eJournals

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
273-4
KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 27 (2004) No. 3-4 ARTICLES Markus Meßling Behauptung (in) der Schrift Zur Problematik von Schrift und Individualität bei Wilhelm von Humboldt und Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Nina Bishara Text und Bild: Deutsche und brasilianische Außenwerbung im Vergleich . . . . . . . . . 201 Ulrike Schröder Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? Selbstreflexionsprozesse und ihre kulturspezifische Ausprägung . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Ulrike Schröder Die Technologie des Privaten: eine Untersuchung zur metaphorischen Eigendynamik des deutschen Redestils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Hans W. Giessen Medien der Aufklärung Erwartete Wirkungen der Informationstechnologie in nordamerikanischen Science-Fiction-Filmen und im deutschsprachigen Pop-Song . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Karl-Heinrich Schmidt Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II): Polyspatiale Alternanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Dagmar Schmauks Der Keiler sprach zur Sau: “Wir werden Mann und Frau”. * Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechtsstereotypen im Bilderbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Contents 162 REVIEW ARTICLES Ernest W.B. Hess-Lüttich New Media - New Language? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Ernest W.B. Hess-Lüttich Die Pointe auf den Punkt gebracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Klaus Kaindl Neues zur literarischen Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Ernest W.B. Hess-Lüttich Lesen in der Mediengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 REVIEWS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Addresses of authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 98,- (special price for private persons 64,-) plus postage. Single copy (double issue) 54,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2005 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: Nagelsatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0171-0834 Behauptung (in) der Schrift Zur Problematik von Schrift und Individualität bei Wilhelm von Humboldt und Jacques Derrida Markus Meßling The article examines two of the most important theories of writing, Wilhelm von Humboldt’s and Jacques Derrida’s grammatologies. Being not in line with tradition Humboldt’s definition of the extension of writing puts his reflections out of Derrida’s critique of European logocentrism. For Humboldt, writing corresponds with the anthropological principle of articulation. Fulfilling an objectifying function for cognition, this principle of formal segmentation itself is like an immaterial ‘inner writing’, which, by its sense-generating nature, is similar to Derrida’s concept of ‘writing’ as trace. But whereas for Humboldt writing (in its ‘inner’ and ‘outer’ sense) is the specific expression of historically formed cultural subjects, for Derrida, on the contrary, it is the symbol of deconstruction of any essentialist concept of language. Both conceptions lead to a crisis of individuality: For Humboldt, the encounter of the individual with a mighty cultural structure to be internalized in the process of ontogenesis makes the alienation plausible felt in the mother tongue. For Derrida, language as a cultural entity can only be adopted, but never be internalized nor ‘possessed’ by man, it remains the Other, and therefore is not a natural part of identity. This “non-identity” of language makes possible attributions to it in which then lies the power of cultural inor exclusion. Yet for both, Humboldt and Derrida, it is by the means of writing that the subject can hold its relative individuality against the structural and cultural power of language. Non que je cultive l’intraduisible. […] Mais “intraduisible” demeure - doit rester, me dit ma loi - l’économie poétique de l’idiome, celui qui m’importe, car je mourrais encore plus vite sans lui … Jacques Derrida (1996: 100-101). 1. Wider das Exterioritätspostulat: Die Schrift als das Umfassende Insofern, als Sprache das in der Entwicklung des Menschen früher ausgeprägte Kommunikationsmedium ist - sowohl was die Geschichte der Menschheit als auch was die Ontogenese betrifft - hat Schrift nur mit Rückbezug auf sprachliche Strukturen entwickelt werden können: Dass die Schrift von der Sprache her geformt wird, entspricht dem Gang der Evolution ebenso wie der Logik jedes einzelnen Schrifterwerbs. Sprache ist in jeder Hinsicht das “ältere” Medium. (Stetter 1997: 468) Auch Wilhelm von Humboldts Reflexion der Schrift scheint zunächst ganz eindeutig von der Konstatierung einer äußeren Sekundarität der Schrift geprägt zu sein, indem nämlich allein “das tönende Wort […] gleichsam eine Verkörperung des Gedanken, die Schrift eine des K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Markus Meßling 164 Tons” (GS V: 109) ist. Dieses Primat der Sprache vor der Schrift korreliert mit der dialogischen Grundausrichtung von Humboldts Sprachwissenschaft und Philosophie, 1 deren Kernbegriff die Bestimmung der Sprache als Tätigkeit (enérgeia), als “jedesmaliges Sprechen” (GS VII: 46), und deren symbolischer Referenzpunkt die Athener Philosophenschule ist. 2 Die Schrift wird bei Humboldt aber dennoch nicht “der epiphänomenalen Schattenhaftigkeit überantwortet, die ihr schon Platon und Paulus zugedacht haben”, wie Michael Wetzel (2005: 82) behauptet. Denn wenn Humboldts Sprachbegriff im Wesentlichen auf der Stimme und dem Laut aufbaut, so ist die Schrift in seiner Konzeption doch an die gleiche produzierende Sprachanlage gebunden wie die Sprache selbst und daher eher deren genetische Schwester als eine technisch nachgebildete Abbildlichkeit: Die Wirkung des Geistes wird also gleichartig seyn auf Sprache und Schrift, sie wird auf die Erlangung und Wahl der letzteren Einfluss haben, und vollkommenere Sprachen werden von vollkommenerer Schrift, und umgekehrt begleitet seyn. (GS V: 37; H.v.m.) Ulrich Welbers spricht daher in Bezug auf das Sprache-Schrift-Verhältnis in der humboldtschen Reflexion von einem “integrierte[n] Konzept […], das sich seiner Handhabbarmachung durch Dichotomisierung ostentativ entzieht” (2002: 242). Der innere Zusammenhang von Sprache und Schrift ist es auch, der Humboldt in seiner ersten Abhandlung zur Schrift mehr interessiert, als deren äußerliche Verschiedenheit: Ohne die nun zuerst erwähnte Einwirkung auszuschliessen, welche die erfundne, oder eingeführte Schrift auf eine vorher mit keiner versehenen Sprache ausübt, ist es doch vorzugsweise meine Absicht, in der gegenwärtigen Abhandlung von dem zuletzt geschilderten innren, in der Anlage des spracherfindenden Geistes gegründeten Zusammenhange der Sprache und Schrift zu reden. (GS V: 38; H.v.m.) Eine Auffassung der Schrift als “Zeichen für Zeichen” lässt sich auch an Humboldts allgemeiner Schriftdefinition nicht festmachen: Unter Schrift im engsten Sinne kann man nur Zeichen verstehen, welche bestimmte Wörter in bestimmter Folge andeuten. Nur eine solche kann wirklich gelesen werden. Schrift im weitläufigsten Verstande ist dagegen Mittheilung blosser Gedanken, die durch Laute geschieht. (GS V: 34) Über den materiell-äußerlichen Aspekt der Sprach-Abbildung hinaus wird hier ein mehrschichtiger Schriftbegriff formuliert: “Schrift kann also sowohl aus der philologischen Analyse als auch aus der erkenntnis- und kommunikationstheoretischen Perspektive begründet werden.” (Welbers 2002: 249), wobei sich die erkenntnistheoretische Ebene der Schriftbetrachtung auf die Frage des lautlich gliedernden formalen Verfahrens der Gedankenmitteilung bezieht. 3 Humboldts Philosophie reiht sich daher zweifelsohne nicht in eine abendländische Tradition der Ent-Äußerung und moralischen Sanktionierung der Schrift ein, in der Jacques Derrida die Inszenierung eines kulturellen und von der saussureschen Sprachwissenschaft beförderten “Ketzerprozesses” (“le procès d’une hérésie”) ausmacht: Cet accent commençait à se laisser entendre lorsque, au moment de nouer déjà dans la même possibilité l’epistémè et le logos, le Phèdre dénonçait l’écriture comme intrusion de la technique artificieuse, effraction d’une espèce tout à fait originale, violence archétypique: irruption du dehors dans le dedans, entamant l’intériorité de l’âme, la présence vivante de l’âme à soi dans le logos vrai, l’assistance que se porte à elle-même la parole. En s’emportant ainsi, la véhémente argumentation de Saussure vise plus qu’une erreur théorique, plus qu’une faute morale: une sorte de souillure et d’abord un péché. Le péché a souvent été défini - entre autres par Malebranche et par Kant - l’inversion des rapports naturels entre l’âme et le corps dans la passion. Behauptung (in) der Schrift 165 Saussure accuse ici l’inversion des rapports naturels entre la parole et l’écriture. Ce n’est pas une simple analogie: l’écriture, la lettre, l’inscription sensible ont toujours été considérées par la tradition occidentale comme le corps et la matière extérieurs à l’esprit, au souffle, au verbe et au logos. Et le problème de l’âme et du corps est sans doute dérivé du problème de l’écriture auquel il semble - inversement - prêter ses métaphores. (Derrida 1967a: 52; H.v.m.). 4 Dass Humboldts Schriftdefinition im Allgemeinen, trotz der phonozentrischen Ausgangsannahme, dass “die Sprache doch vor der Schrift da ist” (GS V: 112), keineswegs von Derridas mit Emphase vorgetragener Kritik am Mythos der Repräsentation getroffen wird, darauf hat bereits Christian Stetter (1990: 192f.) hingewiesen, der aufgezeigt hat, dass die Extension des humboldtschen Begriffs der Schrift über diejenige der Sprache hinausgeht. Es ist jedoch interessant und durchaus eine Bemerkung wert, dass Humboldt seinen weiten Schriftbegriff in der Beschäftigung mit dem System der ägyptischen Hieroglyphenschrift entwickelt. Humboldt erkennt nämlich, dass im ägyptischen Schriftsystem, das er in diesen ersten Betrachtungen über Schrift und Sprache noch als ein nicht-phonetisches Gebilde begreift, der Zusammenhang zwischen Gedanke, Sprache und Schrift (Bildzeichen) nach verschiedenen Gesetzlichkeiten geregelt wird, weil die Hieroglyphenschrift zwischen der Darstellung einer Idee, also der Ideographie im engen Sinne, und einem stark konventionalisierten Zusammenhang zwischen einem Bildzeichen und einem Wort, also einem logographischen Verfahren, variieren kann: Wollte man jede Mittheilung von Gedanken Sprache, und nur die von Worten Schrift nennen, so hätte dies zwar auf den ersten Anblick etwas für sich, brächte aber in die gegenwärtige Materie grosse Verwirrung, und stiesse noch viel mehr gegen den Sprachgebrauch an. Denn man müsste dieselbe Schriftart, z.B. die Hieroglyphen, zugleich zur Sprache und zur Schrift rechnen, je nachdem sie in unvollkommnem Zustande Gedanken, oder im ausgebildetsten Worte anzeigte. (GS V: 34-35) Hieraus folgert Humboldt, dass die ältere Sprache strukturell betrachtet das ‘engere’, die jüngere Schrift aber das ‘weitere’ Zeichensystem ist. Ganz gegen die These einer traditionellen Abbildlichkeit der Schrift wird hier die Sprache in ihrer medialen Struktur - ohne Zweifel nicht in ihrer anthropologischen Relevanz - unter dem Dach der Extension des Schriftbegriffes aufgenommen. Schrift erscheint als das der Sprache übergeordnete Medium, als das Umfassende: Es ist daher richtiger und genauer, Sprache bloss auf die Bezeichnung der Gedanken durch Laute zu beschränken, und unter Schrift jede andre Bezeichnungsart der Gedanken, so wie die der Laute selbst, zusammenzufassen. (GS V: 35) Ulrich Welbers hat allerdings zu Recht vorgeschlagen, diese Textstellen, an denen sich ein die Sprache umfassender Schriftbegriff festmachen lässt, nicht absolut, sondern in Bezug zur humboldtschen Sprachkonzeption insgesamt zu lesen: Die Umkehrung der Extension des Sprachwie des Schriftbegriffs indes für humboldt-typisch zu halten, ginge wohl zu weit. Humboldt verwendet Sprache hier einmal als Chiffre für aktuale mündliche Sprachverwendung, und Schrift geht hier so weit auf Artikulation hinaus, dass sich ihr Begriff ohne die Kontextuierung in einem umfassenden Sprachverständnis kaum systematisch dauerhaft halten und aufhalten könnte. Für Humboldt ist die Perspektive wichtig: Schrift ist ein konstitutiver Teil der artikulatorisch-wirklichkeitskonstituierenden Funktion der Sprache, […]. (Welbers 2002: 250) Dennoch lässt sich festhalten, dass der Schrift in den zitierten Textauszügen, die ja an diesbezüglich zentraler Stelle, nämlich in Humboldts Abhandlung Ueber den Zusammenhang Markus Meßling 166 der Schrift mit der Sprache (GS V: 31-106) stehen, eine in semiotischer wie erkenntnistheoretischer Hinsicht über die materielle Fixierung von Sprache hinausgehende Relevanz zugesprochen wird. Es ist allerdings tatsächlich fraglich, ob die zentrale Bedeutung der Schrift für Humboldt vor allem in der Problematik von deren Extension zu suchen ist. Sie liegt vielmehr in dem, was Welbers hier die “artikulatorisch-wirklichkeitskonstituierende Funktion” nennt. Wenn in der humboldtschen Abhandlung die Beschreibung der Schrift nämlich “so weit auf Artikulation hinaus[geht]”, so deshalb, weil sie für Humboldt die Verkörperung des formal-gliedernden Prinzips der Sprache, genauer, der je spezifischen Sprachanlage ist, in der sie mit der Sprache strukturell und historisch verbunden ist. Da das Verfahren einer formal gliedernden Verobjektivierung des Stoffs die nicht hintergehbare geistige, also ‘innere’ Bedingung jeder sprachlichen Tätigkeit ist, geht die erkenntnistheoretische Relevanz der Schrift bei Humboldt zurück bis ins innerste Moment der Sprache. 2. Primat der Sprache und Urschrift der Form: Zu Humboldts innerem Schriftbegriff und Jacques Derridas Konzept der trace Im ersten Moment der Lektüre mag es fast scheinen, als habe Humboldt die erstaunlich traditionsungemäße Bestimmung der Extensionen von Sprache und Schrift in seiner Abhandlung nur vorgenommen, um sie sogleich mit umso größerer Wortgewalt zu revidieren und das alte Primat der Sprache, ihren nicht nur historischen, sondern auch wesenhaften Vorrang umso emphatischer zu restaurieren: Es braucht übrigens kaum bemerkt zu werden, dass auch da, wo die Schrift Gedanken bezeichnet, ihr in dem Sinne dessen, von dem sie ausgeht, doch immer einigermassen bestimmte Worte in einigermassen bestimmter Folge zum Grunde liegen. Denn die Schrift, auch da, wo sie sich noch am wenigsten vom Bilde unterscheidet, ist doch immer nur Bezeichnung des schon durch die Sprache geformten Gedanken. (GS V: 35; H.v.m.) Allein, was Humboldt hier meint, ist nicht die lautliche Sprache, die Stimme, sondern ein innerer Begriff von Sprache, das ihr innewohnende Prinzip der formalen Differenz, das in der Artikulation durch lautliche Differenzierung und in der graphematischen Struktur der Schrift widergespiegelt wird. Dass Humboldt einen solchen inneren Sprachbegriff kennt, zeigt seine Vorstellung von der Sprachfähigkeit des Menschen jenseits der Fähigkeit zur lautlichen Artikulation: Die Sprache aber liegt in der Seele, und kann sogar bei widerstrebenden Organen und fehlendem äusseren Sinn hervorgebracht werden. Dies sieht man bei dem Unterrichte der Taubstummen, der nur dadurch möglich wird, dass der innere Drang der Seele, die Gedanken in Worte zu kleiden, demselben entgegenkommt, und vermittelst erleichternder Anleitung den Mangel ersetzt, und die Hindernisse besiegt. (GS V: 117, H.v.m.) Die transphonetische Charakteristik der inneren Sprache betont Humboldt auch an anderer Stelle: Dass die Sprache ohne vernommenen Laut möglich bleibt, und insofern ganz innerlich ist, lehrt das Beispiel der Taubstummen. Durch das Ohr ist jeder Zugang zu ihnen verschlossen, sie lernen aber das Gesprochene an der Bewegung der Sprachwerkzeuge des Redenden und dann an der Schrift verstehen, sie sprechen selbst, indem man die Lage und Bewegung ihrer Sprachwerkzeuge lenkt. (GS VI: 153) 5 Behauptung (in) der Schrift 167 Es gibt also bei Humboldt die Vorstellung einer inneren Sprache jenseits der Stimme, die in ihrer Funktion als “bildende[s] Organ des Gedanken” (GS VII: 53), als formatives Prinzip der Kognition, Geltung vor jeder tatsächlichen lautlichen oder skripturalen Äußerung hat. Als Prinzip der für das Bewusstsein unabdingbaren formalen Verobjektivierung des Gedankens entspricht diese lautlose Artikulation dabei eher einer formalisierenden Spur, einer immateriellen Schrift als einer Sprache. Humboldt selbst macht in seinem Brief vom 5. März 1826 an August Wilhelm von Schlegel das Konzept einer virtuellen Schrift expressis verbis stark: Sie sagen: die Buchstabenschrift wäre schon in den frühesten Zeiten virtualiter vorhanden gewesen, wenn sie auch nicht in Ausübung gebracht wurde. Wenn Sie damit die Stelle meiner Abhandlung [Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau; M.M.] vergleichen, wo ich S. 14 vom geistigen Theile des Alphabets, noch ohne Zeichen fürs Auge, spreche, so werden Sie sehen, daß es im Grunde dasselbe ist. (BAWS: 198-199) 6 Diese immaterielle Schrift ist also eine ‘erste Schrift’, eine Urschrift der Form, deren Funktion als sinngenerierende psychische Spur (trace) Jacques Derrida in seiner Freud-Lektüre verdeutlicht: L’absence de tout code exhaustif et absolument infaillible, cela veut dire que dans l’écriture psychique, qui annonce ainsi le sens de toute écriture en général, la différence entre signifiant et signifié n’est jamais radicale. L’expérience inconsciente, avant le rêve qui suit des frayages anciens, n’emprunte pas, produit ses propres signifiants, ne les crée certes pas dans leurs corps mais en produit la signifiance. Dès lors ce ne sont plus à proprement parler des signifiants. (Derrida 1967b: 311) Derrida teilt mit Humboldt die Vorstellung von einer sinngenerierenden Formativität, er radikalisiert sie jedoch in der Idee der Stellvertretung. Die Form (der Signifikant) tritt bei Derrida als Stellvertreterin, als “supplément” für einen an sich nicht präsenten gedanklichen Gehalt auf. 7 Sie ist damit das Symbol der Abwesenheit von substanzieller Präsenz, 8 ein Symbol des Todes. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Jacques Derrida an verschiedener Stelle auf den ägyptischen Gott Thot zu sprechen kommt, den Gott des Mondes, Stellvertreter von Gottvater und Sonnengott Amun Rê, denn der ägyptischen Göttermythologie zufolge ist Thot der Erfinder der Hieroglyphenschrift und zugleich Schreiber vor dem Jüngsten Gericht, bisweilen Fährmann der Toten. 9 In ihrer stellvertretenden Funktion geht die Form ganz in der Signifikanz auf, sie wird zur Bedeutung und verschwindet so als Form, weshalb sie dann auch, wie Derrida im vorangegangenen Zitat betont, kein eigentlicher Signifikant mehr ist. Wilhelm von Humboldt geht dagegen durchaus von einer Stofflichkeit jenseits der Form aus, aber nur in der Form wird der Gedanke dem Subjekt bewusst. Die Form erfüllt dabei nicht die Funktion des Stellvertretens, sondern ist das den semantischen Gehalt formende Konstitutive, das synthetisch mit dem Gedanken verbunden ist. Dies ist deshalb relevant, weil der Gedanke auch nur der Form entsprechend, in der er herausgebildet wurde, veräußerlicht werden kann. Sprache als phoné und Schrift als techné sind genau daher in ihrer spezifischen Charakteristik bedingt durch die innere Sprache, die Urschrift der Form. Andererseits - und auch das ist ganz humboldtisch vom dialogischen Prinzip der Reziprozität her gedacht - wirkt die äußere Formativität, sowohl der lautlichen Sprache als auch der Schrift, auf die innere Sprachform zurück: Die aus der Seele heraustönende specifische Sprachanlage verstärkt sich in ihrer Eigenthümlichkeit, indem sie wieder ihr eignes Tönen, als etwas fremdes Erklingendes, vernimmt. (GS V: 117) Markus Meßling 168 Die innere Formativität nimmt die Form des über das Ohr eindringenden Wortes wahr, nimmt dessen Klang in sich auf, ertastet mit dem Auge das Schriftzeichen, es entstehen Isomorphien und Kontraste zwischen ‘Außen’ und ‘Innen’, wobei die konkreten, lautlichen Formen der Sprache die innerlichen Formen erhärten oder die Bildung neuer verursachen. So dringt die spezifische Sprache in die universelle Spur der gedanklichen Hervorbringung ein, vermählen sich Historizität der jeweiligen Einzelsprache und Universalität der im Individuum angelegten Urschrift der Form, wodurch die Sprachanlage in ihrer spezifischen Eigentümlichkeit überhaupt erst entsteht: “Auf dieser mittleren Ebene zwischen ‘allgemeiner Sprachkraft’ und ‘wirklichem Sprechen’, die aus nahe liegenden gründen zunächst an die Nationen geknüpft wird, […], bilden sich die allgemeinen Formen besonderer Sprachen.” (Borsche 1989: 59) Die innere Sprachform, also die formale Anlage einer spezifischen Sprache ist daher kein Mysterium, sie ist keine rätselhafte Gegebenheit, sondern entsteht aus der geistigen Arbeit an den äußeren Formen: “Die freie Arbeit des Geistes besteht in der fortwährenden Bildung des Denkens am schon Gedachten, des Sprechens am schon Gesprochenen.” (Borsche 1989: 61) Gedacht werden kann immer nur anhand der Formen, die die Lautsprache bereitstellt. 10 Es ist daher richtig, dass Donatella Di Cesare die Bedeutung der äußeren Form betont; 11 die Umkehrung der Gewichtung hin zu einem Primat der Äußerlichkeit wird aber dem Sprachbegriff Humboldts nicht gerecht, der in §14 der Kawi-Einleitung Innerlichkeit und Äußerlichkeit synthetisch zu vermählen sucht: Die Bezeichnung des Begriffs gehört dem immer mehr objektiven Verfahren des Sprachsinnes an. Die Versetzung desselben in eine bestimmte Kategorie des Denkens ist ein neuer Act des sprachlichen Selbstbewußtseins, durch welchen der einzelne Fall, das individuelle Wort, auf die Gesammtheit der möglichen Fälle in der Sprache oder Rede bezogen wird. Erst durch diese, in möglichster Reinheit und Tiefe vollendete, und der Sprache selbst fest einverleibte Operation verbindet sich in derselben, in der gehörigen Verschmelzung und Unterordnung, ihre selbstständige, aus dem Denken entspringende, und ihre mehr den äußeren Eindrücken in reiner Empfänglichkeit folgende Thätigkeit. (GS VII: 109; H.v.m.) Gleichwohl zeigt sich hier ein Vorrang, eine logische Bedingtheit. Denn die Fähigkeit zur “Versetzung” eines Begriffs in eine determinierte “Kategorie des Denkens” muss immer schon gegeben sein, die innere Formativität muss immer schon da sein, ohne sie ist Sprachlichkeit nicht denkbar, weil die äußeren Formen, also die gestische, lautliche und skripturale Artikulation, zwar sinnlich wahrgenommen, dem Subjekt jedoch nicht als artikulierte, das heißt gegliederte semantische Entitäten bewusst werden könnten. Insofern gibt es in der Tat eine Priorität der Form vor dem Stoff, eine erste Spur der Form, eine Urschrift. Sie ist jedoch, um mit Ernst Cassirer (1923: 107) zu sprechen, als “ein Prius der Geltung, nicht als ein solches des empirisch-zeitlichen Daseins gefasst”. Die innere, immaterielle Formativität bleibt dabei im wahrsten Sinne des Wortes Sprach-los ohne die Verschmelzung mit Ton, Gestus oder graphischem Zeichen. Sie bedarf der Adaptation der äußeren Formen. Anders gesagt: Die ursprüngliche Artikulation von sinnvoller Rede ist nur begreiflich zu machen, wenn man sie einerseits als durch ein solches Prinzip [einer intellektuellen Tätigkeit] verursacht sowie andererseits als durch den Laut bedingt betrachtet. So verstanden ist die innere Form einer Sprache nicht eine ‘ideale Norm’ für immer schon mangelhafte Realisierungen im äußeren Laut, sondern lediglich ein Moment der wirklich artikulierten Rede: Erst als äußere erhält die innere Sprachform Bestimmtheit. (Borsche 1989: 57) Inneres und Äußeres sind also in Humboldts Sprachkonzept dialektisch in der Zeit verschränkt. 12 Hier schließt sich nun der Zirkel der humboldtschen Grammatologie. Denn vor Behauptung (in) der Schrift 169 dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es nicht mehr verwunderlich, dass Humboldt die Entstehung der ersten historischen Schrift, der graphischen Urschrift, eben gerade nicht mehr einfach als einen Vorgang der Abbildung von Sprache, als eine reine Äußerlichkeit betrachtet, denn sie ist in ihrer Formalität an die Urschrift der Form, und, genauer, in ihrer spezifischen graphischen Form an die Sprachanlage gebunden. Die ägyptische Hieroglyphenschrift konnte also nur aus dem Sprachsinn geboren werden: Die Aegyptische Verwandlung der Bilder in Schrift konnte nicht vor sich gehen, ohne wirkliche Reflexion über die Natur der Sprache, oder ohne plötzlich erwachendes richtiges Gefühl derselben […]. (GS V: 45) Nur die tiefe Überzeugung von der Reziprozität von Innerlichkeit und Äußerlichkeit der ‘Schrift’ kann Humboldt dazu bewegen, die Genese der ägyptischen Hieroglyphenschrift nicht aus dem Geiste der Kunst zu erklären - obwohl er die Bildhaftigkeit der ägyptischen Hieroglyphen in diesem ersten Text über die Schrift noch als pikto-ideographisches System deutet. Zwar sieht Humboldt in der Emanzipation der Kunst von ihrer nachrichtlichen Mitteilungsfunktion den Rahmen, in dem das Bedürfnis und damit schließlich das Nachdenken über ein graphisches Kommunikationsmittel aufkam (vgl. hierzu GS V: 47f.). Allein, Schrift, auch Bilderschrift, entsteht erst aus der intuitiven Einsicht in die Formativität von Sprache, aus dem Sprach-Sinn: Dass der Schritt, welcher von dem Malen zu dem Schreiben mit Bildern führte, wahrhaft ein Uebergang in eine neue Gattung war, lässt sich leicht an einem Beispiel versinnlichen. Wenn man malend einen Jäger, der einen Löwen erlegt, vorstellte, so konnte man durch mannigfaltige Abstufungen das Bild in allen seinen Teilen sowohl bestimmen, als vereinfachen, und dadurch dem Begriff Genauigkeit und Klarheit geben; aber man blieb dabei immer in dem Gebiet des Malens. Auf den Einfall, die Vorstellung zu zerlegen, das Abschiessen des Pfeiles von dem Schiessenden zu trennen, konnte man nicht auf jenem Wege gerathen; er konnte nur durch ein sich vordrängendes Gefühl der von der bildlichen Darstellung ganz abweichenden Natur der Sprache entstehen, die eine solche Trennung verlangt. (GS V: 49; H.v.m.) Humboldts Interpretation der Schrift als Verkörperung der Sprachanlage ist eine Bejahung der Subjektivität im eigentlichen Sinne: In ihrer Gebundenheit an die innere Sprachform des Menschen ist die Schrift Ausdruck menschlicher Wesenhaftigkeit und zugleich selbst ein aus der spezifischen Anlage hervorgehendes historisches Subjekt. Hier klafft nun in aller Klarheit die Differenz zwischen der humboldtschen und der derridaschen Grammatologie auf. Denn die historische, lineare Schrift ist bei Derrida an das Prinzip der Spur (trace) gebunden, das er ja ursprünglich von der Reflexion der äußerlichen Schrift entwickelt hat, 13 und somit an das Prinzip der Stellvertretung. Damit aber ist auch sie ein Symbol der Aufhebung von substanzieller Präsenz und der Determination des Subjektes, das sich zwar in der Schrift ausdrückt, also wird, und doch durch den stellvertretenden Charakter der Zeichen an die Unmöglichkeit einer Festschreibung, und damit an seine eigene Vergänglichkeit erinnert wird: Or, l’espacement comme écriture est le devenir-absent et le devenir-inconscient du sujet. Par le mouvement de sa dérive, l’émancipation du signe constitue en retour le désir de la présence. Ce devenir - ou cette dérive - ne survient pas au sujet qui le choisirait ou s’y laisserait passivement entraîner. Comme rapport du sujet à sa mort, ce devenir est la constitution même de la subjectivité. A tous les niveaux d’organisation de la vie, c’est-à-dire de l’économie de la mort. Tout graphème est d’essence testamentaire. Et l’absence originale du sujet de l’écriture est aussi celle de la chose et du référent. (Derrida 1967a: 100-101) Markus Meßling 170 So kündigen sich zwei verschiedene anthropologische Anliegen der Schriftbetrachtung an: Während Humboldts Grammatologie zum Ziel hat, anhand linguistischer Untersuchungen der Schrift(en) eine Aussage über die Sprachanlage(n) und damit über den Menschen und seine historische Verschiedenheit zu treffen, trachtet Derrida mit seiner Grammatologie nach einer “- durchstrichenen - Transzendentalität der Urspur” (1983: 157) 14 , die die Grundlage einer Meta-Rationalität und Meta-Wissenschaftlichkeit sein soll, die “in ein und derselben Geste […] den Menschen, die Wissenschaft und die Zeile [überschreiten]” (1983: 156) 15 . Und doch, wenn wir der Frage des Verhältnisses von Subjekt(ivität) und Schrift noch ein wenig folgen, stoßen wir auf eine erstaunliche Nähe der beiden Denker, und zwar in jener identitären Krise, die im Kern sowohl von Humboldts als auch von Derridas Sprachreflexion aufscheint: die Problematik der Selbstbehauptung in der Fremdheit der Sprache. 3. Macht und Freiheit: Anthropologische Konsequenzen des Schriftkonzepts bei Humboldt und Derrida Die grammatologische Aufhebung einer natürlich gegebenen Subjektivität ist für Jacques Derrida ja nicht nur Anlass zum testamentarischen Vollzug in der Schrift, sondern auch die Grundlage für ein Denken der Freiheit, denn die “Schrift ist nicht nur die Weise, das Eigene zu nennen und damit seiner Eigenheit zu berauben. Sie ist auch Eröffnung des Spiels der Differenzen.” (Kimmerle 2000: 38) Die für Jacques Derrida von der Schrift symbolisierte Aufhebung einer Subjekt-Gegebenheit, einer essenziellen ‘Präsenz’ und letztlich einer göttlichen Absolutheit geht einher mit der Erkenntnis von der Nicht-Festgeschriebenheit und Nicht-Festschreibbarkeit von Wahrheit überhaupt. Wenn es jedoch keine absolute Wahrheit gibt, kein göttliches Gesetz, das sich selbst offenbarte, durch das der Mensch determiniert wäre, indem er in es ‘einträte’, in ihm ‘stünde’, so ist er doch immer auf dem Weg dorthin, stets bewegt, sich einer angenommenen Wahrheit immer wieder anzunähern: Evidemment: dans cette situation où, ce qui se passe, c’est que le jugement doit se passer de critères et que la loi se passe de loi, dans ce hors-la-loi de la loi, nous avons d’autant plus à répondre devant la loi. Car l’absence de critériologie, la structure imprésentable de la loi des lois ne nous dispense pas de juger à tous les sens, théorique et pragmatique, de ce mot, […]; au contraire, elle nous enjoint de nous présenter devant la loi et de répondre a priori de nous devant elle qui n’est pas là. En cela aussi nous sommes, quoi que nous en ayons, des préjugés. (Derrida 1985: 94-95) Das in der Grammatologie entwickelte Prinzip der steten Suche bzw. Setzung und steten Sinn-Aufschiebung wird hier zur conditio humana, 16 und in diesem Sinne ist der Mensch im Denken Derridas ein “Préjugé” 17 , ein Vorverurteilter. Aber seine Vorverurteilung ist jene zur Freiheit, denn die Abwesenheit eines absoluten Gesetzes ist die notwendige Voraussetzung für das menschliche Urteilen, das die Frage der Gesetzesanwendung überschreitet: Si les critères étaient simplement disponibles, si la loi était présente, là, devant nous, il n’y aurait pas de jugement. Il y aurait tout au plus savoir, technique, application d’un code, apparence de décision, faux procès, ou encore récit, simulacre narratif au sujet du jugement. Il n’y aurait pas lieu de juger ou de s’inquiéter du jugement, il n’y aurait plus à se demander “comment juger? ”. (Derrida 1985: 94) Behauptung (in) der Schrift 171 So liegt in der Setzung von ‘Wahrheit’, in diesem immer wieder auszuhandelnden kantschen “Als ob” 18 die Möglichkeit zum Selbstentwurf. Dies hat Jacques Derrida in seiner Lektüre von Franz Kafkas Parabel Vor dem Gesetz reflektiert: La loi est interdite. Mais cette auto-interdiction contradictoire laisse l’homme s’auto-déterminer “librement”, bien que cette liberté s’annule comme auto-interdiction d’entrer dans la loi. Devant la loi, l’homme est sujet de la loi, comparaissant devant elle. Certes. Mais, devant elle parce qu’il ne peut y entrer, il est aussi hors la loi. Il n’est pas sous la loi ou dans la loi. Sujet de la loi: hors la loi. (Derrida 1985: 122) Und etwas weiter im Text: Elle [la loi] laisse l’homme se déterminer librement, elle le laisse attendre, elle le délaisse. Et puis neutre, ni au féminin, ni au masculin, indifférente parce qu’on ne sait pas si c’est une personne (respectable) ou une chose, qui ou quoi. La loi se produit (sans se montrer, donc sans se produire) dans l’espace de ce non-savoir. (Derrida 1985: 125) Hier verschmelzen die grammatologische Aufhebung von essenzialistisch gedachter Subjektivität in der Sprache und die talmudische, jedesmalige Annäherung - als sprachliche Setzung - an das politisch-religiöse ‘Gesetz’ zur Freiheit des Menschen. Wenn aber Sprache von einem solchen grammatologischen Prinzip der Aufhebung charakterisiert ist, sie also im Gegensatz zu Humboldts Konzeption nicht Ausdruck einer natürlich gegebenen und historisch (weiter-)entwickelten Subjektivität ist, die das Individuum nach deren - für Humboldt allerdings spannungsreichen - Aneignung charakterisiert, wenn sie also auch niemandem kulturell ‘gehört’, wie kann sie dann das Medium jener “colonialité de la culture” (Derrida 1996: 47) sein, die Derrida selbst in der traumatischen Begegnung mit einer machtvollen sprachlichen Fremdheit - der des Französischen - erfahren hat und die er in dem Dyptichon “Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne.” (Derrida 1996: 13) zu fassen sucht? Wie erklärt sich die Erfahrung sprachlicher Fremdheit, die Derrida in Le monolinguisme de l’autre mit so schmerzlichen Worten beschreibt? Sie ist dort nämlich nicht nur die Begegnung mit einer fremden Sprache, sondern die Erfahrung der Fremdheit in der eigenen Sprache: Or jamais cette langue, la seule que je sois ainsi voué à parler, tant que parler me sera possible, à la vie à la mort, cette seule langue, vois-tu, jamais ce ne sera la mienne. Jamais elle ne le fut en vérité. Tu perçois du coup l’origine de mes souffrances, puisque cette langue les traverse de part en part, et le lieu de mes passions, de mes désirs, de mes prières, la vocation de mes spérences. (Derrida 1996: 14) Auch in der humboldtschen Sprachbetrachtung ist die Problematik der Fremdheit präsent und auch bei Humboldt ist sie nicht einfach die Begegnung mit einer anderen Sprache, sondern stellt für ihn sogar eine menschliche Urerfahrung dar, insofern nämlich, als sie jedes Individuum in der Ontogenese wieder erfährt. Da die Sprache als genetische Schwester der Schrift aus der gleichen formalen Anlage entspringt, ist auch sie Ausdruck eines Sprachsinns, und damit einer natürlich gegebenen, sich dann entfaltenden kollektiven Subjektivität. Wie die Schrift, die dies schon durch die spezifische Äußerlichkeit symbolisiert, ist die Sprache Ausdruck der historischen Gewordenheit einer kulturellen Entität. Jedes Individuum, das in eine kulturelle Gemeinschaft “hineingeboren” wird, ist daher in eine sprachliche Situation geworfen, der es sich nicht entziehen kann. Denn es erwächst ja nicht jedes Mal eine neue Sprache in diesem Prozess, sondern das Individuum, das mit der universellen Fähigkeit zu sprechen in die Welt kommt, muss diejenige Sprache erlernen, die es umgibt, um zu kommunizieren und um die Markus Meßling 172 formale Materialität seiner höheren geistigen Vorgänge zu erwerben. Die grundsätzliche Erfahrung der Fremdheit in der eigenen Muttersprache wird bei Humboldt also plausibel durch eine sanfte Unterwerfung des Individuums unter eine kollektive, historisch gewachsene sprachliche Struktur: Die Sprache aber ist, als ein Werk der Nation, und der Vorzeit, für den Menschen etwas Fremdes; er ist dadurch auf der einen Seite gebunden, aber auf der andren durch das von allen früheren Geschlechtern in sie Gelegte bereichert, erkräftigt, und angeregt. Indem sie dem Erkennbaren, als subjectiv, entgegensteht, tritt sie dem Menschen, als objectiv, gegenüber. (GS IV: 27; H.v.m.) Wie stark aber ist das Denken des Individuums durch das ihm von der Tradition verliehene Instrument der Sprache bereits vorgeformt? Christian Stetter (1990: 184) hat die Vorstellung, der humboldtschen Erkenntnistheorie liege das Konzept einer sprachlichen Determiniertheit des Denkens zu Grunde, negiert und beurteilt das Sprachsystem als Angebot an zweckmäßigen Formen, derer sich die Einbildungskraft aufgrund der “Isomorphie von sprachlicher und logischer Artikulation” (ebda.) bedienen kann, um sinnvolle Gedanken zu bilden. Humboldt selbst hat dies so formuliert: Die Sprache hat dann das Verdienst, der Mannigfaltigkeit der Wendungen Freiheit und Reichthum an Mitteln zu gewähren, wenn sie oft auch nur die Möglichkeit darbietet, diese in jedem Augenblick selbst zu erschaffen. (GS VII: 93) Jürgen Trabant (1985: 178f.) betont in Bezug auf Humboldts Sprachdenken, dass “die Weltansichten keine Gefängnisse des Denkens” sind, nicht nur, weil jedes individuelle Sprechen über die historisch-kollektive Ansicht der Einzelsprache hinausgeht, sondern auch, weil die eigenen Grenzen durch Erlernen anderer Sprachen überwindbar sind. Darüber hinaus ist in einem allgemeineren philosophischen Sinn für Humboldt die - auch sprachliche - “Beschränkung der Individualität des Menschen” (GS VII: 25) und die Leitung durch ein “Princip der Totalität” (ebda.: 24) sogar die notwendige Bedingung für jede Gemeinschaftlichkeit, aus der zentrale emotionale, politische und ethische Bindungen wie Freundschaft und Humanität hervorgehen. 19 Das Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Sprache bleibt aber für Humboldt spannungsreich. Die Freiheitsproblematik ist in Form der für die Sprache konstitutiven Spannung zwischen der “selbstständigen Macht” (GS VII: 63) der Sprache als System und dem menschlichen Geist und seiner das System verändernden “Gewalt” im humboldtschen Sprachdenken stets präsent. 20 Das zeigen die folgenden Zeilen aus § 9 über “Natur und Beschaffenheit der Sprache überhaupt”, dem philosophischen Kern von Humboldts Hauptwerk, der Einleitung zum Kawi-Werk: Die Sprache gehört mir an, weil ich sie so hervorbringe, als ich thue; und da der Grund hiervon zugleich in dem Sprechen und Gesprochenhaben aller Menschengeschlechter liegt, […], so ist es die Sprache selbst, von der ich dabei Einschränkung erfahre. Allein was mich in ihr beschränkt und bestimmt, ist in sie aus menschlicher, mit mir innerlich zusammenhängender Natur gekommen, und das Fremde in ihr ist daher dies nur für meine augenblicklich individuelle, nicht meine ursprünglich wahre Natur. Wenn man bedenkt, wie auf die jedesmalige Generation in einem Volke alles dasjenige bindend einwirkt, was die Sprache desselben alle vorigen Jahrhunderte hindurch erfahren hat, und wie damit nur die Kraft der einzelnen Generation in Berührung tritt, […], so wird klar, wie gering eigentlich die Kraft des Einzelnen gegen die Macht der Sprache ist. Nur durch die ungemeine Bildsamkeit der letzteren, durch die Möglichkeit, ihre Formen, dem allgemeinen Verständniß Behauptung (in) der Schrift 173 unbeschadet, auf sehr verschiedene Weise aufzunehmen, und durch die Gewalt, welche alles lebendig Geistige über das todt Überlieferte ausübt, wird das Gleichgewicht wieder einigermaßen hergestellt. (GS VII 63-64; H.v.m.) Die Fremdheit des Individuums in seiner Sprache wird also bei Humboldt plausibel durch die Begegnung mit der semantisch-strukturellen Beschaffenheit dieser Sprache und dem darin enthaltenen geistigen Kondensat, das Humboldt den “(National-) Charakter” nennt, mit der spezifischen Individualität der Sprache also, ihrer formalen, historischen, kulturellen, politischen und sozialen Eigenschaft. Die Schrift, in der diese Eigenschaften in nicht unerheblicher Weise formal, funktional und ästhetisch materialisiert sind, verdeutlicht diese Fremdheit, ist aber zugleich das Medium, das ihre Reflexion erst ermöglicht. 21 Wenn aber die Begegnung mit der Sprache in anthropologischer Hinsicht spannungsreich bleibt, so ist ihre individuelle Aneignung für Humboldt doch gleichbedeutend mit der Eingliederung in einen “Nationalcharakter”. Trotz der verbleibenden Fremdheit ist die Individualität der (Mutter-) Sprache als “Weltansicht” substanziell und damit unumstößlich Teil der kulturellen Identität des Subjekts, und zwar ein “bereichernder, erkräftigender, anregender” (vgl. noch einmal GS IV: 27). 22 Hier setzt nun die Problematik der Fremdheit in der Sprache bei Derrida ein. Denn der Zusammenhang von Sprache und Identität stellt sich für ihn wesentlich prekärer dar. Wenn Jacques Derrida das Konzept von Sprache als Ausdruck einer gegebenen Subjektivität gerade ablehnt, so ist es doch genau jene Begegnung mit der zivilisatorischen Besetzung des und durch das Französische, die ihn in die existenzielle Erfahrung sprachlicher Fremdheit führt, von der Le monolinguisme de l’autre erzählt. Gemeint ist seine Erfahrung als Franzose algerisch-jüdischer Herkunft, der keine andere Sprache als das Französische besitzt, das ihn doch diszipliniert und ihm schließlich entzogen werden soll und in gewisser Weise auch wird, 23 die Erfahrung also einer Abhängigkeitsliebe vom “Mutterland” und seiner Metropole Paris, der “Ville-Capitale-Mère-Patrie” (Derrida 1996: 73), in der Frankreich als monumentale Schulmeisterin auftritt: Un pays de rêve, donc, à une distance inobjectivable. En tant que modèle du bien-parler et du bien-écrire, il représentait la langue du maître (je crois n’avoir d’ailleurs jamais reconnu d’autre souverain dans ma vie). Le maître prenait d’abord et en particulier la figure du maître d’école. (Derrida 1996: 73) Die Besatzer sind “oppresseurs et normatifs, normalisateurs et moralisateurs” (Derrida 2005: 39), ihre koloniale Macht ist umfassend, sie enthält die kulturelle Kraft der Bezeichnung: “La maîtrise, on le sait, commence par le pouvoir de nommer, d’imposer et de légitimer les appellations.” (Derrida 1996: 68; H.v.m.) 24 Benennung und Normierung, Setzung in der eigenen Sprache und Gesetz - die sprachliche Hoheit ist die am weitesten tragende und zugleich subtilste Macht der Besatzer, weil sie Aneignung in einem zweifachen Sinne bedeutet: Le monolinguisme de l’autre, ce serait d’abord cette souveraineté, cette loi venue d’ailleurs, sans doute, mais aussi et d’abord la langue même de la Loi. Et la Loi comme Langue. Son expérience serait apparemment autonome, puisque je dois la parler, cette loi, et me l’approprier pour l’entendre comme si je me la donnais moi-même; mais elle demeure nécessairement, ainsi le veut au fond l’essence de toute loi, hétéronome. La folie de la loi loge sa possibilité à demeure dans le foyer de cette auto-hétéronomie. C’est en faisant fond sur ce fond qu’opère le monolinguisme imposé par l’autre, ici par une souveraineté d’essence toujours coloniale et qui tend, répressiblement et irrépressiblement, à réduire les langues à l’Un, c’est-à-dire à l’hégémonie de l’homogène. (Derrida 1996: 69) Markus Meßling 174 Zwar lehnt Jacques Derrida die nahe liegende Schlussfolgerung ab, seine Reflexion über die Sprache sei allein das Produkt seiner “anamnèse auto-biographique” (Derrida 1996: 39), sei ein “timide essai de Bildungsroman intellectuel” (Derrida 1996: 131). Denn er erkennt darin die Konsequenz einer Unübersetzbarkeit im philosophischen Sinne, einer grundsätzlichen Fremdheit, eines “‘ailleurs’ dont le lieu et la langue m’étaient à moi-même inconnus ou interdits, comme si j’essayais de traduire dans la seule langue et dans la seule culture francooccidentale dont je dispose, dans laquelle j’ai été jeté à la naissance, une possibilité à moimême inaccessible, […], comme si je tissais encore quelque voile à l’envers […] et comme si les points de passage nécessaires de ce tissage à l’envers étaient des lieux de transcendance, donc d’un ‘ailleurs’ absolu, au regard de la philosophie occidentale gréco-latino-chrétienne, […].” (Derrida 1996: 131-132) Und doch gesteht er ein, dass nichts von dieser Erkenntnis von der Alterität der Sprache und der Alterität im Denken und von deren (Nicht-) Reflexion in der abendländischen Philosophie ihm ohne seine “Krankengeschichte” begreiflich geworden wäre: Certes. Mais je ne saurais en rendre compte à partir de la situation individuelle que je viens de décrire si schématiquement. Cela ne peut s’expliquer à partir du trajet individuel, celui du jeune Juif “franco-maghrébin” d’une certaine génération. […] Une généalogie judéo-franco-maghrébine n’éclaire pas tout, loin de là. Mais pourrais-je rien expliquer sans elle, jamais? Non, rien, rien de ce qui m’occupe, m’engage, me tient en mouvement ou en “communication”, […]. (Derrida 1996: 132-133) Es wird deutlich, wie zentral die Lebenserfahrungen, die Derrida in Le monolinguisme de l’autre schildert und reflektiert, für sein philosophisches Denken insgesamt sind. Weniger als ein discours de la méthode ist das kleine Buch daher die relativ späte Offenlegung einer individuellen ‘Urerfahrung’, die jene der Fremdheit im vermeintlich Eigenen und der Dezentrierung des Selbst ist, und zwar dort, wo diese Entrückung am schmerzhaftesten erscheint: in der eigenen Sprache. Die fest mit dem Selbst verbunden geglaubte Sprache kann ‘entzogen’ werden - natürlich nicht im materiellen Sinne und auch nicht ihre Verfügung im Sinne der Kompetenz, aber doch ihre kulturell-identitäre Funktion. Sie ist nicht Ausdruck einer historischen Subjektivität, die als angeeignete im humboldtschen Sinne von ‘innen heraus’ Teil der Identität des Individuums wäre. In Apprendre à vivre enfin lautet dies so: “Une histoire singulière a exacerbé chez moi cette loi universelle: une langue, ça n’appartient pas. Pas naturellement et par essence.” (Derrida 2005: 39) Sprache ist nur sprechbar, nutzbar, sie bleibt dabei etwas Geliehenes, ‘Anderes’, darin liegt ihre wesenhafte Fremdheit. Wenn eine Sprache aber nicht/ niemandem ‘gehört’, also nicht Ausdruck einer Identität ist, so ist sie auch selbst nicht per se determiniert: In diesem Sinne ist das Postulat der “non-identité à soi de toute langue” (Derrida 1996: 123) zu verstehen. Der identitäre ‘Charakter’ einer Sprache ist immer das Produkt ihrer Bestimmung, und daher resultiert dann auch die Möglichkeit ihrer kulturellen Zuordnung, der Zuschreibung von Sprache an jemanden, an ein kulturelles Kollektiv und der damit verbundene herrschaftliche Gebrauch: “[…] une langue, ça n’appartient pas. […] D’où les fantasmes de propriété, d’appropriation et d’imposition colonationaliste.” (Derrida 2005: 39-40) Die derridasche Lektüre philosophischer Texte, in der das Aporetische, die unausgesprochene Gegenbewegung, das implizite Fremde gesucht und ans Licht befördert werden, offenbart sich als subversive Unterwanderung, die die Aufhebung kultureller Festschreibungen und metaphysischer Zuschreibungen zwar postuliert, aber gerade aus der bitteren sprachlichen Erfahrung von deren subtiler Macht und kolonialer Kraft, also aus der Erfahrung ihrer Realität heraus. Hier wird die politische Prägung eines Behauptung (in) der Schrift 175 großen Denkers deutlich, dessen Konzeption von Subjektivität nicht “das Produkt einer auf das Soziale nicht mehr bezogenen individuellen Selbsterfindung ist” (Kalb 2000: 164) 25 , sondern einem aus der beschriebenen Erfahrung hervorgehenden ethischen Impetus folgt. Die philosophische Konsequenz sollte das begriffliche Ringen mit der ‘Festschreibung’ des Menschen in einer dekonstruktivistischen Sprache sein. So erhellt auch die Grammatologie (1967a), Derridas disours de la méthode, vor diesem Hintergrund: Tous ces mots: vérité, aliénation, appropriation, habitation, “chez-soi”, ipséité, place du sujet, loi, etc., demeurent à mes yeux problématiques. Sans exception. Ils portent le sceau de cette métaphysique qui s’est imposée à travers, justement, cette langue de l’autre, ce monolinguisme de l’autre. Si bien que ce débat avec le monolinguisme n’aura pas été autre chose qu’une écriture déconstructive. Celle-ci toujours s’en prend au corps de cette langue, ma seule langue, et de ce qu’elle porte le plus ou le mieux, à savoir cette tradition philosophique qui nous fournit la réserve de concepts dont je dois bien me servir, et que je dois bien servir depuis tout à l’heure pour décrire cette situation, jusque dans la distinction entre universalité transcendentale ou ontologique et empiricité phénoménale. (Derrida 1996: 115) Über die bereits beschriebene symbolische Aufhebung essenzialistisch gedachter Subjektivität hinaus kommt hier eine weitere Relevanz der Schrift zum Ausdruck; diese ist zwar konkreter, aber doch von ebenso dekonstruktivistischem Charakter, indem sie den ‘Köper’ der Sprache angreift, also deren Struktur modifiziert oder gar partiell zerstört, allerdings mit dem Ziel, etwas neu in ihr formulierbar zu machen, sie sich in gewisser Weise anzueignen. Gemeint ist hier die Schrift als subversives Verfahren, als “révolution interminable” (Derrida 2005: 31), jene Arbeit an der Sprache, durch die etwas Besonderes, in der Individualität des Schreibenden Liegendes Eingang in die kulturell ‘beschriebene’ Sprache findet. 26 Was seine Texte wie nur wenige andere philosophische Schreibungen zeigen, jene “résistance acharnée” (Derrida 1996: 99) des individuellen Sprachgebrauchs, jene ‘Unübersetzbarkeit’ - bis hin zur Unverständlichkeit, ist man bei der Lektüre bisweilen genötigt hinzuzufügen - hat Jacques Derrida in seinem letzten Interview mit Jean Birnbaum so benannt: Et de même que j’aime la vie, et ma vie, j’aime ce qui m’a constitué, et dont l’élément même est la langue, cette langue française qui est la seule langue qu’on m’a appris à cultiver, la seule aussi dont je puisse me dire plus ou moins responsable. Voilà pourquoi il y a dans mon écriture une façon, je ne dirais pas perverse, mais un peu violente, de traiter cette langue. Par amour. L’amour en général passe par l’amour de la langue, qui n’est ni nationaliste ni conservateur, mais qui exige des preuves. Et des épreuves. On ne fait pas n’importe quoi avec la langue, elle nous préexiste, elle nous survit. Si l’on affecte la langue de quelque chose, il faut le faire de façon raffinée, en respectant dans l’irrespect sa loi secrète. C’est ça, la fidélité infidèle: quand je violente la langue française, je le fais avec le respect raffiné de ce que je crois être une injonction de cette langue, dans sa vie, dans son évolution. […] Laisser des traces dans l’histoire de la langue française, voilà ce qui m’intéresse. Je vis de cette passion […]. (Derrida 2005: 37-38; H.v.m.) Hier wird deutlich, dass die französische Sprache für Derrida durchaus ein historisches ‘Subjekt’ ist, das seine Struktur und innere Gesetzlichkeit evolutionär ausgeprägt hat. Dieses Subjekt hat jedoch sein eigenes Leben, ist gewissermaßen ein Abstraktum, etwas Eigenes und nicht Ausdruck einer kollektiven Subjektivität. Die kulturell-identitäre Zuschreibung des Französischen bleibt für Derrida ein “Phantom”, eine Konstruktion, gegen die es die Freiheit des eigenen Sprechens, das eigene “Idiom” zu behaupten gilt. Im individuellen Sprachgebrauch sieht indes auch Humboldt ein Moment der Freiheit, das der strukturellen Macht der Sprache abgerungen werden kann: Markus Meßling 176 In der Art, wie sich die Sprache in jedem Individuum modificiert, offenbart sich, ihrer im vorigen dargestellten Macht gegenüber, eine Gewalt des Menschen über sie. Ihre Macht kann man (wenn man den Ausdruck auf geistige Kraft anwenden will) als ein physiologisches Wirken ansehen; die von ihm ausgehende Gewalt ist ein rein dynamisches. In dem auf ihn ausgeübten Einfluß liegt die Gesetzmäßigkeit der Sprache und ihrer Formen, in der aus ihm kommenden Rückwirkung ein Princip der Freiheit. (GS VII: 65; H.v.m.) Erst diese Freiheit der dynamischen Veränderung ist es, die Individualität ermöglicht und schließlich, in der Summe der individuellen Text-Arbeiten, auch den spezifischen Charakter einer Sprache ausprägt. Das Studium des Charakters, das für Humboldt den “Schlussstein der Sprachkunde” (GS IV: 13) darstellt, 27 geht daher von der Frage des Stils aus, der “das Resultat des individuellen synthetischen Aktes des Sprechens ist” (Cesare 1998: 127). Immer wieder bezieht Humboldt sich auf die Eigenheiten von Texten - der Bezug auf die griechischen Schriftsteller von Homer bis zu den Byzantinern zur Charakterisierung des Griechischen in der Kawi-Einleitung 28 ist dafür nur ein Beispiel von vielen in Humboldts Werk. Als Bedingung aber für die Ausprägung von Individualität in Texten kommt der Schrift eine eminent wichtige Funktion zu: Erst die schriftlich fixierte Tradition, welche die Individualität der einzelnen Sprecher in die vom synthetischen Akt der Rede zurückbleibende Spur einschreibt, erlaubt sowohl die Bearbeitung der Sprachstruktur, als auch die Ausbildung des Charakters. Und noch einmal zeigt sich die eigenständige Stellung Humboldts, der gerade in der Schrift die Grundlage erkennt, auf der sich die sprachliche Individualität konstituieren kann. (Cesare: 127) Es ist das grammatische und semantische Ausschreiten und Ausdehnen der vorgegebenen Struktur, die der Sprache aus Liebe zugefügte, ja eingeschriebene Gewalt, was Humboldt interessiert, weil nur darin sprachliche Dynamik, Leben, Individualität ist. Jürgen Trabant hat daher Humboldts anthropologische Position als “Studium der Subversion oder der Auflehnung (Gewalt) gegen die Systeme” (1986a: 202-204) beschrieben. Es ist schon erstaunlich, dass Jacques Derrida Wilhelm von Humboldt in seinen Reflexionen nicht begegnet ist - oder uns zumindest nichts darüber mitgeteilt hat. Anmerkungen 1 Vgl. Welbers (2002: 239f.) 2 Vgl. Trabant (1986b: 301), der Humboldts Erkenntnistheorie folgendermaßen charakterisiert: “Humboldts philosophischer Weg lässt sich geradezu als ein Weg vom Bild zur Stimme, als Transformation der Ein- Bildungs-Kraft in Ein-Stimmungs-Kraft bzw. Überein-Stimmungs-Kraft darstellen. Humboldts Sprachtheorie stellt eine Wende von der traditionell visuell-okularen (solipsistischen) Erkenntnistheorie zu einer auditivaurikularen (dialogischen) Erkenntnistheorie dar.” Vgl. auch Caussat (2002), der Humboldts philosophische “Dialogik” kontrastierend gegen Hegels auf das Ich, das Selbst bezogene, monologische Dialektik herausgearbeitet hat. 3 “Was Schrift abbildet, sind nicht die physiologisch bestimmbaren Laute, sondern die Form, die bedeutungsunterscheidend sprachliche Ausdrücke bestimmt, also eben die sprachliche Artikulation: […].” (Maas 1986: 280) 4 Ausführlicher zur Frage von ‘Innerlichkeit’ und ‘Äußerlichkeit’ vgl. das gesamte Kapitel “Le dehors et le dedans” (Derrida 1967a: 46-64). - Dass Derrida Saussure mit dieser Verortung zwar ideengeschichtlich, aber nicht in sprachwissenschaftlicher Hinsicht gerecht wird, hat Fehr (1992) betont, der aufgezeigt hat, dass Saussure Sprache in seinen späten Vorlesungen eben nicht mehr als “langage”/ ”Logos”, sondern von der “langue”/ ”glossa” und schließlich sogar den “langues”, der Verschiedenheit der (natürlichen) Sprachen, her denkt: “Der Zeichenbegriff ist also bei Saussaure sozusagen kontrapunktisch zur Erfahrung der Zersplitterung Behauptung (in) der Schrift 177 der Sprachen gesetzt und hat die Aufgabe, die Möglichkeit sprachlicher Kommunikation zu garantieren, die ja in Frage gestellt ist, wenn es nur noch Individualsprachen gibt.” (Ebda.: 51) Wenn Saussure die Schrift aus dem Gegenstandsbereich der Linguistik ausgrenzt, so nicht vom Standpunkt einer Metaphysik der Präsenz aus, sondern es “drängt sich jetzt der Schluss auf, dass Saussures Vorbehalte gegenüber der Schrift daher rühren, dass die Schrift in seinen Augen die Tendenz hatte, die von ihm als grundlegend erkannte Auflösung und Zersplitterung der Sprachen in Lokal- und Individualsprachen zu verschleiern oder in ihrer Radikalität zu mildern. Denn in der Schrift haben lokale und individuelle Abweichungen keinen Platz.” (Ebda.: 52) 5 Vgl. hierzu Trabant (1986b: 307), der in der hier dargestellten kinematographischen Formung des Gedankens die von der Stimme letztlich unabhängige Geltung des artikulatorischen Prinzips der Sprache sieht: “Artikulierte Sprache bleibt damit zwar an die Bewegungsabläufe des Mundes gebunden. Diese werden aber über das Auge wahrgenommen und schließlich mit der Schrift der Hand überantwortet. Artikulierte Sprache ist vom Laut unabhängig, da es eine Artikulationsfähigkeit jenseits des Lauts gibt. Die Buchstabenschrift als Abbildung der letztlich transphonetischen Artikulation, ist damit wesentlich kinematographisch statt phonographisch.” 6 Vgl. auch Christy (1994: 28), der betont, dass die Annahme einer solchen ‘inneren Schrift’ Humboldt erlaubt, die Entwicklung einer gliedernden formalen Struktur auch bei solchen Sprachen zu erklären, die keine (materielle) Schrift besitzen, die die Sprachanalyse begünstigen würde, und: “By allowing for the inner existence of writing prior to its outer manifestation, Humboldt was additionally able to reconcile with reality his view that writing was an indispensable component in the process whereby a language develops into an ever more complete, more perfect organ of human expression.” (Ebda.) 7 Zum Begriff der “supplémentarité” im derridaschen Diskurs vgl. dessen terminologisch aufschlussreichen Aufsatz “La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines”, in: Ders. (1967c: v.a. 423-425). 8 Hierin sehen Fehrmann/ Linz/ Epping-Jäger (2005: 9) einen zentralen Erkenntnisgewinn des Spur-Begriffs: “Die theoretische Produktivität des Begriffs, die sich gleichermaßen in den Kulturwie in den Neurowissenschaften zeigt, in der Informatik ebenso wie in der Psychologie, scheint aus der Eigentümlichkeit der Spur zu resultieren, eine Beziehung zwischen Absenz und Präsenz zu stiften, die gerade nicht auf dem Prinzip der Repräsentation beruht. Spuren sind Hinterlassenschaften, keine Abbildungen von Ereignissen. Ihre Funktion liegt nicht im Bewahren, sondern im Verweisen auf Nicht-Gegenwärtiges.” 9 Vgl. Derrida (1967a: 100f./ Fußnote 31) sowie das Kapitel “Die Einschreibung der Fäden/ Söhne: Theuth, Hermes, Thot, Nabux, Nebo” in: Ders. (1972: 94-106). 10 “Humboldt denkt hier die sprachmediale Wende Hamanns weiter, indem er das spurlose Denken erst in der Spur der sinnlichen Repräsentanz durch den Laut zu sich selbst kommen, erst aus der Nachträglichkeit einer ‘’Lektüre’ der eigenen Spur’ oder durch die ‘semiologische Medialität des sinnlich erscheinenden Sprachzeichens’ Sinn und Bedeutung erlangen lässt.” (Wetzel 2005: 80) 11 Vgl. Di Cesare (1998: 88). 12 Vgl. Borsche (1989: 60-62). 13 Vgl. hierzu das Kapitel “Le dehors est le dedans” in Derrida (1967a: 65-95). 14 Im Original: “la transcendantalité - sous rature - de l’archi-trace” (Derrida 1967a: 132). 15 Im Original: “Elles [la méta-rationalité et la méta-scientificité] passent d’un seul et même geste l’homme, la science et la ligne”, Derrida (1967a: 131). Vgl. hierzu auch die begriffliche Abgrenzung der “grammatologie” von der “graphologie” in: Ders. (1967a: 131ff). Zum Zusammenhang zwischen der Dekonstruktion als ‘Methode’ und der Dekonstruktion des emphatischen Subjekt-Begriffs vgl. Kimmerle (2000: 23ff.). 16 Kimmerle (2000: 28) beschreibt die Bedeutung der Schrift für den Menschen im Denken Derridas daher mit dem heideggerschen Terminus des “Existentials”. 17 So lautet auch der Titel von Jacques Derridas Kafka-Lektüre (Derrida 1985). 18 Zu Derridas Reflexion des kategorischen Imperativs im Zusammenhang mit der Problematik des Gesetzes bzw. des Urteilens vgl. Derrida (1985: 108f.); an zentraler Stelle heißt es hier: “Ce ‘comme si’ permet d’accorder la raison pratique avec une téléologie historique et la possibilité d’un progrès à l’infini. J’avais essayé de montrer comment il introduisait virtuellement narrativité et fiction au cœur même de la pensée de la loi, à l’instant où celle-ci se met à parler et à interpeller le sujet moral.” (108) 19 Vgl. GS VII: 24f. 20 Zu Humboldt und der Fremdheit der Sprache vgl. auch Trabant (1997) sowie Jostes (2004: v.a. 9-16). Die humboldtsche Konzeption der Sprache als “individuelles Allgemeines” hat Kalb (2000) in ihrer Bedeutung für das Verständnis von Nietzsches Theorie des Subjekts reflektiert. 21 “Die Schrift gibt die Sprache als eine Größe zu erkennen, die der individuellen sprachlichen Sinngebung vorausgeht und zugleich die Bedingung ihrer Möglichkeit ist.” (Jostes 2004: 149) Markus Meßling 178 22 In dieser Hinsicht steht Humboldt damit ganz in der Tradition Johann Gottfried Herders; vgl. zu dessen Idee der vor allem sprachlich vermittelten kulturellen Zugehörigkeit Berlin (1999: 60-61). 23 Die Sprachproblematik, die Jacques Derrida als französischer Staatsbürger jüdischer Herkunft im kolonialen Algerien bewusst erlebt und die durch den Entzug der Staatsbürgerschaft unter dem Vichy-Regime zum Trauma wird, hat Jürgen Trabant (im Druck) analysiert. 24 Mit fast den gleichen Worten beginnt Louis-Jean Calvet (1974) das zentrale Kapitel “Le droit de nommer” in seinem wichtigen Buch über Sprachwissenschaft und Kolonialismus: “Tout commence par la nomination. Le mépris de l’autre (c’est-à-dire la méconnaissance ou l’incompréhension de l’autre non assortie d’un souci et d’un effort de connaissance ou de compréhension) se manifeste dès les premiers contacts pré-coloniaux dans l’entreprise taxinomique.” (56), um wenige Seiten weiter das Fazit zu ziehen: “Et c’est ne forcer que peu la métaphore que de dire ici que le partage colonial commence par la segmentation taxinomique.” (58). 25 Dies zu betonen, scheint mir umso wichtiger, als Christoph Kalb (ebda.) mit Nietzsche und Heidegger als Wegbereitern “jener ‘postmodernen’ Missverständnisse” (einer sich selbst sprechenden Sprache und einer nichtsozialen Subjektkonstitution) Traditionen aufruft, die natürlich auch für Derridas Denken von entscheidender Bedeutung sind. 26 Dass dies in gewisser Weise ein Unterfangen von stets beschränktem Erfolg ist, gesteht Derrida in dem vorangegangenen Zitat selbstkritisch ein: “[…] ma seule langue, et de ce qu’elle porte le plus ou le mieux, à savoir cette tradition philosophique qui nous fournit la réserve de concepts dont je dois bien me servir, et que je dois bien servir […].” (Derrida 1996: 115) 27 Vgl. Trabant (1986b: 308-310). 28 Vgl. GS VII: 202-204. Bibliographie Berlin, Sir Isaiah (1999): The Roots of Romanticism (The A.W. Mellon Lectures in the Fine Arts, Bollingen series XXXV: 45). Hrsg. von Henry Hardy. 3 Princeton, N.J. 2001: Princeton University Press. Borsche, Tilman (1989): “Die innere Form der Sprache. Betrachtungen zu einem Mythos der Humboldt-Herme(neu)tik”. In: Scharf, Hans-Werner (Hg.): Wilhelm von Humboldts Sprachdenken - Symposium zum 150. Todestag. Essen: Hobbing: 47-65. Calvet, Louis-Jean (1974): Linguistique et colonialisme. Petit traité de glottophagie. Paris: Payot. Cassirer, Ernst (1923): Philosophie der symbolischen Formen (Erster Teil: Die Sprache). 2 Oxford 1954: Bruno Cassirer. Caussat, Pierre (2002): “Dialektik gegen Dialogik. Über die Unmöglichkeit jeder wirklichen Begegnung zwischen Hegel und Humboldt”. In: Lindorfer, Bettina / Naguschewski, Dirk (Hg.): Hegel: zur Sprache. Beiträge zur Geschichte des europäischen Sprachdenkens. 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Diese studiengerechte Einführung in das Thema Werbesprache stellt die werbewissenschaftlichen Grundlagen bereit und führt Schritt für Schritt in die verschiedenen linguistischen Fragestellungen ein, unter denen Werbung untersucht werden kann. Methodische Hinweise, Wissens- und Diskussionsfragen sowie Anregungen zu bislang noch nicht untersuchten Aspekten machen dieses Arbeitsbuch besonders als Seminargrundlage geeignet. Mit einem Kapitel über die Sprache der Werbung im Internet. “Die Adressaten dieses Buchs werden die unprätentiöse und doch nicht ungefällige, in jedem Fall aber durchweg auf Verständlichkeit zielende Schreibweise zu würdigen wissen. Der Subtitel ist keineswegs ein leeres Versprechen, man kann mit diesem Buch in universitären Veranstaltungen wirklich arbeiten.” DAAD Letter Text und Bild: Deutsche und brasilianische Außenwerbung im Vergleich Nina Bishara Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Typologisierung und der Vergleich der Text- Bild-Beziehungen in deutscher und brasilianischer Außenwerbung. Werden kulturbedingte Differenzen in der Text-Bild-Relation im Zuge der ökonomischen Globalisierung, der multinationalen Präsenz von Konzernen und Produkten sowie der weltweiten Verbreitung der Kulturen im Medium ‘Außenwerbung’ dieser Länder nivelliert, oder gibt es spezifische Unterschiede in der Gestaltung der Wort- und Bildbeziehungen in der brasilianischen und deutschen Außenwerbung, die die kulturgeschichtlichen Tatsachen beider Länder widerspiegeln? In this study, text and picture relationships in German and Brazilian outdoor advertising are first classified according to a typology of text-picture-relationships and are then compared with each other. The study examines whether text and picture relationships in Brazilian and German outdoor advertising become more alike with the advent of economic globalisation, the multinational presence of enterprises and products and the worldwide spread of cultures, or whether, alternatively, specific differences in the arrangement of text and picture can be observed and explained with reference to the cultural history of both countries. 1 Problemstellung und Zielsetzung Als visual oder iconic turn wird die durch die Entwicklung moderner Massenmedien und immer verbesserter Bildtechnologien zu beobachtende Zunahme der Bildlichkeit und des Visuellen in unserer Alltagskultur bezeichnet. Dennoch, so Schierl (2001: 9f.), kann festgestellt werden, dass das Potenzial des Bildes als Informationsträger noch stark unterschätzt wird. So überwiegen in Wissenschaft und Bildung beispielsweise schriftliche Kulturtechniken, und das Bild wird bisweilen als minderwertig gegenüber dem Schrifttext betrachtet. Für viele Kommunikationssituationen ist es jedoch gerechtfertigt, von einer gegenseitigen Dependenz von Text und Bild zu sprechen, wobei jedem Medium unterschiedliche Funktionen und Wirkungsweisen zukommen (cf. Nöth 2004; Schierl 2001). Besonders die Textsorte ‘Werbung’, um deren Text-Bild-Beziehungen es im Folgenden geht, stellt eine Kommunikationsform dar, in der seit jeher Text und Bild zur Kommunikation von Werbebotschaften miteinander verknüpft werden. Wie verhält es sich jedoch mit Text- und Bildbeziehungen in Ländern, die unterschiedliche literale Traditionen aufweisen? Dieser Frage gingen Forscher und Forscherinnen der Universität Kassel und der Pontifícia Universidade Católica de S-o Paulo, Brasilien, in einem K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Nina Bishara 182 interkulturellen Forschungsprojekt zu den Beziehungen zwischen Wort und Bild in den Medien Zeitung, Werbung und Hypermedien in den Jahren 2000 bis 2003 nach. 1 Kulturgeschichtlich betrachtet weist Deutschland im Vergleich zu Brasilien eine lange literale und erudite Tradition auf, während Brasilien als eher orale und visuelle Kultur beschrieben werden kann, in der sich ein abrupter Übergang zur literalen Kultur vollzogen hat. Noch heute ist der Analphabetismus eines der größten Probleme Brasiliens. Die Forschungsgruppe ‘Werbung’ des vorliegenden Projektes ging von der Hypothese aus, dass sich in Zeiten der ökonomischen Globalisierung, der multinationalen Präsenz von Konzernen und Produkten sowie der weltweiten Verbreitung der Kulturen kulturbedingte Differenzen in den Text-Bild-Beziehungen im Medium Werbung nivellieren. Untersuchungsgegenstand zur Überprüfung dieser Hypothese war die Plakatwerbung im öffentlichen Raum, also die Außenwerbung. 2 Hierfür wurden in einigen deutschen und brasilianischen Städten Plakate zeitlich parallel aufgenommen und registriert. 