kay Kirchmann 278 Abb. 2 (aus La notte di Cabiria) Diesen kurzen Momenten der Selbstverwirklichung im Paar- (Signore Rubini) oder Solotanz steht unterdessen jenes Paradigma des Tanzes bei Fellini diametral gegenüber, das als sein vorherrschendes Inszenierungsmuster des Tänzerischen schlechthin angesehen werden muss: der misslungene und misslingende (Bühnen-)Tanz un- oder minderbegabter Tänzer vor einem zahlenden Publikum: “Th[os]e dances are not compelling as dance. There […] is no contribution to dance, no performance to cheer. Those without talent for dance, dance nevertheless”. (Rohdie 2002, S. 40) Aus der Vielzahl diesbezüglicher Beispiele seien hier nur einige genannt: ‘Ginger’ und ‘Freds’ Step-Tanz im TV-Studio (Ginger e Fred), der Verführungstanz Saraghinas vor den Jungen am Strand (Otto e mezzo), die unfreiwillig komischen Auftritte der Revuegirls in Luci del varieta/ Lichter des Varieté (1950) sowie der Tänzer und Komiker im schäbigen Varieté aus Roma (1972) [Abb. 3]. Es sind v.a. diese Tanzeinlagen, die notorisch - entweder bedingt durch das Unvermögen der Tanzenden (‘Freds’ Schwächeanfall beim Steppen [Abb. 4]) oder durch die entnervten Reaktionen eines gelangweilten Publikums (in Roma wird zwecks vorzeitiger Beendigung des grausigen Schauspiels gar eine tote Katze auf die Bühne geworfen) - eine nachhaltige Unterbrechung, wenn nicht ihr vorzeitiges Ende finden. Die negativen Reaktionen der Öffentlichkeit, vor der und für die diese Tänze aufgeführt werden, erwachsen dabei unmittelbar der Tatsache, dass es sich bei diesen Einlagen um ausgesprochen schlechte Kopien einschlägig bekannter Vorbilder aus der Bühnen- oder Filmgeschichte handelt. Die paradoxe Intention der jeweiligen Performer - nämlich Individualität ausgerechnet durch das Kopieren berühmter Vorbilder erlangen zu wollen - wird vom Publikum negativ auf sie zurückgespiegelt, indem der Charakter der Travestie, zu der Lauter schlechte Kopien … 279 Abb. 3 (aus Roma) Abb. 4 (aus Ginger e Fred) Kay Kirchmann 280 diese Kopien unbeabsichtigt degenerieren, bei ihm lediglich Gelächter und Hohn provoziert. Sam Rohdie fasst das durchgängige Inszenierungsprinzip des Tanzes vor zahlendem Publikum bei Fellini daher folgendermaßen zusammen: “Dances in a Fellini film are usually half-finished, merely glimpsed, often slovenly, laughable, mocking, absurd. […] The performance does not excced the character for its value as dance, but becomes an instrument of caricature […]. […] The dances are travesties, a distorted mirror, resemblances, like metaphors, but the terms are semblances of the thing to itself, that is, a caricature, a mocking double” (ebd., S. 40ff.) Dass diese Performanzen zu reinen Karikaturen verkommen, resultiert aus einer ganzen Summe phänomenaler Unangemessenheiten und Disproportionalitäten: jeweils falsch bzw. unangemessen sind - der (gemessen am Original) völlig triviale Aufführungsort und -kontext, - die Diskrepanz zwischen den künstlerischen Kompetenzen und den körperlichen sowie erotischen Potentialen der Kopierenden und denen der abwesenden Originale, - die fehlakzentuierte Übersteigerung einzelner Bewegungsphasen mangels tieferen Einblicks in die inszenatorischen Qualitäten des nachgeahmten Tanzes, - die offenkundige narzisstische Selbstüberschätzung der Aufführenden und - ihre nicht minder fundamentale Fehleinschätzung der eigentlichen Unterhaltungsbedürfnisse ihres jeweiligen Publikums. Einzig die monströse Saraghina aus Otto e mezzo vermag die pubertären Bedürfnisse ihrer jugendlichen Zuschauer richtig einzuschätzen und bietet ihnen für ein paar zusammengekratzte Lire einen Pseudo-Striptease [Abb. 5], der jedoch allein diesen Jungen und auch dies nur aufgrund ihrer mangelnden Vergleichskompetenzen als erotisch erscheinen mag. Hier nun bleibt es uns als Kinopublikum vorbehalten, mit entlarvendem Gelächter die Travestie als solche zu identifizieren und zu markieren. Angesichts des hier aufgeblätterten Panoramas verschiedener Inszenierungsformen des Tanzes bei Fellini fällt es zunächst schwer, diese auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Ihr verbindendes Element könnte jedoch in jenem Verlust an ‘Ursprünglichkeit’ und ‘Echtheit’ auf ästhetischer, sozialer und vitaler Ebene liegen, die als Bezugsgröße hinter dem Spott des ehemaligen Karikaturisten und filmischen Satirikers Fellini erahnbar wird. Wenn der satirische Angriff immer an die Orientierung an eine verlorengegangene Positivbestimmung rückgebunden bleibt, wenn in der ätzenden Gegenwartskritik immer auch ein Stück Trauerarbeit mit am Werke ist, so könnte letztere sich hier auf eine (vielleicht auch nur phantasmatisch imaginierte) vorgängige Epoche beziehen, in der Tanz noch ‘unmittelbarer’ Körperausdruck und keine Folie sozialer Normativität gewesen ist. Der Moderne jedenfalls spricht Fellini derartige Kompetenzen rundum ab, nicht nur, aber auch, was ihre konkreten Tanzpraxen angeht. Epilog Im Herbst 1987 hatte der Verfasser das außerordentliche Vergnügen, Federico Fellini persönlich kennen zu lernen und ihn auf einem kurzen Spaziergang von seiner Wohnung zur Lauter schlechte Kopien … 281 Abb. 5 (aus Otto e mezzo) Piazza Populo zu begleiten, wo Fellini auf ein Taxi warten musste, das ihn zu den Studios nach Cinecittá bringen sollte (natürlich war in Rom gerade mal wieder ein großer Streik, von dem sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel betroffen waren). Während Fellini - ausgestattet mit seinem legendären Pepita-Hut und dem nicht minder obligatorischen Trenchcoat - auf sein Taxi wartete, hängte er sich mit ausgestrecktem Arm an einer Straßenlaterne ein und schwang daran selbstvergessen wie ein spielendes Kind im Wind hin und her. Es war unübersehbar eine Kopie der einschlägigen Szenen Gene Kellys aus Singing in the rain/ Du sollst mein Glücksstern sein (1952), aber es war wahrlich keine schlechte Kopie … Literatur Buache, Freddy 1969: Le cinema italien d'Antonioni a Rosi au tournant des années 60. Yverdon: La Thièle. Burke, Frank 1996: Fellini's films - from postwar to postmodern. New York: Twayne. Fellini, Federico / Joseph Maria Lo Duca 1961: Das süße Leben. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Fellini, Federico 1989: Spielen wie die Kinder. Aus Gesprächen Federico Fellinis mit Journalisten, ausgewählt von Daniel Keel. Zürich: Diogenes. Fellini, Federico 1995: Ich bin ein großer Lügner. Ein Gespräch mit Damien Pettigrew. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Hausmann, Friederike 1994: Kleine Geschichte Italiens seit 1943. Berlin: Wagenbach. Klimke, Christoph (Hg.) 1988: Kraft der Vergangenheit. Zu Motiven der Filme von Pier Paolo Pasolini. Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag. Kay Kirchmann 282 Rohdie, Sam 2002: Fellini Lexicon. London: British Film Institute. Schlappner, Martin 1958: Von Rossellini zu Fellini. Das Menschenbild im italienischen Neo-Realismus. Zürich: Origo-Verlag. The language of music, gaze, and dance Benjamin Britten’s opera Death in Venice Ernest W.B. Hess-Lüttich 1 The language of music: syntactical meaning 2 The language of gaze: Aschenbach and Tadzio 3 The language of dance: Apollo and Dionysos 4 The language of transition: novella, film, and opera 5 References 1 The language of music: syntactical meaning The relationship between language and music is, in music theory, not a particularly popular subject, which, in any case, all too easily evades exact analysis. Or do we know precisely what is described when we read the following, for example: “Through the melody the composer […] speaks directly to the feeling, the still unreal, pre-conscious, the premonition [Der Komponist <…> spricht durch die Melodie das Gefühl, das noch Unwirkliche, Vorgewußte, Erahnte unmittelbar an]” Behr (1983: 34)? In his “Fragment über die Sprache” (in Quasi una Fantasia) Theodor W. Adorno wrote as early as 1963: “Music is like language […] But music is not language. Its similarity to language leads the way into the interior, but also into the vague [Musik ist sprachähnlich <…> Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage.]” (Adorno 1997: 251). Why is this so? Is it because music lacks a strictly denotative stratum of meaning (Gruhn 1979: 265)? Or is it the other way around: what do music and language have in common? In search of an answer in terms of the semiotics of music, Peter Faltin suggests that “the similarity of music and language does not rest on the real function of language - to enable communication - but rather on one aspect of language, its ability to articulate and share thoughts [Die ‘Sprachähnlichkeit’ von Musik beruht nicht auf der eigentlichen Funktion der Sprache, Verständigung herbeizuführen, sondern nur auf einem Aspekt der Sprache, auf ihrer Fähigkeit, Gedanken zu artikulieren und zu vermitteln]” (Faltin 1985: 178). It is obviously not easy to grasp the relationship between language and music precisely; and even more difficult to speak concretely, not vaguely, about music; and hardest of all to speak about opera, about the union of codes of music, language, and theatre into an aesthetic whole, a union of “text and music […] two sign strata that refer to each other but remain separate [Text und Musik <…> zwei aufeinander bezogene, aber dennoch getrennte und von einander abhebbare Zeichenschichten]” (Gruhn 1979: 265). As it seems so difficult to speak about music in a non-metaphorical manner, which is the well-established language of musical critics, semiotics may provide the analytical instruments for describing opera as a “polycoded text” (cf. Hess-Lüttich ed. 1982; id. 1994). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 284 This is the starting point of an excellent study on opera as textual Gestalt: Klaus Kaindl (1995: 41) suggests an integrated approach to analyse the various media of the performance as a holistic complex of signs. This means looking at the functional relations of the verbal and non-verbal subtexts [“Oper als gestalthaft-semiotisches Relationsgefüge verbaler und non-verbaler Subtexte in ihren funktionalen Zusammenhängen”]. The interdisciplinary approach profits from models developed in literary theory, linguistics, theatre studies, musicology, psychology, and translation theory. It allows to understand the complexity of the textual structure of a message composed of language, music, stage, voice, and sound the Gestalt of which is determined by certain theatrical conventions not only of the libretto, with its linguistic condensation according to modes of articulation, pitch, and interval, but also of all the other simultaneous channels of signifying, of visual scene, of body language, and their combination with musical components of tones, voice qualities, rhythm, tempo, harmony, melody, sound, etc. (Kaindl 1995: 257ff.). It is the specific interrelation of all these aspects which constitutes the enchantment of opera up to the present day, the powerful effect of what Thomas Mann referred to as “Beziehungszauber” of a “Gesamtkunstwerk” (Richard Wagner). The process of semiotic transformation from the score to the stage is even more complex in the case of operas made from literary texts. What sort of influence does a literary original have upon an opera? On the one hand it has been maintained that a literary text, especially a dramatic one, adds “homogeneity, drama and harmony to the prevalent theatrical situation, which music alone is no longer able to provide [eine Einheitlichkeit, Dramatik und Harmonie zu den herrschenden Theaterverhältnissen, die die Musik für sich allein nicht mehr zu leisten imstande ist]” (Gerhartz 1982: 54). The extra-musical original is a means “through which musical ideas may attain a greater transparency [durch das musikalische Ideen eine größere Transparenz erreichen]” (Faltin 1985: 77). The primacy here lies with music. The aesthetic meaning of music is primarily syntactic. The notion that meaning is a matter of semantics alone, and that signs without a denotatum lack meaning fails to take into account the fact that, according to Charles W. Morris (1975: 283ff.), each one of the three dimensions of a sign conveys meaning in its own specific way. He discusses the question of how signs can be meaningful if they seem to lack precisely the semantic dimension with reference to aesthetic signs. The syntactic categories giving meaning to musical signs are repetition, sequence, continuation, transition, contrast, similarity, difference, etc. (cf. Faltin 1985: 129; cf. Linder 1998: 89). These categories have in common that they refer to relationships between elements rather than to anthropomophisms. Music is not based on tones but on relationships (cf. Grossmann 1991). The opposing opinion presents the theory that the primacy lies with language, if we correctly understand Wolfgang Rihm’s somewhat opaque formulation (1959: 30): “Like a chemical solution, which makes invisible elements visible through colouring, music can make the textual aura visible, that is, audible [Wie eine chemische Lösung, die zunächst unsichtbare Elemente durch Färbung sichtbar macht, kann Musik die textspezifische Aura sichtbar bzw. hörbar machen]”. Michael Behr (1983: 51) proposes the theory that “the languages of music, word, and gesture become one language, wherein each explains the other [die Sprachen von Musik, Wort und Gebärde werden zu einer Sprache, in der sie sich gegenseitig erklären].” Thus, if one refrains from analysing the individual codes involved in order to understand the “message as a whole”, this may lead to a position in which one hopes to understand music as meaning ‘something’, say, the literary model of an opera. Yet the meaning of a literary The language of music, gaze, and dance 285 text should not be confused with the meaning of the piece of music made from it. Each calls for a different analytical operation based on a common theory of semiosis rather than a theory of signs (cf. Tarasti ed. 1996). Following Lucy Beckett (1994: 103), and leaving the meta-level for a moment, Ulrich Weisstein (1999: 160ff.) takes a third position covering the middle ground in the area of musical and verbal form. Discussing the varieties of verbo-vocal utterance in opera, he suggests a catalogue raisonné with some four intermediate categories based on the relationship of language and music in opera: (i) mimetic speaking, as in spoken segments of the libretto, e.g., in the German Singspiel (Mozart’s Die Zauberflöte being a case in point); (ii) conventional speaking, as in recitativo secco or recitativo accompagnato, which are meant to be perceived as spoken; (iii) mimetic singing, especially in monologues, introspective soliloquies and the like, and (iv) conventional singing, which, as a mode of expression, is as natural to the dramma per musica as speaking is to the legitimate theatre. Silence, therefore, can be justified and condoned if it serves a specific and manifest dramaturgical end, as in the concept of the silent role of Tadzio as a dancer in Benjamin Britten’s opera Death in Venice, adapted from Thomas Mann’s novella Der Tod in Venedig (1912). 2 The language of gaze: Aschenbach and Tadzio This applies directly to the relationship between music and words in Death in Venice, Britten’s last opera (1973; libretto by Myfanwy Piper), with the last great part for his friend and life-long partner, Peter Pears (cf. Britten 2004). It is another variation of Britten’s life theme of threatened adolescent innocence, a theme, as Jürgen Kühnel (1985: 249) notes diplomatically, “which is probably rooted in the disposition of his personality [ein Thema, das wohl letztlich in der Disposition der Persönlichkeit Brittens wurzelt]”. In his essay on Britten’s homosexuality and his long relationship with Peter Pears, Jan Schmitz (1999: 38 - 47) has found adequate words to describe the difficult situation of an artist who tries to find his place in society as an outsider and respected composer (cf. also Elias & Scotson 1993). However, nowhere in his works will one find openly gay figures; love relationships between men and women rarely occur either. But signs referring to a different world are numerous. They reach beyond the “official meaning” and can be read by those able and willing to understand them. In this respect - very much like the works of Thomas Mann - it is indeed “a form of camouflage that has appeared in homosexual literature since antiquity [Es ist eine Form der Camouflage, wie sie sich in der homosexuellen Literatur seit der Antike findet]” (Schmitz 1999: 41). The overall structure of the opera is typical for Britten’s work: two acts with seventeen scenes counted as I.i-vii and II.viii-xvii, each with titles such as “Munich”, “On the boat to Venice”, “The journey to the Lido”, “The first evening at the hotel”, etc. Interestingly, the “Ouverture” entitled “Venice” (the only orchestral interlude in the whole work) follows after the first two scenes. The first act ends with Aschenbach watching nearly naked boys playing on the beach. The title of the scene is “The Games of Apollo”. During the heavenly, supernatural sound of his song (the role of Apollo is written for a counter tenor), Aschenbach becomes aware of his feelings for Tadzio, the most beautiful of the boys: “then realising the truth at last”: “I - love you”. The second act begins with an Aschenbach soliloquy. But then, in the second scene at the barber’s, the word “sickness” is mentioned for the first time. The scene entitled “The dream” (II.xiii) is again mythological and refers to “The games of Apollo” (I.vii). The act ends with Aschenbach’s death. Ernest W.B. Hess-Lüttich 286 Words and their ability to express thoughts are indeed one important theme of this opera. The combination of the musical motif and Piper’s libretto produces a complex and intricate relationship of codes that is not easy to analyse. Britten has chosen precisely those texts as source material where language plays a ‘problematic’ role, i.e., where forms and requirements for communication are themselves aesthetically ‘problematized’ (cf. Hess-Lüttich 1984, id. 1985). One thinks of Britten’s work on Shakespeare’s Midsummer Night’s Dream, or Herman Melville’s Billy Budd, George Crabbe’s Peter Grimes, and Henry James’s Turn of the Screw among others. In these texts, each in its own way, the relationship between language and reality, truth and illusion, is the central theme (Corse 1987: 111). What is not said, or what cannot be said, with language, Britten ‘says’ with music. Aschenbach’s inability to speak with Tadzio takes on a more central thematic weight in the opera than in the novella: it is staged as a choreography of cruising, of eye-contact, of staring at each other, of secret observation, of hidden erotic messages, of gazing. An analysis of the different medial versions of Aschenbach’s and Tadzio’s relationship (perhaps even more so in Luchino Visconti’s film Morte a Venezia: cf. Hess-Lüttich 2000) produces immediate information not only about the theme of language, but also about the language of gaze. When one looks at the libretto, it becomes obvious that Aschenbach says hardly anything that is not exactly the same in the novella. Therefore, if Aschenbach’s role is understood in a completely different way by the opera audience than by the novella reader, it is due less to the words of the text than to their translation into body language and its ‘commentary’ provided by the music. Everything described in the third person in the novella is reformulated into direct speech in the opera. Aschenbach’s thoughts and encounters with others are “reformulated into free recitations, arias, ensembles and short duets” (Sutcliffe 1979: 103). The result has a radically different effect on the way we perceive the work. The ironic distance between narrator and protagonist is absent. Aschenbach’s thoughts cannot be commented upon verbally. This minimizes the distance for the recipient as well. This is not a “blemish [Schönheitsfehler]”, as Terence Reed (1984: 174) complains, but a requirement of the medium. The function of the commentator is taken up by the music. The language of music, gaze, and dance 287 Similarities in the form of motifs constitute their own web of references. Right at the beginning we hear motifs in the music which correspond to the written words in the novella: the quickly repeated ostinato tones which introduce the opera stand, according to James Sutcliffe (1979: 102), for “Aschenbach’s pounding temples”, for the nervous restlessness of his feelings. Peter Evans (1979: 528) maintains that the melodic motifs in the recitations, the chromatic passages which reach over an octave, symbolize the sand which flows through the hour glass. There are ten passages in the opera where Aschenbach is accompanied by piano, a technique reminiscent of early Italian opera, above all in seventeenth-century Venice (cf. White 1983: 269). The piano accompaniment emphasizes Britten’s notion of the spiritual alienation envisioned by Thomas Mann, the distance with which Aschenbach creates the image of himself. His mannerisms illustrate the impression: with every recitation he takes his notebook and pencil out of his pocket and begins to write. Peter Evans remarks in The Music of Benjamin Britten (1979: 526): “Outside his writings [Aschenbach] can communicate only with himself, and from the start we see him isolated from - even while at the mercy of - events around him.” Aschenbach’s habit of writing down all of his reflections literally becomes even clearer than in Thomas Mann’s depiction. Because he is always analysing himself, his personal role gains more weight than the depiction of his thoughts in the novella. Reed (1984: 174) sees this facet as the inadequacy of the opera version: “Aschenbach often has to say more about himself than he is actually supposed to know [Aschenbach muß oft mehr über sich aussagen, als er eigentlich wissen sollte].” The disadvantage is, of course, “made up for by the motif work of the composer, who with great ingenuity has created equivalents for Thomas Mann’s narrative and mythic relationships [wettgemacht durch die motivische Arbeit des Komponisten, der mit großer Findigkeit <…> Äquivalente für die erzählerischen und mythischen Beziehungen Thomas Manns geschaffen hat]” (ibid.). The notebook is Britten’s invention, a means to make Aschenbach’s distance from the ‘world’ visible in image and leitmotif. It suggests that we, too, see through Aschenbach’s eyes whatever occurs on the stage. In strong contrast to the effect of the film, the distance and difference between what we see and hear and Aschenbach’s imagined realm of perception are greatly diminished. A more exact analysis of the musical motifs throws an even sharper light on the relationship between Aschenbach and Tadzio. Generally considered a characteristic feature of Britten’s late style, the tritone (an augmented fourth, which is an interval of three whole tones) is introduced as a symbol of irresolvable conflict, of the “diabolus in musica”, and as a musical metaphor for “death and the devil” [Tod und Teufel] (Karbusicky 1990: 151-178). In Death in Venice, according to Sutcliffe (1978: 97), it determines even “the entirety of motifs with which the opera begins - in Aschenbach’s voice as well as in the orchestra accompaniment - and the spiritually uncertain condition besetting an increasingly unproductive poet is rendered in the music’s unstable, hardly determinable tonality [den intervallischen Gesamtumfang der Motive, mit denen die Oper - in der Stimme Aschenbachs ebenso wie in der Orchesterbegleitung - beginnt und in deren labiler, kaum festlegbarer Tonalität der geistig unsichere Zustand des unfruchtbar gewordenen Dichters deutlich wird].” The close chromatic motifs are musical proof of the negative influences that bring on Aschenbach’s end. They create a spirit of anxiety, which mirrors and expresses Aschenbach’s inner tension, without the use of words. How is the depiction of Aschenbach to be compared to that of Tadzio? In music, we recall, it is not the tones or single notes, but rather their relation to each other that creates Ernest W.B. Hess-Lüttich 288 something like “meaning” (Faltin 1985: 128). This applies to the depiction of the two protagonists as well. Britten’s semiotic techniques in depicting Aschenbach gain their significance precisely when seen in contrast to those used to characterize Tadzio. This is also true of the composition of motifs. Aschenbach’s motifs consist largely of brief chromatic intervals, whereas Tadzio’s motifs are composed in larger ones. They appear more open to us, ‘happier,’ more relaxed. Moreover, the Tadzio motif is musically associated with the “panorama-landscape motif” (Corse 1987: 143), which tells the audience that Aschenbach relates Tadzio to nature, especially to the ocean. The unbridgeable distance between Aschenbach and Tadzio - bridged only by long looks, furtive glances, signifying gazes - is also emphasized by a broader musical boundary, which Aschenbach cannot overcome. Both figures are associated with separate and different groupings of accompanying instruments. Whenever Tadzio appears the vibraphone rings, in sharp contrast to the piano accompanying Aschenbach’s recitation. While Aschenbach’s appearances are sometimes accompanied by the whole orchestra, Tadzio is constantly backed up by percussion instruments. In the judgement of the critics, this technique lends Tadzio an almost ‘other-worldly’ coloration. Each role has its own tonality. With Aschenbach, it revolves around E, with Tadzio around A. The roles use tonalities to reflect their respective relationships to the figure of Apollo on the one hand (with E as the central tone), and of Dionysos on the other (with A as the central tone). Incidentally, the fifth [quinte] A-E is also the distance between the most closely related traditional types of tones as well. It was called a ‘perfect fifth’ as far back as the Middle Ages and - beside the fourth [quarte] and the octave - it was one of the three intervals upon which a musical phrase could end. Therefore, it is both an interval of a close relation and an approaching end. Thus even the interval between Aschenbach’s and Tadzio’s central tones becomes a musical sign for their relationship to each other: their silent communication through eye-contact only, their ‘language of gaze’. 3 The language of dance: Apollo and Dionysos Britten thought it important to transpose musically the complete inaccessibility of a ‘real’ relationship between Aschenbach and Tadzio, the impossibility of their spiritual and physical union, of even their nearness to each other. The contrast between the roles of Aschenbach and Tadzio as a silent dancer is certainly a means thereto. Terence Reed, still tied to his idea of a “version true to the poet”, strongly criticized this transformation, because in its “exaltation of a healthy athletic Tadzio, who is victor in the ‘sun festival’ games of the inserted ballet sequences […] the opera seriously tends away from the meaning and interpretation of the novella [Verherrlichung eines gesund-athletischen Tadzio, der bei den als Ballettsequenzen eingefügten ‘Sonnenfest’-Spielen den Sieg davonträgt, <…> die Oper gravierend von Sinn und Interpretationen der Novelle abweicht]” (Reed 1984: 174). In contrast, as Eric Walter White claims (1983: 270), Myfanwy Piper defends these differences in direction precisely by a conscious emphasis on the distance between Aschenbach and the beloved boy: “In the book he has no contact with Tadzio […] nor does he in the opera, and we have emphasised this separateness by formalising [his] movements into dance”. The formal structure of the dance enables us to see Tadzio, also through the eyes of Aschenbach, on a symbolic level (cf. Corse 1987: 135). Neither of them ever speaks to the other, let alone touches him. But the dance, full of sexual intensity, is the sign of the boy’s The language of music, gaze, and dance 289 physical attractiveness and of his untouchability, of the tension and distance between Aschenbach and Tadzio. The ‘language of dance’ corresponds to the ‘language of gaze’. In comparison to the novella and especially to the film, the opera version, with its specific combination of codes, expresses this distance more strongly - notwithstanding the subtle suggestion of their relationship through musical signs and eyes watching: the A-E central tones and the choreography of cruising. The associations with classical myth are also incomparably stronger in the opera than in the film, and thus closer to the novella (on the multiple mythological references in the novella see Mauthner 1952, as well as Wysling 1969, Dierks 1972, Reed 1984, Renner 1985). There are, for example, the simple but noticeable vocal assonances (“Aou’! ”) which run through the whole opera. We first hear them from the gondolier, who can be identified here as the ‘Charon’ figure whose ‘aaoo’ tones can thus be identified with death. Then we hear them again in the calls of Tadzio’s friends, when they utter his name. And again in the Dionysos choir, which puts the Ephebe in musical relation to the god. Tadzio is connected with Death and Dionysos, with Hermes as “psychopompos”; his elevation to the status of a mythical figure is not only tonally affected but is also strengthened through the choice of accompanying instrumentation. The percussive instruments, many of Asian origin, create their own ‘chamber orchestra’ with a remarkably exotic sound, as if from far-off eastern lands. It can be deduced from Thomas Mann’s working papers that he was well aware of these Asian allusions: he refers to the cholera stemming from the delta of the Indian river Ganges and to Friedrich Nietzsche’s Die Geburt der Tragödie (cf. § 20, Werke, vol. I: 113), where Dionysos starts his “Festzug von Indien nach Griechenland” (cf. Reed 1984: 154, 177). In addition, Britten inserted two dance scenes depicting Aschenbach’s dreams of fear and desire. Apollonian games are played in the first dance (scene I.vii). Tadzio is associated with mythological figures much more clearly here than in the film: he takes part in these games and wins. Despite all the sensuality of the game and erotic power of the dance, the impression of Tadzio’s inaccessibility remains. Even while dreaming, Aschenbach cannot speak with Tadzio. James Sutcliffe (1979: 61) writes of Britten’s intention “to create a (dance-)world, with which Aschenbach can never find contact but which recalls to his memory the dreamedof ideal images of the ancient Greek world [eine (Tanz-)Welt zu schaffen, zu der Aschenbach niemals Kontakt finden kann, die aber doch seine erträumten Idealbilder der griechischen Antike in Erinnerung rufen]”. The second dance (scene II.xiii) presents the Dionysian dream. Britten roughly follows the book, however introducing dance as representing dream and accentuating the novella’s mythic allusions even more intensely. The leitmotif of numerous allusions to Hermes in the novella is taken up in the opera: a mythical psychopompos, who guides Aschenbach to Venice and to death, takes some seven roles in the opera (Kühnel 1985: 253f.): the mysterious traveller at the cemetery entrance in Munich (I.i); the “elderly fop” on the boat during the passage to Venice who anticipates Aschenbach’s appearance at the end; the old gondolier as a true Charon figure who takes him, against his will, to the Lido in his black coffin-like gondola (“Passengers must follow / Follow where I lead / No choice for the living / No choice for the dead”); the fawning manager at the hotel; the barber who will later make him up as the “elderly fop” like the one on the boat (I.ii); the Neapolitan strolling musician mocking his audience; and, of course, Dionysos, the counterpart of Apollo, in his dreams. The configuration of Apollo and Dionysos stands for the whole complex of Nietzschean tensions between principles which form a central and well described theme of Thomas Ernest W.B. Hess-Lüttich 290 Mann’s works (cf. Pütz 1971: 225 -249; Koopmann 1975; Härle 1988; Böhm 1989: 321ff.; Deuse 1992). They not only symbolize the situation of the artist reflecting his work (represented by the famous yet controversial scenes with discussions on art and - deadly - inspiration in Visconti’s film); but also represent the protagonist’s situation after he has met a boy of unearthly beauty, unreachable, only to be gazed at, but also to be followed when he, as thanatos eros, he leads the way to death: “Ihm aber war, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen” (Mann 1967: 399). 4 The language of transition: novella, film, and opera As is well known, this emphasis on myth is not rare in musical theatre, a circumstance which some critics, for example Michael Behr (1983: 18), trace back to the fact that “the drama of the unconscious soul is presented through myth [das Drama der unbewußten Seele <…> symbolisch durch den Mythos dargestellt wird]”. Whatever that may mean precisely, it is certain that the medium of opera, with its complicated complementarity of codes, lends itself to a more abstract level of interpretation than the narrative text does. In other words: the rules of narrative and the novelist’s points of view demand a different mode of perception in response to that which is represented, just as the sequentiality of film does. While the objectifying presentation of action on stage prevents too direct an association with ‘the story’, reading stimulates the imagination to limitless individual fantasies, and montage and editing techniques of cinematic language encourage observers to identify with what they see. The protagonists’ eye contact, their ‘language of gaze’ becomes ‘true’ in the film, and graphic. In the opera, we ‘read’ Aschenbach’s thoughts and feelings, interpreting, ‘adapting’, giving meaning through Britten’s signs of music, never aware of mere ‘facts’. We follow the subtle dramaturgy of the work’s overall structure and take Aschenbach’s perspective, as the whole plot is focused on this figure. He is the only one present on stage from beginning to end, while the scenes constantly change. As Jürgen Kühnel (1985: 250ff.) has pointed out, this is a radical break with traditional structures of opera, theatre, and drama with respect to scenic space and time. With changes of scenes, time may be accelerated by dramaturgical means which Britten and his librettist had learned from their TV production of the earlier opera Owen Wingrave. There they had already experimented with the possibilities of simultaneous scenes, with successive movements of figures through connected spaces, and with the technique of time acceleration within certain scenes. As one example of this technique, Kühnel (1985: 251f.) mentions scene I.vi “The foiled departure”. Aschenbach approaches Venice by gondola, the gondolier singing his “Aou’! Stagando, aou’! Aou’! ” Aschenbach leaves the gondola “at the landing place” and “starts walking through the streets”. Constantly being addressed by beggars, dealers, and tourist guides, he feels increasingly “unhappy and uncomfortable” (arioso: “While the scirocco blows / Nothing delights me”); so he decides to leave Venice: “Enough, I must leave”. Returning to the “landing stage”, he enters another gondola heading back to the Lido, while the gondoliers sing their typical song. When Aschenbach reaches the Lido and leaves the gondola, the scene is suddenly interrupted: after a “passage of time”, Aschenbach appears in the lobby of the hotel, together with the manager, who fawns and wheedles around him. Once again Aschenbach’s eye lights upon Tadzio - for the last time, he thinks: “For the last time, The language of music, gaze, and dance 291 Tadziù, / it was too brief, all too brief - / may God bless you”. Here again comes a “passage of time”, and we see Aschenbach back in the gondola and hear the gondoliers singing their song. In a short conversation with the porter at the station, Aschenbach learns that his luggage has been misrouted. He decides to stay in Venice. The gondola returns to the Lido, the gondolier singing his “Aou’! ” in the background of one of Aschenbach’s soliloquies. The manager awaits him in the hotel lobby and takes him “to his room and opens the window on the beach”. After the manager has left the room, Aschenbach looks out of the window: “Tadzio, Jaschu, and a few other boys are seen playing in the distance”. The scene is closed by an Aschenbach arioso “Ah, Tadzio, the charming Tadzio, / that’s what it was”. Despite the changing settings and the two time passages, the scene has a clear structure of a double cursus (Kühnel 1985: 252): Gondola Lido to Venice Gondola Lido to Venice Venice: Venice: the streets the station A. deciding to leave A. deciding to stay gondola Venice to Lido gondola Venice to Lido hotel lobby hotel lobby the manager the manager Tadzio Tadzio The dramaturgical constellation of the dramatis personae has a clear structure too. There are three groups of figures who stand for different but interwoven levels of dramatic action: (i) the ‘real’ figures of the gondoliers, the hotel staff, travellers, dealers, beggars, etc.; (ii) the mythological figures (see section 3, above); (iii) the boys on the beach. Kühnel includes Tadzio in this third group, but in a way the boy stands alone, as Aschenbach does, both forming a dyad of intense communication through their gazes, but gazes alone. This is what Visconti had visualized so adequately by means of film, by close-ups, cuts, etc. (cf. Hess- Lüttich 2000). According to Kühnel, the three groups of figures correspond with three levels of action: the level of reality, the level of mythology, and the level of reflection. This triadic structure is reflected in the sign structure of the work: (i) scenes with figures of the dramatis personae come with orchestra and recitals, so do (ii) those with mythological figures (but arioso in character, plus chorus); (iii) the level of reflection is represented by Aschenbach’s soliloquies (with Thomas Mann’s prose), accompanied by piano; the dance scenes with Tadzio are structured by percussion - another indication that they stand on their own and should not be subsumed under the scenes with the boys on the beach. Mann’s novella, and Visconti’s film in its own way, live by the tension between outer appearance and inner action, between vanity and passion, degeneration and eternity. This tension is completely different in Britten’s opera. As well befits the musical medium, the sensual and spiritual, erotic and aesthetic relationship between Aschenbach and Tadzio is transformed to a symbolic relationship. More precisely, it is condensed to a symbolic constellation, transfigured into an abstract thought process. Yet structurally, the two congenial works are comparable, because they both make specific use of film sign systems, which allow for optimal transformation of narrative, especially of prose in the semi-dramatic genre of a novella. Ernest W.B. Hess-Lüttich 292 Despite their shared subject matter, novella, film, and opera each tell their own story. Comparing them helps to show how each is to be separately interpreted. Therefore, the idea of a faithful rendition of the novella cannot be a criterion to judge whether the film or the opera is ‘successful’ or ‘unsuccessful’. Both artists, Visconti and Britten, have added something of their own, each in his own medium. To reduce their works to mere copies, reworkings or adaptations of an original, would be doing them an injustice. They are congenial references, textually interwoven obeisances to Thomas Mann as the citizen-artist and to his lifelong theme, to Bajazzo and poeta doctus, the “Magician” and artist of ambivalence, to Tonio’s longing for the “bliss of the commonplace [Wonnen der Gewöhnlichkeit]” (Tonio Kröger) and Leverkühn’s “ambiguity as system [Zweideutigkeit als System]” (Doktor Faustus). And, of course, they honour the only possible suitable stage, Venice, that “ambiguous city” (Simmel 1922: 72). Its “ruin and radiance, sensuousness and fate […], implausible beauty and irreversible foundering [Unheil und Glanz, Wollust und Schicksal <…>, unglaubwürdige Schönheit und unrettbares Versinken]” (Papst 1955: 341) have inspired poets to song from time immemorial up to the present (Byron, Ode on Venice [1918]; see Dieterle 1995 on Venice as a literary motive through the centuries). O Venice! Venice! when thy marble walls Are level with thy waters, there shall be A cry of nations o’er thy sunken halls, A loud lament along the sweeping sea! 5 References Adorno, Theodor W. 1997: “Fragment über Musik und Sprache”, in: Adorno, Theodor W. 1997: Gesammelte Schriften vol. 16 (Musikalische Schriften I-III), Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 251-256 Beckett, Lucy 1994: “Die Meistersinger : Naive or Sentimental Art? ”, in: Warrack, John (ed.) 1994: Die Meistersinger von Nürnberg, Cambridge Opera Handbook, Cambridge: Cambridge University Press, 98 -110 Behr, Michael 1983: Musiktheater. Faszination Wirkung Funktion, Wilhelmshaven: Heinrichshofen Bernhart, Walter, Steven Paul Scher & Werner Wolf (eds.) 1999: Word and Music Studies: Defining the Field, Amsterdam: Rodopi Böhm, Karl Werner 1991: Zwischen Selbstzucht und Verlangen. 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Hess-Lüttich 1 Kritik und Meta-Kritik 2 Thema mit Variationen 3 Tanz-Zeichen im Inter-Text 4 Anmerkungen 5 Literaturhinweise 6 Kritiken der Voraufführung in Baden-Baden und der Premiere in Hamburg (Auswahl Dez. 2003) 1 Kritik und Meta-Kritik Im selben Jahr, in dem Benjamin Brittens Oper Death in Venice beim Aldeburgh Festival uraufgeführt wurde, kam John Neumeier nach Hamburg. Drei Dekaden später, zur Jubiläumssaison “30 Jahre Hamburg Ballett” 2003/ 04, lädt er zur Premiere seines Balletts Tod in Venedig. Thomas Manns Novelle, sein “Selbstgericht” (Georg Lukács), ist ihm seit seiner Jugend vertraut. “Als ich die Novelle zum ersten Mal las, war ich 15, also ungefähr in Tadzios Alter” (Neumeier im Gespräch mit Dagmar Fischer in der Hamburger Morgenpost v. 5.12.2003). Aber erst jetzt, sagt er (auch in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt am 3.12.2003), fühle er sich “gereift” genug, den Stoff vom alternden Künstler in der Spannungsbalance zwischen Selbstzucht und Begehren, Ordnung und Chaos, Disziplin und Ausschweifung, Apollo und Dionysos, Eros und Thanatos choreographisch zu bewältigen. Lange hatte er das alte Freud-Thema der Sublimierung von Triebenergien als Impuls kreativer Leistungskraft in mancherlei Stücken (wie “Nijinsky” oder “Die Möwe”) umkreist. Es wurde auch zu seinem eigenen Lebensthema. Nach einer Vorpremiere in Baden-Baden im Dezember 2003 (die zugleich die Grundlage für die folgenden Beobachtungen bildet), wurde das Ballett in der Spielzeit 2003/ 04 in Hamburg vom Publikum begeistert gefeiert, von der Kritik jedoch zunächst eher ungnädig aufgenommen. Ich habe daraufhin alle greifbaren Premierenkritiken einmal durchgesehen und eine mich überraschende Zahl kritischer Wortmeldungen gezählt. 