3 Nach ersten Analysen und Ergebnissen musste die erste Hypothese durch eine zweite erweitert werden, nämlich durch die Annahme, dass sich brasilianische und deutsche Außenwerbung viel weniger durch die Gestaltung des Werbekommunikats selbst als durch den urbanen Kontext und die Nutzung des öffentlichen Raums unterscheiden. Diesen beiden Thesen wird im Folgenden nachgegangen. Nach einer kurzen Einführung in den Bereich der Außenwerbung und einer Beschreibung des Korpus werden exemplarische Einzelanalysen diskutiert, welche die Semantik der Text-Bild-Beziehungen und den urbanen Kontext in deutscher und brasilianischer Außenwerbung verdeutlichen. 2 Außenwerbung: Definition, Merkmale, Formate und Werbedaten Als Außenwerbung wird in Deutschland jene Form der Werbung bezeichnet, die sich im Freien befindet. In der Regel handelt es sich dabei um die verschiedenen Formen der Plakat- und Verkehrsmittelwerbung. Gesetzlich ist dies folgendermaßen definiert: Anlagen der Außenwerbung (Werbeanlagen) sind alle ortsfesten Einrichtungen, die der Ankündigung oder Anpreisung oder als Hinweis auf Gewerbe oder Beruf dienen und vom öffentlichen Verkehrsraum aus sichtbar sind. Hierzu zählen insbesondere Schilder, Beschriftungen, Bemalungen, Lichtwerbungen, Schaukästen sowie für Zettel- und Bogenanschläge oder Lichtwerbung bestimmte Säulen, Tafeln und Flächen. (Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Landesbauordnung BauO NW §13 (1)). In Brasilien ist der englische Begriff outdoor (etwa: draußen, im Freien), der im Deutschen laut Duden lediglich Freizeitaktivitäten im Freien bezeichnet, für eine spezielle Form der Außenwerbung (vom Englischen outdoor advertising) reserviert, und zwar für all jene Plakate, die eine Länge von ca. 9m und eine Höhe von ca. 3m aufweisen: no Brasil convencionou-se chamar de “Outdoor” os cartazes formados por folhas de papel com 32 ou 16 folhas, coladas em estruturas metálicas modulares de 9 metros de comprimento por 3 metros de altura (área de colagem: 8, 8m x 2, 9m). Esses quadros s-o instalados a uma altura mínima do ch-o ou sobre muros, em terrenos alugados, sempre respeitando a distância entre as peças prevista pela lei. (von der Website der Central de Outdoor in Brasilien, http: / / www.outdoor.com.br) Andere Werbeformen, die sich im Freien befinden, jedoch nicht das oben genannte Format aufweisen, werden in Brasilien als publicidade ao ar livre oder publicidade exterior bezeich- Text und Bild 183 net. Im Folgenden wird der deutsche Begriff “Außenwerbung” im weiteren Sinn verwendet, um alle Werbeformate im Freien und im öffentlichen Raum unabhängig von ihrer Größe zu bezeichnen. Die Außenwerbung in Form von Plakatierungen weist im Vergleich zu anderen Werbeträgern - beispielsweise im Vergleich zur Printwerbung in Publikumszeitschriften und Tageszeitungen oder der Fernsehwerbung - besondere Merkmale auf. Außenwerbung ist zum einen allgegenwärtig. Die Betrachter können sich ihr nicht entziehen, sie kann nicht umgeblättert oder weggezappt werden, wie es bei der Zeitschriften- oder Fernsehwerbung der Fall ist. Des Weiteren muss die Außenwerbung die Aufmerksamkeit der Betrachter in Sekundenschnelle auf sich ziehen und die Werbebotschaft innerhalb dieses kurzen Zeitraums vermitteln können. 4 Sie muss aus der Ferne wirken, daher sind einige Gestaltungsregeln wie die Reduktion auf das Wesentliche, die Darstellung einer einprägsamen Botschaft, die Verwendung leicht dekodierbarer Motive, der Einsatz starker Farben und Kontraste sowie die Verwendung plakativer Schriften erforderlich. Als Medium der “schnellen Kommunikation” sollte ein Plakat daher möglichst wenig Text enthalten, da es sich wahrnehmungspsychologisch um ein “Sichtmedium” und nicht um ein “Lesemedium” handelt (Schierl 2001: 264). Durch die Platzierung der Außenwerbung an Straßen und öffentlichen Plätzen kann die gesamte Bevölkerung erreicht werden. Außenwerbung hat den Vorteil, die potenziellen Kunden auf dem Weg zum Point of Sale zu erreichen, dem Ort des Verkaufs, um somit bis zuletzt Kaufentscheidungen zu prägen. In Deutschland können neben der Verkehrsmittelwerbung fünf Formen der Außenwerbung in Form der Plakatwerbung unterschieden werden: 1. Die Großfläche: Die Großfläche ist ein Klassiker der Plakatwerbung und stellt wohl die bekannteste Form der Außenwerbung dar. Es handelt sich um genormte Plakattafeln von 3,60 x 2,60 m (also ca. 9 m² Fläche) 5 mit Einrahmung und zum Teil mit Beleuchtung. Die Großfläche steht in der Regel immer nur einem Werbetreibenden zur Verfügung. Im März 2003, also im letzten Jahr des Untersuchungszeitraums des vorliegenden Projekts, wurden in Deutschland 207 370 Großflächen gezählt. 6 2. Das City-Light-Board: Beim City-Light-Board handelt es sich um eine in einer Plakatvitrine und auf einem ca. 3 m hohen Fuß angebrachte Großfläche. City-Light-Boards sind hinterleuchtet und können mit einem Plakatwechslermechanismus ausgestattet sein. 3. Das City-Light-Poster: Das City-Light-Poster ist eine 120 x 170 cm (= 4/ 1 Bogen) große hinterleuchtete Plakatvitrine, die in Wartehallen (z.B. Bus- und Straßenbahnhaltestellen) und Stadtinformationsanlagen integriert ist. Im Jahr 2003 gab es in Deutschland circa 91 431 City-Light- Poster. 7 4. Das Mega-Poster: Das Mega-Poster - manchmal auch Super-Poster genannt - ist eine durch modernste Drucktechnologie realisierbare Form der überdimensionalen Plakatwerbung. Ein Format von 100 bis 1000 m² ist möglich. Meist werden Mega-Poster an Außenfassa- Nina Bishara 184 Abbildung 1 den und Baugerüsten bei Renovierungs- und Bauarbeiten angebracht. Oft sind sie von oben beleuchtet. Für das Jahr 2002 ging man von ca. 300-400 Mega-Postern in Deutschland aus. 8 5. Die Werbesäule: Bei der Werbesäule handelt es sich um einen zylindrischen Werbeträger, der in seiner Größe und im Umfang variieren kann. Die klassische Werbesäule ist die Litfaßsäule, benannt nach dem Berliner Buchdrucker Ernst Litfaß, der 1855 in Berlin die ersten Säulen zu Werbezwecken errichtete. Bei Werbesäulen können so genannte Allgemeinstellen und Ganzsäulen unterschieden werden. Während die Allgemeinstelle mit einem Plakathöchstformat von 119 x 252 cm für mehrere Anschläge unterschiedlicher Werbetreibender genutzt werden kann, steht die Ganzsäule nur einem Werbetreibenden zur Verfügung. Bei modernen Werbesäulen können Plakatanschläge hinterglast sowie von innen und außen beleuchtet werden. In Deutschland gab es im Jahr 2003 62 019 Allgemeinstellen und 17 150 Ganzsäulen. 9 Bis auf die Werbesäule konnten in Brasilien die gleichen Werbeträger festgestellt werden wie in Deutschland. Allerdings gibt es in Brasilien eine größere Vielfalt bezüglich der Formate. Besonders unterscheiden sich die Großflächen und City-Light-Boards beider Länder in der Größe der verfügbaren Werbefläche. In Brasilien handelt es sich bei Großflächen um Anschlagstellen von 8,80 x 2,9 m 10 , also einer Fläche von fast 26 m² und somit mehr als das 2,8fache der deutschen Großfläche mit ca. 9 m 2 . Des Weiteren ist es in Brasilien möglich, zwei bis vier Großflächen miteinander zu verbinden (duplo / triplo / quádruplo com junç-o), um eine maximale Plakatanschlagstelle von 32,20 m Länge zu erreichen. Brasilianische Plakate können zudem über die rechteckige Plakatanschlagstelle hinausreichen wie Abbildung 1 eines City-Light-Boards in Brasília verdeutlicht. Sowohl der Schrifttext als auch die über den Rahmen der Anschlagstelle hinausragende Figur verdeutlichen die Werbeaussage der Firma: “O mundo ao alcance dos nossos clientes” - “die Welt in der Reichweite unserer Kunden”. Anzumerken ist ebenfalls, dass die obige Beschreibung eines City-Light-Boards nicht ganz der auf einem Fuß angebrachten brasilianischen Großfläche entspricht. Zwar ist die erhöhte Großfläche auch in Brasilien beleuchtet, was auch in Abbildung 1 zu erkennen ist, im Gegensatz zum deutschen City-Light-Board ist sie jedoch in der Regel nicht durch Glas vor Wind und Wetter geschützt. In Deutschland sind nach einem erfolgreichen Werbejahr 2000 die Werbeinnahmen der gesamten Branche in den darauf folgenden drei Jahren zunehmend zurückgegangen. Einen so hohen Einnahmeverlust, nämlich 17 Prozent (= 4,1 Mrd. Euro), hat es in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Werbung noch nicht gegeben. 11 Während die Netto-Werbeein- Text und Bild 185 nahmen aller erfassbaren Werbeträger 2000 noch 23 376,26 Millionen Euro betrugen, waren es im Jahr 2002 nur noch 20 066,66 Millionen 12 und 19 283,54 Millionen Euro in 2003 13 . Alle Außenwerbeträger büßten in diesem Zeitraum an Umsätzen ein. Tabelle 1 zeigt die Nettoumsätze der deutschen Außenwerbung im Untersuchungszeitraum des vorliegenden Projekts nach Außenwerbeformen. 2000 2001 2002 2003 Allgemeiner Anschlag 38,40 38,43 37,00 36,87 Ganzsäulen 38,90 37,58 35,20 27,97 Großflächen 294,60 289,96 272,57 297,34 City-Light-Poster 219,60 220,46 214,01 199,05 Verkehrsmittelwerbung 75,40 81,09 77,44 69,77 Riesenposter 36,30 44,24 31,82 33,02 Dauerwerbung 36,80 34,68 36,00 37,43 Klein-/ Spezialstellen 6,10 5,17 4,80 4,88 Elektronische Außenwerbung - 8,10 4,61 3,64 Gesamt 746,20 759,71 713,45 709,97 Tabelle 1: Nettoumsätze der Außenwerbung 2001/ 2002/ 2003 in Mio. Euro 14 Im internationalen Vergleich ist das monetäre Werbevolumen Deutschlands im Untersuchungszeitraum (2000-2003) stetig gesunken. Nachdem Deutschland im internationalen Vergleich einige Jahre hinter den Vereinigten Staaten und Japan an dritter Position rangierte, ist es 2001 auf den vierten Rang nach den Vereinigten Staaten, Japan und Großbritannien gefallen. In den Jahren 2002 und 2003 findet sich Deutschland auf Platz 5 wieder. Brasilien ist im internationalen Vergleich der Werbeeinnahmen der Medien im Jahr 2001 auf Rang 11 zu finden. In 2002 ist Brasilien an 15. Position und im darauf folgenden Jahr an 9. Position. 15 Die Anteile der Außenwerbung an den Gesamteinnahmen der Werbung in Deutschland und Brasilien fallen dabei sehr unterschiedlich aus. 2001 ist die Differenz zwischen beiden Ländern nur gering: 4,5 Prozent der Werbeeinnahmen in Deutschland wurden hier durch Außenwerbung erzielt, während es in Brasilien 4,7 Prozent waren. Im Jahr 2003 betragen die Werbeeinnahmen der Außenwerbung in Deutschland jedoch 4,9 Prozent, in Brasilien liegt in diesem Jahr der Anteil bei nur 0,7 Prozent. 16 3 Das Korpus Für die Untersuchungen der Text-Bild-Beziehungen und des urbanen Kontextes deutscher und brasilianischer Außenwerbung wurden in den Jahren 2000 bis 2003 in den Städten Berlin, Aachen und Kassel sowie in Brasília, S-o Paulo und Belo Horizonte Plakatwerbungen dokumentiert. Das für diese Untersuchung zu Grunde gelegte Korpus bestand aus insgesamt 215 Aufnahmen diverser Werbekommunikate im Außenbereich, davon stammen 98 aus Deutschland und 117 aus Brasilien. Erfasst man Wiederholungen desselben Werbekommunikats an unterschiedlichen Standorten nicht, handelt es sich um insgesamt 79 unterschiedliche deutsche und 102 unterschiedliche brasilianische Plakatierungen. Tabelle 2 fasst die Werbekommunikate nach ihrer Anzahl und den Werbeformaten im Überblick zusammen. Nina Bishara 186 W ERBEFORM B RASILIEN D EUTSCHLAND Großflächen gesamt 17 beleuchtet unbeleuchtet hinterglast & beleuchtet 85 3 81 1 52 8 44 0 City-Light-Boards 18 26 7 City-Light-Poster gesamt Wartehalle Stadtinformationsanlage 2 2 - 28 19 9 Mega-Poster gesamt beleuchtet unbeleuchtet 413 0 Werbesäulen gesamt Ganzsäule beleuchtet, hinterglast Ganzsäule unbeleuchtet Allgemeinstelle beleuchtet, hinterglast Allgemeinstelle unbeleuchtet - 11 0 5 6 0 Außenwerbungskommunikate gesamt 117 98 Außenwerbungskommunikate exkl. Wiederholungen 102 79 Tabelle 2: Werbeformate im Überblick 4 Semantik der Text-Bild-Beziehungen Die Semantik der Text-Bild-Beziehungen befasst sich mit dem Zusammenhang von Text und Bild für die Gesamtbotschaft. Was trägt das Bild und was der Text zur Bedeutung bei, und in welchem Verhältnis stehen beide zueinander? Nöth (2000) führt vier Typen der semantischen Text-Bild-Beziehung auf, die im Folgenden zur Beschreibung und Kategorisierung der Text- Bild-Relationen im Werbekorpus dienen: 1. die Redundanz, in der Bild und Text eine Duplikation oder zweifache Kodierung der Botschaft aufweisen, 2. die Dominanz, in der entweder Text oder Bild durch ihre Größe oder ihren Informationsgehalt dominieren, 3. die Komplementarität, in der sowohl Bild und Text für das Verständnis der Gesamtbotschaft wichtig sind und sich somit ergänzen sowie 4. die Diskrepanz oder Kontradiktion, in der Bild und Text keinen erkenntlichen Zusammenhang ergeben oder sich gar in ihrer Bedeutung gegenseitig ausschließen. 4.1 Redundanz Der Begriff der Redundanz stammt aus der Kommunikationstheorie und bezeichnet überflüssige Doppelungen von Information: Das Bild wiederholt lediglich, was durch den Text bereits ausgedrückt wurde und umgekehrt, d.h. es wird keine neue Information für die Gesamtbotschaft geliefert. Text und Bild 187 Abbildung 2 Die trivialste Form von Redundanz in der Werbung wäre der Fall der ikonischen Abbildung und schriftlichen Benennung eines Produkts (z.B. die Abbildung einer Getränkeflasche mit lesbarem Etikett und der Wiederholung des Namens als Bildunterschrift). Für die Textsorte Werbung kann diese doppelte Informationsvermittlung durch Text und Bild eine besondere Werbestrategie insofern darstellen, als sie durch die Zweifachpräsentation der Werbeaussage die Erinnerungsleistung der Rezipienten ohne größere kognitive Anstrengung gewährleisten kann. Darüber hinaus bietet die redundante Form den Vorteil, dass die Werbebotschaft, die hier aus dem bloßen Zeigen des Produkts besteht, von nur einem Medium vermittelt werden kann: entweder durch das holistisch wahrzunehmende Bild oder durch den Schrifttext. Gerade in einem Land mit einer hohen Analphabetenrate würde diese redundante Form der Text-Bild-Verwendung ein sehr breites Publikum ansprechen. Die Auswertung des Datenmaterials zu brasilianischer und deutscher Außenwerbung ergibt jedoch, dass die redundante Form der Text-Bild-Beziehung in der Werbung beider Länder so gut wie nie Anwendung findet. Die selbstreferenzielle, redundante Form der Werbung, die das Produkt lediglich abbildet und benennt, eignet sich für die primären Ziele von Werbung offensichtlich nicht, denn Werbung will Produkte anpreisen und möglichst positive Botschaften über sie vermitteln, um die potenziellen Kunden zum Kauf und Konsum anzuregen. Dazu werden komplexere Bild-Text-Beziehungen benötigt, als die Redundanz bietet. Des Weiteren zeigt sich, dass ein Bild immer nur Teilaspekte einer schriftlichen Werbebotschaft darzustellen vermag und umgekehrt. Das Bild ist bei der Repräsentation von konkreten Objekten überlegen, während der Text Abstraktes sowie zeitliche und kausale Zusammenhänge besser wiederzugeben vermag (cf. Nöth 2000: 492). Dies sei am Beispiel einer Werbegroßfläche des Automobilkonzerns Renault in Abbildung 2 aus dem deutschen Korpus verdeutlicht. In Abbildung 2 wird sowohl in Text- und in Bildform für den neuen Renault Clio geworben. Der Text lautet: “Bekenne dich. Der neue Renault Clio.” Das Bild stellt vor einer Hochhauskulisse ein schwarzes Modell des beworbenen Fahrzeugs dar, in dessen Nummernschild noch einmal der Name “Clio” wiederholt wird. Text und Bild sind insofern redundant, als der Text ausdrückt: “[Das ist] der neue Renault Clio” und das Bild durch die Abbildung des Fahrzeugs dieselbe Information liefert. Die Information “[das ist] der Renault Clio” wird sogar ein weiteres Mal durch die Namensnennung “Clio” im Nummernschild des abgebildeten Autos gefestigt. Das Bild vermag jedoch nicht die im Text enthaltene Attribution “neu” auszudrücken. Umgekehrt vermittelt das Bild aber Informationen über das Aussehen des Automobils, z.B. über Farbe, Größe und Form, welche durch die bloße Nennung des Namens “Renault Clio” im Text nicht mitgeteilt werden können. Die redundante Form von Text und Bild trifft auch auf die zahlreichen Werbeanzeigen und -plakate für berühmte Modedesigner-Labels zu, die in der Regel lediglich ein Model darstellen und den Namen des Designers nennen (z.B. Hugo Boss in Abbildung 3 aus dem brasilianischen Korpus). Zwar bildet das Bild ein Produkt des Designers ab, dies wird aber erst durch die Bildunterschrift “Hugo Boss” für die Rezipienten deutlich, und jene Rezipienten, die nicht mit dem Mode- Nina Bishara 188 Abbildung 3 Abbildung 4 Label vertraut sind, könnten annehmen, es handele sich bei dem männlichen Model um Hugo Boss selbst. Ausgeschlossen ist genuine Redundanz in der Werbung jedoch nicht: Im deutschen Teil des Korpus konnte ein Werbekommunikat in Form einer Ganzsäule festgehalten werden, welches für die Zigarettenmarke Marlboro wirbt. Zu sehen ist eine traditionelle Westernlandschaft, wie sie seit Jahrzehnten von der Marlboro-Werbung inszeniert wird und die Textinformation “Marlboro”. Durch das immer wiederkehrende Westernmotiv in Verbindung mit dieser Marke kann man davon ausgehen, dass Text und Bild für die Mehrheit der Rezipienten redundant sind. Im brasilianischen Teil des Korpus konnten keine Fälle von Redundanz gefunden werden. Damit kann für das hier untersuchte Korpus belegt werden, dass Redundanz von Text und Bild nur marginal in der Werbung vorkommt. 4.2 Textdominanz Am eindeutigsten ist der Fall von Textdominanz in Werbekommunikaten, in denen sich kein Bild befindet. Dominanz des Textes gegenüber dem Bild kann aber auch dann vorgefunden werden, wenn der Text überwiegt beziehungsweise mehr Informationen liefert als das Bild. Das Bild hat dann lediglich eine illustrative Funktion und nimmt eine zweitrangige Position ein. Ein Beispiel dafür ist die deutsche Großflächenwerbung für das Automobil FordKa Futura (Abbildung 4). Zwar wird in dieser Plakatwerbung ein Modell des beworbenen Fahrzeugtyps abgebildet, die wesentliche Information wird aber durch den Textteil mitgeteilt: Es werden Sonderausstattungen wie Leicht-metallräder, Audiosystem und Klimaanlage sowie ein Preisvorteil gegenüber dem Serienmodell aufgeführt, welche zum “Extraspaß” am Fahrzeug beitragen sollen. Diese Freude am Fahren wird zusätzlich im Textstil mathematischer Formeln als Quadratur “Extraspaß hoch zwei” in der Bildüberschrift ausgedrückt. Durch den Fettdruck wird weiterhin das Wort “Extras” grafisch betont, so dass bereits in der Bildüberschrift auf die Sonderausstattungen hingewiesen wird. In der rechten unteren Ecke des Werbeplakats befindet sich ein Hinweis auf den Absender der Werbebotschaft (“Ihr Ford Händler”), und so wissen interessierte Rezipienten, wo sie das Angebot wahrnehmen können. All diese Informationen werden im Beispiel durch den Text und nicht durch die Abbildung ausgedrückt, folglich kann hier von Textdominanz gesprochen werden. Das brasilianische Korpus war insgesamt zu fast 52% von Textdominanz in den Werbekommunikaten geprägt, so dass diese Form der Text-Bild-Beziehungen für die brasilianischen Beispiele Text und Bild 189 Abbildung 5 Abbildung 6 Abbildung 7 die erste Position in der Rangfolge der zu beobachtenden Text-Bild-Beziehungen einnimmt. Im deutschen Korpus konnten knappe 38% der Werbekommunikate als textdominant eingestuft werden. Diese Form nimmt in der Rangfolge der Text-Bild-Relationen der deutschen Beispiele Platz 2 ein. Im Hinblick auf die eingangs erwähnte Unterscheidung Brasiliens und Deutschlands als oral und visuell bzw. als literal geprägte Kulturen überraschen vor allem die brasilianischen Resultate. Betrachtet man die als textdominant eingestufte Außenwerbung eingehender, so erstaunt des Weiteren die Tatsache, dass ca. 45% der textdominanten brasilianischen Beispiele überhaupt kein Bild aufweisen, während es im deutschen Korpus nur ca. 13% ohne Abbildungen sind. Im brasilianischen Korpus überwiegt in Bezug auf die Text-Bild-Beziehungen also nicht nur die Form der Textdominanz als solche, sondern speziell jene Form der Textdominanz, die durch die Abwesenheit eines Bildes entsteht. Abbildung 5 stellt ein Beispiel brasilianischer Textdominanz ohne Bild dar. In diesem Plakat wird für so genannte cursinhos (Kurse) zur Vorbereitung auf die universitären Aufnahmeprüfungen (vestibular) geworben. Die Textdominanz ohne Bild beschränkt sich im brasilianischen Korpus bei Weitem nicht nur auf Werbung für den Bildungssektor, bei der eine Zielgruppe mit höherem Bildungsniveau angesprochen wird. Auch in Werbeplakaten für Reisen, Pensionen und Geschäfte findet sich diese Form wieder. So wirbt beispielsweise das Reiseunternehmen Itiquira (Abbildung 6) für nationale Reiseangebote ohne dabei jegliche Abbildungen von erholsamen Stränden, gutem Wetter und Panoramaaussichten einzusetzen, die man für diese Produktgruppe erwarten könnte. In Abbildung 7 ist zur Verdeutlichung eine Plakatwerbung eines deutschen Reiseanbieters gegenübergestellt. Die Vermutung liegt nahe, dass die brasilianische Drucktechnologie im Herstellen von hochwertigen Abbildungen noch sehr teuer ist. Des Weiteren fällt auf, dass die brasilianischen Außenwerbungen des Korpus viel häufiger als die deutschen Beispiele für lokale Produkte, Dienstleistungen und Geschäfte werben. Anschrift und Telefonnummer des Werbenden sind häufiger Bestandteil des Werbekommunikats (s. Abb. 5 und 6). Dies lässt auf regional gebundene Unternehmen schließen, die womöglich über geringere Werbeetats verfügen und daher kostspielige Abbildungen meiden. Nina Bishara 190 Abbildung 8 4.3 Bilddominanz Im Fall der Bilddominanz ist der Abbildung mehr Information über das beworbene Produkt zu entnehmen als dem Textteil, bzw. das Bild dominiert im Werbekommunikat allein schon durch seine Größe. Dies sei durch das in S-o Paulo erfasste City-Light-Board für das alkoholische Getränk Orloff Ice in Abbildung 8 verdeutlicht. Das Werbekommunikat ist durch eine imaginäre vertikale Spiegelachse in der Mitte geteilt. Auf der rechten Seite der Spiegelachse ist die Hälfte einer Flasche des beworbenen Produkts zu sehen. Die Betrachter können allein an Hand des Flaschenetiketts erkennen, dass es sich um ein Getränk namens Orloff Ice handelt. Der einzige auf diesem Plakat vorhandene Text ist also Bestandteil der Abbildung selbst und tritt somit stark in den Hintergrund. Es liegt eine intermediale Text-Bild-Beziehung vor, denn der Text wird zum Bild. Auf der linken Seite der Spiegelachse ist die Hälfte des Gesichts eines männlichen, westlich aussehenden Models zu sehen. Das Gesicht und die Haare sind mit Eiszapfen bedeckt und suggerieren die Erfrischung, die das eisgekühlte Getränk bieten soll. Zwar ist ein Bild allein nicht in der Lage, diese Kausalitätsbeziehung (eiskalte Erfrischung - Orloff Ice) auszudrücken, es reicht aber das bloße Nebeneinander der beiden Bildhälften, damit die Betrachter beide Bildelemente miteinander verbinden. Schließlich fügen sich Gesichtshälfte und Flaschenhälfte zu einem Ganzen zusammen, und die imaginäre Spiegelachse stellt ein symmetrisches Verhältnis zwischen den beiden Bildhälften her. Die Einordnung der dokumentierten deutschen und brasilianischen Außenwerbungen in die semantische Typologie der Text- Bild-Beziehungen ergibt, dass die Bilddominanz insgesamt eine unbedeutende Rolle einnimmt. Mit 21,52% ist die Bilddominanz aber in den deutschen Werbekommunikaten stärker vertreten als in den brasilianischen mit nur 8,82%. Dies kann durch das generell häufige Fehlen einer Abbildung in der brasilianischen Werbung erklärt werden (s. Abs. 4.2). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich das Vorkommen von Text- und Bilddominanz in der Außenwerbung im vorliegenden deutsch-brasilianischen Werbekorpus genau entgegengesetzt zur literalen Tradition des jeweiligen Landes verhält. Deutschland mit seiner langen literalen und eruditen Tradition weist einen höheren Bildanteil in der Außenwerbung auf als das eher oral und visuell geprägte Brasilien, dessen Plakatwerbung sich in erster Linie durch Textlastigkeit auszeichnet. 4.4 Komplementarität Text und Bild stehen in einem wechselseitigen komplementären Verhältnis zueinander, wenn sie in der Lage sind, sich gegenseitig zu ergänzen. Sowohl Text als auch Bild sind für das Verständnis der Gesamtbotschaft notwendig: Das Bild schließt eine Leerstelle im Text und umgekehrt. Dies ist etwa für visuelle Metaphern der Fall, wie das folgende Beispiel verdeutlicht. Text und Bild 191 Abbildung 9 Abbildung 10 Abbildung 9 zeigt ein deutsches City- Light-Poster, in dem auf den ersten Blick der Bildanteil gegenüber dem Textteil durch die Größe dominiert. Dargestellt ist ein Büro mit drei Personen, eine Aktenwand im Hintergrund und ein PC-Arbeitsplatz im Vordergrund, an welchem gearbeitet wird. Diese alltägliche Büroszene wird von kleinen Flammen durchbrochen, die sich scheinbar unbemerkt im Raum ausbreiten. Nur durch den Textteil in der unteren rechten Ecke des Posters wird die Bedeutung der Flammen im Bild verständlich. Die Aktion “Gesicht zeigen” warnt: “Rechte Gewalt wird zum Flächenbrand” und fordert: “Sehen Sie nicht tatenlos zu”. Der sich rasch ausbreitende und meist mit verheerenden Folgen endende Flächenbrand wird als Metapher für die gesellschaftlichen und sozialen Gefahren eines nicht im Keim erstickten Rechtsradikalismus verwendet. Das Sprachbild wird visuell im Bildteil des Posters umgesetzt. Ohne die Information des Textes bliebe die Bedeutung der Flammen im Bild ungeklärt. Mit anderen Worten: Sowohl Text als auch Bild sind für das Verständnis dieses Werbekommunikats erforderlich. Umgekehrt kann auch ein Bild zum Verständnis eines Textes beitragen. So in einem City-Light-Poster an einer Bushaltestelle in S-o Paulo, welches für das einheimische Bier Brahma wirbt (Abbildung 10). Der Text kündigt an: “Cerveja Brahma em edic-o especial” 19 . Was an dieser Edition des Biers besonders sein soll, klärt die Abbildung: Das Bier ist in einer Flasche abgefüllt, die einer Sektflasche mit Korken und Goldfolie ähnelt. Ein vollständiges Verständnis des Textes ist also nur durch das Studium des Bildes möglich. Eine weitere Form der komplementären Text-Bild-Verknüpfung ist der transformatorische Übergang vom Bild zum Text. Dies kann Nina Bishara 192 Abbildung 11 Abbildung 12 auf der Ebene des Wortes stattfinden, oder auch auf der kleinsten Ebene eines Textes, nämlich beim Graphem. Das Bild wird auf Grund seiner Platzierung und Form zum Buchstaben, wie es in Abbildung 11 einer deutschen Großflächenwerbung für Kondome der Fall ist. Die Abbildung zweier Kondome ist so platziert, dass sie als Buchstabe “O” zu lesen sind und somit das Wort “cool” bilden. Abschließend ist festzuhalten, dass komplexe Text-Bild-Beziehungen in der Form der Komplementarität von Text und Bild in der Außenwerbung weit verbreitet sind. Die Komplementarität von Text und Bild ist mit einem Vorkommen von 39,24% die häufigste Form der semantischen Beziehung von Wort und Bild im deutschen Teil des Korpus. Für die brasilianische Außenwerbung konnten ebenfalls 39,22% komplementäre Text-Bild-Relationen festgehalten werden. Diese Form nimmt jedoch nur Platz 2 in der brasilianischen Rangskala ein, da mit 51,96% die Textdominanz überwiegt. 4.5 Diskrepanz und Kontradiktion Besteht kein semantischer Zusammenhang zwischen Text und Bild, so ist von Diskrepanz die Rede. In einem solchen Fall stehen Text und Bild vielleicht nur zufällig nebeneinander und sollen keinen Bedeutungszusammenhang konstituieren. Möglich ist aber auch, dass es einem Betrachter schlichtweg nicht gelingt, die vom Produzenten intendierte Text-Bild-Verknüpfung zu verstehen. Hier kann von unbeabsichtigter Diskrepanz gesprochen werden (cf. Nöth 2000: 493). Die diskrepante Form der Text-Bild-Relation lag im vorliegenden Korpus nicht vor. Schließen sich Text und Bild in Form eines Widerspruchs gegenseitig aus, spricht Nöth (a.a.O.) von Kontradiktion. Am deutlichsten ist dies im Falle redaktioneller Fehler, bei denen z.B. aus Nachlässigkeit einem Text ein falsches Bild zugeordnet wird. Da gute Werbung kostspielig ist und einen längeren Planungszeitraum umfasst, kann man aber davon ausgehen, dass fehlerhafte Text-Bild-Verknüpfungen höchst selten sind. Prototypische Text-Bild- Kontradiktionen findet man z.B. auch bei auf Ironie basierenden Karikaturen, welche bewusst das Mittel der Widersprüchlichkeit einsetzen, um die Leser zum Nachdenken zu zwingen und humorvolle Wendungen bei der Textrezeption zu schaffen. Wie das brasilianische Beispiel in Abbildung 12 zeigt, ist der auf Humor oder Ironie basierende Einsatz zunächst widersprüchlicher Text-Bild-Folgen in der Werbung durchaus möglich. Das Lernsystem Anglo (Sistema Anglo de Ensino) verspricht, “große Leute” hervorzubringen: “Preparando gente grande”. Dieser Text ist ohne Abbildung verständlich, denn von großen Leuten ist immer dann die Rede, wenn diese z.B. erfolgreich, einflussreich Text und Bild 193 Abbildung 13 oder berühmt sind, es “zu etwas gebracht haben”. Es handelt sich also um ein Sprachbild. Das Werbeplakat bildet aber zusätzlich zu diesem Text die international bekannte Kultfigur Charlie Chaplin ab. Dies gibt dem Werbetext eine humorvolle Wende, denn wer Charlie Chaplin kennt, weiß, dass er recht klein war. Nimmt man die Redewendung von den “großen Leuten” wörtlich, so stehen Text und Bild in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander. Dieser Widerspruch wird erst aufgelöst, wenn man die übertragene Bedeutung des Sprachbildes zur Interpretation heranzieht, denn schließlich handelt es sich bei Chaplin um eine weltweit bekannte Kultfigur. 20 5 Urbaner Kontext Die Standorte, die Nutzung des öffentlichen Raums und der urbane Kontext der dokumentierten deutschen und brasilianischen Außenwerbung unterscheiden sich erheblich. Augenfällig ist die Häufung von Mehrfachstandorten in brasilianischen Städten (Abbildung 13). Auf engstem Raum werden unzählige Großflächen und City-Light-Boards angebracht - teils beleuchtet, teils unbeleuchtet - hinzu kommen überdimensionale Mega-Poster an Hochhausfassaden, Leuchtreklamen, Boards mit Wechslermechanismus bis hin zu modernsten Videoleinwänden und LED-Bildschirmen. Zusätzlich stellen Wildplakatierungen und illegal angebrachte Graffitis an Mauern und Häuserfassaden ein ernstes Problem in brasilianischen Großstädten dar. All diese Faktoren tragen zur “visuellen Verschmutzung” des Stadtbildes sowie zu einer visuellen Reizüberflutung und Überforderung der Rezipienten bei. Vielfach fehlen in Brasilien behördliche Reglementierungen, die das Gesamterscheinungsbild des öffentlichen Raumes und die Gestaltung urbaner Flächen regeln, und vorhandene Regelungen werden oftmals nicht beachtet. Deutschland hingegen verfügt - auch im Vergleich zu anderen Industriestaaten - über ein sehr stark reglementiertes Werberecht. Im Hinblick auf das Einrichten von Außenwerbe- Nina Bishara 194 Abbildung 14 flächen, die Wahrung des Stadtbildes und die Verkehrssicherheit gibt es umfangreiche Gesetze und Vorschriften, die eingehalten werden müssen. Zum einen bedarf es beim Anbringen von Plakatflächen und anderen Werbeträgern im öffentlichen Raum der bauamtlichen Genehmigung unter Beachtung der Landesbauverordnungen sowie der örtlichen Bauvorschriften. So legt die Landesbauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen beispielsweise fest: § 13 (2) Werbeanlagen dürfen weder bauliche Anlagen noch das Straßen-, Orts- oder Landschaftsbild verunstalten […] Eine Verunstaltung liegt auch vor, wenn durch Werbeanlagen der Ausblick auf begrünte Flächen verdeckt oder die einheitliche Gestaltung und die architektonische Gliederung baulicher Anlagen gestört wird. Die störende Häufung von Werbeanlagen ist unzulässig. Darüber hinaus ist die Straßenverkehrsordnung zu beachten, welche “außerhalb geschlossener Ortschaften jede Werbung und Propaganda durch Bild, Schrift, Licht oder Ton” untersagt, “wenn dadurch Verkehrsteilnehmer in einer den Verkehr gefährdenden oder erschwerenden Weise abgelenkt oder belästigt werden können” (StVO §33 (1)). Diese Regelung gilt auch für innerörtliche Werbung. Letztlich ist in Deutschland gesetzlich festgelegt, dass Wirtschaftswerbung in Kleinstädten und Dörfern erheblich eingeschränkt ist und nicht außerhalb geschlossener Ortsteile stehen darf. 21 In Brasilien, so scheint es, wird jede zur Verfügung stehende Fläche auf legale oder illegale Weise für verschiedenste Formen der Außenwerbung genutzt. Aus Sicherheitsgründen sind in brasilianischen Großstädten die Häuser meist von hohen Mauern umgeben, welche dann als Plakatanschlagstellen dienen, oder auch für primitive Werbemalereien genutzt werden (s. Abbildung 14). 22 Auch an Autobahnen und Landstraßen außerhalb der Ortschaften ist das Anbringen von Großflächenwerbung nicht unüblich. So hat im September 2003 beispielsweise der Nestlé-Konzern in S-o Paulo entlang der Marginal Pinheiros einen Text und Bild 195 kilometerlangen Abschnitt allein für die Werbung seiner Produkte reserviert. In ländlicheren Gebieten wird ebenfalls jede zur Verfügung stehende Fläche genutzt, um Plakatwände z.B. auf Feldern entlang Landstraßen aufzustellen. Zur “visuellen Verschmutzung” durch Außenwerbung in brasilianischen Städten trägt oftmals auch die mindere Qualität vieler Plakatierungen bei. Wie bereits erwähnt, sind Großflächen und City-Light-Boards in Brasilien in der Regel nicht durch Glas geschützt und somit den Witterungsbedingungen und möglichem Vandalismus ausgeliefert. Folglich wirken viele Plakatanzeigen sehr zerschlissen, und die Rahmen der Plakatflächen sind meist verrostet. Auch wird der Untergrund im Falle einer neuen Plakatierung häufig nicht richtig gereinigt oder durch Abdeckbogen, die das vorherige Plakat verdecken, entsprechend vorbereitet. Die Folge sind Plakatanschläge, die unsauber wirken, weil das vorherige Plakat noch zu sehen ist. In Deutschland wird der Bestand an Werbeflächen und deren ordnungsgemäßer Zustand durch die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V. (IVW) überprüft. Das Kontrollverfahren besteht aus einer jährlichen Innenprüfung der angeschlossenen Unternehmen, die Anschlagstellen vertreiben, sowie aus Außenprüfungen von per Stichproben ausgewählten Anschlagstellen. Im Rahmen der Außenkontrolle werden die der IVW gemeldeten Anschlagstellen auf ihr Vorhandensein, ihre genaue Standortbestimmung, ihre Reparaturbedürftigkeit, die Sichtbarkeit der Stellen, die Abstände zwischen den einzelnen Standorten sowie die Sauberkeit des Plakatanschlags hin überprüft. Im Jahr 2002 wurden an insgesamt 13 034 Standorten in Deutschland Anschlagstellen diesem Kontrollverfahren unterzogen, was ca. 5% aller der IVW gemeldeten Flächen für den Plakatanschlag in Deutschland entspricht. 23 Beanstandet wurden dabei 211 Außenwerbeträger. Die Beanstandungen waren überwiegend, nämlich in 138 Fällen, auf mangelhafte Sauberkeit des Plakatanschlags zurückzuführen. 6 Internationalisierung der Werbung in Bild und Text? Die Ausgangsfrage, ob sich Text-Bild-Beziehungen in der Außenwerbung tatsächlich im Zuge der Globalisierung und Internationalisierung nivellieren, lässt sich an Hand des oben beschriebenen Korpus und der gewonnenen Ergebnisse aus dem Text-Bild-Vergleich deutscher und brasilianischer Außenwerbung nicht konsequent beantworten. Dies wäre nur durch ein Korpus zu leisten, das Außenwerbung für international vertretene Konzerne und Produkte der beiden Länder beinhaltet. Am Beispiel eines Vergleichs der Außenwerbung der BMW 7er-Serie in Deutschland und Brasilien 24 sei abschließend dargestellt, welche Forschungslücke durch weitere interkulturelle Untersuchungen geschlossen werden kann. Beim Vergleich der Werbeplakate für die BMW 7er-Serie in Deutschland und Brasilien müssen zunächst einige ökonomische Faktoren berücksichtigt werden. Während BMW und die BMW Group in Deutschland einen hohen Marktanteil besitzen, besetzt der Konzern in Brasilien nur eine Marktnische. Das hat zur Folge, dass BMW Brasilien im Vergleich zu Deutschland nur sehr selten Außenwerbekampagnen oder TV-Spots schaltet. Für die besagte 7er-Serie von BMW wurden 2002 in Brasilien nur zwei Werbeplakate eingesetzt, welche in der Nähe des Internationalen Flughafens in S-o Paulo zu sehen waren (s. Abbildungen 15 und 16). In den Abbildungen 17 und 18 sind die Werbeplakate dargestellt, wie sie in Berlin respektive Leipzig erschienen. Nina Bishara 196 Abbildung 17 Abbildung 15 Abbildung 16 Abbildung 18 Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass die deutsche Kampagne für den BMW 7er mit dem gleichen Bildmotiv arbeitet, sich aber textlich unterscheidet. In Abbildung 17 ist zu lesen: “Schon die Fahrt in die Oper ist ein Kulturereignis. Der BMW 7er mit neuem 12- Zylinder” und in Abbildung 18 heißt es: “Ähnlich kultiviert bewegt man sich nur noch im Gewandhaus. Der BMW 7er mit neuem 12-Zylinder”. In beiden Texten geht es also um Fortbewegung in Verbindung mit der lokalen Kultur des Plakatanschlagortes - es wird auf die Berliner Oper und das Leipziger Gewandhaus angespielt - und somit auf die klassische Kultiviertheit einer bestimmten Zielgruppe mit Interesse an traditioneller Hochkultur. Interessant ist, dass diese beiden Beispiele die Fahrt und die Bewegung betonen, in der Abbildung jedoch ein Standmotiv des Automobils verwendet wird. Die beiden brasilianischen Werbeplakate für die BMW 7er-Serie verwenden unterschiedliche Bildmotive. Das Automobil ist in verschiedenen Ansichten und in unterschiedlichen Farbschattierungen zu sehen. Der Text in Abbildung 15 lautet: “Você vai jurar que ainda esta voando” 25 und in Abbildung 16: “Upgrade para classe executiva” 26 . Technische Daten werden auf den brasilianischen Plakaten nicht thematisiert. Wie in den deutschen Beispielen auch, geht es bei den brasilianischen Umsetzungen der Werbereihe um die Art der Fortbewegung, allerdings wird diese nicht mit Kultur in Verbindung gebracht, sondern mit dem Fliegen und dem Aufstieg in eine höhere Klasse, wobei der Claim “Upgrade para classe executiva” zweideutig ist. Einerseits nimmt er Bezug zum Plakatanschlagort in der Nähe des internationalen Flughafens und die Möglichkeit, von einer Reiseklasse in die nächst höhere aufzusteigen. Andererseits bezieht sich der Satz auf die Abbildung eines BMWs und bedeutet in diesem Kontext die Verbesserung der Fahrzeugklasse. In jedem Fall nehmen beide brasilianischen Plakate in kommunikativ selbstreferenzieller Weise Bezug zu ihrem Anschlagort in der Nähe eines Flughafens. Im Gegensatz zu dem deutschen Motiv ist in den beiden brasilianischen Abbildungen Dynamik und Bewegung angedeutet. Wenn vom Aufsteigen in die Executive Class die Rede ist, so wird dies visuell durch ein aufwärtsfahrendes Auto unterstrichen. Text und Bild 197 In ihrem Stil und Gesamterscheinungsbild unterscheiden sich die vier Großflächen jedoch nicht. Jedes Plakat verfügt über die gleichen Designelemente: Großaufnahme des Automobils, ein kurzer Text über die Art der Fortbewegung in weißer, serifenloser Schrift mit Referenz zur Plakatanschlagstelle sowie das blau-weiße Logo des BMW-Konzerns mit dem Slogan “Freude am Fahren” bzw. “Puro prazer de dirigir” und der Internetadresse. In den brasilianischen Plakaten ist das Logo zwar im unteren Bildrand des Werbekommunikats angebracht, während es in den deutschen Beispielen oben platziert ist; dieser Unterschied dürfte aber für das Verständnis des Werbeplakats nicht maßgebend sein. Das Beispiel BMW verdeutlicht die Standardisierung von Werbung im internationalen Vergleich in Bezug auf Aufbau, Design und Argumentationsweise. 7 Zusammenfassung und Ausblick Das vorliegende Korpus bestand aus deutschen und brasilianischen Außenwerbungen unterschiedlicher Formate, für die die vorliegenden Ergebnisse tendenziell zeigen, dass es vor allem in Bezug auf die Größe der Werbeformate, die semantischen Text-Bild-Relationen sowie die Nutzung des urbanen Raums erhebliche Unterschiede zwischen deutscher und brasilianischer Außenwerbung gibt. Es kann festgehalten werden: 1. Großflächen - das häufigste Werbeformat im vorliegenden Korpus, sowohl für Deutschland als auch Brasilien - sind in Brasilien um ein vielfaches größer als deutsche Großflächen. 2. Für Deutschland und Brasilien kann folgende Rangskala der semantischen Text-Bild- Beziehungen in der Außenwerbung festgestellt werden; am augenfälligsten sind die Differenzen in Hinblick auf Text- und Bilddominanz: Deutschland Brasilien 1. Komplementarität 2. Textdominanz 3. Bilddominanz 4. Redundanz 5. Diskrepanz/ Kontradiktion 39,24% 37,97% 21,52% 1,27% - 1. Textdominanz 2. Komplementarität 3. Bilddominanz 4. Redundanz 5. Diskrepanz/ Kontradiktion 51,96% 38,24% 8,82% - 0,98% 3. Während in Deutschland stärkere Reglementierungen zur Nutzung des öffentlichen Raums vorliegen, ist der urbane Kontext der brasilianischen Außenwerbung häufig gekennzeichnet durch unübersichtlich wirkende Mehrfachstandorte und konkurrierende Außenwerbeformate. Das Korpus ließ jedoch keinen konsequenten Vergleich der Wort-Bild-Verwendung in deutscher und brasilianischer Außenwerbung für international vertretene Konzerne und Produkte zu. Die Ausgangsfrage, ob sich diese Text-Bild-Beziehungen in der Außenwerbung tatsächlich im Zuge der Globalisierung und Internationalisierung nivellieren, wäre nur durch ein Korpus, das deutsche und brasilianische Werbungen für ein und dasselbe Produkt umfasst, zu beantworten. Hier bedarf es weiterer Forschung. Nina Bishara 198 Anmerkungen 1 Forschungsprojekt: Interkulturelle Untersuchungen (Deutschland - Brasilien) zu den Beziehungen zwischen Wort und Bild in den Medien Tageszeitung, Werbung und Hypermedien unter der Leitung von Prof. Dr. Winfried Nöth (Universität Kassel) und Prof. Dr. Lucia Santaella (Pontifícia Universidade Católica de S-o Paulo), gefördert vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (Partnerschaftsprogramm PROBRAL). Die Forschungsergebnisse sind in Santaella & Nöth (2006) veröffentlicht. 2 Nicht Gegenstand der Untersuchung waren Videoleinwände, Leuchtreklamen etc. Diese stellen zwar auch Formen der Außenwerbung dar, weisen jedoch durch das bewegte Bild, bei dem auch die Lautsprache und die Zeitdimension zu berücksichtigen sind, andere Text-Bild-Beziehungen auf, als dies im statischen Bild der Plakatierungen der Fall ist. 3 Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen die hier verwendeten Fotografien von Suzana Avelar, S-o Paulo. 4 Ein Großflächenplakat kann mit kaum mehr als 1,5 Sekunden Betrachtungsdauer rechnen (cf. Schierl 2001: 264). 5 = 18/ 1 Bogen. Dies entspricht ca. 18mal DIN A1. 6 Werbung in Deutschland 2003: 360. 7 a.a.O. 8 Quelle: Fachverband der Außenwerbung e.V.: Stellenbestand der Außenwerbeträger ab 1974. http: / / faw-ev.de/ files/ / service/ stellenbestand_aussenwerbung_ab_1974.pdf (13.7.05). 9 Werbung in Deutschland 2003: 360. 10 Dies entspricht 32 Bögen à 1,12 x 0,7 6m. 11 Werbung in Deutschland 2004: 13. 12 Werbung in Deutschland 2003: 13. 13 Werbung in Deutschland 2004: 15. 14 Werbung in Deutschland 2004: 360 sowie Werbung in Deutschland 2004: 336. 15 Werbung in Deutschland 2004: 22 sowie Werbung in Deutschland 2005: 22. 16 Werbung in Deutschland 2005: 22. - Die deutlichsten Unterschiede der Werbeträgeranteile an den Werbeeinnahmen in Deutschland und Brasilien sind sowohl in 2001 als auch 2003 jeweils an den Medien Tageszeitung und TV zu erkennen: Während beispielsweise im Jahr 2001 in Deutschland 45,1 Prozent der Werbeeinnahmen durch Tageszeitungen erwirtschaftet wurden, waren es in Brasilien nur 21,3 Prozent für diesen Werbeträger. In Deutschland hatte die TV-Werbung im selben Jahr einen prozentualen Anteil von 26,8 an den Werbeeinnahmen. In Brasilien waren es hingegen 58,8 Prozent. 17 Die deutsche Großfläche entspricht den Maßen 3,6 x 2,6 m, die brasilianische Großfläche hingegen 8,8 x 2,9 m. 18 In Brasilien in der Regel zwar beleuchtet, jedoch nicht hinterglast (s. Abs. 2). 19 Das Bier Brahma in einer besonderen Edition. 20 Dieses Werbeplakat ist im Übrigen das einzige Beispiel in diesem Korpus, das eine international bekannte Kultfigur darstellt. Der Einsatz von Sportlern, Show- und Popstars, deren Publicitywert in allen Kulturen gleich ist, kann als Indikator für die Internationalisierung von Werbekampagnen gelten. 21 Mit Ausnahme von Flughäfen und Sportanlagen. 22 Schierl (2001: 65f.) zählt Werbemalereien an Außenwänden und Mauern zu den Vorläufern des Plakats. Sie existierten schon im alten Griechenland und Rom. Im verschütteten Pompeji gab es sogenannte Alben: Mauern, die in verschiedene weißgetünchte Abschnitte geteilt waren, auf die Anzeigen (Dipinti genannt) geschrieben wurden. Dazu gab es eigene Berufsschreiber. Waren die Anzeigen veraltet oder musste Platz geschaffen werden, wurden die Mauern wieder übertüncht. 23 s. Werbung in Deutschland 2003: 375. 24 Ich danke Frau Daniela Wimmer von der BMW Group, Abteilung Werbung und Markenmedien, in München für das unkomplizierte Bereitstellen dieser Beispiele. 25 “Du wirst schwören, dass du immer noch fliegst”. 26 “Upgraden Sie in die Executive Class”. Text und Bild 199 8 Literatur Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen - Landesbauordnung (BauO NW), Fassung vom 7. März 1995 Fachverband der Außenwerbung e.V. (o.J.): “Stellenbestand der Außenwerbeträger ab 1974”, http: / / www.faw-ev.de/ files/ service/ stellenbestand_aw_seit_1974.pdf [PDF-Dokument, 13.7.05] Nöth, Winfried 2000: “Der Zusammenhang von Text und Bild”, in: K. Brinker et al. (Hrsg). Text- und Gesprächslinguistik, Berlin: de Gruyter, 489-496 Nöth, Winfried 2004: “Zur Komplementarität von Sprache und Bild aus semiotischer Sicht”, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 51.1, 8-22 Santaella, Lucia & Winfried Nöth (Hrsg.) 2006: Palavra e imagem nas mídias. Um estudo comparativo Alemanha - Brazil, Rio de Janeiro: Vozes Schierl, Thomas 2001: Text und Bild in der Werbung. Bedingungen, Wirkungen und Anwendungen bei Anzeigen und Plakaten, Köln: Herbert von Halem Verlag Straßenverkehrsordnung (StVO) vom 16. November 1970 (BGBl. I S. 1565, 1971 I S. 38), zuletzt geändert durch Artikel 3 des FStrPrivFinÄndG vom 01. September 2002, BGBl. I S. 3442, in Kraft getreten am 02. September 2002 Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft 2003: Werbung in Deutschland 2003, Bonn: Verlag edition ZAW Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft 2004: Werbung in Deutschland 2004, Berlin: Verlag edition ZAW Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft 2005: Werbung in Deutschland 2005, Berlin: Verlag edition ZAW Sprachwissenschaft A. Francke Preisänderungen vorbehalten Wilhelm von Humboldt Über die Sprache Reden vor der Akademie Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Trabant UTB 1783 S, 1994, 277 Seiten, € 15,90/ SFr 28,50 UTB-ISBN 3-8252-1783-3 Die Reden über die Sprache, die Wilhelm von Humboldt nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politk ab 1820 vor der Berliner Akademie gehalten hat, dokumentieren die Entwicklung seines reifen Sprachdenkens und die ganze Spannweite und Tiefe seines philosophisch geleiteten „vergleichenden Sprachstudiums“. Dieser Versuch einer dialogischen Vermittlung von philosophischer Sprachreflexion und empirischer Sprachforschung ist heute wieder von besonderer Aktualität und Brisanz. „Die Verschiedenheit der Sprachen ist das Thema, welches aus der Erfahrung, und an der Hand der Geschichte bearbeitet werden soll, und zwar in ihren Ursachen und Wirkungen, ihrem Verhältniss zu der Natur, zu den Schicksalen, und den Zwecken der Menschheit.“ Wilhelm von Humboldt Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? Selbstreflexionsprozesse und ihre kulturspezifische Ausprägung Ulrike Schröder Die vorliegende Untersuchung fokussiert die Frage, in welchem Maße Selbstreflexionen, insofern sie als Epiphänomen kommunikativer Prozesse betrachtet werden, eine kulturspezifische Ausprägung aufweisen. Exemplifiziert wird diese Fragestellung entlang der deutschen Kultur und Sprache, die, so die These, in einem reziproken Verhältnis zueinander stehend, eine starke Tendenz zur Selbstbeobachtung innerhalb der deutschen Kommunikationsgemeinschaft hervorbringen. Zur Illustration dieses Wechselverhältnisses wird entlang von Redebeispielen auf syntaktische Phänomene wie Kausal- und Konditionalkonstruktionen, lexikalische Phänomene wie das deutsche Kompositum und auf den deutschen Wissenschaftsstil eingegangen. Diese sprachlichen Charakteristika werden im Anschluss daran mit kulturgeschichtlichen wie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung seit der Renaissance und den Einflüssen der Individualisierung sowie des Protestantismus verflochten. This article examines the cultural dimension of selfreflection, regarded as an epiphenomenon of communicative processes. As an exemplification of this problem, the reciprocity of the German culture and language which is responsible for a certain tendency to auto-observation in the German speech community, is analysed. In order to illustrate this reciprocity there are presented syntactic phenomena like causal and conditional constructions in everyday speech, lexical phenomena like the German compound and the German scientific speech style. Subsequently, these linguistic characteristics are linked with cultural ones like the differentiation of the society and the influence of the individualization and the Protestantism. 1. Einleitung Der Deutsche sei nicht gerne deutsch, ist immer wieder zu hören. So antwortete in einer Umfrage des Gallup-Instituts ein Viertel der Deutschen auf die Frage “Was ist Ihrer Meinung nach typisch deutsch? ” spontan mit negativen Eigenschaften. Fast die Hälfte ist sicher, die Deutschen seien im Ausland unbeliebt. 1 Auch im Hinblick auf den ‘Nationalstolz’ zeigen sich die Deutschen etwa im Vergleich zu US-Amerikanern weitaus zurückhaltender: Während mehr als zwei Drittel aller US-Amerikaner in einer Umfrage bekennen, stolz auf ihre nationale Zugehörigkeit zu sein, ist es in Deutschland lediglich ein Drittel. 2 Besonders in Fernsehdiskussionen und einschlägigen Tageszeitungen findet sich immer wieder die Debatte über das Verhältnis der Deutschen zu sich selbst, wobei im Kontext des jeweils diskutierten Themas vorrangig der Zusammenhang zwischen dieser hohen Reflexionstätigkeit auf nationaler Ebene und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus fokussiert wird. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ulrike Schröder 202 Im Folgenden soll eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive herangezogen werden, die sich nicht darauf beschränkt, diese Tendenz zur Selbstbetrachtung monokausal auf den Nationalsozialismus und den Holocaust zurückzuführen, sondern bemüht ist, ein tiefer verwurzeltes Korrelationsgeflecht zutage zu fördern. Schließlich muss das Bekenntnis “nicht stolz darauf, ein Deutscher zu sein” nicht zwangsläufig implizieren, dass den Befragten die eigene Nation zuwider ist; ebenso vorstellbar ist eine mit dieser Antwort zum Ausdruck kommende kritische Distanzierung im Hinblick auf die gestellte Frage. 3 Genau an diesem Punkt soll angesetzt werden. Im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen stehen kulturspezifische, genauer, deutschspezifische Ausprägungen von Selbstreflexionsprozessen. Dabei richtet sich der Blick auf die Wechselwirkung zwischen kultureller Mikro- und Makroebene, indem gefragt wird: 1. Wie kommen Selbstbeobachtungsprozesse überhaupt zustande? 2. Welche Einflussfaktoren begünstigen ihre Ausdifferenzierung dergestalt, dass sie in der einen Kultur stärker sind als in der anderen? Zur Beantwortung der ersten Frage bietet sich ein Rückgriff auf Theorien an, die das Zustandekommen solcher Mechanismen auf der Grundlage von Kommunikationsprozessen als deren Epiphänomen beschreiben, ebenso, wie sie Wirklichkeitskonstruktion als Nebenprodukt kommunikativer Interaktion begreifen. Der Vorteil solch konstruktivistischer Theorieansätze liegt in ihrer in vielen Konzeptionen leider oft vernachlässigten Einbeziehung alter egos, wobei der Kommunikationsprozess zwischen ego und alter ego zum Apriori der Ausbildung von Reflexion und Selbstreflexion wird. Im Anschluss daran werden verschiedene kulturelle Einflussfaktoren aufgezeigt, denen die Rolle von ‘Abstandsbegünstigern’ zukommt, indem sie die Distanz des Menschen zu sich selbst befördern und damit maßgeblich für die stärkere Ausbildung von Selbstbeobachtungsprozessen innerhalb der deutschen Kulturgemeinschaft im Vergleich zu anderen verantwortlich sind. Um diese Einflussfaktoren - der Prozess der Literalisierung, der Individualismus und Protestantismus deutscher Ausprägung, die Bildung der deutschen Nation als ‘Sonderweg’ sowie Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache an sich, aber auch der deutschen Wissenschaftssprache im Speziellen - besser nachvollziehen zu können, werden einige Ergebnisse der von mir im Jahre 2000/ 2001 durchgeführten kulturkontrastiven Studie Brasilianische und deutsche Wirklichkeiten - eine vergleichende Fallstudie zu kommunikativ erzeugten Sinnwelten herangezogen. 2. Die Entstehung von Selbstreflexion in Kommunikationsprozessen Erst die Unterscheidung eines Beobachters grenzt eine Entität von ihrer Umwelt ab. Folglich gibt es keine Realität an sich, denn das primär Gegebene ist der Beobachter, der die Objektwelt durch den Akt des Unterscheidens überhaupt erst hervorbringt. In der biologischen Epistemologie des Chilenen Humberto Maturanas (1978a: 55) wird dieser weltschaffende Beobachter dennoch nicht als unhinterfragbarer Grund an den Anfang seiner Theorie gestellt, sondern ist Anfangs- und Endterminus eines sprachlichen Zirkels: Human beings can talk about things because they generate the things they talk about by talking about them. (Maturana 1978a: 56) Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? 203 Jeder Beobachter bzw. jeder Mensch durchläuft im Verlauf seiner Ontogenese 4 Interaktionen mit seinem Milieu, die rekursiven Charakter besitzen und reziproke Perturbationen bilden können. 5 Ist dies der Fall, liegt eine strukturelle Koppelung als Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen vor. Findet eine solche Interaktion nun nicht zwischen Organismus und Milieu, sondern zwischen zwei Organismen statt, spricht Maturana von dem Auftauchen eines neuen Phänomenbereichs: dem konsensuellen Bereich. In ihm greifen die Verhaltensweisen der Organismen ineinander (vgl. Maturana 1978b: 47). Das Zustandekommen eines solchen konsensuellen Bereichs ist die Voraussetzung für die Entstehung von Sprache als “koordinierter Verhaltenskoordination” (Maturana 1997: 118), wobei auch die sprachlichen Interaktionen im Verlauf der Ontogenese der beteiligten Organismen rekursiven Charakter annehmen (vgl. Maturana/ Varela 1987: 85ff). 6 Wirklichkeit wird in der hier eröffneten Sicht folglich in konsensuellen Sprachbereichen als Konzept entworfen. Ihre Erzeugung muss als Nebenprozess verstanden werden, der sich parallel zum Verlauf institutionalisierter Kommunikationsprozesse entwickelt. Erst in einer solchermaßen “ontierten” (Maturana/ Varela 1987: 13) Welt entsteht wiederum durch einen weiteren Unterscheidungsakt der Beobachter selbst als eine unterschiedene Einheit, über die sich sprechen lässt. Denn tritt der Beobachter aus den Umständen seiner Beschreibung heraus, kann er seine eigenen Beschreibungen selbst zum Objekt weiterer Beschreibungen machen. Durch diese rekursive Anwendung von Beschreibungen auf Beschreibungen wird ein konsensueller Bereich zweiter Ordnung erzeugt: If an organism is capable of consensual conduct and of recursively interacting with its own states (through internal interactions of its closed nervous system), and applies the descriptive operation to itself by developing a consensual domain with itself through interactions with its own consensual states, a new phenomenological domain is generated that is indistinguishable from that which we call our domain of self-consciousness. (Maturana 1975: 323) Das bedeutet, der Beobachter ist fähig, dank der Selbstreferentialität seiner Beschreibungen Beobachter seines eigenen Beobachtens werden und mit den Repräsentationen seiner eigenen Beschreibung so zu interagieren, als ob diese selbstständige Größen wären: Er kann sich selbst als beschreibend beschreiben. In solchen Selbstbeschreibungen entsteht Ich-Bewusstsein als Epiphänomen eines rekursiven Beschreibungsprozesses, das vollständig im sprachlichen Bereich liegt (vgl. Maturana 1998: 53f). Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt der Sozialpsychologe George Herbert Mead, der die Entstehung von Selbstreflexion ebenfalls in sprachlicher Interaktion verortet und diesem Grundgedanken eine noch stärker gesellschaftliche Wendung gibt, indem er die Entstehung von Ich-Identität im Zusammenhang mit der Übernahme der Haltungen anderer sich selbst gegenüber beschreibt: The self acts with reference to others and is immediately conscious of the objects about it. In memory it also reintegrates the self acting as well as the others acted upon. But besides these contents, the action with reference to the others calls out responses in the individual himself - there is then another “me” criticizing, approving, and suggesting, and consciously planning, i.e., the reflective self. (Mead 1913: 376) Unentwegt lösen wir in uns selbst die Reaktionen aus, die wir auch in anderen auslösen, und nehmen auf diese Weise die Haltungen der anderen in unser eigenes Verhalten hinein (vgl. Mead 1967: 154ff). Parallel dazu entwickelt sich die egozentrische Sprache eines Menschen über die soziale und nicht umgekehrt: Das Kind spricht nicht für sich, sondern mit sich selbst, und zwar so, als ob es ein anderer wäre. 7 Die Identität eines Individuums innerhalb einer Ulrike Schröder 204 Gruppe umfasst im Verlauf wiederkehrender und sich allmählich institutionalisierender Kommunikationsprozesse eine individuelle Spiegelung der allgemeinen systematischen Muster des Gruppenverhaltens, denn so wie alter ego typisierend erfasst wird, so erfasst sich durch die Reizrückkopplung nun auch der Einzelne selbst typisierend (vgl. Mead 1967: 192). Dieser Beobachter, der unser Verhalten begleitet, ist jedoch nicht das tatsächliche Ich, das für das Verhalten in propria persona verantwortlich ist, sondern stellt eine Reaktion auf unser eigenes Verhalten dar. Es handelt sich um eine reflexive Ich-Identität (Mead 1913: 376) den Selbstbeobachter, der seinerseits nur im modo praeterito entstehen kann, da er der reflexiven Einstellung bedarf. Demgegenüber können wir alter ego im stream of consciousness erfassen, sodass dieser in zeitstruktureller Hinsicht vor dem Ich erscheint (vgl. Schütz 1973: 175). Selbstbewusstsein als Resultat der Übernahme der Haltung Anderer ist damit auch in dieser sozialkonstruktivistischen Perspektive kein emotionelles, sondern ein kognitives Phänomen, das durch Kommunikationsprozesse zwischen ego und alter ego ausgelöst wird: […] and to be self-conscious is essentially to become an object to one’s self in virtue of one’s social relations to other individuals. (Mead 1967: 172) 3. Zur kulturgeschichtlichen Bedingtheit deutscher Selbstreflexion und ihren Erscheinungsformen im Alltagsstil Mit Einführung der Schrift kommt es zu einer Institutionalisierung von Zeitrahmen, innerhalb derer sich der Abstand zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vergrößert. Die Distanz zum Geschriebenen hat auch eine Distanz zum jeweiligen Situationsablauf zur Folge. An die Stelle des bloßen Erfahrungsflusses treten Relationen, die zwischen verschiedenen Erfahrungen und Erfahrungsmodi von einer Metaebene aus hergestellt werden, was sich sprachlich besonders in der Subordination niederschlägt. So kommt es in Deutschland im Zuge der in der frühneuhochdeutschen Periode (1350-1650) aufkommenden soziokulturellen Innovationen - Stadtentwicklung, Buchdruck, Reformation, Universitätsgründungen, Humanismus und Renaissance - zu einer Syntaxerweiterung durch Hypotaxe. Haupt- und Nebensatz werden zunehmend durch Mittel der Satzverknüpfung und feste Verbstellungsregeln formal genau unterschieden. Das Satzrahmenprinzip etabliert sich, und das Schreiben selbst wird im Vergleich zur mündlichen Kommunikation zu einem solipsistischen Vorgang, mit dem sich zugleich der semantische Apparat der Innerlichkeit erweitert, der bis auf das 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, in dem die Sprache der Mystik und mit ihr die Metaphern der Innerlichkeit erblühen (vgl. Polenz 1991: 202; Wolff 1994: 104ff). Durch neue Abstraktbildungen mit den Suffixen -heit, -keit und -ung sowie substantivierten Infinitiven wie Sein - Wesen - Tun wird hier der Grundstein für den ontologisierenden Charakter der deutschen Sprache gelegt (vgl. Stedje 1994: 104). Diese Tendenz setzt sich im Pietismus, später im Sturm und Drang und schließlich in der Romantik fort, mit der die wachsende Interiorisierung ihren Höhepunkt erreicht. Der Pietismus begründet eine literatursprachliche Entwicklungslinie, die den Seelen- und Gefühlswortschatz durch selbstreflexive Ausdrücke wie Selbstbetrug - das Selbst - Selbstverleugnung etc. und Präfixoidbildungen mit räumlicher Dynamik wie hin-, her-, nach,entgegenetc. fördert und damit den ersten “Schritt auf dem Weg von der höfisch-repräsentativen zur bürgerlich-individualistischen Literatursprache” (Polenz 1991: 312) markiert. Mit der Literalisierung kommt es außerdem zur Einführung der epistemischen Modalwörter und assertiven Sprechakte, die die Syntax erweitern und eine wachsende Distanz zum Aussageinhalt befördern. Die eigenen Aussagen werden durch solche Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? 205 sprachlichen Hilfsmittel nachhaltiger reflektiert und gewinnen an Eigendynamik (vgl. Àgel 1999: 181ff). Nachfolgend sollen einige Sprachbeispiele vorgestellt werden, die diese mit der Literalisierung einhergehende Selbstdistanzierung gegenüber einer stärker oralisierten Kultur wie z.B. der brasilianischen illustrieren. Sie entstammen der erwähnten kulturkontrastiven Untersuchung zu deutschen und brasilianischen Sinnwelten, die 2000/ 2001 durchgeführt wurde. 8 3.1 Syntaktische Ebene: Kausal- und Konditionalkonstruktionen Für mich ist Deutsch die Sprache der Klarheit. Sie ist klar, exakt und monumental. Man kann mit dieser deutschen Sprache ja beinah Monumente bauen! (Saldaña 2001: 74) Die Schaffung von Kausallogiken ist darauf ausgerichtet, mit Hilfe der Subjunktoren da und weil eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen, wobei die sprachliche Organisation von Kausalzusammenhängen besonders deutlich auf bereits vorausgegangene Interpretationen und Reflexionen verweist. Der Soziologe Hans-Georg Soeffner (1992: 50) betrachtet das Kreieren biographischer Kausalzusammenhänge vor dem Hintergrund der zunehmenden Selbstreflexion seit Beginn der Neuzeit. An der Stelle Gottes steht im Relevanzsystem des modernen Subjekts das Ich, das nun zum Subjekt und Objekt der Auslegung wird und den Einzelereignissen einen sie begründenden Hintergrund zuweist. Auf diese Weise entsteht ein Kausalitätsmuster mit weil- und um-zu-Motiven, auf deren Grundlage eine Autobiographie erzählbar wird. Im folgenden Beispiel aus einem Interview mit einem deutschen Studenten gibt der Befragte eine Antwort, die er sich zumindest selbst schon einmal gegeben haben muss: I: Wie bist du darauf gekommen, den Studiengang zu wechseln und BWL zu studieren? P: Ja, es hat mehrere Gründe. Einmal kam’ne neue Studienordnung, was mich zurückgeworfen hätte, weil ich das nicht mehr bis zu dem Zeitpunkt geschafft hätte, zu dem ich hätte fertig sein müssen. Und dann hätte ich die Scheine neu machen müssen. Es wär nicht alles anerkannt worden. Und ich hätte dadurch viel Zeit verloren. Und da ich sowieso schon Zeit verplempert hab und hab dann’n paar Wochen später noch’n Schreiben gekriegt, dass mein Studium eingestellt wird zum gleichen Zeitpunkt und da hab ich mir schon gedacht: Das pack ich wohl nicht, also, wenn ich richtig reingehaun hätte, dann hätt ich’s vielleicht geschafft, aber auch nur vielleicht. Aber man kann ja immer mal durch’ne Klausur fallen, vor allem, wenn ich durch’ne große gefallen wär, dann hätt ich das überhaupt nicht geschafft. Jo, und dann hab ich mir gedacht: Jo, was machste jetzt? Entweder du machst jetzt das, oder du siehst das jetzt als neue Chance, weil ich sowieso nicht so glücklich war damit. Jo, und hab das jetzt dann einfach als neue Chance gesehn - jetzt mehr oder weniger mein Hobby zum Beruf zu machen. (zitiert nach Schröder 2003: 140f) 9 Durch solche übergeordneten Motivbzw. Kausalzusammenhänge verfügt der Einzelne über ein kommunizierbares Repertoire an Geschichten, das ihm erlaubt, sich in ein “sich selbst beobachtendes, sich selbst auslegendes, ein erzähltes und ein erzählendes Subjekt” (Soeffner 1992: 62) zu verwandeln. Das Konditional stellt eine auf alternative Wirklichkeiten ausgerichtete Bedingungsform dar, mit der vergangene, gegenwärtige und fiktive Handlungsentwürfe verglichen und gegeneinander abgewogen werden können. Sprache dient in dieser Gestalt der Handlungsorientierung, die Vor-Gewichtungen bereitstellt und für die “Kalibrierung handlungsrelevan- Ulrike Schröder 206 ter Einstellungen” (Luckmann 1992: 101) verantwortlich ist. Das aktuell Gegebene erscheint als Folge der Umsetzung eines rationalen, gut durchdachten Handlungsplanes. Das nachstehende Beispiel illustriert, wie eine deutsche Interviewpartnerin mit Hilfe von Subjunktoren zur Einleitung eines Konditionalsatzes Handlungsentscheidungen im Verhältnis zu fiktiven Alternativoptionen trifft: Wenn man’n Kind hat - nun arbeite ich ja nicht voll, aber wenn man voll arbeiten würde, dann müsste ich morgens sehr früh anfangen, bis nachmittags sehr schwer arbeiten, dann hätte ich erstens nichts von meiner Familie, großes Haus, großer Garten, das würd ich also, glaub ich, nicht schaffen, weil man dann ja auch sechs Tage arbeiten muss. Ja gut, man hat dann einen Tag frei, aber an dem freien Tag machste dann auch nur das, was dann gemacht werden muss, ne? (zitiert nach Schröder 2003: 143) 3.2 Lexikalische Ebene: Das deutsche Kompositum Die Deutschen sind längst ein zutiefst ironisches Volk. Irgendwann hat sich ihre Trauer, die Bitterkeit, die sie vermitteln, zu Ironie sublimiert. Sie vertreten weniges wirklich und nehmen an nichts echten Anstoß, sie haben zu ‘Weltschmerz’, ‘Innerlichkeit’ und all den anderen Attrappen alter deutscher ‘Seele’ längst ein uneigentliches Verhältnis. (Willemsen 2001: 8) Insbesondere gegenüber den romanischen Sprachen zeigt sich eine Spracheigentümlichkeit des Deutschen in der hohen Zahl der Komposita, denen durch die Möglichkeit zur spontanen Bildung sog. ad-hoc-Komposita keine Grenzen gesetzt sind und die durch die semantische Relation zwischen ihren Konstituenten Wertungen, Ironie oder Witz enthalten können. Eine deutliche Zunahme an Komposita innerhalb der deutschen Sprache ist im Zusammenhang mit der seit der Renaissance einsetzenden Literalisierung zu verzeichnen. So steigt der durchschnittliche Anteil der Substantivkomposita am Gesamt des Substantivwortschatzes eines Textes von 6,8% in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf 18,4% in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an (vgl. Solms 1999: 234). Das Kompositum ist in besonderem Maße Ausdruck der Literalisierung, weil es entkontextualisiert und objektiviert, sodass die Bedeutung eines Ausdrucks nicht länger an einer bestimmten Situation haftet, sondern in das Wort selbst hineinverlagert wird: In der konkreten Wortbildung und ihrer internen hierarchischen Struktur wird zugleich auch das Verstehen des Wortes sowie das Verstehen des dahinterliegenden Konzept präskribiert. Ganz anders funktioniert die Attribuierung. Es gehört zu ihrem Wesen, im Rahmen der kollokativen Möglichkeiten kontext-, situations- und sprechergebunden zu sein. In der Attribuierung werden vom Sprecher jeweils auf einen konkreten Kontext bezogen zwei oder mehrere an sich selbständige Begriffseinheiten zueinander in Beziehung gesetzt; solche Verbindungen gehören aber nicht zum sozialen Wissensvorrat der Sprecher […] sie sind quasi flüchtig wie der Kontext, in dem sie genannt sind, sie sind zudem subjektiv wie der Sprecher, der sie gebraucht. Beides, Attribuierung und Komposition, sind im Sinne der sprachlichen Symbolisierung verschiedene Formen kulturellen Handelns. (Solms 1999: 241) Bezogen auf die exemplarisch herangezogene Studie wird dieser Unterschied schon alleine durch die doppelte Länge der brasilianischen Interviews signalisiert: Die abstrakteren Typisierungen von Erfahrungen reduzieren als “passive synthesis of recognition” (Schütz 1970: 59) in Deutschland das Wortmaterial, das nötig ist, um eine bestimmte Idee auszudrücken. Der deutsche Rede- und Schreibstil wird durch diese Kondensierung, Komprimierung und Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? 207 Verdichtung intellektueller, abstrakter und damit zugänglich für Selbstreflexion. 10 So fällt in den deutschen Fragebögen und Interviews gegenüber den brasilianischen eine höhere Tendenz zur Typisierung und Klassifizierung auf. Die nachstehende Liste von Antworten auf die Frage “Glaubst du, dass deine Kollegen/ Kommilitonen andere Vorstellungen vom Leben haben als du? Wenn ja, welche? ” gibt Komposita aus den Fragebögen wieder, die eine wertende Eigenbedeutung implizieren und insofern Reflexionen zweiter Ordnung 11 darstellen: rosarote Brille / Lotterleben / Notlösung / Null-Bock-Einstellung / Familienplanung / Stammhalter / Stubenhocker / eingefahren / Superspießer / Tagträumer / Eigenheim / Familienmensch / Scheißbeziehungen / Schaumschlösser / Pseudointellektualismus (zitiert nach Schröder 2003: 103) 3.3 Der Wissenschaftsstil Im Arabischen reden oder handeln die Leute zuerst und dann denken sie nach. Und entdecken, dass alles falsch war. Hier lernt man, erst zu denken und dann zu sprechen. Das liegt auch an der Struktur der deutschen Sprache, an diesen Trennverben wie “auf-nehmen”, “an-nehmen”, “zu-nehmen”. Dann sagst du eins von diesen Wörtern, aber ohne das Ende versteht man nicht, was du meinst. Man muss also genau wissen, was man sagen will, bevor man es ausspricht. (Chadat 2001: 111) Neben den Komposita zeugen auch das Funktionsverbgefüge, die Satzklammer und die trennbaren Verben im Deutschen von einem dreidimensional geprägten Vorstellungsvermögen, bei dem Sprech- und Schreibstil nicht linear vorantreiben, sondern durch Rückbezug und vertikale Ebenenbildung stärker verräumlichen und objektivieren, was seinerseits, wie gezeigt wurde, selbstreferentielle Prozesse freisetzt und begünstigt. Den Untersuchungen des norwegischen Soziologen Johan Galtung (1995: 179) und des australischen Linguisten Michael Clyne (1991: 376ff) zufolge sind wissenschaftliche Texte aus Deutschland im Vergleich zu britischen und nordamerikanischen weniger linear und symmetrisch. Galtung unterscheidet zwischen teutonischen, sachsonischen, gallischen und nipponischen Stilen. Demnach zeichnet sich der sachsonische Stil durch Datenorientierung, horizontale Strukturierung, Offenheit, Integration und Induktion aus, während für den teutonischen Stil Theorieorientierung, vertikale Strukturierung, Polarisierung und Deduktion signifikant sind. In englischen Texten spielt die Linearität eine wichtige Rolle, wobei die Reflexion auf die vorangegangene Ebene, die charakteristisch für das deduktive Verfahren ist, einen eher untergeordneten Stellenwert einnimmt (vgl. Schröder 1995: 156ff). Hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen führt Galtung diese Merkmalsausprägungen u.a. auf den Einfluss wissenschaftlicher Denktraditionen wie den Empirismus bzw. den Rationalismus, auf unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen und unterschiedliche Einflüsse religiöser Traditionen zurück. Für den teutonischen Stil sei demnach merkmalsprägend, dass gerade das Selbstverständnis, im 19. Jahrhundert Zentrum der Wissensentwicklung gewesen zu sein, ein Bewusstsein kultureller Identität schafft, das einerseits zur Verbindlichkeit entsprechender Wertperspektiven führt, andererseits aber auch in permanenter Selbstreflexion qua Fortschreibung, Auslegung, Kritik etc. auf sich selbst Bezug nimmt, um sich dieser Identität zu vergewissern. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen die Studien von Bolten et al. (1994; 1999) über deutsche, US-amerikanische, französische und britische Geschäftsberichte aus der Automobilindustrie: Besonders gegenüber dem deutschen Stil zeichnet sich der der US-amerikanischen Geschäftsberichte durch einen höheren Verbanteil sowie einen lineareren Argumentations- Ulrike Schröder 208 aufbau unter weitgehendem Ausschluss von komplizierteren Nebensatzkonstruktionen aus, so das Fazit. Die Autoren stellen nun eine Relation zwischen der den teutonischen Stil prägenden deduktiven Form der Theoriebildung, wie sie von Kant über Hegel bis hin zu Marx praktiziert wurde, und den Nachwirkungen solcher Diskurstradition in den untersuchten Geschäftsberichten von Ford her. Der Soziologe Richard Münch kommt in seiner Betrachtung intellektueller Stile im Kontext von Wissensproduktion und sozial-kulturellem Milieu zu folgendem Ergebnis: In England vermitteln die wissenschaftlichen Gemeinschaften und die methodische Untersuchung dem Wissen vor allem normative Geltung. In Frankreich vermitteln der Salon, das Café und der Essay dem Wissen vor allem Expressivität. In Deutschland vermitteln die Studierstube, das Universitätsseminar und das Werk dem Wissen vor allem Abstraktion. In den Vereinigten Staaten vermitteln das Meeting und der Zeitschriftenaufsatz dem Wissen vor allem eine hohe Wandlungsgeschwindigkeit. (Münch 1990: 55) Den Grundstein zu einer nicht nur auf syntaktischer, sondern auch auf lexikalischer Ebene manifestierten Selbstreflexion im philosophischen Wissenschaftsstil legt der Deutsche Idealismus, allen voran Fichte, 12 aber auch Hegels “Ansichsein”, “Ansichselbstsein”, “Für-essein-dieses-Ansich” und “In-sich-selbst-sein” beschleunigen eine Ausdifferenzierung des selbstreferentiellen Vokabulars (vgl. Hegel 1986). Am eigenwilligsten zeigen sich die sprachlichen Neubildungen schließlich in der heideggerschen Variante des Existenzialismus in Substantivierungen wie “Sich-an-ihm-selbst-zeigende” oder “An-sich-sein des Seienden” etc. (vgl. Heidegger 1960: 28ff). 3.4 Mikroebene: Das Individuum als selbstreflexives Projekt “Als wir jung waren, hatten wir Kollegen vom französischen Theater ein Vorbild, nämlich die Schaubühne in Berlin. Wie es da wirklich um etwas Ernsthaftes ging, verstehen Sie? Die haben ganze Bücher gelesen, bevor sie einen Satz gesagt haben! Wir in Frankreich dagegen haben einen kleinen Komplex, denn wir machen die Dinge meistens so nebenbei.” “Sie meinen, die Franzosen sind zu elegant, zu oberflächlich? ” “Ja, zu oberflächlich. Deswegen sind wir, glaube ich, fasziniert von dieser Ehrlichkeit, von dieser Tiefe und Gründlichkeit der Deutschen. Das hat uns immer beeindruckt.” (Wilms 2001: 127f) Durch die kantische Wende von der philosophischen Erkundung einer objektiven Welt zur Transzendentalität des Bewusstseins ausgelöst und von dem Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung begleitet, stellt sich das Individuum zunehmend auf eigene Sicherheitsgrundlagen und lässt sich nicht länger mit äußeren Faktoren wie Eigentum oder Abstammung gleichsetzen. Damit ist es erstmals auf sich selbst zurückgeworfen, was den Beginn der Selbstbeobachtung markiert. Die Menschen formen sich mit größerer Bewusstheit und beginnen damit, sich und andere in Augenschein zu nehmen, wodurch das Schamgefühl genährt wird, das seinerseits die Sublimierung der Triebe einläutet (vgl. Elias 1997a: 194). Der Einzelne konstituiert sich zunehmend über die Idee, die er von sich selbst hat und rekurriert infolgedessen in permanenter Selbstbeobachtung auf sich selbst (vgl. Luhmann 1989: 211ff). Darüber hinaus hinterlässt die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme nach Auflösung der mittelalterlichen Ständegesellschaft ein Vakuum an übergeordnetem Gesellschaftsbezug der nunmehr in den einzelnen Funktionssystemen angesiedelten Interaktionen. In dieses Vakuum fließt Moral ein, wie u.a. die Integrationsversuche von Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? 209 Religion und Moral bei den Freimaurern ankündigen. Nach und nach wird der Ruf nach echten moralischen Qualitäten laut, die einen Gegenpol zu den Finessen und Verstellungen bieten sollen, die der soziale Verkehr dem Menschen in der Öffentlichkeit abverlangt. Authentizität wird gefordert (vgl. Luhmann 1989: 130). Diese Entwicklung spiegelt sich par excellence im Übergang von der passionierten Liebe der französischen Klassik zur romantischen Liebe in Deutschland wider: Vor der Individualisierung der Liebesbeziehung im 18. Jahrhundert wird das Anziehende im anderen mit Hilfe von Allgemeinbegriffen präsentiert, das demnach auch bei anderen Menschen zu finden ist. Der Partner ist austauschbar, die Liebe vergänglich. Mit der Romantik jedoch wird dieses ausschließlich durch gesellschaftliches Regelwerk konstituierte plaisir moralisch fragwürdig. Das Frivole und Obszöne der passionierten Liebe disqualifiziert sich durch seine Oberflächlichkeit und sein fehlendes Interesse an der anderen Person, die jetzt selbst als wandelbar begriffen wird, womit sich die Liebe auf Dauerhaftigkeit umstellt (vgl. Luhmann 1996: 151). Richard Sennett (1977: 16ff) sieht in dieser gesellschaftlichen Umkehr von Außen nach Innen den Übergang vom öffentlichen zum privaten Leben. Theatralität steht jetzt in einem feindlichen Verhältnis zur Intimität. 13 Unter dem Einfluss der Romantik wird somit dem quantitativen Individualismus der Aufklärung, die noch ein ästhetisches und heroisches Menschenbild proklamiert, ein qualitativer gegenübergestellt, der auf die Einmaligkeit des Einzelnen abzielt (Simmel 1901: 400). Entscheidenden Anteil an der zunehmenden Selbstgerichtetheit des Einzelnen hat neben diesen Individualisierungsprozessen die Reformation, da sie grundsätzlich jedem die Fähigkeit zur persönlichen und unmittelbaren Interpretation biblischer Texte zubilligt: Die Bewegung Martin Luthers stellt erstmals die Herrschaft Roms und die Autorität von Papst und Kirche in Frage. Anstelle der Kirche soll nun die Bibel Grundlage christlicher Lebenspraxis sein, womit - das ist das Entscheidende - die Moralinstanz von außen in das Innere des Menschen verlegt wird. Auch in religiöser Hinsicht wird der Mensch daher auf Selbstreferentialität umgestellt, die Dualisierung von gut und böse in ihn selbst hineinverlagert. Selbstliebe, Selbsterkenntnis und Selbststeuerung werden zu zentralen Konzepten, die zeigen, dass das neue Grundverhältnis nicht mehr das von Gott zum Menschen, sondern das des Menschen zu sich selbst ist (vgl. Luhmann 1989: 179). Die Frömmigkeitsbewegung des Pietismus folgt dieser protestantischen Grundidee besonders in der Auffassung, dass man mit sich selbst im Reinen sein müsse, womit eine antibarocke, jede Affektiertheit, Heuchelei und Pedanterie ablehnende Haltung zum Ausdruck kommt. Die “deutsche Innerlichkeit” (Polenz 1991: 315) wird geboren. Die auferlegten Regeln von außen, die zur Hochblüte der katholischen Kirche besonders vermögenden Menschen den Schlupfwinkel der Doppelmoral offen ließen, werden in strenge Selbstdisziplin überführt. Das wiederum führt zu einer gesteigerten Selbstbeobachtung, die ihrerseits eine erhöhte Selbstkontrolle von Passion, Konversation und Triebbeherrschung nach sich zieht (vgl. Luhmann 1989: 180). Dem freudschen Über-Ich wird der Weg gebahnt: Die puritanische - wie jede “rationale” - Askese arbeitete daran, den Menschen zu befähigen, seine “konstanten Motive”, insbesondere diejenigen, welche sie selbst ihm “einübte”, gegenüber den “Affekten” zu behaupten und zur Geltung zu bringen - daran also, ihn zu einer “Persönlichkeit” in diesem, formal-psychologischen Sinne des Worts zu erziehen. Ein waches, bewußtes, helles Leben führen zu können, war, im Gegensatz zu manchen populären Vorstellungen, das Ziel - die Vernichtung der Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses die dringendste Aufgabe -, Ordnung in die Lebensführung derer, die ihr anhingen, zu bringen, das wichtigste Mittel der Askese. (Weber 1991: 136) Ulrike Schröder 210 Selbstdisziplin, Selbstzügelung und Selbstbeherrschung führen aber noch zu einem weiteren Wandel im Leben des Einzelnen: zur aktiven Mitgestaltung des eigenen Lebens. Schon mit der italienischen Renaissance wird der homo faber kreiert, der sich seiner Passivität entledigt und die Welt frei schafft, was ebenfalls dem traditionellen katholischen Dogma zuwider läuft (vgl. Mirandola 1990: 11ff). Der selbstgestalterische Aspekt der Individualisierung schlägt sich in Deutschland besonders markant im humboldtschen Bildungsideal nieder, das die menschliche Bestimmung in einer allumfassenden Bildung sieht, die ganzheitlich geprägt sein müsse und die Persönlichkeit eines Individuums als Ganzes überhaupt erst forme (Humboldt 1980: 64). Im Anschluss daran stellt der deutsche Bildungsroman den konfliktreichen Selbstbildungsprozess des Einzelnen in seiner Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität dar, wobei das sich in bestimmten Stufen vervollkommnende Individuum stets den Handlungsmittelpunkt bildet. 14 Hier gewinnt das selbstreflexiv entworfene biographische Projekt seine ersten Konturen: […] mich selbst, ganz wie ich da bin auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. (Goethe 1997: 306) Gerade die Figur des Wilhelm Meister zeigt, wie der Held des Romans letztlich ein Beobachter des Geschehens bleibt, in das er gleichzeitig involviert ist, sodass den Leser unentwegt das Gefühl beschleicht, Wilhelm sei nicht wirklich Teil der herumziehenden Theatertruppe. Auch in der deutsch-brasilianischen Vergleichsstudie finden sich Belege für den Rückzug des Einzelnen aus dem gesellschaftlichen Verband und die sich bildende Beobachtungsgabe, die damit einhergeht: Die Aussagen der deutschen Probanden werden nicht wie die der brasilianischen auf der Bühne gemacht, 15 sondern von der Zuschauerloge aus vorgenommen. 16 Der nüchtern-sachliche (auto)reflexive Beobachterstandpunkt dominiert das Antwortverhalten und bringt in seiner kritischen Distanz auch die Einmaligkeit des eigenen Ichs gegenüber den Anderen zum Ausdruck. So erfolgen beispielsweise die Abgrenzungen zu den anderen in Deutschland subtiler: Im Gegensatz zu den brasilianischen Probanden vermeiden die deutschen, durch die aktive und direkte Zur-Schau-Stellung der eigenen positiven Charakterzüge Punkte zu sammeln; die Abgrenzung vollzieht sich indirekt über den wohl dosierten Gebrauch wertender Ausdrücke zweiter Ordnung, in denen ein weiteres Mal die reflexive Macht der Komposita zur Geltung kommt. Hier spricht der Kritiker, der das Bühnenstück verfolgt und anschließend die Akteure zerreißt: So distanzieren sich die Befragten etwa von “Klischee- Informatikern”, die “dicke Knete machen” oder “Prestigepositionen bekleiden” wollen und von anderen Studenten oder Arbeitskollegen, die “gutbürgerlichen Urlaub” lieben und das “ganze Jahr nur” sparen, “um in den Urlaub zu fahren”, was “völliger Schwachsinn” ist (zitiert nach Schröder 2003: 189). Allerdings werden auch selbstkritische oder selbstironische Bemerkungen laut, an denen abzulesen ist, dass sich die Probanden von einer weiteren Beobachterebene aus selbst begutachten: Ein Interviewpartner hält sich für “zu spießig”, um einer unsicheren Arbeit nachzugehen, die ihm aber mehr Spaß machen würde; eine andere Befragte hält sich nicht “für so straight”, dass sie den Anforderungen eines Journalismus-Studiums genügen könnte; eine weitere macht sich über ihre “Selbstmitleidsphasen” lustig und bezeichnet sich als “Dickkopf”. Viele schwächen ihre eigenen Äußerungen mit Bemerkungen wie “das hört sich vielleicht ein bisschen arrogant an” oder “Das klingt jetzt zwar blöd, aber…” ab (zitiert nach Schröder 2003: 189). Solche Einschübe verkörpern eine vorweggenommene Antwort auf eine lediglich imaginierte mögliche Reaktion des Gegenübers auf das vom Redner zuvor Gesagte. Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? 211 Die Kommentare von der Metaebene aus können sich auch auf die Eingliederung der eigenen Worte in eine bekannte Typisierung beziehen. In diesem Fall wird das Gesagte objektiviert und einer - durchaus auch kritischen - Reflexion unterzogen. Auf die Frage, ob es denn eines Tages mit seiner Freundin zusammenwohnen wolle, antwortet ein Student das Folgende: Also ich mach mir da jetzt keine konkreten Gedanken, - also find ich nicht unattraktiv den Gedanken - ich wüsst jetzt auch nicht, welche Lebensform, also getrennt, zusammen, bla bla […] (zitiert nach Schröder 2003: 191) Der Befragte imitiert sich in diesem Beispiel vorbeugend selbst, wodurch eine Distanz zum Gesagten hergestellt wird. Damit kann schon präventiv der eventuell aufkommende Verdacht aus dem Weg geräumt werden, der Befragte könne ein ‘Schwätzer’ sein. Häufig finden sich in den deutschen Antworten auch mehrfach gedoppelte Reflexionen, z.B. auf Fragen nach den Einflüssen aus der Kindheit: Ja, also als Kind hab ich viel gelesen und viel Fernsehen geguckt. Also das waren so zwei Sachen. Und ansonsten viel mit meinen Geschwistern gemacht. Meine Eltern waren nicht ganz so präsent. Die waren beide berufstätig und selbstständig und irgendwie am Arbeiten. (zitiert nach Schröder 2003: 192) Der erste und der dritte Satz repräsentieren Reflexionen auf erster Ebene. Der zweite Satz ist bereits ein zusammenfassender Kommentar, der sich auf den ersten bezieht, diesem eine geschlossene Endform verleiht und ihn als Antwort auf die gestellte Frage etikettiert. Der vierte und der fünfte Satz beziehen sich nun bereits auf die stillschweigende Annahme, dass an dieser Stelle eigentlich die Eltern genannt werden müssten, die aber - entgegen der Norm - keine Rolle gespielt haben. Die beiden Sätze repräsentieren damit wiederum eine völlig andere Reflexionsebene, die auf nicht Ausgesprochenes, sondern lediglich auf unterstellte Annahmen des Gegenübers referieren. Ein Vergleich der Antworten auf zwei Kernfragen bezüglich der kulturspezifischen Ausprägung von Selbstreflexion sollen die Tendenz zu einer differenzierteren Selbstbeobachtung in der deutschen gegenüber der brasilianischen Kulturgemeinschaft veranschaulichen: Die Frage, ob es Momente gebe, in denen man über sich lachen müsse, wird von den deutschen Probanden häufiger bejaht als von den brasilianischen. 17 Bei der nachfolgenden Frage, in welchem Kontext man über sich lachen müsse, referieren die deutschen Nennungen eher auf etwas von ihnen Gesagtes, während die brasilianischen Probanden sich vornehmlich auf Handlungen beziehen. Die nachfolgende Gegenüberstellung zeigt die vier am häufigsten genannten Antworten im Vergleich (vgl. Schröder 2003: 108ff): Brasilianische Probanden Deutsche Probanden - wenn ich etwas Lustiges mache - wenn ich etwas falsch mache - wenn etwas Witziges passiert - wenn ich glücklich bin - Selbstironie - Wortverdreher/ Versprecher - Witze von mir - Alberne Kommentare von mir Sartre sieht in der Erfahrung von Scham und in dem Gefühl der Verlegenheit ein entscheidendes Erlebnis für die existentielle Erfahrung, dass ich nicht Herr der Welt bin, sondern dass ich - so wie der Andere für mich - auch für ihn Gebrauchsgegenstand bin, mit dem er, der Andere, umgeht und auf den er einwirkt. Ich bin nicht uneingeschränkt Meister meiner Ulrike Schröder 212 Situation, sondern erlebe zeitweise auch Situationen, die meinem Zugriff entgleiten. Das führe, so Sartre, zum Bruch meines einheitlichen Weltentwurfs, bei dem nicht mehr nur meine Position die Lage der Dinge bestimmt, sondern auch die des Anderen. Im Blick des Anderen sehe ich mich plötzlich selbst: Le regard que manifestent les yeux, de quelque nature qu’ils soient, est pur renvoi à moi-même. (Sartre 1969: 316, Hervorh. i.O.) Scham ist demnach unauflöslich mit der Ausbildung von Selbstreflexion verzahnt. Deshalb zielte die zweite Frage darauf ab festzustellen, ob es im Leben der Befragten Momente gebe, in denen sie sich schämen. Die Antworten zeigen, dass im Gegensatz zu den brasilianischen Probanden nur wenige deutsche die Frage verneinten (vgl. Schröder 2003: 127ff). Hierbei zeigt sich in einem Vergleich der Nennungen zu der nachfolgenden Frage, in welchen Momenten man sich schäme, eine viel stärkere Ausformung selbstreflexiver Individualscham als Resultat subjektiver Introspektion auf deutscher Seite im Gegensatz zur brasilianischen Kollektivscham, wobei die Antworten häufig die in der Frage geforderte Selbstbezüglichkeit ignorieren. Die nachfolgende Gegenüberstellung zeigt die vier am häufigsten genannten Antworten im Vergleich (vgl. Schröder 2003: 127ff): Brasilianische Probanden Deutsche Probanden - wenn ich etwas falsch mache - der sozialen Ungerechtigkeit - der brasilianischen Politik - der schlimmen Zustände in unserem Land - wenn ich andere verletzt habe - wenn ich etwas Falsches gesagt habe - wenn ich mich blöd angestellt habe - wenn ich etwas nicht weiß 3.5 Makroebene: Selbstreflexionen der deutschen Nation So wie der Deutsche nicht Deutscher sein will, so erträgt er es auch nicht, wenn andere ihn porträtieren. Als deutsche Filmemacher, sehr gute Filmemacher, in den sechziger Jahren den Kommandanten Heß mit Götz George in der Hauptrolle porträtiert haben, ist dieser Film, wie viele andere seiner Art auch, vom deutschen Publikum und den Medien abgewiesen worden. Kommt jetzt aber “Holocaust” oder “Schindlers Liste” ins Kino, dann identifizieren wir uns auf einmal mit dem Bild, das die Amerikaner von uns entwerfen. Und meistens gelingt es uns dann sogar, von der Rolle des Täters in die Rolle des Opfers zu schlüpfen. Und diese Haltung ist meines Erachtens nicht nur durch den Nationalsozialismus bedingt, sondern das wird schon von Stendhal auf Deutschlandreisen und anderswo beschrieben, als man in Preußen noch Französisch sprach. Das ist ein deutsches Urübel, ein Unwohlsein mit uns selbst. (Schlöndorff 2001: 22) Die Beziehung der Deutschen zu sich selbst als Nation ist, seit es die Idee von Nation überhaupt gibt, von Anfang an keine natürliche, unmittelbare, unreflektierte: Im Vorfeld der Französischen Revolution und unter dem Eindruck der ersten Teilung Polens 1772 taucht in Europa erstmals der Gedanke auf, ein nationales Bewusstsein als Besinnung auf besondere Eigenschaften und Wertvorstellungen einer Nation sei unabdingbar, um diese - allen politischen Widerständen zum Trotz - zu erhalten oder aber zu schaffen. Die Stoßkraft des Napoleonischen Heeres ist schließlich Auslöser für das Erblühen solch nationaler Gefühle in Deutschland. Während sich aber der Nationenbegriff in Frankreich unabdingbar mit politi- Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? 213 scher Mitbestimmung durch den dritten Stand (vgl. Sieyés 1988: 34ff) und in England mit dem radikalen Liberalismus millscher Prägung verbindet (vgl. Mill 1971: 241ff) zeigt schon der deutsche Nationalstaat von 1871 schwere demokratische Defizite, die bis in die Weimarer Republik hinein nicht überwunden werden und schließlich im nationalsozialistischen Staatsgebilde aufgehen. Demgegenüber ist die Nationwerdung in Westeuropa mit der Ausweitung persönlicher und politischer Freiheits- und Mitwirkungsrechte verbunden, sodass in einem Land wie Frankreich z.B. Nation auch historisch gesehen ein viel größeres und unhinterfragbares Selbstverständnis genießt. Dass das Verhältnis der Deutschen zu sich selbst von Beginn an gerade ob der starken ausländischen Einflüsse auf Deutschland zu der damaligen Zeit ein stark reflektiertes und disputiertes ist, bezeugen Zeitdokumente verschiedenster Epochen wie etwa die Rede Bismarcks im preußischen Landtag 1863, 18 oder die Ode Klopstocks von der Überschätzung der Ausländer (1781). Selbst Kurt Tucholsky beklagt die “übertriebene Nachahmung der etablierten Ordnung im Westen” (1975: 295); schließlich schreibt Thomas Mann: Die Tatsache besteht, daß die deutsche Selbstkritik bösartiger, radikaler, gehässiger ist, als die jeden anderen Volkes; eine schneidend ungerechte Art von Gerechtigkeit, eine zügellose, sympathielose, lieblose Herabsetzung des eigenen Landes nebst inbrünstiger, kritikloser Verehrung anderer. (Mann 1993: 289f) Der Schriftsteller und Politiker Julius Fröbel, der sich der national-revolutionären Bewegung des Vormärz anschließt, sieht parallel zu dieser Präsenz permanenter Selbstbespiegelung auch einen entsprechenden semantischen Apparat im Entstehen, der anderen Kulturen fehlt: Der Mangel eines den Kräften und Bedürfnissen entsprechenden Verkehrs mit der Außenwelt hat für Nationen wie für Individuen eine unfruchtbare Beschäftigung mit sich selbst zur Folge, welche zu einer Krankheit des Geistes führen müßte, wenn sie nicht schon selbst eine wäre. Diese Beschäftigung mit sich selbst wird umso auffallender und närrischer, je größer die Disharmonie zwischen den nach innen und außen gehenden Lebensrichtungen ist. Welches Volk hat wie das deutsche das Beiwort immer im Munde, welches seinen eigenen Charakter bezeichnet? “Deutsche Kraft”, “deutsche Treue”, “deutsche Liebe”, “deutscher Gesang”, “deutscher Wein”, “deutsche Tiefe”, “deutscher Ernst”, deutsche Gründlichkeit”, “deutscher Fleiß”, “deutsche Frauen”, “deutsche Jungfrauen”, “deutsche Männer” - welches Volk braucht solche Bezeichnungen außer das deutsche? […] Der deutsche Geist steht gewissermaßen immer vor dem Spiegel und betrachtet sich selbst. (Fröbel 2002: 71) Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg nimmt die Selbstreferentialität der deutschen Kulturgemeinschaft im Rahmen der intellektuellen und medial omnipräsenten Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit zu. Mit der Wiedervereinigung kommt es schließlich zu einer Revision der Nationenfrage, wobei die ihr innewohnende Selbstreferentialität in ausufernde Kontroversen mündet wie sie u.a. in der zwischen Martin Walser (1988: 65; 1991: 40ff) und Günther Grass (2003: 106), in der Walser-Bubis-Diskussion, 19 den empörten Auslegungen des Botho Strauss-Pamphlets Anschwellender Bocksgesang (1993: 202ff) oder in der Debatte um das Streitgespräch zwischen Gerhard Schröder und Martin Walser anlässlich des Themas Nation - Patriotismus - Demokratische Kultur hervortreten (Walser 2002). Der nordamerikanische Lyriker Charles Kenneth Williams (2002) bezeichnet die Deutschen in diesem Zusammenhang als ein “symbolisches Volk”, dem die Normalität schon alleine dadurch abhanden gekommen sei, dass es unter permanenter Außen- und Innenbeobachtung stehe. Ulrike Schröder 214 4. Schlussbetrachtung Wie die Untersuchung gezeigt hat, sind Denken und Sprechen auf Mikrowie auf Makroebene in der deutschen Kultur von beträchtlicher Selbstreflexion geprägt, die eine spezifische kulturell verankerte und durch verschiedene Einflussfaktoren bedingte Ausdrucksform hervorbringt. Im Kontext dieser ‘Abstandsbegünstiger’ - der zunehmenden Gesellschaftsdifferenzierung, der Individualisierung, des Protestantismus und der Entwicklung der deutschen Sprache im Zuge umgreifender Literalisierungsprozesse -, ist die Geschichte des ‘deutschen Sonderwegs’ zu sehen, der in den Nationalsozialismus mündet, durch den die distanzierte Beobachterposition für viele Emigranten nicht nur geistige, sondern auch realräumliche Tatsache wird, was den Blick von außen ein weiteres Mal schärft. Vor dem Hintergrund der hier illustrierten Wechselwirkung von kulturellen Einflussfaktoren und der Ausbildung von Selbstreflexionsmechanismen zeigt sich, dass das Sonderverhältnis der Deutschen zu sich selbst also keineswegs ausschließlich aus der jüngsten Vergangenheit heraus zu erklären ist, sondern in einem größeren Kontext von Prädispositionen gesehen werden muss. So ist letztlich nicht entscheidbar, inwieweit die starke Tendenz zur Selbstbeobachtung, wie sie entlang des Redestils der deutschen Interviewpartner in der deutsch-brasilianischen Vergleichsstudie zutage gefördert wurde, ein Reflex der Metadiskussionen auf Makroebene darstellt, und inwieweit gerade umgekehrt die spezifische Konstitution der deutschen Kulturgemeinschaft überhaupt erst den Rahmen schafft, innerhalb dessen eine solch autoreflexive Behandlung der Nationenfrage möglich wird. Sicher jedoch ist, dass diesem Phänomen eine kaum zu bremsende Eigendynamik inne wohnt, sodass das Beobachten von Beobachtungen selbstreferentielle Prozesse freisetzt, die bis in die Alltagssprache hinein ihren Niederschlag finden. Anmerkungen 1 Dies ergab eine repräsentative Umfrage des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Gallup in Wiesbaden unter 1008 Erwachsenen mit Wohnsitz in Deutschland; vgl. Gallup Organization 1998. 2 So die Ergebnisse einer Emnid-Umfrage im März 2001; zitiert nach Beste/ Hildebrandt in: DER SPIEGEL 2001. 3 Einer Internet-Umfrage vom 9.3.2004 zufolge sind ähnlich den Ergebnissen der Emind-Umfrage 30% stolz auf ihre nationale Zugehörigkeit und begründen ihre Einstellung mit der Aussage, das Land sei gut. 12,2% hingegen schämen sich für Deutschland, aber 37,3% verneinen die Frage mit dem Verweis, man könne nur auf eigene Leistungen stolz sein (vgl. Single.de 2004). 4 Ontogenese wird hier im Sinne Maturanas verstanden als die in jedem Moment stattfindende Geschichte des strukturellen Wandels einer Einheit ohne Verlust ihrer Organisation (vgl. Maturana/ Varela 1987: 84). 5 Perturbationen sind sie, da sie keine Informationen darstellen, die wir im Wahrnehmungsakt ‘empfangen’, wie gemeinhin angenommen wird. Das, was ein Organismus von ‘draußen’ empfängt, sind keine vorgefertigten Bedeutungen, sondern lediglich Störeinwirkungen, die der jeweilige Organismus erst systemintern zu einer Information konstruiert (vgl. Maturana 1978a: 42). 6 Die Autoren sprechen in diesem Fall auch von Ko-Ontogenesen als einem gemeinsamen strukturellen Driften. Ko-Ontogenesen wären demnach Grundlage für die Entstehung von Kulturgemeinschaften. 7 Darauf hat besonders der russische Sprachpsychologe Vygotsky (1972: 135f) in seiner Kritik an Piaget hingewiesen. 8 Die Untersuchungseinheiten dieser Studie stellten die Gruppe deutscher Studenten, die Gruppe brasilianischer Studenten, die Gruppe brasilianischer Nicht-Studenten und die Gruppe deutscher Nicht-Studenten dar. Bedingung für die Gruppe der Nicht-Studenten war, dass sie weder studieren oder studiert haben, noch über Abitur oder Fachabitur verfügen. Die Befragten waren zwischen 20 und 30 Jahre alt. Im Zentrum der Untersuchung stand die wissenschaftliche Rekonstruktion der Sinnwelten dieser vier Gruppen auf der Grundlage der alltags- Der Selbstbeobachter - ein deutsches Phänomen? 215 weltlichen Erfahrung ihrer Teilnehmer. Dabei sollte das mit Hilfe von Fragebögen und Tiefeninterviews ermittelte Konzept zunächst sinnhaft nachvollzogen werden, um anschließend im Vergleich mit den anderen Gruppen - zunächst intrakulturell, dann interkulturell - ein typisches Konzept systematisieren zu können. Insgesamt wurden in beiden Ländern je 400 Fragebögen verteilt und je 20 Interviews durchgeführt (vgl. Schröder 2003: 63ff). 9 In den brasilianischen Interviews herrscht demgegenüber ein eher rhapsodierender, sukzessiver Erzählstil vor (vgl. Schröder 2003: 135ff). 10 Vgl. zur Sprachökonomie durch Komposition auch Stedje 1994: 171. 11 Zweiter Ordnung deshalb, weil das Kompositum über die Bedeutung seiner Konstituenten hinausgeht, indem es eine Wertung enthält, die sich aus einer Reflexion auf die Konstituenten in Verbindung mit einem soziokulturellen Kontext - oft im Hinblick auf den Lebensstil einer bestimmten Gesellschaftsgruppe - ergibt. 12 Fichte formuliert am radikalsten ein unaufhörlich selbstreferentiell wirkendes, in der Tathandlung prozessierendes Subjekt: Das Selbstbewusstsein wird für ihn absolutes Apriori jeglicher intellektuellen Anschauung und bleibt damit letztlich solipsistisch: “Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein.” (Fichte 1970: 18) 13 Dass sich diese Bestrebungen nach wahrer Innerlichkeit besonders gegen den französischen Lebensstil abgrenzen und viele heute noch anzutreffende Stereotype zur deutschen und französischen Nation auf eben diesen Umbruch zurückgehen, bezeugen zahlreiche Zeitdokumente, so wie die Nouvelle Grammaire Royale française et allemande (Neue und vollkommene Königliche Französische Grammatica), in der u.a. zu lesen ist, dass dem Franzosen die Höflichkeit, dem Deutschen hingegen die Aufrichtigkeit zueigen seien (Weidinger 2002: 67f). Auch Kant unterscheidet den Franzosen gerade in dieser Hinsicht vom Deutschen: Die französische Nation sei gekennzeichnet von “Konversationsgeschmack”, sie ist “höflich […] nicht aus Interesse, sondern aus unmittelbarem Geschmacksbedürfnisse, sich mitzuteilen.” Demgegenüber stünden die Deutschen “im Ruf eines guten Charakters, nämlich dem der Ehrlichkeit und Häuslichkeit.” (Kant 2002: 68f) 14 Hierzu zählen u.a. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795), Wielands Geschichte des Agathon (1766/ 67), Kellers Grüner Heinrich (1854/ 55), Stifters Nachsommer (1857) sowie Thomas Manns Der Zauberberg (1924). 15 In Brasilien ist sowohl der Einfluss der beschriebenen Individualisierung wie auch des Protestantismus ausgesprochen gering (vgl. Schröder 2003: 222ff). 16 Goffman (1959: 19) differenziert in seiner metaphorischen Deutung zwischenmenschlicher Kommunikation als Bühnenspiel zwischen zwei Haltungen, die der Einzelne im Hinblick auf seine Rolle im sozialen Diskurs sich selbst gegenüber einnehmen kann: Er kann von seinem eigenen Spiel getäuscht werden oder ihm zynisch gegenüber stehen. Durch die starke Ausbildung von Selbstdistanzierung und Selbstbewusstsein gehören die Deutschen nach dieser Klassifikation eher zur zweiten Gruppe, die Brasilianer dagegen eher zur ersten. Erst der Glaube an die eigene Rolle kann überhaupt den dramaturgischen und pathetischen Stil hervorbringen, der die sprachliche Interaktion in Brasilien beherrscht; vgl. zum rhetorischen Sprechstil der Brasilianer auch Schröder 2005. 17 125 von 400 der brasilianischen und 42 der 400 deutschen Befragten verneinen die Frage (vgl. Schröder 2003: 108). 18 “Die Neigung, sich für fremde Nationalitäten und Nationalbestrebungen zu begeistern, auch dann, wenn dieselben nur auf Kosten des eignen Vaterlandes verwirklicht werden können, ist eine politische Krankheitsform, deren geographische Verbreitung leider auf Deutschland beschränkt ist.” (Bismarck 2004) 19 Die Diskussion begann mit der Dankesrede Walsers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998. Literatur Àgel, Vilmos 1999: “Grammatik und Kulturgeschichte. Die raison graphique am Beispiel der Epistemik”, in: Sprachgeschichte als Kulturgeschichte, hg. von Andreas Gardt, Ulrike Haß-Zumkehr u.a., Berlin, New York: Walter de Gruyter, 171-223 Bolten, Jürgen 1999: “Kommunikativer Stil, kulturelles Gedächtnis und Kommunikationsmonopole”, in: Wirtschaftskommunikation in Europa, hg. von Hellmuth. K. Geißner und Albert F. 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Im Fokus der Untersuchung steht dabei die Frage, warum sich gerade in der deutschen Sprache, etwa im Vergleich zur portugiesischen, so viele Technologiemetaphern, die ihrerseits mit anderen metaphorischen Konzepten in Zusammenhang stehen, finden lassen. Auf der Grundlage einiger Redebeispiele aus der kulturkontrastiven Studie Brasilianische und deutsche Wirklichkeiten - eine vergleichende Fallstudie zu kommunikativ erzeugten Sinnwelten (2003) soll geklärt werden, welche Merkmale der deutschen Sprache und ihrer kulturgeschichtlichen Entwicklung eine solche Dynamik metaphorischen Sprechens im Alltag begünstigen. This article deals with the metaphoric transfer of technical concepts to our everyday speech. The focus of the analysis is on the question why especially in the German speech, so many metaphors root in rational lifeworlds like economy or technology. Based on examples of our everyday speech practices which are taken from the intercultural field study Brazilian and German Realities - a Comparative Study about Lifeworlds Created in a Communicative Way (2003), the discussion examines the particular characteristics of the German speech which reflect their cultural-historical development and constitute in part the shown dynamic of the metaphorical conversation in everyday live. 1. Einleitung Wir alle haben, genetisch bedingt, einen Chip im Kopf. Aber wie schnell der läuft, ist eine Frage der Programmierung. Je mehr Sie Kinder anregen, durch Musik, Sprache oder mathematische Aufgaben ihre Kapazität zu nutzen, desto mehr verdrahtet sich ihr Gehirn und der Computer wird leistungsfähiger. 1 Ich kenn das nicht anders, inna intakten Familie, wo alles funktioniert und klappt und, ich kenn das nicht anders, und das ist für mich auch schön und wichtig und etwas, woraus man auch immer wieder Kraft schöpfen kann. 2 Der metaphorischen Übertragung technischer Konzepte auf das Gehirn - die Darstellung des Gehirns etwa als Computer, Kamera, Tonband, Telefonschaltzentrale oder hydraulisches System - kommt in den meisten Abhandlungen der Metaphernforschung gebührende Aufmerksamkeit zu. 3 Dass aber solche Konzepte viel unscheinbarer auch unseren alltäglichen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ulrike Schröder 220 Redestil beherrschen, ist schon seltener Gegenstand sozio- oder psycholinguistischer, semiotischer oder kommunikationswissenschaftlicher Studien. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwieweit und warum sich technologische Metaphern in Verbindung mit anderen metaphorischen Konzepten, in die sie eingebettet sind, gerade in der deutschen Alltagssprache besonders häufig finden lassen. Eine Annäherung an das Phänomen erfolgt dabei in drei Schritten: 1. Zunächst geht es um eine Klärung dessen, was metaphorisches Sprechen bedeutet. Dabei wird im Wesentlichen auf den Metaphernbegriff von Lakoff und Johnson zurückgegriffen. 2. In einem zweiten Schritt wird illustriert, inwieweit metaphorische Konzepte kulturspezifische Erfahrungsbereiche hervorbringen. Als Beispiel dient der Körper-Seele-Dualismus der abendländischen Weltanschauung, der das mathematisierte Weltbild der westindogermanischen Sprachen samt der ihm zugrunde liegenden Raummetaphern auf den Erfahrungsbereich der Humanwissenschaften überträgt. 3. Schließlich werden Sprachbeispiele der deutschen Alltagssprache vorgestellt, die zeigen, dass die genannten metaphorischen Konzepte im Deutschen offenbar ausdifferenzierter sind als in anderen Kulturgemeinschaften. Hierfür werden u.a. einige Redebeispiele aus den Interviews der von mir im Jahre 2000/ 2001 durchgeführten kulturkontrastiven Studie Brasilianische und deutsche Wirklichkeiten - eine vergleichende Fallstudie zu kommunikativ erzeugten Sinnwelten herangezogen. 4 Im Zentrum der Darstellung steht eine Klärung der Frage, welche Merkmale der deutschen Sprache und ihrer kulturgeschichtlichen Entwicklung eine solche Dynamik metaphorischen Sprechens begünstigen. 2. Die Strukturierung der Wirklichkeit durch metaphorisches Sprechen Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bildet die Annahme, Wirklichkeit und Sprache entstünden im Kontext kommunikativer Handlungen zwischen den Teilnehmern einer Kulturgemeinschaft, sodass unter dem Begriff Kultur alle solchermaßen erzeugten Sinnwelten zusammengefasst werden können, die in einem dialektischen Prozess externalisiert und internalisiert werden, wobei es zu permanenten Modifikationen kommt. Sprache stellt das Medium dar, innerhalb dessen dieser Prozess abläuft, indem sie vermittels der Kraft, das Hier und Jetzt zu transzendieren, scheinbar fixe Bedeutungen schafft, die ihrerseits wiederum Ausgangspunkt zur Schaffung neuer Bedeutungen werden können, was der Sprache gleichsam ihren selbstreferentiellen Charakter verleiht. Das bedeutet: Wenn Sprache unseren Erfahrungsbereich strukturiert, dann dienen die einmal etablierten sprachlichen Kategorien einer steten Erweiterung kognitiver Rahmen sowie deren Übertragung auf neu zu strukturierende Sinnbereiche. Darauf hat bereits der nordamerikanische Linguist und Anthropologe Edward Sapir hingewiesen: New cultural experiences frequently make it necessary to enlarge the resources of a language, but such enlargement is never an arbitrary addition to the materials and forms already present ; it is merely a further application of principles already in use and in many cases little more than a metaphorical extension of old terms and meaning. […] Language is at one and the same time helping and retarding us in our exploration of experience, and the details of these processes of help and hindrance are deposited in the subtler meanings of different cultures (Sapir 1949: 10f) Die Technologie des Privaten 221 Mit ihrer Abhandlung Metaphors We Live By (1980) leiten Lakoff und Johnson innerhalb der Linguistik eine kognitive Wende ein und begründen ein neues Metaphernverständnis: Die bislang geltende “impressionistische Metaphernbetrachtung” (Jäkel 2003: 21) reicht in dieser Perspektive nicht mehr aus, um die in unserem Alltag omnipräsenten Metaphern adäquat beschreiben zu können. Dementsprechend werden Metaphern nicht länger als isoliertes Sprachphänomen, sondern als Ausdruck konzeptueller Strukturen und allgemeiner kognitiver Fähigkeiten wahrgenommen. Das wiederum führt die Autoren zu der Entdeckung, dass ein Großteil unserer Alltagserfahrung überhaupt erst kohärent wird, indem wir Korrespondenzen zwischen einem begrifflich bereits erschlossenen Erfahrungsbereich und einem noch unverstandenen herstellen. Es kommt zu einer Verbindung zwischen zwei verschiedenen konzeptuellen Domänen, von denen die eine als Zielbereich und die andere als Ursprungsbereich der metaphorischen Übertragung fungiert (Jäkel 2003: 40): 5 The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another. It is not that arguments are a subspecies of war. Arguments and wars are different kinds of things - verbal discourse and armed conflict - and the actions performed are different kinds of actions. But ARGUMENT is partially structured, understood, performed, and talked about in terms of WAR . The concept is metaphorically structured, the activity is metaphorically structured, and, consequently, the language is metaphorically structured. (Lakoff/ Johnson 1980: 5, Hervorh. i.O.) Drei Typen von Metaphern werden von den Autoren im Hinblick auf die Strukturierung von Erfahrung unterschieden: • Structural Metaphors sind Metaphern, die routinierte Muster eines bestimmten menschlichen Handlungsbereiches auf einen anderen übertragen. Anhand des oben zitierten Beispiels der Kriegsmetaphorik, die in westlichen Kulturen Diskussionen strukturiert, veranschaulichen die Autoren zugleich die kulturelle Relativität von Metaphern: Wir gewinnen oder verlieren eine Diskussion, glauben nicht daran, dass unser Gegenüber seine Argumente verteidigen kann und müssen bekennen, dass der andere in der Lage war, jeglichen schwachen Punkt in unserer Rede anzugreifen. Stellt man sich nun vor, eine Kultur strukturiere Diskussionen gemäß einem Tanz, so gewinnt der ganze Erfahrungsbereich eine völlig neue Kontur, die nicht mehr das ausmachen würde, was wir Diskussion zu nennen gewöhnt sind. Während in der Kriegsmetaphorik die Argumentation auf Sieg oder Niederlage hinausläuft, fasst die Tanzmetaphorik Diskussion als wechselseitig harmonische Bewegung auf, die das Erlebnis von Sieg nicht kennt (Lakoff/ Johnson 1980: 5). Andere Beispiele stellen die Anwendung des Konzepts Gebäude auf Theorien oder die des Konzepts Pflanzen auf Ideen dar (Lakoff/ Johnson 1980: 41ff). • Orientational Metaphors beziehen sich auf Konzepte, die durch Bezugnahme auf eine Richtung oder Lage räumliche Verhältnisse auf nicht-räumliche anwenden. Hierzu gehören die in einer Vielzahl von Erfahrungsbereichen anzutreffenden Begriffspaare oben/ unten, innen/ außen, vorne/ hinten, an/ aus, tief/ flach und zentral/ peripher. Das morgendliche Aufwachen und Er befindet sich unter Hypnose sind verschiedene Bilder, hinter denen dasselbe metaphorische Konzept steht: Das Bewusste bzw. Unbewusste wird mit einer oben/ unten-Metaphorik zu greifen versucht. Dabei kommen auch fundamentale Werte einer Kulturgemeinschaft ins Spiel, wie sich an der sprachlichen Umformung des Wertes mehr ist besser in mehr ist oben zeigt. So sprechen wir beispielsweise von dem Ulrike Schröder 222 hohen bzw. niedrigen Status oder Rang eines Menschen und beziehen uns dabei meistens auf die Korrelation von Einkommen und Status (Lakoff/ Johnson 1980: 14ff). • Ontological Metaphors verknüpfen Erfahrungen, die wir mit Gegenständen in der physisch wahrnehmbaren Welt machen, mit solchen nicht-physischer Art, um auch letztere als ontologische Einheiten behandeln zu können. Ereignisse, Aktivitäten, Emotionen oder Ideen werden in Entitäten oder Substanzen gegossen, wie es zum Beispiel in der Äußerung Die Inflation senkt unseren Lebensstandard der Fall ist. Metaphern dieses Typs dienen dazu, Dinge zu quantifizieren (Ich werde eine Menge Geduld benötigen, um das Buch zu Ende zu lesen), einen Teilaspekt einer Sache zu identifizieren (die hässliche Seite seiner Person), Ursachen zu benennen (Er hat es aus Wut getan) oder Ziele greifbar zu machen (Er ging nach New York, um Ruhm und Glück zu suchen) (Lakoff/ Johnson 1980: 25ff). 6 Unser sprachlich verfasster Wirklichkeitsentwurf lässt sich nun als Anhäufung und Bündelung metaphorischer Konzepte darstellen, die ihrerseits wiederum von verschiedenen Lagen und Schichten anderer metaphorischer Konzepte durchzogen sind, die Basismetaphern bilden. Wenn mir jemand sagt: Dein Argument ist durchlässig. Du bist noch nicht zum Kern vorgedrungen, dann vereinigt sich hier die Vorstellung von einem Argument als Container mit der von einem Argument als Reise mit einem Ziel. So können sich beide Metaphern auch überlappen: An diesem Punkt hat dein Argument nicht viel Inhalt. Bei vielschichtigeren Gebilden kommt es nicht nur zu horizontalen, sondern auch zu vertikalen Verbindungen, wobei komplexere Metaphern in sich bereits auf tiefer verwurzelten fußen: Die basale metaphorische Tiefenorientierung korrespondiert so z.B. mit den metaphorischen Konzepten Gebäude und Container wie in dem Satz Diese Punkte sind für unser Argument zentral und bilden die Grundmauern für alles Folgende (Lakoff/ Johnson 1980: 102). Ein Konzept oder einen Ausdruck in unterschiedlichen Zusammenhängen zu gebrauchen, kann in der von Lakoff und Johnson eröffneten Perspektive als Wurzel aller Handlungstraditionen einer Kommunikationsgemeinschaft verstanden werden. Der Sprachphilosoph Fritz Mauthner (1923: 36) sieht sogar den Ursprung jeglicher Sprachentwicklung im metaphorischen Sprechen und betont die ihm innewohnende trügerische Kraft der Sprache als soziale Macht, die Zwangsvorstellungen auslöse. Wissen über Wirklichkeit zu erzeugen ist für ihn kein Fortschritt, sondern die Einordnung von etwas bislang Unbekanntem in eine bereits bestehende sprachliche Kategorie, in welcher dem Unbekannten ein Platz zugewiesen wird, sodass Wissen und Erkennen letztlich immer in den Grenzen der Sprache gefangen bleiben. 3. Metaphernerzeugung im kulturspezifischen Kontext Wenn Metaphern, wie eingangs formuliert wurde, in kommunikativen Kontexten hervorgebracht werden, variieren sie folglich von Kultur zu Kultur und von Sprache zu Sprache. Darauf haben besonders anthropologische Studien hingewiesen, unter ihnen die ebenso prominente wie umstrittene Studie zu den Hopi-Indianern des nordamerikanischen Anthropologen Benjamin Lee Whorf, der davon ausgeht, dass verschiedene Grammatiken auch zu verschiedenen Weltsichten führen. 7 Im Kontext seiner Untersuchungen fokussiert Whorf eine Reihe von metaphorischen Konzepten, die in den meisten Sprachen des SAE (Standard Average European) niedergelegt sind, aber keineswegs universelle Gültigkeit besitzen: So werden z.B. die Erfahrungsbereiche Dauer, Intensität und Tendenz im SAE entgegen der Die Technologie des Privaten 223 Hopisprache, die über eine eigene Klasse sogenannter Tensoren zur Beschreibung von Intensitäten verfügt, mit Hilfe metaphorischer Ausdrücke für räumliche Ausdehnung strukturiert - durch Konzepte wie Größe, Anzahl, Position, Gestalt und Bewegung: We express duration by ‘long, short, great, much, quick, slow,’ etc. ; intensity by ‘large, great, much, heavy, light, high, low, sharp, faint,’ etc.; tendency by ‘more, increase, grow, turn, get, approach, go, come, rise, fall, stop, smooth, even, rapid, slow’ ; and so on through an almost inexhaustible list of metaphors that we hardly recognize as such, since they are virtually the only linguistic media available. (Whorf 1973: 145) Wie sprachlich manifestierte ‘Gewissheiten’ Eingang in die Wissenschaftswelt finden, zeigt u.a. die besonders philosophische Abhandlungen lange Zeit beherrschende Subjekt-Objekt- Dichotomie: Den Ausgang nimmt dieser ‘Sprachmythos’ in der Renaissance, durch die es zu einer Mathematisierung der Natur kommt: Galilei und seine Nachfolger richten ihr Augenmerk vornehmlich auf die Beschaffenheit der externen Welt und vernachlässigen dabei die konstruktiven Leistungen des Subjekts, das überhaupt erst die Bedingungen für eine Analyse der Wirklichkeit bereitstellt, was zur Folge hat, “daß wir mit dem mathematischen Ideenkleid für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist” (Husserl 1977: 52; Hervorh. i.O.) So etabliert sich allmählich das Bild von der Natur als einer in sich geschlossenen Körperwelt, aus der alles, was sich nicht in dieses Bild einfassen lässt, ausgeklammert und ihm entgegengestellt wird. Der daraus resultierende Hiatus kulminiert in Descartes’ Trennung von res extensa und res cogitans. Als Reaktion auf den Rationalismus etabliert sich schließlich der Empirismus: Beginnend mit dem Physikalismus Hobbes’ und der Naturalisierung des Psychischen durch Locke, mündet das Bemühen, auch die zweite Welt mit den Gesetzmäßigkeiten der ersten zu beschreiben, schließlich in den Solipsismus humescher Prägung. In dieser Weltdichotomisierung wird die Seele zur Schlüsselmetapher der europäischen Philosophie, wie an den ontologischen Differenzen Geist/ Körper, Innen/ Außen, Mentales/ Physikalisches, Immaterielles/ Materielles, res cogitans/ res extensa ablesbar ist. In solchen Bildern wird das geometrische Modell Basis für eine räumliche Metaphorik, die bis heute einen Großteil unseres alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Denkens bestimmt: Die räumliche Metaphorik erzwingt einen Blick, der etwas “sehen” will, was nicht “gesehen” werden kann. So treten die Metaphern einer Ein-sicht, einer inneren Schau, eines Ein-blicks, einer Intro-spektion auf den Plan. Ihr Organ ist ein Auge, das nicht körperlich ist, ein “inneres Auge”, das einen paraoptischen Blick auf das zu werfen ermöglichen soll, was sich als Seele vorspiegelt. (Geier 1989: 187) Die Raummetaphorik entwickelt im Zuge der mit der Renaissance einsetzenden Ausdifferenzierung einzelner gesellschaftlicher Funktionssysteme eine so starke Eigendynamik, dass es zur Bildung von immer neuen Semantiken kommt, die ihrerseits metaphorische Konzepte auf der Basis von Industrialisierungs-, Ökonomisierungs- und Technologisierungsprozessen freisetzen. Ein Wegbereiter für die damit verbundeneTechnomorphisierung des Menschen im wissenschaftlichen Bereich ist der Franzose La Mettrie, der den Menschen als Maschine begreift und ihn entlang einer mechanischen Metapher als Uhr beschreibt: 8 […] le corps humain est une horloge, mais immense, et construite avec tant d’artifice et d’habileté, que si la roue qui sert à marquer les secondes vient à s’arrêter, celle des minutes tourne et va toujours son train; comme la roue des quarts continue de se mouvoir, et ainsi des autres, quand les premières, rouillées ou dérangées par quelque cause que ce soit, ont interrompu leur marche. (La Mettrie 1981: 143) Ulrike Schröder 224 Über eine solch metaphorische Analogisierung von Mensch und Maschine durch Descartes und La Mettrie hinausgehend, führt Leibniz (1960) die Idee einer universalen Kalkülisierung des Denkens ein und nimmt damit bereits die moderne Kognitionswissenschaft vorweg, indem er an die Stelle natürlichsprachlichen Argumentierens das Rechnen mit formalen Ausdrücken setzt. Die terminologische Ausdifferenzierung dieser technologischen Metapher lässt sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext der Entstehung der Kognitionswissenschaft beobachten, die von dem Grundgedanken ausgeht, der Mensch sei als informationsverarbeitendes System beschreibbar. Der erste umfassende Entwurf einer Kognitionstheorie als Wissenschaft von kognitiven Prozessen, die als Berechnungsprozesse aufgefasst werden, stammt von Allen Newell und Herbert A. Simon (1956). Innerhalb der theoretischen Linguistik widmet sich Noam Chomsky (1977) mit seiner Transformationsgrammatik dem Versuch einer exakten Beschreibung der Sprachfähigkeit auf der Basis neuronaler Berechnungsprozesse. Seine mentalistische Prämisse basiert auf der Beobachtbarkeit der Fähigkeit zur stetigen Neukombination von Sätzen und auf der Tatsache, dass Kinder trotz defizitären Inputs eine komplexe grammatische Struktur ausbauen. Daraus schließt er, dass es eine Universalgrammatik geben müsse, auf deren Basis sich der angeborene Spracherwerbsmechanismus entfalten kann. Steven Pinker (1994: 297ff) radikalisiert das Modell Chomskys, indem er von Sprache als einem mentalen Organ, neuronalen System oder gar Berechnungsmodul spricht. Die Kognitionstheoretiker Jerry Fodor und Zenon Pylyshyn (1988) verwenden schließlich die Computer-Metapher zur Beschreibung von Erkenntnis als Produkt von Rechenprozessen. Dabei setzen sie die theoretischen Bedingungen des Rechnens in Analogie zur Software, die biologischen Strukturen und Gehirnprozesse, die das Rechnen ausführen, in Analogie zur Hardware eines Computers. Die Algorithmen, mit denen dann gerechnet wird, sind für Computer und Gehirn dieselben. Auch in der Soziologie finden sich immer mehr Ansätze, die sich technologischer metaphorischer Konzepte bedienen, um etwa der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Prozesse Herr zu werden. So versteht der Soziologe Niklas Luhmann (1999) in seiner Systemtheorie die Gesellschaft als System, in der autoreferentielle Subsysteme auf der Basis von binären Codes operieren und dabei durch rekursive Prozesse semantische Apparate ausdifferenzieren. Auch die kognitive Psychologie unternimmt den Versuch, mit Hilfe technologischer Metaphern die Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu beschreiben. Dabei wird der Mensch als informationsverarbeitendes System betrachtet: Mittels Input/ Output, Enkodierung/ Dekodierung sowie Speicherung/ Abruf wird das Gehirn als Rechenmodul dargestellt; Lernen wird zur reinen Informationsspeicherung, wobei drei Speicher relevant werden - das Ultrakurzzeit-, das Kurzzeit- und das Langzeitgedächtnis -, zwischen denen Überführungsprozesse stattfinden (vgl. MacCormac 1985). 4. Metaphorisierungen in der deutschen Alltagssprache So wie die hier kurz umrissene Wissenschaftsterminologie in vielen Bereichen auf Technologiemetaphern zurückgreift, so finden sich auch im deutschen Sprachgebrauch auffallend häufig Korrelationen und Verflechtungen zwischen Metaphern auf mehreren Ebenen, die alle konstitutiv für eine spezifisch technologische Handhabung von Lebenswelt sind. Dabei handelt es sich um Tendenzen, was nicht ausschließt, dass die ein oder andere Metapher auch in anderen Sprachen zu finden ist. Entscheidend ist vielmehr der häufige und idiomatisierte Gebrauch. Ein kurzer, vergleichender Blick auf das brasilianische Portugiesisch verdeutlicht Die Technologie des Privaten 225 das: Im brasilianischen Sprachgebrauch etwa finden sich weitaus mehr metaphorische Konzepte, die Fühlbares - die Welt der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung - auf rationale Sinnwelten übertragen: So haben z.B. die Wörter fluir, sentir, comer oder apaixonar extensiveren Charakter als im Deutschen. Das demonstrieren Ausdrucksweisen wie os sentimentos fluem naturalmente - comer carne - desejo da carne - sentir dor - sentir uma certa capacidade para fazer isso - sentir algo estranho - apaixonar-se pela sociologia/ música etc. 9 Im deutschen Sprachgebrauch dagegen kehrt sich dieses Verhältnis um, wie im Folgenden gezeigt wird. Private Lebensbereiche werden stärker mit Metaphern aus öffentlich-rationalen Sinnwelten, etwa dem Arbeits-, Wirtschafts- und Wissenschaftsleben, strukturiert und nicht umgekehrt. Die Entwicklung solcher Metaphern muss vor dem Hintergrund verschiedener Einflussfaktoren gesehen werden, die keine monokausalen Erklärungen zulassen; entscheidend ist ihr Zusammenspiel: Neben der zunehmenden Ausdifferenzierung und Rationalisierung der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme Arbeit, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht etc. sind es vor allem die miteinander verflochtenen Prozesse der Literalisierung, Individualisierung und Verbreitung des Protestantismus, die einen besonderen Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Sprache ausüben. So kommt es mit Einführung der Schrift zu einer Institutionalisierung von Zeitrahmen, innerhalb derer sich der Abstand zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vergrößert. Die Distanz zum Geschriebenen hat auch eine Distanz zum jeweiligen Situationsablauf zur Folge, was die Welt einteilbarer werden lässt und ein Bedürfnis nach Klassifizierung wachruft, das zu einer Mechanisierung und Technologisierung der Arbeitsprozesse und des öffentlichen Lebens führt. An die Stelle des bloßen Erfahrungsflusses treten Relationen, die zwischen verschiedenen Erfahrungen und Erfahrungsmodi von einer Metaebene aus hergestellt werden, was sich sprachlich besonders in der Subordination niederschlägt. So kommt es in Deutschland im Zuge der in der frühneuhochdeutschen Periode (1350-1650) aufkommenden soziokulturellen Neuerungen - Stadtentwicklung, Buchdruck, Reformation, Universitätsgründungen, Humanismus, Renaissance und beginnende Maschinisierung - zu einer Syntaxerweiterung durch Hypotaxe. Haupt- und Nebensatz werden zunehmend durch Mittel der Satzverknüpfung und feste Verbstellungsregeln formal genau unterschieden. Die epistemischen Modalwörter und assertiven Sprechakte, die die Syntax erweitern und eine wachsende Distanz zum Aussageinhalt befördern, nehmen zu, sodass die eigenen Aussagen nachhaltiger reflektiert werden und die Möglichkeit entsteht, sich verbal zu den produzierten Inhalten zu verhalten (vgl. Àgel 1999: 181ff). Das Satzrahmenprinzip, ein Spezifikum der deutschen Sprache, etabliert sich (vgl. Polenz 1991: 202; Wolff 1994: 104ff; Stedje 1994: 128ff). Darüber hinaus besitzt das Deutsche als im Vergleich zu dem Romanischen synthetischere Sprache die Möglichkeit zur spontanen Bildung sog. ad-hoc-Komposita. So lässt sich eine auffällige Zunahme der Komposita im Zusammenhang mit der Literalisierung verzeichnen. Der durchschnittliche Anteil der Substantivkomposita am Gesamt des Substantivwortschatzes eines Textes steigt von 6,8% in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf 18,4% in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an (Solms 1999: 234). Daneben kommt es besonders im Bereich der Verben zu einer Zunahme der Präfixoidbildungen mit räumlicher Dynamik wie hin-, her-, nach,entgegenetc., wodurch verschiedene Raumbilder vorangetrieben werden, z.B. das Bild von der Gegenüberstellung oder das der oben/ unten-Richtung: hin-, hinweg-, her-, herzu-, nach-, entgegen-, ab-, los-, aus-, heraus, ein-, hinein, durch-, auf-, hinauf,aufwärts-, hinan-, empor- (Polenz 1991: 312). All diese architektonischen Neuerungen führen dazu, dass die Vorstellungswelt dreidimensionaler wird; das Schreiben wird im Vergleich zur mündlichen Kommunikation zu Ulrike Schröder 226 einem solipsistischen Vorgang, mit dem sich der semantische Apparat der Innerlichkeit erweitert, der bis auf das 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, in dem die Sprache der Mystik erblüht. Meister Eckhart und Mechthild von Magdeburg beginnen damit, religiöse Erlebnisse in der Sprache abzubilden und erschaffen dafür Metaphern wie Einfluss, Eindruck, Einkehr, Einbildung oder Einwirkung. Diese Tendenz wird im Pietismus, später im Sturm und Drang und schließlich in der Romantik fortgesetzt, mit der die wachsende Interiorisierung ihren Höhepunkt erreicht (vgl. Stedje 1994: 104; Polenz 1991: 312ff). Gleichzeitig wird hier der metaphorische Grundstock für die Ausdifferenzierung weiterer Konzepte gelegt, die ihrerseits in der Technisierung und Rationalisierung der Lebenswelt wurzeln. 10 Grundlage der Technologisierung als Wissenschaft von der Umwandlung von Rohstoffen in Fertigprodukte ist ein mathematisch-physikalisches Weltbild; ihre wichtigsten Merkmale sind das Prinzip der Zergliederung in Teilschritte und das der Aufteilung von Prozessen in einzelne Komponenten, ihr Ziel ist die Mechanisierung, Beschleunigung, Rationalisierung, Kalkulierbarkeit und exakte Berechnung der Lebenswelt. Nachfolgend werden zwei Typen metaphorischer Konzepte der deutschen Alltagssprache unterschieden. Der erste Typ kommt dem nahe, was Lakoff/ Johnson in ihrer Analyse Orientational Metaphors genannt haben und bezieht sich auf fundamentale Metaphern räumlicher Dynamik und räumlicher Gliederung, ohne die der zweite Typ um den Komplex Technologisierung, dem Structural Metaphors zugrunde liegen, nicht möglich wäre. 4.1 Orientational Metaphors: Verräumlichung der Lebenswelt 4.1.1 Metaphern mit räumlicher Dynamik Schon die Grundmauern der deutschen Sprache sind viel stärker von räumlichen Vorstellungen bestimmt als dies etwa in der portugiesischen Sprache der Fall ist, wie eine Stichprobe zeigt: Die Verben, die im Portugiesischen mit subbeginnen, betragen im deutsch-portugiesischen Langenscheidtlexikon 33 Eintragungen, jene, die im Deutschen mit unterbeginnen 58. Verben, die im Portugiesischen mit sobrebeginnen, sind 25 Mal zu finden, jene, die im Deutschen mit überbeginnen, dagegen 130 Mal. Da einige Wörter, die im Deutschen mit überbeginnen, im Portugiesischen durch transausgedrückt werden, sind auch die Verben mit durchbzw. transgezählt worden. Allerdings fällt das Ergebnis ähnlich aus: 31 Mal tauchen Verben auf, die mit transanfangen, 121 Mal demgegenüber Verben, die mit durcheingeleitet werden. 11 Die folgenden Beispiele zeigen spezifisch deutsche Raummetaphern, die in der Alltagssprache gebraucht werden und zu denen es in den meisten anderen westindogermanischen Sprachen kein Äquivalent gibt: 12 R AUMMETAPHORIK Was man gerade macht und dann im Studium, das wird dann hin- und hergewälzt es ist manchmal ganz schön schwierig, das so für sich abzustecken Ich hätte es mir interessanter vorgestellt … ohne Menschen Verträge unterzujubeln Das heißt, dass man versucht, das Gefühl aufrechtzuerhalten auch über’ne längere Zeit, über Jahre hinweg vielleicht auch So dass wir alles andere auch halten können, weil, sonst würd sich das nicht lohnen, wenn ich aus meinem Beruf rausgeh Die Technologie des Privaten 227 R AUMMETAPHORIK Den Stoff, den die hier durchgenommen hatten, der war doch schon ganz schön schwer Da gibt’s jetzt nichts, was so herausragen würde aus dem allem So würd ich da nicht drauf eingehn Damals fand ich Kinder ganz abstoßend Im Sport hätt ich dann vielleicht auch was anders gemacht, hätt ich mich vielleicht auch eher durchgesetzt Also man kann nicht davon ausgehen, dass man jetzt auch in diesem Beruf arbeitet, aber es sieht in Zukunft wieder etwas besser aus Dass man sich nichts vormacht irgendwie, ist wichtig inna Partnerschaft Ich will nicht, dass man mir irgend’nen Humbug aufschwatzt Wenn man mich hintergeht, bin ich sauer Wenn man irgendwie auffällt und das nicht will Ich wünsch mir einen Beruf, der mich ausfüllt Das zieht einen runter Viele haben kein Interesse an einer vielseitigen Ausbildung, sie hinterfragen zu wenig Das sind so Sachen, die irgendwann noch mal anstehn Vielleicht, wenn ich’nen neuen Job antrete und die Leute nicht kenne, dann ist mir das unangenehm Das bewunder ich irgendwie, das hätt ich denen nie zugetraut. Dass die’s mal so weit bringen Das ist ja so, dass die immer gut drauf sind und das halt nicht ganz so eng sehn, so stur nach vorne Ich mach mir große Gedanken, ob ich das wirklich schaffen könnte, ob ich das durchziehn kann mit dem Studium 4.1.2 Metaphern der räumlichen Aufteilung und Klassifizierung Nicht nur auf der syntaktischen Ebene kommt es durch die Subordination zu einer mentalen Raumausweitung durch Kausal-, Konditional- und Temporalzusammenhänge, die Ordnung in die Biographie des Einzelnen bringen, auch auf lexikalischer Ebene schlägt sich das mit der Industrialisierung einsetzende Zergliederungsverfahren von Prozessen sprachlich nieder, indem die biographische Zeit retrospektiv wie ein Raum behandelt und aufgegliedert wird. Diese Vorgehensweise kommt dem sehr nahe, was die Soziologen Peter und Brigitte Berger in ihren Untersuchungen zum Lebens- und Sprechstil der Moderne “cognitive style of bureaucratic consciousness” (Berger/ Berger 1974: 50) nennen: Familie, Partner, Freunde, Haushalt werden nach den gleichen Grundsätzen wie eine Behörde oder ein Betrieb organisiert: M ETAPHERN ZUR E INTEILUNG UND A UFGLIEDERUNG DES L EBENS Ja, das Vergessen, das hab ich von meinem Papa, das Ordentliche und Bedächtige, das hab ich von meiner Mutter. So fünfzig, fünfzig, von Mama und Papa, aber der väterliche Teil, der überwiegt schon Aber wie gesagt, das ist - die Grenze ist dann auch irgendwo, also die Grenze von dem besten Freund zu der Partnerin, sag ich mal so, von’nem ganzen Kuchen so, ist vielleicht so’n Stück [zeigt ein kleines Stückchen an] Ja, ich konstruier immer so’nen Schnitt gegen Ende der Oberstufe Vielleicht in Abgrenzung so von anderen Leuten Also es gibt - ich hab zwar immer so Verhältnisse, aber die sind jetzt nicht so für Familie geeignet, sozusagen für den Übergang, Männer Also erst mal sagt man immer so: Das sind Freunde von mir und dann schränkt man immer so selber ein… Ulrike Schröder 228 M ETAPHERN ZUR E INTEILUNG UND A UFGLIEDERUNG DES L EBENS Klar, irgendwann möchte ich auch mal’n Haus haben, aber das ist jetzt nicht mein Endziel Also im Rahmen meiner Möglichkeiten hab ich doch so das rausgeholt, was möglich war Ja, im Endeffekt grenzenloses Vertrauen Meine Lebensabschnittsgefährten Also ich kann mich zwar streiten, auch diskutiern und das ist auch in Ordnung, aber ich find, das muss irgendwann auch’nen Punkt haben. Und dann muss man auch sagen: Okay, so isses und fertig Ach herrje, es gibt so viele Ansichten, vom “Mir doch sch-egal” bis “Alles muss geplant werden.” Ich denke, dass ich für mich eine sachliche Mitte gefunden habe Also gerade so Job und Uni, dadurch, dass ich in der Uni viele Freunde habe, auch gerade in der Abschlussphase Also so Sachen, die nicht in meinen Aufgabenbereich fallen, die könnten ja schief gehen Ja, mit seinem Partner macht man vielleicht - der deckt vielleicht mehr ab oder so. Ich hab immer so das Gefühl, man hat verschiedene Freunde für verschiedene Bereiche. Ich will diesen Abschnitt meines Lebens, das Studium halt auch möglichst genießen Obwohl ich mich da’n bisschen ausgrenzen möchte Eine Spezialform der sprachlichen Einteilung von Erfahrung stellt die wertende Klassifizierung bzw. das Rankingprinzip dar: M ETAPHERN ZUR K LASSIFIZIERUNG VON E RFAHRUNG Ehrlichkeit ist das Oberste in einer guten Partnerschaft Mein Bruder war immer schon eine Stufe höher als ich Ausbildung ist das erste Ziel und steht bei mir ganz oben Ohne Familie ist das Finanzielle eigentlich recht zweitrangig Die Leute in den unteren oder mittleren Ebenen sind sowieso glücklicher. Echte Freunde stehen bei mir hoch bzw. mittel im Kurs Es wäre schön, wenn man noch’ne Etage höher käme Also Nr. 1 mein Beruf, Nr. 2 würd ich sagen, die Freunde und die Freizeit 4.2 Structural Metaphors: Technologisierung der Lebenswelt 4.2.1 Metaphern der Teilkonzepte Wirtschaft, Wettkampf, Kalkulation und Exaktheit Strukturiert im brasilianischen Portugiesisch der Erfahrungsbereich Liebe auch den Bereich Arbeit/ Studium mit, verhält es sich bei den deutschen Befragten genau umgekehrt: Hier wird das Wirtschaftsvokabular häufig Stütze zur Strukturierung der Welt zwischenmenschlicher Beziehungen. Zentral in diesem Konzept ist die assumption of maximalization: Die Logik des technologisierten Produktionsprozesses tendiert zu einer größtmöglichen Steigerung der Ergebnisse - größer, besser, billiger, effektiver, stärker, schneller. Dieses Axiom wird auch auf andere Sektoren des sozialen Lebens übertragen (vgl. Berger/ Berger 1974: 40) 13 Die Technologie des Privaten 229 W IRTSCHAFTSMETAPHERN Ich will aus einer Beziehung etwas schöpfen können Eine Beziehung sollte eine sexuelle Komponente bieten Die Beziehung bringt nix mehr Die Zeit vor der Heirat will ich ausnutzen Aus meinem Leben möchte ich etwas rausholen, sodass ich am Ende sagen kann: Es hat sich alles gelohnt Ich kann inzwischen abschätzen, wer mich ausnutzt, wer nicht, von wem ich was erwarten kann, von wem nicht Ob man eine Familie gründet oder nicht, sollte man im Zeitalter der Unterhaltszahlungen genau abwägen Freunde sollten auf jeden Fall auch dazu bereit sein, kleine Gefälligkeiten ohne Gegenleistung zu erbringen Vor Bekannten würde ich nichts von mir preisgeben Mit meinen Freunden und meinem Partner will ich Gefühle und Gedanken austauschen können Eng verwoben mit der Wirtschaftsmetapher ist die Wettkampfmetapher. 