1 Eine nicht repräsentative Auswahl aus diesen Stimmen mag im folgenden zunächst einen Eindruck von der überwiegend negativen Aufnahme des Stücks durch die professionelle Kritik vermitteln, bevor ich nach den Ursachen für diese Einschätzung frage und aus einer knappen Aufführungsanalyse heraus und vor dem (hier vorausgesetzten) Hintergrund meiner Analysen der Novelle Thomas Manns und des Films von Visconti (Hess-Lüttich & Liddell 1990; Hess- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 296 Lüttich 2000) sowie der Oper von Britten (in diesem Band) meine eigene Bewertung begründe. “Ach, Gustav! ” seufzt etwa Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung (v. 9.12.2003) und mäkelt, das Stück erzähle “nur am Rande von Thomas Manns vergeistigtem Künstler, [...] sondern unfreiwillig und ununterbrochen von (homo-)sexueller Verklemmtheit”. Für sie ist es im Ergebnis ein Beispiel dafür, “wie Ballett sich besinnungs- und sinnlos ein für alle mal zu Tode tanzt”. Jochen Schmidts Urteil fällt in der Welt (v. 1.12.2003) kaum milder aus: Neumeiers Choreographie sei “prätentiös und ein wenig verworren, die Bewegung maniriert”. Dem grandiosen Autor Thomas Mann sei der “eher mittelprächtige Choreograph” nun mal nicht gewachsen, er habe die Aufführung in Baden-Baden zwar als “work in progress” bezeichnet, aber sie enthalte leider “vor allem Leermaterial und blinde Stellen”. “Schwüle Atmosphäre am Lido-Strand”, geniert sich der Mannheimer Morgen (v. 23.12.2003) und seine Mitarbeiterin Dagmar Zurek findet wenigstens das Bühnenbild “sehr stylish und zeitgeistig”. “Kein Meisterwerk” sei dem Amerikaner zum Jubiläum seiner 30jährigen Direktion an der Alster da geglückt, urteilt Marieluise Jeitschko streng in der Neuen Westfälischen (v. 15.12.2003), jedenfalls nicht “mit dieser Selbstdarstellung und dem platten ‘Outing’”. Ihm gelingen “kaum schlüssige Formen”, meint Claudia Ihlefeld in der Heilbronner Stimme (v. 2.12.2003), sperrig dekliniere er das klassische Vokabular, als lasse er seine Truppe “mit angezogener Handbremse” tanzen. Sie irritieren in Baden-Baden “Beliebigkeit und Neurosen”, das kommt ihr irgendwie intellektuell vor, überzeugt sie aber weder als Lesart noch als Choreographie: “keine originelle Nabelschau”. Neumeier finde “nur blasse Bilder, homoerotische Männerphantasien am Lido, wenn nichts mehr geht, balgende Buben helfen (n)immer.” Die Umsetzung der Erzählung in Tanz lasse sich nun mal nicht so leicht bewerkstelligen, gibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (v. 11.12.2003) zu bedenken: “es gibt Dinge, die lassen sich mit Tanz einfach nicht erklären”. Kein Wunder, dass Neumeier daher immer wieder “zu den gängigsten aller Bilder” greife und Lösungen “aus der Sparte röhrender Hirsch überm Sofa” biete, die belegten, “ein wie erstaunlich traditioneller, ja altmodischer Choreograph John Neumeier” nun mal sei. Wer Luchino Viscontis großartigen Film Morte a Venezia noch vor Augen habe, müsse von seinem Ballett enttäuscht sein, grämt sich Ekkehard Rossmann in der Frankfurter Neuen Presse (v. 10.12.2003). Bettina Schulte hat nachgerechnet und findet in der Badischen Zeitung (v. 1.12.2003), gegenüber dem Film von 1970 komme diese Choreographie “30 Jahre zu spät”, sie setze ihm “nichts wesentlich Neues entgegen” und halte ihm “schon deswegen ästhetisch nicht stand”. Zwar habe sich Neumeier sicher allerlei dabei gedacht, aber, fragt sie den Leser mit kumpelhafter geistiger Unbeschwertheit, “muss einen das alles interessieren? Könnte es sein, dass der Choreograf vor lauter historisch-philologischen Studien vergessen hat, was er uns hier und heute mit diesem Stoff erzählen will? ” Schließlich seien dekadente Künstler und “die Tabuisierung gleichgeschlechtlichen Begehrens” heute doch eigentlich kein Thema mehr. “Ohne Inspiration”, faßt Marga Wolff für Die Tageszeitung (v. 9.12.2003) bündig zusammen, der Tänzer des Aschenbach möge ein guter Tänzer sein, aber er sei leider “ein mäßiger Darsteller, und zu Tadzio sei Neumeier erst recht wenig eingefallen, “neckische Jungensspiele in Badehose vermitteln kaum den Zauber der Jugend”. Sie hätte sich die Choreographie des Ballett-Direktors “mutiger gewünscht”, zumal wenn man wisse, welches Potential in ihm stecke, “wenn er sich nicht in Konventionen und Klischees” verfange. Wie abgesprochen klingt dazu das Urteil von Irmela Kästner in der Welt vom selben Tage Totentänze 297 (9.12.2003): auch sie hätte es sich “mutiger gewünscht”, man wisse ja, “welches Potenzial in Neumeier steckt”, aber zur Rolle des Tadzio, “eine ziemlich plumpe Figur”, sei ihm “herzlich wenig eingefallen” und “neckische Spiele in Badehose vermitteln kaum den Zauber der Jugend”. Wer hat hier wohl von wem abgeschrieben? Selten hat man Welt und taz jedenfalls so einig gesehen. Auch an der Musikauswahl wird kein gutes Haar gelassen. Mußte in Viscontis Kinoadaption das Adagietto aus Mahlers 5. Symphonie “dran glauben”, so leidet Volker Boser in der Münchner Abendzeitung (v. 2.12.2003) unter “dem emotionalen Zickzackkurs” der Klavierkompositionen Richard Wagners, vor allem beim melancholischen Pas de deux zu Isoldes Liebestod in der Klavierfassung von Franz Liszt, “robust zertrümmert von der unzulänglichen Pianistin Elizabeth Cooper” - deren Spiel andere Kritiker freilich “phantastisch” finden (Lien Kaspari) oder “fabelhaft” (Monika Fabry), “brillant” (Rolf Fath) und “hinreißend” (Martin Roeber). Alles in allem nichts als eine “banale schwule Lovestory” also, wie die Eßlinger Zeitung (v. 6./ 7.12.2003) titelt? Ein “Totentanz der schrillen Tunten” (Nordsee-Zeitung Bremerhaven v. 9.12.2003)? Das Ballett, warnt Angela Reinhardt potentielle Besucher, wirke “unglücklich und unfertig, als hätte sich Neumeier damit gequält”. Sein Problem mit Thomas Mann: “in der Bühnenversion wirkt alles zu konkret, zu irdisch, zu äußerlich” - und dann die Auswahl der Tänzer: “Fehlbesetzung”. Genau, findet auch Horst Koegler in der Stuttgarter Zeitung (v. 3.12.2003): “Kolossale Fehlbesetzung! ”, den Tadzio, den hat er sich anders vorgestellt. Mag Neumeiers Bemühen im Vergleich mit Norbert Vesaks 1983 für München choreographierten Tod in Venedig (zu Musik Gustav Mahlers und mit Richard Cragun als Aschenbach) auch sensibler und vielschichtiger erscheinen, letztlich scheitere er “an dem Versuch, Thomas Manns Novelle in die dreidimensionale Realität eines Raums zu übersetzen”. Für Andrea Kachelrieß (Stuttgarter Nachrichten v. 1.12.2003) führt er geradewegs “in homoerotischen Kitsch und Klischee: [...] in einen Altherrentraum, dessen Lederkombinationen wirken, als stammten sie aus dem Fundus eines Beate-Uhse-Shops”. - Bei der Durchsicht von über 60 Kritiken allein der Premiere fällt auf: die meisten und schärfsten Verrisse stammen erstaunlicherweise von Autorinnen; die Frauenrollen des Stücks bieten dafür keine Handhabe, sie sind weniger profiliert (drum? ), aber perfekt getanzt (eindrucksvoll: Laura Cazzaniga als Mutter und als Assistentin). Die männlichen Pflicht- Besucher urteilen merkwürdigerweise meist milder. Die wenigsten der flammenden Verdikte indes sind im engeren Sinne fachlich begründet (vielleicht mit der Ausnahme von Evelyn Finger in der Zeit v. 11.12.2003 und von Lilo Weber in der Neuen Zürcher Zeitung v. 13.12.2003). Was also löst den Furor des Feuilletons aus bei einem Stück, dem das Premierenpublikum, wie oft leicht pikiert vermerkt wird, begeisterten Beifall zollt? Ein (1) Buhruf zur Pause wurde fast dankbar registriert, aber auch dieser einsame Rufer sei nach der zweiten Halbzeit verstummt. In einem zweiten Schritt will ich mir deshalb Rechenschaft zu geben versuchen über meine eigene Wahrnehmung der Aufführung (also der Voraufführung in Baden-Baden) vor dem Hintergrund meines intertextuellen und intermedialen Interesses an dem mittlerweile arg strapazierten “Thema mit Variationen” (Mayer 1980). 2 2 Thema mit Variationen Das Stück gliedert sich in 10 Szenen, deren Folge in knapper Skizze rekonstruiert und kommentiert sei, um genauer zu verstehen, worauf die Kritik in der Sache sich gründet. Eine Art Prolog stimmt das Publikum ein auf das Wüten der Cholera in Venedig, mit einer Ernest W.B. Hess-Lüttich 298 venezianischen Geräuschcollage und einem kurzen Lautenstück von Bach. 3 Dieser Prolog sollte gewiß zunächst den Untertitel - “Ein Totentanz, frei nach der Novelle von Thomas Mann” - veranschaulichen, wurde aber dann wohl doch als entbehrlich betrachtet und in der Hamburger Aufführung zugunsten einer Pause gestrichen, ohne Einbußen für das Verständnis, aber unter Verzicht auf ein Stück schöner Musik als kataphorischen Verweis auf dessen etwas abgewandelte Wiederaufnahme im Totentanz gegen Schluß. Mir hat diese Rahmung eingeleuchtet, die Kritik begrüßte die Streichung. Die ausgedehnte erste Szene (i) zeigt Aschenbach, der hier nicht Schriftsteller ist und auch nicht Komponist wie bei Visconti, sondern ein Choreograph im Zenit seines Ruhms (bei dem Neumeier übrigens nicht, wie die Kritik sogleich wußte, nur an sich selbst dachte - Stichwort “Coming out”, “Bekenntnisstück” usw. - sondern eher noch an den russischfranzösischen Meisterchoreographen Serge Lifar), ein Tanzmeister also bei der Arbeit an einem Ballett über Friedrich den Großen. 4 Auch in der Novelle ist vom Preußenkönig die Rede, ihm ist eines der Werke des erfolgreichen, zum 50. Geburtstag geadelten Schriftstellers gewidmet: “eine klare und mächtige Prosa-Epopoe vom Leben Friedrichs von Preußen”. Das Friedrich-Projekt des Choreographen Aschenbach soll sein Meisterstück werden, sein opus summum, aber er steckt in einer schwierigen Phase und kommt nicht recht voran. Er probiert allerlei aus, verwirft es wieder, wird unterbrochen, setzt neu an, tanzt selbst vor, korrigiert sich, nimmt sich zurück und neuen Anlauf, dirigiert seine Tänzer teils nervös, teils lustlos durch den Raum. Seine ‘Konzepte’ in einer an Balanchine (“Apollo”) orientierten neoklassizistisch-kühlen Tanz-Sprache, ver-‘körpert’ durch Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, und seine ‘Skizzen’, mit graziöser Akkuratesse getanzt von Sébastien Thill und einem hochdisziplinierten Ensemble, wollen sich einfach nicht zu einem Ganzen fügen. Die Konzeption des - mißlingenden - Balletts im Ballett ist in der Tat vertrackt: wie choreographiert man mit höchster Perfektion choreographisches Scheitern? Die meisten Totentänze 299 Kritiker fanden’s eben einfach nur gescheitert. Dabei war es natürlich das Thema der Darstellung: der Künstler mit höchstem Anspruch an sich und sein Team in einer gravierenden Schaffenskrise. Wer auf die ironisch gebrochene Konzeption mit doppeltem Boden sich einließ, bemerkte die Perfektion in vielen Details. “Ich wollte die Kälte von genialen Menschen klar machen, die nach Liebe gieren, aber nicht wissen, wie sie sie erreichen oder zulassen können”, erklärt Neumeier im Gespräch mit Monika Fabry (im Hamburger Abendblatt v. 3.12.2003) und fährt fort: “Wenn einer sehr viel von sich erwartet und auch sehr viel von sich hält, entsteht Verzweiflung aus dem Gedanken, nicht mehr zu können.” Das Bild des Flöte spielenden Königs auf der Staffel, in Menzelscher Manier, passend dazu der Tanz auf der Fußspitze, von Ivan Urban als Friedrich, jung und schön, an den in Freundschaft zu Katte entbrannten Kronprinzen gemahnend, “in leichtfüßiger Eleganz und mit gestochen scharfem Klassik-Vokabular in den Raum gezirkelt” (Klaus Witzeling in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung v. 11.12.2003), aber auch von Hélène Bouchet als seine Hofballerina “La Barbarina”, beide verstört durch ständige Eingriffe des ungeduldigen Meisters, der zwischendurch noch geschmeichelt halb und halb genervt Ehrungen entgegennimmt und Photo-Sessions über sich ergehen läßt (Neumeier wurde nahezu zeitgleich vom französischen Generalkonsul Gabriel Jugnet die Ritterwürde der Ehrenlegion verliehen) - Anspannung und Erschöpfung, höchste Konzentration und selbstironisches Zitat (z.B. der Neigung Neumeiers, das Geschehen zuweilen auf einem Stuhl stehend zu verfolgen, oder Auszeichnungen mit höflich-huldvoller Geduld über sich ergehen zu lassen, Auszeichnungen einer Gesellschaft, wie ihm hoch bewußt ist, die ihn zugleich als Außenseiter im wörtlichsten Sinne aus-zeichnet: cf. Hess-Lüttich 1999). Bachs Fuge “Das musikalische Opfer”, auf die auch ein Faksimile von Bach-Noten verweist, hätte dazu kaum besser gewählt werden können: Zeichen für Pflicht und Zucht, für Disziplin und Akkuratesse, für strenge Ordnung und mathematische Genauigkeit, und Ernest W.B. Hess-Lüttich 300 dennoch spielerisch aufgelöst in perlenden Variationen eines Themas, das Bach drei Jahre vor seinem Tod von Friedrich zur Bearbeitung erhalten hatte, von demselben Friedrich, dem Leistungsethiker, der auf seine emotionale Erfüllung in Herzensdingen verzichtet zugunsten politischer Staatsraison und vernunftgelenkter Pflichterfüllung, der aber zugleich seine musischen Neigungen und intellektuellen Bedürfnisse nicht verleugnet. Lloyd Riggins als Aschenbach bei der Arbeit an seinem Werk, mit weiß gewandeter Compagnie in gleißend hellem Licht, zugleich konzentriert und zerfahren, blockiert und sich vergeblich zwingend - Evelyn Finger fühlt sich ein wenig erinnert an Thomas Manns Figur des Schiller in seiner Erzählung Schwere Stunde: “Er stand einsam wach am erkalteten Ofen und blinzelte gequält zu dem Werk hinüber” (Die Zeit v. 11.12.2003) - Gefühle und gedankliche Abschweifungen brechen ein ins strenge Regelwerk der gesuchten Konzeption, musikalisch akzentuiert durch Richard Wagners “Elegie” (1859/ 1882) und den “Notenbrief für Mathilde Wesendonck” (1856), das kaltweiße Licht wird gelb und warm, Lloyd Riggins tanzt ausdrucksstark beides: den Dompteur eckig, kantig, herrisch, den Erschöpften, Ausgelaugten fließend, taumelnd, sinkend. Fluchtgedanken, Verlockung der Ferne, durch Ablenkung neue Inspiration suchend: zum Vorspiel aus Wagners “Tristan und Isolde” (im Palazzo Vendramin zu Venedig erlebte Wagner bekanntlich jenen amour fou, der ihn zu Teilen seiner Oper inspirierte: s. Regitz 2003) begegnet Aschenbach dem “fremdländischen Wanderer” (ii), suggestiv verdoppelt durch die Zwillingstänzer Ji í und Otto Bubení ek, die hier in Jeans und Karo-Hemd auftreten wie zwei verführerische Abgesandte aus dem sündigen Castro-Viertel des San Francisco der sorglosen Vor-Aids-Zeiten. 5 Aschenbach bricht auf nach Venedig (iii), ein Gondoliere setzt ihn über zum Lido, kühl das Licht, in Blau getaucht die Kulisse, die Gedanken bei der Arbeit, dazu das Andante (Triosonate, 3. Satz) aus Bachs “Musikalischem Opfer”; Ji í und Otto Bubení ek, jetzt in langen Mänteln, sind der undurchsichtige Fährmann. Der Plan einer Gondel auf dem Zwischenvorhang zitiert zugleich Charons Nachen. Dann die erste Begegnung mit Tadzio im Totentänze 301 Trubel der Hotelhalle, genauer: ein Gewahrwerden des Knaben, flüchtig, von weitem, als klassisches Bild die Skulptur des Dornausziehers zitierend (iv). Die Szene eher hektisch, musikalisch zwischen venezianischer Geräuschkulisse in schnellem Wechsel Ausschnitte aus “Isoldes Liebestod”, der “Sonate für das Album von Mathilde Wesendonck” (1853), der “Polka” (1853), dem “Zürcher Vielliebchen-Walzer” (1854), der “Elegie” und dem 5. Wesendonck-Lied “Träume” (1857), einer Studie zu “Tristan und Isolde”. Ji í und Otto Bubení ek tanzen lasziv den “falschen Jüngling” als Pas de deux mit grazil-effeminiertem Gestus, der junge russische Tänzer Edvin Revazov, groß, blond, barfüßig, mit klarem Blick, die Wangen leicht gerötet, verströmt den frischen Glanz kraftvoller Jugendlichkeit, der sorglosen Unmittelbarkeit des noch nicht vom Wissen Gezeichneten. Ein suggestiver Kontrast zwischen der marionettenhaften Eleganz der Gesellschaft in exquisiter Garderobe (die Zwillinge als dekadent-dekoratives Männertanzpaar inklusive) und der natürlichen Anmut des polnischen Knaben inmitten des Reigens. Dann die Strandszenen (v), in hellem Sonnenlicht die Körper der Jünglinge beim Spiel, Aschenbach folgt ihm gebannt, berührt und im Innersten getroffen von einem Lächeln des Knaben. Durch dessen élan vital und flüchtig erhaschten Blick jäh belebt kehrt die Kreativität zurück, Aschenbach hat nun tausend Einfälle zu seinem Stück 6 , experimentiert mit hip-hop- Zitaten, breakdance-Elementen, Passagen aus dem Männerpart bulgarischer Volkstänze. Tadzio und sein Freund Jaschu, getanzt von Arsen Megrabian aus Armenien mit geschmeidiger Anmut, beim exakt gezirkelten Ballspiel, sie inspirieren ihn zur Choreographie der Liebe zu Wagners “Ankunft bei den schwarzen Schwänen” (1861) und “Notenbrief für Mathilde Wesendonck” (1856). Zum Bacchanal aus dem “Tannhäuser” (in der Pariser Fassung v. 1861) dann der fiebrige “Traum vom fremden Gott” (vi), um den Schlafenden quellen die Tänzer aus dem Strandkorb, in scharfem Kontrast zum geregelten Ballspiel jetzt zu orgiastischen Knäueln verknotet, die Zwillinge (diesmal als Dionysos) wieder mittendrin mit obszöner Gebärde dem Liegenden zu Leibe rückend im wörtlichsten Sinne. Sie sind es auch, die als Barbiere im folgenden Bild (vii) den sich künstlich Verjüngenden umtänzeln, unter ihren geschäftigen Händen wird er behende zu jenem Gecken modelliert, der ihm bei der Ankunft im Hotel des Bains so befremdlich begegnete. Ji í und Otto Bubení ek sind auch der schmierige Gitarrist, der (jetzt in der Maske der Rockband “Kiss”) den Gästen mit Spottliedern und Lachgesang zum Totentanz aufspielt (viii). 7 Wir haben unweigerlich die Szene aus Viscontis Film vor Augen, aber hier gerät nach der Wiederaufnahme des Prologs mit der Jethro Tull-Version von Bachs Bourrée die Szene aus den Fugen, zuckender Techno-Tanz in bleichem Leichenhallenlicht, Yngwie J. Malmsteen und Baroque & Roll, Lichtgeknatter und Disco-Show - und dann werden, von schwarzgewandeten Henkern und Todesboten, weißflutende Leichentücher darüber gezogen (ix): die Entscheidung ist gefallen, Aschenbachs “Friedrich” bleibt unvollendet, Elizabeth Cooper spielt das “Thema Regium” aus dem “Musikalischen Opfer” am Klavier mit strengem Ernst und viel Pedal 8 , die Bühne in Blau, Aschenbach und Tadzio tanzen am Meer einen letzten Pas de deux zur hoch dramatischen Liszt-Klavierversion von “Isoldes Liebestod”, ein anrührender danse macabre, die Berührung im Verlöschen, zart erwidert mit der lebensgewissen Überlegenheit der Jugend, bis Aschenbach in Tadzios Arme sinkt und sein “Blick vor Empfindung sich bricht” (Tonio Kröger) - nach dem Verklingen des letzten Tons und kurzem Innehalten liest jemand hinter mir auf den Bildungsbürger-Abonnementsplätzen in den aufbrandenden Applaus hinein seiner Begleiterin mit halblaut-ergriffenem Flüstern verständnisinnig aus dem Programmheft die hier zuverlässig assoziierte Anfangszeile aus Ernest W.B. Hess-Lüttich 302 August von Platens Tristan-Gedicht vor: “Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben ...”. 3 Tanz-Zeichen im Inter-Text Tadzio und Aschenbach begegnen einander verstehend erst im Schlußduett, aber Erfüllung und Erkenntnis bedeuten bei Mann wie bei Neumeier Tod (man erinnert seine Schwanensee- Choreographie). Sentimentaler Kitsch oder großartiges Tanztheater? Die Kritik richtete sich nicht gegen die herausragende Leistung der Tänzer, nicht gegen ihre überzeugende Ensemble-Leistung, nicht gegen die kalligraphisch klare Bildsprache des Hamburger Star- Designers Peter Schmidt, dessen schwarz-weißes Bühnenbild mit dem Element Wasser spielt und venezianische Ikonen zitiert, wenn Spiegelungen zu Trauerflor sich verwandeln und die Kontur der Gondel in knappem Aufriß erscheint, nicht gegen die sensible Licht-Regie, die den Wechsel der Stimmungen zurückhaltend ausleuchtet, nicht gegen die schönen Kostüme, die auch die Schönheit der Tänzer zur Geltung kommen ließ (statt sie wie manchmal bei Pina Bausch in Beckett-Müllsäcke ebenso gräulich wie greulich zu verhüllen), sondern fast ausschließlich gegen die choreographische Konzeption. Ein wenig erinnerte mich die Rezeption an die zunächst ähnlich wütende Reaktion der professionellen Kritik auf Viscontis Film von 1970, die allgemein als unangemessene Adaption der Novelle des Meisters abgeurteilt wurde (zur Metakritik cf. Hess-Lüttich 1990) - und heute als Meisterwerk sui generis und Modellfall gelungener Literaturverfilmung gilt. Manches Urteil über die jeweilige Darstellung der Beziehung (oder Nicht-Beziehung) Totentänze 303 zwischen Aschenbach und Tadzio klingt wie ein Echo der seinerzeitigen Verdikte, mit 30jähriger Verzögerung. Mit ein wenig Abstand, denke ich, wird man Neumeiers 126. Choreographie in seiner 30. Spielzeit ebenfalls milder beurteilen. Seine Tanz-Konzeption sucht durchaus dem (aus der Romantik übernommenen) Dualismus von Kunst und Leben, Krankheit und Gesundheit, Liebe und Tod, Jugend und Alter, Rationalität und Emotionalität, Individuum und Gesellschaft gerecht zu werden, der das Werk Thomas Manns wie ein roter Faden durchzieht in mannigfacher Gestalt (cf. Koopmann 1975, id. ed. 2001; Renner 1985). Ihm gehorchen auch die intertextuellen und intermedialen Bezüge auf den ‘apollinischen’ Bach und den ‘dionysischen’ Wagner, auf Friedrich und das “Musikalische Opfer”, auf den Venedig-Topos (Dieterle 1995) und die “Ankunft bei den schwarzen Schwänen” und das Bacchanal aus “Tannhäuser”, auf “Tristan und Isolde” und Thomas Manns Tristan-Novelle mit Spinells “Wagner-Delirium”, auf Schopenhauer und Nietzsche, aber auch auf Viscontis Film (z.B. durch das Zitat der “herrenlosen” Kamera auf Stativ), bewegend vor allem in der Schlußszene des Bilderbogens, in der wir mit dem bizarr verjüngten, von Tadzio im Todestaumel lächelnd gehaltenen Tanzmeister zugleich den zu Tode siechen Dirk Bogarde erinnern, wie er - zu den filmhistorisch für immer damit assoziierten Klängen von Gustav Mahlers Adagietto aus der 5. Sinfonie - mit schwarz verlaufender Schminke auf grell geweißter Schläfe nachschaut dem Epheben “mit flatterndem Haar, dort draußen im Meere, im Winde, vorm Nebelhaft-Grenzenlosen [...] Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen” (Mann 1967: 399). 4. Anmerkungen 1 Ich danke dem Tanzarchiv Köln und dem Ballettzentrum Hamburg für ihre Unterstützung und die Sammlung von zusammen 62 Premierenkritiken aus dem Dezember 2003 sowie einiger Abbildungen. 2 Zum Verhältnis Thomas Manns zu Venedig und dessen Niederschlag in seinem Werk cf. neuerdings u.a. Bergdolt 2003, Shookman 2003. 3 Venezianische Geräuschcollage; Johann Sebastian Bach: Bourrée aus der Suite e-Moll für Laute (ca. 1722), BWV 996, bearbeitet v. Friedrich Leinert. 4 Johann Sebastian Bach: Das Musikalische Opfer (1747) BWV 1079: Thema Regium (Flöte), Ricercar a 3; Richard Wagner, Elegie (1859/ 1882); Johann Sebastian Bach, Das Musikalische Opfer (1747) BWV 1079: Canon perpetuus super Thema Regium, Canon a 2 cancrizans, Canon a 2 violini in unisono (in 2 Fassungen), Canon a 2 per motum contrarium, Canon a 2 circularis per tonos, Triosonate, 1. Satz: Largo; Richard Wagner: Notenbrief für Mathilde Wesendonck (1856); Johann Sebastian Bach, Das Musikalische Opfer (1747) BWV 1079: Triosonate, 2. Satz: Allegro. 5 Richard Wagner / Hans von Bülow: Tristan und Isolde - Prélude. 6 Johann Sebastian Bach, Das Musikalische Opfer (BWV 1079): Thema Regium (oboe d. caccia), Canon perpetuus contrario motu, Canon a 4 quaerendo invenientis, Fuga canonica in epidiapente, Triosonate, 4. Satz Allegro; Richard Wagner: Ankunft bei den schwarzen Schwänen (1861); Johann Sebastian Bach, Das Musikalische Opfer (BWV 1079): Canon a 2 per augumentationem; Richard Wagner: Notenbrief für Mathilde Wesendonck (1856). 7 Bourrée aus der Suite e-Moll für Laute (ca. 1722) BWV 996, Yethro Thull, bearbeitet v. Ian Anderson und Yngwie J. Malmsteen Baroque & Roll. 8 Johann Sebastian Bach, Das Musikalische Opfer (BWV 1079): Thema regium, Ricercar a 6 - instrumentiert von Anton Webern (1934/ 35). Ernest W.B. Hess-Lüttich 304 5. Literaturhinweise Bergdolt, Klaus 2003: “Nicht nur die Novelle - Thomas Mann und Venedig”, in: Michael Braun & Birgit Lermen (eds.), man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Thomas Mann - Deutscher, Europäer, Weltbürger, Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern etc.: Lang, 305-320 Dieterle, Bernard 1995: Die versunkene Stadt: sechs Kapitel zum literarischen Venedig-Mythos, Frankfurt a.M./ Bern etc.: Lang Hess-Lüttich, Ernest W.B. & Susan A. Liddell 1990: “Medien-Variationen. Aschenbach und Tadzio in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, Luchino Viscontis Film Morte a Venezia, Benjamin Brittens Oper Death in Venice ”, in: id. & Posner (eds.) 1990: 27-54 Hess-Lüttich, Ernest W.B. & Roland Posner (eds.) 1990: Code-Wechsel. Texte im Medienvergleich, Opladen: Westdeutscher Verlag Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1999: “Zeichen des Stigmas. Guido Bachmann, Christoph Geiser, Josef Winkler: fremd unter anderen”, in: Jeff Bernard, Dinda L. Gorlée & Gloria Withalm (eds.), Sex and the Meaning of Life / Life and the Meaning of Sex (= Semiotische Berichte 23.1- 4), Wien: Ö GS / A AS , 155 -172 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2000: Literary Theory and Media Practice. Six Essays on Semiotics, Aesthetics, and Technology, New York: C UNY Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2003 [in diesem Band]: “The Language of music, gaze, and dance. Benjamin Britten’s opera Death in Venice ”, in: id. (ed.), Tanz-Zeichen. Vom Gedächtnis der Bewegung, Tübingen: Narr Koopmann, Helmut 1975: Thomas Mann. Konstanten eines literarischen Werkes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Koopmann, Helmut (ed.) 3 2001: Thomas Mann Handbuch, Stuttgart: Kröner Mann, Thomas 1967: “Der Tod in Venedig,” in: Die Erzählungen, vol. 1, Hamburg: Fischer, 338 -399 Mayer, Hans 1980: “Der Tod in Venedig. Ein Thema mit Variationen,” in: id., Thomas Mann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 370 -385 Renner, Rolf Günter 1985: Lebens-Werk. Zum inneren Zusammenhang der Texte von Thomas Mann, München: Fink Shookman, Ellis 2003: Thomas Mann’s Death in Venice. A Novella and its Critics, Woodbridge, Suffolk: Camden House 6. Kritiken der Voraufführung in Baden-Baden und der Premiere in Hamburg (Auswahl Dez. 2003) Albrecht, Alexandra: “Im Liebesrausch die Orientierung verloren”, in: Weser Kurier Bremen v. 9.12.2003 Bender, Ruth: “Begegnungen in leeren Bildern”, in: Kieler Nachrichten v. 9.12.2003 Berger, Andreas: “Für Schönheit sterben”, in: Braunschweiger Zeitung v. 10.12.2003 Boser, Volker: “Aschenbachs trauriges Verlangen”, in: Abendzeitung München v. 2.12.2003 Engler, Katja: “Totentanz in der Staatsoper”, in: Welt am Sonntag Hamburg v. 30.11.2003 Fabry, Monika: “Ein unfertiger Totentanz”, in: Hamburger Abendblatt v. 1.12.2003 Fabry, Monika: “Vollendung in Hamburg”, in: Hamburger Abendblatt v. 3.12.2003 Fabry, Monika: “Jubel für den zweifelnden Künstler”, in: Hamburger Abendblatt v. 8.12.2003 Fabry, Monika: “Neumeiers Unvollendete”, in: Hamburger Abendblatt v. 9.12.2003 Fath, Rolf: “Panorama eines Künstlerdramas”, in: Badische Neueste Nachrichten v. 1.12.2003 Finger, Evelyn: “Begabung macht elend”, in: Die Zeit v. 11.12.2003 Fischer, Dagmar: “Die Liebe ist doch die Erlösung”, in: Hamburger Morgenpost v. 4.12.2003 Fischer, Dagmar: “Der alte Mann und die Liebe”, in: Hamburger Morgenpost v. 9.12.2003 Fischer, Eva Elisabeth: “Ach, Gustav! ”, in: Süddeutsche Zeitung v. 9.12.2003 Fischer, Ulrich: “Tanzen wie ein junger Gott”, in: Neue Osnabrücker Zeitung v. 9.12.2003 Froese, Astrid: “Spätes Begehren”, in: Financial Times Deutschland v. 5./ 7.12.2003 Gass, Claudia: “Bilderbogen in edlem Cinemascope”, in: Schwäbische Zeitung v. 2.12.2003 Hoppe, Bernd: “Nach Novelle, Film und Oper nun als Tanztheater”, in: Neue Gesellschaft für Musik info Berlin v.17.12.2003 Ihlefeld, Claudia: “Balgende Knaben am Lidostrand”, in: Heilbronner Stimme v. 2.12.2003 Jeitschko, Marieluise: “Qualvolles Ringen”, in: Neue Westfälische Bielefeld v. 15.12.2003 Totentänze 305 Kachelrieß, Andrea: “Wovon alte Herren am Lido träumen”, in: Stuttgarter Nachrichten v. 1.12.2003 Kästner, Irmela: “Mythos und Psychologie sind die stärksten Kräfte”, in: Die Welt v. 3.12.2003 Kästner, Irmela: “Die Wirklichkeit kippt in Aschenbachs Traum”, in: Die Welt v. 9.12.2003 Kaspari, Lien: “So schön lernt der Tod tanzen”, in: Bild v. 9.12.2003 Klebes, Udo: “Festspiele Baden-Baden. Hamburg Ballett: Tod in Venedig”, in Der neue Merker. Oper + Ballett in Wien und aller Welt v. 1.12.2003 Koegler, Horst: “Tadzio ist ein Hüne aus der russischen Provinz”, in: Stuttgarter Zeitung v. 3.12.2003 Koegler, Horst: “John Neumeiers ‘Tod in Venedig’”, in: koeglerjournal (tanznetz.de) v. 1.12.2003 Linde-Lembke, Heike: “Aufwühlender Totentanz”, in: Lübecker Nachrichten v. 9.12.2003 Luber, Nike: “Der Tod tanzt in Venedig, bis der Todesengel kommt”, in: Westdeutsche Allgemeine Essen v. 9.12.2003 Mähler, Mona: “Gebannter Blick über die Schulter des Meisters”, in: Mindener Tageblatt v. 18.12.2003 Rahner, Sabine: “Zwischen Bach und Wagner, Alltag und Vision”, in: Badisches Tagblatt Baden-Baden v. 1.12.2003 Reinhardt, Angela: “Schwule Lovestory”, in: Eßlinger Zeitung v. 6./ 7.12.2003 Regitz, Hartmut: “Reif für das alte Projekt”, in: Sächsische Zeitung Dresden v. 8.12.2003 Regitz, Hartmut: “ Krisenzeit heißt nicht Schaffenskrise”, in: ballett-tanz 44/ 45 Januar 2004 Rickert, Jürgen: “Liebe, Tod und Tanz”, in: Landeszeitung Lüneburger Heide v. 9.12.2003 ro: “Ein Fest für die Sinne”, in: Pinneberger Tageblatt v. 9.1.2004 Roeber, Martin: “Totentanz zum Neumeier-Jubiläum”, in: Kölner Stadt-Anzeiger v. 1.12.2003 Roeber, Martin: “Finstere Boten im Doppelpack”, in: Offenbach Post v. 3.12.2003 Rossmann, Eckehard: “Totentanz der schrillen Tunten”, in: Nordsee-Zeitung Bremerhaven v. 9.12.2003 Rossmann, Eckehard: “ Über jeder Liebe schwebt ein Hauch von Morbidezza”, in: Frankfurter Neue Presse v. 10.12.2003 Scheuermann, Traute: “Im Zwiespalt der Gefühle”, in: Bergedorfer Zeitung Hamburg v. 9.12.2003 Schmidt, Jochen: “Der alternde Künstler: Neumeiers ‘Tod in Venedig’”, in: Die Welt v. 1.12.2003 Schulte, Bettina: “Der Choreograf und der schöne Junge”, in: Badische Zeitung Freiburg v. 1.12.2003 Staude, Sylvia: “Sonnenscheinchen Tadzio”, in: Frankfurter Rundschau v. 11.12.2003 Weber, Lilo: “Zu Ende getanzt”, in: Neue Zürcher Zeitung v. 13.12.2003 Witterstätter, Kurt: “‘Tod in Venedig’ auf allen Ebenen virtuos”, in: Offenburger Tageblatt v. 1.12.2003 Witzeling, Klaus: “Tadzio trifft Tristan”, in Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 11.12.2203 Witzeling, Klaus: “Tod in Venedig ... fernab von Viscontis Leinwandinterpretation”, in: I N K ULTUR 4/ 2003 Dez. 2003 Wolff, Marga: “Ohne Inspiration”, in: Die Tageszeitung Hamburg 9.12.2003 Zurek, Dagmar: “Schwüle Atmosphäre am Lido-Strand”, in: Mannheimer Morgen v. 23.12.2003 Theaterwissenschaft Wolfgang Schneider (Hrsg.) Kinder- und Jugendtheater in Berlin Kinder- und Jugendtheater der Welt 7, 2000, 220 Seiten, € 14,90/ SFr 26,80 ISBN 3-8233-5940-1 Diese Großstadt prägt. Und hier ist das Leben der Kinder und Jugendlichen besonders. Besonders konfliktreich, besonders problembelastet, besonders erfahrungsintensiv. Rundherum viel Beton, auch nach dem Mauerfall. Mittendrin viel Bevölkerung aus vielen Kulturen, nicht nur aus Ost und West. Berlin ist ein Laboratorium für das deutsche Kinder- und Jugendtheater. Hier entstehen nach wie vor Stücke - zum Nachspielen geeignet. Hier entstehen Produktionen - für Gastspiele in Russland wie in Indien prädestiniert. Hier entstehen Begegnungen - für die Zukunft der künstlerischen Auseinandersetzung von Bedeutung. Berlin ist eine Reise wert, wenn man an zeitgenössischem Schauspiel für Menschen ab drei Jahren interessiert ist. Berlin ist ein Mekka des Puppenspiels und des Figurentheaters. Berlin ist eine Hauptstadt des Kinder- und Jugendtheaters. Weitere Bände der Reihe Kinder- und Jugendtheater der Welt: Wolfgang Schneider (Hrsg.) Kinder- und Jugendtheater in der DDR Bd. 1, 1990, 110 Seiten, € 14,90/ SFr 26,80 ISBN 3-8233-5934-7 Wolfgang Schneider (Hrsg.) Kinder- und Jugendtheater in der Schweiz Bd. 3, 1994, 130 Seiten, € 14,90/ SFr 26,80 ISBN 3-8233-5936-3 Wolfgang Schneider (Hrsg.) Kinder- und Jugendtheater in Italien Bd. 4, 1996, 180 Seiten, € 14,90/ SFr 26,80 ISBN 3-8233-5937-1 Wolfgang Schneider (Hrsg.) Kinder- und Jugendtheater in Frankreich Bd. 5, 1998, 127 Seiten, € 14,90/ SFr 26,80 ISBN 3-8233-5938-X Wolfgang Schneider (Hrsg.) Kinder- und Jugendtheater in Österreich Bd. 6, 2000, 148 Seiten, € 14,90/ SFr 26,80 ISBN 3-8233-5939-8 Narr Francke Attempto Verlag Postf. 2567 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 75288 Internet: http: / / www.narr.de · E-Mail: info@narr.de In die Luft geschrieben Beobachtungen zur Semiose im zeitgenössischen Tanz Christina Thurner Der vorliegende Essay befasst sich mit Tanz-Zeichen. Die Beziehung von Tanz und Zeichen, von bewegter Körperkunst und Semiose ist ein schwieriges, ein immer wieder andiskutiertes, jedoch - wohl nicht zufällig - bisher nicht erschöpfend untersuchtes Thema. Eine umfassende, differenzierte Untersuchung kann und soll auch dieser Text nicht leisten. Er bietet vielmehr Beobachtungen, die sich auf drei ausgewählte zeitgenössische Choreographien beziehen. Anhand dieser Beispiele sollen essayistisch Perspektiven eröffnet und Denkanstösse gegeben werden zu einem Thema, das es gewiss noch ausführlicher und detaillierter zu analysieren gilt. Geht man von der Definition aus, Semiose sei ein dynamischer Prozess, in dem ein Zeichen seine Wirkung entfalte und in dem Zeichen wiederum auf andere Zeichen verweisen, 1 dann ist diesem Prozess stets schon Bewegung eingeschrieben. Die Bewegung, von der dieser Beitrag handelt, ist somit eine doppelte. Einerseits - es soll ja um Tanz gehen - ist konkrete Bewegung eines oder mehrerer Körper auf der Bühne gemeint. Andererseits berufe ich mich aber auch auf die Bewegung des zeichenhaften Verweisens. Diese beiden Bewegungen fallen nämlich in einigen neueren, sogenannten zeitgenössischen Tanzstücken in signifikanter Weise zusammen. In diesen Stücken reflektiert der Tanz auf der Bühne seine eigene Zeichenproduktion. Im Folgenden soll auf Beispiele solcher Reflexionen eingegangen werden. Dabei gilt es zu zeigen, wie sublim und vielgestaltig der Tanz als nonverbale, flüchtige Kunstform diesen Prozess seiner eigenen Semiose vermittelt. Der zeitgenössische Tanz emanzipiert sich dadurch von dem Klischee der poetischen, überkulturell verständlichen, weil nur gefühlsmässig zu erfassenden Körperkunst und profiliert sich als eine künstlerische Ausdrucksform, die bisweilen sogar metazeichenhafte Züge annimmt. Bevor auf die konkreten, aktuellen Beispiele eingegangen werden kann, müssen zuerst einige theoretische und historische Prämissen vorausgeschickt werden - freilich verkürzt und schematisch. Zeichenträger im Tanz sind bekanntlich die Körper im Raum, wobei ja auch Körper und Raum keine ontologisch gegebenen Grössen sind, eine Erkenntnis, die in der Theorie seit den 1970er und dann besonders in den 1980er/ 90er Jahren auf breiter Basis analysiert wird. 2 Die Körper im Raum bilden, so vermeintlich ‘natürlich’ sie auch erscheinen, ein Zeichensystem, das jeweils historisch, gesellschaftlich und kulturell bestimmt ist. Die (inter-)agierenden Körper auf der Bühne sind stets Zeichenträger, und die Zeichen, die sie produzieren, unterliegen der Macht der Diskurse. Während im 19. Jahrhundert der stilisierte Körper im Ballett das Ideal der Schwerelosigkeit anstrebte, indem er mit den Mitteln der klassischen Tanztechnik das in die Vertikale weisende Elevationsprinzip befolgte, bewegte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Christina Thurner 308 avantgardistischen Kreisen der sogenannte ,Naturkörper’ barfüssig und bodenständig im Raum. 3 Ab den 1960er/ 70er Jahren beginnt dann eine kritische und engagierte Reflexion der Körper-Bilder und ihrer Zeichenhaftigkeit, es wird mit diesen Bildern und Zeichen gespielt und experimentiert. Auch der Bühnentanz stellt die Frage nach dem Subjekt und seiner Position im Raum unter veränderten Vorzeichen: Der Körper wird fortan verstanden als (Zeichen-)‘Material’, das nicht mehr re-präsentiert, sondern vielmehr präsentiert; er stellt nicht mehr referentiell Handlungen dar, sondern agiert performativ. 4 Der “postdramatische Körper” - so Hans-Thies Lehmann - zeichne sich “durch seine Präsenz aus, nicht etwa durch seine Fähigkeit zu bedeuten”. 5 Die Hervorhebung der Materialität des Körpers im postdramatischen Theater und dessen Theorie hat sicherlich auch dem Bühnentanz zu grösserer Aufmerksamkeit verholfen. Dazu wiederum Lehmann: “Nicht zufällig ist es der Tanz, an dem sich die neuen Körperbilder am deutlichsten ablesen lassen. Ihn kennzeichnet drastisch, was im postdramatischen Theater überhaupt gilt: er formuliert nicht Sinn, sondern artikuliert Energie, stellt keine Illustration, sondern ein Agieren dar.” 6 Nun wird bei solchen Zuschreibungen zuweilen übersehen, dass sich auch im Tanz besonders ab den 1980er/ 90er Jahren ein experimentelles Genre herausgebildet hat, das sich nicht auf die Demonstration von Präsenz, auf die Artikulation von Energie beschränkt, sondern vielmehr - wie das Theater, jedoch mit noch ausgeprägter auf den Körper konzentrierteren Mitteln - das Spannungsverhältnis zwischen performativer und referentieller Funktion erprobt. Begreift Erika Fischer-Lichte das Theater als “eine performative Kunst par excellence”, weil es “den menschlichen Körper als wichtigstes Ausdrucksmittel und Instrument” einsetze, um auf die Körper der Zuschauer einzuwirken, 7 so müsste der Tanz als reines Körpertheater in der Lage sein, diesen Anspruch noch zu potenzieren. Auch im zeitgenössischen Tanz der letzten Jahre wurden neue Bedingungen für das Zuschauen geschaffen. Die Art des Vollzugs von Gesten wird hervorgehoben, das Publikum soll die Bedeutung einzelner Handlungen aufgrund spezifischer “Wahrnehmungsmuster, Assoziationsregeln, Erinnerungen, Diskurse” erschliessen. 8 Solche Vorführungen/ Performances provozieren eine Rezeption, die zwischen der Wahrnehmung von Präsenz, Repräsentation und Medialität oszilliert. Die Semiose selbst wird inszeniert, das heisst sie wird in der physisch materiellen Demonstration verschoben, verzerrt oder dynamisiert und dadurch immer wieder gestört, unterbrochen und auf ihre eigene Prozesshaftigkeit zurückgeworfen. Mit diesen Prämissen arbeiten massgebliche zeitgenössische Choreographinnen, Choreographen und Performer wie beispielsweise Meg Stuart, Anna Huber, Xavier Le Roy, Jérôme Bel, Gilles Jobin - um nur einige zu nennen - an der Aufsprengung traditionell festgefügter Re-Präsentationsmodelle, Zeichensysteme und ihrer semantischen Dimension. Anhand der Soloarbeit Soft Wear von Meg Stuart soll im Folgenden zunächst exemplarisch gezeigt werden, wie die Choreographin und Tänzerin ihren Körper als Zeichenträger zur Schau stellt, die Zeichenproduktion und Semiose jedoch kunstfertig so dynamisiert und schliesslich in einer solchen Intensität betreibt, dass die Rezipienten die Zeichen nicht mehr zu “lesen”, geschweige denn zu interpretieren vermögen. Sie werden vielmehr Zeugen eines rastlosen Verweisprozesses, in den sie als Rezipienten mit einbezogen werden. Anschliessend wird auf zwei Stücke, Braindance und The Moebius Strip, des Lausanner Choreographen Gilles Jobin eingegangen, der die bewegte Semiose über die Körpergrenzen hinaus betreibt und in seinen Produktionen ein Spannungsfeld zwischen physischer Präsenz und medialer oder ‘Virtual Reality’ aufbaut. In die Luft geschrieben 309 Abb. 1: Meg Stuart: Soft Wear (Videostill) Doch zunächst zu Meg Stuart. Ihr Solo Soft Wear ist im Rahmen eines Städteprojekts mit dem Titel Highway 101 9 entstanden. In T-shirt und Jeans steht Stuart vor dem Publikum. Zuerst bewegt sie nur leicht ihre Schultern, krümmt ihren Rücken, bevor sie sich wieder aufrichtet, ihre Brust herausstreckt, posiert, die Muskeln spielen lässt, um dann zu Boden zu gehen, mit zuckenden Hüften und wechselndem Ausdruck im Blick. Eine Flut von Zeichen produziert Meg Stuart in Soft Wear mittels ihres Körpers. Sie gibt sich übergangslos verklemmt, beklommen, cool, sexy, schlapp oder tobend und demonstriert, dass jeder Körper mehrere ist: Schamkörper, Ausstellungskörper, Lustkörper, Arbeitskörper, Sportkörper, öffentlicher und privater Körper. 10 Doch bald lässt sich angesichts der rasenden Signifikanten nichts mehr deuten, denn Bedeutung ist - dies impliziert das Kurzstück - nur noch flüchtig zu haben. Freilich werden in diesem Stück Tanz Energien artikuliert und Materialität markiert. Darin erschöpft sich das Solo jedoch bei weitem nicht. Bedeutung wird zwar nicht mehr artikuliert, vielmehr wird die Bedeutungs- und Sinnproduktion vorgeführt und reflektiert. Meg Stuart stellt so den medialen Charakter der körperlichen Bewegung zur Schau, eine spezifische Eigenschaft des Tanzes, die auch Giorgio Agamben in seinem Text Noten zur Geste geltend macht, indem er feststellt: “Wenn der Tanz Geste ist, so deshalb, weil er nichts anderes ist als die Austragung und Vorführung des medialen Charakters der körperlichen Bewegung. Die Geste ist die Darbietung der Mittelbarkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als eines solchen.” 11 Bereits der schillernde Titel von Stuarts Solo, Soft Wear, weist über die De- Christina Thurner 310 monstration der reinen Präsenz hinaus. Die Metapher für den Körper als pures Material wäre ‘Hardware’. Der homophone Ausdruck ‘Software’, auf den der Titel rekurriert, meint jedoch gerade nichtapparative, “immaterielle” Funktionsbestandteile, die zum Betrieb einer Datenverarbeitungsanlage erforderlich sind. Die immateriellen Daten sind bei Stuart die Zeichen im Prozess der Semiose. Diese trägt (‘to wear’) die Tänzerin auf ihrer körperlichen Oberfläche scheinbar leicht und geschmeidig (‘soft’) wie andere ihre Kleider. Meg Stuart stellt in ihrer Arbeit, für die Soft Wear hier als Beispiel steht, “sich und die Untersuchungsmaterie Körper mit all ihren Implikationen […] auf harte Proben. Ihre Vorstellungskraft und analytische Präzision haben unseren Blick auf diese Materie deutlich verändert.” 12 Durch die Ausstellung der Materialität von Körper-Gesten tritt deren Zeichencharakter hier nicht etwa zurück, wie Fischer-Lichte dies in Bezug auf Robert Wilsons performatives Theater feststellt, 13 vielmehr wird dieser demonstrativ an die Körperoberfläche gebracht. Meg Stuarts Arbeit zeigt gerade, dass körperliche Gesten durchaus einen Zeichencharakter haben können, der sich eben nicht - wie im traditionellen Theater und im Handlungsballett vorausgesetzt - erschöpft in der “Handlung einer Rollenfigur […], in der deren Intentionen, Stimmungen, Gefühle u.