14 W ETTKAMPFMETAPHERN Erfolg im Berufs- und Privatleben haben Das Studium erfolgreich beenden Ich will mein Berufsziel erreichen Ich will auf jeden Fall vorwärts kommen Ich würde gerne den Laufbahnen meiner Freunde nacheifern Ich muss einfach noch mehr tun, um noch weiter nach vorne zu kommen Um was zu erreichen, muss man auch Leistung bringen Ich will später auf jeden Fall besser da stehen als andere Man muss eben zielstrebig sein, wenn man oben ankommen will Durch die neue Studienordnung bin ich zurückgeworfen worden Ich habe dazu eine neue Einstellung gewonnen und wünsche mir eine Erhöhung meiner Qualifikationen Urlaub ist für mich eine Art gebührende Belohnung für eine gewisse Etappe, die ich mir gesetzt und erreicht habe Mit Wirtschaft und Wettkampf ist auch Kalkulation verbunden. Wer gewinnen will, muss die richtige Rechnung aufstellen. So ist der deutsche Redestil von genauen Kalkulationen und Abwägungen mit Hilfe von Maßeinheiten durchzogen: 15 K ALKULATIONS - UND M A ß METAPHERN Vieles ist in gewissem Maße schon vorgegeben Der väterliche Teil in mir überwiegt schon Gleiche und unterschiedliche Lebenseinstellungen bei anderen Studenten halten sich die Waage Familie ist schon wichtig, aber erst, wenn der angemessene Zeitpunkt dazu da ist Ich rechne mir in der Großstadt ehrlich gesagt bessere Berufschancen aus Dass man mal ein Semester nicht so voran kommt, sollte man schon mit einkalkulieren 4.2.2 Metaphern der Teilkonzepte Arbeit, Mechanik, Technik Direkt auf die Auswirkungen der technologisierten Arbeitswelt bezogen sind die nachstehenden Teilkonzepte. Berger/ Berger sprechen in diesem Zusammenhang vom cognitive Ulrike Schröder 230 style of componentiality, der seinen Ursprung in der technologischen Produktion hat und zunehmend auf andere Lebensbereiche ausgedehnt wird: The components of reality are self-contained units which can be brought into relation with other such units - that is, reality is not conceived as an ongoing flux of juncture and disjuncture of unique entities. This apprehension of reality in terms of components is essential to the reproducibility of the production process as well as to the correlation of men and machines. For example, each of several hundred cogs involved in a day’s work is, given certain presuppositions (such as size), a unit freely exchangeable with every other unit, at least for the purpose at hand. Reality is ordered in terms of such components, which are apprehended and manipulated as atomistic units. Thus, everything is analysable into constituent components, and everything can be taken apart and put together again in terms of these components. (Berger/ Berger 1974: 32) Die Autoren sprechen bei der Übertragung dieser “tinkering attitude” auf das Privatleben von “psychological engineering” (Berger/ Berger 1974: 34) und verzeichnen auch eine spezifisch technologische Handhabung sozialer Beziehungen. Generell finden sich in der deutschen Alltagssprache über die bereits vorgestellten Basiskonzepte der Einteilung und Zergliederung des Lebensflusses hinaus auch spezifische Metaphern, die der technologischen Arbeitswelt mit ihrem eigenen semantischen Apparat entspringen. Sie lassen sich in folgende Unterkonzepte aufgliedern: 16 A RBEITSWELT Es gibt im Leben nun mal Situationen, die gemeistert werden müssen Kinder neigen ja irgendwie dazu, sich gegenseitig fertig zu machen Gemeinsames Leid schweißt eben zusammen Mein Freund is’n richtiger Kollege Ich strebe schon eine Art Lebenswerk an In der Partnerschaft zählt Zusammenarbeit Ich fühle mich sicher, wenn ich etwas geschafft habe wenn Dinge auf mich zukommen, die nicht in meinen Aufgabenbereich fallen M ECHANIK UND T ECHNIK Mir unterlaufen da schon mal ein paar Fehler Der hat viel zu hochgeschraubte Ansprüche Da gibt es oft Reibungspunkte mit den anderen Das wird sich schon wieder einrenken Wenn die Dinge klappen und laufen Der ist doch nicht ganz dicht Was du wirklich brauchst, ist ein guter Seelenklempner Jobtechnisch denke ich, sollte ich das wohl schaffen Der is’n richtiger Senkrechtstarter Der tickt doch nicht mehr richtig G ERÄTE Auf Feten will ich so richtig aufdrehen Wenn alles kaputt ist, will man auch nicht mehr Eine Beziehung kann schon mal in die Brüche gehen In einer funktionierenden Partnerschaft sollte man den anderen auch zufrieden stellen können Die Technologie des Privaten 231 F AHRZEUGE Danach muss ich erst mal wieder runterfahren Noch mal Schule? Der Zug ist ja wohl abgefahren Da war ich dann auf 180 Beruflich muss ich mal richtig durchstarten Beim Studium sollte ich auf jeden Fall noch etwas mehr Gas geben Ich muss wohl lernen, mich in der Firma etwas mehr auszubremsen Die Situation mit ihm ist schon ganz schön eingefahren Die haben da schon ein ganz schönes Tempo darauf, da kommt man nicht so schnell mit F UNK / R ADIO / F ERNSEHEN / C OMPUTER Schule ist ja sozusagen vorprogrammiert Die ganze Bandbreite an Müll war dabei Ich kann im Moment gar nichts mehr speichern Ich will demnächst eine neue Arbeit anpeilen Wir haben halt nicht die gleiche Wellenlänge Bei dem sind die Sicherungen durchgebrannt 5. Zusammenfassung und Ausblick Im Rahmen einer Prüfung der eingangs aufgestellten These von einer starken Dominanz technologischer Metaphern in der deutschen Alltagssprache, die sich ihrerseits aus tiefer liegenden Konzepten wie Metaphern räumlicher Dynamik speisen, wurde in drei Schritten vorgegangen: Zunächst ist eine Definition metaphorischen Sprechens vorgenommen worden, derzufolge darunter jegliche Übertragung sprachlich-kognitiver Rahmen auf einen neu zu strukturierenden Erfahrungsbereich verstanden wird. In einer Engführung des Untersuchungsgegenstandes ist in einem zweiten Schritt auf die Kulturabhängigkeit metaphorischer Konzepte hingewiesen worden, wobei gezeigt wurde, dass besonders die abendländische Vorstellungswelt bis in die Wissenschaftsbereiche hinein stark von einem mathematisierten Weltbild geprägt ist, das sich vor allem in einer expansiven Raummetaphorik niederschlägt. Anschließend wurde zunächst entlang einer kurzen Skizzierung der Wechselwirkung zwischen Kulturgeschichte und Sprachentwicklung illustriert, warum gerade die deutsche Sprache als sehr empfänglich für die Ausweitung metaphorischer Konzepte betrachtet werden kann. Daran anknüpfend sind Beispiele aus der Alltagssprache aufgeführt worden, die diesen metaphorisierenden Zug des Deutschen im Zusammenspiel mit der zunehmenden Technologisierung von Lebenswelt veranschaulichten. Bei zukünftigen rekonstruktiven Untersuchungen muss sicherlich die Frage fokussiert werden, ob die immer komplexer werdende Technologisierung unserer Alltagswelt weiterhin für die Konzeptualisierung unserer Biographie und Privatsphäre verantwortlich sein wird, oder ob sich dieses Verhältnis auch in umgekehrter Weise immer stärker niederschlagen wird, sodass es, wie im Falle des Computers bereits geschehen, auch zu einer Anthropomorphisierung der sich unaufhaltsam neu zu erschließenden technologischen Felder kommt. Die Maschine erscheint in dieser Perspektive als Organismus: Der Rechner wird von Viren befallen, sagt keinen Ton mehr und stürzt einfach ab. Viele im Zusammenhang mit dem Internet verwandte Metaphern sind landschaftlich und geographisch motiviert. Sie beinhalten Vorstellungen von durch das Netz miteinander verbundenen Orten - den sites -, Häusern - den homepages -, Plätzen - den marketplaces - oder Siedlungen - den global villages. Andererseits kommen auch hier die metaphorische Eigendynamik und Selbstreferentialität Ulrike Schröder 232 technologischer Metaphern zum Ausdruck, wie die Übertragung des Konzepts Autofahren auf den Erfahrungsbereich Computer illustriert. Dies bezeugen u.a. die Metaphern vom Hoch- und Runterfahren des Rechners, vom Datenstau oder von der Datenautobahn. Anmerkungen 1 Jürgen Kluge 2001. Kluge, Chef von McKinsey in Deutschland, bediente sich dieser Metapher in einem Interview mit der Welt am Sonntag. 2 Deutscher Student (Interviewausschnitt), zitiert nach Schröder 2003: 216. 3 Einen Überblick bieten u.a. von Sternberg (1990) und Wolf (1994). 4 Die Untersuchungseinheiten dieser Studie stellten die Gruppe deutscher Studenten, die Gruppe brasilianischer Studenten, die Gruppe brasilianischer Nicht-Studenten und die Gruppe deutscher Nicht-Studenten dar. Bedingung für die Gruppe der Nicht-Studenten war, dass sie weder studieren oder studiert haben, noch über Abitur oder Fachabitur verfügen. Die Befragten waren zwischen 20 und 30 Jahre alt. Im Zentrum der Untersuchung stand die wissenschaftliche Rekonstruktion der Sinnwelten dieser vier Gruppen auf der Grundlage ihrer alltagsweltlichen Erfahrung. Dabei sollte das mit Hilfe von Fragebögen und Tiefeninterviews ermittelte Konzept zunächst sinnhaft nachvollzogen werden, um anschließend im Vergleich mit den anderen Gruppen - zunächst intrakulturell, dann interkulturell - ein typisches Konzept systematisieren zu können. Insgesamt wurden in beiden Ländern je 400 Fragebögen verteilt und je 20 Interviews durchgeführt; vgl. hierzu Schröder 2003: 63ff. 5 Der Linguist Olaf Jäkel nimmt eine äußerst hilfreiche Systematisierung der zuweilen recht unübersichtlichen Ausführungen von Lakoff und Johnson vor, indem er die Kernaussagen der kognitiven Metapherntheorie in insgesamt neun Hauptthesen zusammenfasst. Seine zweite These ist die Domänen-These (2003: 40). 6 Diese Dreiteilung ist nicht unproblematisch und teilweise auch nicht trennscharf. So werden die Orientierungsmetaphern von Lakoff (1987: 267) selber später in den Begriff der Vorstellungs-Schemata (image schemes) überführt; es handelt sich demnach um konzeptuelle Metaphern, die unmittelbar auf einem Vorstellungs-Schema basieren. 7 Seit der Aufstellung der Sapir-Whorf-Hypothese gibt es zahlreiche Diskussionen und Kritik an der entworfenen Theorie. So bleibt z.B. undurchsichtig, ob die Sprache das Denken lediglich beeinflusst oder determiniert. Ebenso unklar ist, wie es sich umgekehrt verhält - inwiefern also die Denkstrukturen die Sprachstrukturen beeinflussen; vgl. hierzu u.a. die Anmerkungen Dürbecks 1975. Insbesondere die Ergebnisse der Hopi-Studien haben sich teilweise als geschönt herausgestellt (vgl. Malotki 1983; Gipper 1972). Im Großen und Ganzen jedoch herrscht heute weitgehend Übereinstimmung darüber, dass zwar der Radikalismus eines linguistischen Determinismus nicht haltbar sei, die grundlegende Aufhellung des wechselseitigen Verhältnisses von Sprache und Denken, die die linguistische Anthropologie vorangetrieben hat, erscheint heute jedoch einleuchtend (vgl. Gipper 1992: 235ff). Gipper weist hier ganz richtig darauf hin, dass Sapir und Whorf häufig ein sprachlicher Determinismus unterstellt wird, den die Autoren in dieser starren Einseitigkeit niemals proklamiert haben. Zum aktuellen Stand der Diskussion vgl. auch Franzen 1995: 249ff. 8 Das Bild vom Menschen als Maschine findet sich bereits bei Descartes: “Je suppose que le corps n’est autre chose qu’une tatue ou machine de terre” (Descartes 1953: 873). 9 Diese Redewendungen sind in vielen Interviewausschnitten zu finden (Schröder 2003: 196ff): die Gefühle fließen natürlich - Fleisch essen - Fleischeslust - Schmerz fühlen - eine wirkliche Kraft fühlen, um das zu tun - etwas Komisches fühlen - sich in die Soziologie/ Musikwissenschaft verlieben. 10 Dass diese Dreidimensionalität im Deutschen stärker als in anderen westindogermanischen Sprachen ausgeprägt ist, zeigen insbesondere vergleichende Untersuchungen im Bereich der Wissenschaftssprachen, die von einer Linearität und induktiven Vorgehensweise anglo-amerikanischer Texte im Gegensatz zu einer stärker räumlichen und deduktiven Vorgehensweise deutscher Wissenschaftstexte sprechen (vgl. Galtung 1995: 179; Clyne 1991: 376ff; Schröder 1995: 156ff). 11 Langenscheidts Taschenwörterbuch Portugiesisch 1995. 12 Die Beispiele stellen Auszüge aus den Antworten der erwähnten Studie von Schöder (2003: 202ff) dar. 13 Die folgenden Sprachbeispiele sind zitiert nach Schröder 2003: 211f. 14 Zitiert nach Schröder 2003: 212f. Hier gewinnt besonders die Mehr ist oben-Metapher Bedeutung. 15 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass auch die Zahlenfrequenz in den deutschen Interviews gegenüber den brasilianischen beachtlich höher ist. Abgesehen von idiomatischen Ausdrücken wie hundertprozentig / Die Technologie des Privaten 233 fünfzig, fünfzig / fifty, fifty / Hundertachziggradwendung werden insbesondere Stunden, Tage, Wochen, Jahre, Länder, Freunde, Partner, Kinder, Geld, Meter, Kilometer, Schulnoten und Semester gezählt; Datum, Uhrzeit und Alter auf genaue Zahlenangaben gebracht (vgl. Schröder 2003: 214). 16 Die Beispiele sind zitiert nach Schröder 2003: 215ff. 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Wolff, Gerhart 1994: Deutsche Sprachgeschichte: ein Studienbuch, Tübingen, Basel: Francke. Medien der Aufklärung Erwartete Wirkungen der Informationstechnologie in nordamerikanischen Science-Fiction-Filmen und im deutschsprachigen Pop-Song - Historische Thematisierungsphasen, kognitive Zentrierungseffekte, gesellschaftliche Implikationen Hans W. Giessen “Vielleicht hab ich einfach gedacht, wenn du die Elektroden aufsetzt und dich so siehst wie ich, mit meinen Augen … dann würdest du merken, wie sehr du geliebt wirst. Aber zusehen und etwas wirklich sehen, das sind zwei paar Stiefel.” (Cameron 1996. 177) 1. Einleitung Das Genre des Science Fiction ist nicht nur deshalb interessant, weil damit (mehr oder weniger) spannende Geschichten erzählt werden, die in einer exotischen Welt oder Zeit spielen oder exotische, überraschende, in unserem Alltagsleben unbekannte Einflüsse auf die Welt beschreiben. Das Genre ist, wie viele ‘Produkte’ dessen, was im angelsächsischen Sprachbereich als Popular Culture bezeichnet wird, auch als Indikator für gesellschaftliche Wandlungsprozesse von Interesse. ‘Produkte’ der Popular Culture müssen, um eben ‘populär’ zu sein, also auch: um im Wirtschaftsprozess bestehen zu können, den Erwartungen und Meinungen ihres Zielpublikums mehr oder weniger stark entsprechen. Das gilt vermutlich auch für die zentralen Überzeugungen, die durch sie vertreten werden, selbst wenn sie nicht im Vordergrund stehen und Anlass beziehungsweise Absicht des ‘Produkts’ sind. Hier sollen in der Zukunft angesiedelte Spielfilme aus Nordamerika, die auch in Europa (und gegebenenfalls in anderen Kontinenten) vertrieben und von den großen internationalen Verleihfirmen betreut werden, die also auch auf ‘fremden Märkten’ kommerziell erfolgreich sein sollen beziehungsweise sind, als Indikatoren für gesellschaftliche Wandlungsprozesse genutzt werden. Die entsprechenden Filme entstammen einem mehr oder weniger einheitlichen beziehungsweise spezifischen Kulturkreis, müssen aber auch interkulturell wirksam sein, zumindest bezogen auf die sogenannte westliche Hemisphäre. Sie würden dort nicht vertrieben werden, wenn die Produktions- und Verleihfirmen nicht davon ausgingen, dass sie den Geschmack und die Überzeugungen zumindest eines ansehnlichen Teilpublikums treffen könnten. Die Science Fiction-Filme können sich deshalb dazu eignen, die Überzeugungen und Meinungen zumindest dieses quantitativ offenbar nicht ganz vernachlässigbaren Teilpublikums darzustellen. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Hans W. Giessen 236 Science Fiction-Filme haben möglicherweise auch deshalb in besonderem Maß eine solche Indikatorenfunktion, weil sie in der Regel Projektionen in die Zukunft darstellen, so dass sich Wünsche und Sorgen der Autoren wie vermutlich auch der Konsumenten erkennen lassen. Sie verdeutlichen demnach die auf die Zukunft projizierten Ängste und Hoffnungen, Befürchtungen und Erwartungen der Zeit, aus der sie stammen. Wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, müssten, je nach den Wandlungsprozessen der öffentlichen Meinung beziehungsweise des ‘Zeitgeistes’, unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte und Entwicklungen in Form übergreifender Tendenzen beobachtet werden können. Dass dies so ist, belegt bereits ein oberflächlicher Blick auf die Themen der Science Fiction im Lauf der Jahrzehnte und die Art ihrer Darstellung. So war die große Mehrheit der Science Fiction-Romane und -Erzählungen aus den fünfziger bis in die siebziger Jahre ganz überwiegend optimistisch und fortschrittsgläubig, neue Grenzen wurden von einer Menschheit durchbrochen, die damit Wohlstand und Sicherheit zu fremden Völkern in entfernten Galaxien brachte. Inhaltlich überwogen Weltraumabenteuer und Zeitreisen. Gewaltszenen wurden häufig geschildert, waren aber in der Regel ohne Blick auf die Opfer oder Leiden, und dienten der ‘gerechten Sache’. Ulf Diederichs hat für diese Phase festgestellt, dass “die Dialektik zwischen Individuum und Gemeinwesen; die ständig erneuerten, konsequent fortgeführten und schließlich selbst gesellschafterhaltenden Konfliktstoffe” weitgehend fehlen, dass also “der Utopie ein Trend zur sozialen Harmonie innewohnt, zur Uniformität”; Einigkeit herrsche “über die geltenden Werte und die institutionellen Ordnungen” (Diederichs 1964. 135). Eins der bekanntesten Produkte dieser Phase ist die Serie “Star Trek” (auf deutsch: “Raumschiff Enterprise”) von Gene Roddenberry (1966-1969). Spätestens seit den siebziger Jahren ist ein Wandel in der Atmosphäre der Erzählungen zu beobachten; auch die Themen wandeln sich entsprechend. Nun sind Science Fiction-Geschichten weniger harmonisch, fortschrittsgläubig und vom Glauben an eine ‘gerechte Sache’ durchzogen. Die Themen verlagern sich weg vom Weltraum, hin zur Erde, zu Biotechnologie, Computer und Informationstechnologien. Gewalt wird heute in der Regel bedrohlich, schmutzig, aggressiv und detailliert auch bezüglich ihrer Folgen dargestellt. Die Science Fiction der erstgenannten Phase, ihre Methoden und Ideologiemuster sind bereits verschiedentlich dargestellt worden (vergleiche beispielsweise Borgmeier 1981, Byers 1987, Schwonke 1957, Krysmanski 1963). Dass gegen Ende der siebziger Jahre ein Bruch auch im Bereich des Science Fiction festzustellen ist, wird ebenfalls international akzeptiert und ist bereits in verschiedenen inhaltsanalytischen Studien, aber auch empirisch herausgearbeitet worden (vergleiche, für alle, Byers 1987, Jameson 1982). Vor diesem Hintergrund mag die Frage interessant sein, was Filmzuschauer heute bereit sind, als ‘real’ oder für die Zukunft glaubhaft zu akzeptieren - welche Voraussetzungen müssen vorhanden sein, welche Inhalte gezeigt werden, damit die Rezipienten Filme mit teilweise erschreckenden Konsequenzen für die Individuen (auch die Individuen, mit denen sich der Filmzuschauer identifiziert) als so interessant empfinden, um sie eben im Wirtschaftsprozess erfolgreich erscheinen zu lassen? Dies soll im folgenden dargestellt werden - erstens anhand der inhaltsanalytischen Darstellung eines Films, zweitens anhand eines beispielhaften Überblicks als Beleg für die empirische Beobachtbarkeit des Phänomens, und drittens anhand einer theoretischen Analyse. Die Frage lautet insbesondere, welche Medienwirkungen für die Zukunft erwartet werden und welche Aussagen dies über die Gegenwart und die in ihr dominierenden Bewertungen ermöglicht. Medien der Aufklärung 237 2. Eine qualitative Analyse: Strange Days Einleitung Zunächst soll ein charakteristischer Science Fiction-Film dargestellt werden - “Strange Days” von Kathryn Bigelow (1995). Das Drehbuch zum Film, aus dessen deutscher Übersetzung (1996) im folgenden auch zitiert werden wird, wurde von James Cameron verfasst, einem der wichtigsten Science Fiction-Filmautoren und -regisseure Hollywoods, von dem beispielsweise auch die ersten beiden “Terminator”-Filme mit Arnold Schwarzenegger (1984; 1991) stammen. Über die Grenzen des Science Fiction hinaus bekannt geworden ist Cameron als Autor und Regisseur des Films “Titanic” (1997), der zum bis dahin kommerziell erfolgreichsten Film der Welt avancierte und der auch, wie vor ihm nur “Ben Hur”, mit insgesamt elf verschiedenen “Oscars” ausgezeichnet worden ist. Dies ist ein Indiz dafür, dass Camerons Themen - auch dann, wenn sie sich ‘nur’ auf das Genre des Science Fiction beziehen - vermutlich populäre Sentimente in besonderem Maße aufgreifen und widerspiegeln. Das Medium Die Grundidee des Films “Strage Days”, um die dann eine hier nicht weiter nacherzählte Kriminalgeschichte arrangiert wird, besteht in der Entwicklung eines neuen ‘Massenmediums’: des sogenannten Squid. Die Abkürzung steht für ‘Superconducting QUantum Interference Device’ (Cameron 1996. 20); es handelt sich um ein digitales Aufzeichnungs- und Informationsmedium. Die Hardware besteht aus dem ‘Hirnstrom-Recorder’, dem Abspielgerät und den ‘Tapes’, auf denen die Informationen gespeichert sind. Der ‘Hirnstrom-Recorder’ wird als Walkman-groß beschrieben, er besteht aus rostfreiem Stahl. Der Recorder wird mit einer Sensorenkappe, dem der menschlichen Kopfform angepassten sogenannten ‘Squid-Helm’ verbunden (20; 81). Im Drehbuch wird zunächst ein Recorder beschrieben, der mit der Sensorenkappe verdrahtet ist. Die Geräte werden mit Klebestreifen am Körper befestigt (“am Rücken oder unter den Hoden”, 38; an anderer Stelle wird auch beschrieben, dass “ein paar Brusthaare […] [an einem Stück Tesafilm, mit dem das Gerät justiert worden ist,] hängengeblieben [sind]”, 20). Dies scheint bei späteren Generationen nicht mehr notwendig zu sein, wo dann auch per Funk aufgezeichnet werden kann (eine Anweisung des Protagonisten lautet später: “[… D]ie Sensorenkappe […] schickt ein Signal an den Recorder. Drahtlos natürlich. Heißt zwar ‘verdrahtet’, aber Drähte gibt’s gar keine. Der Recorder darf nicht zu weit wegsein, damit die Übertragung klargeht … zwei, drei Meter höchstens. Steck ihn in die Hosentasche, und leg dein Zeug über ‘nen Stuhl neben dem Bett, jedenfalls so, dass die Entfernung nicht zu groß wird […]”, 81). (Vermutlich handelt es sich bei dieser Differenz um ein Relikt unterschiedlicher Drehbuchfassungen.) In der Regel wird der Squid-Helm “mit Perücken, Toupets oder Baseballmützen” getarnt (38), um bei der Aufzeichnung ‘Beobachtereffekte’ zu vermeiden. Der Squid-Helm ist nun in der Lage, im kortikalen Hirnbereich Sinnesdaten zu erfassen; der Recorder zeichnet sie digital auf (,Mitschnitte’). Der Squid-Helm wird als ‘kompliziertes Netzwerk winziger Sensoren’ beschrieben, “deren feine Verbindungsdrähte wie die Äderchen eines Blattes aussehen und in einem kleinen, flachen Metallzylinder von der Größe eines Zigarettenetuis zusammenlaufen.” (38). Das Aufzeichnungsmaterial (die ‘Tapes’) wird im Drehbuch als Cassette bezeichnet, die etwa die Größe von DAT-Bändern hat (18); im Film sieht es wie eine kleine Compact Disc aus. Hans W. Giessen 238 Auf die Tapes werden die Sinnesdaten mitgeschnitten; über Kopierdecks und Signalprozessoren können sie auch vervielfältigt werden (143). Die Tapes können später in ein Abspielgerät gesteckt werden, von dem aus Input-Elektroden die Sinnesinformationen direkt dem Kortex des Rezipienten zuführen. Das Abspielgerät ist mit einer ‘Play’-, einer ‘Stop’-, einer Schnellauf-Taste und verschiedenen Reglern ausgestattet und lässt sich offenbar wie ein herkömmliches Bandgerät bedienen (vergleiche 43, 44). Die Input-Elektroden sehen wie ein umfunktionierter Walkman-Kopfhörer mit fingerartigen Kontakten an Schläfen und Stirn aus. (16). Die Tapes ermöglichen es den Rezipienten, rund 30minütige Aufzeichnungen von Sinnesdaten zu konsumieren, “alles das, was jemand sieht, hört und fühlt … live mitgeschnitten, direkt im Cortex” (18). Funktionen des Mediums Die Möglichkeit, Sinnesdaten aufzuzeichnen, ist, der Cover Story des Films zufolge, vom amerikanischen Geheimdienst entwickelt und zunächst auch ausschließlich von ihm und für seine Zwecke eingesetzt worden. “Doch schon bald fanden ‘Squids’ auch beim FBI, bei der Drogen- und Steuerfahndung Anwendung und ersetzten in verdeckten Ermittlungen die veralteten, rein akustischen Wanzen. [… In der Folge] wurde selbst bei gewöhnlichen Polizeifahndungen immer häufiger darauf zurückgegriffen, und Psychologen wurde der Einsatz zu therapeutischen Zwecken gestattet” (23). Die kordikalen Mitschnitte wurden, der Cover Story zufolge, schließlich auch von der Justiz als Beweismaterial akzeptiert. Der Autor James Cameron schreibt dazu: “Man erklärte sie als verlässlicher als Video- oder Tonbandaufnahmen, an denen mittlerweile nicht nachweisbare digitale Manipulationen vorgenommen werden können. Kortikale Mitschnitte zu verändern oder gar zu fälschen ist dagegen beim derzeitigen Stand der Technik unmöglich” (23). In der Folge wurden Abhörwanzen per Gesetz durch Squids ersetzt. Gleichzeitig schien die neue Technik so vielversprechend, dass sie, obgleich offenbar nicht frei verfügbar (“illegales Equipment” heißt es einmal, 195), auf dem Schwarzmarkt gehandelt wird und dort ein regelrechter Boom entstanden ist (52). Im Rahmen seiner polizeilichen Berufstätigkeit hat auch die Hauptperson des Films, Lenny Nero, seine ersten Erfahrungen mit den Sinnesaufzeichnungen gemacht. Allerdings ist Nero eine gebrochene Hauptperson; denn er wurde zwei Jahre vor der geschilderten Filmgeschichte aus dem Polizeidienst entfernt, weil er offenbar nach Dienstschluss Tapes weiterverkauft hat (38, 87). Die rechtliche Situation Es liegt auf der Hand, dass der Vertrieb von Tapes, die im Rahmen polizeilicher Ermittlungstätigkeit erstellt worden sind, strafbar ist (und tatsächlich wird von einem Deputy Commissioner, dem Vorsitzenden der Untersuchungskommission, die Lenny Neros Suspendierung veranlasst hat, in einem Gespräch auch Neros offenbar großes ‘Vorstrafenregister’ erwähnt, 195). Fraglich ist aber, wie der Verkauf der Tapes grundsätzlich juristisch zu bewerten ist - immerhin handelt es sich ja möglicherweise um die Weitergabe persönlichster Informationen. Es gibt verschiedene Hinweise im Film - zunächst wird betont, dass Neros Tätigkeit der eines Drogendealers entspricht, auch bezüglich der Illegalität (18). An anderer Stelle heißt es aber, dass er sich (noch) in einer juristischen Grauzone bewege: “Er dringt zwar in die Privatsphäre anderer ein, doch da die Gesetzeslage im Hinblick auf die neueste Errungenschaft der Technik Medien der Aufklärung 239 noch unklar ist, lassen ihn die Cops in Ruhe, solange er sich nicht zuviel herausnimmt.” (25). Auch diese unterschiedlichen Bewertungen lassen sich vermutlich auf unterschiedliche Drehbuch-Fassungen zurückführen. Die ökonomische Situation Der Ex-Polizist Lenny Nero scheint recht gut von den entsprechenden Tapes leben zu können. Er handelt vor allem mit eigens gefertigten Aufnahmen, die er überwiegend an betuchte Kunden aus der High Society verkauft (46). Dazu lässt er die Tapes ‘herstellen’, indem er Bekannte, aber auch Kleinkriminelle beauftragt, die entsprechenden Squid-Helme zu tragen, während sie in eine Schlägerei verwickelt sind, während des Geschlechtsakts oder während eines Überfalls. Dies alles kann von den Kunden dann ohne soziales Risiko konsumiert werden, zudem “ohne Verletzungen, ohne Verhaftungen, ohne Ansteckungsgefahr” - wie Lenny Nero betont (71). Auch die mögliche weitere Entwicklung wird in der Cover Story des Films angedeutet. So arbeitet ein Bekannter von Lenny Nero an dem Projekt, “einen Piratensender für Squid-Clips aufzumachen. Im Moment versucht er einen Algorithmus zu entwerfen, der es ihm erlaubt, Squid-Daten in ein illegales Glasfasernetz einzuspeisen, das von Cyber-Freaks im ganzen Land angezapft werden kann. Der erste Squidnet-DJ der Undergroundszene zu werden ist sein Traum” (143). Die Inhalte des Mediums Es handelt sich also um ein neues Telekommunikationsmedium, das es ermöglicht, Informationen und Inhalte, die bisher nicht reproduzierbar waren, erstmals zu speichern, zu übermitteln und zu verarbeiten. Welche Informationen werden nun von diesem Massenmedium übermittelt? Der Beschreibung zufolge sind es ausschließlich Daten, die von verschiedenen Punkten des Kortex aufgezeichnet werden. Offensichtlich handelt es sich also um Sense Data, die ‘Rohgefühle’ (Raw Feels), die von den Sinnesorganen in die entsprechenden Gehirnbereiche geleitet werden. Es kann sich um keine anderen als eben die sensorischen Daten handeln, da das Bewusstsein der Personen, deren Daten aufgezeichnet worden sind, ihre Gedanken und ihr individueller Hintergrund vom Konsumenten nicht erfasst werden. So handelt die Kriminalgeschichte des Films von einem sadistischen Mörder, der unter anderem nachts auch die Hauptperson (Lenny Nero) aufsucht und ihr ein Messer an den Hals setzt, aber nicht zusticht; am nächsten Morgen findet Lenny Nero ein Tape, das ihm die nächtliche Situation und damit die Gefahr, in der er geschwebt hat, zeigen soll (offenbar weidet sich der Mörder dann an seiner Macht, die sich durch die Angst seines Opfers ausdrückt). Am Ende des Films wird deutlich, dass der Mörder ein Bekannter Lenny Neros - immerhin eines ehemaligen Polizisten - ist; trotzdem war es für diesen Bekannten offenbar ungefährlich, dem Opfer das Tape zukommen zu lassen. Daraus folgt notwendig, dass außer den Sinnesdaten keine Informationen übermittelt werden können. Allerdings schließen die Sense Data, dem Angaben und Beschreibungen des Films zufolge, auch Körpergefühle, ja Stimmungen und Emotionen ein. Dies soll anhand einiger Beispiele aus dem Drehbuch deutlich werden - zunächst anhand einer Szene, in der die Hauptperson des Films, Lenny Nero, versucht, ein Tape zu verkaufen; zu diesem Zweck führt er dem potentiellen Kunden ein Demonstrationsband vor. Das Gespräch und die Reaktionen des Rezipienten werden im Drehbuch folgendermaßen beschrieben (53ff.): Hans W. Giessen 240 “‘Was genau fühlt man? ’ fragt Keith. […] [Lenny Nero: ‘…] Alles das, wovon Sie bisher nur geträumt haben … wie’s wohl sein mag, in der Haut eines anderen zu stecken, und sei’s nur für zwanzig Minuten? In der Haut des Typen, der mit der Magnum in der Hand den Schnapsladen ausräumt, das Adrenalin in seinen Adern zu spüren, den Nervenkitzel, die wahnsinnige Angst - zu fühlen, wie es einem heiß und kalt den Rücken runterläuft. […]. Probieren Sie doch ein paar von meinen Demos aus.’ […] Wir können nicht sehen, was [der potentielle Kunde Keith] erlebt, nur, wie er darauf reagiert. Erst zuckt er zusammen … dann öffnet er den Mund. Er schnappt nach Luft und atmet schneller. Er fährt sich mit den Händen über den Körper, als ob er sich abtastet. Dann reckt er unwillkürlich den Arm hoch, irgendetwas auf dem Tape scheint ihn dazu zu veranlassen. Er schnauft und senkt den Kopf, als wollte er nach unten sehen, aber seine Augen bleiben geschlossen. Er schnappt wieder nach Luft … und Lenny hält das Tape an. Der Rechtsanwalt öffnet die Augen. Lenny schmunzelt wissend. ‘Sie waren soeben ein achtzehnjähriges Mädchen unter der Dusche. Begreifen Sie jetzt, was man damit alles anstellen kann? ’” An anderer Stelle heißt es, als Beschreibung der Erlebnisse während eines Squid-Trips: “Die pure Freude am Leben durchströmt uns.” (101) Gefühle wie ‘wahnsinnige Angst’, aber auch ‘Lebensfreude’, sowie Informationen und Eindrücke wie derjenige, nun als Mann den Mitschnitt von Sense Data des anderen Geschlechts (sowie von einem Körper, der ein anderes biologisches Alter aufweist) zu erleben, deuten in der Tat darauf hin, dass der Begriff der sensorischen Erlebnisse vom Drehbuchautor weit gefasst wird und auch Körpergefühle sowie emotionale Eindrücke einschließt. In jedem Fall können die vom Konsumenten aufgenommenen Daten von ihm, durch sein Bewusstsein, weiterverarbeitet werden, so dass er den Eindruck hat, er selbst erlebe das reproduzierte Ereignis. Der Drehbuchautor James Cameron beschreibt den Eindruck denn auch folgendermaßen: “Wir SIND einer von diesen Typen. Authentischer point of view, ein POV ohne Schnitt, ohne Musik. Das ist kein Film, das ist das wahre Leben.” (8) Verstärkereffekte Eine weitere technische Möglichkeit besteht offenbar darin, das Signal aus dem Recorder noch zu verstärken. Auch hierzu ein Zitat: Der Autor James Cameron schreibt (132): “Lenny hat die Rückverkleidung des Abspielgerätes heruntergeklappt und einen Verstärker angeschlossen. Das Signal ist klarer als vorher. Noch realer, noch echter.[…] Ein Gefühl wie auf einem Drogentrip. Der erhöhte Input überflutet seinen sensorischen Cortex …”. Kurzfristige individuelle Medienwirkungen Die Konsequenzen und mithin auch die konkreten, unterschiedlichen Medienwirkungen sind, der Cover Story zufolge, offenbar noch unerforscht, und im genannten Kundengespräch behauptet Lenny Nero offenbar guten Gewissens, “[d]ieses Gefasel von angeblichen Gesundheitsschäden, das ist nichts als dummes Zeug. -‘’ (52). Andererseits deuten Vergleiche wie derjenige mit dem ‘Drogentrip’ auf starke zumindest kurzfristige emotionale Wirkungen hin. Der Selbstversuch mit dem Verstärker führt zu körperlichen Verkrampfungen: “Lenny […] bringt fast keinen Ton mehr heraus, seine Muskeln spannen sich wie bei einem Gewichtheber.” (132) Nach dem Selbstversuch fällt er “auf die Couch und reibt sich die Augen. Er Medien der Aufklärung 241 sieht Gespenster, Nachbilder, die sich in seinen visuellen Cortex eingebrannt haben. Sie tanzen vor seinen Augen durchs Zimmer. [… Ein] Gesicht leuchtet wie ein Hologramm von den Wohnzimmerwänden.” (133). Langfristige individuelle Medienwirkungen Letztlich bleibt auch offen, ob der Konsum nicht zudem problematische langfristige Konsequenzen hat. Im bereits beschriebenen Kundengespräch schränkt Lenny Nero etwas unbestimmt ein, dass die Squid-Trips völlig harmlos seien, “wenn man’s nicht übertreibt. Wie alles im Leben.” (52). Aus dem Umfeld von Lenny, der selbst als ‘Vielseher’ mit täglich mehrstündigem Konsum beschrieben werden kann, deuten Bemerkungen auf Persönlichkeitsänderungen hin. So bezeichnet ihn sein Freund Max, ein pensionierter Polizist, noch allgemein und vage als “Input-Junkie, der seine Ware viel zu oft selber antestet.” (60). Eine ähnliche Äußerung gibt es von Lennys Freundin Mace, die ihn als ‘durchgeknallten miesen Squidhead’ bezeichnet und seinen Einwand, Squid-Clips seien harmlos, mit den Worten “Bist du so blöd, oder tust du nur so, Lenny? ” wegwischt (96). Schließlich wird die Person des Managers Philo Gant charakterisiert, der lange Zeit einer der wichtigsten Kunden Lenny Neros gewesen ist. Erneut findet hier der Vergleich mit Drogen Anwendung, und Philo Gant wird von seiner Freundin ganz offen, in seiner Gegenwart, als “süchtig” (87) charakterisiert. Er hat tatsächlich das starke Bedürfnis, immer wieder Squid-Tapes zu konsumieren, und zieht den Konsum der Tapes dem Zustand ohne sie vor, offenbar intensiviert sich der Konsum im Lauf der Zeit. Die resultierenden Persönlichkeitsänderungen sind, erneut den Begriff der Sucht bestätigend, zumindest solcherart, dass die Freundin ihm vor Dritten vorwerfen kann, die Tapes, in denen sie ‘aufgetreten’ ist, hätten ihm besser gefallen als die Wirklichkeit mit ihr (88). Dazu kommen Allmachtseindrücke, die sich mit Ohnmachtsgefühlen abwechseln (vergleiche 175). Eine immer wiederkehrende Äußerung bezüglich der Squid-Trips ist schließlich: “Man kommt nicht mehr davon los.” (176). Noch problematischer ist die Situation bei Konsumenten, die regelmäßig den ‘Verstärker’ benutzen. Sie sind zu interpersoneller Kommunikation unfähig und können beispielsweise Orgasmen nur noch über Squid-Trips erleben (103). Schließlich kann der Missbrauch des neuen Massenmediums auch zu gravierenden gesundheitlichen Schäden führen, die bei den heute (in der realen Welt) bekannten Kommunikationstechniken nicht auftreten können. Die unsachgemäße Anwendung des Verstärkers kann dazu führen, dass der Konsument in einen Zustand fällt, der dem Wachkoma gleicht, mit ins Leere starrenden Augen, völlig abgeschnitten von der Welt um ihn herum. Charakteristisch ist, dass Kriminelle, die den Straftatbestand des Mordes vermeiden wollen, gleichzeitig aber erreichen wollen, dass ihr Opfer keine Aussagen mehr machen können, diese Methode anwenden: der Zustand gilt als irreversibel (170); das apathische Opfer bleibt aber am Leben, so dass auch im Fall der Entdeckung durch die Polizei keine Anklage wegen Mord erfolgen kann. Über weitere Gesundheitsschäden in Folge des Konsums von Squid-Trips ist nichts bekannt. Gesellschaftliche Medienwirkungen Zu diesen individuellen Medienwirkungen kommen unter Umständen gesellschaftliche (die freilich teilweise nicht auf das Medium selbst, sondern die in der Cover Story des Films Hans W. Giessen 242 herausgearbeitete politisch-juristische Umgehensweise mit ihm zurückgeführt werden müssen). Die Konzentration der Schwarzmarkt-Konsumenten auf pornographische oder aggressive Trips führt dazu, dass Prostitution, aber auch Überfälle und selbst Morde inszeniert werden, um entsprechende Bänder zu erhalten. Dass dies als gesellschaftlich äußerst problematisch zu bewerten ist, liegt auf der Hand; entsprechende Kritik äußern selbst Bekannte von Lenny Nero, die ihn als ‘so ‘ne Art Cyberspace-Zuhälter’ bezeichnen (60). 3. Real Days? Die beschriebene Science-Fiction-Geschichte ist, wie die Genre-Bezeichnung bereits nahelegt, fiktional und bezüglich der Voraussetzungen, die der wissenschaftlichen Entwicklung unterstellt werden (also bezüglich des Begriffs Science in Science Fiction) nur teilweise akzeptabel. So ist es nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft zwar nicht auszuschließen, dass Raw Feels im kortikalen Bereich aufgezeichnet werden können, bevor sie bewusstseinsmäßig verarbeitet werden; dies ist aber beispielsweise für Körpergefühle sicherlich nicht möglich, da diese im limbischen System übermittelt werden. Wenn unterstellt wird, dass Squid-Tapes tatsächlich aufgezeichnet und rezipiert werden können, bleibt die Frage, ob die entsprechenden Medienwirkungen zu akzeptieren sind. Da mit den Squids lediglich Sinneseindrücke (sowie, wie ja fälschlicherweise vorausgesetzt, Körpergefühle) weitergegeben werden, liegt auf der Hand, dass nur emotionale Wirkungen gemessen werden können - kognitive Wirkungen können nur auftreten, wenn eine bewusste Verarbeitung erfolgt oder beabsichtigt ist; beides ist bei den Sinnesdaten gemäß der beschriebenen Cover Story nicht der Fall. Die emotionalen Wirkungen der Squids scheinen nun plausibel und nachvollziehbar geschildert worden zu sein. Die Beobachtung, dass die Tapes zu emotionaler Erregung (‘Arousal’) führen, ist nach den geschilderten Vorgaben einleuchtend, da ja gerade Erregungen der Sinnesorgane repliziert werden. Das heißt auch, dass physiologische Aktivierungen nicht als Reaktion auf Medienreize entstehen, wie dies bei den ‘herkömmlichen’ Medien notwendigerweise der Fall ist, sondern immanent vorhanden sind, da dieses Medium ja gerade solche Aktivierungen reproduziert. Von daher ist auch zwangsläufig, dass die Intensität des Sinneseindrucks und des (Körper-)Gefühls zunächst ohne Einschränkung in dem Maße wirkt, wie dies auch in der Originalsituation (bei der Aufzeichnung) der Fall war, unmittelbar und, insbesondere bei Tapes mit pornographischem oder aggressivem Inhalt, sehr stark. Die kognitive Verarbeitung ist dann jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit doch von verschiedenen weiteren Faktoren abhängig - etwa von kognitiven Kompetenzen des Individuums, oder von situativen Einflüssen, wie der Konzentrationsfähigkeit, von der die Verarbeitung der Sinneseindrücke mit abhängt. Diese Überlegungen bedeuten allerdings, dass die fiktive Geschichte des Films “Strange Days” mit dem Zweifaktorenmodell von Schachter (Schachter 1964), das, etwas verkürzt, emotionale Medienwirkungen auf die kognitive Verarbeitung von Sinneseindrücken zurückführt, kompatibel ist. Die in der Regel große Intensität der Sinneseindrücke mit ihren besonders starken Stimulierungen lässt - bei häufigerem Konsum - auch das vom Autor James Cameron suggerierte Suchtrisiko als möglich und akzeptabel erscheinen, da dann zweifellos versucht wird, dieses Erregungsniveau immer wieder zu erreichen. Die Folgen - beispielsweise Persönlichkeitsänderungen auf der individuellen Seite, sowie unter anderem Beschaffungskriminalität auf der gesellschaftlichen Seite - sind mithin ebenfalls nachvollziehbar und glaubwürdig. Medien der Aufklärung 243 Cover Story und Geschichte erscheinen also - mit der Ausnahme des Mitschnitts von Körpergefühlen - hinsichtlich der individuellen Medienwirkungen plausibel und konsistent. Dies gilt offenbar auch für die gesellschaftlichen (und politischen) Implikationen. Das heißt: Die Zuschauer des Films erachten es für die Zukunft als glaubhaft, dass Sinnesdaten aufgezeichnet und wiedererlebt werden können; sie erachten offenbar auch die Annahme als realistisch, dass dies nicht (nur) zur tagebuchartigen Aufzeichnung für den privaten Gebrauch geschieht, sondern - eine immanente Konsequenz des Mediums als Kommunikationsinstrument - zudem für geheimdienstliche wie polizeiliche, aber auch für kommerzielle Zwecke. Diese im Film als entscheidend vorgegebenen Nutzungsziele haben nun weitreichende Auswirkungen. Sie implizieren in der Regel eine Verwendung ohne das Wissen Dritter. Im Film weiß nur der Träger eines Aufzeichnungsgeräts, sowie unter Umständen sein Auftraggeber, dass die Daten aus auch intimen Situationen mitgeschnitten werden, aber nicht das Gegenüber einer solchen Situation. Auch die persönliche Integrität der Träger des Aufzeichnungsgeräts ist tangiert (nur bei zwei Personen bestätigt das Drehbuch, dass exhibitionistische Neigungen zur Nutzung des Aufzeichnungsgeräts motiviert haben, 88). Zurecht bezeichnet Lenny Neros Freundin Mace die Ware ‘Squid-Tapes’ deshalb als ‘Pornographie’ (71). Intimste Gefühle, Verhaltensweisen, Reaktionen sind gespeichert und können durch Dritte genutzt werden, ohne dass das ‘informationelle Selbstbestimmungsrecht’ (der Begriff wird hier in Anlehnung an das ‘Volkszählungs-Urteil’ des deutschen Bundesverfassungsgerichts eingeführt, BVerfGE 65, 1ff.) der in den Tapes handelnden Personen gesichert werden kann. Die Cover Story impliziert, dass die Persönlichkeit des Individuums, teilweise ohne sein Wissen und Einverständnis, unmittelbar und direkt ignoriert und häufig bewusst missachtet wird. Das Individuum ist nicht mehr Herr des eigenen Körpers; es muss sich mit Übergriffen der Gesellschaft auf den Körper und die Sinne - nicht nur auf die Zeit und die Arbeitskraft, wie es wohl im Alltag der meisten Rezipienten tatsächlich der Fall ist - auseinandersetzen. Im Film “Strange Days” drücken diese Übergriffe soziale Machtverhältnisse aus: die materiell und sozial Höherstehenden nutzen beziehungsweise konsumieren die Sense Data der soziale unter ihnen stehenden. In der Regel müssen Untergebene oder zumindest finanzielle Abhängige und Schlechtgestellte aus materiellen Gründen die ‘Hirnstrom Recorder’ tragen: einfache Polizisten (in Ermittlungsverfahren - nicht beispielsweise der bereits genannte Deputy Commissioner), Kleinkriminelle (deren Überfälle dann zur Belustigung und zum Thrill des gutsituierten Bürgertums, das die Squids goutiert, mitgeschnitten werden; die Überfälle haben stets ein ungewisses Ende - in einem Fall wird sogar der Tod aufgezeichnet und als Tape verkauft, 16); schließlich Prostituierte (die also mehr als nur ihren Körper verkaufen, nämlich eben auch ihre Sinneseindrücke: das, was sich innerhalb/ unterhalb der äußeren Begrenzung des Körpers befindet - wenn tatsächlich Körpergefühle aufgezeichnet werden, auch Lust, Angst oder Ekel). Der Mensch ist, dem Szenario von “Strange Days” zufolge, nicht mehr (ausschließlich) das Subjekt seiner selbst (und seiner Welt), sondern Teil einer von Konsumwünschen diktierten Mediengesellschaft, mithin deren Objekt soviel wie deren Subjekt. Der Verlust der Kontrollmöglichkeiten über den eigenen Körper, die eigenen Sinneswahrnehmungen und (im Film) die eigenen Gefühle drückt mithin einen bisher (zumindest im Alltag) nicht empfundenen Eingriff in die menschliche Souveränität aus. Das Individuum wird in noch unbekannter (oder nur in Extremformen, so der Folter, erlebbaren) Weise zum Objekt seiner Mitmenschen. Die beschriebenen Medienwirkungen und ihre Implikationen werden von den Zuschauern des Films akzeptiert; die überprüften Rezensionen in deutschsprachigen Tages- und Wochen- Hans W. Giessen 244 zeitungen kritisieren allenfalls, dass die Auflösung des Kriminalfalls etwas verworren erscheint; die Cover Story wird aber regelmäßig als interessant und nachdenkenswert gewürdigt. 4. Der Verlust von Kontrollmöglichkeiten über den eigenen Körper und die persönlichen Empfindungen Die inhaltsanalytische Untersuchung des Films “Strange Days” hat mithin ergeben, dass den modernen Informationstechnologien ein großes Moment der Faszination innewohnt, dass sie neue Lebenserfahrungen, teilweise orgiastischer, existentieller beziehungsweise religiöser Natur ermöglichen, dass diese (in den Augen der Protagonisten ihren Einsatz rechtfertigenden und gar fordernden) Chancen aber auch Risiken implizieren, insbesondere den Verlust von Kontrollmöglichkeiten über den eigenen Körper und die persönlichen Empfindungen. Offenbar empfinden es viele Rezipienten als möglich und für die Zukunft realistisch, dass neue Informations- und Biotechnologien die Integrität des Individuums bedrohen. Bemerkenswerterweise korrespondiert dieser Aspekt des 1995 entstandenen Films mit anthropophilosophischen Einschätzungen beispielsweise des französischen Poststrukturalismus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. So diagnostiziert beispielsweise Michel Foucault bereits Ende der sechziger Jahre die Möglichkeiten des Individuums als von einer ‘strukturalistischen Tendenz’ abhängig und hat mit der Bewertung reagiert (in: Caruso 1974. 16): “In dem Augenblick, in dem man sich darüber klar geworden ist, dass alle menschliche Erkenntnis, alle menschliche Existenz, alles menschliche Leben und vielleicht das ganze biologische Erbe des Menschen, in Strukturen eingebettet ist, d.h. in eine formale Gesamtheit von Elementen, die beschreibbaren Relationen unterworfen sind, hört der Mensch sozusagen auf, das Subjekt seiner selbst zu sein, zugleich Subjekt und Objekt zu sein. Man entdeckt, dass das, was den Menschen möglich macht, ein Ensemble von Strukturen ist, die er zwar denken und beschreiben kann, deren Subjekt, deren souveränes Bewusstsein er jedoch nicht ist.” Die neuen Informationsmedien des Films sind offenbar ein Teil dieser gesellschaftlichen Strukturen, sie verändern sie und formen damit neue Strukturen mit neuen Chancen und Risiken. Auf die Frage, was die Rezipienten des Films “Strange Days” bereit sind, als ‘real’ oder für die Zukunft glaubhaft zu akzeptieren, kann also die Möglichkeit der Bewusstseinserweiterung genannt werden, aber auch die Einschätzung, dass die Gestaltungsmöglichkeiten, die Souveränität des Individuums wie auch der Gesellschaft beschränkt sind - den genannten neuen Möglichkeiten zum Trotz. Der Film illustriert das Diktum Foucaults und präzisiert es anhand eines fiktiven, aber offenbar weitgehend glaubhaften Beispiels. 5. Weitere Beispiele für Science Fiction-Filme zum Thema des Verlusts der Souveränität über sich selbst Weitere Science Fiction-Filme kommen zu ähnlichen Resultaten; damit gibt es auch quantitative Indizien für die herausgearbeitete Einschätzung. Einige Hinweise sollen dies hier illustrieren. Ein Film, dessen Grundidee vermuten lässt, dass sich James Cameron bei der Ausarbeitung des Drehbuchs zu “Strange Days” von ihm hat inspirieren lassen, ist “Brainstorm” Medien der Aufklärung 245 von Douglas Trumbull, der bereits im Jahr 1983 produziert worden ist. Trumbull ist, ähnlich wie Cameron, eine wichtige Persönlichkeit des amerikanischen Science Fiction; er war unter anderem Mitarbeiter von Stanley Kubrick bei der Produktion von “2001 - A Space Odyssey”. “Brainstorm” handelt ebenfalls von einer Aufzeichnungsmaschine, einem Helm, der jedoch noch weitergehende Fähigkeiten als der Squid des Films “Strange Days” hat; er kann alle physischen, emotionellen und intellektuellen Empfindungen eines Menschen aufnehmen und sie anderen Menschen zur Nachempfindung zugänglich machen. Die tatsächliche Geschichte unterscheidet sich dann jedoch vom Inhalt des Films “Strange Days”: In “Brainstorm” handelt es sich um eine Erfindung zweier Wissenschaftler. Die äußere Handlung bezieht sich darauf, dass sich das Militär die Apparatur aneignen möchte. Die spektakuläre Szene, die existentiellste persönliche Empfindungen der Außenwelt zur Verfügung stellt, beschreibt den Tod einer Wissenschaftlerin. Sie erleidet einen Herzanfall, während sie nachts alleine arbeitet. Sie kann sich aber selbst noch den Helm aufsetzen und die Aufnahme starten, bevor sie stirbt. Dies ist natürlich ein aktiver, selbstbestimmter Umgang mit dem Aufzeichnungsgerät, und die zentrale Thematik des Films “Brainstorm” besteht in der Frage, ob ein solcher selbstbestimmter Umgang mit einem entsprechenden Aufzeichnungsgerät (noch) möglich ist, wenn er den Militärs in die Hände fällt. Der Möglichkeit, dass menschliche Empfindungen, die menschliche Souveränität missbraucht werden kann, ist also hier bereits angelegt, aber der Optimismus der ersten Phase von Science Fiction-Filmen scheint ebenfalls noch durch. Bereits im Jahr 1982 ist jedoch ein Film von David Cronenbergs mit dem Titel “Videodrome” erschienen, in dem ebenfalls moderne Informationsmedien eine besondere Rolle spielen, der aber dem Spielraum der menschlichen Souveränität wesentlich engere Grenzen setzt. Auf der einen Seite erscheint das Medium zunächst als ‘realistischer’: Civic TV ist eine Kabelkanalgesellschaft im kanadischen Toronto, die sich auf Sex- und Gewaltdarstellungen spezialisiert hat. Aber die ‘Sendungen’ entsprechen nicht den Fernsehsendungen unserer Gegenwart, sondern erzeugen Halluzinationen, indem sie - nun weit irrealer und phantastischer als die Medien in “Brainstorm” oder in “Strange Days” - zunächst den menschlichen Wahrnehmungsapparat verändern. Die Veränderungen sind nach einiger Zeit nicht nur psychisch, sondern werden zunehmend auch physisch: Die Hauptperson Max Renn, der Manager von Civic TV, tatsächlich aber Versuchskaninchen der Geldgeber (einer Gesellschaft mit dem Namen Spectacular One), entdeckt beispielsweise nach mehreren Tagen der Konsumption von Videodrome-Bändern, dass sich eine neue Öffnung im Unterleib gebildet hat - das ist der Beginn einer Umwandlung seines Körpers. Das Videodrome-Signal verändert vor allem aber die Gehirnstrukturen. Im Film erläutert ein (fiktiver) Medientheoretiker, Professor Brian O’Blivion, dass “ein neues Organ entsteht … ein neues über-sich-Hinauswachsen des menschlichen Gehirns” (“a new organ … a new outgrowth of the human brain.”). Schließlich vernetzt sich Max Körper und Geist mit dem Kabelkanal, um direkt ‘programmiert’ zu werden; er scheint seine Souveränität und Integrität vollends verloren zu haben. Allerdings gelingt es ihm am Schluss des Films doch noch, die ‘Programmierung’ zu überwinden, indem er ein Gewehr gegen sein Gehirn richtet und damit das zerstörerische, integritätsraubende Medium mit zerstört - damit allerdings auch sein eigenes Ende herbeiführt, beziehungsweise: das Ende von dem, was von ihm als Individuum noch vorhanden war. Im Jahr 1986 realisierte David Cronenberg den Film “The Fly”, in dem erneut die Informationstechnologie eine entscheidende Rolle spielt, hier allerdings in Ergänzung zur Biotechnologie. Es handelt sich hier auch nicht um Massenkommunikation (oder, wie in “Videodrome”, der Versuchsphase im Vorfeld der Massenkommunikation), also nicht um von einem Sender zur allgemeinen öffentlichen Benutzung versandten Informationen, sondern um Hans W. Giessen 246 individuelle, zielvoll übermittelte Daten. Einem Wissenschaftler gelingt es, Körperinformationen zu teleportieren und so, wie dies zur Zeit ja nur mit immateriellen Informationen geschieht, auch die molekulare Substanz elektronisch von einem Punkt zum anderen zu transportieren. Das bedeutet, dass eine physische Reise von einem Ort zu anderen (mit den damit verbundenen Anstrengungen und Risiken) nicht mehr notwendig ist. Es entsteht eine neue Gleichzeitigkeit (in Erweiterung und konkreter Ausgestaltung dessen, was beispielsweise McLuhan als Folge des Fernsehens auf virtueller Ebene sah, McLuhan 1964). Zeit kann nicht mehr als Entfernung zwischen zwei Orten definiert werden; eine Reise entspricht einem Schnitt zwischen zwei Einstellungen in einem Fernsehfilm. Aber auch in diesem Film, der die Chancen einer fiktiven Form der Telekommunikation und Teleportation beschreibt, werden neue Risiken geschildert, die dramatische Auswirkungen für das Individuum und seine Souveränität besitzen: Eine Fliege erscheint zufällig während des Vorgangs der Teleportation, und der Computer kann die molekulare Einheit der Hauptperson, des Wissenschaftlers Jeff Brundle, nicht mehr herstellen: Es entsteht ein Mischwesen zwischen Mensch und Fliege. Auch hier liegen - in apokalyptischer Form und weiter von einer heute akzeptabel erscheinenden Realität entfernt, als dies bei “Strange Days” der Fall war - die Folgen zukünftiger Möglichkeiten der Telekommunikation in neuen Chancen der Erweiterung menschlicher Möglichkeiten, aber erneut besteht eine Hauptkonsequenz in der Zerstörung der menschlichen Integrität. Im Jahr 1999 schließlich veröffentlichte Cronenberg den Film “eXistenZ”, der die Motive von “Videodrome” und “The Fly” zusammenführt. Der Regisseur und Autor Cronenberg verfolgt hier den Ansatz, dass Daten für Videospiele mittels einer Nabelschnur direkt über das Rückenmark in das Hirn des Spielers gelangen; ein ‘Videospiel’ findet also nicht mehr auf einem Monitor oder einer Konsole, sondern direkt im Spieler statt. Dadurch ändert sich auch der Charakter der Spiele; Hard- und Software werden von Spieleinheiten abgelöst, die aus biologischer Materie bestehen, ein Eigenleben führen und embryonalen Lebewesen ähneln. Sind die Spieler einmal in die “eXistenZ”-Welt eingedrungen, zwingt die Logik des Spiels sie in existentielle Situationen, in denen unklar bleibt, ob es sich um vorgespiegelte Fantasien handelt - oder um eine lebensbedrohliche Realität. 1984 hat James Cameron, der das Drehbuch zu “Strange Days” geschrieben hat, einen der erfolgreichsten Hollywoodfilme der achtziger Jahre realisiert, “The Terminator”; auch dieser Film arbeitet mit der Kombination neuer Formen der Informationstechnologie und der Vorstellung neuer ‘Lebensformen’. Arnold Schwarzenegger spielt darin einen sogenannten Cyborg; der Ausdruck steht für Cybernetic Organism, ein roboterartiges Wesen, zu dessen Gestaltung aber eigens gezüchtetes menschliches Gewebe genutzt wird. Die Informationsverarbeitung des Cyborg erfolgt über Cybervision, so der Terminus Camerons. Der Cyborg vereint die Gegensätze zwischen Leben und Tod sowie zwischen Geist und Materie. Die Spannung des Films resultiert erneut aus der Frage, ob und in wie weit ein souveränes Bewusstsein in diesem Kontext für einen Cyborg möglich ist. Der selbe Autor und Regisseur konnte im Übrigen 1991 an den Erfolg des Films “The Terminator” mit “Terminator 2: Judgement Day” anschließen. Eine ähnliche Problematik trägt die ebenfalls sehr erfolgreichen Filme “Robocop” (Paul Verhoeven 1987), oder bereits “Blade Runner” (Ridley Scott 1982), die jeweils unterschiedliche geartete Cyborgs - Kombinationen zwischen Mensch und Maschine, zwischen neuen Informationstechnologien und menschlichem Bewusstsein, wobei aber immer fraglich ist, in wieweit sie autonom empfinden und handeln können. Als weiteres Beispiel soll der Film “They Live” von John Carpenter aus dem Jahr 1988 genannt werden, der zunächst mit Alltagssequenzen aus einem eher harten Leben der sozialen Medien der Aufklärung 247 Unterschicht beginnt. Erst nach einiger Zeit wird deutlich, dass diese Alltagserfahrungen, obwohl scheinbar ‘wirklich’ erlebt, nur virtuell sind, von einer Fernsehgesellschaft (erneut) direkt ins menschliche Gehirn übermittelt. Aufgrund dieser direkten Übermittlung gibt es auch keine Möglichkeiten, in der Fantasie Alternativhandlungen oder überhaupt nur einen inneren Monolog zu entwerfen. Natürlich dient auch in diesem Film die Telekommunikation der sozialen Kontrolle, die hier sogar diejenige von George Orwell in seinem berühmten Roman “1984” (Orwell 1949: der Roman ist übrigens 1984 ebenfalls neuverfilmt worden: Radford 1984) noch zu übertreffen scheint. Allerdings gelingt im Rahmen des Films “They Live”, im Gegensatz zu “1984”, doch Widerstand durch Erkennen und Umgehen der technischen Voraussetzungen dieser Telekommunikation. Weitere Beispiele für erfolgreiche Filme mit ähnlichem Charakter, die hier aber nicht näher dargestellt werden sollen, sind Spielfilme beispielsweise des erfolgreichsten Regisseurs der Welt, Steven Spielbergs, insbesondere “Minority Report” aus dem Jahr 2002. Andere auch kommerziell ausgesprochen erfolgreiche Beispiele für solche Filme sind Paul Verhoevens “Total Recall (1990), Andrew Niccols “Gattaca” aus dem Jahr 1997, Peter Weirs “Truman Show” aus dem Jahr 1998, dessen Drehbuch ebenfalls von Andrew Niccol stammt, oder, um zwei Beispiele aus dem Jahr 1995 zu nennen, Roger Donaldsons “Species” oder Terry Gilliams “12 Monkeys”. Die Thematik ist so erfolgreich, dass auch Fortsetzungen wie “Species 2” (1998, von Peter Medak) produziert wurden. Ebenfalls außergewöhnlich erfolgreich und geradezu stilbildend ist die “Matrix”-Trilogie der Gebrüder Wachowski, die erneut den totalen Souveränitätsverlust des Menschen thematisiert: Das menschliche Bewusstsein ist, der Cover Story dieser Filme zufolge, in ein gigantisches Computer-Netzwerk integriert, die titelgebende ‘Matrix’ (Wachowski/ Wachowski 1999, 2003). Nicht der Mensch selbst bestimmt sein Handeln, sondern die ‘Matrix’. Alle genannten Filme waren, wie gesagt, kommerziell erfolgreich, manche sogar in besonderem Maße. Jeweils spielen Informationstechnologien, oder - als zweiter Schwerpunkt - die Biobeziehungsweise Gentechnologie eine entscheidende Rolle. In der Regel differenzieren die Filme und zeigen sowohl Faszination und Möglichkeiten der neuen Techniken - wobei allerdings bei den warnenden Filmen zur Bio- und Gentechnologie deren mögliche positive Aspekte zumeist stark zurückgenommen sind. Allen Filmen ist gemein, dass die Konsequenz der existierenden gesellschaftlichen Strukturen dazu führen, diese neuen Technologien in Gefahrenpotentiale zu verwandeln. Charakteristisch ist auch, dass die Gefahren in allen Fällen dazu führen, das Individuum die Kontrollmöglichkeiten, die Souveränität über seinen Körper und Geist verlieren zu lassen. (Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch Steven Spielberg, der erfolgreichste Regisseur Hollywoods, weil anhand seiner Person der Unterschied zur erstgenannten Phase nochmals sehr deutlich wird, denn nur wenige Jahre zuvor hatte Spielberg mit “Close Encounters of the Third Kind” noch ein euphorisches, geradezu metaphysisch verklärendes Bild der modernen Technik und der Menschheit aus Anlass der Kontaktaufnahme mit Außerirdischen gezeigt.) 6. Medien der Aufklärung Welche Gratifikationen erwarten Zuschauer, wenn sie ins Kino gehen oder das Fernsehen einschalten, um die genannten - und weitere, ähnliche - Spielfilme zu sehen? Bei einem Teil der Konsumenten mögen kommunikationswissenschaftliche Ansätze eine plausible Erklärung geben, wie beispielsweise derjenige von Marvin Zuckerman, in dem Hans W. Giessen 248 davon ausgegangen wird, dass einzelne Individuen aus verschiedenen Gründen nach einem besonderen Nervenkitzel, nach Erregung streben - die sogenannten Sensation Seekers (Zuckerman 1971; 1979). Es liegt auf der Hand, dass dieses Publikumssegment von den genannten Filmen bedient wird. Es kann vermutet werden, dass das Genre des Science Fiction auch für diejenigen Rezipienten von Interesse ist, die sich auf rationaler Ebene mit gesellschaftliche Entwicklungen, mit Chancen und Risiken der Zukunft auseinanderzusetzen und sich auf Alternativen einzustellen wollen. Die Gratifikation kann bei diesem Segment darin liegen, dass die Filme ihnen die Gelegenheit geben, neue Einsichten über mögliche gesellschaftliche Entwicklungen zu gewinnen und gesellschaftliche Fantasie zu entwickeln. Dies bezöge sich bezüglich der beschriebenen Science Fiction-Filme darauf, sich im Geist, in der Fantasie auf eine bedrohliche und gefährliche Zukunft einzustellen - was auch als gesellschaftsbezogene Interpretation der Sensation Seekers-Hypothese gewertet werden könnte: Die Science Fiction-Filme böten demnach einen Nervenkitzel nicht nur auf der emotionalen, sondern auch auf der rationalen beziehungsweise kognitiven Ebene. Allerdings ist für diese Wirkungen ein gewisser Realitätsbezug notwendig. Aus diesem Grund erscheint es nachvollziehbar, dass sich die Thematik auf Science Fiction-Filme, also auf die Zukunft verlagert. Während die Gegenwart in der gesamten westlichen Hemisphäre (noch) überwiegend positiv erlebt wird beziehungsweise erlebt werden kann, scheinen viele Zuschauer für die Zukunft offenbar Bedrohungen zu erwarten, die die persönliche, nicht nur physische, sondern eben auch psychische Integrität des Individuums, den Verlust von Kontrollmöglichkeiten über den eigenen Körper und die persönlichen Empfindungen betreffen. Claire Sponsler begründet die Befürchtung, die Integrität des Individuums sei durch die neuen Technologien gefährdet, vor allem damit, dass bereits jetzt, in der Gegenwart, viele das Individuum betreffende Vorgänge nur immateriell stattfinden, in einem unkörperlichen Raum (im Cyberspace) - nicht mehr von außen erkennbar, sondern in ein elektronisches Innere verlegt (“a transfer of interest from physical exterior to electronic interior” Sponsler 1993. 263). Das Individuum habe den Eindruck, viele Vorgänge nicht mehr beobachten, geschweige denn kontrollieren zu können. Dies führe zur Frage, in wieweit es uns die Medien der Zukunft noch gestatten werden, unsere individuelle Souveränität zu bewahren. Ähnliche Diagnosen werden wiederholt formuliert. Insgesamt sind offenbar die Erklärungsmodelle der französischen ‘Poststrukturalisten’ von ihren Zeitgenossen weitgehend akzeptiert worden (für alle: Welsch 1987; Koslowski 1987). Die kulturellen und philosophischen Grundlagen hat Jean- François Lyotard aufgezeigt; er hat dafür auch den Begriff ‘Postmoderne’ benutzt (Lyotard 1986). Lyotard definiert die Condition postmoderne als Ahnung der Sinnlosigkeit einer Suche nach dem Gesamten. Der Glaube an übergreifende Denk- und Erklärungsmodelle sei zerstört: “Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für ‘postmodern’ ‘’ (Lyotard 1986. 