ä. zum Ausdruck kommen”, 14 der vielmehr einen dynamischen, flüchtigen Endlosprozess in Gang setzt - die Semiose. An ein solches Verfahren schliesst der Choreograph und Tänzer Gilles Jobin in seinem Stück Braindance an. 15 Er geht aber noch einen Schritt weiter und darüber hinaus und fügt der auf Verweise und auf Irritation angelegten Reflexion herkömmlicher Paradigmen gewissermassen eine sinnliche Wende bei. Braindance stellt so nicht nur eine Reflexion, sondern eine Reaktion des Bühnentanzes im Sinne einer Gegenwirkung auf Medialisierung und Virtual Reality dar. Das Stück beginnt mit einer regelrechten Demonstration der Physis. Auf der kahlen Bühne sind lediglich fünf Körper und ein paar Schaumstoffrollen zu sehen. Ohne je Handlungen und Rollenfiguren darzustellen, ohne narrativ zu werden, allein durch die Anordnung und Präsentation der Körper appelliert Jobins Choreographie eindringlich an unser Archiv von Körperbildern. Mit einer ostentativen Sachlichkeit kommen da zwei Männer immer wieder auf die Bühne, um die drei am Boden liegenden, leblos scheinenden Frauenkörper umzulagern, durch den Raum zu schleifen und ihnen die Kleider vom Leib zu ziehen. Die nackte Haut quietscht, wenn sie über den Boden rutscht; teilweise entblösst bleiben die drei Frauen liegen und erinnern so an zurückgelassene, geschändete Leichen. Oder aber es machen sich gleich vier Menschen an einer Tänzerin zu schaffen, prüfen ihren Körper auf Dehnbarkeit und Reissfestigkeit, indem sie in alle Richtungen an den Gliedern zerren. Im erbarmungslosen Licht zeichnen sich grausam alle Knochen ab und drohen sich aus ihrer Verankerung zu lösen. Unerbittliche Körperversuche sind es, die der Lausanner Künstler zur Schau stellt. Tatsächlich wird hier auf der Bühne niemand versehrt; das Schreckliche läuft in der Vorstellung der Zuschauenden ab. Diese Vorstellung ist geprägt von medial angeeignetem Wissen über Bilder aus Fernsehen, Kino oder aus dem Internet. So evoziert das Stück - gestützt auf dieses medial angeeignete Wissen der Zuschauer - Assoziationen an Krieg, Seuchen, Folter und Misshandlung, die gerade indem sie durch den physisch präsenten Körper vermittelt werden, beklemmend, ja gar körperlich schmerzhaft auf die Betrachter wirken. Es tut sich zwischen den Tanzenden und den Zuschauern, die alle im gleichen Raum anwesend sind, eine Art “Zwischenleiblichkeit” auf, wie Fischer-Lichte einen solchen Effekt in Anlehung an Merleau-Ponty nennt, ein “raum-zeitliches Kräftefeld, das zwischen den Körpern der Beteiligten entsteht und sie - wenn auch durchaus auf unterschiedliche Weise In die Luft geschrieben 311 - affiziert”. 16 Lehmann spricht mit Verweis auf Artaud vom Modell einer “Ansteckung”, einer “Teilhabe” oder einer “mimetischen Verschmelzung” zwischen Performern und Zuschauenden in der theatralen Kommunikation qua Körper. 17 Die Zuschauer assoziieren in Braindance die Zerstörung des Körpers. Dadurch erfahren sie selber eine Irritation. Diese führt zu einer Aufstörung der Sinne und zu einer Destabilisierung. Daran schliesst Jobin Szenen der Körperfragmentierung an, in denen nahezu statisch einzelne Körperpartien ins Scheinwerferlicht gerückt werden, während der Rest der Körper tatsächlich ausgeblendet ist und also als nicht existent erscheint. Diese Bilder sind ästhetisiert; ihre spezifische Ästhetik des Schaurig-Schönen erhalten sie einerseits durch die vorausgegangene Aufstörung der Sinne der Zuschauenden, andererseits durch das Zusammentreffen von einer radikalen Ausstellung der Körperpartien und einer ausgeklügelten Beleuchtung. Durch eine betonte Langsamkeit der Bewegung oder durch die Statik wird der Körper in seiner Gegenständlichkeit vorgeführt und gleichzeitig als Kunstfigur aus dem Raumzeit-Kontinuum heraus genommen. 18 Diese Szenen bei Jobin greifen auf die traditionsreiche Figur der lebenden Skulptur zurück, die - wie Lehmann dies formuliert hat - in besonderer Weise postdramatische Körperpräsenz markiert: “Wenn im Theater der 80er und 90er Jahre das skulpturale Motiv wiederkehrt, so unter ganz anderen Vorzeichen als in der klassischen Moderne. Aus dem Ideal wird ein Angstmotiv. Der Körper wird nicht um seiner plastischen Identität willen ausgestellt, sondern zur schmerzhaften Konfrontation mit dem Unvollkommenen.” 19 Die Körperbilder in Braindance verweisen im Kontext mit den Eingangsszenen des Stück stets unabwendbar, irritierend und verstörend auf konkrete oder eben virtuell “reale” Begebenheiten. 20 In dieses Vexierspiel von Ästhetisierung und Deixis baut Jobin dann seinen überraschenden Schluss des Stückes. Wie aus heiterem Himmel hebt aus dem Off eine Stimme an, das bekannte kosakische Wiegenlied zu singen, “Schlaf mein Kind, ich wieg dich leise …”, bis fast zur Unkenntlichkeit gedehnt, aber wehmütig und kräftig. Plötzlich werden die fragmentierten Körper wieder zu Einheiten hergestellt. Warm und erbarmungsvoll scheinen Musik und Licht die nackten, gebeutelten Figuren auf der Bühne gar zu liebkosen. Nach den medialen Verweisen und der formalen Ästhetisierung steht der Körper wieder als menschlicher Körper auf der Bühne und stellt sich selbstreferentiell in seiner ganzen Präsenz aus. Die Choreographie von Braindance rekurriert also deiktisch auf medial geprägte Vorstellungen und Zeichen, indem sie Reizbilder imitierend zitiert und physisch präsent macht. Die geradezu kathartische Wirkung des Schlusses rührt dann von einem plötzlichen Umschlag in der Diktion sowohl der Körper als auch der althergebrachten Partnermedien im Bühnentanz: dem Ton und dem Licht. Jobins Stück macht deutlich, was der Bühnentanz den ‘Cyborgs’ und den telematischen ‘Virtual Realities’ entgegenzuhalten hat: die Physis nämlich, die der Tanz - performativ und referentiell auf ein ganzes Archiv von Körperbildern und ihre Bedeutungen verweisend - verzerrt, fragmentiert, dem Schein nach destruiert, um sie dann unvermittelt und nur für Momente wieder als harmonische, wenn auch nicht idealische Einheit zu präsentieren. Steht am Schluss von Braindance die Wiederherstellung und Manifestation des menschlichen Körpers, so endet das Folgestück von Gilles Jobin, The Moebius Strip (2001), mit der Auflösung der Physis in der Medialität. Dieses Stück stellt radikaler und grundsätzlicher noch als Soft Wear und Braindance die Frage nach der Position des Tanzes zwischen Präsenz, Präsentation, Repräsentation, zwischen Materialität und Medialität. Auch The Moebius Strip reflektiert dabei die Zeichenproduktion und -rezeption im Tanz als einen Prozess des Ver- Christina Thurner 312 weisens. Der Titel nimmt die Spezifika dieses Prozesses metaphorisch vorweg. Das Möbiussche Band ist eine gedrehte Endlosschlaufe. Beginnt man bei einem Punkt, der Fläche in eine Richtung entlangzufahren, so kommt man nach einer Umdrehung zwar am gleichen Punkt an, jedoch auf der anderen Seite der Fläche, ohne dass man den Rand überschritten hat. Erst nach der zweiten Runde ist man am ursprünglichen Ausgangsort. Der Titel von Jobins Stück verweist also einerseits auf einen endlosen Vorgang. Andererseits steht das mathematische Phänomen des Möbiusbands, das das Vorstellungsvermögen herausfordert, für die Irritation, auf direktem Weg zunächst doch woanders als vielleicht erwartet, nämlich auf der Gegenseite, anzukommen. In Jobins Werk bezieht sich diese Irritation freilich auf die Bedingungen des Tanzes. Es geht im Stück The Moebius Strip scheinbar um die reine Bewegung, die sich aus sich heraus speist und endlos und selbstreferentiell auf nichts Äusseres verweist. Aber auch dieses Endlosband wird gedreht und hat zwei ‘Seiten’: Die eine könnte man wiederum mit der ‘reinen physischen Präsenz’, die andere mit ‘gestischer Mittelbarkeit’ umschreiben. Man gelangt im Laufe der Vorführung einmal auf diese und dann auf die andere ‘Seite’. Immer wieder stellen die Tanzenden eine Art Möbiusband, indem sie sich eine an den anderen reihen, bis jemand ausbricht aus der Leiberkette und Regung zeigt. In diesen Momenten kippt der Tanz jäh von der Demonstration der Materialität zur Repräsentation von Emotionen, Handlungen. Diese oszillierende Bewegung zieht sich durch das ganze Stück und erfasst verschiedene Bereiche. Dabei werden demonstrativ die Parameter des Tanzes erforscht: Der Raum, in dem die Choreographie sich realisiert, wird durch die Bewegung gestaltet. Mit ihren Körpern schreiben die Tanzenden zunächst Geraden in die Luft, sie legen Winkel und rastern so geometrisch den Raum. Diese flüchtige, aber in der Vorstellung eine Weile haften bleibende Rasterung füllen sie erst mit der Zeit auch mit ungeraden Linien, mit Torsionen und immer wieder mit plötzlich bedeutungstragenden Gesten wie Flucht und Verfolgung, Aggression und Abwehr. Auch die Zeit, die zweite wichtige Dimension der Choreographie, wird regelrecht ausgestellt oder, andersherum betrachtet, Zeit wird durch die Bewegung hergestellt. Durch deutliche Rhythmisierung, d.h. wiederholte Forcierung und Bremsung der Bewegung, durch Dehnung und Raffung der Sequenzen, durch den Wechsel von Aktion und Stillstand spielen die Tanzenden mit dem Faktor Zeit. Abb. 2 und 3: Gilles Jobin: The Moebius Strip Fotos: Manuel Vason In die Luft geschrieben 313 Abb. 4: Gilles Jobin: The Moebius Strip Foto: Manuel Vason Schliesslich macht die Experimentier- und Irritierlust auch vor dem Körper nicht halt. Die Tanzenden treten ab, und nur ihre Kleider bleiben liegen als leere Stellvertreter, als Zeichen, die auf die entschlüpften Körper verweisen. Der Hülle entledigt, nur noch in Unterwäsche, kehren die Körper dann zurück und treiben - ähnlich wie in Braindance - ihr Spiel zwischen Konkretion und Abstraktion, zwischen Repräsentation und Präsentation. Sie vollführen Handlungen, die in ihrer Qualität “lesbar” sind als panisch, sinnlich, sanft, grob, die sich jedoch einer bleibenden Interpretation immer wieder entziehen und zu abstrakten ästhetisierten Körpermustern im Raum werden, bis sich daraus unerwartet wieder ein Körper als Zeichenträger erhebt, auf andere Zeichen verweist usw. Gegen Ende des Stücks werden weisse Blätter am Boden ausgelegt, so dass eine Art Matrix entsteht. Auf dieser tanzen die Performer und erscheinen in diffusem Licht wie virtuelle Gestalten. Der Stroboskopeffekt stört ausserdem die Kontinuität ihrer Bewegung. Vor den Augen der Zuschauenden verschwimmt und flackert das Geschehen, verzerren sich die Konturen. Und wie zum Schluss wiederum nur noch die Kleider als Stellvertreter daliegen, Christina Thurner 314 muss man feststellen, dass man beim Schauen förmlich den Übergang verpasst hat vom materiellen Objekt, dem Körper der Tanzenden, zum referentiellen Zeichen, den leeren Kleidern. Durch diese letzte Irritation der Wahrnehmung wird - quasi als optisches Finale - noch einmal der fliessende Übergang von ‘Realität’ zu ‘Virtualität’, von ‘physischer Präsenz’ zur ‘Medialität’ vorgeführt. Mit diesen drei Beispielen sollte gezeigt werden, inwiefern der Tanz seine Bedingungen und seine gattungsspezifischen Möglichkeiten in unserer Zeit reflektiert und als Reflexion auf die Bühne bringt. Es ging auch darum, auf die meines Erachtens noch zu wenig untersuchte massgebliche Stellung des zeitgenössischen Tanzes - oder zumindest einer bestimmten Richtung desselben - innerhalb des postdramatischen oder performativen Theaters aufmerksam zu machen. So vereint die Kunstform ‘Tanz’ traditionellerweise zwei Merkmale, die in letzter Zeit von Theaterwissenschaftlern wie Erika Fischer-Lichte und Hans-Thies Lehmann (einmal mehr) als paradigmatisch für eine neue Theatralität geltend gemacht werden: Er operiert mit dem menschlichen Körper als zentralem Medium, und er hat gleichzeitig einen flüchtigen, transitorischen Charakter. Indem der zeitgenössische Tanz in evidenter Weise von seinen Mitteln Gebrauch macht, um diese Merkmale auszustellen und regelrecht zu inszenieren, kommt ihm eine Bedeutung zu, auf die in den Theater- und Kulturwissenschaften zwar immer wieder hingewiesen wird, die jedoch für die Bestätigung dieser Thesen noch wenig fruchtbar gemacht worden ist. Wie ich gezeigt habe, gilt für diesen Tanz namentlich auch, was Fischer-Lichte für das Theater formuliert hat: “Indem Theater mit überlieferten Vorstellungen, Regeln und Strategien von Performance, Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung spielt, […] definiert es diese Begriffe neu.” 21 Freilich wird ‘Theater’ hier auch als Überbegriff für verschiedene performative Künste und für das Ereignis der theatralen Aufführung gebraucht. Indem solche Aufführungen “mit ihrer Materialität, Medialität und Semiotizität spielen, spielen sie […] auf folgenreiche Weise zugleich mit den Konzepten von Performativität und Ereignishaftigkeit, die sie sowohl erweitern als auch konkretisieren. […] Aufführung erscheint als ‘Ort’, an dem geläufige und für unsere Kultur grundlegende Gegensätze wie die zwischen Signifikant und Signifikat, Sinnlichkeit und Sinn, Wirkung und Bedeutung, Präsenz und Repräsentation als Gegensätze aufgehoben werden, ohne dass doch verbleibende Differenzen verwischt würden. Allerdings erfahren diese Differenzen im Spiel durch das Spiel immer neue Verschiebungen.” 22 Eine solche Art von Aufführung bieten alle drei hier geschilderten Werke zeitgenössischen Tanzes. Spielerisch stellen und behandeln sie zeitgemäss theoretische Fragen. Sie können so - in Anlehnung an Mieke Bal - als “theoretische Objekte” bezeichnet werden, in denen sich Theorie und Praxis verbindet und die eine “Art des Theoretisierens” evozieren, die dynamisch ist und “nicht zu einer Schlussfolgerung von Wissen-als-Besitz führt, sondern zu einer fortlaufenden Entdeckung von Unwissenheit, welche […] der Schlüssel zu produktivem Theoretisieren jenseits der Theorie/ Praxis-Scheide ist.” 23 Alle drei hier behandelten Stücke betreiben so auch ein offenes Spiel der Semiose. Dieses führt, wie beschrieben, nicht zu einem Schluss, zu einem Endpunkt der Analyse, sondern zu neuen Fragen, zu offen gelegten Differenzen und Irritationen. Die Zeichen, die in diesen Arbeiten produziert und inszeniert werden, sind zwar flüchtig in die Luft geschrieben, dennoch gilt: “Der unendliche Prozess der Semiose, in dem Zeichen durch Verweise auf andere Zeichen mit Zeichen verbunden sind und aus Zeichen […] neue Zeichen […] entstehen, ist ein dialogischer Prozess.” 24 In den Stücken eröffnet sich zwischen Performern und Zuschauern ein dialogisches Feld, in dem Bedeutungen erzeugt und nachhaltig verhandelt werden. Dieses Feld - Fischer-Lichte nennt ein solches ein “liminales Feld” - “ist nur In die Luft geschrieben 315 Abb. 5: Gilles Jobin: Braindance Foto: Isabelle Meister insofern ein semiotisches Feld, als sich auf ihm eine sich unendlich fortsetzende bzw. fortzeugende Semiosis entfaltet, nicht aber in dem Sinn, dass hier ganz bestimmte Bedeutungen hervorgebracht würden. D.h. das liminale Feld ist zu verstehen als Frei- und Spielraum, welchen die künstlerische Performance allen Beteiligten - Performern und Zuschauern - eröffnet, um […] mit allen möglichen Relationen und Bedeutungen experimentieren […] zu können.” 25 Sowohl der semantisch vervielfältigte Körper in Meg Stuarts Soft Wear als auch die ostentativen Körperversuche in Gilles Jobins Braindance und die physisch medialen Endlosverweise in The Moebius Strip sollen hier als Beispiele dafür stehen, wie der Tanz, der lange Zeit bezüglich Beachtung und Ansehen anderen Künsten nachstand, aus seinen charakteristischen Merkmalen und Möglichkeiten plötzlich Paradigmen entstehen lässt, die im Fokus der Theorie stehen. Oder anders herum formuliert: Die Theorie hat sich in das liminale Feld der Tanzperformances vorgewagt, sich dort inspirieren lassen, und sie kann da, wenn sie sich einlässt, wohl noch einiges in Erfahrung bringen. Anmerkungen 1 Vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, 227, in Anlehnung an Charles Sanders Peirce: “Semiose ist der Prozess, in dem ein Zeichen seine Wirkung entfaltet. […] Der dynamische Prozess der Semiose […] ist ein unendlicher Prozess des Verweisens von Zeichen auf andere Zeichen im Verlauf der Interpretation dieser Zeichen.” Vgl. dazu auch die eher Anwender orientierte Definition von Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 164: “Als eine Christina Thurner 316 Semiose ist der Prozess einer Zeichenverwendung (als Produkt oder Rezeption) definiert, als dessen Resultat Bedeutung erzeugt wird. Dieser Prozess vollzieht sich in den drei semiotischen Dimensionen: der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension.” 2 Vgl. zum Körperkonzept beispielsweise die Studie von Rudolf zur Lippe, Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Reinbek bei Hamburg 1988, die grundlegende Beiträge seines zweibändigen Werkes Naturbeherrschung am Menschen, Frankfurt a.M. 1974, zur Körpergeschichte zusammenfasst. Entscheidend geprägt, neu gedacht und radikalisiert wurde der Körperdiskurs später in der Gender- Debatte, so zum Beispiel von Judith Butler in ihrem Buch Bodies that Matter, in der deutschen Übersetzung: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997. Butler beruft sich dabei u.a. auf Michel Foucault. Vgl. zur Wahrnehmung und zu den Verhandlungen des Körpers in der Moderne auch Brandstetter, ReMembering the Body. Zur Geschichte der abendländischen Raumtheorien informiert u.a. Max Jammer, Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, Darmstadt 1960. 3 Vgl. zu den Körperkonzepten im Tanz auch Brandstetter, Bewegung, die unter die Haut geht; und dies., Intervalle, hier 225. 4 Vgl. zum Verhältnis von referentieller und performativer Funktion des Theaters auch Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, 14ff. 5 Lehmann, Postdramatisches Theater, 368. (Hervorhebung im Original) 6 Lehmann, Postdramatisches Theater, 371. (Hervorhebung im Original) 7 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 16. (Hervorhebung im Original) 8 Vgl. dazu auch Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, 16, die diesen Vorgang wiederum in Bezug auf das performative Theater beschrieben hat. 9 Das Projekt wurde im März 2000 im Kaaitheater in Brüssel begonnen und dann in Wien, Paris, Rotterdam und Zürich fortgeführt. 10 Vgl. zum vielfachen Körper auch Lehmann, Postdramatisches Theater, 362. 11 Agamben, Noten zur Geste, 103. (Hervorhebung im Original) 12 Ploebst, no wind no word, 35. 13 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 147: “Das Betonen der Materialität (im Sinne ihrer Körperlichkeit, Räumlichkeit) der Geste lässt ihren möglichen Zeichencharakter zurücktreten.” 14 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 147. 15 Braindance wurde 1999 uraufgeführt. 16 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 150. Vgl. dazu Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, insbes.187f.: “Die Reversibilität des Sichtbaren und des Berührbaren öffnet uns zwar noch nicht dem Unkörperlichen, aber doch einem zwischenleiblichen Sein, einem präsumptiven Bereich des Sichtbaren und des Berührbaren, der sich weiter ausdehnt als die Dinge, die ich gegenwärtig berühre und sehe. Es gibt einen Zirkel […] von Sichtbarem und Sehendem, […] es gibt sogar Einschreibung des Berührenden in das Sichtbare, des Sehenden in das Berührbare, und umgekehrt gibt es schliesslich eine Ausbreitung dieses Austauschs auf alle Körper desselben Typus und Stils […].” 17 Lehmann, Postdramatisches Theater, 369. 18 Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, 374. 19 Lehmann, Postdramatisches Theater, 379f. 20 Das Stück Braindance ist erklärtermassen eine Weiterführung von Gilles Jobin Choreographie A+B=X. Schon dort geht es um Körperstudien; während jene ästhetisch kühl von jeglichem Menschlichen abstrahieren, kommt in Braindance eben dieser Aspekt wieder hinzu, und aus den kunstvollen, verblüffenden Spielereien werden regelrechte Versuche an Körpern. 21 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 290. 22 Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 343. 23 Bal, Performanz und Performativität, 206. 24 Nöth, Handbuch der Semiotik, 227. 25 Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, 27. Literatur Agamben, Giorgio: Noten zur Geste. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): Postmoderne und Politik. Tübingen 1992. S. 97-107. In die Luft geschrieben 317 Bal, Mieke. Performanz und Performativität. In: Huber, Jörg: Kultur - Analysen. Interventionen von Dirk Baecker, Mieke Bal u.a. Zürich 2001. S. 197-241. Brandstetter, Gabriele: Bewegung, die unter die Haut geht - Körperkonzepte im modernen Tanz. In: Der Tanz der Dinge. Schweizer Tanzmagazin, März-Mai 1998. S. 4 -7. Brandstetter, Gabriele: Intervalle. Raum, Zeit und Körper im Tanz des 20. Jahrhunderts. In: Bergelt, Martin; Völckers, Hortensia (Hgg.): Zeit-Räume. Zeiträume - Raumzeiten - Zeitträume. München, Wien 1991. S. 225 -269. Brandstetter, Gabriele; Völckers, Hortensia (Hgg.): ReMembering the Body. Ostfildern-Ruit 2000. Fischer-Lichte, Erika: Auf dem Weg zu einer performativen Kultur. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Bd. 7, Heft 1/ 1998. S. 13 -29. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen, Basel 2001. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg. v. Claude Lefort. Übers. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 1994 (= Übergänge Bd. 13). Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. Ploebst, Helmut: no wind no word. Neue Choreographie in der Gesellschaft des Spektakels. New choreography in the society of the spectacle. 9 Portraits: Meg Stuart, Vera Mantero, Xavier Le Roy, Benoît Lachambre, Raimund Hoghe, Emio Greco / PC, Jo-o Fiadeiro, Boris Charmatz, Jérôme Bel. München 2001. A. Francke Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Tel.: (07071) 9797-0 · Fax: (07071) 75288 Oliver Jahraus Amour fou Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper, Film Zum Verhältnis von Liebe, Diskurs und Gesellschaft im Zeichen ihrer sexuellen Infragestellung 2004, 267 Seiten, 5 Abb., € 58,-/ SFr 98,- ISBN 3-7720-8005-7 Kulturwissenschaft Die Amour fou radikalisiert die Liebe so weit, dass sie die Individuen aus ihren kulturellen und gesellschaftlichen Ordnungen herauslöst. Ihr Wahnsinn besteht darin, dass sie Liebe in Tod überführt und Soziales asozial werden lässt. Auf der Basis von Systemtheorie und Diskursanalyse wird sie, beginnend im 18. Jahrhundert, vor dem transzendentalen Horizont sozialer Ausdifferenzierung und reflexiver Selbstbegründung des Subjekts rekonstruiert. Die 20 Analysen fragen immer auch nach der kulturellen Bedeutung der Amour fou und zeigen: Fou wird die Amour erst durch ihre Medien. Das Spektrum erstreckt sich von Goethes Werther und Wahlverwandtschaften über Werke von Kleist, E.T.A. Hoffmann, Hebbel, Mérimée, Bizet, Flaubert, Wagner, Wedekind, Th. Mann, Visconti, Bataille, Nabokov, Kubrick, Réage, Bachmann, Schroeter, Jelinek, Haneke, Bertolucci, Kureishi, Chéreau, Hart, Malle, Duras, Annaud, Colombani bis hin zu einem gegenwärtigen Bestseller wie Shalevs Roman Liebesleben. Tanz, Geschlecht, Identität Dagmar Schmauks 1. Einleitung Die Verwandlung von Lebewesen ist ein Topos zahlreicher Erzählungen in allen Kulturen. Zeus entführt Europa in Gestalt eines Stiers, die sieben bösen Brüder verwandeln sich zur Strafe für ihre Ungezogenheit in die sieben Raben des gleichnamigen Märchens, und Gregor Samsa wird über Nacht zu einem riesigen Käfer. Textuelle Medien können es der Phantasie des Lesers überlassen, sich die Teilschritte solcher Verwandlungen vorzustellen, während die visuellen Medien selten darauf verzichten, sie - zunehmend computergestützt - im Detail vorzuführen. Jeder kennt suggestive Beispiele: der Kiefer des Helden stülpt sich vor, seine Zähne werden lang und spitz, die Haut bedeckt sich mit zottigem Fell, die Hände verkrümmen sich zu Klauen, und die Gestalt des Werwolfs wird sichtbar. Auch in vielen Ritualen vom Schamanismus bis zur Eucharistie ist der Gedanke der Verwandlung grundlegend. In diesem Artikel geht es um Verwandlungen, die eine Person absichtlich bewirkt, indem sie die Aufmachungs- und Verhaltenskodes des “Zielobjekts” übernimmt. Der Wunsch nach solchen Verwandlungen hat vielfältige Ursachen, von denen es abhängt, mit welchen Methoden die Verwandlung bewerkstelligt wird und wie ihr Ergebnis beschaffen sein soll. Einige besonders wichtige Einteilungskriterien sind die folgenden: • vorübergehende vs. dauerhafte Verwandlung, • spielerische vs. ernsthafte Verwandlung, und • als solche signalisierte vs. heimlich vorgenommene Verwandlung. Ausgangspunkt des Artikels ist eine kleine Tanzszene, in der eine Frau eine Spieldosen- Ballerina imitiert, also die Grenze zwischen dem Belebten und dem Unbelebten spielerisch überschreitet (Abschnitt 2). In anderen Fällen spielt ein Schauspieler eine andere Person, die auch das jeweils andere Geschlecht haben kann. Abschnitt 3 stellt dar, wie komplex solche Verwandlungen sind, denn aus Sicht des Betrachters sind sie nur dann glaubwürdig, wenn außer den statischen Zeichensystemen (Kleidung, Make-Up, Haartracht usw.) auch die dynamischen (Stimme, Mimik, Gestik usw.) in gleichgerichteter Weise manipuliert werden. Andererseits muss der Akteur den semiotischen Unterschied zwischen “sich” und seiner Rolle bewusst offenhalten, also erkennbar jemand sein, der erkennbar etwas anderes darstellt. Denn sobald dieser Unterschied nicht mehr auszumachen ist, liegt der völlig anders geartete Fall der absichtlichen Täuschung vor, von dem in Abschnitt 4 einige Fälle skizziert werden. Abschließend untersucht Abschnitt 5 einen besonderen Fall von Verwandlung, nämlich den so genannten “Geschlechtswechsel” als Zeichenprozess. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 320 2. Die “Urszene” Den ersten Auslöser für die folgenden Überlegungen erhielt ich im Sommer 1995 in Salzburg (vgl. Schmauks 1995). Wer sich damals durch die Touristenscharen erfolgreich bis in die Getreidegasse durchgekämpft hatte, traf mit etwas Glück in der Nähe von Mozarts Geburtshaus auf Miriam’s Music-Show, die ihn für muhende Plüschkühe und allzuviele Mozartkugeln entschädigte. Die kleine Ein-Frau-Show dauerte nur wenige Minuten und ist rasch beschrieben: eine als Spieldosen-Ballerina verkleidete Frau tanzt zu Spieldosenmusik, steigt von ihrem Podest herab, geht ein paar Schritte und treibt dabei ihren Schabernack mit den Zuschauern, der nicht nur überaus reizvoll ist, sondern auch Anlass für spannende semiotische Überlegungen bietet. Der Rahmen für diese Überlegungen wird bereits durch die Angabe “Miriam’s Music- Show” festgelegt, die der Zuschauer auf einem Plakat über dem Tanzpodest lesen konnte. Er erfährt, wie die Akteurin heißt (“Miriam”), dass es sich um eine Aufführung handelt (“Show”) und welcher Art diese Aufführung ist (“Music”). Die Situation scheint auf den ersten Blick trivial: Der Zuschauer sieht eine Frau, die als mechanische Puppe auftritt, die wiederum eine Frau simuliert. Um den Reiz dieser Vorführung zu erhellen, wird im Folgenden zunächst die allgemeine Struktur von mehrstufigen Darstellungen und anschließend der Sonderfall der Verwechslungen von Belebtem und Unbelebtem skizziert. Sobald vielfältige Darstellungsverfahren bereitstehen, sind mehrstufige Darstellungen möglich, die dem Rezipienten besondere Verstehensleistungen abfordern. Die einfachste Variante sind Darstellungsketten ohne Verzweigungen. Ein einprägsames Beispiel hierzu sind die vielfältigen Umsetzungen von Dürers Zeichnung Betende Hände (1508). Die unterste Ebene sind hier die abgebildeten menschlichen Hände selbst, wobei es unerheblich ist, ob Dürer mit einem Modell oder aus der Erinnerung gearbeitet hat. Vor allem nach dem 2. Weltkrieg wurde Dürers Zeichnung als eine “wahre Ikone der Deutschen” (Decker 1989: 282), die “in Zeiten kollektiver Identitätskrisen eine Orientierungshilfe zu geben vermochte” (ebenda 284), zur Vorlage zahlloser Reliefdarstellungen, die als Wandschmuck gedacht waren. Einige Reliefs imitieren Edelmetalle wie Silber oder Bronze einschließlich der typischen Bearbeitungsspuren, so dass der Hintergrund wie gehämmert wirkt, andere sind Kunststoffabgüsse von geschnitzten Modellen. Alle diese Beispiele geben also die zweidimensionale Zeichnung als dreidimensionales Relief wieder. Eine weitere Stufe fügt Decker (1989) selbst hinzu, denn durch die Photos der Reliefs kehrt die Darstellung wieder zur ursprünglichen Zweidimensionalität zurück. Semiotisch wesentlich komplexer sind Darstellungsketten mit Verzweigungen. Ein wohlbekanntes Beispiel hierfür sind gestellte Urlaubsphotos, auf denen eine Person den Ort der Aufnahme auf einer ausgebreiteten Landkarte zeigt. Auf solchen Photos ist die Landschaft nämlich zweifach zu sehen: als Darstellung erster Stufe im Hintergrund des Photos, und als Darstellung zweiter Stufe auf der vom Photo abgebildeten Landkarte. Während in der Reihe <Landschaft - Landkarte - Photo> alle beteiligten Objekte unterschiedlichen Objekttypen angehören, liegt die Besonderheit der hier untersuchten Music-Show darin, dass in der Reihe <Frau - Puppe - Frau> der Objekttyp <Frau> zweimal auftritt. Dennoch liegt semiotisch gesehen keine Rückkehr zum Ausgangspunkt vor, weil für jede Ebene bestimmte Verweisbezüge charakteristisch sind. Das Erkennen dieser Mehrstufigkeit bewirkt, dass man die Aktivitäten der Akteurin Miriam nicht als normale Handlungen (gehen, winken, zwinkern) interpretiert, sondern als Darstellungen von Darstellungen solcher Handlungen. Tanz, Geschlecht, Identität 321 Um diese Zweistufigkeit besser zu verstehen, empfiehlt sich ein Blick auf die filminterne Konstellation des Spielfilms Victor - Victoria (Blake Edwards 1982), in dem ebenfalls der Ausgangszustand nur scheinbar wiederhergestellt wird. Die Heldin des Films, die arbeitslose Schauspielerin Victoria (gespielt von Julie Andrews), gibt vor, der Mann Victor zu sein, der wiederum in einem Nachtclub als Damenimitator auftritt. Durch diese “Rückkehr zum Ausgangsgeschlecht” herrscht aber keineswegs Aufrichtigkeit, vielmehr verursacht die zweifache Manipulation der eigenen Geschlechtsrolle eine Vielzahl von emotionalen Turbulenzen. Da dem Show-Publikum nur die zweite Vorspiegelung bekannt ist, Victoria aber emotional eine heterosexuelle Frau bleibt, kommt es zu gegenläufigen Missverständnissen. Einerseits erhält sie in ihrer Rolle als (attraktiver) Mann unerwünschte Anträge sowohl von Frauen als auch von homosexuellen Männern, andererseits wird ihre eigene Zuneigung zu einem machohaften Gangsterboss nicht erwidert, da dieser sie zwar als Frau attraktiv fand, sich aber degoutiert (vor sich selbst schaudernd? ) von ihr abwendet, sobald sie sich nach ihrem Auftritt (scheinbar) als Mann zu erkennen gibt. Da der von Victoria begehrte Mann jedoch relativ früh ihr wahres Geschlecht herausfindet, wird im Film nicht die radikale Frage gestellt, ob das Geschlecht des Anderen für die erotische Liebe nicht belanglos ist. Für das Film-Publikum besteht der Witz darin, dass es von Anfang an auch die erste Vorspiegelung kennt, die dem Show-Publikum verborgen bleibt. Als weiterer Rahmen kommt die filmexterne Konstellation hinzu, in der Julie Andrews die mehrschichtige Gestalt <Victor - Victoria> spielt (siehe Abbildung 1). filmintern filmextern dargestellte Sängerin dem Show-Publikum bekannte Vorspiegelung Damenimitator Victor Julie Andrews dem Film-Publikum bekannte Vorspiegelung arbeitslose Schauspielerin Victoria Abb. 1: Die semiotische Struktur des Films Victor - Victoria. Dagmar Schmauks 322 Im Gegensatz zu den Vorspiegelungen Victorias, die innerhalb des menschlichen Bereichs bleiben, tut Miriam so, als sei sie eine Spieldosen-Ballerina, also etwas Unbelebtes. Obwohl die Unterscheidung von Belebtem und Unbelebtem noch elementarer ist als die in Victor - Victoria spielerisch manipulierte Geschlechtlichkeit, wird auch sie in zahlreichen Verwirrspielen in Frage gestellt. Unklare Fälle lösen starke Emotionen aus, deren Art von der jeweiligen Situation abhängt. Für eine genauere Beschreibung solcher Verwechslungen erweist es sich als hilfreich, die Termini “falsch positiv” und “falsch negativ” aus der medizinischen Diagnostik zu übernehmen. Wird zum Beispiel das Blut eines Patienten auf bestimmte Viren hin untersucht, so gibt es insgesamt vier Fälle. In den beiden unproblematischen wird das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein der Viren korrekt nachgewiesen. Problematisch sind demgegenüber die beiden Abweichungen zwischen dem wirklichen Zustand und dem Befund: im falsch positiven Fall gibt der Test fälschlicherweise das Vorhandensein von Viren an, während er im falsch negativen Fall ihr Vorhandensein übersieht (bzw. fälschlicherweise ihr Nichtvorhandensein behauptet). Wenn gefragt wird, ob ein Gegenstand lebendig ist, so erweist sich in falsch positiven Fällen etwas vermeintlich Lebendiges bei genauerer Prüfung als unbelebt. Hier betrachtet werden allerdings nur Fälle, in denen etwas Lebendiges in anderem Material nachgeahmt wurde (zum übergeordneten Problem des Verwechslung von Original und Darstellung vgl. Schmauks 2001); das ganz anders gelagerte Problem der Todesfeststellung mit ihren heute oft nur noch instrumentell nachweisbaren Kriterien wird ausgeklammert. Das entscheidende Kriterium hier ist die Tatsache, dass eine Reaktion auf unsere Interaktionsversuche ausbleibt: die vermeintliche Katze ist nur ein “naturgetreues” Spieltier aus Plüsch, und die von uns in einem schlecht beleuchteten Laden um Hilfe gebetene vermeintliche Verkäuferin ist nur eine Schaufensterpuppe. Umgekehrt erweist sich in falsch negativen Fällen etwas vermeintlich Lebloses als lebendig, wobei das Kriterium hier in Eigenbewegungen oder Lautäußerungen besteht. Wie stark uns dies beunruhigt, hängt unter anderem von den beteiligten Sinnesmodalitäten ab. Bei bloßem Sichtkontakt sind wir nur fasziniert, etwa wenn wir erstmals Blattheuschrecken in einem Terrarium sehen. Manchmal werden Fehlannahmen ganz gezielt zuerst suggeriert und dann widerlegt, etwa im Pariser Musée Grévin, an dessen Kasse ein bretonischer Bauer steht, der erkennbar eine Wachsfigur ist, während im Halbdunkel der Innenräume eine vermeintliche Replik dieser Figur unvermittelt den geschockten Besucher anspricht. Manche Scherzartikel oszillieren eine Weile zwischen beiden Deutungen, etwa die haarige Spinne, die zwar spontan als Nachahmung erkannt wird, sich dann aber doch bewegt, so dass wir erst nach Entdecken ihres Antriebssystems endgültig beruhigt sind. Berührungskontakte mit dem nur scheinbar Leblosen können tiefes Entsetzen auslösen, denn es widerspricht unseren grundlegendsten Überzeugungen, dass unbelebte Objekte (einschließlich von Pflanzen) sich plötzlich heftig bewegen. Zum Glück für unsere geistige Gesundheit finden wir in der Regel eine Erklärung, die in unser Weltbild passt: der in unserer Hand “zappelnde” Pflanzenteil ist eine Samenschote des Springkrauts, und der sich beim Herausziehen heftig “sträubende” Holzsplitter in unserer Haut ist eine Zecke. Was aber würden wir tun, wenn unser Schreibtisch wirklich (und nicht nur im Traum) aus dem Zimmer stelzen oder ein Buch mit Flügelschlag durchs Fenster verschwinden würde? Wie tief die Differenz von Leben und Tod mit unserer Körperlichkeit zusammenhängt, wird durch die Tatsache belegt, dass Eigenbewegung zum Fetisch werden kann, und zwar ebenfalls in ernsthaften und spielerischen Varianten. Bei Fesselungsspielen wird je nach Tanz, Geschlecht, Identität 323 Besetzung der eigenen Rolle völlige Kontrolle oder völlige Unterwerfung angestrebt, während im pathologischen Extremfall der Nekrophilie ein Partner gesucht wird, der gar keinen Einfluss ausüben kann. Das Grauen vor dem vermeintlichen Lebendigwerden von Objekten löst sich also auf, sobald die zugrundeliegende Fehlannahme erkannt wird. Im umgekehrten Fall des Übergangs vom Leben zum Tod gibt es diesen Trost nicht. Wer könnte je den Moment vergessen, da ein Mensch, den wir zuvor noch als warm und atmend erfahren haben, in den Bereich der toten Objekte überwechselt? Aber selbst dieser Schmerz bewirkt nicht unbedingt, dass wir die grundlegende Grenze aufheben möchten. Hinsichtlich der Frage, ob Tote auferstehen sollen, legen die Erzählungen von Lazarus und Jairi Töchterlein die entgegengesetzte Antwort nahe wie einschlägige Gruselstories. Das Schaudern vor Vampiren, Zombies und anderen Untoten hat letztlich dieselbe Quelle wie das flüchtige Unbehagen beim Essen, wenn das Wiener Schnitzel auf unserem Teller vorübergehend das Bild eines lebenden Kälbchens hervorruft. 3. Schauspielerische Verwandlung als Zeichenprozess Nach diesen Vorüberlegungen kann nun im Detail herausgearbeitet werden, wie Miriam ihre “Verwandlung” in eine Spieldosen-Ballerina bewirkt. Wie jeder Schauspieler muss sie die statischen und dynamischen Merkmale des Dargestellten übernehmen, um aus Sicht des Zuschauers glaubwürdig zu wirken. Solche Verwandlungen können unter anderem danach gegliedert werden, wie groß der “ontische Abstand” zwischen dem Schauspieler und seiner Rolle ist. In den meisten Theaterstücken stellt er einen anderen (realen oder fiktionalen) Menschen dar, der ein anderes Alter oder das jeweils andere Geschlecht haben oder auch (textintern) in einer anderen Epoche angesiedelt sein kann. In allen Fällen besteht die Verwandlung darin, die Aufmachungs- und Verhaltenskodes der dargestellten Person zu übernehmen (vgl. Posner 1994). Vergleichsweise einfach ist dies bei den statischen Zeichensystemen wie Kleidung, Make-Up und Haartracht, die mit Hilfe von kostümkundlichen Quellen rekonstruierbar sind. Wesentlich anspruchsvoller ist es, die dynamischen Zeichensysteme in gleichgerichteter Weise zu manipulieren. Der Mensch verfügt ohne weitere Hilfsmittel über zwei Zeichensysteme, die ausschließlich mit dem Körper produziert werden, nämlich über das verbale und das nonverbale Verhalten. Das verbale wird vokal-motorisch durch die Stimme produziert, das nonverbale rein motorisch durch Körperbewegungen. Diese werden noch einmal in Teilbereiche gegliedert, etwa nach den beteiligten Körperteilen in Mimik, Blickverhalten und Gestik. Weitere Bereiche wie Berührungs- und Distanzverhalten gehen von Konstellationen mehrerer Objekte aus. Einschlägige sprachliche Beschreibungen unterscheiden verschiedene Stufen der Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle. Im neutralen Fall “spielt” jemand eine Rolle nur, bei tiefer gehender Identifikation “geht er in seiner Rolle auf”. Ein Schauspieler kann jedoch nicht nur andere Menschen “verkörpern”, sondern auch Tiere, Pflanzen oder Außerirdische. Ein Grenzfall ist die Darstellung von etwas Unbelebtem. Sie ist nur dann eine schauspielerische Herausforderung, wenn sich das betreffende Objekt in irgendeiner Weise “verhält”, also Bewegungen oder Laute produziert. Ein Paradebeispiel, nämlich die Darstellung einer Spieldosen-Ballerina, liegt in Miriams Show vor. Im Unterschied zum Show-Publikum im Film Victor - Victoria werden die Zuschauer hier nicht über die Identität der Heldin getäuscht. Bereits das Plakat stellt eine Aufführung in Dagmar Schmauks 324 Aussicht (vgl. Abschnitt 2), ebenso Miriams Ballettkostüm, und ihr sichtbares Umhergehen vor der Show lässt keinen Zweifel daran, dass sie ein echter Mensch ist. Die “Verwandlung” in eine Spieldosen-Ballerina setzt ein, sobald Miriam auf ihrem Podest steht und die Spieldosenmusik erklingt. Spieldosen besitzen einen aufziehbaren Antrieb, dessen Wirkungsweise einen mechanischen Eindruck in beiden produzierten Zeichensystemen bewirkt: dem Stakkotahaften der Musik entsprechen die ruckartigen Bewegungen der Tanzpuppe. Der Reiz der Darstellung besteht semiotisch gesehen darin, dass gerade die Simulation des Mechanischen eine besondere Körperbeherrschung erfordert, und dass die sichtbaren Zeichen der beteiligten Zeichensysteme in scharfem Kontrast zueinander stehen. Während der Aufführung ist der Körper der Tänzerin mehrdeutig: Die Textur ihrer Haut signalisiert Jugend, der grazile Körperbau Anmut, die trainierte Skelettmuskulatur Geschmeidigkeit, so dass das Puppenhafte wie eine Verkleidung wirkt. Umgekehrt ist es gerade die mechanische Bewegung, die vollendete Körperbeherrschung signalisiert und damit wieder gesteigerte Lebendigkeit (vgl. Abbildung 2). Um diese Leistung zu würdigen, muss man die “mechanischen” Körperbewegungen noch genauer betrachten. Bei der Simulation einer Tanzpuppe müssen nicht nur deren ruckartige Bewegungen simuliert werden, sondern auch die eingeschränkten Freiheitsgrade der Gelenke. Dies verlangt eine technische Perfektion bis hin zur Kontrolle von Reflexen, die man normalerweise für nicht aufhebbar ansieht. Während sich etwa beim normalen Gehen der Fuß automatisch und scheinbar stufenlos dem Boden anschmiegt, muss hier auch die Bewegung des Fußes ruckartig und mit gestreckt gehaltener Fußsohle erfolgen. Ebenso schwierig ist es, den Lidschlag zu unterdrücken und die Mimik starr zu halten, selbst wenn in der Umgebung etwas Unvorhergesehenes geschieht. Gerade bei Mimik und Blickverhalten aber zeigt sich eine weitere semiotische Diskrepanz, denn hier wird das Puppenhaft-Mechanische manchmal - und zwar durchaus in Abhängigkeit von der Situation - durch das Menschlich-Absichtsvolle durchbrochen. Der Blick ist in der Regel nicht fokussiert, so dass der Zuschauer nicht den Eindruck hat, als Person ins Auge gefasst zu werden. Andererseits zwinkert Miriam manchmal, was in zwischenmenschlichen Begegnungen immer eine sehr nachdrückliche Form der Kontaktaufnahme ist. Das Ambivalente dieses Zwinkerns wird noch dadurch gesteigert, dass übliche Tanzpuppen gar nicht über ein Blickverhalten verfügen. Die mechanische Art der Bewegung wird also von der Schauspielerin kreativ auf Bereiche ausgedehnt, in denen die Mechanik selbst kein Vorbild bereitstellt. Auch wenn Miriam - wenn auch ohne Mimik und Blickkontakt - einem Kind ein Winken zukommen lässt, wird klar, dass hier kein hochdifferenzierter Roboter mit der Fähigkeit zum Bildverstehen agiert, sondern ein Mensch mit all seinen Wahlmöglichkeiten. Und wenn sie sich den am hingerissensten starrenden Mann aussucht, ruckartig aber lockend die Hand nach ihm ausstreckt, nur um seinen Versuch eines Händedrucks mit dem Zeigen einer langen Nase zu verspotten, wird der Eindruck einer lebendigen und sehr kapriziösen Frau unabweisbar. Tanz, Geschlecht, Identität 325 körperliche Zeichen Bedeutung Textur der Haut Jugend Körperbau Anmut Skelettmuskulatur Trainiertheit Körperbeherrschung “mechanische Bewegung” - keine Mimik - kein Blickkontakt - kein Fuß-Boden-Reflex - ruckartige Bewegungen - eingeschränkte Freiheitsgrade der Gelenke Spieldosen-Ballerina Interaktionsverhalten - Zwinkern - Winken - Verspotten kapriziöse Frau Abb. 2: Körperliche Zeichen in Miriam’s