14). Hinsichtlich des Science Fiction-Genre hat Frederic Jameson diese gesellschaftstheoretische Diskussion aufgegriffen; sein in diesem Kontext weitrezipierte Werk lautet: “Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalism” (1991). Bereits in seinem Aufsatz von 1982 vermutet Jameson, dass die zeitgenössische Science Fiction den Verlust der gesellschaftlichen Fähigkeit widerspiegele, soziale Utopien zu entwickeln, geschweige denn, für sie einzutreten; er bezeichnet sie deshalb als dystopische Visionen (zur Diskussion des Begriffs vergleiche auch Baggesen 1987). Wenn aber ein möglicher Grund dafür, entsprechende Filme des Science Fiction-Genres anzusehen, tatsächlich darin liegen sollte, dass die dort besonders glaubhaft darstellbaren Sensation Seeking- Medien der Aufklärung 249 Effekte genutzt werden, um sich (unter anderem) auf mögliche Bedrohungen unserer persönlichen Integrität sowie auf umfassende Gefährdungen unserer Existenz einzustellen, ist die Funktion dieser Filme in der Tat (auch) aufklärerisch; gerade in dieser aufklärerischen Funktion liegt dann eine entscheidende Wirkungsvoraussetzung. Science Fiction-Filme insbesondere seit den siebziger Jahren sind demnach (auch) Medien der Aufklärung und ermöglichen ein Bewusstwerden für Gefahren. Sie können diese aufklärerische Rolle gerade deshalb übernehmen, weil sie im Gegensatz zu den genannten Filmen, die für die Zeit vor den siebziger Jahren dominiert haben, nicht auf naive Art und Weise optimistisch und fortschrittsgläubig sind. 7. Grenzen der Aufklärung Dass diese Aufklärungseffekte aber unter Umständen nicht nachhaltig wirken und die tatsächliche Bedeutung der beschriebenen Gefährdungen wohl nur im Kontext der Dramatisierung und mithin punktuell erlebt werden, soll in komparatistischer Analyse ein weiteres Medienprodukt aus einem anderen Kulturkreis verdeutlichen. Die folgende Analyse bezieht sich auf deutschsprachige Popsongtexte. Erneut handelt es sich um Medienprodukte, die sich auf dem Markt bewähren müssen, die also, wie auch Science Fiction-Filme, zu dem Bereich zählen, der im angelsächsischen Sprachgebrauch als Popular Culture bezeichnet wird. Auch Popmusik ist eine Ware, mit der Profit erwirtschaftet werden soll; Ziel der Produzenten von Popmusik ist es deshalb ebenfalls, mit ihrem Produkt möglichst viele Konsumenten anzusprechen. Dabei deutet der Begriff ‘Popmusik’ - die Herkunft des Begriffs wird in der Regel als Weiterentwicklung von popular music beschrieben, so bereits die Webster’s-Definition aus dem Jahr 1967 - darauf hin, dass dieses Produkt besonders breite Konsumentenschichten erreichen soll. Um breite Publikumsbereiche ansprechen zu können, muss die Popmusik natürlich aber deren Bedürfnisse und Erwartungen entsprechen. Sie kann deswegen ebenfalls, wie die beschriebenen Science Fictionen-Produktionen, als Indikator für gesellschaftliche Befindlichkeiten genutzt werden. Dies gilt insbesondere für emotionale Befindlichkeiten, da die Popmusik über die dominante musikalische Ebene vor allem die Emotionen anspricht. Allerdings dürfen auch die Texte der Popsongs allgemeinen gesellschaftlichen Strömungen zumindest nicht widersprechen, im Gegenteil sie in der Regel wohl bestätigen. Poptexte sind demzufolge, gerade weil Bestandteil eines unter Marktzwängen stehenden Produkts, äußerst geeignet, wenn übergreifende gesellschaftliche Überzeugungen untersucht werden sollen. Die Breitenwirkung ist bei verschiedenen Sub-Genres wieder etwas eingeschränkt, aber auch hier ist das kommerzielle Moment zumindest ein stets mitspielender Faktor. Die folgende Analyse bezieht sich auf deutschsprachige Popsongtexte aus den frühen achtziger Jahren, die eher ein intellektuelles Sub-Milieu ansprechen wollen. Das Zielpublikum beschreibt also tendenziell bessergebildete Konsumenten, die für den intellektuellen Diskurs bestimmend sind. Eine Analyse von Popsongtexten aus den achtziger Jahren (Giessen 1992) kann nun zeigen, dass in dieser Zeit und zumindest für das beschriebene Zielpublikum ebenfalls eine gewisse Furcht vor neuen Informations- und Kommunikationstechniken ausgedrückt wurde, insbesondere vor dem Computer und der Speicherung personenbezogener Daten; diese Furcht bezog sich auch hier auf die individuelle Souveränität. In verschiedenen Texten wurde die Sorge ausgedrückt, dass die individuelle Souveränität bedroht sein kann, wenn der Staat oder kommerzielle Unternehmen mehr oder weniger unbegrenzt Daten über die eigene Person sammeln können. Hans W. Giessen 250 Es gibt verschiedene Texte, die sich - in warnender und mithin ebenfalls aufklärerischer Absicht - dieser Thematik widmen. Beispielhaft ist ein Text von Georg Danzer aus dem Jahr 1982: “Zerschlagt die Computer Diese riesige Maschine Sie wissen, wer du bist sie wissen, was du ißt sie kennen genau deine Maße du bist schon programmiert jetzt wirst du kontrolliert zu Hause und auch auf der Straße Zerschlagt die Computer sie kennen dich genau sie kennen deine Frau sie lesen vor dir deine Zeitung sie wissen, wie du liebst mit wem du dich umgibst sie sitzen schon in deiner Leitung Zerschlagt die Computer Zerschlagt die Computer…” Der Text entwickelt sich dann noch in eine andere Richtung weiter, aber es ist deutlich, dass er nur ‘funktioniert’, weil es die Furcht - und die Warnung - vor der allumfassenden Potenz des Computers gibt. Computer speichern Daten über Personen, die zu ihrer Kontrolle oder Beeinflussung benutzt werden können. Die Totalität, mit der durch Computer Besitz von Daten und Personen ergriffen werden kann, macht auch Heinz Rudolf Kunze in seinem 1983 erschienenen Song “Der schwere Mut” deutlich: “Ihr würdet selbst den lieben Gott einbetonieren, wenn eure Datenbank ihn eines Tages erfaßt.” Der ‘liebe Gott’ ist hier wohl das Symbol für Totalität: Die Totalität der Datenbank ist also umfassender als die Gottes. Das Wort ‘einbetonieren’ weckt dabei Assoziationen an Morde in Krimis, bei denen Tote nie wieder aufgefunden werden: Sie bleiben im Beton verschwunden. Verschwunden wäre die Totalität Gottes in der Datenbank; die Metapher drückt eine allumfassende Vereinnahmung aus, die gleichzeitig den Verlust jeglicher individuellen Souveränität, den Verlust von Individualität, Spontaneität, Freiheit - oder sogar des Lebens selbst bedeuten kann. Fraglich ist, ob der Computer in diesem Songtext Werkzeug oder Täter der totalen Auslöschung ist. Einerseits hängt das ‘einbetonieren’ davon ab, dass die Datenbank ‘Gott’ erfasst - ohne Computer könnte er also nicht vereinnahmt werden. Andererseits scheint es Personen zu geben, die noch über dem Computer stehen, zweifellos und zumindest die Besitzer der Datenbank. Heinz Rudolf Kunze belässt sie aber in einer mysteriösen Nebulosität, die umso bedrohlicher sein mag. Die Besitzer der Datenbank würden also auch den “lieben Gott einbetonieren”, wenn ihr Computer ihn erfasste; sie würden damit jeden Medien der Aufklärung 251 auslöschen, dessen Daten sie habhaft werden könnten. Wir alle sind mithin potentielle Opfer und können uns nur dann wehren, wenn wir darauf achten, nicht ‘erfasst’ zu werden - sofern wir diese Gefahr noch rechtzeitig erkennen können. Es gibt weitere Beispiele, etwa der Song “Computer sind doof” der Gruppe “Spliff” aus dem Jahr 1984. Die Warnungen aus den Popsongtexten der frühen achtziger Jahren sind also einerseits von kaum zu überbietender Deutlichkeit, andererseits von existentieller Tragweite. Offensichtlich haben sie damals - ähnlich wie heute noch amerikanische Science Fiction- Filme - die Diskussion hinsichtlich der neuen Informations- und Kommunikationsmedien widergespiegelt, teilweise auch bestimmt. Dennoch ist im selben Kulturraum, in dem Georg Danzer, Heinz Rudolf Kunze oder “Spliff”in den achtziger Jahren mit entsprechenden Texten erfolgreich waren, ein Jahrzehnt später - da die entsprechenden Medien eingeführt und potentiell so stark wirksam sind, wie damals befürchtet - kein Aufbegehren mehr erkennbar, noch nicht einmal mehr Furcht. Es gibt hier seit Ende der 80er Jahre buchstäblich keinen einzigen Poptext mehr (zumindest keinen Text, der so erfolgreich gewesen wäre, dass er die Charts erreicht hätte), der die entsprechende Befürchtungen aufgegriffen hätte. Im Gegenteil musste Edda Müller, die an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer lehrt und dem ‘Verbraucherzentrale Bundesverband’ vorsteht, 2004 feststellen, dass viele Bürger “[…] keine oder nur sehr gering ausgeprägte Sicherheitsbedenken haben. Hier beobachten wir einen teilweise sorglosen Umgang mit den eigenen Daten. [Die Gründe sind] im fehlenden Bewusstsein für die Brisanz der eigenen Daten sowie in der Unkenntnis der technischen Möglichkeiten zur Erhebung, Verarbeitung und Übermittlung von Daten [zu suchen]. Wer Kundenkarten, Mailinglisten oder Newsletter bedenkenlos nutzt, unterschätzt die Möglichkeiten von unternehmen, das eigene Konsumverhalten nicht nur zu bewerten, sondern zu steuern und zu beeinflussen.” Müller bezieht sich aber nicht nur auf Unternehmen, die Daten aus kommerziellen Gründen sammeln. Auch bei politisch Handelnden und Verantwortlichen sei (heutzutage) eine entsprechende Sensibilität nicht mehr anzutreffen. Müller bilanziert: “Die sorglose Freigiebigkeit vieler Verbraucher bei den eigenen Daten, die zunehmende Ausbeutung von Kundendaten und die neue staatliche Sammelwut nach dem 11. September verdichten sich zu einem gefährlichen Gemisch.” Die ‘Arbeit der Aufklärung’ ist also offenbar für den Erfolg einerseits zahlreicher deutscher postmoderner Popsongtexte der achtziger Jahre verantwortlich gewesen, andererseits ist auch noch heute der Erfolg vieler Science Fiction-Filme, wie dargestellt worden ist, auf ihre aufklärerische Funktion zurückzuführen. Dennoch ist deutlich geworden, dass die Wirksamkeit dieser aufklärerischen Bemühungen ganz offensichtlich begrenzt ist. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? In der täglichen Anwendung werden vermutlich zunächst sehr stark die positiven Aspekte der neuen Informations- und Kommunikationsmedien erlebt: Es ist mit Hilfe der neuen Informations- und Kommunikationsmedien möglich, umfassend, schnell und billig an verschiedenste Informationen zu gelangen; auch emotionale Gratifikationen sind umfassend, schnell und billig zu haben. Diese großen Vorteile und der bequemen Art und Weise, wie sie erlangt werden können, dominieren im Alltagsgebrauch. Oftmals werden sie auf emphatische beziehungsweise gar metaphysische Art und Weise erlebt. So schrieb der deutsche Filmemacher Edgar Reitz über seine Internet-Erfahrungen (Reitz 1995. 275): Hans W. Giessen 252 “Ich bin innerlich mit [all den Menschen] verbunden. Wir sind das Netz. Und es ist international. Ich lebe nicht in München, sondern auf dem Planeten. Das ist es. Es entsteht ein planetarisches Gefühl […].” Dagegen werden die Nachteile als lediglich abstraktes Wissen in den Hintergrund gedrängt. Die im Aufklärungsprozess erworbenen Erkenntnisse sind demnach nur ein Faktor in einem Mosaik von Erfahrungen, leitenden Gedanken, auch irrationalen und emotionalen Bewertungskriterien; und offensichtlich sind sie subjektiv nicht der wichtigste handlungsleitende Faktor - sie können sich in dieser Gemengelage offenbar nicht durchsetzen. Diese Einsicht scheint mit bei Jean Piaget und Bärbel Inhelder (1948) oder bei Robert L. Selman (1980) beschriebenen kognitiven bzw. sozial-kognitiven Zentrierungseffekten zu korrespondieren. Ganz eindeutig werden hier die ‘Grenzen der Aufklärung’ deutlich. Dies kann bedauert werden und verweist auf möglicherweise gar bedrohliche Aspekte im menschlichen Denken und Handeln. Selbst wenn unklar ist, ob die beschriebenen Science Fiction-Filme wie auch die deutschsprachigen Popsongtexte der achtziger Jahre Recht haben, wenn sie die menschlichen Souveränität durch neue Informations- und Kommunikationsmedien als gefährdet beschreiben und eine neue und erneut selbstverschuldete (oder hier eher: selbstgeschaffene) Unmündigkeit befürchten, ist sicher ebenso problematisch, wenn diese Befürchtungen überhaupt nicht mehr thematisiert werden, nachdem sich die neuen Informations- und Kommunikationsmedien im Alltagsgebrauch durchgesetzt haben. Zumindest könnten die beschriebenen Warnungen ja auf realistische Gefährdungen verweisen; immerhin sind sie ja vielfach konsistent und mit großem Nachdruck vorgetragen sowie von kritischen Autoren wie Edda Müller bestätigt worden. Selbst wenn also die Dringlichkeit diese Sorgen unbegründet sein sollte und nur literarisch-künstlerischer Fiktion oder Übertreibung zuzuschreiben wäre, kann es angesichts der zumindest möglichen Konsequenzen sinnvoll sein, sich gelegentlich in Erinnerung zu rufen, welche Medienwirkungen für die Zukunft erwartet werden - und für die Gegenwart erwartet worden sind. Damit wir merken, womit wir - vielleicht - unsere positiven und teilweise emphatisch erlebten Alltagserfahrungen bezahlen. Referenzen Diskografie: Danzer 1982: Georg Danzer, Zerschlagt die Computer - diese riesige Maschine. 1982 Kunze 1983: Heinz Rudolf Kunze, Der schwere Mut. 1983 Spliff 1984: Spliff, Computer sind doof, 1984 Filmografie: Bigelow 1995: Kathryn Bigelow (Dir.), Strange Days, 1995 Braun/ Mezger 1966: Michael Braun, Theo Mezger (Dir.), Raumpatrouille. 7 Fernsehfilme: 1966 Cameron 1984: James Cameron (Dir.), The Terminator. 1984 Cameron 1991: James Cameron (Dir.), Terminator 2: Judgement Day. 1991 Cameron 1997: James Cameron, Titanic. 1997 Carpenter 1988: John Carpenter (Dir.), They Live. 1988 Cronenberg 1982: David Cronenberg (Dir.), Videodrome. 1982 Cronenberg 1986: David Cronenberg (Dir.), The Fly. 1986 Cronenberg 1999: David Cronenberg (Dir.), eXistenZ. 1999 Donaldson 1995: Roger Donaldson (Dir.), Species. 1995 Gilliam 1995: Terry Gilliam (Dir.), 12 Monkeys. 1995 Kubrick 1968: Stanley Kubrick (Dir.), 2001 - A Space Odyssey. 1968 Medien der Aufklärung 253 Medak 1998: Peter Medak, (Dir.), Species 2. 1998 Niccol 1997: Andrew Niccol, (Dir.), Gattaca, 1997 Radford 1984: Michael Radford (Dir.), 1984. 1985 Roddenberry 1996-1969: Gene Roddenberry (Creator), Star Trek, 80 Fernsehfilme: 1966-1969 (zudem drei Folgeserien) Scott 1982: Ridley Scott (Dir.), Blade Runner, 1982 Spielberg 1977: Steven Spielberg (Dir.), Close Encounters of the Third Kind. 1977 Spielberg 2002: Steven Spielberg (Dir.), Minority Report. 2002 Trumbull 1983: Douglas Trumbull (Dir.), Brainstorm. 1983 Verhoeven 1987: Paul Verhoeven (Dir.), Robocop. 1987 Verhoeven 1990: Paul Verhoeven (Dir.), Total Recall. 1990 Wachowski/ Wachowski 1999: Andy Wachowski; Larry Wachowski (Dirs.), The Matrix. 1999 Wachowski/ Wachowski 2003: Andyy Wachowski; Larry Wachowski (Dirs.), The Matrix: Reloaded, 2003 Wachowski/ Wachowski 2003: Andy Wachowski; Larry Wachowski (Dirs.), The Matrix: Revolutions, 2003 Weir 1998: Peter Weir (Dir.), Truman Show, 1998 Wyler 1959: William Wyler (Dir.), Ben Hur. 1959 Sekundärliteratur: Baggesen 1987: Søren Baggesen, Utopian and Dystopian Pessimism. 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Dieses Instrumentarium führt hier zu einer Theorie der polyspatialen Repräsentation, die auf einer Spezifikation zusätzlicher Beobachterleistungen bei der Konstitution eines narrativen Zusammenhangs von Bewegtbildern basiert. Deren explizite Formulierung ist wesentlicher Bestandteil einer Neudefinition und Verallgemeinerung des “alternierten” Syntagmas aus der Großen Syntagmatik des Films. Beide Artikel zusammen ergeben eine bildgrammatische Neudefinition aller narrativen Filmsyntagmen bei Metz. Gliederung Nach der Exposition der Problemstellung im Abschnitt 1 werden im Abschnitt 2 dokumententheoretische Grundlagen gelegt, die zu einer Definition strukturierter cinematographischer Dokumente, ihrer Segmente und Syntagmen führen. Im Abschnitt 3 wird der Begriff der Monochronie für unsere klassifikatorischen Zwecke so präzisiert, dass er im Abschnitt 4 zunächst benutzt werden kann, um die Syntagmen der “Szene” und der “Sequenz” als monospatiale und monochrone Syntagmen auszuzeichnen. Darauf aufbauend werden (nach der Behandlung “narrativer Hierarchien” im Abschnitt 5) im Abschnitt 6 die Metz’schen Ansätze zur Behandlung polyspatialer Narration expliziert. Im Abschnitt 7 erfolgt dann eine Definition filmischer polyspatialer Alternanz auf Basis der zuvor entwickelten Konzepte der Monochronie und Partitionierung von Dokumentenbäumen. Im Abschnitt 8 exemplifizieren wir diese Definition mit der Analyse alternanter Dramaturgien. Im anschließenden empirischen Teil im Abschnitt 9 erfolgen zunächst Analysen von Segmenten des Metz’schen Musterfilms “Adieu Philippine”; dann kommt eine Analyse eines Segments aus dem Film “Tucker”, das eine logische Struktur aus den vorherigen Abschnitten aufgreift und mit einem “syntagmatischen Scherz” ironisch wendet. Den Schluss bildet ein Ausblick in Abschnitt 10. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Karl-Heinrich Schmidt 256 1. Klassische Filmtheorie und das “alternierte Syntagma” Seit Mitte der 1960er Jahre veröffentlichte Christian Metz Untersuchungen 1 zum Problem einer Grammatik des Films, in denen er besonders zwei Fragestellungen behandelte: 1. Fragen der sogenannten autonomen Einstellungen; 2. Fragen der Zusammenfassung von - autonomen und nicht autonomen - Einstellungen zu komplexeren syntagmatischen Formen. Das Ergebnis dieser Arbeit nannte er Große Syntagmatik des Films. Diese liefert keine formale Grammatik, aber eine Klassifikation von Filmsegmenten, welche auf den ersten Blick recht ansprechend wirkt. In der theoretischen Weiterentwicklung und der applikativen Filmanalyse führte die Große Syntagmatik aber zu vielfältigen praktischen und theoretischen Problemen (cf. Schmidt, Strauch 2002, passim). Die Große Syntagmatik muss daher komplett überarbeitet werden 2 . Für die sogenannten “basalen Syntagmen” (s.u.) sind in Schmidt, Strauch (2002) dazu die Grundlagen gelegt worden. Insbesondere wurden drei monochrone und monospatiale Syntagmen (Planszene, Szene und Sequenz) identifiziert und empirisch auf den auch von Metz paradigmatisch untersuchten Film “Adieu Philippine” angewendet. In dieser Arbeit wird der monochrone polyspatiale Fall weiter untersucht 3 . Diesen Fall behandelte Metz unter dem Stichwort “alterniertes Syntagma”. Es ist bei ihm das Kernsyntagma für eine filmische Repräsentation vom Typ “Wechsel des Ortes bei weiterlaufender Zeit” und einschlägig bei der Behandlung von Dialogsituationen mit räumlicher Distanz filmischer Gesprächspartner (Telefon! ). Es ist ferner das einzige bei Metz behandelte “nicht-lineare” narrative Syntagma. Entscheidend ist für das “alternierte Syntagma” (mit den in Schmidt, Strauch (2002) schon angegebenen Refomulierungen), dass es auf eine Einheit des dargestellten Raumes verzichtet. Wie wir sehen werden, ist dies eine sehr starke Forderung: Metz ist (vermutlich auch deshalb) mit dem alternierten Syntagma nie klargekommen, wie er auch selbst schreibt in Metz (1972, 216-218). Aufbauend auf Schmidt, Strauch (2002), aber in sich selbständig gehen wir nun das Problem des alternierten Syntagmas theoretisch und empirisch an. Zusammen mit Schmidt, Strauch (2002) ergibt dieser Artikel eine bildgrammatische Neudefinition aller narrativen Filmsyntagmen bei Metz. Was heißt “bildgrammatische” Neudefinition? Grundsätzlich kann ein informationeller Zusammenhang zwischen zwei Einstellungen T 1 und T 2 im Falle des Tonfilms für Bild und diegetischen Ton auf vierfache Weise bestehen: 1. von Ton zu Ton: Sound(T 1 ) Sound(T 2 ) 2. von Ton zu Bild: Sound(T 1 ) Im(T 2 ) 3. von Bild zu Ton: Im(T 1 ) Sound(T 2 ) 4. von Bild zu Bild: Im(T 1 ) Im(T 2 ) Enthält der diegetische Ton gesprochene Sprache, ist der erste Fall Gegenstand linguistischer Analysen. Speziell bei ausschließlicher Verwendung von Tokens einer (natürlichen) Sprache können sich die Zusammenhangsbedingungen durch eine rein linguistische Analyse ergeben, für die ein Drehbuch als Postskript genügt; es bedarf dann keines Filmbildes. Für diegetische Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 257 Fig. 1 “Geräusche” (z.B. Schreie) verhält es sich im Prinzip ebenso: Es bedarf einer Zusammenhangsanalyse des Schalls. Im zweiten Fall muss zu einem Tonereignis ein Zusammenhang zu einem darauffolgenden bildlich dargestellten Objekt von einem Beobachter hergestellt werden können; im dritten Fall ist es umgekehrt. Eine bildgrammatische Analyse bezieht sich auf den vierten Fall. Für diesen wird im weiteren die Rolle der alternanten Polyspatialität für cinematographische Dokumente unter der Bedingung der Monochronie untersucht. 2. Drei Sichten auf ein cinematographisches Dokument Mit dem Fortschritt in der Theorie (elektronischer) Dokumente seit den Arbeiten von Metz können Fragen gerade für komplexe Inhaltsarchitekturen wie Film zunächst allgemein behandelt werden, um sie dann für filmische Besonderheiten zu spezialisieren. Diesen Weg gehen wir hier auch. Auf ein Dokument kann man grundsätzlich drei Sichten haben. die Inhaltssicht (content view), die Layoutsicht (layout view), die logische Sicht (logical view 4 ): Die Inhaltssicht betrifft das typische Beobachterinteresse an einem Dokument: Der “Leser” möchte den ihm repräsentierten “Inhalt” aufnehmen. Dessen Repräsentation kann denotativ intendiert sein (wie auf einem Passfoto-), kann aber auch andere Weisen der Referenz zulassen (z.B. exemplifikatorische Bezugnahmen). Die Inhaltssicht behandeln wir hier nur insoweit, als sie für syntagmatische Fragestellungen von Bewegtbilddaten relevant ist. Die Layoutsicht betrifft die Organisation der Layoutstrukturen durch einen Layoutprozess, der eine Darstellung durch Ausgabe auf einem Drucker, einem Bildschirm, etc. ermöglicht. Der Layoutprozess erzeugt die i.a. geometrisch beschreibbaren Objekte, auf die die Inhalte verteilt werden und die auf einem Ausgabemedium zur Darstellung kommen (können) 5 . Der Layoutprozess legt insbesondere fest, welche Inhaltsstücke auf einem Ausgabemedium benachbart sein können. Karl-Heinrich Schmidt 258 Fig. 2 Grundsätzlich kann ein Layoutprozess mehrere Ausgabedatenströme vorsehen, etwa im Buchdruck einen Ausgabestrom für ein Kopffeld mit Kapitelüberschriften auf jeder Seite und einen Ausgabestrom für den “eigentlichen” Inhalt. Als filmische Besonderheit nehmen wir für das weitere aber an, dass bei einem Film (auch bei einem Tonfilm) nur ein Ausgabestrom erzeugt wird und für einen Beobachter zu einem Zeitpunkt in einer passend granulierten Filmzeit nur ein Filmbild zur Verfügung steht. Einen engen Bezug zur Layoutsicht eines Dokumentes hat die sogenannte logische Sicht: Sie behandelt im wesentlichen Teil-Ganzes-Beziehungen, die sich oft auch im Layout zeigen. In einem Text wie diesem wird in der logischen Sicht z.B. eine Liste als Teil eines Absatzes, dieser als Teil eines Kapitels, ein Kapitel als Teil eines ganzen Dokuments modelliert. Für syntagmatische Überlegungen ist diese logische Sicht die entscheidende Sicht. Sowohl die Layoutsicht als auch die logische Sicht modellieren ein Dokument als Baum. Dies führt für beide Sichten zu drei verschiedenen Typen von Objekten: • einen Wurzelknoten eines Dokuments (dieser heißt document (logical oder layout) root und wird häufig gekennzeichnet durch “/ ”); • Endknoten (diese heißen basic (logical oder layout) objects); • alle anderen Knoten zwischen Wurzelknoten und Endknoten (diese heißen composite (logical oder layout) objects). Jeder Layoutprozess erzeugt aus dem logischen Baum einen Layoutbaum. In einer Syntagmatik des Films ist der Layoutprozess also zuständig für die Serialisierung der Inhaltsstücke, die über einen Ausgabedatenstrom dargestellt werden können. Hinsichtlich der logischen Struktur eines Dokumentes behandeln wir im weiteren nur sogenannte strukturierte Dokumente (alle anderen sind für die Behandlung von komplexen narrativen Strukturen unerheblich). Damit kommen wir zu unserer ersten Definition: (1) Ein Dokument D heißt strukturiert, wenn seine logische Struktur mindestens zwei composite logical objects enthält. Betrachten wir dazu den folgenden kleinen Baum der logischen Sicht: Dieses Dokument ist nicht strukturiert, da alle basic logical objects Nachfolger nur eines composite logical object sind. Ein Beobachter muss nach Identifikation des ganzen Dokumentes keine über das composite logical object hinausgehende Aggregationsleistung für die einzelnen basic logical objects vollbringen. Für ein Musikmedium sind dies (bei einer im allgemein größeren Anzahl von basic logical objects (“Stücken”)) übliche Strukturen. Filmsyntagmatisch sind Strukturen wie in Fig. 2 aber Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 259 Fig. 3 nicht sonderlich theorieträchtig. Im allgemeinen haben Filme eine wesentlich reichhaltigere Struktur bei (im noch zu präzisierenden Sinne) größerer “narrativer Tiefe”. Grundsätzlich geht es speziell im Spielfilm auch darum, einen Fortschritt einer Geschichte abzubilden. Die einzelnen Einstellungen werden nicht nur hintereinander dargestellt, weil es in einer filmischen Darstellung bei einem Ausgabestrom nicht anders geht, sondern die Anordnung wird zur Darstellung eines Geschichtenfortschritts genutzt. Die einzelnen Einstellungen eines filmischen Dokuments werden den basic logical objects (als “Inhaltsstück” oder “content portion”, hier gekennzeichnet mit “ ”) zugeordnet: Eine Einstellung als audiovisuelles Inhaltsstück ist ein Datensatz, der einer vorgegebenen Menge von audiovisuellen Normen von Bewegtbilddaten genügt 6 . Insbesondere verwenden wir die folgende Definition: (2) Ein Dokument D heißt cinematographisch, wenn • jedem basic logical object mindestens eine audiovisuelle content portion zugeordnet werden kann; • ein Layoutprozess existiert, der für mindestens eine audiovisuelle content portion eines jeden basic logical object des Dokumentes ein basic layout object generiert. Wird ein cinematographisches Dokument einer syntagmatischen Analyse unterzogen, betrachtet man natürlich auch einen “wirklichen Film”. Dieser ist Ergebnis eines tatsächlich durchgeführten Layoutprozesses mit anschließender Darstellung der Layoutobjekte. Wir verlangen für das weitere nicht nur die Existenz eines Layoutprozesses, sondern setzen auch seine Anwendung voraus. Um einen Begriff für Zusammenhänge zwischen dargestellten Einstellungen in einem Film zu haben, benutzt Metz den Terminus “Segment”: Damit bezeichnet er (cf. Metz (1972, p. 171f)) jede Folge von Einstellungen, welche eine zu klassifizierende Einheit darstellt. Grundsätzlich ist für eine klassifikatorische Arbeit zu fragen, ob ein Segment als layoutierte Folge von Einstellungen Lücken enthalten darf und ob sich mehrere Segmente überlappen dürfen. In der folgenden Graphik (entnommen aus Martinez (2002), dort Fig. 9) sind dazu vier Möglichkeiten für die Aufteilung eines beliebigen Elternsegmentes (also auch eines ganzen Films) in Kindsegmente skizziert: Karl-Heinrich Schmidt 260 Fig. 4 Der Fall einer Überlappung von filmischen Segmenten (wie in Fig. 4d) ist z.B. bei einer Fusion einer Einstellung (eine letzte Einstellung eines Zusammenhangs ist erste Einstellung eines Folgezusammenhangs) gegeben. Für die hier behandelten alternanten Strukturen ist dieser Fall dann zu diskutieren, wenn in einer Einstellung z.B. das Ende eines Telefonates und der Beginn eines weiteren Telefonats gezeigt wird (ein Beispiel dafür wird in Abschnitt 9 vorgestellt). Die obige Graphik skizziert allgemein Segmentierungsmöglichkeiten. Für die Durchführung einer Klassifikation von Einstellungsfolgen sind dabei Einschränkungen erforderlich: Eine Überlappung von klassifizierten (! ) Kindsegmenten ergibt sich ja nur, wenn diese aus zwei (im mathematischen Sinne) verschiedenen Partitionierungen von Einstellungen stammen und beide Segmente auf Einstellungsebene einen nichtleeren Durchschnitt haben (im obigen Beispiel: Eine Einstellungsfolge gilt bereits als “Telefonat_1”, eine andere als “Telefonat_2”; beide Einstellungsfolgen haben am Ende der ersten und Beginn der zweiten eine Einstellung gemeinsam 7 ). Dieses Phänomen der Fusion von Einstellungen ist also immer ein Ergebnis verschiedener Partitionierungen. Innerhalb einer einzigen Partition der Einstellungen und deren Klassifikation sollte sich aber keine “Overlap”-Situation ergeben. Dies ist in den Fällen a), b) und c) von Fig. 4 skizziert. Wir verlangen also: (3) Ein Segment ist eine Partitionsmenge in einer vorgegebenen Partition aller layoutierten Einstellungen für einen gegebenen Layoutprozess. Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 261 Fig. 5 Mit Definition (3) ist für jede Segmentierung eines cinematographischen Dokuments eine tiefere hierarchische Segmentierung der Einzelsegmente erlaubt, so dass ein Segmentbaum entstehen kann 8 . Definition (3) erlaubt ferner unzusammenhängende Segmente (cf. Fig. 4c). Jede Anordnung von Einstellungen ist das Ergebnis eines Layoutprozesses, der von einer Menge von basic logical objects ausgeht (s.o.). Diese legen vor jedem Layoutprozess die morphologische Struktur eines Dokuments fest. Die syntagmatische Klassifikation der morphologischen Struktur eines cinematographischen Dokumentes muss also für Teile der logischen Struktur erfolgen. Wir legen daher fest: (4) Ein Syntagma klassifiziert solche Teilbäume der logischen Struktur eines Dokuments, die mindestens ein composite logical object enthalten und durch einen Layoutprozess auf mindestens ein Segment abgebildet werden. Gemäß (4) sprechen wir im weiteren von den Segmenten eines Syntagmas. Abkürzend reden wir auch von den Einstellungen eines Syntagmas, wenn sie zu einem seiner Segmente gehören. Das geforderte Enthaltensein eines composite logical object stellt sicher, dass wir mit einem Syntagma nur echte Teilbäume klassifizieren und nicht nur ein basic logical object. Liegt eine Aggregation von mehreren Objekten vor, klassifiziert ein Syntagma eine solche Aggregation (s.u.). Das ist auch der häufigste Fall. Es verbleiben noch die Fälle, in denen einfach nur ein Pfad von einem composite logical object zu einem basic logical object (mit dem zugeordneten Inhaltsstück) führt wie in der folgenden Abbildung, die den kürzesten Fall visualisiert: Führt eine solche Struktur im Layout zu einem einpunktigen Segment (dieses ist nach Definition (3) zulässig), kann dieses gemäß der Metz’schen Großen Syntagmatik auf zwei Weisen einem Syntagma zugeordnet werden: als Einfügung oder als Planszene. Einfügungen behandeln wir hier nicht weiter: Es genügt, sie im weiteren als filmisches Analogon von Parenthesen anzusehen 9 . Die syntagmatische Kategorie der Planszene wurde in Schmidt, Strauch (2002) eingeführt. Ihr ist als Ergebnis des vorgegebenen Layoutprozesses eine einzelne Einstellung zugeordnet, die in einer vollständigen Klassifikation des Dokuments keinem anderen Syntagma zugeordnet wird 10 . Die Planszene ist nun der Startpunkt unserer weiteren Untersuchungen. Karl-Heinrich Schmidt 262 3. Monochronie Die Planszene läßt i.a. keinen Zweifel über den zeitlichen Ablauf im gemessenen Gegenstandsbereich: Sie bildet einen zeitlichen Ablauf homomorph (gegebenenfalls in Zeitraffung und in Zeitlupe) ab. Dies übertragen wir nun auf nicht triviale Segmente und ihre Syntagmen. Um eine chronologische Aggregation von Dokumententeilen durchführen zu können, muss ein Beobachter aus einer Beobachtermenge mindestens einzelnen content portions eine (absolute oder relative) diegetische Zeit zuordnen und eine Relationierung dieser Zeiten durchführen können: 14.00 - 14.10 < 14.10 - 14.11 Fig. 6 Wir nehmen mit Einschränkung der Allgemeinheit, aber “normale” Verhältnisse unterstellend an, daß sich die diegetische Zeit jeder Einstellung in der Menge aller abgeschlossenen, nicht entarteten Intervalle I(M) eines geeigneten zeitlichen Messraums M repräsentieren läßt 11 . Um hier die diegetischen Zeitverhältnisse zwischen mehreren Einstellungen zu beschreiben, benutzen wir die Allen’sche Zeitlogik (cf. Allen, Hayes (1985)). Für die weitere Analyse polyspatialer Alternanz sind dann die folgenden Fälle vorzusehen: 1. diegetisches Aufeinanderfolgen “ohne Lücken” (wie in einer Szene); 2. diegetisches Aufeinanderfolgen “mit Lücken” (wie in einer Sequenz); 3. diegetische Gleichzeitigkeit/ Kopräsenz; 4. diegetische Überlappung; 5. kein zeitliches Verhältnis zueinander. Seien also T und T’ zwei Einstellungen mit “diegetischen Intervallen” I und I’. Der erste Fall des nahtlosen Folgens wird modelliert mit der Basisrelation MEETS(I,I’); der zweite Fall des Aufeinanderfolgens mit Lücken durch BEFORE(I,I’); der dritte Fall der Gleichzeitigkeit mit einem generellen CONTAINS(I,I’), dass nur verlangt, dass die beiden Intervalle irgendwie ineinander enthalten sind (cf. Davis (1990, p. 149); und der vierte Fall der diegetischen Überlappung mit OVERLAPS(I,I’). - Der fünfte und letzte Fall fällt nicht in den Bereich einer chronologischen Syntagmatik. Hier müssen ggf. für ein Dokument mehrere zeitliche Zusammenhangskomponenten vorgesehen werden, die keine gemeinsame Wurzel haben. Praktisch kann man sich das so vorstellen, dass man ein Dokument in mehrere chronologische Teildokumente zerlegt, für die dann die ersten vier Fälle diskutiert werden müssen. Wir definieren also für eine Beobachtermenge B eines cinematographischen Dokuments: (5) Ein Teilbaum der logischen Struktur eines Dokuments heißt für eine Beobachtermenge B chronologisch, wenn für jede zweielementige Teilmenge {T,T’} der zugehörigen Einstellungen mit diegetischen Zeiten I und I’ gilt: MEETS(I,I’) oder BEFORE(I,I’) oder CONTAINS(I,I’) oder OVERLAPS(I,I’). Wir zeichnen den Fall aus, dass man sich über einen diegetischen Verlauf in der Beobachtermenge B einig ist: Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 263 (6) Ein Teilbaum der logischen Struktur eines Dokuments heißt für eine Beobachtermenge B B-monochron, wenn er • chronologisch für B ist und • von allen B B jede zweielementige Teilmenge {T,T’} der zugehörigen Einstellungen gleich relationiert wird. Um sicherzustellen, dass für B ein “Wechsel des Ortes bei weiterlaufender Zeit” unterschieden werden kann von einem “Wechsel des Ortes bei (teilweise) stehender Zeit” (bei der filmischen Repräsentation paralleler Ereignisse), darf ggf. “CONTAINS” nicht benutzt werden: (7) Ein Teilbaum der logischen Struktur eines Dokuments heißt für eine Beobachtermenge B streng B-monochron, wenn er • chronologisch für B ist und • von allen B B jede zweielementige Teilmenge {T,T’} der zugehörigen Einstellungen gleich ohne Verwendung von “CONTAINS” relationiert wird. Der nicht konsensuelle Fall bleibt späteren Untersuchungen vorbehalten und wird im weiteren nicht behandelt 12 . 4. Monospatiale Monochronie 4.1 Die Szene Eine ‘Szene’ ist für einen menschlichen Beobachter erkennbar, wenn er eine Ersetzungsprobe vornehmen kann: Dies heißt, dass er in einem Gedankenexperiment eine ‘Szene’ als eine einzige Einstellung in einem räumlichen Zusammenhang inszenieren kann. Dies hat folgenden theoretischen Hintergrund: In einer Einstellung folgt die Kamera Objekttrajektorien; in einer ‘Szene’ wird dagegen zumeist ein diskontinuierlicher Wechsel des Kamerastandpunktes vorausgesetzt - unter Wahrung einer wichtigen Randbedingung: Der räumliche Zusammenhang muss anhand der abgebildeten Gegenstände erkennbar sein; ein nur vom Beobachter rekonstruierter Zusammenhang, der nicht Bezug auf tatsächlich abgebildete Gegenstände nimmt, reicht nicht aus 13 . Es ergibt sich: (8) Ein Teilbaum der logischen Struktur in einem cinematographischen Dokument D ist syntagmatisch für eine Beobachtermenge B eine Szene, wenn 1. dem Teilbaum mindestens zwei Einstellungen als content portions zugeordnet sind, 2. das vereinigte Raumurbild aller zugehörigen Einstellungen von allen B B unter Bezug auf das abgebildete Urbild als zusammenhängend konzeptionalisiert werden kann, 3. die Vereinigung der in den zugehörigen Einstellungen denotierten Zeiten von allen B B als zusammenhängend konzeptionalisiert werden kann, 4. ein Layoutprozess existiert, so dass die durch ihn erzeugte Reihenfolge der Einstellungen und der zeitliche Ablauf im Urbild von allen B B als homomorph etabliert werden kann, Karl-Heinrich Schmidt 264 Fig. 7 5. in D keine weitere Einstellung, die die 2.,3. und 4. Anforderung erfüllt, einem basalen logischen Objekt außerhalb des Teilbaums zugeordnet ist. Die letzte Bedingung formuliert ein implizites Maximalitätskriterium: Szenen sind maximal, da die Hinzunahme einer weiteren Einstellung zu einer Szene keine Szene mehr ergibt 14 . Eine minimale szenische Struktur mit einer Darstellung des zeitlichen Zusammenhanges kann man wie folgt skizzieren: In dieser Graphik wird unterstellt, dass die zugeordneten Weltzeiten als Intervalle (das linke Intervall heiße I 1 , das rechte I 2 ) einen Treffpunkt in start(I 2 ) = end(I 1 ) haben. Dies ist für die Konzeptionalisierung des zeitlichen Zusammenhanges vieler Beobachter minimal. Die Definition (8) erlaubt auch größere Überlappungen, ja auch Konzeptionalisierungen des räumlichen und zeitlichen Zusammenhanges, die explizit Kriterien kognitiver Adäquatheit einbeziehen. Natürlich können auch völlig artifizielle Hintergrundwelten herangezogen werden, solange sie die Formulierung von Zusammenhangsbedingungen erlauben. Eine naheliegende Operationalisierung der Konzeptionalisierung des räumlichen Zusammenhanges durch einen Beobachter ist das Anlegen einer zweidimensionalen Karte der räumlichen Verhältnisse. Ein schönes Beispiel liefert dafür die Analyse von Segmenten aus ‘The Barefoot Contessa’ durch Colin in Buckland (1995, 96ff). Die obige Definition (8) verzichtet auf jede handlungstheoretische Fundierung; sie ist daher weniger restriktiv als Definitionen, die Handlungseinheiten einbeziehen: Unsere Definition hat deshalb ggf. einen größeren extensionalen Träger. Ihre Anwendung auf empirisches Material findet sich in Schmidt, Strauch (2002). 4.2 Die Sequenz Die Forderung des zeitlichen Zusammenhanges unterscheidet die Szene grundsätzlich von den schwächeren Anforderungen an eine Sequenz, die einen zeitlichen Zusammenhang ausschließt. Es ergibt sich: (9) Ein Teilbaum der logischen Struktur in einem cinematographischen Dokument D ist für eine Beobachtermenge B eine Sequenz, wenn 1. dem Teilbaum mindestens zwei Einstellungen als content portions zugeordnet sind, Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 265 2. das vereinigte Raumurbild aller zugehörigen Einstellungen von allen B B unter Bezug auf das abgebildete Urbild als zusammenhängend konzeptionalisiert werden kann, 3. die Vereinigung der in den zugehörigen Einstellungen denotierten Zeiten von keinem B B als zusammenhängend konzeptionalisiert werden kann, 4. ein Layoutprozess existiert, so dass die durch ihn erzeugte Reihenfolge der Einstellungen und der zeitliche Ablauf im Urbild von allen B B als homomorph etabliert werden kann, 5. in D keine weitere Einstellung, die die 2., 3. und 4. Anforderung erfüllt, einem basic logical object außerhalb des Teilbaums zugeordnet ist. Diese Definition ist insofern raumzeitlich streng, als sie es beispielsweise nicht erlaubt, eine filmische Darstellung des Eintrittes in ein Restaurant und das Platznehmen an einem Tisch in zwei Einstellungen als Sequenz zu klassifizieren, wenn der räumliche Zusammenhang für einen Beobachter nicht durch eine Kette von räumlichen Ankern (auf dem Weg zum Tisch) erkennbar ist. Minimal kann man für solche Situationen fordern, dass aus allen Einstellungen einer Sequenz Paare mit wiederidentifizierbaren räumlichen Ankern so gebildet werden können, dass insgesamt die Aufnahmen als Messungen eines zusammenhängenden Raumes konzeptionalisiert werden können. Dabei kann eine Sequenz zwischen den einzelnen “Zeitsprüngen” natürlich eine ganze Szene enthalten. Wir haben in Schmidt, Strauch (2002) für den narrativen Fall (in Abweichung von Metz) begründet, dass die Syntagmen Planszene, Szene und Sequenz als basale Syntagmen zur Klassifikation von “einfachen” cinematographischen Dokumenten vollkommen ausreichend sind: (10) Ein (cinematographisch) basales Syntagma ist entweder eine Planszene oder eine Szene oder eine Sequenz. (11) Ein ganzes cinematographisches Dokument ist für einen Beobachtermenge B narrativ basal, wenn es nur aus basalen Syntagmen besteht. In vielen medialen Nutzungsformen von Bewegtbilddaten ist die Erzeugung narrativ basaler Dokumente durch ausschließliche Verwendung von Planszene, Szene oder Sequenz die einzig zulässige “Erzählform”: etwa in Videoüberwachungsprotokollen einer Raumeinheit, wo ohne Montage Ereignisse (ggf. stückweise) mitgeschnitten werden. Die narrative Trivialität eines solchen Dokumentes rührt daher, dass hier nur die Raumzeit Zusammenhangsbedingungen liefert und unterhalb der document logical root nur eine Ebene von composite logical objects erforderlich ist. Komplexere narrativen Einheiten, die wir nun behandeln, ergeben sich dagegen nur durch Hierarchisierung zu narrativen Folgen 15 . 5. Narrative Hierarchisierung Wird eine zweite Montageebene konzeptionalisiert, verlassen wir für den narrativen Fall den Bereich der obigen basalen Syntagmen, wie es in der folgenden Graphik mit einer einpunktigen zweiten Montageebene unterhalb der Wurzel des Dokumentes und einer zwei- Karl-Heinrich Schmidt 266 Fig. 8 punktigen ersten Montageebene skizziert ist (diese logische Struktur kommt in unseren empirischen Analysen noch vor (s.u.)): Damit auch die zweite Montageebene syntagmatisch für eine Beobachtermenge B als chronologisch aufgefasst werden kann, bedarf es einer minimalen zeitlichen Ordnung zwischen den sie konstituierenden Syntagmen der ersten Montageebene. Für die weitere Analyse halten wir daher zunächst fest: (12) Für die syntagmatische Klassifikation eines Teilbaumes der logischen Struktur in einem cinematographischen Dokument D für eine Beobachtermenge B als narrative Folge (erster Ordnung) gilt notwendig, dass • die Wurzel dieses Teilbaumes mindestens zwei logische Objekte als Nachfolger enthält, • all diese Nachfolger sich von B als basale Syntagmen klassifizieren lassen, • in jedem der zu diesen Nachfolgern gehörigen Segmente eine Einstellung existiert, die für B ein zeitliches Verhältnis zu mindestens einer Einstellung in mindestens einem der anderen zugehörigen Segment hat und • zwischen allen zu diesen Nachfolgern gehörigen Segmenten von B paarweise kein räumlicher Zusammenhang konzeptionalisiert werden kann. In Fig. 8 ist die Wurzel des in (12) angesprochenen Teilbaums der einzige Knoten der zweiten Montageebene. Grundsätzlich sind die ersten beiden Bedingungen offenkundig notwendig; die dritte Bedingung stellt sicher, dass wir es überhaupt mit einer chronologischen Struktur zu tun haben; die vierte Bedingung verhindert eine Fehlklassifikation eines basalen Syntagmas als narrative Folge. Diese Anforderungen liefern für narrative Analysen eine genügend große Basis. Dies gilt insbesondere für die zeitliche Relationierung: Da alle in einer narrativen Folge eingebetteten basalen Syntagmen (Planszene, Szene oder Sequenz) die zugehörigen Segmente einer totalen zeitlichen Ordnung unterwerfen, stellt sich die Frage, welches zeitliche Verhältnis diese ihrerseits zueinander haben. Zwei Extremfälle sind denkbar: • in all diesen Segmenten gibt es jeweils überhaupt nur eine Einstellung, die ein zeitliches Verhältnis zu einer Einstellung außerhalb des “Heimsegmentes” aufweist; • alle Einstellungen aus all diesen Segmenten lassen sich (ggf. “perlschnurartig”) in eine zeitliche Ordnung bringen. Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 267 Nur im zweiten Fall haben wir es sicher mit einer monochronologischen Struktur zu tun, auf die wir uns im weiteren beschränken. Empirisch können wir oft problemlos narrative Folgen abgrenzen. Es muss für menschliche Beobachter also narrative Zusammenhangsbedingungen analog zum Raumzeitkontinuum in einer Szene geben, die uns diese Abgrenzung problemlos gestattet. Die Klassifikation solcher über die Raumzeit hinausgehenden narrativen Invarianten ist natürlich kein spezifisch filmwissenschaftliches Problem und fällt nicht allein in die klassifikatorische Arbeit einer Filmsyntagmatik; sie ist aber eine für dieses Darstellungsmedium besonders anschaulich zu machende Aufgabe, die auch empirisch angegangen werden kann. Empirisch fassbar werden solche narrativen, aber nicht raumzeitlichen Zusammenhangsbildungen insbesondere in Repräsentationen, die in der Erzählung auf räumlichen Zusammenhang verzichten können, z.B. in telefonischen Dialogsituationen. Ein filmischer Dialog ohne räumliche Kopräsenz der Interaktanten erfordert ein monochronologisches Syntagma vom Typ “Wechsel des Ortes bei weiterlaufender Zeit”. Bei Metz ist das ‘alternierte Syntagma’ die Kategorie, mit der die Repräsentation zweier oder mehr distinkter Abfolgen an verschiedenen Orten klassifiziert wird (cf. Metz (1972, 176)). Wir entwickeln nun die für solche Situationen geeignete syntagmatische Analyse in zwei Schritten: Zunächst erfolgt eine Explikation der Metz’schen Theoriebildung, die sehr an Dialogsituationen orientiert ist; dann verallgemeinern wir diese. 6. Polyspatiale Narration: Explikation des Metz’schen Ansatzes Metz führt sein ‘alterniertes Syntagma’ mittels des klassischen Beispiels des Telefongesprächs ein. Wir untersuchen nun dieses Beispiel und ziehen dann die notwendigen klassifikatorischen Konsequenzen. Typischerweise beinhaltet eine Telefongesprächssituation mit mindestens zwei Teilnehmern zwei zusammenhängende Raumgebiete. Die filmische Wiedergabe von Telefongesprächssituationen ist nach Metz auf vierfache Art und Weise möglich in: einer Sequenz: sie wird selten benutzt, denn dann wird die Unterhaltung selbst verstümmelt. einer Szene ohne Einfügungen: nur einer der Gesprächspartner erscheint auf der Leinwand… einer Szene mit Einfügungen: in eine Szene, die um einen Partner zentriert ist, werden separate Einstellungen mit dem anderen eingeblendet… einem alternierten Syntagma: die Einstellungen mit den beiden Gesprächspartnern werden in gleich langen oder verschieden langen Serien kombiniert. 16 Grundsätzlich ist hier zunächst zu beachten, dass Metz bei den ersten drei Fällen andere Definitionen benutzt. Diese drei Fälle sind aber kompatibel mit den oben definierten basalen Syntagmen: Entscheidend für die obigen ersten drei Fälle ist allein die Annahme zusammenhängender Raum-Zeit-Gebiete, die nur im Falle der Sequenz in mehrere zeitliche Zusammenhangskomponenten zerfallen dürfen. (Die Einfügungen in der zweiten und dritten Alternative sind die in Abschnitt 2 angesprochenen Metz’schen Einfügungen, die wir - wie gesagt - nicht behandeln.) Was ist aber mit dem vierten Fall der filmischen Repräsentationsmöglichkeiten für Telefongespräche? Bei klarer Zerlegung in Turns hat man es bei zwei Teilnehmern mit mindestens zwei Sequenzen zur Abbildung der beiden Äußerungssituationen zu tun. Liegen Karl-Heinrich Schmidt 268 genau zwei Sequenzen vor, ändert sich der räumliche Zusammenhang der Äußerungssituationen nicht (Wird von mobilen Endgeräten aus telefoniert, können sich schnell mehrere Sequenzen und Szenen ergeben.). Ihre Aggregation führt zunächst zu einem Spezialfall der narrativen Folge. Nichts hält uns nun davon ab, diese bipartite Struktur auf eine Telefonkonferenz mit n N Teilnehmern zu verallgemeinern. Allgemein können wir für n N eine aus n Sequenzen konstituierte narrative Folge zunächst als n-partiten Graphen mit der Menge der Einstellungen als Punktmenge und einigen zusätzlichen Eigenschaften auffassen und definieren: (13) Ein Teilbaum der logischen Struktur in einem cinematographischen Dokument D ist syntgagmatisch für eine Beobachtermenge B sequentiell (B,n)-partit, wenn 1. dem Teilbaum mindestens vier Einstellungen als content portions zugeordnet sind; 2. für die Menge M T der vorhandenen (mindestens vier) Einstellungen des zugehörigen Segmentes sich eine Partition P finden lässt, so dass M T sich in n 2 Mengen von Einstellungen M 1 ,…, M n mit jeweils mindestens zwei Elementen partitionieren lässt; 3. jeder dieser partitionierenden Mengen M i , 1 i n, sich einer Sequenz zuordnen lässt; 4. in jeder partitionierenden Menge M i , 1 i n, sich eine Einstellung findet, die für B ein zeitliches Verhältnis zu mindestens einer Einstellung außerhalb dieser Menge hat. Die erste Bedingung ergibt sich aus der zweiten und dritten und ist zur Verdeutlichung eingefügt worden. Die zweite und dritte Bedingung sind gemeinsam restriktiv: Sie greifen formal nicht, wenn in einer partitionierenden Menge nur eine Planszene oder eine Szene vorliegt. Dies schließt empirisch filmische Repräsentationen von Dialogen aus, in denen ein ganzer alternierender Teilstrang als Szene oder Planszene klassifiziert werden muss. Die vierte Bedingung rührt daher, dass die Definition sich in den ersten drei Punkten auch auf Beispiele für zwei Mengen von Einstellungen anwenden lässt, die Metz als Fälle des (achronologischen und darum von uns hier nicht behandelten) “parallelen Syntagmas” behandelt 17 . Die vierte Bedingung ist ferner die einzige Bedingung, die inhaltlich dafür Sorge trägt, dass auch zwischen den einzelnen partitionierenden Mengen eine (schwache) zeitliche Relation besteht und eine einzelne Narration überhaupt entwickelt werden kann 18 . Grundsätzlich lässt sich die Beschränkung auf Sequenzen in der obigen Definition natürlich aufgeben. Syntagmatisch allgemein kann jeder logische Teilbaum untersucht werden hinsichtlich seiner vollständigen Zerlegbarkeit in syntagmatisch untergeordnete Strukturen bei Verwendung der folgenden Definition: (14) Ein Teilbaum der logischen Struktur in einem cinematographischen Dokument D ist syntagmatisch für eine Beobachtermenge B unter den Syntagmen S (B,n)-partit oder (S, B, n)-partit, wenn 1. dem Teilbaum mindestens zwei Einstellungen als content portions zugeordnet sind; 2. für die Menge M T der vorhandenen Einstellungen des zugehörigen Segmentes sich eine Partition P finden lässt, so dass M T sich in n 2 nichtleere Mengen von Einstellungen M 1 ,…, M n partitionieren lässt; Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 269 3. jeder dieser partitionierenden Mengen M i , 1 i n, ein Syntagma aus S zugeordnet werden kann. Für unsere weiteren Analysen polyspatialer Alternanz ist nun den Fall auszuzeichnen, dass eine Partition auch zu einer räumlichen Zerlegung mit den basalen Syntagmen gemäß (10) führt, also S={Planszene, Szene, Sequenz} gilt. Dann ergibt sich: (15) Ein Teilbaum der logischen Struktur in einem cinematographischen Dokument D ist für eine Beobachtermenge B räumlich (B,n)-partit, wenn er für B unter den Syntagmen S mit S = {Planszene, Szene, Sequenz} (B,n)-partit ist. Der Fall, dass ein Teilbaum für eine Beobachtermenge B räumlich (B,n)-partit ist, also jeder der partitionierenden Mengen M i , 1 i n, sich syntagmatisch nur eine Planszene oder Szene oder Sequenz zuordnen lässt, ist im weiteren der entscheidende. Wir bezeichnen daher abkürzend eine räumlich (B, n)-partite Folge auch als n-partite Folge und eine räumlich (B, 2)-partite Folge auch als bipartite Folge, wenn die Beobachtermenge B nicht explizit gemacht werden muss. Besteht zudem ein minimales zeitliches Verhältnis zwischen den zugehörigen Segmenten, ergibt sich als Reformulierung von (3): (16) Für die syntagmatische Klassifikation eines Teilbaumes der logischen Struktur in einem cinematographischen Dokument D für eine Beobachtermenge B als narrative Folge (erster Ordnung) gilt notwendig, dass 1. der Teilbaum räumlich (B,n)-partit für ein n 2 ist; 2. in jeder partitionierenden Menge M i , 1 i n, sich eine Einstellung findet, die für B ein zeitliches Verhältnis zu mindestens einer Einstellung in einem M j , i j, 1 i, j n hat. Betrachtet man die obigen Definitionen, so ist unser empirischer Ausgangspunkt des Dialoges in den Hintergrund getreten: Das Syntagma der (B,n)-partiten Folge ist nicht dialogspezifisch; es ist genauso anwendbar z.B. auf eine Repräsentation von Verfolgungsjagden, die abwechselnd Verfolger und Verfolgte zeigt (auch Metz hat solche Repräsentationen als alternierend klassifiziert). In Erweiterung des Beispiels der Verfolgungsjagd denken wir uns für ein cinematographisches Dokument die folgende Aufnahmesituation: In einem Rundkurs für Radrennen seien n Kameras (der Einfachheit halber) so positioniert, dass keine zwei ein gemeinsames Urbild haben. Das aus dieser Aufnahmesituation hervorgegangene Dokument zeige stets eine Messung genau einer der Kameras. Es gebe ferner keine Kamera, von der gar kein Inhaltsstück gezeigt werde. Das erzeugte Dokument ist syntagmatisch potentiell n-partit: Gemäß der zweiten und dritten Forderung muss jede Kamera wenigstens eine content portion erzeugen, welche in das Dokument aufgenommen wird. Gibt es ferner für jeden Zeitpunkt eines zugrundegelegten Abschnittes einer Weltzeit eine bildliche Repräsentation im Dokument, ist es bei jedem Kamerawechsel erlaubt, von “Wechsel des Ortes bei weiterlaufender Zeit” zu sprechen. Liegt nur ein Start-Ziel-Rennen (evtl. noch mit räumlich getrenntem Start und Ziel) vor, möchte man bei geschlossenem Feld an verschiedenen Kamerastandpunkten i.a. einen Stand des Rennens als Itinerar dokumentieren; insbesondere ist das Hin- und Herschalten zwischen Karl-Heinrich Schmidt 270 einzelnen Kameras gar nicht erforderlich. Strukturell ist eine solche Repräsentation natürlich nicht alternierend: Der Beobachter muss keine alternierende Relationierung zwischen Einstellungen erkennen. Werden auf dem Kurs dagegen mehrere Runden gefahren, ergibt sich im allgemeinen problemlos eine polyspatial alternierende Struktur, die wir nun untersuchen. 7. Polyspatiale Alternanz Für die weitere syntagmatische Analyse ist es nötig, ein universelles Raumzeiturbild “Space- Time” anzunehmen, das erstens als Modell des Urbildes filmischer Messungen funktioniert und zweitens von Beobachtern referiert werden kann 19 . Detaillierte Fragen der kognitiven Adäquatheit von SpaceTime können für unsere definitorischen Zweck allerdings unentschieden bleiben. Es genügt für das weitere, ein direktes Produkt eines (z.B. euklidischen) R3 und eines Messraumes Time anzunehmen 20 . Für den Fall der polyspatialen Alternanz mit zunächst zwei verschiedenen Raumumgebungen SpaceTime 1 SpaceTime und SpaceTime 2 SpaceTime und SpaceTime 1 SpaceTime 2 = legen wir beispielhaft eine Einstellungsfolge als eine mögliche Layoutierung des Dokuments zugrunde, das in Fig. 8 in seiner logischen Struktur repräsentiert wurde. Diese Einstellungsfolge lässt sich wie folgt als zweispaltige Tabelle mit den jeweiligen (aufeinander folgenden und deshalb durchnummerierten) Einstellungen als Zelleninhalt darstellen: SpaceTime 1 SpaceTime 2 T 1 T 2 T 3 T 4 T 5 T 6 T 7 T 8 Fig. 9 Wir sehen 3 Einstellungsgruppen für SpaceTime 1 und 3 Einstellungsgruppen für SpaceTime 2 und nehmen ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass der Film entlang der vorgenommenen Nummerierung läuft: dass also nur die Wechsel von T 1 nach T 2 , von T 3 nach T 4 , von T 5 nach T 6 , von T 6 nach T 7 und von dort nach T 8 als letztem Wechsel 21 dargestellt werden und dies in der Reihenfolge der Nummerierung geschieht. Jegliches Kriterium, das einen räumlichen Zusammenhang voraussetzt, ist für diese Wechsel als Zusammenhangskriterium ausgeschlossen. Da wir aber für den filmischen Layoutprozess nur einen Ausgabestrom unterstellen (cf. Abschnitt 2), sind diese mit einem Layoutprozess festgelegten “Raumsprünge” zwischen benachbarten Einstellungen aus unterschiedlichen Raumzeitumgebungen für das Verständnis des alternierenden Falles entscheidend. Grundsätzlich kann für diese “Raumsprünge” aus jeder räumlich (B,n)-partiten Folge für ein vorgegebenes Layout L ein n-partiter Wechselgraph Alt L (V,E) erzeugt werden, der die Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 271 Alternanz wie folgt repräsentiert: Die Knoten V=V(Alt L ) bestehen aus der Menge aller Einstellungen; die Kanten E=E(Alt L ) bestehen aus den im Layout L benachbarten Einstellungspaaren (T i ,T j ) mit T i M i und T j M j aus verschiedenen Partitionsmengen M i und M j , 1 i n(P), i j. In Alt L sind damit alle “Raumsprünge” repräsentiert. In Fig. 9 ist dieser Graph bipartit und muss “inhaltlich” von Beobachtern konzeptionalisiert werden können. Dies kann nur durch eine Relation im Beobachterwissen von B geschehen, deren Träger (aus Labeln) für in den Einstellungen sichtbaren oder schätzbaren Objekten besteht, aber selbst in B keine Konzeption eines räumlichen Zusammenhangs gestattet. Für das bipartite Telefonszenario ist dies z.B. eine zweistellige Relation “Telefoniert(A,B)”, wobei A nur in SpaceTime 1 und B nur in SpaceTime 2 zu sehen ist. Konzeptionalisierung der Alternanz heißt dann, dass für die Wechselpaare E(Alt L ) = {(T 1 ,T 2 ), (T 3 ,T 4 ), (T 5 ,T 6 ), (T 6 ,T 7 ) und (T 7 ,T 8 )} dieselbe Relation “Telefoniert(A,B)” im Beobachterwissen von B erzeugt wird 22 und SpaceTime 1 SpaceTime 2 nicht als zusammenhängend konzeptionalisisiert werden. Grundsätzlich verlangen wir, dass die erzeugte Relation symmetrisch ist oder symmetrisiert werden kann (, so dass aus “Verfolgt (A,B)” dann “Verfolgt_v_WirdVerfolgt (A,B)” in der natürlichen Lesart wird). Ferner bedarf es definitorisch mindestens dreier Wechsel, wenn eine alternierende Struktur zugrundeliegen soll. Dies hat auch “psychologische” Plausibilität: Eine Instanziierung ist mindestens erforderlich, um als Beobachter überhaupt (minimal durch “single instance generalization”) generalisieren zu können, um welche Relation es überhaupt geht (für das Telefonbeispiel: “Aha, A und B telefonieren”). Die angenommene Relation muss aber auch bestätigend über das ganze Segment, das als alternierend klassifiziert werden soll, “hinweg” gehen, damit der Beobachter seine eigene Generalisierung bestätigen und überhaupt von einer Alternanz gesprochen werden kann 23 . In dem obigen bipartiten Fall ist für einen Beobachter also eine Alternanz konzeptionalisierbar, wenn zu seinem Beobachterwissen 24 eine zweistellige Relation R gehört, die (in erster Näherung) folgende Eigenschaften erfüllt: (i) R hat als Träger Objekte aus SpaceTime 1 x SpaceTime 2 ; (ii) Für ein vorgegebenes Layout L lässt sich R etablieren über alle layoutierten Wechsel (T,T’) Alt L (V,E), also im Beispiel für jede Kante aus Alt L (V,E)=({T i | 1 i 8}, {(T 1 ,T 2 ), (T 3 ,T 4 ), (T 5 ,T 6 ), (T 6 ,T 7 ) und (T 7 ,T 8 )}; (iii) R ist symmetrisch oder im Beobachterwissen von B existiert eine weitere Relation R’ mit den Eigenschaften (i)-(ii), so dass die disjunktive Relation R_v_R’ symmetrisch ist. (iv) SpaceTime 1 und SpaceTime 2 werden von B nicht als räumlich zusammenhängend konzeptionalisiert. Mit der Formulierung “R hat als Träger Objekte aus SpaceTime 1 x SpaceTime 2 ” haben wir noch nicht festgelegt, wie genau R syntagmatisch relevant auf die Filmdaten und deren Urbild bezogen wird. Die explizite Einbeziehung des Urbildes der dargestellten Objekte ist erforderlich, um auch Relationen zuzulassen, die an Objekte gebunden werden, die im raumzeitlichen Urbild vom Beobachter geschätzt werden können, aber nicht (etwa wegen Verdeckung) abgebildet werden. Ein Beispiel wäre ein in einigen Einstellungen verdeckter Verfolger, der hinter einer dargestellten Tür steht und über mehrere alternierende Einstellungen “Darstellung der Tür” und “Darstellung des Opfers” auf sein Opfer wartet. Um dies auszuformulieren, benötigen wir die folgenden zwei Dinge: Karl-Heinrich Schmidt 272 (a) Grundsätzlich setzen Beobachter (eine Teilmenge von) SpaceTime als Urbildraum zwar voraus, aber nur vor dem Hintergrund der von ihnen vergebbaren Label, die die beobachteten und konzeptionalisierbaren Objekte benennen (“Hinter der Holztür steht der Verfolger aus der vorhergehenden Einstellung”). Wir benötigen also eine (i.a. partielle) Relation B , mit der eine Beobachtermenge B raumzeitlichen Punkten des Urbildes einen Namen aus einer ihr zur Verfügung stehenden Labelmenge N B zuordnet, also B : SpaceTime N B (x,t) ( x, t) Diese Relation beschreibt ohne besondere Spezialisierung auf irgendeine Raumzeitdomäne für eine Beobachtermenge B, zu welcher von ihr zu konzeptionalisierenden Zeit an welchem Ort sich ein für sie benennbares Objekt befindet. Insbesondere ist B -1 (N B ) der von einer Beobachtermenge (umgangsprachlich) “namentlich ausleuchtbare” Bereich eines raumzeitlichen Urbildes, also das, was eine Beobachtermenge in SpaceTime referieren kann. (b) Dieses raumzeitliche Urbild muss auch cinematographisch messbar sein, um entsprechende content portions zu erzeugen. Dazu bedarf es einer (i.a. partiellen) Abbildung S in den cinematographischen Datenraum DS eines cinematographischen Sensors S: S: SpaceTime D S (x,t) S(x, t) Der Durchschnitt S -1 B -1 (N B ) umfasst das ganze filmisch messbare und zugleich von B benennbare Raumzeitgebiet, also den filmisch repräsentierbaren Bereich, über den man in B (im Prinzip) reden kann und nicht schweigen muss. Für jede (unter S) tatsächlich erzeugte Einstellung T betrachten wir nun das Urbild T -1 in SpaceTime. Jeder Beobachter B aus der Beobachtermenge B konzeptionalisiert dieses Urbild in SpaceTime unter Umständen auf für ihn eigentümliche Weise. Wir bezeichnen diese Konzeptionalisierung für einen Beobachter zunächst mit Con SpaceTime (T -1 , B), B B. Eine Einzelkonzeptionalisierung ist nur dann “akzeptabel”, wenn sie in S -1 B -1 (N B ) enthalten ist. Darüber hinaus darf die Eigentümlichkeit der Einzelbeobachter auch sozial nicht zu weit getrieben werden. Es bedarf einer genügend großen Gemeinsamkeit bei der Konzeptionalisierung eines Urbildes. Das gemeinsame, von allen B B konzeptionalisierte Urbild approximieren wir, indem wir den Durchschnitt aller Einzelkonzeptionalisierungen B B Con SpaceTime (T -1 , B) bilden. Abkürzend bezeichnen wir diesen Durchschnitt mit SpaceTime(T -1 , B), also SpaceTime(T -1 , B): = B B Con SpaceTime (T i -1 , B). Dieser Durchschnitt ist erwartbar in allen sonstigen Approximierungen und natürlich in S -1 B -1 (N B ) enthalten. Für B B schreiben wir abkürzend auch SpaceTime(T -1 , B) statt SpaceTime(T -1 ,{B}). In Verallgemeinerung der obigen Bedingungen (i)-(iv) ist nun eine Neudefinition und Verallgemeinerung der Metz’schen Konzeption des “alternierten Syntagmas” möglich. Dabei geben wir die argumentative Beschränkung auf den bipartiten Fall auf und tragen das bisher Erarbeitete zusammen. Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 273 Zunächst ist zu berücksichtigen, dass von einer Alternanz erst für ein vorgegebenes Layout L mit zugehörigem Wechselgraph Alt L gesprochen werden kann. Alternanz bezieht sich zunächst nur auf Segmente. Alternante Segmente vom Typ “Wechsel des Ortes bei weiterlaufender Zeit” müssen erstens (ggf. streng) B-monochron sein, um die weiterlaufende Zeit abzudecken, und zweitens räumlich (B,n)-partit, um an n Orten polyspatial verankert zu sein. Ferner müssen in alternanten Segmenten geeignete Paare von Raumzeitkomponenten im Urbild der Einstellungen von der Beobachtermenge B relationiert werden können, um den von den Beobachtern notwendig konzeptionalisierten Zusammenhang zu konstituieren. Dieser Zusammenhang darf viertens keinesfalls räumlicher Natur sein. Schließlich müssen für eine “Alternanz” genügend viele layoutierte Wechsel (mindestens drei) von einer Partition zu den anderen da sein. Es ergibt sich also: (17) Ein Segment in einem cinematographischen Dokument D ist für einen gegebenen Layoutprozess L und eine Beobachtermenge B (L, B, n)-alternant, wenn 1. es B-monochron ist; 2. es räumlich (B,n)-partit mit Partitionsmengen M 1 ,…, M n(p) für eine Partition P ist; 3. es für je zwei Partitionsmengen M i und M j , 1 i, j n(P), für die überhaupt ein Paar (T,T’) E(Alt L ) mit T M i und T’ M j existiert, im gemeinsamen Beobachterwissen von B für alle (T,T’) E(Alt L ) mit T M i und T’ M j eine symmetrische Relation R ij SpaceTime(T -1 , B) x SpaceTime(T’ -1 , B) gibt; 4. für alle (T,T’) E(Alt L ) mit T M i und T’ M j , 1 i, j n(P) und für alle B B gilt: SpaceTime(T -1 , B) SpaceTime(T’ -1 , B) = ; 5. in der Darstellung des gemäß L layoutierten Filmdokumentes für jede partitionierende Menge M i zwischen dieser und einem anderen M j , i j, mindestens dreimal in Alt L gewechselt wird, also {(T,T’) | (T,T’) E(Alt L ) mit T M i oder T’ M i } 3 gilt. Ein Segment in einem cinematographischen Dokument D heiße abkürzend (B, n)-alternant, wenn der Layoutprozess L nicht explizit gemacht werden muss, n-alternant, wenn zusätzlich die Beobachtermenge nicht explizit gemacht werden muss. 8. Alternante Dramaturgien und das alternierbare Syntagma Dramaturgisch ist diese Definition (17) voller Möglichkeiten. Von diesen diskutieren wir drei Möglichkeiten beispielhaft, um die Definition griffig zu machen. Anschließend führen wir das alternierbare Syntagma ein. Von besonderem Interesse ist es, wenn dieselbe Relation über mehr als zwei Partitionsmengen hinweg gilt, für ein (L, B, n)-alternantes Segment sich also zwei Relationen R ij , R kl mit R ij = R kl für {i,j} {k,l} und 1 i, j,k,l n(P) finden. Der erste, unter (1) behandelte Fall führt oft zu dramaturgisch leitenden Partitionsmengen; der andere, unter (2) behandelte Fall erlaubt Alternanzen höherer Ordnung. Karl-Heinrich Schmidt 274 (1) Wenn an R ij und R kl genau drei Partitionsmengen beteiligt sind und damit eine “mittlere” Partitionsmenge an zwei Relationen beteiligt ist, gilt für ein R ij und R kl mit 1 i,j,k,l n(P) offenbar {i,j} {k,l} = 1 und R ij = R kl . Eine solche “mittlere” Partitionsmenge heiße “dramaturgisch leitend”. Für diesen Fall sei beispielhaft n=3 angenommen und zusätzlich eine Identität von sogar drei Relationen mit R 12 = R 23 = R 13 = Telefoniert(,). Dann sind die relationalen Bedingungen für eine klassische Telefonkonferenzsituation mit drei Teilnehmern erfüllt, die alle miteinander sprechen. Gilt dagegen im Falle n=3 mit R 12 = R 23 = Telefoniert(,) und R 13 Telefoniert(,), sind zwar auch drei Äußerungssituationen alternierend repräsentierbar, aber der Beobachter konzeptionalisiert hier kein Telefonat zwischen einem Teilnehmer im jeweiligen Urbild von M 1 und M 3 . Diese Situation ist beispielsweise dann gegeben, wenn der in M 2 repräsentierte Teilnehmer mit zwei Telefongeräten agiert und zwei Gespräche (“ggf. auf zwei Leitungen”) führt. Ein Beispiel hierfür findet sich in den empirischen Analysen von “Adieu Philippine” in Abschnitt 9. (2) Im zweiten Fall gibt es mindestens vier Partitionsmengen, von denen für zwei Paare dieselbe alternierende Relation konzeptionalisiert wird; es findet sich also ein R ij = R kl mit {i,j} {k,l} = 0 für 1 i,j,k,l n(P). Dies erlaubt dramaturgisch komplexe Gestaltungsmöglichkeiten. In einem fiktiven Drehbuch seien zwei miteinander telefonierende Ehepaare in vier verschiedenen Raumsituationen vorgesehen. In Erweiterung der Fig. 9 nehmen wir vier verschiedene Raumumgebungen SpaceTime i SpaceTime, 1 i, j 4, an und legen wie folgt in einer vierspaltigen Tabelle die gemäß einem Layoutprozess L erzeugte Ordnung der (aufeinander folgenden und deshalb durchnummerierten) Einstellungen fest: SpaceTime 1 SpaceTime 2 SpaceTime 3 SpaceTime 4 T 1 T 2 T 3 T 4 T 5 T 6 T 7 T 8 T 9 T 10 T 11 T 12 Fig. 10 Unser Beispielszenario der zwei miteinander telefonierenden Ehepaare könnte dann so aussehen, dass in SegPaar1 intro =(T 1 , T 2 ) die Gesprächseröffnung des ersten Paares, in Seg- Paar2 intro = (T 3 , T 4 ) die Gesprächseröffnung des zweiten Paares, in SegPaar1 finis = (T 5 , T 6 , T 7 , T 8 ) der Rest des ersten, in SegPaar2 finis = (T 9 , T 10 , T 11 , T 12 ) der Rest des zweiten Gesprächs repräsentiert sind. Aus der Definition des Segmentes gemäß (3) und Definition (17) folgt zunächst, dass das Segment SegPaar1 = (T 1 , T 2 , T 5 , T 6 , T 7 , T 8 ) und das Segment SegPaar2 = Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 275 (T 3 , T 4 , T 9 , T 10 , T 11 , T 12 ) für das obige L und B als (L, B, 2)-alternant klassifiziert werden können. An dieser Stelle öffnet sich das Fenster zu alternierenden Strukturen höherer Ordnung. Dazu sei das Drehbuch kurz weitergesponnen: In SpaceTime i werde jeweils ein Partner P i dargestellt, 1 i 4. P 1 und P 2 seien als Paar1 und P 3 und P 4 seien als Paar2 verheiratet; P 2 und P 3 hätten ein Verhältnis und erfänden in diesen Telefonaten Ausreden für die verspätete Heimkehr von einem Rendezvous… Diese Geschichte könnte erzählt werden, in dem zunächst SegPaar1 und dann SegPaar2 gezeigt wird. Die in Fig. 10 gewählte Montage in L erlaubt eine Alternanz höherer Ordnung auf ganzen Segmenten und kann Themen wie “eheliche Entfremdung” einerseits “kontrastiv”, andererseits “parallel” auf den Punkt bringen: SpaceTime 1 SpaceTime 2 SpaceTime 3 SpaceTime 4 SegPaar1 intro SegPaar2 intro SegPaar1 finis SegPaar2 finis Fig. 11 Unser fiktives Drehbuch könnte hier die Geschichte wie folgt weiterentwickeln: … Paar1 zeigt sich in SegPaar1genauso entfremdet wie Paar2 in SegPaar2. In Paar1 hat P 2 als Mann einen Ausbruch durch Beginn einer Affäre, in Paar2 parallel P 3 als Frau durch Einlassen auf eine Affäre gewagt. Entsprechend parallel fällt die jeweilige Begrüßung in SegPaar1 intro und SegPaar1 intro aus. Kontrastiv wird dann in SegPaar1 finis , und SegPaar2 finis ein gegensätzliches Verhalten der betroffenen Partner gezeigt … Die Analyse solcher Alternanzen höherer Ordnung auf Segmentebene (und nicht mehr auf Einstellungsebene) muss im Rahmen einer Analyse narrativer Folgen höherer als erster Ordnung erfolgen. Dies ist hier nicht unsere Aufgabe und muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben 25 . Insgesamt sehen wir aber, wie wesentlich der Layoutprozess bei der Konstruktion alternanter Strukturen ist. Dies gilt nicht nur für die Aggregation höherer Ordnungen oberhalb der Einstellungen, sondern auch für das layoutierende Weglassen von Einstellungen. Damit kommen wir zur Diskussion einer dritten und letzten Kategorie von Beispielen. (3) Gemäß Definition (17) sind auch Teilsegmente von (T 1 , T 2 , T 3 , T 4 , T 5 , T 6 , T 7 , T 8 , T 9 , T 10 , T 11 , T 12 ) für Teillayoutprozesse L’ (L’, B, n)-alternant. Das ist zum Beispiel für (T 1 , T 2 , T 3 , T 6 , T 7 , T 8 , T 9 ) der Fall: SpaceTime 1 SpaceTime 2 SpaceTime 3 T 1 T 2 T 3 T 6 T 7 T 8 T 9 Fig. 12 Karl-Heinrich Schmidt 276 In unserem ehelichen Beispielszenario würde dies zu einer 3-partiten Struktur und zum (vielleicht erwünschten (s.o.)) Wegfall eines Ehepartners führen. Die fünfte Bedingung in Definition (17) erzwingt hier allerdings noch eine Relation R 13 oder R 23 . Bei einer rein bildgrammatischen Analyse ohne Ton könnte tatsächlich eine Telefonsituation mit drei Teilnehmern, also wieder mit R 13 =Telefoniert(,) oder R 23 =Telefoniert(,) konzeptionalisiert werden, da in SpaceTime 3 ja auf jeden Fall telefoniert wurde (allerdings mit einem nun nicht mehr sichtbaren Partner). Entscheidend ist in allen drei Beispieltypen der Layoutprozess und dessen Festlegung von Alt L . Darum muss (mit Definition (17)) zunächst eine Begriffsbildung für Segmente erfolgen - im Unterschied zu den basalen Syntagmen, wo die Forderung der Existenz eines geeigneten Layoutprozesses reichte und sofort Syntagmen für die logische Struktur eines Dokumentes definiert werden konnten. Eine solche Definition für die logische Struktur fehlt nun noch für alternante Strukturen. Wir legen abschließend fest: (18) Ein Teilbaum der logischen Struktur in einem cinematographischen Dokument D ist syntagmatisch für eine Beobachtermenge B (B, n)-alternierbar, wenn es einen Layoutprozess L gibt, der ein zugehöriges (L, B, n)-alternantes Segment erzeugt. Wir bezeichnen eine (L, B, n)-alternierbare Struktur abkürzend als n-alternierbare Struktur und eine (L, B, 2)-alternierbare Struktur abkürzend als alternierbare Struktur, wenn die Beobachtermenge B und der Layoutprozess L nicht explizit gemacht werden müssen. Die alternierbare Strukur ist der begriffliche Nachfolger des Metz’schen “alternierten Syntagmas”. 9. Empirische Analysen: Segmente aus “Adieu Philippine” und aus “Tucker” Wir wollen nun Filmdaten behandeln und sind damit bei empirischen Untersuchungen angelangt. Wir beginnen bei den empirischen Analysen mit einem filmwissenschaftlichen Klassiker syntagmatischer Untersuchungen: “Adieu Philippine” von Jacques Rozier. Den Film “Adieu Philippine” hat Metz komplett analysiert in Metz (1972, p. 199ff); eine (bis auf definierte Ausnahmen) komplette Neuanalyse findet in sich (Schmidt, Strauch 2002). Die Nummerierung der Segmente ist dort auch nachzuschlagen: Inhaltlich geht es um eine Dreiecksgeschichte zwischen zwei jungen Frauen (Liliane und Juliette) und einem jungen Mann (Michel) in Frankreich zur Zeit des Algerienkrieges. Wir untersuchen die Segmente 19-24 im Stück, um die empirische Fruchtbarkeit der obigen Definitionen in einem größeren filmischen Zusammenhang zu zeigen. Darauf behandeln wir ein Segment aus dem Film “Tucker”, ein Film von Francis Ford Coppola. In diesem Segment gibt es so etwas wie einen “syntagmatischen Scherz”. 9.1 Die Dialoge in den Segmenten 19 und 20 aus “Adieu Philippine” In dem von Metz paradigmatisch analysierten Film Adieu Philippine gibt es in Segment 19 und in Segment 20 eine alternierende Struktur - durch Telefonate des Protagonisten Michel mit den beiden jungen Frauen Liliane und Juliette, die er beide umwirbt. Auf der untersten Ebene sehen wir eine Folge von zunächst zwei einleitenden Planszenen und zwei anschließenden Sequenzen, die alternierend dargestellt werden. In der ersten Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 277 Planszene sehen wir eine ältere Frau (vermutlich die Mutter von Juliette), wie sie in einem Treppenhaus laut “Juliette” ruft; in einer zweiten Planszene ohne erkennbare räumlichen Überlappung mit der ersten Planszene spricht jene Frau am Telefon mit Michel, um ihm mitzuteilen, dass Juliette nicht da sei. Dann kommen zwei Sequenzen, die ein zweites Telefonat von Michel diesmal mit Liliane zeigen, in dem sich beide miteinander verabreden: Juliette: SpaceTime 1 Juliette: SpaceTime 2 Michel: SpaceTime 3 Liliane: SpaceTime 4 T 1 T 2 T 3 T 4 T 5 T 6 T 7 T 8 T 9 Fig. 13 Die beiden Sequenzen (T 3 , T 5 , T 7 , T 9 ) und (T 4 , T 6 , T 8 ) sind auf jeden Fall als alternierende Folge Seg Liliane =(T 3 , T 4 , T 5 , T 6 , T 7 , T 8 , T 9 ) narrativ integriert im Sinne von (16). Ein Zusammenhang zwischen den ersten beiden Planszenen Seg Juliette = (T 1 ,T 2 ) kann ferner durch eine Beobachterleistung konstituiert werden, die einen nicht im Signal sichtbaren räumlichen Zusammenhang über eine Bewegung im Filmbild schätzt (darum zwei Planszenen und nicht eine Szene). Was fügt Seg Juliette aber mit Seg Liliane so zusammen, dass wir als Beobachter die ganze 4partite Struktur als eine Einheit ansehen? Entscheidend dafür ist T 3 .Wir sehen in dieser Einstellung nur, dass das Telefonat aus Seg Juliette von Michel beendet wird, also R 23 = Telefoniert(Mutter(Juliette), Michel) gilt - und können damit schließen, dass der Ruf der Mutter nach Juliette in T 1 durch den Anruf von Michel veranlasst wurde. In T 3 sehen wir allerdings nicht den Wählvorgang für das nächste Telefonat, so dass man zunächst (T 1 ,T 2 , T 3 ) als zu klassifizierendes Segment und (T 4 , T 5 , T 6 , T 7 , T 8 , T 9 ) als zweites (alternierendes) Segment auffassen könnte. Dem widerspricht aber unsere Maximalitätsanforderung an Sequenzen: Wenn T 5 , T 7 , T 9 zu einer alternierenden Folge gehören, dann auch T 3 . Also liegt eine Fusion vor. Wir schließen, dass Michel unmittelbar nach dem ersten Telefonat ein zweites eröffnet hat, da wir in (T 3 , T 5 , T 7 , T 9 ) dieselbe raumzeitliche Umgebung konzeptionalisieren. Diese Fusion leitet auf Einstellungsebene dramaturgisch sehr schön die Konzeptionalisierung von (T 3 , T 5 , T 7 , T 9 ) als “mittlere Sequenz” mit R 23 = R 34 = Telefoniert(,) ein. Diese ist damit das Rückgrat der Narration in der ganzen Folge (T 1 …, T 9 ), in der über R 23 = R 34 = Telefoniert(,) die anderen Einstellungen an (T 3 , T 5 , T 7 , T 9 ) gebunden werden. 9.2 Das Itinerar im Segment 21 aus “Adieu Philippine” Das anschließende Segment 21 (bei Metz unter cineastischem Gesichtspunkt sehr gelobt, aber leider auch fehlklassifiziert (cf. Schmidt, Strauch (2002, 95)) zeigt Liliane und Juliette nach langem Schwarzbild ohne diegetischen Ton auf einem Weg durch eine Pariser Einkaufsstraße, Karl-Heinrich Schmidt 278 der ziemlich lange dauert und nach heutigen Maßstäben eher als Musikvideo angelegt ist 26 . Dieser Weg endet in einer Telefonzelle, von der aus Michel von beiden angerufen und auch erreicht wird. Zwei weitere Einstellungen mit dieser Telefonzelle gehören bei Metz zu einem neuen Segment 23(! ), das in das Segment 22 (s.u.) eingeschnitten wird. Das ist syntagmatisch unbefriedigend, da damit etwas auseinandergerissen wird, was sogar raumzeitlich zusammengehört. Unsere Definitionen erlauben es dagegen, Segment 21 syntagmatisch als Szene und die Metz’schen Segmente 21 und 23 gemeinsam syntagmatisch als Sequenz (und sogar die Segmente 21 bis 24 gemeinsam als alternierbare Struktur (s.u.)) zu klassifizieren: Aus der Szene (Segment 21) gehen die beiden Mädchen “heraus” in einen sequentiell repräsentierten Telefonhalbstrang (Segment 22), der wiederum gemeinsam mit dessen Widerpart des sequentiell repräsentierten Michel (Segment 23) eine komplexe 3-alternierbare Struktur erzeugt, die insgesamt schließlich durch Eröffnung eines weiteren Telefonats (Segment 24) aus drei partitionierenden Mengen besteht. Dazu folgt nun die Detailanalyse. 9.3 Die Dialoge in den Segmenten 22 bis 24 aus “Adieu Philippine” Metz zerlegt diesen ganzen Komplex in eine Szene (Segment 22), welche durch Einfügungen (Segment 23(s.o.)) unterbrochen wird, und in ein alterniertes Syntagma (Segment 24). Inhaltlich stellen sich die Segmente 22 und 23 wie folgt dar: Wir sehen in eine TV-Regie hinein, in der jemand am Mischpult arbeitet. Dieser nimmt ein Telefongespräch an. Dann sehen wir den Mann am Mischpult, wie er das Telefongespräch an Michel weitergibt, ihn aber auffordert, dieses an einem separaten Apparat in einer Nische zu führen. Jetzt sehen wir erneut die beiden Mädchen Liliane und Juliette in der Telefonzelle, können aber von dem, was sie sagen, nichts hören, denn die Aufnahmeapparatur befindet sich außerhalb der Zelle. Die nächste Einstellung zeigt Michel, im Hintergrund der Regie telefonierend. Nun wird auf Michel halbnah, dann wieder auf die Mädchen und zum Schluss wieder auf Michel geschnitten. Für das Geschehen innerhalb der Regie bis zum ersten Umschnitt in die Telefonzelle liegt eine konzeptionalisierbare Einheit von Raum und Zeit vor. Erst der Umschnitt in die Telefonzelle unterbricht die Zeitkontinuität. Daher haben wir es syntagmatisch bei allem, was sich im Regieraum abspielt, mit einer Sequenz zu tun. Auch die beiden Einstellungen mit der Telefonzelle sind (wie gesagt: letzter) Teil einer Sequenz. Beide Sequenzen werden auf der höheren Hierarchiestufe in einem alternanten Segment (Definition (17)) ineinander geschnitten. Die obige syntagmatische Klassifikation des Segmentes 19 und des Segmentes 20 und diese Klassifikation des Segmentes 22 und des Segmentes 23 lassen sich also zunächst zwanglos durch Hierarchisierung erledigen. Wenn wir uns nun dem Segment 24 zuwenden, verkompliziert sich das Ganze. Beschreiben wir zunächst einmal, was Metz im Segment 24 als ‘alterniertes Syntagma’ zusammenfasst. Wir sehen, wie Michel nach dem Telefonat mit den Mädchen selbst ein Telefongespräch einleitet. Ein kurzer Zwischenschnitt auf den Mann am Mischpult folgt, dann sind wir wieder bei Michel. Jetzt folgt ein Hin- und Herschneiden zwischen Michel und einem weiteren Protagonisten (einem Filmproduzenten namens Pachala), welchen wir in einer Großeinstellung sehen. Aus solch einer Einstellung wird schließlich in eine Totale von Pachalas Büro geschnitten, und wir sehen, wie im Hintergrund jemand den Raum betritt. Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 279 Fig. 14a Dann sind wir wieder im Regiegeschehen, um schließlich in einer Schuss-/ Gegenschusssituation einem Gespräch Pachalas mit einer Frau zu folgen. Die Analyse führt auch hier zu einer Hierarchisierung von Syntagmen, welche sich wie folgt syntagmatisch zusammenschließen: Alles, was sich im Regieraum, in der Telefonzelle und bei Pachala im Büro abspielt, sind jeweils Sequenzen. Die Sequenz in der Regie ist die dramaturgisch leitende, da nur über sie eine informationelle Verbindung zwischen den beiden anderen Sequenzen gegeben ist. Insgesamt stellt sich der Komplex 22-24 also als eine 3alternierbare Folge von drei partitionierenden Sequenzen dar, die aus einer Szene (Segment 21) herausentwickelt wird 27 . Diese Analyse zeigt, wie eine Hierarchisierung von Syntagmen zu einfachen Erklärungen führt. Bei uns ist sind Strukturen syntagmatisch alternierbar, die die basalen Syntagmen enthalten; bei Metz stehen alle Syntagmen klassifikatorisch gleichwertig nebeneinander, so dass eine Einstellung i.a. nicht zugleich einem “alternierten Syntagma” und z.B. einer Metz’schen Sequenz angehören kann. Für uns ist das kein Problem, so dass man hier aus einer Szene bildlich und syntagmatisch “herausgehen” und in einer Sequenz landen kann und mit einer Sequenz an eine alternierbare Struktur angebunden werden kann. 8.4 Ein Dialog aus “Tucker” Wir beschließen diese Analysen mit einem schon in Debatin, Wulff (1991, 132) mit anderer Absicht behandelten Segment aus dem Film “Tucker”. In diesem Segment wird in 9 Einstellungen ein Telefonat zwischen einem Mann und einer Frau gezeigt. In der ersten Einstellung T F1 sehen wir, wie beginnend bei Stern eine Frau von links aus einem Eingangsbereich in einen Raum hineingeht und etwa in der Mitte der durch einen Pfeil gekennzeichneten Trajektorie ein Telefon läutet, das sie dann etwa an der mit einem Gesicht markierten Stelle aufnimmt (eine Kamera bewegt sich während des ganzen Segmentes in dem mit “camera1” markierten Bereich): Damit wird ein Teil der Äußerungssituation der Frau für den nachfolgenden Telefondialog eingeführt. In einer zweiten Einstellung T M1 sehen wir den männlichen Gesprächspartner in einer eigenen räumlichen Umgebung, die wir zunächst nicht skizzieren. Beide Einstellungen sind die einleitenden Einstellungen eines Musterbeispiels eines (L,B,2)-alternierbaren Segmentes mit insgesamt 8 Einstellungen im Sinne unserer Definition (18): Es werden syntagmatisch zwei Sequenzen der beiden eingeführten räumlichen Umge- Karl-Heinrich Schmidt 280 Fig. 14b bungen mit jeweils vier Einstellungen in einem Layoutprozess L ineinandergeschnitten: In T F1 , T F2 , T F3 , T F4 sehen wir die Frau telefonieren und weiter entlang des Pfeiles nach vorne zur Kamera kommen. In diese Sequenz werden die Darstellungen des Mannes T M1 , T M2 , T M3 , T M4 zu einer alternierenden Folge T Fi , T Mi ,… 1 i 4 montiert. Dann kommt die neunte Einstellung: Wir erkennen eine Studioszene, in der während des Telefonates mit camera1 von der Frau auf den Mann geschwenkt wird! Die räumliche Umgebung des Mannes und der Frau waren also unmittelbar benachbart und nur durch eine in dem Schwenk sichtbare Studiowand getrennt: Die ganze Aufnahme erfolgte also von den zwei Kamerabereichen aus, die für die jeweiligen Einstellungen T Fi mit camera1 und für T Mi mit cam(era)2 gekennzeichnet sind. Syntagmatisch haben wir es im Sinne der Definition (11) also mit einer Szene zu tun; dies aber nur deshalb, weil der Regisseur die Studiosituation lüftet (dies kann sich vermutlich nur ein bekannter Regisseur leisten, ohne eines handwerklichen Fehlers geziehen zu werden). Die Fiktivität der filmischen Repräsentation des telefonischen Dialogs zeigt sich hier in der syntagmatischen Fiktivität der ersten acht Einstellungen, die zunächst auf ein alternierbares Syntagma hinauszulaufen scheinen, um dann mit der szenischen Auflösung der letzten Einstellung die Normalerwartungen des Zuschauers zu irritieren. 10. Rückblick und Ausblick Wir sind damit am Ende unserer theoretischen und empirischen Untersuchungen zur polyspatialen Alternanz (und mit Schmidt,Strauch (2002) am Ende der Reformulierung der narrativen Syntagmen bei Metz). Nach einer minimalen Ausstattung des Beobachtermodells mit chronologischen Fähigkeiten haben wir darauf abgestimmt monochronologische Syntagmen zunächst für den monospatialen Fall eingeführt. Darauf aufbauend wurden dann für den polyspatialen Fall zunächst räumlich (B,n)-partite Strukturen gekennzeichnet, um dann durch von der Beobachtermenge konzeptionalisierbare Relationen alternierbare Strukturen als Nachfolger des Metz’schen “alternierten Syntagmas” zu definieren. Diese wurden auf mehreren empirische Beispiele angewendet. Der nächste Schritt der Reformulierung der chronologischen Syntagmen bei Metz wird sich mit dem nicht-narrativen Fall auseinandersetzen: Dieser ist hier überhaupt noch nicht behandelt. Man kann allerdings vermuten, dass er im Zusammenhang mit dem Metz’schen “deskriptiven Syntagma” diskutiert werden muss, das ja mehrere Einstellungen polychron in einem “Zeitcontainer” zusammenfasst (cf. Schmidt, Strauch (2002, 91f). Dies ist einer weiteren Etappe der Reformulierung der Metz’schen Großen Syntagmatik vorbehalten. Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 281 Anmerkungen 1 Z.B. Metz (1964), Metz (1965), Metz (1966) und Metz (1972). 2 Zur Übersicht hier noch einmal eine graphische Repräsentation der Metz’schen Syntagmatik (nachgezeichnet nach Metz (1972, 198): 3 Der polychrone Fall muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben (s.u.). 4 Die englischen Bezeichnungen haben sich auch im deutschen Sprachraum eingebürgert. Wir halten es hier so, daß ohne sprachliche Verrenkungen ins Deutsche übersetzbare Fachbegriffe deutsch verwendet werden; alle anderen werden nicht übersetzt und nur numerisch flektiert. - Ferner werden alle definitorisch eingeführten Termini von der definitorischen Einführung an kursiv ausgezeichnet, sofern (! ) auf die definitorische Einführung Bezug genommen wird. Ebenso sind sonstige Hervorhebungen kursiv. 5 Der Darstellungsprozess (engl.: “imaging process”) ist vom Layoutprozess zu unterscheiden: Letzterer erzeugt zur späteren Übergabe an den Darstellungsprozess ein layoutiertes Dokument. Im Englischen “rendering” wird beides häufig vermischt. 6 Diese Menge ist festzulegen. Wie das geschieht, kann für das Weitere offen bleiben. Allerdings ist für den cinematographischen Fall bei der Festlegung sicherzustellen, daß für den Beobachter ein benevolentes “So sei es gewesen! ” grundsätzlich möglich ist. Dies wiederum heißt, daß der Beobachter Veridikalität der beobachteten Filmdaten annehmen kann. Im allgemeinen muß dafür eine “cinematographische Messung”, also die sensorielle Erzeugung eines Filmbildes erfolgen. Karl-Heinrich Schmidt 282 7 Cf. die empirische Analyse im Abschnitt 9, Segmente 19 und 20 von “Adieu Philippine”. 8 Grundsätzlich kann dies auch eine weitere Segmentierung innerhalb einer Einstellung sein. Damit ist diese Definition auch kompatibel mit der “notion” des Segment Description Schemes in MPEG-7 (cf. Martinez (2002), Abschnitt 3.1.3.1). Unsere Analyse ist grundsätzlich kompatibel mit den Normungsbestrebungen der Moving Picture Experts Group (MPEG), insonderheit mit MPEG-7 (dem Multimedia Content Description Interface). 9 Eine Theorie der Einfügungen kann es “naturgemäß” erst am Ende einer syntagmatischen Theorie des Films geben (cf. Schmidt, Strauch (2002, 70f)). 10 Die Planszene heißt bei Metz noch ‘Plansequenz’. Wir benutzen die Kategorie der ‘Plansequenz’ nicht, wie in Schmidt, Strauch (2002) ausführlich begründet wurde. 11 Zur Definition eines Messraumes cf. Davis (1990, 147). 12 An dieser Stelle ist auch eine Theorie der Einfügungen nötig. 13 Genau diese Randbedingung unterscheidet Analysen konventioneller Denotationen eines räumlichen Sachverhalts (etwa in der Linguistik) von der Analyse nomistischer Denotationen eines räumlichen Sachverhaltes, die durch Messdaten (insbesondere also auch durch Filmaufnahmen) erfolgen. 14 Ein Wort zur Terminologie: In der Informatik ist “Szene” typischerweise die Bezeichnung für das gemessene Urbild eines Sensors. Hier ist Szene der Name eines Syntagmas, das das Urbild unter Wahrung der obigen Bedingungen abbildet. Beides passt offenbar gut zusammen; der Unterschied ist aber im interdisziplinären Dialog zu beachten, da sonst für Verwechselungen zwischen denotierendem Zeichen und Denotat Tür und Tor geöffnet sind. 15 Die narrative Folge als Syntagma zweiter Ordnung hatte Metz außerhalb seiner Klassifikation eingeführt und benutzt; er ließ dieses Konstrukt aber definitorisch im Ungefähren. 16 Metz (1972, p. 212). Sehr materialreich und umfassend zum Telefon im Film cf. Debatin, Wulff (1991). 17 Metz selbst gibt in Metz (1972) nur textliche Beispiele für das parallele Syntagma an: etwa eine abwechselnde Folge aus Bildern aus dem Leben der Reichen und der Armen ohne einen intendierten zeitlichen Bezug auf einen Gegenstandsbereich. 18 Das geforderte zeitliche Verhältnis kann operationalisiert werden durch die in Abschnitt 3 eingeführten Relationen zwischen zwei Zeitintervallen. 19 “SpaceTime” ist in MPEG-7 Teil der “Narrative World” (cf. Martinez (2002), Fig. 13). 20 So implizit in vielen filmwissenschaftlichen Studien. 21 Eine Bemerkung zur zeitlichen Interpretation der Nummerierung: Die Einstellung T 2 liegt zeitlich vor der Einstellung T 3 . Sie kann aber zeitlich mit Einstellung T 1 überlappen: T 1 könnte zum Beispiel den Beginn eines Telefonwählvorganges zeigen, T 3 den ankommenden Anruf bei einem Telefonpartner und T 2 Geschehnisse davor. - Zwischen den Einstellungen T 2 und T 3 sowie T 4 und T 5 sind zeitliche Lücken erlaubt. 22 Diese Formulierung scheint eine Starrheit des alternanten Informationsflusses vorauszusetzen. Das ist aber nicht der Fall: Dass an der instanziierten Relation für die Etablierung des Syntagmas nichts geändert werden darf, heißt nicht, dass sie vom Beobachter nicht (etwa disjunktiv durch “Odern”) erweitert werden darf. Unter Erhalt der Ausgangsrelation kann der Beobachter mit dem Filmfortschritt so auch die Relation erweiternd dynamisieren. 23 Dabei sind Abgrenzungsfragen natürlich Sache der Interpretation des relationalen Zusammenhangs: Wenn zum Beispiel A und B telefonieren in T 1 bis T 3 , Telefonpartner B in T 3 das Gespräch beendet und in T 6 durch Neuanruf wieder aufnimmt - ist dann das ganze Segment bipartit unter der Relation R(A,B)=Telefonieren(A,B) oder zerfällt es? 24 Für eine Formalisierung des Beobachterwissens verweisen wir auf Davis (1990, 373ff). 25 Dazu eine etwas spekulativere Bemerkung: Das Verständnis solcher Alternanzen höherer Ordnung ist nach meinem Dafürhalten entscheidend für die Analyse von Filmkunst. Ob ein Metz’scher Ansatz dafür ausreichend ist, müssen weitere Arbeiten ergeben. Insgesamt ist der Metz’sche Ansatz dafür vielleicht zu “inhaltistisch”. 26 Originalton Metz (1972, p. 211): “Ein langes Abblenden bereitet diese bewundernswerte Sequenz-Einstellung von großer lyrischer Kontinuität vor. Die seitliche Kamerafahrt, die Juliette und Liliane auf ihrem Spaziergang über die großen Boulevards folgt, begleitet sie bis zu einer Telefonzelle. (Erst hier hört die Musik auf, die ihr Gehen rhythmisch untermalt hat.)” 27 Die layoutierte Folge der Einstellungen findet sich Schmidt, Strauch (2002, 80) dargestellt. Zur chronologischen Syntagmatik von Bewegtbilddaten (II) 283 Literaturverzeichnis Allen, J.F. / Hayes, P.J. (1985) A Common-Sense Theory of Time. In: IJCAI ’85, pp. 528-531. Branigan, Edward (1992) Narrative Comprehension and Film. London: Routledge (Sightlines Series). Buckland, Warren (1995) (ed.) The Film Spectator: From Sign to Mind. Amsterdam: Amsterdam University Press. Colin, Michel (1989) La Grande Syntagmatique Revisitée. 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Auflage, 2005, XIV, 278 Seiten, zahlr. Abb. u. Tab., € 19,90/ SFr 34,90 ISBN 3-8233-6198-8 Diese Einführung skizziert 14 fachliche Schwerpunkte und schöpft dabei auch aus den Ergebnissen der Nachbarwissenschaften, insbesondere der Soziologie, Neurologie, Psychologie und Pädagogik. Über 100 Abbildungen im Text dienen der Illustration, der Erklärung komplexer Zusammenhänge und der Raffung von Fakten. Die leserfreundliche Präsentation erleichtert das Verstehen, Übungsaufgaben und Lösungen ermöglichen die Lernkontrolle, Literaturhinweise regen zu selbstständigem Arbeiten an. Für die zweite Auflage wurde die Didaktisierung verbessert, die Literatur aktualisiert und der Forschungsüberblick auf den neuesten Stand gebracht. „Insgesamt bietet der Band reichhaltige und wertvolle Informationen über die geschichtliche Entwicklung der Soziolinguistik, vor allem aber über die Grundsätze dieser wissenschaftlichen Disziplin und über die relevanten soziolinguistischen Forschungsbereiche.“ Ireneusz Gaworski in Studia Niemcoznawcze, Warszawa Der Keiler sprach zur Sau: “Wir werden Mann und Frau”. * Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechtsstereotypen im Bilderbuch Dagmar Schmauks 1. Einleitung Seit Jahren wird in Kinder- und Jugendbüchern kräftig gegrunzt und herumgeschnobert. Die Geschichten von Schweinchen Babe und Rennschwein Rudi Rüssel etwa waren als Filme Kassenschlager und als Bücher Bestseller. Was macht Schweine - neben Pferden, Hunden, Katzen und Mäusen - zu idealen Helden für Kinder- und Jugendbücher? Schweine sind kluge, lebhafte und sehr soziale Tiere und daher ideale Identifikationsfiguren. Ferner sind die Ferkel besonders neugierig, drollig und sprechen das Kindchenschema an. Daneben aber existiert weiterhin das Wildschwein als Inbegriff des Urigen und Tapferen. Vor allem die Keiler beeindrucken durch Größe, Gewicht und Wehrhaftigkeit, denn ihre gefährlichen Hauer sind deutlich sichtbar. Bereits das Aufstöbern eines heimlich lebenden Keilers erfordert einen erfahrenen Spurenleser, und die rasende Wut und Verteidigungsbereitschaft eines verletzten Tieres sind sprichwörtlich. Zahllose Texte, Bilder und Skulpturen von der Antike bis heute zeigen den siegreichen Kampf eines Jägers und seiner Meute mit einem Keiler (zahlreiche Beispiele in Dannenberg 1990: 19ff); man denke etwa an die Sage des Herakles, zu dessen zwölf Heldentaten die Überwältigung des Erymanthischen Ebers zählte. Die Keilerjagd galt folglich immer als herausragende Bewährungsprobe, vor allem für Männer - eine Ausnahme war die Jägerin Atalante aus Arkadien, die an der Jagd auf den Kalydonischen Eber teilnahm -, wie etwa der folgende ukrainische Haussegen belegt: Gott schicke den Tyrannen Läuse, den Einsamen Hunde, den Kindern Schmetterlinge, den Frauen Nerze, den Männern Wildschweine, uns allen aber einen Adler, der uns auf seinen Fittichen zu IHM trägt. Auch heute noch ist es ein Lebenstraum vieler Jäger, einen kapitalen Keiler zu schießen. Einschlägige Jagdreisen garantieren dieses Ziel, so dass der präparierte Keilerkopf mit K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 286 Abb. 1: Gratispostkarte der Deutschen Post Consult GmbH möglichst ausladenden Hauern dann künftig vom Erfolg des Schützen kündet. Es liegt daher nahe, das Stereotyp des wilden Keilers auch in anderen Kontexten zu verwenden. In den zahlreichen Asterix-Comics von René Goscinny und Albert Uderzo beweist Obelix (der als Kind in einen Zaubertrank gefallen ist) seine außergewöhnliche Kraft durch das mühelose Erlegen von Wildschweinen mit bloßen Händen. Auch in zeitgenössischen Werbeanzeigen dienen Keiler zur Darstellung ungezügelter Wildheit; das Beispiel in Abbildung 1 bezieht sich explizit auf Werbung als “aggressive Keilerei”. Seit langem sind Bär, Wolf und Luchs in den meisten Gebieten Mitteleuropas ausgestorben, so dass Wildschweine die letzten wirklich gefährlichen Wildtiere sind (Zecken hingegen, die jährlich wesentlich mehr gesundheitliche Schäden verursachen, sind zu unscheinbar, um zum Symbol bedrohlicher Urnatur oder gar zur begehrten Trophäe zu werden). In Gegenden mit hohem Schwarzwildbestand werden Wanderer, Jogger und Radfahrer davor gewarnt, im Frühling in Dickungen einzudringen, wo sie Attacken führender Bachen provozieren könnten. Dieser Artikel geht von der speziellen Beobachtung aus, dass in mehreren Bilderbüchern eine Liebesbeziehung zwischen Wild- und Hausschwein beschrieben wird, wobei die Rollenverteilung einheitlich ist, denn die “Mischehe” besteht immer zwischen Wildschwein-Keiler und Hausschwein-Sau. Diese Verschränkung von Rassen- und Geschlechtsstereotypen wird im Folgenden analysiert, wobei die Perspektiven von Zoologie, Geschlechtsforschung sowie Sprach- und Literaturwissenschaft zusammengeführt werden. Als Brückenwissenschaft dient die Semiotik, da sich die Charakterisierungen der Rassen und Geschlechter als Zeichenprozesse auffassen lassen. Voranzuschicken sind einige terminologische Klärungen. • In diesem Artikel werden Wildschweine und Hausschweine der sprachlichen Kürze wegen als “Rassen” bezeichnet. Diese Redeweise deckt sich nicht ganz mit der zoologischen, die nur innerhalb der Haustierform von Rassen spricht, etwa dem “Angler Sattelschwein” oder dem “Schwäbisch-Hällischen Schwein” (illustrierte Darstellungen aller Schweinerassen weltweit von “American Landrace” bis “Wuzhishan” unter <http: / / www.ansi.okstate.edu/ breeds/ swine/ >). • Ein weibliches Hausschwein heißt “Sau”, ein männliches “Eber”, ein Jungtier “Ferkel”. Bei Wildschweinen lauten die entsprechenden Ausdrücke “Bache”, “Keiler” und “Frisch- Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 287 ling”. Der Plural “Säue” bezeichnet immer weibliche Hausschweine; ganz vermieden wird demgegenüber der Jägerausdruck “Sauen” (= Wildschweine ab dem 3. Lebensjahr unabhängig vom Geschlecht). In Abschnitt 2 werden zunächst einige zoologische und kulturgeschichtliche Fakten skizziert, die zum Verstehen von (Bilder-)Büchern über Schweine beitragen. 1 Dabei geht es insbesondere um die Domestizierung von Schweinen und die heutige Beziehung zwischen Wild- und Hausschwein. Der zentrale Abschnitt 3 stellt die ausgewählten Bilderbücher vor und analysiert, wie die Stereotype der Rassen (Wildvs. Hausschwein) mit den Stereotypen des Geschlechts verknüpft werden. Es zeigt sich, dass Liebesbeziehungen über die Rassenschranken hinweg immer zwischen einem Keiler und einer Sau geknüpft werden, nie umgekehrt zwischen einer Bache und einem Eber. Diese Rollenverteilung entspricht zwar der Vorstellung von “männlicher” Urwüchsigkeit und “weiblicher” Verfeinerung, wird aber in den Büchern nicht plakativ (und langweilig) durchgehalten, sondern in kreativer und witziger Weise in Frage gestellt. Ein Fazit in Abschnitt 4 rundet die Analyse ab. Ferner gibt es im Anhang als optionale Lektüre die Erzählung “Der Deckeber und die schöne Bache”, in der eine abweichende Rollenverteilung beschrieben wird. 2. Die zoologische und kulturgeschichtliche Ausgangslage Schweine wurden in mehreren Gegenden Eurasiens und in unterschiedlichen Epochen domestiziert. Ferner gibt es noch heute Zwischenstufen “halbwilder” Haltung, in denen die Schweine nur zeitweise in der Nähe des Menschen leben und sich von selbst immer wieder mit Wildschweinen kreuzen. Die Kontaktaufnahme zwischen Mensch und Schwein war vermutlich nicht sehr schwierig, da sich von der Mutter getrennte Frischlinge leicht auf den Menschen prägen lassen (man denke an das spätere “Polizeischwein” Luise; Franke 1991). Der Kontakt zu einzelnen Tieren kann sehr eng sein, so säugten malayische Frauen manchmal Ferkel (Dannenberg 1990: 24f und 32ff). Auch erwachsene Wildschweine werden schnell vertraut, wenn man ihnen regelmäßig Abfälle anbietet. In Berlin etwa dringen sie zunehmend in die waldnahen Außenbezirke ein, um Komposthaufen, Mülltonnen und Friedhöfe zu durchstöbern. Florian Möllers (2003) hat ihr Treiben unter dem Motto “auf Rüsselhöhe mit den Hauptstadtschweinen” mit Texten und Fotos dokumentiert. Die spätere Geschichte der Schweinezucht verlief regional sehr unterschiedlich. Für nomadisch lebende Menschen sind Schweine ungeeignete Nutztiere, denn mit ihnen kann man sich nicht stetig und geordnet fortbewegen wie mit Schaf-, Ziegen-, Rinder- oder Kamelherden (Dannenberg 1990: 24). Hinzu kamen medizinische Bedenken, als man erkannte, dass Menschen sich durch Schweinefleisch mit Trichinen und Bandwurmfinnen anstecken können (ebenda 45), sowie einige kulturelle Vorbehalte gegen Schweinehaltung. So galt das Schwein den Nomaden als ein verachtenswertes Statussymbol sesshafter Ackerbauern, die mit ihnen um die Nutzung von Flächen konkurrierten (ebenda 46). Da alle Hausschweinrassen vom eurasischen Wildschwein (Sus scrofa) abstammen, sind sie untereinander und mit der Wildform unbeschränkt kreuzbar. Dies erwies sich in jüngster Zeit als vorteilhaft, als bisherige Zuchtziele hinterfragt wurden. Jede marktorientierte Züchtung konzentriert sich nämlich auf erwünschte Eigenschaften und bewirkt daher immer den unwiderruflichen Verlust genetischer Vielfalt. So ist es in der intensiven Tierhaltung nicht mehr wichtig, ob Tiere vielerlei Futter verwerten können oder extreme Temperaturen aushalten. Ausschlaggebend ist lediglich, dass sie möglichst fruchtbar sind, schnell schlachtreif Dagmar Schmauks 288 werden und den Käuferwünschen entsprechend viel mageres Fleisch liefern. Als Nebenwirkung von Domestizierung und Züchtung nahm auch die Gehirnmasse des Schweines ab, da viele Fähigkeiten nicht mehr gefordert wurden. Dieser Intelligenzverlust durch bequeme Lebensbedingungen veranlasste in den 1940er Jahren Konrad Lorenz dazu, im Analogieschluss tendenziös von der “Verhausschweinung des Menschen” zu sprechen. Motiviert durch den rapiden Artenschwund und die damit einhergehende genetische Verarmung setzte ab den 1980er Jahren eine neue Wertschätzung alter Haustierrassen ein. Weil diese damals aber zum Teil bereits ausgestorben waren, begann man mit einer gezielten Rückzüchtung. Eine einmal ausgestorbene Rasse lässt sich jedoch grundsätzlich nicht wiedergewinnen; man kann lediglich die noch verbliebenen Nachkommen untereinander und mit der jeweiligen Wildform so kreuzen, dass die verloren gegangenen Gene zum Teil rekombiniert werden. Das Zuchtziel sind hierbei Tiere, die der Ursprungsform hinsichtlich Aussehen und Verhalten möglichst ähnlich sind. Der Terminus “Rückzüchtung” wurde in den 1930er Jahren geprägt, als der ausgestorbene Auerochse neu gezüchtet wurde. Ein neueres Beispiel ist die Rückzüchtung des robusten und genügsamen Deutschen Weideschweins, die 1980 von der Freien Universität Berlin begonnen wurde (Plarre 1999). Diese Weideschweine sind nicht nur eine wertvolle genetische Ressource für die Zukunft, sondern auch eine kulturhistorische Bereicherung, da die Besucher des Museumsdorfes Düppel (Berlin) nun wieder “hautnah” das Aussehen und Verhalten von Tieren erleben, die sie bislang nur aus Abbildungen kennen - zu diesen zählen mittelalterliche Bilder wie Dürers Kupferstich Der verlorene Sohn ebenso wie Fotos aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie sie etwa im Deutschen Schweinemuseum zu sehen sind (Teltow- Ruhlsdorf; siehe <www.deutsches-schweinemuseum.de>). Die “Düppeler Weideschweine” stammen zu rund je einem Drittel von Wildschweinen, Wollschweinen und anderen Landrassen ab; bereits die Ferkel zeigen ihre “urige” Abstammung durch ihre später verblassende Streifenzeichnung. Weideschweine sind besonders geeignet für die extensive Landwirtschaft und haben sie sich innerhalb weniger Jahre als preiswerte “Landschaftspfleger” beliebt gemacht, die durch ihr unermüdliches Wühlen wertvolle Freiflächen für einige sonst vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten schaffen. Im Hinblick auf den Inhalt der untersuchten Bilderbücher ist vorauszuschicken, dass die in ihnen allen beschriebene “romantische” und dauerhafte Bindung eines Schweinepaares in der Natur nicht vorkommt (eine genauere Begründung folgt in Abschnitt 4). Wildschweine leben in “matriarchalischen” Rotten, die von der ältesten Bache geleitet werden und aus weiblichen Verwandten aller Generationen bestehen. Keiler hingegen sind Einzelgänger, die zu solchen Rotten nur während der Brunstzeit (bei Schweinen auch “Rauschzeit”) stoßen, die etwa von November bis Januar dauert. Die Rausche der Führungsbache löst die Rausche der anderen Bachen aus, so dass alle trächtigen Tiere gleichzeitig werfen und ihre Frischlinge gemeinsam aufziehen können. Auch Hausschwein-Säue leben selten in “Monogamie” mit einem Eber, denn falls überhaupt ein Eber zu ihrer Gruppe zählt, ist er für mehrere Säue “zuständig”. Das Happy- End von Keiler und Sau als Kleinfamilie im Wald ist also immer nur die Übertragung eines menschlichen Familienmodells. Wahr ist allerdings, dass Wildschweine aus Menschensicht ein recht “liebevolles” Paarungsverhalten aufweisen. Die Keiler folgen den Geruchsfährten rauschiger Bachen kilometerweit, umwerben sie durch Imponiergehabe, Umkreisen, rhythmisches Grunzen, Stupsen in die Flanken, Knabbern an den Ohren sowie Rüsselkontakte mit Anhauchen (vgl. Hennig 1998: 37f sowie die “biographische” Beschreibung aus Sicht einer Frischlingsbache in Streblow 1987: 113-119, auch 132). Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 289 3. Rassen- und Geschlechtsstereotype im Bilderbuch Menschen haben zu Tieren vielschichtige und widersprüchliche Beziehungen, die sich in vielen sprachlichen Phänomenen spiegeln. Jeder kennt Tierfabeln als bewährtes Mittel, soziale Zustände in verfremdeter Weise anzuprangern. Aber auch in alltäglichen Situationen beschreiben wir Menschen unter Rückgriff auf Tiere und deren stereotype Bewertungen. Im positiven Fall vergleichen wir Menschen mit Tieren, denen wir erstrebenswerte Eigenschaften zuschreiben. So sagen wir, jemand sei “treu wie ein Hund”, “fleißig wie eine Biene” oder “ein toller Hecht”. Auch Kosenamen gehören hierher, denn da bei vielen Säugetieren und Vögeln die Tierkinder besonders weich und niedlich sind, werden Ausdrücke wie “Hasi”, “Kätzchen” oder “mein Lämmlein” vorzugsweise für Kinder oder die Partnerin verwendet. Weitaus umfangreicher ist der Bereich negativer Eigenschaftszuschreibungen. Manchmal ist schon der Tiername allein eine Beschimpfung (“Esel”, “Ochse”, “Ziege”, …), in anderen Fällen wird er durch einen Zusatz spezifiziert (“Angsthase”, “Blödhammel”, “Giftkröte”, …). Phantasievolle komplexe Redensarten bauen diese Ansätze genussvoll aus, so dass sich jemand “benimmt wie ein Elefant im Porzellanladen”, “guckt wie eine Kuh, wenn’s donnert” oder “wie eine Ratte das sinkende Schiff verlässt”. Für die vorliegende Untersuchung ist besonders interessant, dass viele der von Tiernamen abgeleiteten Bewertungen von Menschen geschlechtsspezifisch sind. Dies ist leicht einzusehen, wenn die Tiernamen selbst geschlechtsspezifisch sind; so werden “Gans”, “Huhn”, “Katze” und “Kuh” ausschließlich zur Beschimpfung von Frauen verwendet. Umgekehrt sind jedoch “Hahn”, “Hengst” und “Stier” keine eindeutig negativen Bewertungen, sondern durch unterschwellige sexuelle Konnotationen eher ein wenn auch zwielichtiges Lob (vor allem das Ausdruckspaar “Hengst” vs. “Stute” taucht öfters in Kontaktanzeigen auf). Aber auch unabhängig vom Geschlecht einzelner Tiere (das der Laie oft gar nicht erkennt, man denke etwa an den Igel) werden einige Tierarten mit einem bestimmten Geschlecht assoziiert, weil sie Eigenschaften aufweisen, die diesem zugeschrieben werden. So gelten Gazellen und Antilopen als besonders anmutig und daher als weiblich, Adler und Löwen hingegen als besonders mutig und daher als männlich. Diese Verknüpfungen haben oft wenig mit zoologischen Tatsachen zu tun, zum Beispiel jagen bei Löwen in der Regel die Weibchen eines Rudels gemeinsam und erst nach dem Erlegen der Beute taucht das Männchen auf. Ob eine Tiereigenschaft als positiv gilt, ist darüber hinaus epochenspezifisch - das Epitheton “kuhäugig”, das Homer in seinen Epen der Göttin Hera zuspricht, wird von heutigen Mädchen vermutlich nicht als Lob aufgefasst. In Redensarten und Sprichwörtern zu Schweinen fällt die außerordentliche Zwiespältigkeit der Bewertungen auf, die vom “Glücksschwein” bis zur “Drecksau” reichen (vgl. Dannenberg 1990: 197ff).Wie in anderen Fällen, etwa dem “dummen Esel”, sind die Beschimpfungen sachlich falsch. Das wohlige Suhlen im Schlamm (vgl. Abschnitt 3.2.1) dient der Kühlung und Hautpflege, das Fressen der eigenen Ferkel tritt nur bei beengten Verhältnissen in Ställen oder Gattern auf, und das in Abschnitt 2 skizzierte “zärtliche” Werben der Keiler widerlegt auch die Redensart “Männer sind Schweine” (wie denn überhaupt Tiere kaum Handlungen begehen, die wir bei Menschen “tierisch” oder “viehisch” nennen). 3.1 Skizzierung der ausgewählten Bücher Im Folgenden wird ein kleiner Corpus von drei zeitgenössischen Bilderbüchern analysiert, in denen jeweils ein erheblicher Teil der Aussagen durch die zahlreichen Bilder übermittelt wird. Dagmar Schmauks 290 Gloria von Jaxtberg erzählt die Geschichte der Hausschwein-Sau Gloria, die unter ihren missgünstigen Verwandten leidet und sich in Träume von schönen Prinzen flüchtet. Als der Metzger sie abholt, glaubt sie naiverweise, nun würde sie endlich auf das nahegelegene Schloss geholt. Zum Glück hat sich der Wildschwein-Keiler Rodrigo schon lange in sie verliebt, rettet sie in letzter Minute vor dem Schlachten und nimmt sie mit in den Wald. Die Fortsetzung Rosa beschreibt die Abenteuer ihrer Kinder, in denen die Geschlechtsstereotype gründlich durcheinander gewirbelt werden (siehe Abschnitt 3.3). Die Heldin von Das quiek-fidele Borstentier ist eine Sau, die ihrer Bäuerin entkommt und eine Menge rasanter Abenteuer besteht, bevor sie mit einem Fallschirm in den Bäumen landet. Auch hier eilt ein starker Keiler zur Hilfe und gründet mit der Sau eine Familie im Wald. In Rosalie und Trüffel finden das Hausschwein-Mädchen Rosalie und der junge Keiler Trüffel erst nach vielen “Irrungen, Wirrungen” zueinander, denn ihre jeweiligen Freundinnen und Freunde sind gegen ihre Freundschaft und haben mit ihnen ganz andere Pläne. Aber allen Umerziehungsversuchen zum Trotz gibt es ein Happy-End. Als typographische Besonderheit dieses Buchs kann man es in zwei Richtungen lesen. Bei einem Deckblatt beginnt die Geschichte von Rosalie, beim anderen die von Trüffel, und beide Schweine und ihre Geschichten treffen sich auf der mittleren Doppelseite. 3.2 Rassen- und Geschlechtsstereotype In diesem Abschnitt wird der ausgewählte Corpus auf Stereotype hin überprüft. Da es sich um Bilderbücher handelt, werden diese nicht nur durch textuelle Beschreibungen, sondern auch durch bildliche Darstellungen übermittelt. Zitiert wird hierbei nicht wie üblich nach Autorennamen, sondern nach den griffigeren Buchtiteln, die zudem mit den Namen der Heldinnen zusammenfallen. Eine Ausnahme ist die namenlose Sau, auf die mit dem Kurztitel “Borstentier” verwiesen wird. Seitenzahlen fehlen zwar meist, die zitierten Stellen sind in den recht kurzen Texten aber leicht zu finden. 3.2.1 Aussehen und Verhalten Die ausführlichsten Beschreibungen des Liebespaares finden sich in Gloria von Jaxtberg als dem Buch mit dem höchsten Textanteil. Auf der titelgleichen Kassette werden die auftretenden Schweine zwar noch detailreicher beschrieben, dieser Tonträger bleibt hier aber ausgeklammert, da Beziehungen zwischen Text und Bild im Vordergrund stehen. Gloria wird gleich im ersten Absatz als “das schönste Schwein der Berge” eingeführt, denn sie ist nicht nur rosig, lieblich und zart, sondern hat als besonderes Kennzeichen auch noch goldene Locken. Eine ganzseitige Abbildung zeigt, wie Gloria - dem antiken Narziss gleich - ihre eigene Schönheit in einem Tümpel erkennt. Auch das Alte Testament mit der Geschichte von Susanna im Bade klingt an, denn der Keiler Rodrigo verliebt sich in Gloria, als sie “voller Grazie” in einem Schlammloch liegt und in die Sonne blinzelt (siehe Abbildung 2; aus Menschensicht ist das “anmutige Suhlen” ein witziger Widerspruch, denn genüssliches Wälzen im Matsch entspricht unseren Vorstellungen von holder Anmut doch recht wenig). Das Verhalten Glorias ist ebenfalls stereotyp weiblich. Ihre Zukunftspläne sind von Kitschromanen geprägt, denn sie träumt von einem Prinzen, der eines Tages kommen und sie auf sein Schloss mitnehmen wird, so dass sie nie mehr die gehässigen Spöttereien von Cousin Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 291 Abb. 2: Gloria im Bade (Gloria von Jaxtberg) Gerhard und seinen Gefolgsleuten anhören muss. Als statt eines Prinzen dann der Keiler Rodrigo auftaucht, um sie aus den Händen des Metzgers zu retten, folgt sie ihm “leichtfüßig” in den Wald. Das letzte Bild zeigt Gloria, die sich im Winterwald an Rodrigos wärmendes Fell schmiegt (siehe Abbildung 3). Rodrigo ist aber auch ein Prachtkeiler, denn er hatte “ein langes, borstiges, braunes Fell”, große Ohren, eine markante Schnauze und “prächtige, blitzende Hauer”. Seinen “Freibeuternamen” hatte er sich zu Recht zugelegt (eigentlich hieß er Rudi), denn er “streifte allein durch die Wälder und tat, was er wollte”. Als er seine Herzensdame in Lebensgefahr sieht, “fletschte [er] die Zähne, scharrte mit den Klauen und grunzte erregt”. Dann wühlt er sich “wie ein Schneepflug” durch die Verwehungen, stößt einen “furchtbaren Grunzer” aus und springt durch das geschlossene Fenster des Schuppens, in dem der Metzger schon das Messer wetzt. “Mit seinem mächtigen Schädel rannte er dem Mann in den Bauch” und rettete Gloria. Bis in bildliche Details finden sich im Borstentier dieselben Stereotype, nur dass die Sau viel draller und “erwachsener” gezeichnet ist als die zarte und schutzbedürftige Gloria. Die Sau putzt sich mit ausladendem Hut, Rüschenkleid und Stöckelschuhen als “feine Dame” auf (siehe Abbildung 4), die nun zwar “vornehm ihren Rock rafft” und auf die Café-Terrasse passt, dort aber wenig damenhaft ganze Schüsseln voller Sahne und Eis leer schleckt. Als sie nach vielen Abenteuern von einem Keiler gerettet wird, ist dieser ebenso stark und mutig wie Rodrigo, ein echter “Ihr-zur-Hilfe-Eiler” (62). Auch er verliebt sich auf den ersten Blick in das rosige Hausschwein, das seine damenhafte Kleidung wieder abgelegt, also die Menschenwelt hinter sich gelassen hat. Die Sau nimmt seinen Heiratsantrag sowie die Blumen mit züchtig niedergeschlagenen Augen an (siehe Abbildung 5), und auf der letzten Doppelseite schmiegt sie sich genau wie Gloria an ihren Keiler, umtobt von ihrer “Frischlings-Ferkelschar” (64f). Rosalie zeigt schon durch ihren “sprechenden” Namen, wie sehr sie dem Stereotyp des rosaroten Hausschweins entspricht. Wie Gloria träumt sie von der großen Liebe, und zwar am Dagmar Schmauks 292 Abb. 3: Das Happy-End von Gloria und Rodrigo (Gloria von Jaxtberg) Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 293 Abb. 4: Die Hausschwein-Sau als Dame (Borstentier 33) Abb. 5: Das Happy-End von Sau und Keiler (Borstentier 63) liebsten unter einem blühenden Apfelbaum. Als sie den jungen Keiler Trüffel dort zum ersten Mal trifft, errötet sie zart und haucht ihren Namen. In allen drei Büchern verkörpern also die Hausschwein-Säue sehr gezielt ein traditionelles Stereotyp von (bürgerlicher) Weiblichkeit, denn sie sind verträumt, nicht sehr lebenstüchtig und warten sehnsüchtig auf einen Mann, der sie auf Klauen tragen und vor den Gefahren der Welt beschützen wird. Gloria und die Sau finden Liebespartner, die genau diesem Wunsch entsprechen, während Rosalies Freund Trüffel eine deutliche Aufweichung des Geschlechtsstereotyps zeigt (vgl. Abschnitt 3.3). In witziger Weise spiegeln die analysierten Schweine-Geschichten also die (immer noch bestehenden) Kräfteverhältnisse von Mann und Frau und ihre sozialen Rollen. So wird mit feiner Ironie erzählt, dass Rodrigo immer dann zu wichtigen “Kontrollgängen durch den Wald” aufbricht, wenn Gloria “ihre Kopfschmerzen” hat oder seine schlappen Söhne ihn allzu sehr nerven. Allerdings hat sogar der draufgängerische Rodrigo eine sensible Stelle, nämlich die Liebe zu seiner einzigen Tochter, die er “Rosa” nennt, weil er sie für “zart wie ein Buschwindröschen” hält (was nicht den Tatsachen entspricht, siehe Abschnitt 3.3). Wenn man die Aussagen von Text und Bild summarisch überblickt, scheinen den Schweinen elementare Formen und Farben zu entsprechen. Die Säue sind rund, drall, glatt und rosig, die Keiler kantig, muskulös, borstig und dunkel. Diese Dichotomie betrifft sowohl die Gesamterscheinung als auch Details. So haben alle Keiler durch stilisierte Borsten eine zackige Kontur und ihre bedrohlich spitzen Hauer heben sich - sogar beim sanften Trüffel, siehe Abschnitt 3.3 - deutlich vom dunklen Fell ab. Diese konstante Assoziation von “Wildheit” mit spitzen Formen und “Zahmheit” mit runden Formen ist ein Sonderfall eines gestaltpsychologisches Gesetzes, das Wolfgang Köhler in den 1920er Jahren empirisch bewies. Er stellte Versuchspersonen die Aufgabe, abstrakte Formen den Ausdrücken “Maluma” und “Takete” zuzuordnen. Alle wählten sprachunabhängig “Maluma” für runde und “Takete” Dagmar Schmauks 294 Abb. 6: Die Wilden kommen! (Postkarte mit einem Motiv aus Marundes Landleben) für spitze Formen, was belegt, dass wir auch Phoneme als “rund” vs. “spitz” empfinden und folglich anhand transmodaler Ähnlichkeiten zwischen Klängen und Formen argumentieren. In der Realität liegen zwischen den beiden Polen übrigens zahlreiche Zwischenstufen, etwa das “Schwalbenbäuchige Mangalitza-Wollschwein” mit dunklen Borsten, aber rundem Körperbau durch seine dicke Speckschicht. 3.2.2 Lebensräume Ganz ähnlich wie Aussehen und Verhalten der auftretenden Schweine bieten auch ihre beschriebenen Lebensumstände zahlreiche Anspielungen auf die Menschenwelt. Die zugrundeliegenden Rassenstereotype werden sehr präzise durch einen Comic von Marunde charakterisiert, in dem eine in der Abenddämmerung sich nähernde Wildschweinrotte von einem sich suhlenden Hausschwein als “Indianer” bezeichnet wird (Abbildung 6). Die Mimik des Hausschweins spiegelt Angst vor diesem “Überfall”. Insofern man überhaupt Tieren entsprechende Bedürfnisse zuspricht, haben Hausschweine wie alle Nutztiere gegenüber den entsprechenden Wildformen sowohl Vorteile als auch Nachteile (sich in die Obhut eines Stärkeren begeben ist immer ambivalent! ). Sie leben in einem warmen Stall, der sie vor Kälte und Regen schützt, werden gefüttert und gehegt, bezahlen dieses “sorglose” Leben aber mit dem Verlust an Freiheit und zuletzt mit dem Tod. Selbst Schweine, die nicht zum Schlachten gehalten werden, sind deswegen noch keine “Glücksschweine”, denn manche haben kein artgerechtes Leben - vor allem Minischweine, die in Wohnungen gehalten werden. Wildschweine hingegen können zwar frei den Wald durchstreifen (wobei menschliche Eingriffe ihren Lebensraum immer weiter verkleinern), sind aber ständig durch Hunger, Krankheiten, Verkehrsunfälle und Jäger gefährdet. Ganz ähnliche Beziehungen wie bei dieser Gegenüberstellung von Tieren vor und nach der Domestikation findet man bei den entsprechenden menschlichen Lebensformen. Nomaden folgen natürlichen Rhythmen, ziehen etwa mit den Jahreszeiten zu immer neuen Weiden für ihre Herden, sind aber ständig durch wilde Tiere, Krankheiten und Naturkatastrophen (Dürren, Buschbrände usw.) bedroht. Umgekehrt bringt das Sesshaftwerden nicht nur vielfältigere kulturelle Möglichkeiten, sondern auch komplementäre Zwänge mit sich. In den Büchern folgen die Hausschwein-Säue aus unterschiedlichen Gründen ihrem Keiler in seinen wil- Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 295 den Wald. Gloria entkommt der Bedrohung durch den Metzger, und die Sau findet nach einer aufreibenden Flucht vor den Menschen eine ruhigere Lebensphase mit Mann und Kindern (Borstentier 64f). Beide überschreiten also die Grenze zwischen “Natur” und “Kultur” in umgekehrter Richtung zur Domestikation und entkommen so der ambivalenten Kontrolle durch den Menschen. An Stelle seines Schutzes, der mit Unfreiheit und zuletzt mit Schlachtung erkauft wird, tritt das Leben im Wald, dessen Wildheit durch den geliebten Partner gemildert wird, der dort sein Zuhause hat. Denkbar wären natürlich auch umgekehrte Rettungsgeschichten, in denen eine Hausschwein-Sau einem von Jägern in die Enge getriebenen Keiler begegnet und ihm in ihrem Stall Unterschlupf bietet. 2 Diese Variante hat nur leider kein typisches Happy-End, da der Keiler entweder in seinen Wald zurückkehren oder freiwillig in Gefangenschaft bleiben müsste (was auch ungewöhnlich “tolerante” Bauern voraussetzen würde). Im ersten Fall verlöre er seine Partnerin, im zweiten seine Freiheit. Einerseits ist also das Wildschwein ein Inbegriff urwüchsiger Kraft, die durch Verweichlichung verlorengegangen ist, andererseits wird ihm das Hausschwein als veredelte höhere Entwicklungsstufe gegenübergestellt. Die zweite Ansicht wird in Glorias Geschichte ihrem Cousin Gerhard in den Rüssel gelegt, der mit seiner kompromisslosen Rassenlehre den ganzen Stall und vor allem die goldgelockte Gloria terrorisiert: “[Das] deutsche Edelschwein ist blond und seine Borsten sind kurz und ordentlich und ohne Schnickschnack. Alles andere ist minderwertig, ja, es ist geradezu wildschweinartig abartig! ”. Dass Gloria ihrem Retter Rodrigo in den Wald folgt, kann Gerhard allerdings nicht mehr als “Rassenschande” anprangern, denn zu diesem Zeitpunkt hat er bereits das vorbestimmte Lebensziel eines deutschen Edelschweins erreicht - er ist zu Wurst geworden. Diese ambivalente Bewertung der Wildform ist nicht “schweinespezifisch”, sondern ein Hinweis auf unser gebrochenes Verhältnis zu “Natur” schlechthin. Besonders deutlich wird dies in den Gattungsnamen “Unkraut” und “Ungeziefer”, deren Vorsilbe “un-“ die entsprechenden Lebewesen außerhalb von Kultur ansiedelt. Aber obwohl diese Namen rein negativ scheinen, werden ihre Träger doch grundsätzlich zwiespältig beurteilt. Einerseits bekämpft man sie verbissen, damit sie nicht überhand nehmen und “Kultur” vernichten, andererseits nötigt uns die unbeugsame Vitalität von Wildkräutern wie der Brennessel und von tierischen Überlebenskünstlern wie Kakerlaken (Pieper 1998) und Ratten (Platen 1999) doch erheblichen Respekt ab. Die zwischen Bewunderung und Resignation schillernde Redensart “Unkraut verdirbt nicht” drückt diesen Doppelaspekt sprachlich aus, und sein bildliches Pendant ist das Photo eines Löwenzahntriebs, der eine Asphaltdecke sprengt (vgl. Schmauks 1997: 134). Im Bereich menschlicher Kultur übernimmt der “edle Wilde” diese Rolle als doppeldeutige Projektionsfläche. Er ist einerseits näher am Ursprung und noch nicht durch die “unnatürlichen” Zwänge der Zivilisation verbogen und verdorben, andererseits jedoch nur ein exotisches Schauobjekt und keineswegs ein gleichberechtigter Partner. Wenn diese Dichotomie mit Geschlechtsstereotypen verknüpft wird, ist es häufig die Frau, die “Natur” verkörpert, und der Mann, der die “Kultur” vertritt. Entsprechend dieser Theorie ist die Frau ursprünglicher, aber auch irrational und somit gefährlich, so dass der bereits höher entwickelte Mann zu ihrer “Domestizierung” aufgerufen ist. Es wird aber auch umgekehrt argumentiert, dass der Mann seinen (steinzeitlichen) Trieben stärker ausgeliefert ist und darum der sozialen Bändigung durch die Frau bedarf. In beiden Fällen ist die Charakterisierung der Geschlechter holzschnittartig. Dagmar Schmauks 296 Aus kultursemiotischer Sicht geht es in den Büchern also auch um die komplexen Beziehungen zwischen Natur und Kultur, repräsentiert durch Wildvs. Hausschwein. Lotman (1990) zufolge hat jede Kultur die Tendenz, sich immer mehr Gegenstandsbereiche “einzuverleiben”. Dies erfolgt auf der Objektebene mit ihren ökonomischen Zwängen durch die Urbarmachung von Landschaften und die Domestizierung von Lebewesen (vgl. Abschnitt 2), auf der Zeichenebene durch die Klassifizierung und Benennung der so “angeeigneten” Objekte. Das Wildschwein eignet sich besonders gut als Repräsentant des Außerkulturellen, denn es ist selbst gefährlich und lebt im Wald, der bis in die Neuzeit hinein ein Ort des Schreckens war (was viele mitteleuropäische Märchen belegen, siehe Schmauks 2005). Unsere heutigen Wälder zählen allerdings kaum noch zum Unerschlossenen bzw. Vorkulturellen, sondern sind bis in die letzten Ecken mit Wanderwegen und Rastplätzen erschlossen. Folglich haben sie ihre Funktion als Orte von Abenteuer und Bewährung längst an “nachkulturelle” Flächen abgetreten, nämlich an die von Militär und Industrie hinterlassenen Brachflächen (vgl. Schäfer 2001 und Schmauks 2005: Abschnitt 7). Ein eigenständiges und hier nur als Querverweis anführbares Thema ist die Umkehrung von Geschlechtsstereotypen im Bild (etwa die Darstellung von Männern als Frauen in der Karikatur; Riszovannij und Schmauks 1999). Wenn ein Karikaturist einen Politiker oder einen anderen prominenten Mann als Frau darstellt, will er ihm damit bestimmte Eigenschaften wie “weichlich” oder “verführerisch” zuschreiben, wobei die Absicht von milder Verspottung bis zu beißender Verhöhnung reicht. Ähnlich lassen sich die Kräfteverhältnisse zwischen Parteien oder Staaten darstellen, indem man ihre männlichen und weiblichen Symbolfiguren in entsprechenden Paarsituationen wie Verliebtheit, Hochzeit, Ehekrach oder Scheidung zeigt. 3.3 Überschreitungen der Rassen- und Geschlechtsgrenzen Die in Abschnitt 3.2 beschriebenen sehr plakativen Geschlechtsstereotype werden jedoch von den ausgewählten Bilderbüchern nicht unkritisch übernommen (dann wären sie langweilig), sondern in kreativer Weise überschritten und spielerisch gebrochen. Besonders deutlich wird dies bei den sechs Kindern von Gloria und Rodrigo. Die fünf (namenlosen! ) Jungen sind schon vom Aussehen her Muttersöhnchen bis in die Borstenspitzen, denn sie sind rosarot und glatt und haben goldene Locken wie Gloria. Ferner sind sie zum Kummer ihres Vaters verzärtelt und wehleidig und erweisen sich bei den von ihm durchgeführten Wettkämpfen als langsame Läufer, klägliche Springer und unfähige Schnüffler. Das einzige Mädchen hingegen heißt zwar Rosa und scheint daher ins Stereotyp zu passen, ist aber ganz Papas Tochter, denn sie ist borstig mit dunklen Flecken, neugierig, draufgängerisch und selbstständig (siehe Abbildung 7). Konsequenterweise ist sie es, die im Alleingang ihre nicht sehr hellen Brüder aus den Krallen des Wolfes und seiner Frau rettet, nachdem die vom Luxus träumenden Jungen auf die Tarnung der Wolfshöhle als Schweineschloss hereingefallen sind (“Probewohnen kostenlos! ”, lockte ein Schild vor dem Eingang). In der Geschichte von Rosalie und Trüffel ist zwar Rosalie ein “typisches Mädchen”, ihr Freund Trüffel hingegen ist in keiner Weise ein wilder Keiler, sondern ein deutlicher “Softie”. Er träumt viel, und zwar nicht wie sein Vater vom Aufstieg des 1. FC Wildschwein, sondern ganz unmännlich vom großen Glück. Bei der ersten Begegnung mit Rosalie bebt er vor Schüchternheit und läuft danach gleich zu seinen Freunden Bürste und Carlo, um diese an seinem Glück teilhaben zu lassen. Die beiden jedoch sind entsetzt über sein gefühlsmäßiges Engagement und starten ein zeitraubendes Erziehungsprogramm mit Hanteltraining und Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 297 Abb. 7: Ganz der Vater (Rosa). Crash-Kurs im Aktienhandel, das aus Trüffel ein “richtiges Schwein” machen soll, nämlich einen echten Kerl, der durch “Erfolg, Geld, Macht” alle Frauen beeindruckt. Trüffel versagt kläglich, besinnt sich auf seine eigenen Wünsche und findet zu Rosalie zurück. Auf dem letzten Bild (siehe Abbildung 8) legt er zärtlich eine Vorderklaue auf Rosalies Rüssel. Sicher nicht zufällig ist es ein Apfelbaum, unter dem die Liebenden sich erstmals begegnen und später wiederfinden. In der Genesis werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, weil sie Früchte von dem einzigen verbotenen Baum gegessen hatten. Auf vielen Gemälden der christlichen Tradition wird dieser Baum als Apfelbaum dargestellt, so dass der Apfel zum Zeichen der post-paradiesischen Trennungen wurde, nämlich sowohl der Trennung zwischen den Geschlechtern (Adam und Eva als Stellvertreter aller Männer und Frauen) als auch der zwischen Menschen und Tieren (deren paradiesisches Miteinander durch den Sündenfall beendet wurde). Für Trüffel und Rosalie hingegen - als Mann und Frau, als Wildschwein und Hausschwein - wird “ihr” Apfelbaum auch zum Ort der Versöhnung. Ein sehr einprägsames graphisches Symbol dieser Versöhnung ist die ineinandergekuschelte Position von Trüffel und Rosalie beim Happy-End, die genau dem chinesischen Yin-Yang-Symbol entspricht (siehe Abbildung 8). Hierbei werden die zugeordneten klassischen Dichotomien in spielerischer Weise verändert. Zum einen wird die chinesische Farbsymbolik (Yin = männlich = weiß / Yang = weiblich = schwarz) umgekehrt, denn der dunkle borstige Trüffel schmiegt sich an die helle zarte Rosalie. Zum anderen spielt die Dichotomie bezüglich der relativen Lage (Yin = Himmel = oben / Yang = Erde = unten) keine Rolle mehr, denn da man das Buch von beiden Deckblättern aus lesen kann, hat die den beiden Dagmar Schmauks 298 Abb. 8: Das Happy End von Rosalie und Trüffel (Rosalie und Trüffel) Teilgeschichten gemeinsame mittlere Doppelseite beide Richtungen, so dass einmal Rosalie, einmal Trüffel “oben” liegt (dieses Oben gilt nur für die Seite in üblicher Leseposition, denn bezüglich der Objektebene ist die Mittelseite ohnehin eine Draufsicht, bei der es kein Oben und Unten gibt). 4. Fazit Der erste plakative Eindruck, dass Keiler stark und mutig, Säue hingegen zart und schutzbedürftig sind, gilt in den analysierten Büchern nur für die ältere Generation. Bei jüngeren Schweinen zeigt sich eine ähnliche Aufweichung der Geschlechtsrollen wie bei den Menschen der Industrienationen seit den 1960er Jahren. So ist Rosa ein kluges, selbstbewusstes und tapferes Schweinemädchen, während der junge Keiler Trüffel viele weibliche Züge aufweist. Erhalten bleibt jedoch das bekannte Grundmuster “gemischter” Beziehungen: Sie bestehen immer zwischen einem Keiler und einer Sau, nie umgekehrt zwischen einer Bache und einem Eber. Bei einer Veranstaltung des Deutschen Schweinemuseums im April 2004 wurden mir von den anwesenden Fachleuten die sachlichen Gründe für diese Verteilung genannt. • Für Wildschweine gilt: - Keiler schweifen als Einzelgänger herum und decken dabei auch zugängliche rauschige Säue, wobei sie beträchtliche Hindernisse überwinden, etwa Zäune überspringen, - Bachen hingegen bleiben in ihrer matriarchalisch strukturierten Rotte und suchen nicht von sich aus nach Sexualpartnern. • Für Hausschweine gilt: - Säue werden auch heute noch manchmal im Freien gehalten und können dann (auch) von Keilern gedeckt werden, - Eber hingegen, vor allem Deckeber in Besamungsstationen, werden als wertvolle Zuchttiere in der Regel im Stall gehalten. Hinzu kommt, dass Säue durch die Domestikation keine festen Brunstzeiten mehr haben, sondern häufiger rauschig werden (“polyöstrisch”). Für herumstreifende Keiler sind sie also unter besonderen Bedingungen paarungswillige Partnerinnen außerhalb der Schwarzwild- Brunstzeiten. Die Domestikation von Schweinen hat also den witzigen Nebeneffekt, dass in seltenen Fällen die Tiere im Hinblick auf ihr Sexualverhalten davon profitieren. Die Möglichkeit der Verpaarung von Keiler und Sau ermöglicht nämlich den Männchen der Wildform häufigere Sexualkontakte und zugleich den Weibchen der domestizierten Form “exotischere” Sexualkontakte (im Hinblick auf diese Feststellung kann auch Abbildung 6 noch einmal neu betrachtet werden! ). Eine besondere Verschränkung von Rassen- und Geschlechterstereotypen im Bilderbuch 299 Im Hinblick auf die Ausgangsfrage ist also festzustellen, dass unter derzeitigen Bedingungen industrieller Tierzucht Bachen und Eber einander nie treffen und folglich auch kein Paarmuster für (Bilder)Bücher liefern können. Um diese Lücke zu schließen, findet sich im Anhang als optionale Lektüre die Erzählung “Der Deckeber und die schöne Bache”. Anmerkungen * Der Titel ist die Variation eines Reimes aus dem Buch Das quiek-fidele Borstentier (Lobe und Oopgenorth 2000: 63, siehe Abbildung 5). 1 Ich danke Dr. Gunther Nitzsche, dem Vorsitzenden des Fördervereins Deutsches Schweinemuseum e.V. Ruhlsdorf, für wertvolle Anmerkungen und Ergänzungen zu einer Vorversion dieses Artikels. 2 Der Hinweis auf diese Variante stammt von meiner Schwester Petra Graitl. Danke, Petra! Literatur Dannenberg, Hans-Dieter (1990): Schwein haben. Historisches und Histörchen vom Schwein. Jena: Fischer. Franke, Werner (1991): Luise - Karriere einer Wildsau. Bergisch Gladbach: Lübbe. Hennig, Rolf (1998): Schwarzwild: Biologie, Verhalten, Hege und Jagd. München: BLV. Herfurtner, Rudolf und Reinhard Michl (2000): Gloria von Jaxtberg. Stuttgart: Thienemanns. Herfurtner, Rudolf und Reinhard Michl (2001): Rosa. Hamburg: Oetinger. Lobe, Mira und Winfried Opgenoorth (2000): Das quiek-fidele Borstentier. Innsbruck: Obelisk. Lotman, Jurij M. (1990): “Über die Semiosphäre”. Zeitschrift für Semiotik 12: 287-305. Möllers, Florian (2003): Wildschweine. Stuttgart: Franckh-Kosmos. Pieper, Werner (ed.) (1998): Die Deutsche Kakerlake. Ein Kakerlaken Kompendium. Löhrbach: MedienXperimente. Plarre, Werner (1999): “Die Rückzüchtung eines mittelalterlichen Weideschweins im Museumsdorf Düppel, Berlin”. In: Erzsébet Jerem und Ildikó Poroszlai (eds.): Archaeology of the Bronze and Iron Age. Budapest: Archaeolingua: 367-376. Platen, Heide (1999): Das Rattenbuch. Vom wahren Wesen unseres allgegenwärtigen Nachbarn. München: Goldmann. Reider, Katja und Jutta Bücker (2004): Trüffel und Rosalie. Eine Geschichte vom Glück. / Rosalie und Trüffel. Eine Geschichte von der Liebe. München: Hanser. Riszovannij, Mihály und Dagmar Schmauks (1999): “Geschlechtswechsel in der Karikatur”. Zeitschrift für Semiotik 21: 387-405. Schäfer, Burkhard (2001): Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Schmauks, Dagmar (1997): “Pflanzen als Zeichen”. Zeitschrift für Semiotik 19: 135-149. Schmauks, Dagmar (2005): “Semiotische Aspekte von Glücksräumen im Märchen”. In: Swantje Ehlers (ed.): Märchenglück - Glücksentwürfe im Märchen. Hohengehren: Schneider-Verlag, S. 54-65. Streblow, Lothar (1987): Borstel, der Frischling vom Eichwald. Bindlach: Loewe. Anhang Der Deckeber und die schöne Bache Deckeber Fridolin, ein rotes Duroc-Schwein mit dunklen Flecken, hatte niemals eine Sau gesehen außer seiner Mutter. Nachts träumte er manchmal von ihrem warmen Körper und dem feuchten Rüssel, mit dem sie ihn und seine Geschwister liebevoll putzte. Als mehrfach preisgekrönter Eber aus bestem Stall musste er dreimal wöchentlich zur Samengewinnung auf ein Phantom springen - eine künstliche Sau ohne Ohren, Augen, Rüssel und Ringelschwanz. Nicht sehr romantisch. Aber die Besamungsstation lag am Rande einer Stadt und eines Abends trat die junge Bache Susi aus dem Wald heraus, so dass Fridolin sie riechen konnte. Aufgeregt grunzend strich er am Zaun entlang, und die Bache kam Dagmar Schmauks 300 neugierig näher und antwortete. Sie erzählte vom Wald und ihrer Rotte, von wohligen Schlammbädern und gefährlichen Jägern, und er von gutem Futter, von Dienst nach Vorschrift und quälender Langeweile. Von diesem Tag an sahen sich die beiden jeden Abend und plauderten bis in die Nacht hinein. An einem nebligen Tag im späten Oktober war alles anders, denn Susi war in der Rausche. Sie roch so wunderbar, dass Fridolin die Sehnsucht packte und er nach einem Weg suchte, zu ihr zu gelangen. Aber der Zaun war hoch, sein Gehege kahl und sein Futtertrog an Boden angeschraubt. Unruhig wartete Susi jenseits des Gatters und feuerte ihn zu immer neuen Versuchen an. Nach vielem Probieren stellte Fridolin fest, dass sich ein Streugutcontainer ruckweise verschieben ließ. Er plagte sich die halbe Nacht, um ihn bis zum Gatter zu verrücken. Endlich war es geschafft, und mit einem triumphierenden Quieken konnte er über diesen Zwischenstopp in zwei hohen Sätzen in die Freiheit springen. Sie immer wieder umkreisend bewunderte Fridolin die wunderbaren langen Borsten der Bache, und sie seine kurzen roten Haare. Gerade als der Mond unterging und es im Osten langsam hell wurde, verschwanden zwei verliebte Schweine Rüssel an Rüssel im Wald, wo sie selig verschollen blieben. Die Besamungsfachleute glaubten an einen raffinierten Schweinediebstahl, und die Jäger wundern sich seit Jahren, dass in ihrem Revier zwischen vielen gestreiften Frischlingen immer wieder rostrote mit dunklen Flecken zu sehen sind - so schnell und schlau, dass sie noch nie einen erlegt haben. Review Article New Media - New Language? Ernest W.B. Hess-Lüttich The field of Communication and Media studies has expanded considerably in the past couple of decades. The output of publications in this field increases every year, but most of them deal with media from a sociological or a psychological point of view. “Relatively few have investigated the language of the media in depth - surprisingly perhaps, since language is at the core of media communication”, the editors write in their introduction to a collection of essays devoted to explore present day media language. 1 The authors are not only academics, but also journalists; this contributes to a dialogue well balanced between theory and practice, empirical analysis and self-observation. It also makes the book pleasant to read. It is divided into four sections with five chapters each, dealing with different aspects of the topic. The first part on modern media discourse contains five chapters investigating changes in the forms of media communication in recent years. The second part on modes of the media explores the ways in which media discourse is realised today. The third part focuses on the ways in which the representation of particular topics can influence the perception of the audience addressed. The fourth part illustrates some changes in our everyday communicative behaviour caused by the needs of the new media. For the sake of a quick overview, I will give a brief account of each of the twenty chapters. Allan Bell gives the example of two media reports on south-pole expeditions at the beginning and at the end of the 20 th century and explains the influence of social circumstances and technological innovation on the style, the grammar, the content, and the textual design of these reports both in newspapers and on television. With regard to the development of new technologies of communication, Raymond Snoddy maintains that new media will not replace old media but will be a complement to them; he argues for a strong public service to guarantee a plurality of programmes; and his prognosis on the effect of globalisation is an increase of local diversity of networks with different languages and cultural values. Globalisation is also the focus of Deborah Cameron’s contribution. She argues that it is not languages (English) that will be globalised, but norms of discourse. With this in mind, Cameron argues that some of the following maxims are relevant irrespective of the situation of their use: talk is preferred to silence, direct speech acts rather than indirect ones, symmetry rather than hierarchy, cooperation rather than competition, openness rather than taciturnity. These recommendations stem from North American traditions of therapy and are spread by the media. Robin T. Lakoff examines the change of politeness norms in public discourse over the K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 302 time and finds that impoliteness and vulgarity in speech behaviour are by no means a sign of our contemporary times only. They may be an attempt by new groups to be admitted to the community of public discourse, demanding the right to free speech by testing its limits. Martin Conboy takes a closer look at the British tabloid press and shows how it interprets topics of global interest in a popular way, thereby at the same time reducing their international relevance. The low level of language aims at establishing a community between the medium and its audience as a basis for its own economic growth. In the second part, modes of the media, John Carey explores differences and similarities between newspaper reporting, general reportage and literature. He comes to the somewhat paradoxical conclusion that the genre of reportage of today depends on the truth without being able to prove it. David Hendy looks how radio broadcasting tries to find its way between elitist and popular registers with specific reference to Britain’s BBC Radio Four. Angela Kessler and Alexander Bergs compare love letters then and now (in pre-electronic times and via text messages today) and find no evidence for a decline of reading or writing abilities; rather, the new media supports the development of linguistic creativity. Naomi S. Baron analyses verbal and para-verbal features of e-mails and face-to-face spoken language and finds their similarities as a common expression of the modern trend towards more relaxed forms of conversation and social conventions. Diana M. Lewis asks whether online news is a new genre as compared to traditional news reporting. She points to the enormous amount of data which has to be visualised in limited space. Links lead to all over the world, not always indicating the geographical distribution of the content. On the other hand, certain topics may lead to other news communities - where media globalisation meets with computer individualisation. Part three, entitled representations and models, is opened by a chapter of Malcolm Gluck on wine language. He illustrates the difficulties associated with professionally describing the sensual experience of taste. Wine language, with its inflation of metaphors, he argues, is about to lose its descriptive and inter-subjective value if not supplemented by what he calls prototypes (well defined expressions) to characterise wines by comparison. Alan Partington investigates the rhetoric of spin-doctors using language as a weapon against critical journalists. He describes the stylistic tools of hiding the underlying intention of what is communicated to the public. Jennifer M. Wei gives an example for intercultural differences in news broadcasting by looking at the use of metaphor in Taiwanese political discourse. Nuria Lorenzo-Dus analyses a particular show on family and education within the BBC talkshow series ‘Kilroy’. She explains the strategies of the talk monitor Kilroy, who manages to manipulate the audience to cooperate with him as he organises the structure of the conversation and at the same time gives it the feeling of free emotional expression. Catherine Evans Davies describes Martha Stewart as the ideal host of an internationally successful talk show in the United States (‘Martha Stewart Living’) and as an example of how to promote identification of a mass audience with an image presented in the media. Part four is devoted to the effect of the media on language, for linguists interested in present day English probably the most interesting part of the book. Yibin Ni examines noun phrases as a typical feature of media language and presents a quantitative analysis of the distribution of noun phrases in various genres of media language compared to academic writing and everyday discourse. Douglas Biber expands on this and shows how limited space has led to an increased density of style, mainly in the form of noun phrases holding a maximum of information. John Ayto explores the function of media in creating and spreading neologisms, especially so-called ‘blends’ (such as brunch for breakfast and lunch). Interest- New Media - New Language? 