Music-Show. Ferner ist noch festzustellen, dass es auf beiden Ebenen um etwas Typisches und nicht um etwas Individuelles geht. Die Schauspielerin stellt eine typische Tanzpuppe dar, und diese Tanzpuppe wiederum eine typische Frau. Auf jeder der beiden Ebenen könnte zwar auch Individuelles dargestellt werden, seine Identifikation würde aber ein umfangreicheres enzyklopädisches Wissen beim Zuschauer erfordern. Zum einen könnte die Schauspielerin eine bestimmte Puppe verkörpern, etwa die Automatenfrau Olimpia aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, zum anderen könnte die Puppe in Analogie zu den Wachsfiguren bei Madame Tussaud als bestimmte prominente Persönlichkeit aufgemacht sein. Eine weitere Vertauschung wird sichtbar, wenn man geistig noch einen Schritt zurücktritt und sich selbst als Zuschauer mitdenkt. Dann nämlich erweist sich die vorgebliche Puppe in ihrer sinnlichen Präsenz als das einzige wirklich lebendige Element der Szene, während die passiv konsumierenden Zuschauer plötzlich wie Automaten wirken, von denen etliche gleichzeitig und gleichgerichtet das gleiche Programm zur Herstellung eines Urlaubsvideos abspulen. Folglich erweist sich auch die eigene Rolle als ambivalent: als passiv, weil man nur beobachtet, und als aktiv, weil man die verschiedenen Differenzen reflektiert. Leben und Tod, aktiv und passiv, das unmittelbar Sichtbare und das nur Erschließbare werden in Miriams kleiner Show samt ihren Übergängen vorgeführt und so nimmt man mitten aus dem kommerziell gelenkten Tourismus einen lange nachklingenden Denkanstoß mit nach Hause. Dagmar Schmauks 326 4. Fiktion vs. Täuschung In diesem Abschnitt geht es darum, den semiotischen Unterschied zwischen Fiktionen und absichtlichen Täuschungen deutlicher herauszuarbeiten. Fiktionen sind eigenständige “Welten”, die in die “reale Welt” eingebettet sind und deren Grenzen durch medienspezifische Rahmen- oder Übergangsinformationen gekennzeichnet werden. Am deutlichsten sichtbar sind diese Grenzen bei traditionellen gegenständlichen Gemälden. Sie werden durch einen materiellen Rahmen von ihrer Umgebung abgegrenzt, so dass der Betrachter aus seiner eigenen (“realen”) Welt wie durch ein Fenster in eine andere Welt blickt. Mit dieser “Fenstermetapher” haben Maler seit der Renaissance kreativ gespielt, indem sie die Blickrichtung änderten oder den voyeuristischen Blick ironisch verweigerten (vgl. Müller 1998). Ganz ähnliche Verhältnisse bestehen bei bewegten Medien, denn auch die Theaterbühne oder die Filmleinwand können als Fenster aufgefasst werden, die die Beobachtung zahlloser Leben in anderen Welten erlauben. Mit Hinblick auf die Teilnachrichten auf dem Bildschirm eines Computers spricht man sogar ausdrücklich von “Fenstern”, die man öffnet oder schließt. Hinzu kommen jeweils Rahmeninformationen wie der Titel des Bildes, der Name des Theaterstücks oder der Name der Website, die mitteilen, was im jeweiligen Fenster zu sehen ist. Ein weiteres Mittel der Abgrenzung sind die Kontexte der fiktionalen Welten: in Museen oder Bildbänden rechnet der potentielle Rezipient mit Bildern, in Theatern mit Theaterstücken, in Kinos mit Filmen, und im Internet mit Dokumenten jeglicher Art. Während im Falle der visuellen Medien die Grenzen von eingebetteten “Welten” leicht erkennbar sind, müssen im Medium der Sprache zusätzliche Mittel der Abgrenzung eingesetzt werden. Ein Witz zum Beispiel wird durch bestimmte Formeln wie “Kennt ihr den? ” eingeleitet, wobei vorausgesetzt wird, dass der umfassende Kontext dem Erzählen von Witzen nicht widerspricht. Zitate werden in schriftlichen Texten durch Anführungszeichen, in mündlichen Texten durch eine abweichende Intonation markiert (Posner 1992). Ferner werden schriftliche Texte ebenso wie Bilder durch einen Titel inhaltlich gekennzeichnet. Das gleichzeitige Vorhandensein vieler Genres bringt es jedoch mit sich, dass Rezipienten sich über den Realitätsbezug einer Nachricht täuschen können - sie missverstehen eine fiktionale Biographie als “wahre Geschichte” oder eine Science Fiction Erzählung über eine Invasion von Außerirdischen als aktuelle Sondernachricht (oder auch umgekehrt). Bei allen bisherigen Medien ist ihre Grenze zur realen Welt im Prinzip auszumachen - sogar die gekonntesten Trompe l’oeil-Gemälde sollen schließlich “entlarvt” und als Indiz für die Kunstfertigkeit ihres Herstellers aufgefasst werden. Die neuen Technologien des Cyberspace hingegen wollen durch den Einbezug der bislang ausgeklammerten Nahsinne (Tasten, Schmecken, Riechen) und durch Simulation von sensorischen Rückmeldungen die Grenze zwischen Welt und Fiktion ganz auflösen bzw. ein nahtloses “Eintauchen” in die fiktionale Welt (“immersion”) ermöglichen. Sollte dieser Zustand einmal erreicht werden, müssen die Termini “Realität” und “Fiktion” wieder neu definiert werden (ein Schritt in diese Richtung ist die beliebig manipulierbare digitale Photographie). Aber auch in heutigen Alltagssituationen gibt es zahlreiche Vorspiegelungen, die nicht als solche signalisiert sind. Sie alle wollen den Rezipienten in bestimmter Hinsicht täuschen, wenn auch nicht immer mit schädigender Absicht. Ein wohlbekanntes Beispiel ist die alltägliche Lüge im Medium der Sprache, in der ein Sender einem Empfänger einen Sachverhalt explizit mitteilt oder implizit suggeriert, den er selbst nicht glaubt. Vergleichbare Strategien gibt es in allen anderen Medien, etwa beim Heucheln durch eine gezielt einge- Tanz, Geschlecht, Identität 327 setzte Körpersprache, beim Manipulieren von Photos und Landkarten, und beim Fälschen von Kunstwerken. Täuschungen und Simulationen sind aus unserem Leben kaum mehr wegzudenken. Ein harmloses Beispiel ist die Verwendung von Doubles in Werbespots oder Spielfilmen, die entweder nur bestimmte Körperteile (Hände, Füße usw.) des Protagonisten “liefern” oder ihn ganz ersetzen, wenn eine Szene gefährlich ist oder besondere Fertigkeiten verlangt. In vielen Kontexten vom Gebrauchtwagenkauf bis zum Urlaubsprospekt rechnen wir mit Beschönigungen, und sogar Landschaften haben inszenierte Anteile, wenn wir an die Verwendung von Schneekanonen und an die Aufschüttung von Saharasand an der Südküste Teneriffas denken. Zu den noch umfassenderen Täuschungen zählt die so genannte “Legende” eines Spions, der mit einem völlig neuen (aber möglichst kohärenten) Lebenslauf versehen wird, und die strukturell ganz ähnliche “Lebenslüge”, bei der jemand sogar sich selbst - wenn auch unbewusst - über seine Vergangenheit täuscht. 5. Geschlechtswechsel als Zeichenprozess Als einen weiteren Verwandlungsprozess, der durch die Übernahme der Zeichen des “Zielobjekts” bewerkstelligt wird, beschreibt dieser Abschnitt die wichtigsten Varianten des so genannten “Geschlechtswechsels”. Das Geschlecht eines Menschen wird oft als ein Merkmal angesehen, das untrennbar mit ihm verbunden ist wie Körpergröße und Augenfarbe. Unklare Fälle lösen daher sowohl bei Betroffenen als auch bei Beobachtern starke Gefühle aus. So ertragen Eltern es kaum, ein Kind unklarer Geschlechtszugehörigkeit zu haben, und bitten Ärzte nachdrücklich um Eingriffe, die zumindest äußerlich Eindeutigkeit herstellen (vgl. Weiss 1995). Der Wunsch, die eigene Geschlechtsrolle zu wechseln, hat vielfältige Motive. Früher war es für Frauen ratsam, sich auf Reisen als Männer zu verkleiden, und Filme wie Tootsie, Mrs. Doubtfire und Victor - Victoria (siehe Abschnitt 2) beschreiben einen Geschlechtswechsel aus taktischen Gründen. Karneval und Parties sind besondere Rahmensituationen, in denen ein spielerischer Geschlechtswechsel toleriert wird. Bei der Travestie-Show ist es Bestandteil der Aufführung, dass der Zuschauer die Inszenierung als solche erkennt. Unter “Transvestismus” versteht man ein Ausleben der gegengeschlechtlichen Rolle in Kontexten sexueller Erregung, wobei die Verkleidung teils nur heimlich, teils auch offen geschieht. Transsexualität hingegen ist der Wunsch nach einer dauerhaften und möglichst umfassenden Verwandlung ins Wunschgeschlecht. Beide Varianten werden in der neueren Fachliteratur zusammen mit weiteren Möglichkeiten unter dem Terminus “Transgendering” zusammengefasst (vgl. Ekins und King 1999). Im Folgenden wird Transvestismus als Zeichenprozess skizziert, und zwar eine Verwandlung vom Mann zur Frau (Abbildungen aller dabei verwendeten Artefakte in Schmauks 1999). Diese Wahl hat zwei Gründe. Zum einen ist der Wunsch nach Wechsel der Geschlechtsrolle bei Männern häufiger, was damit zusammenhängen mag, dass die traditionelle Männerrolle das Ausleben “weicherer” Persönlichkeitsmerkmale kaum erlaubt. Zum anderen ist für Männer ein Rollenwechsel schwerer, weil keins der klassischen weiblichen Kleidungsstücke (Kleid, Bluse, Rock) als geschlechtsneutral gilt. Folglich sind männliche Transvestiten auf den Fachhandel angewiesen, um Kleider und Schuhe in ihrer Größe zu kaufen, während Frauen mühelos alle gewünschten Kleidungsstücke (Jeans, Hemden, Westen, Lederjacken) in Abteilungen mit “Unisex”-Mode finden. Dagmar Schmauks 328 Ein erster Verwandlungsschritt ist das Verbergen der primären männlichen Geschlechtsmerkmale durch ein Cache-Sex. Besondere Formen von Halsschmuck verdecken den Adamsapfel sowie Abdeckcremes den Bartwuchs. In einem zweiten Schritt werden Merkmale des Wunschgeschlechts simuliert. Künstliche Brüste und Latexslips mit eingearbeiteter Vulva sollen gewährleisten, dass auch der nackte Körper weiblich aussieht. Taillenmieder formen den Körper nach dem Vorbild des “Sanduhr”-Stereotyps, und gepolsterte Miederhöschen sorgen für weibliche Rundungen an Hüften und Gesäß. Die so bewirkte äußere Verwandlung muss durch gleichgerichtete Verhaltensänderungen ergänzt werden. Audiokassetten lehren eine weibliche Stimmführung, während Videos in die weibliche Körpersprache einführen. Diese umfasst nicht nur Mimik und Gestik, sondern auch Körperhaltungen wie Stehen und Sitzen, elementare Bewegungsmuster wie Gehen und Aufstehen, und ganze Handlungskomplexe wie Grüßen, Essen und Trinken. Da sich sowohl das hergestellte Aussehen als auch das gelernte Verhalten an Stereotypen orientiert, wirkt der Transvestit meist weiblicher als eine burschikose “Bio-Frau”. Ein kommerzielles Angebot sind so genannte “Change-away days” in professionellen Verwandlungsstudios, bei denen der Kunde für einige Stunden in seine Wunschrolle schlüpft (vgl. Schmauks 1999: 314ff). Die katalogartig angebotenen Rollen zielen auf eine möglichst demonstrative Weiblichkeit, die sexuell unwiderstehlich ist (“aufregendes Callgirl”) oder gerade einen Initiationsschritt vollzieht (“hinreißende Braut”). Die momentane Verwandlung wird auf Wunsch mit Video aufgezeichnet, um zu dokumentieren, wie reizvoll man im Gegengeschlecht aussieht. Wenn jedoch von weitem ein dauerhafter Geschlechtswechsel in Erwägung gezogen wird, erhalten dieselben Handlungen des Verkleidens und Auftretens-Als den Charakter eines Tests. Bevor sich jemand im Wunschgeschlecht an die Öffentlichkeit wagt, probiert er allein oder im kleinen Kreis verschiedene Stereotype dieses Geschlechts aus. Im Unterschied zum Transvestiten beabsichtigt der Transsexuelle einen dauerhaften und irreversiblen “Geschlechtswechsel”, den er als ein Herstellen des “eigentlichen” Geschlechtes empfindet. Das Motiv ist hier eine tief greifende Identitätsstörung mit großem Leidensdruck; häufig wird von Betroffenen geklagt, sie seien dazu verurteilt, “im falschen Körper zu leben”. Hierbei ist zu beachten, dass Geschlecht keineswegs ein eindimensionales Merkmal ist, bei dem jeder eine feste Position zwischen den Polen “weiblich” und “männlich” einnimmt. Vielmehr besteht Geschlecht aus vielen Facetten, die in ganz unterschiedlichem Ausmaß gezielt veränderbar sind (vgl. Pfäfflin 1999: 292ff). Beim derzeitigen Stand der Wissenschaft unveränderbar ist das genetische bzw. Chromosomengeschlecht. Fast unveränderbar sind auch geschlechtsspezifische anatomische Merkmale wie Körpergröße, Form des Beckens und das (Nicht-)Vorhandensein eines Adamsapfels. Der hormonelle Status ist nur durch ständige Zufuhr von Hormonen des Gegengeschlechts änderbar. Die primären Geschlechtsmerkmale sind chirurgisch “umwandelbar”, wobei die Reproduktionsfähigkeit verlorengeht, die Orgasmusfähigkeit aber erhalten bleiben kann. Die sekundären Geschlechtsmerkmale sind ebenfalls chirurgisch, aber auch hormonell veränderbar, denn durch Zufuhr weiblicher Hormone wachsen Brüste. Die Stimme ändert sich ebenfalls bereits im Laufe dieser Hormonbehandlung und kann durch gezielte Schulung weiter der des Wunschgeschlechts angepasst werden. Die Körpersprache ist (wie beim Transvestismus) gezielt lernbar, insoweit sie bewusst gemacht werden kann. Die Körperhüllen schließlich (Haut und Haare, Schmuck, Kleidung, Umfeld) sind frei gestaltbar, wobei sich jedoch die Wahl wiederum an Stereotypen orientiert. Die Beispiele belegen eine große Bandbreite von Verwandlungen, die auch hier danach angeordnet werden können, wie transparent der Verwandlungsprozess aus Sicht des Betrach- Tanz, Geschlecht, Identität 329 ters ist. In einer Travestie-Show wird es als Teil der Kunstfertigkeit der Darsteller empfunden, wie schnell, geschickt und überzeugend sie sich in glamouröse Frauen verwandeln können. Falls also das Publikum gar nicht bemerken würde, dass es sich um verkleidete Männer handelt, würde der Witz der Aufführung verfehlt. Bei der Transsexualität hingegen lassen sich ganz verschiedene Weisen des Umgangs mit dem Wechsel der Geschlechtsrolle nachweisen. Sehr selbstbewusste Personen stellen ihre Motive und die Schritte der operativen Umwandlung in Texten oder Talkshows dar und können “sich selbst” als eine Person empfinden, die zeitlich nacheinander in beiden Geschlechtern existierte. Andere wechseln nach den entscheidenden Schritten den Wohnort und den Freundeskreis und beginnen so wirklich ein “zweites Leben” mit einer neuen (auch juristischen) Identität. Literatur Decker, Bernhard (1989): “Die Geburt der ‘Betenden Hände’ - originalidentisch”. In: Jörg Huber, Martin Heller und Hans U. Reck (eds.): Imitationen. Nachahmung und Modell: Von der Lust am Falschen. Basel u.a.: Stroemfeld/ Roter Stern: 282-289. Ekins, Richard und Dave King (1999): “Towards a Sociology of Transgendered Bodies”. Sociological Review 47,3: 580 - 602. Müller, Axel (1998): “Albertis Fenster. Gestaltwandel einer ikonischen Metapher”. In: Klaus Sachs-Hombach und Klaus Rehkämper (eds.): Bild - Bildwahrnehmung - Bildverarbeitung. Interdisziplinäre Beiträge zur Bildwissenschaft. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag: 173 -183. Pfäfflin, Friedemann (1999): “Facetten von Geschlechtsumwandlung”. Zeitschrift für Semiotik 21: 281-304. Posner, Roland (1992): “Zitat und Zitieren von Äußerungen, Ausdrücken und Kodes”. Zeitschrift für Semiotik 14: 3 -16. Posner, Roland (1994): “Der Mensch als Zeichen”. Zeitschrift für Semiotik 16: 195 -216. Schmauks, Dagmar (1995): “Eine Frau ist eine Puppe ist eine Frau”. Conceptus 72: 141-145. Schmauks, Dagmar (1999): “Die Rolle von Artefakten beim Geschlechtswechsel”. Zeitschrift für Semiotik 21: 305 -324. Schmauks, Dagmar (2001): Verwechslungen von Urbild und Abbild. Memo Nr. 43, FR Philosophie, SFB 378, Univ. Saarbrücken. Schmauks, Dagmar und Friedemann Pfäfflin (eds.) (1999): Geschlechtswechsel. Zeitschrift für Semiotik 21, 3 - 4. Weiss, Meira (1995): “Fence Sitters: Parents’ Reactions to Sexual Ambiguities in Their Newborn Children”. Semiotica 107: 33 -50. A. Francke Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Theaterwissenschaft Erika Fischer-Lichte / Christian Horn / Sandra Umathum / Matthias Warstat (Hrsg.) Diskurse des Theatralen Theatralität 7, 2005, 345 Seiten, 11 Abb., € 48,-/ SFr 82,50 ISBN 3-7720-8078-2 Mit dem Begriff Theatralität wird der Aufführungscharakter von Kultur betont. Diese theatrale Dimension zeigt sich in der Gegenwart darin, dass das kulturelle Leben weithin von Tätigkeiten des Inszenierens, Darstellens und Wahrnehmens bestimmt wird. In öffentlichen wie privaten Sphären kommt es immer wieder darauf an, sich selbst, etwas oder jemanden in Szene zu setzen. Die Kulturwissenschaften haben diese Beobachtung in den letzten Jahren verstärkt reflektiert. Dabei hat sich der Begriff Theatralität als Fokus transdisziplinärer Studien bewährt, indem er auf einigen der meistdiskutierten Forschungsfeldern entscheidende Impulse geliefert hat. Nachdem im sechsten Band der Reihe Theatralität die Erträge des Konzepts für einzelne kulturwissenschaftliche Disziplinen ausgelotet wurden, gehen im vorliegenden Band Wissenschaftler/ innen verschiedener Fächer der Frage nach, welche erneuernden Wirkungen die Theatralitätsforschung auf zentrale Diskurse und emerging fields der Gegenwart entfaltet hat: Performativität und Körper; Inszenierung und Macht; Ereignishaftigkeit der Kunst; Ritualität und Medien. Mehr denn je sind diese Debatten heute „Diskurse des Theatralen“. Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform Bedeutungsebenen in Monoloog von Anne Terese de Keersmaeker Claudia Rosiny Videotanz bezeichnet eine junge intermediale Kunstform, bei der sich Tanz und Film respektive Video vermischen - Choreographien für die Kamera, die auf einer Theaterbühne nicht möglich wären. Bei einigen dieser Videotänze bildete eine Bühnenchoreographie die Vorlage, sozusagen das tänzerische Bewegungsmaterial für eine filmische Neufassung. Die Filme der britischen Gruppe DV 8 Physical Theatre wie Dead Dreams of Monochrome Men, Strange Fish oder Enter Achilles, entstanden in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, sind solche Beispiele. Da Filme, vor allem wenn sie im Fernsehen ausgestrahlt werden, ein viel grösseres Publikum erreichen, sind die genannten DV 8-Filme oftmals bekannter als die jeweils gleichnamigen Bühnenwerke. Wer Bühnen- und Filmversion kennt, sieht die Eigenständigkeit und unterschiedlichen Wirkungsweisen beider Varianten trotz gleicher Bewegungsabläufe und Handlungslinien. Bei anderen kreieren Choreographie und Regie gemeinsam ein Werk direkt für die Kamera. Mit Wurzeln in den Vereinigten Staaten verbreitete sich der Videotanz parallel zu einem wachsenden Interesse am Bühnentanz mit neuen Variablen im Tanztheater und postmodernen Tanz ausgehend von Frankreich ab Anfang der achtziger Jahre in Europa. Als Pionier einer direkt für die Kamera inszenierten Choreographie gilt Merce Cunningham, ebenso Vaterfigur des postmodernen Tanzes, der bereits in den siebziger Jahren mit der unterschiedlichen Wirkungsweise von Zeit und Raum auf dem Fernsehmonitor experimentierte. In seiner Zusammenarbeit mit dem zu jener Zeit bei der Company fest angestellten Filmemacher Charles Atlas oder mit dem Videokunstpionier Nam June Paik in Merce by Merce by Paik erkundete er damals schon elektronische Möglichkeiten des Videomediums. In weiteren Arbeiten wie Fractions I, Locale oder Channels/ Inserts untersuchte er die Eigenheiten des filmischen Raumes und die unterschiedliche Wirkung filmischer Zeit. Bemerkenswert ist, dass Cunningham auch bei den allerjüngsten Tanzexperimenten mit dem Computer wieder zur Avantgarde zählt und beispielsweise das Programm LifeForms mitentwickelte. 1 “I work in video and film because they are visual media that interest me. I’m interested in making things come alive in a smaller space like the television or movie screen. And I like the way film or television has of refocusing or refreshing the eye.” 2 Anfang der achtziger Jahre tauchten Tanzvideos in grosser Zahl mit der Einrichtung eigener Videotheken und Screenings auf Festivals in Frankreich auf, beispielsweise 1982 in Avignon, darunter auch eines der ersten Cunningham-Werke Blue Studio: Five Segments, in dem Cunningham selbst vor der Kamera tanzend mit dem Blue-box-Verfahren experimentierte. Nachdem in den Vereinigten Staaten bzw. Kanada in den siebziger Jahren auch schon K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 26 (2003) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Claudia Rosiny 332 einschlägige Festivals und Fachtagungen stattfanden, beispielsweise das älteste tanzspezifische Filmfestival Dance on Camera, das seit 1972 jährlich von der 1956 gegründeten Dance Films Association ausgerichtet wird, entstand auf europäischem Boden erstmalig 1988 mit dem Grand Prix Vidéo Danse ein internationales Forum. Die Einrichtung in Frankreich fiel zudem mit einer Deklaration des gleichen Jahres zum Jahr des Tanzes durch den damaligen Kulturminister Jack Lang zusammen. Dadurch erlangte sowohl der zeitgenössische Tanz als auch eine neue Form in der Verbindung mit filmischen Medien in Frankreich eine grössere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Es fällt auf, dass sich viele Protagonisten des zeitgenössischen Tanzes parallel auch dem Videotanz widmeten. Entsprechende Choreographinnen und Choreographen in Frankreich, die teilweise bis heute sowohl für die Bühne als auch im Film arbeiten, sind: Joëlle Bouvier / Régis Obadia, Jean-Claude Gallotta, Philippe Decouflé, Régine Chopinot, Mark Tompkins. In Belgien sind dies auch heute noch Wim Vandekeybus und Anne Teresa de Keersmaeker, deren Videowerk Monoloog aus dem Jahre 1989 im zweiten Teil dieses Aufsatzes exemplarisch untersucht werden soll. Auch Cunninghams Vorreiterfunktion sowohl im Tanz als auch im Videotanz entspricht diesem doppelten Interesse. In Frankreich hatte ausserdem das Kulturministerium Anfang der achtziger Jahre Projektgelder zur Stimulierung audiovisueller Experimente im Tanz zur Verfügung gestellt. Aus dieser frühen Zeit, aus dem Jahr 1984 stammen beispielsweise die 13minütigen Kurzwerke Jump von Philippe Decouflé und Rude Raid von Régine Chopinot. Zwischen den neuen Bühnenentwicklungen und diesen filmischen Arbeiten scheint, oberflächlich betrachtet, ein Widerspruch zu liegen, vermitteln doch die zeitgenössischen Bühnenformen, besonders die des Tanztheaters starke emotionale Implikationen sowie eine alle Sinne ansprechende körperliche Direktheit, während Film- und Videobilder eine entsprechende Wirkung primär nur visuell und akustisch in einer eindimensionalen Kommunikationsrichtung auslösen können. Dieser scheinbare Gegensatz erweist sich bei näherer Betrachtung als Quelle gegenseitiger Beeinflussung und Befruchtung. Man denke nur daran, wie in der Bühnensprache des zeitgenössischen Tanzes zunehmend dem Film entlehnte Fragmentierungen verwendet werden. Dies resultiert aus veränderten Wahrnehmungsstrukturen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, wie Bernard Noël (1991: 23) diese Entwicklung beschriebt: “Der Kern des Problems ist heute vielleicht der, dass sich unsere Sichtweise der Dinge verändert, so wie sich mit der Entdeckung der Perspektive einst die Sichtweise der Renaissance veränderte. Wir müssen die Dinge neu sehen lernen.” 3 . Vorläufer und parallele intermediale Felder Der Tanz ging bereits seit Beginn von Filmgeschichte und moderner Tanzgeschichte zur Wende zum 20. Jahrhundert eine Hassliebe mit den filmischen Medien ein. “Dance is threedimensional, television is two-dimensional. End of argument.” 4 Mit diesem keine weitere Diskussion zulassenden Satz beschrieb noch Anfang der achtziger Jahre der New Yorker Kritiker Clive Barnes (1982: 46) die Unvereinbarkeiten. Tanz braucht die Weite des Raumes, Video spielt sich auf der matten Scheibe einer kleinen Box ab. Dennoch verband sich die raumorientierte Bewegungskunst mit einem bewegten Zeitbild durch die Geschichte der filmischen Medien. Von den Stummfilmen über erste Fernsehversuche bis hin zum Videoeinsatz bei zeitgenössischen Tanzcompagnien heute entstanden immer wieder experimentierfreudige Fusionen. Videotanz stellt also keine neue Kunstform dar, sondern ästhetische Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform 333 Merkmale und Wahrnehmungsmechanismen haben Bezüge zu historischen Vorläufern anderer Kunstrichtungen, besonders zu den filmischen Experimenten der Avantgarde der zehner und zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Schliesslich ist der Videotanz eine Erscheinungsform unter vielen hin zur gegenwärtigen zwischen allen Kunstsparten auftretenden Intermedialität, der Hybridisierung und Vermischung künstlerischer Ausdrucksformen, deren Ursprünge ebenfalls bereits in den ersten Dekaden des letzten Jahrhunderts zu suchen sind. Intermediale Praktiken durchziehen parallel seit der Theateravantgarde der zehner und zwanziger Jahre über die Happening- und Fluxusbewegung der sechziger Jahre bis zur Performance-Kultur auch die Geschichte der darstellenden Künste. Solche Spielarten der bildenden Kunst wurden beispielsweise von John Cage und seiner frühen Zusammenarbeit u.a. mit Merce Cunningham Anfang der fünfziger Jahre am Black-Mountain-College in North Carolina stimuliert, wo u.a. Robert Rauschenberg und Allan Kaprow bei emigrierten Bauhaus-Künstlern studierten. Durch Multi-Media-Projekte zeichnen sich insbesondere die Tanzschaffenden der sechziger Jahre in New York aus, die oftmals in Cunninghams Company gewachsenen Vertreterinnen und Vertreter des Post-Modern Dance, neben der unabhängigen Meredith Monk vor allem die Gründerinnen des Judson Church Movement Yvonne Rainer und Trisha Brown sowie Twyla Tharp. Auch Lucinda Childs arbeitete mit Rainer und wirkte ausserdem in einigen Werken von Robert Wilson mit, beispielsweise in der Wilson/ Glass-Oper Einstein on the Beach, von der auch eine Videointerpretation gemacht wurde. Über die Happening- und Fluxusbewegung ist eine multimediale Theaterpraxis nicht nur im Tanz zu beobachten, sondern eine Entwicklungslinie lässt sich bis zu neuen Theaterpraktiken der siebziger und achtziger Jahre einer Wooster Group in New York oder eines Giorgio Barberio Corsetti in Italien ziehen. 5 Ein weiteres intermediales Feld, das heute auf vielen Tanzbühnen eine Fortsetzung findet, sind Videoprojektionen in Form von bewegten Tanzkulissen - bunte Bilder, die im schlechteren Fall zu einer den Tanz überflutenden Dekoration werden, im besseren Fall eine Ergänzung und Interaktion mit der Bewegung auf der Bühne bieten. Und nicht zuletzt hat die Mediatisierung allgemein auch zu einer Filmisierung, zu einer filmischen Ästhetik von Unterbrechung und Montage im Tanztheater und zeitgenössischen Tanz geführt, wie dies zum Beispiel für die Stücke von Pina Bausch typisch ist. Relevante Entwicklungsschritte in der Filmgeschichte Die ersten Versuche Tanz auf sich bewegenden Bildern festzuhalten, machten bereits Filmpioniere wie Thomas Edison oder Georges Méliès. Damals hatte die Kamera noch einen festen Standpunkt, sie wurde weder durch Schwenks noch Fahrten bewegt und benutzte nur ein festes Objektiv. Diese ersten Tanzfilme waren kurze Reproduktionen von einfachen Tänzen. 1894 z.B. zeichnete Thomas Edison einen zweiminütigen Tanz von Ruth Dennis auf. Kamerabewegungen wurden erst später angewendet, beispielsweise in D.W. Griffiths Film Intolerance von 1916, in dem wiederum die inzwischen unter dem Künstlernamen Ruth St. Denis bekannt gewordene Ruth Dennis tanzte. Überhaupt agierten in den Filmanfängen viele Tänzerinnen, denn im Stummfilm waren vor allem Bewegungsausdruck und Gestik gefragt. Experimente von Tanz im Film erprobten beispielsweise Georges Méliès und Emile Cohl in Frankreich mit Ausschnitten von Loïe Fuller. Fullers Schleiertänze mit ihren auf Stoffe projizierten farbigen Lichtspiele wiesen eine vom Film beeinflusste Ästhetik auf. 1919 Claudia Rosiny 334 realisierte sie mit Le Lys de la vie sogar einen ersten eigenen Experimentalfilm. Entwicklungslinien zwischen reproduktiven, d.h. dokumentarischen Werken und experimentellen, d.h. künstlerischen Filmen durchziehen die weitere Film-, Fernseh- und Videogeschichte, ohne dass immer eindeutige dichotome Trennungen gezogen werden können. Ein wichtiger technischer Entwicklungsschritt für den Tanzfilm war die Entwicklung des Tonfilms in den späten zwanziger Jahren, denn nun erst konnte die für den Tanz so wichtige Musik synchronisiert werden. Auffallend war, dass in der Anfangszeit des Tonfilms die Kamera zuerst wieder weniger bewegt wurde und den festen Platz im Zuschauerraum einnahm. Tanzszenen waren jedoch im Kino fast ausschliesslich Zwischenspiele in einem narrativen Film. Analoge Muster finden sich bis heute in Kinowerken mit Tanzthemen wie beispielsweise in Dirty Dancing, Fame, A Chorus Line, West Side Story, Strictly Ballroom etc. Während die vogelperspektivischen Aufnahmen von “Girl”-Ornamenten und aufwändigen Kamerafahrten eines Busby Berkeley fast in Vergessenheit geraten sind, blieben Fred Astaires Filmmusicals bis heute populär. Zwischen 1933 und 1957 gestaltete Astaire rund 150 Tanznummern. Er prägte einen konservativen Stil der Dokumentation von Tanz: Nicht nur sollte die Kamera passiv bleiben und stets den ganzen Körper im Bild behalten, auch Schnitte durften die Integrität der Choreographie nicht stören und waren, falls überhaupt eingesetzt, kaum wahrnehmbar. Seine Ansprüche an die Kamera, die ausschliesslich im Dienste des Tanzes zu stehen hatte, beeinflussten nicht nur die Musical-Generation Hollywoods von den frühen dreissiger bis in die späten fünfziger Jahre - unter ihnen vor allem Gene Kelly -, sondern der Musical-Film legte allgemeine Grundsätze für die Reproduktion von Tanz im Film bis heute fest. Wichtige Impulse für einen gewagteren Einsatz von Kamera und Montage gaben Experimentalfilmer wie Fernand Léger, Maya Deren, Ed Emshwiller, Shirley Clarke, Norman McLaren oder Hilary Harris, die Tanz zum Thema ihrer Filme machten. Maya Derens dreiminütiges Werk A study in Choreography for the Camera aus dem Jahre 1945, in dem ein Tänzer in Zeitlupe in einem einzigen Sprung mittels Montage durch verschiedene Räume zu gleiten scheint, kann als früher Meilenstein für die Entwicklung des Videotanzes gesehen werden. Zeit und Raum werden durch filmische Mittel verfremdet. Der Tanz erhält dadurch eine Schwerelosigkeit, die auf einer Bühne nicht möglich wäre. Mögliche Methoden zur Untersuchung von Filmbeispielen Seit der Entwicklung des Videotanzes ausgehend von den Vereinigten Staaten und, wie dargelegt, seit Mitte der achtziger Jahre sich in Europa ausbreitend, lassen sich im kreativen Umgang mit der Kamera unterschiedliche Konzepte für Kamera-Choreographien analysieren. In einer ersten grösseren Untersuchung habe ich versucht, neben einer quantitativen Analyse zu Merkmalen von Kategorien, Längen, Besetzungen etc. diese unterschiedliche Konzepte mittels verschiedenen Zuordnungen zu konzeptionellen Ansätzen in einem ästhetischen Panorama auszubreiten. 6 Die gewählten Parameter waren Körper, Kamera, Raum, Zeit, Ton elektronische Bildstrukturen und Narration der Bewegung, zu denen folgende abschliessende Thesen formuliert wurden: Körper Im Videotanz zeigen sich Ausdrucksweisen des zeitgenössischen Tanzes, Alltagsbewegungen und Stilelemente aus dem Tanztheater oder eines physisch orientierten Tanzes, beispielsweise Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform 335 der Contact Improvisation. Diese Formen sind schon für sich durch Merkmale wie Wiederholungen und Unterbrechungen gekennzeichnet, die auch im Film wirksam werden. Videotanz spielt mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen, mit dem Abbild des Körpers auf unterschiedlichen Ebenen medialer Repräsentation. Kamera Im Videotanz wird die Kamera zum wichtigen Bewegungselement. Sie kann Bewegungen intensivieren oder aufheben, in ihrer Räumlichkeit variieren und verfremden, kann distanziert beobachten oder “mittanzen” und so eine kinästhetische Wirkung, eine Art Mittanzen der Muskeln der Zuschauenden auslösen. Raum Videotanz sucht analog neuen Theater- und Tanzformen Räumlichkeiten ausserhalb von gewöhnlichen Theaterräumen: leere oder markante Gebäude, Landschaften und realistische Umgebungen. Im Videotanz unterstützen die gewählten Räumlichkeiten ein mögliches narratives Motiv. An den räumlichen Übergängen, an den Schnittstellen der Montage eröffnen sich mediale Möglichkeiten, die die Wahrnehmung irritieren können. Zeit Videotanz baut auf illusionsbildenden Zeitstrukturen und assoziativen Bilderreihen. Dabei werden oft geschlossene Dramaturgien, jedoch ohne eine narrative Auflösung verwendet. Im Videotanz werden zeitverfremdende Mittel eingesetzt: Zeitlupe, Zeitraffer und Stoptricks können eine eigene Bewegungszeit der Bilder konstruieren. Tonebene Im Videotanz dient die Tonebene - wenn Originaltöne der Tanzenden oder eine akustische Atmosphäre nicht sogar ganz fehlen - mehrheitlich wie im Spielfilm einer Untermalung. Gelegentlich entstehen eigene Konzepte aus einem Kontrast von Bild- und Tonebene. Elektronische Bildstrukturen Im Videotanz werden elektronische Bildstrukturen manchmal im Sinne einer inneren Montage in erzählerische Strukturen eingearbeitet. Bei einer Dominanz des Visuellen verschwindet dagegen die körperliche Ausdruckskraft auf dieser aufgelösten Bildebene. Narration der Bewegung Videotanz bedient sich filmischer Erzählweisen, in denen Ausdrucksarten des Körpers und der Bewegung die Geschichten motivieren. In diesen Konzepten vermischen sich alle Aspekte des Einsatzes von Körper, Kamera, Raum, Zeit, Tonebene und elektronischen Bildmanipulationen zu intermedialen, zugleich originellen Kunstwerken. Dabei ist es unwesentlich, ob Ideen und Material von einer Bühnenchoreographie stammen oder direkt für die Kamera entwickelt werden, zumal vom Produkt selbst diese Unterscheidung oft nicht gezogen werden kann. Durch derartige gelenkte Sichtweisen konnten zwar viele Filme in Ansätzen angeschaut und einzelne konzeptionelle Merkmale herausgearbeitet werden. Es unterblieb jedoch eine komplexere und detailliertere Analyse von einzelnen Werken. Auch lief diese Zuordnung Claudia Rosiny 336 Gefahr einer zu starken Schematisierung, hätten doch einige der gewählten Filmbeispiele gleichermassen unter verschiedenen Blickwinkeln ausgewählt und besprochen werden können. Dennoch scheint es mir ein mögliches methodisches Vorgehen, Filmbeispiele unter zuvor gesetzten Parametern zu beleuchten, um dadurch nicht nur konzeptionelle Merkmale herauszuarbeiten, sondern mit diesem differenzierten Transfer eines audiovisuellen Beispieles in eine Textinterpretation auch unterschiedliche Zeichencodes und Bedeutungsebenen herauszuarbeiten. Das folgende Beispiel Monoloog von Anne Teresa de Keersmaeker stand bei meiner damaligen Analyse für einen auffallenden Gebrauch der Tonebene als eigenem Bedeutungsträger, während in fast allen damals untersuchten Beispiele die Tonebene meist nur im Sinne einer Untermalung fungierte. Analyse eines Videowerkes Monoloog (35) Titel: Monoloog voor Fumiyo Ikeda op het einde van Ottone, Ottone Choreographie: Anne Teresa de Keersmaeker • Regie: Walter Verdin Musik: Claudio Monteverdi • Land: Belgien Länge: 5' s/ w • Format: Video • Produktionsjahr: 1989 Das Stück stand - wie der Titel verlauten lässt - eigentlich am Ende einer abendfüllenden Choreographie Ottone, Ottone von Anne Teresa de Keersmaeker, die ein Jahr nach der Filmproduktion des Monologs vom gleichen Regisseur Walter Verdin in eine einstündige filmische Fassung umgesetzt wurde. Während der fünfminütige Monoloog ein Schwarzweiss- Film ist, wechselte Verdin in Ottone, Ottone zwischen Schwarzweiss- und farbigen Bildern. Die Filmfassungen beider Werke mit den gemischten Farbbildern, oft kollidierender Montage und unterschiedlichsten Blickwinkeln und Einstellungsgrössen für die verschiedensten Einzel- und Gruppenaktionen in Ottone, Ottone im Gegensatz zur einzigen schwarzweissen Nahaufnahme in Monoloog sind überhaupt nicht vergleichbar, lassen noch nicht einmal einen Zusammenhang beider Werke vermuten. Zu Monteverdi’s Oper L’Incoronazione di Poppea filmt eine fixierte Kamera in Monoloog in einer Nahaufnahme in einer einzigen Einstellung ohne Schnittunterbrechung nur die Mimik der Japanerin. Aus einer entspannten Ruhestellung wird ganz allmählich eine Anspannung und Bewegung entwickelt, um am Ende wieder in eine Entspannung und Gelöstheit zu kehren. Ein Spiel zwischen Bild- und Tonebene entsteht dadurch, dass die verschiedenen Komponenten - Körperausdruck (nur Mimik), Bild (mit einer Zeitverfremdung in Zeitlupe), Sprache und Musik - auseinanderlaufen und dadurch in sich ergänzender und intensivierender Weise Emotionen wie Wut, Verzweiflung, Schmerz und Erlösung ausdrücken. Videotanz - Zeichen einer intermedialen Kunstform 337 Folgendes Schema zeigt die zur Dramaturgie verwendeten Zeichensysteme Sprache, Musik, Zeitlupeneinsatz und Mimik im zeitlichen Zusammenspiel während des knapp fünfeinhalbminütigen Werkes: 0 1 2 3 4 5 Sprache Musik Zeitlupe Mimik Die Nahaufnahme von Fumiyo Ikeda, bei der der Kopf oben sowie das Kinn leicht angeschnitten sind, zeigt ihren Kopf zunächst gesenkt, so dass das Gesicht nur halb erkennbar ist. Als erstes beginnt ein suchendes Bewegen der Augen, bevor der Blick kurz in die Kamera gerichtet wird und wiederum nach einem Senken des Gesichts der Mund zu zucken beginnt. Die Vorbereitung zum Sprechen wird dadurch bereits dramatisiert, der Spracheinsatz beginnt erst nach 20 Sekunden synchron im Bild sichtbar. 7 Es sind Wortfetzen und Satzfragmente, die, falls sie aus dem Französischen übersetzt würden, aufgrund von Unvollständigkeiten und Wiederholungen keinen kompletten Sinn ergäben. Es geht aber um einen Beziehungskonflikt - jemand hat sie verlassen und sich für eine andere entschieden, obwohl der Partner immer versichert hatte, es gäbe nur sie. Im Sprachausdruck ist eine stetige Steigerung von Wut spürbar. Der Wutausbruch gipfelt in einem Schrei nach 2'17''. Danach sind nur noch Mimik und Mundbewegungen zu sehen, die allerdings weiterhin verbale Wutausbrüche zum Ausdruck bringen. Bei 1'07'' setzt bereits Monteverdis Musik als asynchrone Tonquelle ein, die bis zum Schluss des Films ein Gesangsduo von einem Mann und einer Frau in italienischer Sprache wiedergibt und kurz vor Ende des Films ausklingt. Als dritte Steigerungsebene zur Dramatisierung setzt bei 1'48'' im Bild eine Zeitlupe ein, die wie die Musik bis zum Ende des Films bestehen bleibt, wobei die verlangsamte Bildqualität in der Phase der Bewegungsentspannung nicht mehr deutlich zu erkennen ist. Durch diese Zeitlupe löst sich die Sprache von einer synchronen Lippenbewegung, jedenfalls solange, wie Textebene und Zeitlupe zusammenlaufen. Diese Phase dauert eigentlich nur 30 Sekunden, dient aber der deutlichen Vorbereitung des dramatischen Klimax mit dem Schrei in Zeitlupe, der durch diese Verfremdung eine verstärkte Zeichenhaftigkeit erfährt. Der Verlauf des Körperausdrucks, also vornehmlich der Mimik mit einzelnen Arm- und Handbewegungen lässt sich wie im Schema dargestellt in einem klaren Spannungsbogen wiedergeben: erste Augen- und Mundbewegungen, eine die Sprache unterstützende Mimik Claudia Rosiny 338 bis zu den Schrei verstärkendes Kopfschütteln (bei 2'30''), das durch die Zeitlupe und den Pagenschnitt ausserdem zu seltsamen Bewegungsmustern mutiert, und zweimaliges Erheben von Fäusten (bei 2'48'' und 3'37''), gesteigert zu zusammen gekniffenen Augen, die ab der vierten Minute mit einer zuerst nur als Ahnung erkennbaren Entspannung ein In-sich-Kehren andeuten, um anschliessend ganz allmählich zu einer wortlosen Entspannung zu finden. Zum Schluss werden die Hände wie zur Beruhigung kurz auf den Kopf gelegt, mit dem Senken des Blicks wiederum gesenkt und Fumiyo Ikeda geht aus dem Bild, so dass als letztes Bild nur ein leerer weisser Raum zu sehen ist. Eindrücklich an diesem Filmbeispiel ist, wie mit der Reduktion der filmischen Mittel und einen ausschliesslich auf den Gesichtsausdruck konzentrierten Tanzausdruck eine ausserordentlich starke Wirkung erzielt werden kann. Das Auseinanderdriften von Bild- und Tonebene durch den gezielten Einsatz einer einfachen Zeitlupe irritiert zuerst, trägt aber in der Folge zu einer Intensivierung der Bedeutungsebene bei. Auch das Zusammenspiel von zwei Tonquellen, der gesprochenen Sprache und der gesungenen Oper, trägt zu einer Verdichtung des Ausdrucks bei. Obwohl Monoloog voor Fumiyo Ikeda aus dem Rahmen üblicher Choreographien fällt, die meist einen erkennbaren Raum brauchen und von Personen zumeist in Ganzkörperbewegungen getanzt werden, zeigt dieses Beispiel doch sehr deutlich, wie wenige konzeptionelle Mittel es selbst im Videotanz braucht, um mit diesen eine Erweiterung der Sinneswahrnehmung zu erzielen. Anmerkungen 1 Eine ausführliche Würdigung und Analyse von Cunninghams vielfältigem Schaffen bietet Sabine Huschka: “Merce Cunningham und der moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik”, Würzburg 2000. 2 Zitat von Merce Cunningam im Katalog des Videovertriebs der Cunningham Foundation, New York. 3 Bernard Noël aus: “Le lieu des Signes”, zit. in: Jean-Marc Adolphe: “Von Quellen und Bestimmungen. Konzepte von Gedächtnis, Bewegung und Wahrnehmung im Tanz Frankreichs”, in: Zeitgeist - Jahrbuch Ballett International, 14. Jg., Nr. 1, Januar 1991, S. 22-29, S. 23. 4 Barnes, Clive: Barnes on …. In: Ballet News, Vol. 4, Nr. 2, August 1982, S. 46. 5 Vgl. hierzu Barbara Büscher: “Theater und Video - jenseits des Fernsehens? Intermediale Praktiken in den achtziger Jahren”, in: Rolf Bolwin, Peter Seibert (Hg.): Theater und Fernsehen. Bilanz einer Beziehung, Studien zur Kommunikationswissenschaft Band 18, Opladen 1996, S. 145 -168. 6 Rosiny, Claudia: “Videotanz. Panorama einer intermedialen Kunstform”, Zürich 1999. 7 Mit den Begriffen synchron und asynchron beziehe ich mich auf die von Siegfried Kracauer begründete Struktur der Bild-Ton-Verknüpfungen. Vgl. Kracauer: “Theorie des Films. Die Errettung der äusseren Wirklichkeit (1. Aufl. 1964), Frankfurt a.M. 1985, S. 158ff. Addresses of Authors Dr. Gustav Frank Department of German University of Nottingham University Park GB-Nottingham NG7 2RD Gustav.Frank@nottingham.ac.uk Prof. Dr. Gregor Gumpert Lehrstuhl für Komparatistik Universität Bayreuth Universitätsstr. 30 D-95440 Bayreuth greogor.gumpert@uni-bayreuth.de Zembla62@aol.com Prof. Dr. Dr. Ernest W.B. Hess-Lüttich Universität Bern Institut für Germanistik Länggass-Str. 49 CH-3000 Bern 9 hess@germ.unibe.ch PD Dr. Nicola Kaminski Universität Tübingen Deutsches Seminar Wilhelmstr. 50 D-72074 Tübingen nicola.kaminski@uni-tuebingen.de Prof. Dr. Kay Kirchmann Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Theater- und Medienwissenschaft Bismarckstr. 1, Haus B D-91054 Erlangen kykirchm@phil.uni-erlangen.de Prof. Dr. Hans Krah Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau Innstr. 25 D-94032 Passau Hans.Krah@Uni-Passau.de Dr. Claudia Rosiny Eichmattweg 6 CH-3007 Bern info@tanztage.ch Prof. Dr. Dagmar Schmauks Institut für Sprache und Kommunikation Arbeitsstelle für Semiotik TU Berlin - TEL 16 -1 Ernst-Reuter-Platz 7 D-10587 Berlin dagmar.schmauks@tu-berlin.de PD Dr. Matthias Spohr Eggbühlstr. 9 CH-8050 Zürich mspohr@hispeed.ch Dr. Christina Thurner Deutsches Seminar der Universität Basel Nadelberg 4 CH-4051 Basel c.thurner@unibas.ch