303 ingly, dictionaries with the most blends of this kind were those based on a corpus of newspapers, a reliable source of data for dictionaries in the 20 th century. John Simpson wonders whether new media language of e-mails, of the Internet and so on will have the same function in the 21 st century. In her concluding chapter, Jean Aitchison looks at descriptions of the events of September 11, 2001 in newspapers and the web. She shows how such shocking events create an extreme desire for articulation and new expressions. Many of the most used expressions can still be noticed in language use even years later. Most of the chapters are based on papers presented at a conference at the University of Oxford in 2001. As such they do not go into great detail, but give a good overview of the present state of the discussion in this field. Therefore, the book can be recommended to everybody interested in the role of the media in language change (i.e. English) and in linguistic implications of public communication today. However, potential buyers of the book should not be misled by the title of the book. Most of it deals not so much with language in the “new media”, but rather traditional ones such as newspapers and television (some chapters devoted to wine language etc. not even that). Readers interested in the language use of the Internet, of e-mail correspondence, of chat-room conversations, of hypertext systems and the like, should probably look elsewhere for new results of research on these forms of speech and their influence on our everyday communication rituals which are increasingly shaped by the norms and rules introduced by new media in the stricter sense of the word. Notes 1 Jean Aitchison and Diana M. Lewis (eds.) 2003: New Media Language, London: Routledge, 209 + xiv pp. ISBN 0415283043 (pbk) Geschichte der Sprachtheorie Herausgegeben von Peter Schmitter Zur Theorie und Methode der Geschichtsschreibung der Linguistik Analysen und Reflexionen Hrsg. v. Peter Schmitter GdS 1, 1987, X, 257 Seiten, geb. € 64,-/ SFr 108,- ISBN 3-87808-671-7 Um deutlich zu machen, daß jede Wissenschaftsgeschichtsschreibung notwendig auf zahlreichen - meist allerdings nicht explizit gemachten - historiographischen Voraussetzungen beruht, ist der Eröffnungsband des Werkes grundlegenden theoretischen und methodologischenFragen der Geschichtsschreibung der Sprachwissenschaft gewidmet. „Mit dieser systematisch angelegten Sammlung von Artikeln ist für die Historiographie der Linguistik eine bedeutende Leistung erbracht worden. Wer sich über antike Sprachtheorien informieren will, wird diesen Band dankbar zur Hand nehmen.“ Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft „Ebbesen und Schmitter haben mit dem 3. Band der Geschichte der Sprachtheorie einen vorzüglichen Überblick über Stand und Aufgaben bei der Erforschung der Sprachtheorien in Spätantike und Mittelalter vorgelegt.“ Historiographica Linguistica Sprachtheorien der abendländischen Antike Hrsg. v. Peter Schmitter GdS 2, 2., verb. Aufl. 1996, XII, 430 Seiten, geb. € 68,-/ SFr 115,- ISBN 3-87808-672-5 Sprachtheorien in Spätantike und Mittelalter Hrsg. v. Sten Ebbesen GdS 3, 1995, XX, 408 Seiten, geb. € 74,-/ SFr 124,- ISBN 3-87808-673-3 Sprachtheorien der Neuzeit I Der epistemologische Kontext neuzeitlicher Sprach- und Grammatiktheorien Hrsg. v. Peter Schmitter GdS 4, 1999, XII, 434 Seiten, geb. € 84,-/ SFr 139,- ISBN 3-8233-5010-2 Sprachtheorien der Neuzeit II Von der Grammaire de Port-Royal (1660) zur Konstitution moderner linguistischer Disziplinen Hrsg. v. Peter Schmitter GdS 5, 1996, XII, 487 Seiten, geb. € 84,-/ SFr 139,- ISBN 3-8233-5011-0 Gunter Narr Verlag Tübingen Die Geschichte der Sprachtheorie (GdS) ist konzipiert als ein auf internationaler Kooperation beruhendes Handbuch zur Sprachwissenschaftsgeschichte, in dem in insgesamt neun Bänden die Geschichte der Sprachbeschreibung, der Reflexion über Sprache, des Sprachunterrichts und der Sprachverwendung dargestellt wird. In Vorbereitung: Sprachtheorien der Neuzeit III Sprachtheorien der Neuzeit IV Sprachtheorien nichtwestlicher Traditionen Materialien zur Geschichte der Sprachtheorie Review Article Die Pointe auf den Punkt gebracht Ernest W.B. Hess-Lüttich Sprachliche Pointen, soviel weiß man auch ohne theoretische Anstrengung, zielen auf einen Verblüffungseffekt beim Hörer oder Leser. Die Pointe wirkt, wenn sie wirksam sein soll, aus dem Moment heraus, unberechenbar, sie trifft schlagartig, wie ein Stich, und verflüchtigt sich wieder. Dieser Effekt hat nun manche theoretischen Überlegungen ausgelöst von den antiken Rhetorikern (Aristoteles, Cicero, Quintilian) über die barocken poetologischen Traktate bis zu Lessing, Herder, Schopenhauer, Freud und die heutige Literaturtheorie, Linguistische Poetik und Textsemiotik. Ralph Müllers Theorie der Pointe 1 bietet einen verdienstvollen historischen Abriß über die rhetorische, sprach- und literaturtheoretische Diskussion der Pointe (Kap. 2), schlägt eine Definition und Typologie der Pointe vor (Kap. 3 u. 4) und untersucht ihre Funktionen innerhalb der Kurztexte Witz, Aphorismus, Anekdote, Epigramm und Sketch (Kap. 5-8). ‘Pointe’ leitet sich von lat. puncta ab, der femininen Form von punctum, also ‘Stich’ oder ‘Spitze’, und bezeichnet seit Herder und Lichtenberg den “witzigen, geistreichen Höhe- und Schlusspunkt eines kurzen Textes” (15). 2 Gut, aber was sind die (sprachlichen) Bedingungen seiner besonderen Wirkung? Wodurch genau wird sie ausgelöst? Diesen Fragen widmet sich Müller nach seinem Rückblick auf die Begriffsgeschichte unter methodischem Rückgriff auf die von seinem Lehrer Harald Fricke maßgeblich entwickelte Begriffsexplikation 3 im 3. Kapitel und präpariert anhand eines konkreten Beispiels modellhaft die textlichen Dispositionen heraus, die beim Leser eine Pointen-Wirkung hervorrufen können. Dazu bedarf es einigen explikativen Aufwandes. Nehmen wir eine kurze Sequenz wie die folgende: im Atelier sagt ein Besucher: “An diesem Bild kann man sich wirklich nicht satt sehen! ” Der Maler stimmt zu: “Ja, deswegen möchte ich es ja auch verkaufen” (102). Ihre Wirkung beruhe auf mindestens vier notwendigen und einigen weiteren optionalen Merkmalen. Da sei zum ersten die Inkongruenz, also die Kollision eines wahrgenommenen Sachverhalts mit dem erfahrungsweltlichen Wissen: “Inkongruent ist ein Sachverhalt oder Text dann, wenn er deutlich davon abweicht, was aller Erfahrung nach eintreten soll” (104). Das reicht aber noch nicht; dem Rezipienten muß darüberhinaus ‘ein Licht aufgehen’, d.h. die durch Inkongruenz ausgelöste Irritation muß - etwa durch einen unvermuteten, aber erhellenden Zusammenhang - sinngerecht aufgelöst werden. Zur Inkongruenz gehört also ihre Auflösung im Sinne eines Aha-Effektes. Eine Pointe erkennen bedeutet ein kognitives K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 306 Problem lösen, ein Puzzle vervollständigen. Inkongruenz muß daher zugleich eine partielle oder versteckte Kongruenz enthalten, und dies setzt ein spezifisches, meist kultur- und zeitabhängiges Wissen voraus. Wird zudem auf dieses Wissen nur implizit angespielt, muß der Leser in irgendeiner Form Kenner sein. In unserm Beispiel reagiert der Maler auf die unmarkiert gebrauchte Wendung des ästhetisch entzückten Besuchers mit einer vordergründig inkongruenten Entgegnung, die innerhalb eines anderen (ökonomischen) Bezugsrahmens reinterpretiert und dadurch sinnfällig aufgelöst wird. Zwei weitere wichtige Merkmale zur Charakterisierung einer textlich bestimmten Pointen- Disposition betreffen die Anordnung und Dosierung von Informationen. Verfrühte Informationsvergabe läßt den Witz leicht verunglücken. Die Informationsverteilung kann empirisch durch Variantentests überprüft werden, indem man die einzelnen Teilinformationen der Pointe umstellt und dabei die unterschiedlichen Wirkungen beobachtet. Auf diese Weise können pointierte Teile ermittelt werden. Die Wirkung der Pointe beruht also auf der genauen Kalkulation des Erzählablaufs und dessen knapper, konziser Entfaltung. Konzis heißt nicht notwendigerweise kurz, sondern frei von unnötiger Geschwätzigkeit. Die ideale Texttektonik verweist die Pointe dabei auf den Punkt des schnörkellosen Schlusses. Zu den notwendigen Textmerkmalen kommen fakultative: Kohärenzbruch, Uneigentlichkeit oder Kondensation. Ein Kohärenzbruch im Textzusammenhang täuscht die Erwartungshaltung des Rezipienten. Er tritt meist in dialogischen Witzen als markierte Form von Inkongruenz auf. Kohärenzbruch wie Inkongruenz sind semantische Konzepte und beschreiben dasselbe Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Kohärenzbruch bewirkt, daß ein Text während seiner Rezeption aufgrund der Enttäuschung einer Erwartung neu interpretiert werden muß, und impliziert deshalb eine syntagmatische Abfolge seiner Elemente. Inkongruenz dagegen beschreibt das Verhältnis der involvierten Konzepte unabhängig von der Abfolge; sie bleibt auch dann bestehen, wenn man z.B. die Textabfolge umkehrt. Uneigentlichkeit liegt dann vor, wenn die Bedeutung eines aktuellen Textelements aufgrund seiner ironischen Verwendung uminterpretiert werden muß wie in dem Fall des Hotelgastes, der angesichts der ihm zugedachten Honigmenge die Serviererin lobt: “Ach was, eine Biene haben sie auch? ” (123). Ein Sonderfall der Uneigentlichkeit ist die Kondensation. Sie liegt dann vor, wenn der Doppel- oder Mehrfachsinn bereits in einem Textelement verdichtet wird. Dies ist z.B. bei Amphibolie (Ambiguität) der Fall, kann aber auch durch eine Metapher oder Metonymie erzeugt werden. Am deutlichsten wirkt die Kondensation dann, wenn der Aufschluß des pointierten Textes zwei differente und inkongruente Interpretationen erlaubt. Aus genauen Textanalysen und präzisen Begriffsbestimmungen leitet Müller schließlich seine Definition der Pointe ab (126): Genau dann, wenn ein Text (1) inkongruente Elemente aufweist, die durch ihren (2) unvermuteten Zusammenhang sinnvoll erklärt werden können, und wenn dieser Text (3) tektonisch und (4) konzise und zusätzlich (5a) kondensiert oder auch (5b) gebrochen kohärent oder auch (5c) uneigentlich präsentiert ist, dann ist er pointiert und kann pointen-wirksam sein. Seine im Anschluß daran entwickelte Typologie differenziert zunächst nach formalen und inhaltlichen Merkmalen zwischen Wort- und Sachpointen. Wortpointen entstehen primär durch die gewählten Ausdrücke, z.B. mehrfache Bedeutungen eines Wortes, unverwechselbares Lautbzw. Schriftbild oder eine bestimmte syntagmatische Verknüpfung. Ihr Wortlaut kann an den markanten Stellen nicht verändert werden, ohne die Wirkung der Pointe zu beeinträchtigen. Deshalb können Wortpointen erhebliche Übersetzungsprobleme verursachen. Je nach Wirkungsrichtung und Grad der Ähnlichkeit wird das Wortspiel durch Die Pointe auf den Punkt gebracht 307 syntagmatische oder paradigmatische Verknüpfung erzielt, was folgende Klassifikation erlaubt (135): Identität der Zeichenausdrücke Ähnlichkeit der Zeichenausdrücke horizontal Anaklasis Paronomasie vertikal Amphibolie Kontamination, Kalauer, Substitution Schwieriger ist die Klassifikation der Sachpointen. Müller unterscheidet solche mit akzentuierter Inkongruenz und solche mit einem größeren Potential von Zusammenhängen. akzentuierte Inkongruenz Zusammenhangspotential pointiert Verschiebung sachlogischer Bruch Unifizierung indirekte Darstellung tendenziell nicht pointiert Antipointe Lakonismus, Auflösung Definition, Klassifikation und Typologie der Pointe müssen ihre Tauglichkeit in der Anwendung auf verschiedene Kurztextformen erweisen. Müller versucht das anhand von Epigramm, Anekdote, Aphorismus und Sketch zu zeigen. Das Epigramm hat eine lange Tradition. Auf der einen Seite steht das einfache griechische Epigramm nach Art der griechischen Anthologie und des römischen Dichters Catull mit dem vorherrschenden Merkmal der venustas (Anmut). Auf der anderen Seite das zweiteilig zusammengesetzte römische Epigramm nach Martial, das später im 16. und 17. Jahrhundert als Vorbild diente. Viele Autoren sehen in der zweiteilig strukturierten Pointiertheit ein wesentliches Merkmal des Epigramms. Müllers Definition schließt jedoch beide Formen ein (155): Ein Epigramm ist ein (1) Verstext, der mit (2) prägnanter Kürze (brevitas) (3) sich auf einen im Text implizit oder ausdrücklich erwähnten Gegenstand bezieht (“Objektbezug”). Typisch, aber nicht notwendig sind folgende Merkmale: In der Regel enthält ein Epigramm (4a) einen Titel oder auch (4b) eine Pointe, und es befolgt (5a) Reimform oder auch (5b) ein festes metrisches Schema. Müller konzentriert seine Untersuchungen zur Technik der Pointe beim Epigramm auf deutsche Autoren des 17. Jahrhunderts. Er stellt dabei fest, dass sich seine vorgeschlagene Definition durchaus auch auf die Epigramm-Analysen der damaligen Zeit anwenden lassen. Schon in Jacob Masens Überlegungen zum Epigramm 4 entdeckt Müller das Merkmal der Inkongruenz und das des Zusammenhangs; das diskutierte Beispiel erfülle die Kriterien der Konzision und des Kohärenzbruchs; nur die Art der Informationsverteilung sei kaum diskutiert. Dieser Befund stimmt Müller zuversichtlich für eine allgemeine historische Anwendbarkeit seiner Pointen-Definition. Aus einer historisch-systematischen Rekonstruktion des Gattungsbegriffs der Anekdote leitet Müller dann ebenfalls eine Definition ab, in der Pointiertheit als typisches (optionales), aber nicht notwendiges Merkmal gilt (197): Eine Anekdote ist (1) episch-fiktional. Sie gibt sich aber den (2) Anschein von historischer Glaubwürdigkeit bzw. Faktizität durch ein (2a) historisch belegtes Individuum oder auch (2b) ein historisches Ereignis. Zudem ist sie (3) stofflich konzis und (4) abgeschlossen, sei es durch (4a) eine Pointe oder (4b) eine blosse Reaktion. Das erzählte einzelne Ereignis steht (5) Ernest W.B. Hess-Lüttich 308 metonymisch-uneigentlich für (5a) etwas Allgemeines, zumindest aber für (5b) typisierte Züge eines Individuums. Die Wirkung, die eine Pointe in einer Anekdote erzielt, muß jeweils am konkreten Beispiel diskutiert werden, weil zu viele Faktoren sich gegenseitig beeinflussen. Auch beim Aphorismus geht Müller von einer Gattungsdefinition aus. Auch bei dieser Gattung wird die historische Entwicklung zum Problem, denn Aphorismen neuerer Prägung lassen sich oft nur schwer von anderen Formen der Kurzprosa abgrenzen. Müller entscheidet sich für eine sich am traditionellen Gattungsbegriff orientierende Definition (230): Ein Aphorismus ist ein (1) nichtfiktionaler Text in (2) Prosa in einer Serie gleichartiger Texte. Innerhalb dieser Serie ist er aber jeweils (3) von den Nachbartexten isoliert, also in der Reihenfolge ohne Sinnveränderung vertauschbar. Zusätzlich ist der Aphorismus (4a) in einem einzelnen Satz oder auch (4b) anderweitig in konziser Weise formuliert oder auch (4c) sprachlich pointiert oder auch (4d) sachlich pointiert. Es gibt Aphorismen, die weder einer Pointe noch einer Inkongruenz bedürfen und die trotzdem anderen Aphorismen in Wirkung und Kühnheit nicht nachstehen. Auf der anderen Seite teilen Aphorismen zuweilen mit pointierten Texten viele Merkmale, so daß es schwer fällt, mit formalen Kriterien die Grenze zwischen pointierten und nicht-pointierten Aphorismen zu ziehen. Aphorismen weisen Merkmale auf, die sie mit der Pointe teilen (Inkongruenz, Kohärenzbruch, Zusammenhangsbildung, Konzision). Müller untersucht diese Merkmale im Aphorismus auf ihre Pointierung hin und kann so die Randzonen der Pointierung deutlicher herausarbeiten. Schließlich der Sketch: eine noch relativ junge Gattung, für die eine Gattungsgeschichte bislang ebenso aussteht wie eine präzise Gattungsdefinition, die Müller nun erarbeitet hat und die eine genauere Abgrenzung der Gattung von ihrem nächsten Verwandten erlaubt, ohne Genre-Bezeichnungen wie Monolog, Einakter, Mittelstück oder neuerdings Stand-up-Comedy und Conference prinzipiell auszuschließen (274): Ein Sketch stellt (1) fiktive Handlungen bzw. Ereignisse (2) dramatisch dar. Von anderen szenischen Darstellungen unterscheidet sich die Gattung durch ihren (3) geringen Komplexitätsgrad: Im Sketch ist die Handlung meistens (3a) auf einen Schauplatz bzw. (3b) auf eine einzige, zeitdeckend gespielte Aktion bzw. Dialogabfolge beschränkt (3c) bzw. auf zwei, selten mehr als vier Bühnenfiguren. Diese Bühnenfiguren sind dem Rezipienten (4) bereits in Umrissen vertraut (4a) durch Typenhaftigkeit oder auch (4b) durch Intertextualität oder auch (4c) durch erkennbare Verschlüsselung. Der Text zielt auf die (5) Erzeugung von Komik durch (5a) mindestens eine (in der Regel abschliessende) Pointe oder auch (5b) durch weitere Mittel der Unterhaltung (wie Slapstick, Stimmimitation etc.) oder auch (5c) durch satirische Attacke. Innerhalb des Sketches wird die Pointe meist im Rahmen eines Dialogs aufgebaut und realisiert. Für die Analyse bietet das mehrere Probleme. Zum einen müssen die Textelemente segmentiert werden, dann müssen die einzelnen Pointen gegeneinander abgegrenzt werden und dann spielen auch noch para- und non-verbale Elemente eine wesentliche Rolle für ihren Aufbau. Diese unterschiedlichen Probleme sucht Müller mit Methoden der Gesprächsanalyse zu lösen. Dabei diskutiert er unterschiedliche Techniken zur Pointenbildung. Pointen treten z.B. im Sketch (und im Kabarett) u.a. dann auf, wenn vom Thema abgewichen wird. Ebenso erzielt man mit dem umgekehrten Verfahren Pointen-Effekte, indem ungewöhnliche Zusammenhänge geschaffen werden. Auch hier gilt also, daß das Kriterium der Inkohärenz mit demjenigen der Zusammenhangsbildung eng verbunden ist. Außerdem gibt es im Sketch eine ‘strukturelle’ Pointe, die durch wiederholten Auftritt einer Figur etabliert werden kann. Im Die Pointe auf den Punkt gebracht 309 Ablauf eines Abendprogramms können z.B. einer Figur immer wieder dieselben oder ähnlich konzipierte Mißgeschicke unterlaufen, deren Sequenz Pointenwirkung erzielt. Folgen innerhalb eines Sketches freilich zu viele inkongruente Redebeiträge aufeinander, so daß kein Zusammenhang mehr herzustellen ist, ist leicht die Grenze zum ‘Blödeln’ überschritten, wovon man sich allabendlich in den Comedy-Progammen des Fernsehens ein Bild machen kann. Müllers Begriffs-Explikation der Pointe erweist sich in der Anwendung auf die verschiedenen Kurzformen Epigramm, Anekdote, Aphorismus und Sketch als nützliches Raster und Instrument. Auch wenn die einzelnen Merkmale bei jeder Gattung und bei jedem Beispiel individuell auf ihre Wirkung hin überprüft werden müssen, bildet die Definition einen guten Anhaltspunkt für weitere Abgrenzungen. Zugleich wird im Zusammenhang der einzelnen Merkmale zur Pointenbildung der Blick für den strukturellen Aufbau solcher Textarten geschärft. Beispielsweise können Inkongruenzen je nach Zusammenhang und Informationsverteilung im Text ganz unterschiedlich wirken. Diese Effekte können in konfliktären Gesprächen auch taktisch genutzt werden. Bei aller Liebe zum Detail bringt Müllers Theorie der Pointe die Wirkungsweise pointierter Texte in klarer, sachlicher Diktion auf den Punkt, indem er die Vielschichtigkeit des flüchtigen Pointen-Effektes an zahlreichen Beispielen anschaulich demonstriert. Die historische Darstellung zum Phänomen Pointe ist im deutschsprachigen Raum (in Frankreich ist die Forschungslage etwas besser) bislang viel zu kurz gekommen. Hier bietet die Untersuchung Neues zur Wandlungsfähigkeit von Begriffen im Umfeld der Pointe, besonders wenn allgemeine Begriffe des Geistes (Enthymem, Sentenz, Konzept, Ingenium, Witz) auf Phänomene der Pointe reduziert werden. Historisch interessierten Semiotikern dürfte auch der auf kognitivistischen Studien zur Komik (z.B. von Salvatore Attardo oder Victor Raskin) basierende Analyseansatz gefallen (wenn auch Peter Wenzels Studie über den Witz ein plausibles Konkurrenz-Modell vorgestellt hat). Verdienstvoll auch die Analyse von Pointen in Textsorten, deren Pointierheit immer wieder behauptet wird. Das Bemühen um klare Definitionen ist gerade im literaturwissenschaftlichen Diskurs durchaus zu würdigen und bietet in der kritischen Rede z.B. über die Textsorte Sketch, zu der mir bislang kaum nennenswerte Vorarbeiten bekannt geworden sind, sichere Haltepunkte. Fußnoten 1 Ralph Müller 2003: Theorie der Pointe, Paderborn: mentis, 341 S., ISBN 3-89785-112-1. 2 Die Zahlen in Klammern verweisen im Folgenden stets auf die Seiten in Müllers Buch (Anm. 1). 3 Fricke, Harald 2000: “Begriffsgeschichte und Explikation in der Literaturwissenschaft”, in: Gunter Scholz (ed.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000. 4 Masen, Jacob: Ars nova argutiarum Eruditiae et Honestae, Recreationis, In duas partes divisa. Prima est Epigrammaticum. Altera Inscriptionum Argutarum, 3. Aufl. Köln 1687. Literaturwissenschaft Narr Francke Attempto Verlag Postfach 2567 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 75288 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.) »Alle Welt ist medial geworden.« Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der klassischen Moderne Internationales Darmstädter Musil-Symposium Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur (KULI) 4, 2005, 297 Seiten, € 59,-/ SFr 100,- ISBN 3-7720-8123-1 Die Beiträge dieses Bandes gehen größtenteils auf ein Internationales Darmstädter Musil-Symposium zurück, das vom 30. bis 31. Oktober 2003 an der TU Darmstadt unter dem Thema Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der klassischen Moderne stattgefunden hat. In Person und Werk des österreichischen Schriftstellers Robert Musil (1880- 1942) begegnen sich gleichsam paradigmatisch für die Moderne Philosophie und »technische Kulturarbeit« (Eugen Wolff), Literatur und Naturwissenschaften, Mathematik, Ingenieurwissenschaft und Psychologie zu einem Stelldichein des Diskurstransfers. Im einzelnen werden folgende Themen vorgestellt: › Moderne Stadt ‹ bei Künstlern und Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts, der ingenieurwissenschaftliche Diskurs, Nietzsches Moderne-Begriff, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft in der klassischen Moderne, Hofmannsthal und die Zeppelinkatastrophe, die Inszenierung von Sexualität am Beispiel Wedekinds, das Verhältnis von Naturwissenschaft, Magie und Literatur, die Wechselbeziehung von Gender und Gewalt in der Vollendung der Liebe, Schwierigkeiten des Übersetzens technischer und wissenschaftlicher Begriffe bei Musil, die Beziehung zwischen Karl Mannheim und Musil, der Sportkörper als ein Paradigma der Moderne bei Musil u.a. Review Article Neues zur literarischen Übersetzung Klaus Kaindl Der vorliegende Band fasst die Forschungsbemühungen und -ergebnisse des Göttinger Sonderforschungsbereichs 309 “Die literarische Übersetzung” zusammen. 1 Der SFB wurde 1985 gegründet und befasste sich mit der “Erforschung der Übersetzung als Übersetzung, also gewissermaßen als grenzüberschreitender Verkehr zwischen zwei Sprachen, Literaturen und Kulturen.” (Frank 1987: XIII). Der SFB bestand 12 Jahre, wobei nach 1996 noch eine Reihe von Anschlussarbeiten, die ebenfalls in den Ergebnisband integriert sind, durchgeführt wurden. Insgesamt wurden in der eigens dafür gegründeten Reihe 18 Bände publiziert, in denen eine beeindruckende Palette literarischer Genres, von Lyrik über Romane und Kurzgeschichten bis hin zu Theaterstücken unter verschiedenen Blickwinkeln mit Hilfe eigens dazu entwickelter theoretischer Ansätze und Modelle analysiert wurde. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich dabei vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Ziel des SFB war es, einen Beitrag zur Kulturgeschichte der Übersetzung zu liefern. Anhand von Fallstudien und zum Teil großen Übersetzungscorpora sollte so die Rolle und Funktion der Übersetzung in der deutschen Literaturgeschichte erhellt werden. Dieser letzte Band gibt einen Überblick über die Gesamtheit der verschiedenen Projekte und fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen. Die Konzeption und Durchführung der Projekte fiel in die Zeit der Emanzipationsbestrebungen der Übersetzungswissenschaft, in der sich das Fach von seinen ausgangstextfixierten philologischen Mutterdisziplinen emanzipierte und eine Reihe von zieltextorientierten und kultursensitiven Ansätzen entwickelte (vgl. Reiß/ Vermeer 1984; Toury 1980; Hermans 1985). Die Umbruchszeit spiegelt sich auch in der theoretischen Ausrichtung des Göttinger Sonderforschungsbereiches wider, der eine eigene Position zwischen traditionellen philologischen und funktional-systemorientierten Ansätzen einzunehmen versucht. Diese theoretische und methodologische Positionierung wird im ersten, sehr umfassenden Aufsatz “Der Transferansatz in der Übersetzungsforschung” von Armin Paul Frank / Harald Kittel dargelegt. In einer kurzen - und zum Teil auch verkürzenden - Darstellung des Forschungsstandes zur literarischen Übersetzung werden zunächst die präskriptiven Ansätze der ausgangstextorientierten philologischen Übersetzungswissenschaft als für literarische Übersetzungsforschungen unbrauchbar verworfen. Auch die vermeintliche Fixierung der systemorientierten Descriptive Translation Studies auf den Zieltext als primären Untersuchungsgegenstand wird problematisiert, da dieser jene Aspekte unberücksichtigt lässt, die der Sonderforschungsbereich in den Mittelpunkt rückt, nämlich: “den Entstehungszusammenhang K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Klaus Kaindl 312 des Werks als auch den seiner Übersetzung(en) unter besonderer Berücksichtigung der Schwierigkeiten, der Wechselhaftigkeit und der Chancen der übersetzerischen Überwindung der Unterschiede zwischen zwei Sprachen, Literaturen und Kulturen” (Frank/ Kittel, S. 5). Folglich wird Übersetzung immer auch mit einer Übersetzungsvorlage gekoppelt und unter dem Aspekt des Transfers untersucht. Auf der Grundlage des Transfergedankens werden eine Reihe von Konzepten entworfen, mit denen Übersetzung als eine eigene Geschichte, die sowohl in einer Kultur als auch zwischen Kulturen spielt, analysiert werden soll. Im Spannungsfeld von Ausgangs- und Zielnation einerseits sowie Internationalität andererseits vollzieht sich für den SFB die Übersetzung im Kontext von Netzen und Regimen. Erstere umfassen all jene Instanzen, die an der Vermittlung von Übersetzungen beteiligt sind, zweitere die “Grundsätze, Verfahren und Normen” (Frank/ Kittel S. 15), die mit dem Austausch literarischer und übersetzter Werke verbunden sind. Indem Transfer immer auch Transformation bedeutet, wendet sich die Arbeit explizit vom - philologischen - Äquivalenzprinzip ab und spricht der Übersetzung eine “‘kulturschaffende Differenz’” (Frank/ Kittel S. 20) zu, durch die die “Lesekultur” - ein weiterer Schlüsselbegriff in der Übersetzungsforschung - beeinflusst werden kann. Die Unterschiede, die sich zwischen Original und Übersetzung notwendigerweise ergeben, manifestieren sich sowohl auf der sprachlichen, literarischen als auch kulturellen Ebene. Zur weiteren Strukturierung der Übersetzungsforschung wird in der Folge zwischen äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte unterschieden. Erstere ähnelt sehr stark dem Konzept der “preliminary norms”, wie sie von Toury (1980) postuliert wurden. Diese umfassen Fragen wie z.B., was wurde übersetzt, was nicht, aus welchen Sprachen, wie oft etc. Zweitere gehen auf das konkrete Textmaterial ein, das, ähnlich wie bei Tourys “operational norms” sowohl auf makroals auch mikrotextueller Ebene untersucht wird. Die im Sonderforschungsbereich durchgeführten Studien nahmen entweder sämtliche Übersetzungen eines Werkes in den Blick (sogenannte Kometenschweifstudien) oder konzentrierten sich auf die Übersetzungen eines Übersetzers (übersetzerorientierte Studien) bzw. Autors (autororientierte Studien) oder gingen von strukturierten Corpora aus (repertoireorientierte Studien). Die Analysemethode wird durch eine Übersetzungshermeneutik bestimmt, die ein kontextualisierendes Untersuchen der Differenzen zwischen Ausgangstext und Zieltext mit Hilfe von Normen ermöglicht. Diese werden als “Anforderungen, unter denen ein Übersetzer steht” (Frank/ Kittel S. 54 Hervorhebung i.O.) beschrieben und je nach Verbindlichkeit in absolute und relative Normen differenziert. Damit unterscheiden sie sich einerseits vom Normenkonzept, wie es Toury (1980) vorgeschlagen hat, andererseits ließen sich hier auch Überschneidungen zu Hermans (1997) Unterscheidung von Normen und Konventionen herstellen. Auch das vom Sonderforschungsbereich eingeführte Konzept der “Portale”, die den innovativen Einfluss von Übersetzungen auf die Literaturproduktion der Zielkultur meinen, kann mit der von Even-Zohar (1978) im Rahmen seiner Polysystemtheorie entwickelten “sekundären Funktion” von Übersetzungen korreliert werden. Diesen theoretischen und methodologischen Grundsätzen sind die in diesem Band zusammengefassten Projekte verpflichtet, die in zwei Teilen präsentiert werden. Zunächst werden insgesamt vier früh abgeschlossene Projekte vorgestellt, danach werden jene drei Arbeitsfelder, die kontinuierlich während der Existenz des Projekt bearbeitet wurden (Poetik und Rhetorik des Fremden, Drama und Theater, Weltliteraturanthologien und -serien) ergebnishaft zusammengefasst. Zu den früh abgeschlossenen Projekten gehören die sogenannten “Kometenschweifstudien”, die von Armin Paul Frank und Brigitte Schultze beschrieben werden. Hier beschäftigte man sich mit historischen “Reihen von Mehrfachübersetzungen desselben Werks Neues zur literarischen Übersetzung 313 in ein und demselben Literatur-, Sprach- und Kulturpaar” (Frank/ Schultze, S. 73). Dabei wurden sowohl innere als auch äußere Übersetzungsgeschichte von Versübersetzungen (u.a. Werke von T.S. Eliot, E.A. Poe), Kurzprosaübersetzungen (von Herman Melville), Dramenübersetzungen (u.a. Molière, Gogol, Strindberg) untersucht. Besonders innovativ sind in diesem Zusammenhang sogenannte integrierte Studien, in denen Werke mehrerer Autoren (in diesem Fall die fünf am häufigsten übersetzten US-amerikanischen Kurzgeschichten) zueinander in Beziehung gesetzt werden. Hier wird das komplexe und komplizierte Zusammenspiel von historischen Voraussetzungen, zielkulturellen Gegebenheiten und übersetzerischer Individualität besonders deutlich gemacht. Diese Komplexität und die daraus resultierenden oft gleichzeitig existierenden unterschiedlichen Übersetzungskonzeptionen und -strategien führen die Autoren auch dazu, das Postulat einer Übersetzungsgeschichte im Sinne einer linearen Entwicklungsgeschichte in Frage zu stellen. Wilhelm Graeber legt eine Forschungsbilanz zum Thema Übersetzungen aus zweiter Hand vor. Der Fokus lag dabei auf der Rolle, die das Französische bei der Vermittlung englischer Literatur einnahm. Nach einem Überblick zum Forschungsstand werden die Gründe analysiert, die dazu führten, dass im 18. Jahrhundert immer wieder nicht das englische Original, sondern die französische Übersetzung als Vorlage für die deutsche Fassung diente. Hierbei spielten sowohl geistesgeschichtliche als auch literaturhistorische und verlegerische Faktoren eine Rolle. Wie sich das Übersetzen englischer Texte über den französischen Umweg in poetologischer aber auch wirkungsästhetischer Hinsicht auswirkte, wird danach anhand einer Fallstudie exemplarisch vorgeführt. Zu den übersetzerorientierten Studien gehört das Projekt “Knotenpunkt Übersetzer: Übersetzen aus mehreren Sprachen und Literaturen als Problem des Übersetzers”, das von Fritz Paul resümiert wird. Anhand von Übersetzern aus mehreren Sprachen sollte dabei der Einfluss des Individualstils eines Übersetzers auf seine Arbeit untersucht werden. In verschiedenen Versuchsanordnungen und Genres, in denen der Dichter und Übersetzer Adolf Strodtmann im Mittelpunkt steht, wurde dabei das Spannungsfeld zwischen Individualstil und literarischen Normen ausgelotet. Harald Kittel fasst die Ergebnisse des Projekts “Übersetzte Erzählprosa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts” zusammen, in dem Stilfragen und stilistische Verfahren den Mittelpunkt bildeten. Anhand der Erlebten Rede wurde in französischen und russischen Romanen und ihren Übersetzungen untersucht, wie sprachlich-grammatikalische Systemunterschiede in der Übersetzung zu anderen Interpretationen der Erzählung führen. So wurden z.B. der “style indirect libre”, wie ihn Flaubert und Zola verwendeten, sowie die spezifische Erzählperspektiven bei Dostojevski und Joseph Conrad und die Wiedergabe in deutschen Übersetzungen analysiert. Auch hier kamen die beteiligten Forscher zum Ergebnis, dass beim übersetzerischen Umgang mit Erzähltechniken keine lineare Entwicklung, die sich an den Normen literarischer Systeme orientiert, feststellbar war, was zu dem Schluss führte, dass “die Entscheidungen der individuellen Übersetzerpersönlichkeit als zugleich interpretierender und gestaltender Instanz den höheren Erklärungswert besitzen.” (Kittel S. 135) Dem Abschnitt “Poetik und Rhetorik des Fremden”, dem ersten der drei kontinuierlichen Arbeitsfelder des SFB, ist zunächst ein Grundsatzartikel von Horst Turk vorangestellt, in dem die gegenseitige Befruchtung von Literatur- und Übersetzungswissenschaft sowie die verschiedenen Möglichkeiten der Übersetzungsanalyse und -interpretation dargestellt werden. Die Öffnung der Literaturgeschichtsschreibung wird danach von Doris Bachmann-Medick anhand der Beschreibung des Projekts “Das Fremde” veranschaulicht. Die Übersetzung als kulturelles und soziales Geschehen, die Beziehung zwischen Kultur und Übersetzung, die Klaus Kaindl 314 Rolle der Übersetzung bei der Internationalisierung von Literaturen bildeten das weite Untersuchungsfeld dieses Projekts. Ausgehend von einer Begriffsdifferenzierung von Fremdheit und Andersheit wurde die Übersetzung als eine Kontaktgeschichte zwischen Kulturen betrachtet. Auf die Ausweitung des Analyserahmens auf die kulturelle Bedingtheit und die Erweiterung des Übersetzungsbegriffs in Richtung auf eine “kulturelle Übersetzung” (Bachmann-Medick S. 164), reagierten die Projektteilnehmer mit der Integrierung ethnologischer Erkenntnisse. Der Umgang bzw. die Konstruktion “des Anderen” wurde dabei sowohl im (post)kolonialen Kontext im Hinblick auf den Einfluss von Machtbeziehungen auf die kulturelle Bedeutungsproduktion als auch im Hinblick auf die Rolle der Übersetzung in der literarischen Kanonbildung untersucht. Ein sowohl vom Umfang als auch der Komplexität her gewichtiges Projekt stellt das zweite kontinuierliche Arbeitsfeld des SFB, die Übersetzung von Drama und Theater dar, das von Brigitte Schultze und Bärbel Fritz in jeweils einem Artikel zusammengefasst wird. Die Komplexität ergab sich dabei einerseits aus dem Untersuchungsmaterial, das nicht nur den sprachlichen Transfer, sondern auch die szenische Realisierung umfasste, andererseits aus der Organisationsform des Projekts, das vor allem in der späteren Phase mehrere Philologien koordinierend zusammenführte. Schultze stellt den Forschungskatalog vor, der von sozialen und theatralen Konventionen in Theatertexten (z.B. Anredeformen, Wort- und Bildzitaten bis hin zu Lachkulturen) über die Erforschung der theatralen Kommunikationskette bis hin zu den theatralen Institutionen und ihrem Einfluss auf die Übersetzung reichte. Als Sprachräume wurden neben dem Deutschen als Zielsprache das Englische, romanische, skandinavische und slawische Sprachen sowie das Ungarische einbezogen. Untersucht wurden Theaterstücke vom Ende des 16. bis zum 20. Jahrhundert. Im Anschluss an die konzeptionelle Vorstellung des Projkets skizziert Schultze abschließend die Perspektivenerweiterungen, die die theatrale Übersetzungsforschung sowohl für die Literaturals auch die Theaterwissenschaft in theoretischer und rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht bieten könnte. Bärbel Fritz konzentriert sich auf die Bedeutung und die Stellung, die Übersetzungen in der deutschsprachigen Theaterlandschaft einnahmen sowie die Art und Weise, wie fremdkulturelle Theatertexte in der Zielkultur präsentiert wurden. Dazu wurden soziologische Ansätze, wie sie Bourdieu formulierte, zur Analyse der Bedeutung theatraler Institutionen für die Übersetzung herangezogen. Ausführlich bearbeitet wurden von den Projektteilnehmern Fragen nach dem Umgang mit der Genrespezifik als auch mit theatralen und sozialen Konventionen beim Kulturtransfer. Tendenziell ergaben die Untersuchungen, dass gattungsgeschichtlich nicht eindeutig zuordenbare Ausgangstexte in den Übersetzungen “homogenisiert” und innovative Elemente in Gattungen “nivelliert” wurden (Fritz S. 236). Mit Hilfe der theatralen Konventionen, die sich auf dramaturgische, inszenatorische und gattungspoetische Bereiche erstrecken sowie sozialen Konventionen, die soziale Interaktionsmuster im weiteren Sinne umfassen, war es möglich, eine ganzheitliche Analyse, die sowohl die schriftliche Vorlage, den interlingualen und intersemiotischen Transfer sowie die Aufführung umfasst, zu realisieren. Das dritte und letzte kontinuierliche Arbeitsfeld des Sonderforschungsbereichs stellten Weltliteraturanthologien dar. Übersetzungsanthologien hatten vor allem im Deutschland des 19. Jahrhunderts große Bedeutung. Initialzündung hatte dabei zweifelsohne die Romantik mit ihrem Interesse an Übersetzungen und fremden Literaturen. Armin Paul Frank und Harald Kittel beschäftigen sich in ihren jeweiligen Beiträgen mit den methodischen und theoretischen Prämissen übersetzungsbezogener Anthologieforschung. Bereits die Auswahl von fremdsprachigen Texten und ihre Anordnung in Anthologien ließen Rückschlüsse auf Funktion und Bedeutung der ausgewählten Werke für das zielkulturelle System erkennen. Die im Beitrag Neues zur literarischen Übersetzung 315 von Armin Paul Frank aufgelisteten Fragestellungen des Projekts bezüglich der Auswahl und Reihung von Texten für Anthologien umfassten sowohl Sprachen, Gattungen, Autoren und Werke. Harald Kittel zeigt in seinem Artikel die Verbindungslinien zwischen Übersetzungsforschung und literaturhistorischer Forschung, die gerade bei Anthologien übersetzter Literatur stark ausgeprägt sind, da diese “den Knotenpunkt von Übersetzen und Anthologisieren bilden” wodurch “in ihnen Interpretation und Formung, die beiden generativen Prinzipien literarischen Übersetzens, verstärkt zur Geltung” kommen (Kittel, S. 270). Im Anschluss wird von Helga Eßmann ein zentraler Bereich des Projekts vorgestellt, die Analyse von Versanthologien, die in der deutschen Tradition einen besonderen Stellenwert einnahmen. Nach einem kurzen Überblick zur Anthologieforschung und einer breit gehaltenen Arbeitsdefinition wird die Forschungskonzeption dargelegt. Die Arbeit wurde auf Weltdichtungsanthologien des 19. und 20. Jahrhunderts beschränkt, die regionale Reichweite war für das Projekt dabei wichtiger als historische Tiefe. Besonderen Raum nimmt in Eßmanns Überblick die Frage nach der Rolle und Funktion der Übersetzung für die Auswahl ein. Eine interessante Erkenntnis stellt in diesem Zusammenhang das Aufspüren von Manipulationsstrategien dar, wie Hinzufügen oder Auslassen von Titeln, Kürzungen etc., die meist dazu dienten, einer Anthologie Kohärenz zu verleihen. Wie Anthologisierungsprozesse konkret ablaufen, wird abschließend am Beispiel der USA dargestellt. Udo Schöning berichtet in seinem Beitrag über die Vermittlung von Dichtung durch Anthologien im deutschen Sprachraum, wobei der Schwerpunkt auf romanischer Literatur liegt. Der Aufsatz fasst einerseits die Arbeiten zusammen, die sich mit den Grundlagen und Voraussetzungen der Anthologisierung in diesem Bereich beschäftigen, beschreibt die Charakteristika der Anthologisierung romanischer Lyrik und postuliert ein über literatursoziologische Ansätze hinausgehendes Forschungsprofil, das verstärkt auch anthropologische Erkenntnisse zur Erforschung der Internationalität und Interkulturalität von Literatur heranzieht. Komplementär zu Übersetzungsanthologien wurden auch Übersetzungsserien untersucht. Das Projekt, das sich auf den Zeitraum zwischen 1820 und 1910 konzentrierte, wird von Bernd Weitemeier zusammengefasst. Zunächst stellt der Autor die Merkmale vor, nach denen eine Serie definiert wurde, sowie die insgesamt 4 Serientypen (Herausgeber- und Übersetzerserien, Art der Textanordnung, Art der Literatur, Grad der Bekanntheit), die der Forschung zugrunde gelegt wurden. Schwerpunkt des Projekts waren eine möglichst umfassende bibliographische Erfassung und nicht so sehr inhaltliche Analysen der Serien. Damit liefert das Projekt vor allem Grundlagenforschung, auf der weitere inhaltliche und die Funktion von Serien in der deutschsprachigen Literaturgeschichte ermittelnde Untersuchungen aufbauen können. Statt eines Schlusswortes resümiert Armin Paul Frank die Erfahrungen disziplinübergreifender Kooperation und zeigt Anknüpfungspunkte auf, die sich aus der Übersetzungsforschung des SFB für die Literaturgeschichtsschreibung ergeben. Dass die literarische Übersetzung eine eigene Spezifik besitzt - die Frank mit der Metapher der Vielstimmigkeit zu umschreiben versucht, macht sie auch zu einer Herausforderung für die Literaturgeschichtsschreibung, die laut Frank “nicht im nationalen Reservoir, sondern im internationalen Transfer und den internationalen Bezugnahmen” (Frank S. 354) ansetzen muss. Die in diesem Band vorgestellte Gesamtschau der Forschungsleistungen des SFB ist in der Fülle der Ergebnisse, der Strukturiertheit und Vernetzung der Teilprojekte und der Breite an behandelten Themen und Genres äußerst beeindruckend. Die verschiedenen Fallstudien stellen wertvolle Mosaiksteine eines - noch nicht vollendeten - Gesamtbildes der literarischen Übersetzung in Deutschland dar. Auch das zugrunde gelegte theoretische Fundament ist in sich stringent und besticht durch seine Geschlossenheit. Im Bemühen sich von be- Klaus Kaindl 316 stehenden philologisch-ausgangstextorientierten und systemisch-zieltextorientierten Ansätzen abzugrenzen und einen eigenen Zugang zur Erforschung der literarischen Übersetzung zu schaffen, wurde allerdings mehr Wert auf die Ausarbeitung eigener Konzepte gelegt, statt auf Bestehendes zurückzugreifen bzw. vorhandene Konzepte und Modelle einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Dies betrifft vor allem Leistungen der Descriptive Translation Studies, denen der Sonderforschungsbereich letztlich weitaus näher steht, als den Übersetzungsauffassungen traditioneller Philologien. Eine genauere Darstellung und Analyse der in dieser übersetzungswissenschaftlichen Ausrichtung vorgelegten Konzepte wäre wünschenswert gewesen. So gilt das vom Sonderforschungsbereich kritisierte - Postulat der deskriptiven Übersetzungswissenschaft “translations are facts of one culture only: the target culture” (Toury 1985: 19, Hervorhebung i.O.) in dieser Form auch innerhalb der Descriptive Translation Studies nicht mehr und wurde durch differenziertere Sichtweisen abgelöst. Zahlreiche Aspekte, die von den WissenschaftlerInnen des SFB als wichtig erkannt wurden, sind parallel auch in den Descriptive Translation Studies thematisiert worden: Die Internationalisierung des Literaturbetriebs, die Lambert (1989) mit seinen “maps of communication” zu fassen versucht, die soziologische Fundierung der Übersetzungswissenschaft durch die Einbindung von Konzepten Bourdieus, wie sie u.a. Gouanvic (1994) vertritt, sowie die von Lefevre (1992) in die übersetzungswissenschaftliche Diskussion eingeführten Konzepte des “rewriting” “patronage”, und “poetics”, durch die Veränderungen der Ausgangstexte in der Übersetzung fassbar gemacht werden können. Zwar wurden, wie aus den Bibliographien der einzelnen Beiträge hervorgeht, diese Forschungsarbeiten zum Teil rezipiert, bei der Ausarbeitung des theoretischen Gebäudes zog man es jedoch vor, eine eigene Terminologie zu prägen. Insofern scheinen die theoretischen Bemühungen eher von Abgrenzung getragen worden zu sein, statt Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien zu bestehenden Strömungen der Übersetzungswissenschaft zu suchen. Dadurch wird letztlich die Anschlussfähigkeit und auch die “Übersetzbarkeit” der - dies sei nochmals betont - beachtlichen Forschungsleistung des SFB in einen internationalen translatorischen Wissenschaftsdiskurs erschwert. Auch die völlige Ausblendung der funktionalen Translationswissenschaft im deutschsprachigen Raum, die gerade auch zur Geschichte der Übersetzung eine Reihe von wichtigen Arbeiten vorgelegt hat (vgl. u.a. Vermeer 1990 passim) ist in diesem Zusammenhang bedauerlich. Von diesen Kritikpunkten abgesehen stellt der Band jedoch zweifelsohne einen gewichtigen Beitrag dar, der nicht zuletzt auch für die Literaturwissenschaft allgemein neue Perspektiven im Umgang mit Literatur eröffnet. Anmerkung 1 Armin Paul Frank & Horst Turk (eds.) 2004: Die literarische Übersetzung in Deutschland. Studien zu ihrer Kulturgeschichte in der Neuzeit (= Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 18), Berlin: Erich Schmidt, 355 S., ISBN 3-503-07906-8 Literatur Even-Zohar, Itamar 1978: “The Position of Translated Literature within the Literary Polysystem, in: Homes James S. et al. (eds.) Literature and Translation. New Perspectives in Literary Studies. With a basic bibliography on translation studies, Leuven: Acco, 117-127. Frank, Armin Paul 1987: “Einleitung”, in: Schultze, Brigitte (ed.) Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte (Bd 1 Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung), IX-XVII. Neues zur literarischen Übersetzung 317 Gouanvic, Jean-Marc 1994: La Science-fiction française au XX è siècle (1900-1968): essai de socio-poétique d’un genre en émergence, Amsterdam/ Atlanta: Rodopi. Hermans, Theo (ed.) 1985: The Manipulation of Literature. Studies in Literary Translation. London/ Sydney: Croom Helm. Hermans, Theo 1997: “Translation as institution”, in: Snell-Hornby, Mary et al. (eds.) Translation as Intercultural Communication, Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins, 3-20. Lambert, José 1989: “La Traduction, les langues et la communication de masse. Les ambiguités du discours international”, in: Target 1/ 1, 215-237. Lefevere, André 1992: Translation, Rewriting and the Manipulation of Literary Fame, London/ New York: Routledge. Reiß, Katharina & Vermeer Hans J. 1984: Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen: Niemeyer Toury, Gideon 1980: In Search of a Theory of Translation, Tel Aviv: Porter Institute. Toury, Gideon 1985: “A Rationale for Descriptive Translation Studies”, in: Hermans, Theo (ed.), 16-41. Vermeer, Hans J. 1990 (passim): Skizzen zu einer Geschichte der Translation, Frankfurt a.M: IKO-Verlag/ Heidelberg: TextConText-Verlag. Sprachwissenschaft A. Francke Preisänderungen vorbehalten Katja Kessel Sandra Reimann Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache UTB 2704 M, 2005, XII, 278 Seiten, zahlr. Abb., € [D] 14,90/ SFr 26,80 UTB-ISBN 3-8252-2704-9 Wussten Sie, dass Polysemie keine Krankheit ist und dass Komposition nichts mit Biomüll zu tun hat? Auch Spitzenstellungstests finden Sie nicht in Assessment Center für angehende Führungskräfte. Das Einführungsbuch beschäftigt sich unter anderem mit diesen sprachwissenschaftlichen Grundbegriffen. Es wendet sich an Studienanfänger der Germanistik, die die deutsche Gegenwartssprache im wissenschaftlichen Sinne durchschauen und unter analytischen Gesichtspunkten kennen lernen wollen. Gegenstand sind die wichtigsten Teilbereiche und Methoden der neueren deutschen Sprachwissenschaft. Besonders ausführlich werden die komplexen Kapitel Syntax und Wortbildung behandelt, die zum Kanon der meisten sprachwissenschaftlichen Prüfungen gehören. Didaktisch gut aufbereitete Kapitel leiten die Studienanfänger zu konkreten Analysen an. Jedes Kapitel enthält Übungen mit Lösungen und weiterführende Literatur, sodass die Studierenden auch die Möglichkeit haben, sich den Stoff selbstständig zu erarbeiten und ihre Kenntnisse zu überprüfen. Der Transfer in die Analysepraxis steht stets im Vordergrund. Das Buch ist als Begleitmaterial für Seminare und zum Selbststudium bestens geeignet, auch für den Studiengang Deutsch als Fremdsprache. Review Article Lesen in der Mediengesellschaft Ernest W.B. Hess-Lüttich Zuerst kommt das Sprechen, dann kommt das Lesen, dann kommt alles Elektronische - ohne Lesen auch kein Internet. Elke Heidenreich (Kursbuch 2001) Die Sorge um das Buch im Umfeld neuer konkurrierender Medien ist präsenter als je zuvor. Andererseits ist die für das Lesen aufgewendete Freizeit über Jahrzehnte stabil geblieben und die Buchproduktion sogar angestiegen. Lesen stellt nach wie vor die Basis für alle weiteren Mediennutzungen dar. Dies ist der Ausgangspunkt einer umfassenden Bestandsaufnahme zum Thema Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. 1 Alle Sozialisationsprozesse finden in einem komplexen medialen Umfeld statt und so wie für das klassische Printmedium eine gesellschaftliche und wissenschaftliche Normvorstellung der Lesekompetenz anzusetzen ist, gilt das auch für die Mediengesellschaft (Medienkompetenz). Zu betrachten ist also die Relation von Lese- und Medienkompetenz. Die Frage stellt sich, welche Funktionen dem Lesen heute realistischerweise zugeschrieben werden können. Diese Frage wird in drei großen Kapiteln verfolgt: Lesen, Sozialisation, Mediengesellschaft. Einschlägigen Erhebungen von Lesefähigkeit und Leseinteressen liegt auf der Textseite die Unterscheidung von Fiction und Non-Fiction zugrunde, auf der Rezeptionsseite entspricht dies der Unterscheidung von Unterhaltungs- und Informationsfunktion. Bei der Informationsfunktion werden vor allem Aspekte wie Wissenserwerb, Bewertung, Begründung und Handlungskompetenzen behandelt; bei der Unterhaltungsfunktion sollen vor allem Aspekte der Spannung, Freude, Traurigkeit, Entlastung thematisiert werden. Wie dieses Unterhaltungserleben aber genau zu rekonstruieren ist, bleibt bislang eine Forschungslücke. Bei der Rezeption der meisten längeren literarischen Texte verbinden oder überlappen sich die bekannten Erscheinungsformen emotionaler Zustände. Denn ‘Unterhaltung’ ist mehr als ‘Spannung erleben’ etc., der Lesegenuss anspruchsvoller Literatur kann z.B. auch darin begründet liegen, daß formale Eigenschaften eines Textes erkannt werden. Bei der Unterhaltung durch Medien gehen die Meinungen indessen auseinander: einerseits wird vor ihrem schädlichen Einfluß gewarnt (Gewaltdarstellungen etc.), andererseits werden die positiven Funktionen von Unterhaltung (wie Rückgewinnung personaler Ressourcen durch Alltagsentlastung, soziale Orientierung, Problembewältigung, Kompetenzerwerb etc.) hervorgehoben. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 320 Bei der Informationsfunktion werden nach sozioökonomischen Variabeln unterschiedliche Formen der Informationsverarbeitung und des Wissenserwerbs angenommen. Bücher im Bereich der Informationstexte sind zumeist Fachbücher, Schulbücher, Sachbücher (die z.T., wie die Ratgeberliteratur, Übergänge zur Unterhaltungsliteratur markieren können). Ursula Christmann und Norbert Groeben teilen in ihren Beiträgen Sach- und Informationstexte nach ihren übergeordneten Funktionen in drei Gruppen ein: didaktische Texte, die der Wissensvermittlung dienen, persuasive Texte, die Bewertungen von Personen oder Sachverhalten enthalten und damit Einfluß auf die Einstellung der Leser nehmen, instruktive Texte, in denen konkrete Fertigkeiten vermittelt werden (Freizeit-, Hobby-, Reiseliteratur). Die Leseforschung hat in den letzten Jahren eine Fülle von Strategien zur Optimierung der Informationsaufnahme entwickelt. In der Praxis hat sich das Training von Einzelstrategien jedoch als weniger wirksam für die Verbesserung der Lese- und Lernleistung erwiesen als die Vermittlung einer Strategienkombination zur optimalen Ausschöpfung des Informationsgehalts von Texten: selektives (statt lineares) Lesen, Textschwierigkeiten feststellen, bekannte Informationen identifizieren, gezielte Informationssuche, wiederholtes Lesen unklarer Textteile, Lesestil an den Text und die Leseziele anpassen, Schlußfolgerung ziehen usw. Intrinsisch motiviertes Lesen hat nachweislich einen erheblichen Einfluß auf die Lern-, Behaltens-, Rekognitions- und Verstehensleistung von Texten. Ein hohes Interesse führt zu einer weit besseren kognitiven Verarbeitung von Textinhalten. Als Basis für das Interessenkonstrukt kann das Motiv der Neugier angesehen werden, also des Bestrebens, “das darauf abzielt, Informationen über Sachverhalte, die neu, unklar usw. sind, zu gewinnen und damit Zustände der subjektiven Unsicherheit oder Ungewissheit zu reduzieren” (S. 76). Es steht für ein Bedürfnis nach Kontrolle. Es wird angenommen, dass kognitive Kontrolle eine zentrale Rolle bei der Bewältigung von Lebensproblemen spielt. Durch Informationslesen erworbenes Wissen trägt zum Ausloten des eigenen Handlungsspielraums bei und vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Kompetenz. Unterhaltung und Information finden auf individueller Ebene statt, während mögliche Folgefunktionen des Lesens auf personaler und sozialer Ebene stattfinden. Bei der Unterhaltung sind das (auf personaler Ebene) Folgefunktionen wie primäre Phantasieentwicklung, Stärkung von Empathie, Moralbewußtsein und lebensthematischer Identität, sowie die Anerkennung von Alterität. Die Entwicklung von ästhetischer Sensibilität und sprachlicher Differenziertheit sowie die Reflexion über reale versus mögliche Welten kommen sowohl bei fiktionalen als auch bei non-fiktionalen Texten zum Tragen. Durch Informationstexte sollen auf personaler Ebene die (politische) Meinungsbildung und die kognitive Orientierung oder Wissensvertiefung gefördert werden. Auf sozialer Ebene sind die mittelbaren Folgen des Lesens bei literarischen Texten die Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung von kulturellem Gedächtnis und bei non-fiktionalen Texten die Kenntnis bzw. das Verständnis von gesellschaftlichen Strukturen und sozialem Wandel. Im Zusammenhang mit literarischen Texten wird die Entwicklung von ästhetischer Sensibilität als Entwicklung von Formbewußtsein verstanden, denn der Modus in dem ein Kunstwerk wahrgenommen werden sollte, ist die Form. Ohne die Kenntnis der Bauweise eines Textes bliebe die Dimension des Ästhetischen verborgen. Daher ist die Einbeziehung ästhetischer Praxis im Unterricht zwingend notwendig, um eine vertiefte Wahrnehmung von Literatur zu erreichen. Mit der Entwicklung von sprachlicher Differenziertheit wird die Fähigkeit bezeichnet, mit Sprache mündlich und schriftlich umzugehen, sie situationsangemessen und partnerbezogen zu benutzen und zudem die Sprache anderer bewerten zu können. Sprachliche Differenziertheit ist für alle Bereiche der Kommunikation von großer Lesen in der Mediengesellschaft 321 Bedeutung. Auch das Bewußtsein der Unterschiedlichkeit von mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch, von alltäglicher und literarischer Sprache gehört zur Entwicklung von sprachlicher Differenziertheit. Jede Gesellschaft ist darauf angewiesen, das in ihr vorhandene Wissen an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses sind überzeitliche, häufig mythische Ereignisse und Erzählungen, die zur Bildung von Gemeinschaft beitragen. Die Zeichen- und Symbolvorräte des kulturellen Gedächtnisses tragen zur dauerhaften Erhaltung von Kultur und Gesellschaft bei. Alle möglichen Textsorten und literarischen Gattungen können die Funktion der Weitergabe des kulturellen Gedächtnis erfüllen. Leser nehmen das durch Literatur vermittelte kulturelle Wissen meist unbewußt in ihr Gedächtnis auf. Sozialer Wandel lässt sich definieren als Veränderung in der Struktur eines sozialen Systems, die sich auf mehreren Ebenen zeigt: Makro-Ebene (Sozialstruktur und Kultur), Meso-Ebene (Instanzen) und Mikro-Ebene (Personen). Eine zentrale Tendenz des gegenwärtigen sozialen Wandels in der westlichen Gesellschaft ist die Entwicklung neuer Medien (und damit die Expansion des Mediensystems). - Im zweiten Teil werden die verschiedenen Sozialisationsinstanzen im Hinblick auf das Lesen thematisiert, also vor allem Familie, Schule, peer group. Ihnen kommt - in je differenzierter Weise - gemeinsam eine ganz zentrale Bedeutung für die Lesesozialisation zu. Die Familie als Instanz auf der gesellschaftlichen Meso-Ebene hat hier eine Scharnierfunktion zwischen der sozialen und der individuellen Kultur. Das familiale Leseklima wird wesentlich von fünf voneinander unabhängigen Faktoren geprägt: gemeinsame Lesesituationen in der Familie, Besuche von Buchhandlungen und Bibliotheken, Gespräche zur prä- und paraliterarischen Kommunikation, Leseverhalten der Eltern und deren Nutzung elektronischer Medien. Unterschiede im Leseverhalten von Kindern aus unterschiedlichen Sozialschichten gehen im wesentlichen auf Merkmale des buchbezogenen und allgemeinen sprachlichen Kommunikationsverhalten in den Familien zurück. Die P ISA -Studien in Deutschland haben gezeigt, daß ein hoher Anteil der Variabilität von Leseleistungen Jugendlicher durch die Sozialschichtzugehörigkeit ihrer Familien erklärt werden kann. Die formelle Sozialisationsinstanz Schule muß diesen Anteil zu verringern suchen (was in Deutschland lt. jüngsten P ISA -Studien noch nicht gelingt). Der Literaturunterricht verfolgt das Ziel der Leseförderung, die zur Literatur hinführen, mit Literaturgeschichte, kanonischen Werken und literarischen Gattungen vertraut machen soll. Skeptiker sehen im Hinblick auf weiterführende Schulen insofern Probleme im schulischen Umgang mit Literatur, als sie aus ihr Prüfungswissen macht und der Literaturunterricht zum Abbruch der Lesekarriere beitragen kann. Kritisiert werden u.a. die Unterrichtsmethoden und die Textauswahl. Texte mit hohem Unterhaltungswert fehlen im Lehrplan, und in den kanonisierten Texten können Schüler oft keinen Bezug zu ihrem Leben finden. Außerdem wird das klassische Unterrichtsgespräch als didaktisch unbefriedigende Form der Anschlußkommunikation bewertet. Obwohl die informelle Sozialisationsinstanz peer group die prägende Instanz der (Selbst-) Sozialisation im Bereich der Mediennutzung insgesamt und damit auch für das Lesen darstellt, ist sie von der Forschung bislang völlig vernachlässigt worden. Freiwillige individuelle Lektüregewohnheiten sind häufig von dem Bedürfnis nach sozialer Partizipation getragen. Durch privates Lesen entsprechender Texte wird der Zugang zu sozialen Gruppen gesucht und realisiert. Die Lesesituationen selbst sind aber i.d.R. nicht sozial, die Lektüre vollzieht sich überwiegend allein. Erst die Anschlußkommunikation findet häufig in der peer group statt. Deshalb übt sie einen erheblichen Einfluß auf die Lesemotivation des einzelnen aus und damit indirekt auch auf die Ausbildung von Lesehaltungen und Lesekompetenzen. - Ernest W.B. Hess-Lüttich 322 Der dritte Teil ist dem Lesen im Kontext der modernen Mediengesellschaft gewidmet, wobei dieser Begriff bislang kaum präzise bestimmt werden konnte, da der gesellschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte sich nicht mehr auf einen zentralen Ursprung zurückführen ließ, wie das noch beim Terminus ‘Industriegesellschaft’ der Fall war. Er figuriert daher hier eher als rhetorische Zielsetzung zur Bezeichnung der heute alle Lebensbereiche betreffenden massenmedialen Grundstruktur sozialen Umgangs. Indizien dafür sind einerseits die quantitative Zunahme von Medienangeboten, andererseits der qualitative Bedeutungszuwachs von Mediennutzung im Alltag und bei Prozessen gesellschaftlicher Willensbildung. Ein Problem der Mediengesellschaft wird dabei in der sog. ‘digitalen Spaltung’ gesehen, also der Entwicklung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der Medien die Verbreitung von Informationen bzw. Wissen und damit die Chancenverteilung bestimmen. Zwei weitere Kapitel untersuchen hemmende und fördernde Einflüsse des medialen Umfelds auf die Entwicklung von Lesekompetenz, also des Fernsehens vor allem (die Rolle des Computers wird weitgehend außer acht gelassen). Die Befunde sind zwiespältig. Im Vorschulalter können Kinder von der Rezeption spezieller Kindersendungen des sog. Educational Television (z.B. Sesamstraße) profitieren, insoweit sie auf die Förderung kognitiver, emotionaler oder sozialer Fähigkeiten ausgerichtet sind. Ein aktives Familienklima und die vermehrte Rezeption von Informationssendungen geht einher mit besseren Leseleistungen in den Bereichen Wortschatz, Worterkennung und Textverständnis. Weiterhin kann das Fernsehen dazu beitragen, das Interesse an bestimmten Lesestoffen zu wecken. Die positiven Effekte fallen stärker aus, wenn sich an die Fernsehrezeption die Kommunikation mit Erwachsenen anschließt. Insgesamt jedoch zeigen die “Befunde zum Zusammenhang zwischen Höhe des Fernsehkonsums und der Lesekompetenz, daß es letztlich nicht sinnvoll ist, entweder von einem förderlichen oder einem hemmenden Einfluss des medialen Umfelds auf die Entwicklung der Lesekompetenz auszugehen” (S. 431). “Lesen als Schlüsselqualifikation? ”, fragt zum Abschluß der Herausgeber Norbert Groeben und zieht das Fazit, daß dieses Konzept sich für die Bewertung von Lesekompetenz und Lesesozialisation kaum eigne, weil keine Übertragung von der Schlüsselqualifikation auf andere Kompetenzen möglich sei. Vielmehr sei die Interrelation zwischen Lese- und Medienkompetenz durch Überlappungszonen gekennzeichnet, z.B. das Wissen über narrative Strukturen und Genres, ein Wissen freilich, das sowohl im Rahmen der Leseals auch der Medienkompetenz erworben werden könne. - Insgesamt bietet der (von gewissen Redundanzen nicht ganz freie) Band einen guten (und bibliographisch reichhaltig dokumentierten) Einblick in die Themenbereiche Lesen, Sozialisation und Medien und deren Zusammenhänge. Er macht aber auch auf erhebliche Lücken in der Forschung aufmerksam, etwa im Hinblick auf die eingeschränkte Datenlage beim Zusammenhang zwischen Lesen und peer group. Den Autoren gelingt jedoch überzeugend, die gesellschaftliche Realität des Sozialisationsprozesses als Ko-Konstruktion der beteiligten Individuen in Relation zu den entsprechenden überindividuellen Instanzen zu beschreiben. Joachim Fritsche etwa macht in seinem Beitrag über die Schule deutlich, wie wichtig es ist, junge Menschen zum Lesen zu motivieren, und wie entscheidend speziell der Literaturunterricht die zukünftige Leseeinstellung beeinflussen kann. Also, folgen wir dem Fernseh-Aufruf von Elke Heidenreich? Mehr Lesen! Anmerkung 1 Norbert Groeben & Bettina Hurrelmann (eds.) 2004: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick, Weinheim / München: Juventa, 468 S., ISBN 3-7799-1355-0 Reviews Gehhart Allert und Horst Kächele (eds.): Medizinische Servonen. Psychosoziale, anthropologische und ethische Aspekte prothetischer Medien in der Medizin. Stuttgart und New York: Schattauer 2000, 120 S., ISBN 3-7945-2079-3. In der Literatur über das Internet, den Cyberspace und andere neue Medien tauchen immer wieder Cyborgs (cybernetic organisms) auf: Mischwesen aus Mensch und Maschine, die weniger sterblich sind als Wesen aus Fleisch. Solche Zukunftsvisionen lösen sehr unterschiedliche Reaktionen von Euphorie bis Entsetzen aus. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass längst Millionen von Menschen nur darum einigermaßen erträglich oder überhaupt noch leben, weil sie künstliche Körperteile haben oder regelmäßig mit Maschinen verbunden werden, die verlorengegangene Funktionen ersetzen. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes führen den Ausdruck “Servonen” als Erweiterung von “Werkzeug” ein und konzentrieren sich auf medizinische Servonen. Für diese gilt in besonderem Maße, was Freud in seinem Aufsatz “Das Unbehagen in der Kultur” ausführt: weil eine unserer existentiellen Grunderfahrungen das Erleben der Verletzlichkeit des eigenen Leibes sowie seines unaufhaltsamen Alterns ist, besteht eines der zentralen Ziele der Kulturarbeit darin, sich durch Erfindungen von dieser ständigen Bedrohtheit möglichst unabhängig zu machen. Medizinische Servonen leisten eine Art von “alltäglicher Cyborgisierung”. Sie greifen in die Funktionen des Körpers ein, indem sie einzelne davon überwachen (Blutzuckermessung), regulieren (Herzschrittmacher), ersetzen (Kunstherz) oder ausschalten (Verhütungsmittel). Zu den ältesten Hilfsmitteln zählen Schienen zur Ruhigstellung von Knochenbrüchen und Krücken, später kamen Brille und Hörrohr hinzu. Prothesen hingegen sind fest mit dem Körper verbunden. Während kosmetische Prothesen den jeweiligen Körperteil nur optisch ersetzen (Glasauge), übernehmen Funktionsprothesen auch seine Aufgaben (künstliche Hand). Letztere werden immer zahlreicher, so gehören Zahn- und Hüftgelenksprothesen in den Industrienationen schon zur “Standardausrüstung” alter Menschen. Servonen unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Komplexität (handbetriebener vs. intelligenter Rollstuhl), den Umfang ihres Einflussbereiches (Hörhilfe vs. Heimkommunikationssystem) und den Grad ihrer Verbundenheit mit dem Körper (innere und äußere, ständige oder zeitweilige Servonen). Die Komplexität der verfügbaren Lösungen nimmt weiterhin zu; so könnte man Simulatoren, mit denen verschiedene Rollstuhlmodelle getestet und optimal an ihren Fahrer angepasst werden, bereits als “Servonen zweiter Stufe” bezeichnen. Wie die Herausgeber im Vorwort betonen, sollen weniger die technischen, sondern vertieft die psychosozialen, anthropologischen und ethischen Aspekte von Servonen diskutiert werden. “Explizit soll damit der an den Rändern der Hightech-Medizin besonders virulente Konflikt zwischen technisch Machbarem, ethisch Verantwortbarem und subjektiv Gewolltem aufgegriffen werden”. Die Artikel sind auch für medizinische Laien gut lesbar und überaus informativ, weil zu jedem Schwerpunktthema viele Rahmeninformationen geboten werden, die man zur Einschätzung der Probleme benötigt - also ein kurzer Überblick über die Entstehung der Krankheitsbilder, die Geschichte ihrer Diagnose und Therapie sowie eine Abwägung der Aussichten der verschiedenen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 27 (2004) No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen Reviews 324 Behandlungen. Weiterführend sind auch Vergleiche von Servonen und Transplantaten. Während etwa künstliche Gelenke bereits konkurrenzfähig mit ihrem biologischen Vorbild sind, gilt dies für Kunstherzen nicht, und auch die Dialyse erzielt schlechtere Ergebnisse als eine Nierentransplantation. Als weiterer Vorteil der Darstellung kommen immer wieder Betroffene selbst zu Wort (Rollstuhlfahrer, Dialysepatienten), die sehr offen von ihren eigenen Erfahrungen berichten. Die praktischen Hinweise sind konkret bis in technische Details, etwa wenn es um Kriterien für die Auswahl zwischen verschiedenen Sitzkissen für Rollstühle geht. Die gelungene Zusammenstellung der Artikel macht insgesamt deutlich, wie komplex die verschiedenen Entwicklungsstränge miteinander verzahnt sind. Der Bedarf an Servonen wächst ständig, denn heute überleben durch Fortschritte in der Behandlung auch Schwerstbehinderte, sind jedoch ständig auf Servonen angewiesen. Ergebnisse aus Werkstoffherstellung, Mikroelektronik und Künstlicher Intelligenz werden kombiniert, um die Servonen optimal an ihre Benutzer anzupassen. Das Vorhandensein solcher Servonen wiederum muss bei der Stadtplanung berücksichtigt werden, damit etwa auch Rollstuhlfahrer ungehinderten Zugang zu öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln haben. Semiotisch besonders interessant sind die psychischen Aspekte von Servonen, die sich je nach Servonentyp ganz unterschiedlich stellen. Gerade im Falle von Krankheit und Unfall wird aus dem Leib - als der selbstverständlichen Grundlage der Existenz - der Körper als Gegenstand distanzierter Betrachtung, wobei die eigene Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit nicht mehr ausgeblendet werden kann. Servonen, die Para- und Tetraplegikern eine unabhängige Bewegung ermöglichen, steigern deren Lebensqualität erheblich und werden durch den Einsatz von Computern ständig verbessert. Bei benutzerangepassten Rollstühlen kann der Fahrer die Geschwindigkeit, Beschleunigung und Richtung mit den jeweils vorhandenen motorischen Mitteln kontrollieren, wobei die Palette von herkömmlichen Antriebsmitteln (Hand, Arm, Fuß, Bein) über stimmliche Befehle bis zum Ansteuern mittels Zungen- oder Augenbewegungen reicht. “Intelligente Rollstühle” haben verschiedene Fahrweisen gespeichert (schnell, vorsichtig, parken usw.) und erkennen die Absicht ihres Benutzers. Servonen für Kinder müssen besondere Anforderungen erfüllen. Denn da der Umgang mit Objekten sowie ausreichende Raumerfahrungen für eine optimale Entwicklung unverzichtbar sind, sollten behinderten Kindern Rollstühle, einfache Robotor zur Objektmanipulation usw. möglichst früh zur Verfügung stehen. Die Entwicklung künstlicher Organe ist unter anderem eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Nachfrage nach Spenderorganen das Angebot bei weitem übersteigt. Als Vorteil für den Patienten entfallen bei ihnen die Schuldgefühle, die eine Transplantation für den Organempfänger oft mit sich bringt. Künstliche Organe erfüllen ihre Aufgabe umso effizienter, je besser sie ins Körperschema integriert werden, wobei kognitive und emotionale Verarbeitungsstrategien eng miteinander verflochten sind. Da das Herz das am höchsten emotional besetzte Organ ist, werden an ihm die je spezifischen Probleme der Ersatzmöglichkeiten am deutlichsten. Im negativen Fall bleibt das Kunstherz ein “Fremdkörper” im wörtlichen Sinn und der Patient fühlt sich ausgeliefert an eine Maschine. Im günstigen Fall vermag der Patient das Kunstherz als “Lebensretter” und seine Genesung als “Wiedergeburt” zu sehen. Eine Überschussreaktion ist demgegenüber die narzisstische Illusion, dass der Einbau einer “unverwüstlichen Kraftquelle” den Patienten selbst unverletzlich und damit unsterblich macht. Unabhängig von diesen emotionalen Problemen ist das Kunstherz derzeit noch medizinisch unbefriedigend und sehr teuer. Auch andere Servonen des Herzens belegen, wie ausschlaggebend psychische Faktoren sind. Der Herzschrittmacher, der vor zu niedrigen Schlagfrequenzen schützt, ist heute klein, leicht und langlebig und passt seine Frequenz so gut an die jeweilige Tätigkeit an, dass er die Lebensqualität kaum mindert. Der Defibrillator hingegen, der vor zu hohen Frequenzen und vor Kammerflimmern schützt, wird wegen seiner unvorhersehbaren schmerzhaften Entladungen als sehr belastend erlebt. Der Einsatz künstlicher Gelenke ist bereits ein Routineeingriff, wobei Hüft- und Kniegelenke am häufigsten ersetzt werden. Da die Grundkrankheiten selten lebensbedrohlich sind, ist eine Reviews 325 optimale Vorbereitung auf die Operation möglich und ihre Ergebnisse sind meist gut. Nur wenn die Abnutzung eines Gelenks sehr stark mit “Verbrauchtsein” assoziiert wird, kann das Kunstgelenk als Fremdkörper empfunden und seine Akzeptanz erschwert werden. Zu den Servonen der Diabetesbehandlung zählen Geräte zum Blutzuckermessen und Verabreichen von Insulin sowie - als umfangreichste Behandlung - die Dialyse. Es wird deutlich, dass eine Dialysepflicht die Lebensqualität auf Dauer erheblich mindert, weil sie sehr zeitaufwendig ist, nur an entsprechenden Einrichtungen durchgeführt werden kann und eine hohe Disziplin erfordert (Trinkmengenbeschränkung usw.). Die vielfältigen Servonen des Geschlechts sollen die verschiedenen Aspekte der Sexualität ersetzen, unterstützen oder erweitern, manchmal aber auch einschränken. So können Aphrodisiaka und Dessous den Beziehungsaspekt fördern, Dildos und Sexpuppen hingegen einen Partner (partiell) ersetzen. Verhütungsmittel, künstliche Befruchtung usw. greifen in den Reproduktionsaspekt ein, und die Szenarien des Cybersex bedienen vor allem den narzisstischen Aspekt. Bei einer Zusammenschau aller heutigen Möglichkeiten wird deutlich, dass die Entwicklung von Servonen längst über die Wiederherstellung verlorengegangener Funktionen hinausgegangen ist. Ihr letztliches Ziel ist die größtmögliche Steigerung aller Körperfunktionen und der Ersatz aller organischen “Verschleißteile” durch Servonen, so dass man sich quasi-göttlichen Merkmalen wie Allmacht und Unsterblichkeit annähert. Manches ist schon technisch machbar, etwa die analoge Manipulation von Geräten in weit entfernten oder gefährlichen Umgebungen (“Telerobotik”). Auch beim Behindertensport werden bereits Servonen eingesetzt, die hinsichtlich ganz bestimmter Aufgaben das natürliche Modell zu übertreffen versuchen. So trat bereits bei den Paralympics 1992 in Barcelona ein russischer Hammerwerfer an, dessen Beinprothese kein Kniescharnier besitzt und darum die Drehung im Wurfring verbessert. Andere einschlägige Visionen und Prognosen kreisen um • die Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeiten (künstliche Sinnesorgane, etwa für Infrarot), • die Erweiterung von Erlebnismöglichkeiten (virtuelle Realität, Cyberspace), • die unbegrenzte Telekommunikation, etwa durch einen implantierten Chip, • das direktes “Anzapfen” externer Wissensspeicher, • die direkte Verbindung mehrerer Gehirne und • Medikamente zur Verbesserung des Gedächtnisses und anderer mentaler Funktionen. Die Kritik gegenüber solchen Szenarien, an der es natürlich nicht fehlt, konzentriert sich vor allem auf folgende Einwände: • Wegen begrenzter Ressourcen (Geld, Kapazität der Einrichtungen) können niemals alle Menschen in den Genuss neuester Medizintechnologie kommen, und jede Gesellschaft muss abwägen, ob sie erhebliche Vorteile für nur wenige mit einer weiteren Einschränkung aller öffentlich finanzierten Bereiche bezahlen will. • Zweifel an der gerechten Verteilung von Servonen werden geschürt, wenn Prominente überzufällig häufig sofort Zugang zu neuesten Lösungen bekommen. • Künstliche Herzen und andere Kunstorgane sind nur am kranken Menschen selbst testbar, und es ist jeweils abzuwägen, inwieweit dies deren Lebenszeit verkürzt oder die Lebensqualität vermindert. • In die körperliche Erscheinung greifen heute schon Sportstudios, Hersteller von Diätprodukten und Schönheitschirurgie massiv ein und versprechen eine Annäherung an gängige Schönheitsideale. Dieser Zwang zur Normalität wird umso stärker auf die Psyche übergreifen, je mehr maßgeschneiderte Psychodrogen es gibt. • Die grundlegendsten Bedenken sind existentieller Art: Inwieweit verändert die Illusion von umfassender Machbarkeit unser Verhältnis zum eigenen Körper und zum Körper des anderen? Werden Verdrängungstendenzen noch weiter zunehmen, so dass Krankheit und Tod noch stärker als heute zum undenkbaren Tabu werden? Dagmar Schmauks (TU Berlin) Reviews 326 Jannis K. Androutsopoulos and Alexandra Georgakopoulou (eds.): Discourse Constructions of Youth Identities, Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins 2003, 338 + viii pp., ISBN 90-272-5352-8 Jeder Mensch zeichnet sich aus durch seine Identität, durch die er sich identifiziert und unterscheidet von anderen Individuen. Dazu bedient er sich einer Fülle von Zeichen, auch sprachlichen. Kein Wunder, daß sich ganz unterschiedliche Disziplinen dem zentralen Konzept gewidmet haben, neben Soziologie, Psychologie, Politologie, Rechtswissenschaften usw. nicht zuletzt auch die Linguistik und Semiotik. Identität ist ein soziales Konstrukt, das im komplexen Zusammenspiel des gesellschaftlichen Miteinanders entsteht und hervorgeht, also ein im gemeinsamen Handeln, Denken, Fühlen und Kommunizieren entstehendes Phänomen, das je nach Situation und Rolle veränderbar ist. Identität drückt sich nicht innerhalb eines einzigen Modus oder als feste Einheit aus, sondern auf komplexe und je unterschiedliche Weise. Identität kann sich darin zeigen, wie man lebt, mit welchen Menschen man verkehrt, wie man denkt und urteilt, wie man fühlt und welche Haltungen gegenüber bestimmten Werten und Vorstellungen man einnimmt, worüber man spricht, wie man spricht usw. Zudem sind all diese Identität generierenden Faktoren nicht unabhängig von Ort, Zeit, Rolle, Situation und anderen Bedingungen. Bei dem Konstruktionsprozess von Identität kommt der Sprache bzw. dem Sprechen eine besondere Bedeutung zu. Das zeigt sich z.B. darin, wie man sich sprechend von anderen unterscheidet und abgrenzt. Besonders augenfällig ist dies bei Jugendlichen und ihrer Sprache, sie befinden sich in einem Zwischenstadium, in dem sie sich psychisch und gesellschaftlich zurecht finden und sich eine Position schaffen müssen. Sie grenzen sich nicht nur von den Erwachsenen und den vorherrschenden Normen ab, sondern sie konstruieren gleichzeitig eine eigene Identität, worin sie sich und ihresgleichen finden können. Verhalten, Aussehen, ein bestimmter Gefühlsausdruck und Sprache dienen dabei als Erkennungszeichen. Wer denselben Beschäftigungen und Interessen nachgeht, zudem sich noch ähnlich kleidet und spricht, der gehört zur entsprechenden Gruppe (peer-group). Jugendliche identifizieren sich in diesem Prozeß weniger mit den von den gesellschaftlichen Bedürfnissen festgelegten und definierten Rollen, ihre Orientierungspunkte konstruieren sich vielmehr in Gruppen, die sich nicht nur von den bestehenden Normen der Erwachsenen, sondern ebenso von anderen, konkurrierenden Gruppen abheben. Das ist, sehr grob zusammengefaßt, der Ausgangspunkt des von den beiden aus Griechenland stammenden, aber in Deutschland (Hannover) und Großbritannien (London) tätigen Herausgebern zusammengestellten Sammelbandes, der ein Dutzend Aufsätze von Autoren vereinigt, die untersuchen, wie Jugendliche Identität kommunizierend herstellen und zum Ausdruck bringen. Die thematischen Ansatzpunkte sind so vielfältig wie die Facetten der sozialen Konstruktion von Identität. Soziale und pragmatische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Rolle, peer-group, Ethnizität, sozio-kultureller Kontext, Situation usw. spielen dabei ihre je funktionale Rolle. Der Konstruktionsprozess wird überdies auch von den Medien beeinflußt, die verwendet werden, um sich auszudrücken: Musik, SMS, Chat, traditioneller Brief, interpersonale mündliche Kommunikation usw. Gemeinsam ist allen Autoren, daß sie den Schwerpunkt auf diskursive Formen legen, d.h. auf die Frage, welche Rolle Sprache und andere kommunikativ relevante Zeichen bei der Konstruktion von Identität spielen. Ihnen ist allen bewußt, daß sich sprachliches Verhalten nicht losgelöst von nicht-sprachlichem untersuchen läßt, denn erst im Zusammenspiel aller relevanten Faktoren werden Identitäten geschaffen. Um der Komplexität des Gegenstandes gerecht zu werden, orientieren sich die Herausgeber in ihren einführenden Leitlinien am Konzept der Aktivitätstypen, das kommunikatives Verhalten zu Typen abstrahiert und modelliert: “conglomerats of social events and genres or types of discourse” (7). Die Beiträge sind schwerpunktmäßig in drei Gruppen unterteilt, die sich an unterschiedlichen Arten von Aktivitätstypen orientieren. Die erste Gruppe bezieht sich auf Aktivitätstypen, die sich alle im Rahmen verschiedener peer-groups (Nachbarschaft, Schule, Jugendzentrum usw.) Reviews 327 abspielen. Werner Kallmeyer und Inken Keim (vom Mannheimer Institut für deutsche Sprache) untersuchen z.B. eine ethnisch minoritäre Gruppe von vorwiegend türkisch-stämmigen Mädchen zwischen 15 und 21 Jahren daraufhin, wie sie in ihrem gesamten sozialen und kommunikativen Verhalten zwischen türkischer und deutscher Sprache eine eigene Identität aufbauen. Die zweite Gruppe umfasst Aktivitätstypen, die sich im schriftlichen Medium ausdrücken. Unter diesem Aspekt beschreiben beispielsweise Jan Berns (Halle-Wittenberg) und Peter Schlobinski (Hannover) die verbalen Ausdrucksformen von zwei Hip-Hop-Gruppen, die ihrer Identität je unterschiedlich Ausdruck geben: einmal im ‘gangsta-rap-Stil’, der Gewalt, Verbrechen und Sexualität thematisiert, einmal im ironisch-spielerischen Stil der in Deutschland bekannten Hip- Hop-Gruppe ‘Fünf Sterne Deluxe’. Die letzte Gruppe ist auf Aktivitätstypen bezogen, die aus von den Forschern organisierten Treffen und Situationen hervorgehen (z.B. Interviews mit Jugendlichen, arrangierte Gespräche unter Informanten usw.). Dabei wurde untersucht, wie die Jugendlichen innerhalb von bestimmten Situationen und Rollen sich positionieren und repräsentieren. Peter Auer (Freiburg/ Brsg.) und Inci Dirim (Hamburg) diskutieren z.B. in ihrem Kapitel die spontane Aneignung von türkischen Idiomen durch deutsche Jugendliche, die nicht türkisch sprechen, innerhalb eines nachbarschaftlichen Zusammenhangs, in dem türkische Jugendliche die größte Minderheitsgruppe bilden. Die im besprochenen Band versammelten Aufsätze geben auf hohem Niveau einen vielfältigen und informativen Einblick in die unterschiedlichen Weisen, wie Jugendliche heute in ihren jeweiligen Szenen Identität diskursiv konstruieren. Darüber hinaus beschreiben die Texte immer auch die Befindlichkeit einer Generation und die Möglichkeiten und Bedingungen, die die Jugendlichen in der Gesellschaft vorfinden und wie sie sich darin orientieren und zurechtfinden. Die Aufsätze fokussieren zwar einen ganz bestimmten Bereich innerhalb nur einer Generation, im Hintergrund steht aber immer gleichzeitig die Gesellschaft als ganze, so daß die Texte zugleich implizit Auskunft über das lebenslange Verhältnis von Sprache, Gruppe und Identitätskonstitution im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft insgesamt geben. Alle Untersuchungen sind empirisch fundiert, was eine besondere Nähe zu und Verbundenheit mit den Jugendlichen schafft. Die lebensnahen und konkreten Beschreibungen des empirischen Materials verführen jeden zu intensiverer Lektüre, der sich für den gegenwärtigen Stand der Jugendsprachforschung interessiert, aber auch jeden, der sich einfach noch einmal vor Augen zu führen wünscht, wie sich Jugendliche ihre Identität heute wie ehedem unter je geltenden sozialen Bedingungen suchen und gestalten müssen. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Michael Anton Böhm: Deutsch in Afrika. Die Stellung der deutschen Sprache in Afrika vor dem Hintergrund der bildungs- und sprachpolitischen Gegebenheiten sowie der deutschen Auswärtigen Kulturpolitik (= Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Kulturwissenschaft 52), Frankfurt/ Main: Peter Lang 2003, 702 S., ISBN 3-631-51566-9 Die auf einer Augsburger Dissertation basierende Arbeit des Germanisten Michael Anton Böhm bietet einen sehr nützlichen Überblick über die Lage seines Faches auf dem afrikanischen Kontinent. Wer sich über die aktuelle Situation der Vermittlung der deutschen Sprache in den z.Zt. 54 Staaten Afrikas auf den unterschiedlichen Ebenen von der Schule bis zur Hochschule und anderen Bildungsträgern wie Goethe-Instituten, Gesellschaften oder Stiftungen orientieren will, dürfte hier fündig werden. Die Arbeit will zugleich den bislang vermißten Gesamteindruck von Stellung der deutschen Sprache auf dem Erdteil insgesamt vermitteln als auch eine möglichst vollständige Bestandsaufnahme von der Germanistik und dem DaF-Unterricht in den einzelnen Ländern vornehmen. Die umfangreiche Arbeit gliedert sich in drei Teile von unterschiedlichem Gewicht. Zunächst skizziert Böhm (= Verf.) den Kontext der Auswärtigen Kulturpolitik Deutschlands, in deren Rahmen die Förderung der deutschen Sprache im Ausland eingebettet ist. Er geht dabei auch kurz Reviews 328 auf deren historische Entwicklung seit dem Kaiserreich ein und stellt die wichtigsten an der Sprachförderung beteiligten staatlichen Institutionen vor wie das Auswärtige Amt, die Ständige Arbeitsgruppe Deutsch als Fremdsprache (StA- DaF), die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) und einige Mittlerorganisationen wie (neben einigen Stiftungen vor allem) das mit Inter Nationes fusionierte Goethe Institut und den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Am Rande verweist der Verf. auch auf die einschlägigen Anstrengungen der früheren DDR (Herder-Institut Leipzig) und der benachbarten deutschsprachigen Länder hin, wobei Österreich sich vergleichsweise stark engagiert, während die Schweiz ihr Nichtstun durch den Verweis auf ihre Mehrsprachigkeit rechtfertigen zu können meint. Nicht erwähnt wird die Stiftung Pro Helvetia, die sich jedoch mit ihrem verengten Kulturbegriff aus der Sprachförderung inzwischen völlig heraushält und selbst das weltweit anerkannte Programm der Swiss Chairs (Gastprofessuren für renommierte Wissenschaftler und Autoren) aus Kostengründen vorläufig eingestellt hat. Der weit umfangreichere zweite Teil untersucht länderübergreifend die Situation des Deutschen in Afrika im Hinblick auf die für dessen Stellung wichtigsten inneren und äußeren Faktoren (Bildungssituation, Sprachensituation, Sprachenpolitik, Sprachförderung durch Deutschland). Die Ergebnisse werden dann nach Bildungsbereichen aufgeschlüsselt und getrennt für die Schulen, Hochschulen und außerschulische Träger dargestellt und schließlich auch quantitativ erfaßt, was ein recht differenziertes Bild ergibt über die höchst unterschiedliche Situation in den einzelnen Ländern. Der Statistik-Teil mit seinen übersichtlichen Tafeln und Tabellen bietet dem Leser einen schnellen Zugriff auf die Vergleichsdaten und gibt signifikante Hinweise auf die Entwicklung der letzten beiden Dekaden. Der dritte Teil ist versammelt auf ca. 450 Seiten Berichte zu den einzelnen Ländern in der Form von nach einheitlichem Schema gegliederten Handbucheinträgen. Der Aufbau wird zunächst kurz erläutert im Hinblick auf allgemeine Daten zu den Ländern, zu ihren Volksgruppen und Religionen, ihrer Geschichte und ihrem Bildungswesen, ihren Sprachen und Fremdsprachen. Die Informationen zur Stellung des Deutschen in diesen Ländern sind dann wieder wie im zweiten Teil nach Schule, Hochschule und außerschulischem Bereich sortiert. Zwei Länderberichte, die zu Namibia und zu Südafrika, weichen von diesem Schema etwas ab und sind auch deutlich länger geraten als die andern, weil hier auch noch das Deutsche als Muttersprache berücksichtigt wurde. Die Länderberichte sind (nach einem Kriterienbündel, das historisch-koloniale und politisch-geographische Aspekte einschließt) sieben Staatengruppen aufgeteilt: Nordafrika, frankophone Staaten West- und Zentralafrikas, anglophone Staaten Westafrikas, Östliches Afrika, lusophone Staaten, Staaten im Indischen Ozean, Südliches Afrika. Diese 54 Länderberichte enthalten eine Fülle nützlicher Hinweise, auch viele ernüchternde bis resignative Befunde, bergen aber auch manch verblüffende Information, die selbst mit dem Thema halbwegs vertrauten Lesern so nicht bewußt gewesen sein mögen. Wie erklärt sich z.B. eine dem weltweiten Trend völlig zuwiderlaufende Zuwachsrate von über 400 % bei Deutschlernern und -lehrern in Nordafrika? Warum läßt man das Potential von in der früheren DDR ausgebildeten fast 50.000 Menschen mit Deutschkenntnissen in Mosambik so gänzlich brachliegen? Wie kommt es, daß ausgerechnet in den frankophonen Ländern wie Cote d’Ivoire oder Senegal, Mali oder Cameroun sich das Deutsch an Schulen und Hochschulen so gut behaupten konnte? Sollte die deutsche Kulturpolitik in die Sprachförderung für die vielen ‘weißen Flecken’ investieren (über 30 Länder haben praktisch gar keine Deutschlerner) oder sich auf die klassischen Hochburgen in Ägypten und Südafrika mit den Germanistik- Leuchttürmen an der University of Cairo und der Stellenbosch University konzentrieren? Die Berichte über Südafrika und Namibia mit nennenswerten deutschen Bevölkerungsanteilen sind denn auch vergleichsweise umfangreich und differenziert. Angesichts des hohen Nachwuchs- und Multiplikatoren-Potentials eines Landes mit Deutsch als anerkannter Nationalsprache wie Namibia und der wichtigen politischen und wirtschaftlichen Stellung Südafrikas auf dem Kontinent wäre eine Stärkung der kulturpolitischen Beziehungen gerade hier auch aus deutscher Sicht besonders sinnvoll, um den nach dramatischem Reviews 329 Abstieg der Absolventenzahlen während der beiden letzten Dekaden jüngst zu beobachtenden zaghaften Aufwärtstrend zu stärken. Die von Böhm akribisch zusammengetragen Daten und Fakten könnten den Verantwortlichen in Berlin stichhaltige Argumente liefern. Mit dem Länderbericht zu Swasiland endet das Buch etwas abrupt und ohne Résumé, dafür folgt eine umfangreiche Forschungsbibliographie, auf die gern zurückgreifen wird, wer sich mit dem Deutschen nicht nur in Afrika, sondern auch im Rest der Welt wird beschäftigen wollen. Dies gilt auch für diejenigen, die für die deutsche Auswärtige Kulturpolitik verantwortlich zeichnen, denen man die Lektüre nur warm ans Herz legen kann, wenn die Sprachförderung im Ausland nicht als ‘Subvention’ mißverstanden werden soll (wie sie der hessische Ministerpräsident Roland Koch in seinen Sparvorschlägen etikettiert hat), sondern als langfristige Investition im wohlverstandenen (kulturellen, aber auch wirtschaftlichen) Interesse des Landes. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Dominic Busch: Interkulturelle Mediation - Eine theoretische Grundlegung triadischer Konfliktbearbeitung in interkulturell bedingten Kontexten. Studien zur interkulturellen Mediation Bd. 1, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2005, 392 S. ISBN 3-631-53018-8. Das Buch von Dominic Busch basiert auf einer von Hartmut Schröder an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/ O. betreuten Dissertation und eröffnet eine von diesen beiden herausgegebene Reihe zur interkulturellen Mediation, insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Situation in der deutsch-polnischen Grenzregion. Ausgangspunkt seiner Arbeit ist für Busch (= Verf.) der Mangel wechselseitigen kulturellen Wissens zwischen deutschen und polnischen Studierenden an der Viadrina als einem Vorzeigeort deutsch-polnischer Verständigung. Aus persönlichen Erfahrungen schließt er, dass bei alltäglichen Missverständnissen traditionelle Mediationsansätze nicht ausreichten (Kap. 1). Deshalb entwirft der Autor ein alternatives Konzept von Mediation, das aus der Situation heraus zwischen unterschiedlichen Auffassungen und Kulturen zu vermitteln geeignet sein solle. Dazu zeigt er zunächst auf, wie der Bedarf an interkultureller Mediation am Ende des 20. Jahrhunderts in westlichen Gesellschaften gewachsen sei (Kap. 2) und beschreibt dann die Entstehung und Entwicklung der Mediation als Konfliktlösungsverfahren, vor allem im Hinblick auf interkulturelle Konfliktsituationen (Kap. 3). Für solche triadische Verständigungssituationen entwirft der Verf. sein Konzept der induktiven Mediation (Kap. 4 und 5) und diskutiert anhand ausgewählter empirischer sprach- und sozialwissenschaftlicher Studien weitere Forschungsstrategien und -möglichkeiten für sein Modell (Kap. 6). Ausgehend von der Prämisse, dass Mitglieder unterschiedlicher Kulturen auch ein unterschiedliches Konfliktverhalten haben, ohne dass den Beteiligten die Ursachen dafür bewusst sein müssen, sucht der Verf. u.a. mit Methoden der ‘kritische Diskursanalyse’ (und unter der in solchen Qualifikationsschriften üblichen Berufung auf allerlei Zitierautoritäten und ihre mehr oder weniger einschlägigen Bemühungen: Husserl, Weber, Schütz, Gadamer usw.) den Aneignungsprozess von Fremdem durch Verstehen als eine asymmetrische Machtkonstellation zwischen Verstehendem und Verstandenem zu modellieren, in der das Verstandene in den Erfahrungskontext des Verstehenden integriert und damit seiner Ursprünglichkeit beraubt werde (S. 72). Die westliche Auffassung des Kulturbegriffs gehe nach wie vor auf das von Herder geprägte Verständnis zurück: Kultur sei ethnisch fundiert, sozial homogen und grenze sich nach außen ab. Demgegenüber müsse (im Anschluss an Welsch) ein ‘transkulturelles’ Kulturverständnis entwickelt werden, in dem kulturelle Zugehörigkeit nicht mehr an Abstammung oder Territorien gebunden sei und sich auch nicht mehr an der Nation orientieren dürfe. Kultur müsse vielmehr als Netzwerk gedacht werden, das relativ sei und keiner weiteren Stütze dieser Art mehr bedürfe. Verständigung durch ‘kulturelle Überlappung’ (Holenstein) sei möglich, weil unterschiedliche Kulturen über einen weitaus größeren Anteil an Universalien verfügten als bisher angenommen. Diese dürften aber nicht als logisch absolut ge- Reviews 330 dacht werden, sondern würden einerseits biologisch und psychologisch begründet, andererseits entstünden sie aus verschiedenen Kulturen, weshalb zugleich eine Pluralität von Partikularien gewährleistet sei. Verständigung durch ‘third culture’-Konzepte (Casmir; ten Thije) konzipierten interkulturelle Verständigung als Konstitution einer temporär gültigen dritten Kultur, in der nicht lediglich einzelne Spezifika der Ursprungskulturen der Interaktionspartner miteinander kombiniert, sondern neue Kommunikationsregeln geschaffen würden (S. 115 f.). Vor einem solchermaßen ausgebreiteten kulturtheoretischen Hintergrund und im Anschluss an einen problemgeschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Mediation untersucht Busch sodann einzelne Problemfelder und stellt Anwendungsbereiche von Mediation vor (z.B. in politischen, internationalen Konflikten, akademische und medienvermittelte Mediation etc.). Eine ‘deduktive Konzeption’ interkultureller Mediation sei als Instrument geeignet, Probleme und Konflikte in einem interkulturell bestimmten Kontext zu bearbeiten. Konflikte können sich im Hinblick auf den Sachverhalt, die Interessen, die Beziehungen zwischen den Parteien oder deren Werte entwickeln. Die Suche nach Konfliktlösungen innerhalb ‘universalistisch’ definierter interkultureller Mediation könne unterschiedliche Ziele haben, z.B. den Konfliktgegenstand mit den Parteien aushandeln, die Bestimmung eines gemeinsamen Ziels oder die Suche nach Universalien und/ oder Vermittlung kulturspezifischen Wissens. Bei ‘relativistisch’ definierter Mediation bestehe die Aufgabe des Mediators darin, die Konfliktparteien darin zu unterstützen, das Paradox aus der Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens und dem dennoch gegebenen Zwang zur Verständigung zu erkennen, zu akzeptieren und besser auszuhalten. Ein in westlichen Kulturen entwickeltes Konzept von interkultureller Mediation könne indes nicht ohne weiteres auf andere Kulturen übertragen werden. Mediationsverfahren im westlicheuropäischen Verständnis verfügen kaum über Mechanismen, die kulturelle Machtgefälle erkennen und ausgleichen können. Mediation in sehr hierarchiebewussten Gesellschaften wird eher von Personen durchgeführt, die hierarchisch über den Konfliktparteien stehen. Low context cultures (wie z.B. die westlichen Gesellschaften) zeichnen sich durch einen häufigen Gebrauch ‘offener’ Formen von Kommunikation aus im Gegensatz zu high context cultures (wie z.B. Gesellschaften Asiens und Südamerikas), die eher ‘verdeckte’ Formen der Kommunikation verwenden. Fazit: “So scheinen die Implikationen deduktiver Konzepte interkultureller Mediation aufgrund ihrer Verwurzelung in westlich-kulturellen Kontexten insbesondere mit den Idealen und Zielstellungen zum Umgang mit interkulturellen Kontaktsituationen und mit sozial erwünschten Methoden der Konfliktbearbeitung in anderen Kulturen [zu] kollidieren. Dadurch würde in vielen Fällen zwar nicht die Anwendbarkeit des Konzepts an sich in interkulturellen Kontexten verunmöglicht, es kann jedoch meist nicht mehr davon ausgegangen werden, dass mittels einer derart gedachten Mediation die Ideale und Zielvorstellungen zur Regelung interkultureller Begegnungen, die von fremdkulturellen Beteiligten eingebracht werden, in gleichem Maße bedient werden wie die der eigenkulturellen Beteiligten” (S. 181). Als Alternative zum ‘deduktiven’ Konzept von Mediation entwickelt Busch eines, das sich auf induktive Weise auf triadische Verständigungssituationen bezieht. Der Begriff triadische Verständigungssituation verweist auf die Minimalbedingungen von Interaktionsformen, die noch als Mediation verstanden werden können. Mediation wird dabei als Prozess begriffen, der auch ohne eine Institutionalisierung und Professionalisierung des Mediators sowie eine mehr oder weniger vorgegebenen Ablaufstruktur des Mediationsverfahrens auskommt. Allen Formen interkultureller Mediation sei jedoch gemeinsam, dass eine dritte Person zwei weiteren, miteinander interagierenden Personen dabei hilft, einander besser zu verstehen. Ein großer Teil von interkulturellen Konflikten geschehen in alltäglichen Verständigungshandlungen; eher harmlose Störungen auf sprachlicher Ebene, kleine Peinlichkeiten und Lächerlichkeiten (z.B. bei Gratulationen), grundlegendere und subtilere Beeinträchtigungen in der aktuellen Gesprächssituation (z.B. bei Zuhöreraktivitäten), nachhaltigere Beeinträchtigungen der persönlichen Beziehung (z.B. durch Anrede- und Abschiedsverhalten), Benachteiligung durch Sanktionierung von Andersartigkeiten beim Verstoß gegen normative Erwartungen (z.B. Reviews 331 im Bildungswesen), Stereotypisierung und Vorurteilsbildung (z.B. argumentatives Verhalten), Ausgrenzung und Diskriminierung (z.B. Definitionen von Gruppenzugehörigkeit, Dominanzverhalten, Funktionalisierung von Verständnisschwierigkeiten, Unkooperativität). In solchen Alltagssituationen sind kaum professionell ausgebildete Mediatoren zugegen, da können Dritte nur spontan und auf der Grundlage ihrer alltagssprachlichen Kompetenz vermitteln. In spontanen, interkulturell bedingten Missverständnissen sind die Interaktionspartner oft nicht in der Lage, den Grund des Missverständnisses oder gar das Missverständnis selber wahrzunehmen. Eine Dritte Person muss in diesem Fall den Klärungsprozess initiativ einleiten und vorantreiben. Aus zeichenu. handlungstheoretisch orientierten Ansätzen leitet Busch sodann mediatorische Strategien ab, die verstehensfördernd wirken, indem sie auf Strategien des Reformulierens, Paraphrasierens, Wiederholens und der Rekontextualisierung zurückgreifen. Solche Strategien stimmen mit theoretischen Überlegungen zum Fremdverstehen überein, die vorbringen, dass durch Perspektiven- und Rollenübernahme und so genannte Techniken des Spiegelns ein gegenseitiges interkulturelles Verständnis gefördert werden könne. Dabei können Mediatoren durch ihre Außenperspektive und emotionale Neutralität vermittelnd wirken. Schwierigkeiten interkulturellen Verstehens lassen sich (nach Rost-Roth) auf pragmatische Kategorien und Ebenen zurückführen wie Kulturunterschiede in Höreraktivitäten und im Rückmeldeverhalten, in Erzählformen und Narrationen, in konversationellen und argumentativen Stilen. Hier können Dritte kulturelle Unterschiede ausmachen und die beiden Parteien darauf aufmerksam machen. Aus solchen und ähnlichen Beobachtungen stellt der Verf. ein synoptisches Modell zusammen, in dem er deduktive und induktive Konzepte interkultureller Mediation kombiniert. Das Modell fasst Strategien und Vorgehensweisen zusammen, deren sich Dritte in interkulturellen Kontaktsituationen wie auch institutionelle Mediatoren bedienen können. Buschs Modell interkultureller Mediation erscheint am Ende freilich als ein einfaches Phasenmodell, das sich von denjenigen, die er zuvor kritisiert hat, nicht wesentlich unterscheidet. Es versteht sich im Grunde weitgehend von selbst und löst den zuvor erhobenen theoretischen Anspruch kaum ein. Zum anderen prüft er die referierten unterschiedlichen Ansätze nicht auf ihre epistemologische Kompatibilität hin und vermag sie so auch nicht in eine stringente Argumentation schlüssig zu integrieren. Ein Indiz für mangelnde Kohärenz sind die zahllosen resümierenden und vorausverweisenden Textteile, die den Leser eher verwirren als die Arbeit strukturieren. Das Missverhältnis zwischen argumentativem Aufwand unter Rekurs auf alles und jedes (die Bibliographie verzeichnet 644 Titel) und eigentlichem Ertrag ist schon frappant. Auch in sprachlich-formaler Hinsicht lässt die Arbeit Wünsche offen. Gerade bei einem Thema, bei dem es primär und wesentlich um Verstehen im Allgemeinen und um Verständlichkeit fördernde Mittel und Methoden geht, empfindet der Leser die unnötig komplizierte Darstellungsweise als eher abschreckend und die hohe Frequenz von Orthographiefehlern als ziemlich ablenkend. Aber das hat wohl keiner von den Juroren gemerkt, die das Buch mit dem Mediations-Wissenschaftspreis 2004 der Centrale für Mediation ausgezeichnet haben. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Frank Hartmann: Mediologie - Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften. Wien: WUV Facultas 2003, 198 S., ISBN 3-85114-801-0 Medienbegriffe gibt es bekanntlich viele; Medienästhetik, Medienphilosophie, Mediensoziologie oder Medientechnologie haben je eigene Konzepte vorgeschlagen. Vor dem Hintergrund dieser etwas unübersichtlich gewordenen Medientheorie plädiert der Wiener Medienphilosoph Frank Hartmann für wiederum einen ‘neuen’ Ansatz unter dem (von Régis Debray entlehnten) Titel der Mediologie. Von diesem im Frankreich der neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts populär gewordenen Ansatz erhofft sich Hartmann (= Verf.) nicht weniger als eine Neuorientierung der Kulturwissenschaft als gesellschaftswissenschaftliche Reviews 332 Antwort auf die “wichtigste Revolution unserer Zeit”, nämlich die grundlegende Veränderung der Kommunikationsverhältnisse und ihrer Techniken und Praktiken durch “elektronische Technologien und eine global vernetzte Infrastruktur” (S. 91). Wie läßt sich dieses Anliegen theoretisch fassen? Als eine Medientheorie der Kulturwissenschaft will die Mediologie den (engen) Medienbegriff erweitern bzw. sich eher von diesem lösen, um sich der Frage zuzuwenden, wie Medien neue Ideen innerhalb unser Kultur vermitteln und transformieren. Unter diesem als ‘Medialität’ beschriebenen Zusammenhang versteht der Verf. den Prozeß des Übermittelns, Übersetzens, Übertragens innerhalb einer Gemeinschaft, also nicht nur den Vermittlungsprozess, sondern auch den Aspekt einer Transformation von Informationen innerhalb jeweiliger Kommunikationsverhältnisse. So geht er zu Recht davon aus, daß sich Informationen sowohl bei der Weitergabe von Generation zu Generation, als auch innerhalb verschiedener Medientechnologien (z.B. die Drucktechnik) verändern. So kommen ‘Ideen’ nie in ‘reiner’ Form vor, sondern immer nur materialisiert in einer spezifischen medialen Umwelt. Debray nannte das Mediasphäre und meinte damit eine Art strategisches Milieu für Kommunikation. “Gedanken und Ideen werden nicht einfach nur symbolisch vermittelt”, schreibt Hartmann (S. 100), “sondern ständig übersetzt in Zeichen, Worte Symbole, Bilder und dabei auch technisch recodiert. Sie nehmen meist einen intermediären Zustand an, d.h. sie werden nicht als solche kommuniziert, sondern innerhalb der Geltungsbedingungen einer Mediasphäre formatiert.” Neue Ideen setzen sich also nicht immer nur aufgrund besserer Argumente durch, sondern oft auch dann, wenn sie im Spannungsfeld zwischen Technik (also ihrer Speicherung und Vermittlung) und Kultur (ihren Inhalten und Weltbezügen) gut positioniert sind, m.a.W.: die (Entstehungs-)Geschichte kultureller Formen schließt die Formen der Speicherung und Weiterverarbeitung von Ideen ein. Allerdings ist dieser Begriff der ‘Idee’ bei Hartmann nicht eindeutig definiert. Einerseits versteht er darunter Praktiken kultureller Formen schlechthin, andererseits zielen seine Beispiele auf revolutionär neue Ideen (Karl Marx) und deren Durchsetzungskraft innerhalb einer Gesellschaft. Von Debray übernimmt Hartmann auch die medialogischen Zäsuren als historische Stufen der Mediasphäre: auf die Logosphäre nach der Erfindung der Schrift folge die Graphosphäre nach der Erfindung des Drucks; nach dem iconic turn befänden wir uns derzeit in der Videosphäre (also im Wandel von der Schriftkultur zur Bildkultur), die ihrerseits von der Numerosphäre digitaler Medien abgelöst werde. Medien versteht der Verf. dabei jeweils als “eine Kommunikation ordnende Macht, die aber nicht von außen auf die Kultur einwirkt, sondern selbst Kultur ist” (S. 91). So soll eine Theorie der Medien als eine Theorie der Kultur konzipiert werden, in der die Vermittlung von Ideen und die Praxis der Mediennutzung Kultur und Technik verbindet. Medien wirken als Kulturprodukte ihrerseits auf die Kultur ein und verändern Formen oder Praktiken gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien. Die zentrale Frage der Mediologie sei diese: “Welche Technologien, welche historischen Prozesse und welche kulturellen Praktiken ermöglichen Kommunikationsprozesse? Wie verändern sich dabei die beteiligten Akteure und die indirekten Adressaten dieser kommunikativen Akte? ” (S. 101). Dabei sollen die Symbolisierungsverfahren (wie Schrift oder Rechnen), soziale Kommunikationscodes, materielle Speicher (Datenträger), Aufzeichnungsdispositive (Schreiben, Malen, Fotografieren etc.) in einem Zusammenhang mit dem jeweiligen Verbreitungsnetz analysiert werden. Die Frage, was genau nun hier Medien sind und was Medialität, beantwortet der Verf. m.E. nicht. Wie läßt sich z.B. bei einem ‘technischen Medienbegriff’ Sprache oder Schrift etwa von Macht oder Glaube als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium bei Luhmann abgrenzen? Nach Hartmann ist ‘Medium’ als “System von Trägern, Netzen und Dispositiven der Kommunikation zu verstehen, das sich historisch revolutioniert” (S. 105). In kritischer Wendung gegen die klassischen Sender-Empfänger- Modelle zur Beschreibung von Kommunikation plädiert der Verf. für die “Neufassung eines Kommunikationsbegriffs, der den Realitäten einer Informationsgesellschaft entspricht und geistige Kategorien mit technischer Mediatisierung ins Verhältnis setzt: Kommunikation nicht als Aussenden von Botschaften, sondern als Herstellen Reviews 333 von Beziehungen .” 1 Die Trennlinien zwischen der Übertragung (= ‘Transformation’), dem Inhalt oder der Botschaft (= ‘Schaltung’) und der Gesamtheit des Prozesses der Kommunikation (= ‘Mediatisierung’) bleiben unklar. Mit einem dergestalt weit gefaßten Kommunikationsbegriff ist jedwedes menschliche Verhalten als Kommunikation anzusehen und jedes Handeln als Kommunikation zu beschreiben, was den daraus abgeleiteten Medienbegriff ins Unbestimmte entgrenzt. So sind auch Kriterien der Abgrenzung von Medien zu Mediensorten oder von diesen zu Textsorten bzw. Kommunikationsformen Hartmanns Sache nicht. Das wäre aber Voraussetzung für einen weniger spakulativen Zugang zur Frage, inwieweit moderne Kommunikationstechnologien alte verdrängen oder inwieweit diese verändert werden. Aber vielleicht interessieren den Mediologen solche Fragen auch nicht so sehr. Ihm geht es augenscheinlich weniger um präzise Bestimmung des Begriffs als um eine Anschauung der Mediatisierung als eines Prozesses der Vermittlung und der damit einhergehenden Transformationen. Damit läuft der Mediologe jedoch Gefahr, nur die Veränderung als ganzheitlichen Prozess zu sehen und weniger auf die Bedeutung einzelner Zwischenschritte zu achten. Der Funktionswandel des Briefes etwa bedeutet deshalb noch lange nicht das Ende der Schriftlichkeit. Oder: vieles von dem, was heute unter dem Stichwort der ‘performativen Kultur’ subsumiert wird (S. 114ff.), konnte sich erst durch neue Technologien entfalten, die (im Sinne von Meyerowitz 1998 oder Tomlinson 1999) neue Raum/ Zeit-Dimensionen etabliert haben. So gewinnt der kritische Leser den Eindruck einer deutlichen Schlagseite in der Balance zwischen Kultur und Technik: das soziale Subjekt, also der Produzent und Rezipient der Symbolsysteme als der eigentliche Träger der Kultur, gerät zunehmend aus dem Blick - was den Anspruch einer Medientheorie als einer Theorie der Kultur doch erheblich relativiert. Anmerkung 1 Frank Hartmann 2004: “Was ist Mediologie? ”, in: http: / / mailbox.univie.ac.at/ Frank.Hartmann/ docs/ mediologie.pdf [22.11.2005: 3] Literaturhinweise Debray, Régis 1994: Manifestes Médiologiques, Paris: Gallimard Meyrowitz, Joshua 1998: “Das generalisierte Anderswo”, in: Ulrich Beck (ed.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 176-191 Tomlinson, John 1999: Globalization and Culture, Cambridge: Polity Press Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Eckhard Hauenherm: Pragmalinguistische Aspekte des dramatischen Dialogs. Dialoganalytische Untersuchungen zu Gottscheds Sterbender Cato, Lessings Emilia Galotti und Schillers Die Räuber, Frankfurt/ M. etc.: Peter Lang 2003, viii + 384 S., ISBN 3-631-38985-X Die Arbeit basiert auf einer Münsteraner Dissertation, die im Umfeld des dialoggrammatischen Ansatzes von Franz Hundsnurscher entstanden ist. Sie wendet diesen Ansatz exemplarisch auf die drei im Titel genannten Dramen an, weil sich in ihrer Zeit “ein deutlicher Wandel in der Beurteilung des Dialogs” abzeichne (S. 1). Hauenherm (= Verf.) möchte damit einerseits die Stilisierungsarbeit der Autoren an alltagssprachlichen Dialogmustern aufzeigen, andererseits der Frage nachgehen, wie sich dialogisches Handeln in den drei Dramen als Mittel zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Verständigung darstelle. Dazu entwickelt er zunächst ein dialoganalytisches Modell und beschreibt dann die Werke vornehmlich unter dem Aspekt, wie sich darin die dialogische Handlung jeweils aus den einzelnen Sprechakten konstituiere. Aus dem Umgang mit dem dialogischen Material leitet er schließlich so etwas wie ein dialogisches Ideal der Autoren ab, das er auch in deren eigenen einschlägigen Schriften aufzuspüren strebt. In einem kurzen Forschungsüberblick resümiert der Verf. zwar verschiedene andere Ansätze, bleibt aber dann bei seiner Entscheidung für den musterorientierten Ansatz der Dialoggrammatik à la Hundsnurscher, mit dem Phänomene des externen und internen Kommunikationssystems auf der Basis der Handlungsmuster erklärt werden sollen. Deshalb hebt er die Reviews 334 Vorzüge einer sprechaktorientierten Analyse hervor (gegenüber einer, die etwa von Bühler ausgeht) und wendet sich klar gegen dramenbzw. theatersemiotische Modelle, die den verbalen Dialog (Ingardens ‘Haupttext’) als Darstellungsmittel unter mehreren behandeln, weil der Dialog im 18. Jh. nun mal zentral sei und die Lektüre im Vordergrund stehe. Nun ist das - unbeschadet der Tatsache, dass jede Inszenierung Interpretation ist - kein sehr stichhaltiges Argument, es sei denn, man betrachtet ein Drama ausschließlich als Lesedrama. Auf das innere Kommunikationssystem bezogen unterscheidet der Verf. zwei grundsätzlich verschiedene Handlungsbegriffe, nämlich Sprachäußerungen i.S. eines intentionalen Verhaltens und die Dramenhandlung i.S. einer Abfolge von Geschehnissen. Diese Abfolge werde nicht von der Fabel repräsentiert, sondern sei im Gang der Gespräche zu sehen, die ein Musterwissen seitens der Figuren und seitens des Lesers implizierten (S. 26). Insofern überrascht nicht, daß der Verf. zur Beschreibung von Dialogen auch in methodischer Hinsicht etwa Verfahren der Konversationsanalyse ablehnt und solchen der Dialoggrammatik den Vorzug gibt. Damit handelt er sich freilich auch die Nachteile der ursprünglichen Sprechakttheorie ein, die weder die Satzgrenze überschreitet noch Kohärenzfragen berücksichtigt und meist zu allzu restriktiven Typologien neigt. Deshalb ist sehr bald die Bildung von Untermustern erforderlich (semantische Muster, Nachfragen, Evaluierung, Entscheidung etc.) und deren Kombination z.B. mit verschiedenen verlaufsorientierten Typologien (wie Wilhelm Frankes “Minimaldialoge” oder Hundsnurschers Typologie nach Interessenkonstellationen), die freilich auch wieder die Übersichtlichkeit des Verfahrens beeinträchtigen. Dabei stellt sich überdies das Problem, ob sich Interessenkonstellationen am Gespräch selbst oder nur an einer Sequenz festmachen lassen. Dennoch wagt der Verf. die These, daß das Natürlichkeitsideal des 18. Jahrhunderts zur stärkeren Begründung von dialogstrukturellen Abweichungen im internen Kommunikationssystem führe (S. 45). Der zweite Teil (“Praxis”) behandelt dann nach kurzem Rückblick auf dialogische Aspekte der Literaturgeschichte und auf die Ausgangslage im Barockdrama mit großem Fleiß das Verhältnis von Dialog und Handlung im Drama des 18. Jahrhunderts am Beispiel der genannten Stücke von Gottsched, Lessing und Schiller in ihren je eigenen Ausprägungen und in der Entwicklung ihrer Dialogtechniken und ‘Dialogideale’. Das Dilemma mit der Anwendung des musterorientierten Ansatzes wird dabei deutlich: sie wird umso schwieriger, je musterlos-psychologischer die Figuren sprachlich gestaltet werden. Von daher stellt sich die Frage, wie weit die positivistische Benennung einzelner Sprechakte trägt. Beim wohlwollenden Leser meldet sich am Ende das Bedürfnis, das nun alles statistisch aufzuarbeiten, Kurven zu zeichnen, Cluster zu bilden, um so eine Art numerisch-grafische ‘Gestalt’ der Frühaufklärung, der Aufklärung und des Sturm und Drang zu gewinnen. Die Technik zeichnet sich durch strengste Linearität aus: Sprechakt reiht sich an Sprechakt, und es bedarf dann leider doch wieder interpretierender (! ) Erläuterung, um auch strukturale Besonderheiten erfassen zu können (z.B. Marinellis teichoskopische Einlagen, die rekurrent und auf ihn beschränkt sind). Was sich gut aufzeigen läßt, ist strategisches sprachliches Handeln, namentlich dann, wenn Strategien aufgegeben und durch neue ersetzt werden müssen. Auf Figurenebene heißt das: improvisieren, sich herausreden, Ergänzungen nachschieben, Gesagtes uminterpretieren. Insofern eignet sich die Emilia besonders gut, weil hier das klare Eingehen der Figuren aufeinander (selbst dann, wenn sie streng genommen aneinander vorbeireden) linguistisch aufgedeckt werden kann. Hier wird der Dialog wirklich zum Sprachhandeln. Wie sähe das aber bei Beckett aus? Bei Schiller werden die Grenzen des Ansatzes noch deutlicher erkennbar. Zum einen widersetzt sich Schiller des öfteren einer linearen Sprechaktabfolge, zum andern benutzt er ausgiebig das Stilmittel der Ironie. Neu ist auch seine Handhabung des Mißverständnisses, aber auch hier läßt sich mit dem Aufweis der Sprechakte einiges gewinnen, insofern seine Figuren dezidiert Handlungsziele verfolgen, auch wenn ihnen diese nicht immer schon von Anfang an bewußt sind. Es ist also auch bei Schiller keineswegs fragwürdig, Handeln mit sprachlichem Handeln gleichzusetzen. Hauenherm hat die drei Stücke natürlich bewußt ausgewählt, ohne sich intensiv um die Frage Reviews 335 zu kümmern, wie es um die Reichweite seiner Methode bestellt ist. Was ist, zum Beispiel, wenn sprachliches Verhalten sich nicht mehr so ohne weiteres mit Handlungszielen korrelieren lässt oder wenn der propositionale Gehalt einer Replik unabhängig von identifizierten Handlungszielen Wirkung entfaltet? Man braucht dabei nicht nur an experimentelles Theater zu denken. Es reicht schon, wenn man sich Ophelias letzten Auftritt vorstellt. Aber bei aller Restriktivität des Ansatzes, dem der Verf. vielleicht allzu konsequent verhaftet bleibt, zeigt die Arbeit insgesamt doch, wie fruchtbar Linguistik und Literaturwissenschaft zusammenarbeiten könnten, zumal wenn man dies noch mehr als hier geschehen im wechselseitigen Respekt vor dem Erkenntnisinteresse des Kooperationspartners tut. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Wilhelm Köller, Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache, Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2004, xi + 925 S., ISBN 3-11-018104-5 In seinem opus magnum stellt der Kasseler Germanist und Linguist (und Semiotiker! ) Wilhelm Köller auf ebenso anspruchsvolle wie umfassende Weise dar, wie das Sprechen, aber auch das Sehen und Denken unter dem Aspekt der Perspektivität betrachtet werden kann. Darüberhinaus versucht er zu zeigen, daß es sich bei Perspektivität um ein “anthropologisches Urphänomen”, ja um ein “Grundphänomen aller faktischen Wahrnehmungsformen” überhaupt handle, mit dem sich auseinandersetzen müsse, wer immer erkenntnistheoretische oder zeichentheoretische Überlegungen anstelle, weil es bedinge, “was wir erkennen können und wie wir uns das Erkannte durch Zeichen repräsentieren” (S. 879). Köllers Buch ist eine Art weiträumig angelegter Kultur- und Wissenschaftsgeschichte aus der ‘Perspektive der Perspektivität’. Es enthält Rekonstruktionen unzähliger Ansätze der einschlägig wichtigsten Theoretiker. Einer davon ist z.B. Benjamin Lee Whorf mit seinem Prinzip der sprachlichen Relativität. Die Haltung, die dieses Prinzip bezüglich des Zusammenhangs von Sprache und Denken (i.S.v. Wahrnehmungsprozessen) fundiert, ist paradigmatisch für Köllers Vorstellung der Dinge: Sprache als der bei Whorf wesentlich perspektiven-bestimmende Faktor sei (entgegen der Ansicht vieler Whorf-Kritiker) relativistisch und nicht deterministisch zu verstehen. So stellt sich die Frage nach dem Status der Perspektivität neu: Köller unterstellt das Phänomen der Perspektivität als allem Wahrnehmen inhärentes Grundprinzip, nicht im Sinne einer essentiellen Eigenschaft der Wahrnehmung, sondern als Bedingung ihrer perspektivischen Beschreibung. Wenn aber Perspektivität Wahrnehmungsformen jeder Art (inklusive Sprache) zugeschrieben werden kann, reduziert das freilich die deskriptive Aussagekraft des Attributs: wenn ein und dasselbe Paradigma auf so viele verschiedene Theorien und Erkenntnisse anwendbar ist, wo ist es dann noch substantiell relevant? Perspektivität als “grundlegende Vorbedingung jeglicher Welterfassung und Weltrepräsentation” ist zugleich der Modus ihrer Erkenntnis. Die Ausgangslage ist, grob gesagt, die folgende: Wahrnehmung ist notwendigerweise perspektivisch, d.h. man kann nicht den Kern der Dinge oder das ganze Ding erkennen, sondern immer nur einen Aspekt davon. (Die Frage nach der Existenz der Dinge stellt sich K. als Realist offenbar nicht). Objekte werden von Subjekten nicht in ihrer Objektivität wahrgenommen, sondern in Kontexten. Die Erkenntnis über die visuelle Wahrnehmung lasse sich auf die Phänomene Sprache und Kognition ausweiten, insofern geistigen Wahrnehmungsprozessen aller Art das Prinzip der Perspektivität inhärent sei. Die Analyse solcher Prozesse setzt bei denjenigen der Wahrnehmung an; sie dienen als Exempel für die Struktur kognitiver und sprachlicher Wahrnehmungs- und Objektivierungsprozesse. Der Fokus der Untersuchung liegt auf der “immanenten kognitiven Perspektivität” von konventionalisierten Zeichen, Zeichensystemen, Objektivierungsmustern, die als Kulturprodukte mit “bestimmter kognitiver Intentionalität” historisch entwickelt und sozial stabilisiert sind. Köller fragt genauer: Wie werden Wahrnehmungsvorgänge durch solche Muster vorstrukturiert? Und wie legen solche Muster fest, “was an den jeweiligen Reviews 336 Wahrnehmungsgegenständen in den Blickwinkel unserer Aufmerksamkeit gerät und was nicht”? (S. 7). Seine Hypothese ist, “dass kulturelle bzw. sprachliche Wahrnehmungs- und Objektivierungsmuster gleichsam kognitive Lichtquellen in sich tragen, die bestimmte Aspekte der jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände sehr gut sichtbar machen und andere wiederum abschatten” (ibid.). Das methodische Vorgehen ist ‘genetisch’ und nimmt seinen Ausgang vom ‘Ursprung’ und also vom Visuellen; es ist ‘phänomenologisch’ in seinen deskriptiven und kontrastiven Detail- und Einzeluntersuchungen; es ist ‘hermeneutisch’ in seiner Verbindung von deduktiven und induktiven Prozeduren, die angesichts der Omnipräsenz der Perspektivitätsproblematik linearen Verfahren vorzuziehen sei (S. 8). Das Projekt als ganzes zielt aber vor allem auf Sprache als System von Zeichen und dessen Gebrauch (Saussure vs. Humboldt). So lasse sich zwischen kognitiver und kommunikativer Perspektivität unterscheiden: also einer solchen, die sich auf Muster bzw. konventionalisierte Prozesse bezieht, die sich gemäß der Struktur kollektiven Wissens formieren, und einer solchen, die konkrete Äußerungshandlungen in Kontexten und damit die Objektivierung konkreter Vorstellungsinhalte umfaßt, z.B. den explizit faßbaren Erzähler in literarischen Texten (S. 21). Von diesen Ausgangspunkten aus entfaltet Köller seine Untersuchung auf fast 1000 Seiten in den drei großen Teilen, die der Perspektivität im visuellen Bereich vor allem der Bildenden Kunst, im kognitiven Bereich der Logik, Anthopologie, Erkenntnistheorie und Pragmatik und im sprachlichen Bereich einer Fülle von Phänomenen auf allen Ebenen linguistischer Analyse gewidmet sind. Wer sich einmal auf den Leisten eingelassen hat, über den Köller all diese Phänomene schlägt, liest dieses ungeheuer anregende Lebenswerk mit großem Gewinn. Er bekommt gleichsam nebenbei ein lehrreichen Gang durch die Kunstgeschichte präsentiert, er vergegenwärtigt sich noch einmal die erkenntnistheoretischen Grundlinien von Platon bis Peirce, und er sieht die grammatischen Grundformen (Casus, Tempus, Modus, Genus etc.), die lexikalischen Begriffsbildungsmuster (Wortarten, -felder, -bildungen), die Zeichen der Verweisung (Deixis, Pronomina, Artikel), Verknüpfung (Präpositionen, Konjunktionen) und Kommentierung (Partikeln, Modalwörter), die Formen der Negation (auch im religiösen und im ironischen Sprachgebrauch) und der Metaphorik, die Art der Fragen oder Redewiedergaben unter dem integrativen Aspekt ihrer Perspektivität. Er findet sie aber auch im Bereich der Lüge, der Ironie, der Paradoxie, des Erzählens und in allerlei Textmustern wie denen des Witzes, der Novelle oder der Geschichtserzählung. Es versteht sich bei einem Werk dieser Klasse von selbst, daß ihm ein substantielles Literaturverzeichnis mit auch entlegenen Verweisen und ein gründlich gearbeitetes Sach- und Personenregister beigegeben ist, sodaß es auch als Nachschlagewerk gut zu nutzen ist. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Holger Mosebach: Endzeitvisionen im Erzählwerk Christoph Ransmayrs. Munich: Martin Meidenbauer, 2003. ISBN 3-89975- 033-0. 284 pages, hard cover. For his doctoral dissertation, Mosebach opted for a close-reading approach of the novels, yet not the journalistic texts of Christoph Ransmayr. This choice might come as a little surprise to the reader, particularly as Mosebach states himself that “[a]uch in diesen kleineren Schriften (…) eine Affinität des Autors zu Untergängen herauszulesen [ist]” (p 14) and goes on to concede that motifs of the apocalypse have also found their way into the short prose. It is equally as true that the journalistic pieces have played their part as auto-intertextual influences on the novels (see p 82). Mosebach rightly argues, however, that it is in Ransmayr’s novels where the topic of universal decline becomes apparent in a more complex and a more condensed form. Analysing the structure of Ransmayr’s Endzeitvisionen is the first task set in the thesis; the second consists of answering the question in what way the fictional texts form a portrayal of the reader’s world (see p 15). To clear the ground further, the book continues with a detailed outline of Endzeitvisionen from antiquity to modernity. The key issue in this context is how the “Erlö- Reviews 337 sungsmodell von der Errettung der Menschheit” (p 22) has given way to what Klaus Vondung has called “kupierte Apokalypse”, the understanding that the disappearance of humans is a possibility not to be ignored, but it is the traditional vision of the salvation supposed to follow that has now evaporated. Apocalypse takes place not in the after-world, but here and now, a train of thought well established. In Mosebach’s words: “[D]er Fortschrittsoptimismus der letzten Jahrhunderte ist in Zukunftspessimismus umgeschlagen” (p 31). The much-discussed Fukuyama-theorem of the “end of history” rounds off this section; Mosebach maintains convincingly throughout his book that Ransmayr puts the “Konzept des Endes der Geschichte gegen das der Posthistoire-Idee” (p 243). These introductory statements form the theoretical and methodological basis of the application of the theory on Endzeitvisionen to the works of Ransmayr. They would seem to lead the reader slightly away from the novels if it was not for the numerous Rückverweise that are to follow in subsequent chapters. Still, it is a bit of a way to go before the book returns to Ransmayr in chapter three with an attempt at defining that author’s Poetologie. As, unfortunately, there is not much substance in Ransmayr’s already scarce statements on this matter, the word “Versuch” has been adequately chosen. Ransmayr’s aesthetics are difficult to pin down because, as Mosebach states, the positions “schwanken”(p 45) and “[v]on der Autorenpoetik Ransmayrs kann zusammenfassend nicht die Rede sein” (p 55). Common ground in all of the Austrian’s writings is the acceptance of the mimetic aspect of literature, but the refusal of a sheer “realistic” approach. Instead, Ransmayr’s Erfindung der Wirklichkeit resembles more what Christa Wolf - alluding to Musil - has labelled phantastische Genauigkeit: the author does not intend to provide a positivistic re-narration of factual information, but instead offers possible, plausible and therefore credible models of reality to the reader. This Mosebach points out in a clearly structured line of argument by referring to all the essential interviews, speeches, and essays available. Chapter four is the largest by far, and rightly so as it is dedicated to the analysis of the Endzeitvisionen. Closely connected with these is the criticism of progress to be found throughout in Ransmayr’s novels, a fact which Mosebach deals with in his two sub-sections on “Fortschrittskritik” as visible in Die Schrecken des Eises und der Finsternis (pp 98-113) and in Morbus Kitahara (pp 242-46). When Ransmayr argues that the human species is incapable of learning from experience, this can be interpreted as an obvious criticism of the Enlightenment, around which, one might argue, all of Ransmayr’s works revolve in one way or another. In Mosebach’s publication, this facet is represented by the three sections on “Anthropologische Kritik” referring to Strahlender Untergang (pp 76ff), Die letzte Welt (pp 176-83), and Morbus Kitahara (pp 233-38). What coincides with both these modes of criticism is the “Rehabilitierung des Mythos” (pp 183-88) as an indicator of the “Loslösung vom absoluten Fortschrittsglauben” (p 115). Taking into account the Austrian’s language, which relishes in depictions of decay and the theme of the tortured body, completes the analysis of entropy in Ransmayr’s works (“Ästhetik des Schreckens” and “Geschundene Körper” respectively). Arguably, these patterns might have been arranged in a way that synthesises findings for all the texts under one heading, but as they stand they succeed in forming the guiding line of the dissertation supplemented by usually highly convincing summaries and transitions at the end of each chapter. On the level of in-depth analysis, the book deals with the novels in a chronological order. The section on Strahlender Untergang focuses on the disappearance of man while Die Schrecken des Eises und der Finsternis explores mainly intertextual relations: The motif of “Die unendliche Fahrt” as developed by M. Frank might have formed part of those instead of including it under “Fortschrittskritik”. The brief “Exkurs” on ice and frost as a motif in contemporary German literature (pp 113-14) seems slightly misplaced when in between criticism of progress and myth. On the one hand, it seems unfortunate that ninety-three pages have been dedicated to Die letzte Welt, which is almost over-researched, while only a third of that page range we find dealing with Morbus Kitahara. On the other, the notion of Endzeitvision is much more evident in Die Reviews 338 letzte Welt than in any other Ransmayr text and therefore serves as a plausible justification for such an approach. Chapter five (“Ausblick”) classifies the novels against the background of the ‘apocalyptic’ genre of the 1980s and formulates the juxtaposition of Ransmayr’s Endzeitvisionen and other fictional texts from that same period as a Desideratum der Forschung. To conclude, the book fulfils its purpose as it successfully dissects the roots, the structure, and the nature of entropic thought in Ransmayr’s oeuvre. It establishes a clear link with the implications these have on the reader. With regard to all the novels, and Morbus Kitahara in particular, Mosebach differentiates explicitly between factual and fictional components of the “erfundene Welt” in question. The concept of the ‘halved’ apocalypse coming without the belief in a better civilisation replacing the one extinguished sheds a new light on the Forschungsstand when applied to the texts. Mosebach provides the reader with an excellent up-to-date bibliography and a helpful glossary of names and key words. Minor inaccuracies like typos and omissions in quotations, especially from Morbus Kitahara, could have been avoided. The layout is well-made in the sense that it does not tire the reader’s eye. For a scientific publication in hard cover, the book also comes at an adequate price. Markus Oliver Spitz (University of Exeter) Anita Naciscione: Phraseological Units in Disourse: Towards Applied Stylistics, Riga: Latvian Academy of Culture 2001, xii + 282 pp., ISBN 9984-9519-0-1 Das Buch der lettischen Anglistin ist sprachlichen Erscheinungen gewidmet, die in der Lexikologie, Phraseologie und Parömiologie unterschiedlich als Redewendungen, Idiome, Phraseologismen, Phraseologische Einheiten, Phraseolexeme, ‘feste Verbindungen’, ‘vorgeformte nicht frei gebildete Wortketten’ beschrieben werden, die als Einheiten spezifische Bedeutungen haben. Abweichungen von vorgeformten Wortverbindungen der Redewendungen hat man bis vor nicht langer Zeit noch als Deformationen, Verdrehungen, Übertretungen, Anomalien oder komische Ausnahmen bezeichnet. Dabei orientierte man sich freilich an den abstrakten, von einem konkreten Kontext losgelösten Formen von Redewendungen, wie sie die Wörterbücher verzeichnen. In den letzten beiden Dekaden ist aber das Interesse am konkreten Gebrauch von Redewendungen und ihren kontextuell situierten Erscheinungsformen gewachsen. Die Phraseologie erkennt in zunehmendem Masse, daß man dem sprachlichen Phänomen der Redewendung nicht gerecht wird, wenn man sie losgelöst von ihrem aktuellen Gebrauchszusammenhang betrachtet. Heute sind stilistisch begründete Änderungen im Gebrauch von Redewendungen akzeptiert und werden als ein wesentliches Mittel für sprachliche Kreativität betrachtet. Stilistischer Gebrauch von Redewendungen ist eine bewußte Wahl, die eine neue Perspektive impliziert. Naciscione (= Verf.) verfolgt in ihrem Buch zwei Ziele: in einem ersten Teil entwickelt sie eine Theorie der Phraseologischen Einheiten, in der sie die Terminologie sowie zentrale Konzepte vorstellt und Wahrnehmungsresp. Interpretationsprozesse modellhaft analysiert. Im (kürzeren) zweiten Teil argumentiert sie für die Anerkennung der ‘Angewandten Stilistik’ als eines eigenen Forschungsbereichs und wendet die Instrumentarien, die sie im ersten Teil entwickelt hat, exemplarisch in unterschiedlichen Bereichen an. Unter dem Titel “Phraseologie und Diskursstilistik” führt die Verf. in ihr Thema ein und stützt sich dabei auf die Diskursanalyse als einer geeigneten Methode zur Analyse von PE, also ‘Phraseologischen Einheiten’ (Kunin) in ihrem alltäglichen Gebrauch. Von der Diskursanalyse habe sich die Diskursstilistik als Disziplin aus eigenem Recht abgespalten. Sie zeige auf, wie Diskurse konstruiert sind und welche Wirkungen die verschiedenen Stilelemente zeitigen können; unter dem Aspekt der Kohäsion interessiere sie, wie semantische und stilistische Beziehungen im Text miteinander kombiniert würden. Zur Identifikation von PE in Diskursen unterscheidet die Verf. drei zentrale Konzepte: (i) die Basisform als abstrakte Form, die in Wörterbüchern als Grundform verzeichnet ist und nie Reviews 339 länger als ein Satz ist, (ii) den Normgebrauch als die am meisten verbreitete und in diesem Sinne normale Anwendung innerhalb eines Diskurses, (iii) den Stilgebrauch als die spezifische Anwendung einer PE innerhalb eines konkreten Kontextes. Die eigentliche Identifikation verlaufe dann in vier (analytisch differenzierten) Schritten: Wiedererkennen, Überprüfen, Verstehen, Interpretieren. Die angemessene Interpretation eines konkreten Gebrauchs einer PE sei nur innerhalb des gesamten Textes mit Bezug auf die Basisform möglich. Erst so entfalte sich ihr Bedeutungspotential und ihre stilistische Funktion. Die Schlüsselkonzepte des Stilgebrauchs im Diskurs sind nach Naciscione die Phraseologische Kohäsion, die Muster des Variantengebrauchs und deren Diskurscharakter. Die Analyse konkreter Texte zeigt, daß Stilgebrauch aufgrund von allgemeinen Gebrauchsmerkmalen im Diskurs gebildet wird. Jeder stilistische Gebrauch - und mag er noch so individuell sein - folgt solchen Regelmäßigkeiten. So ist es möglich, den Variantengebrauch einer PE zu verstehen, die man vorher noch nie gesehen hat, indem man die Basisform und die Regeln kennt, die bei der Ableitung zur Anwendung gelangen. In diesem Sinne sind solche Bildungsmuster nicht nur Kohäsion erzeugende Mittel im Diskurs, sondern auch eine “mentale stilbildende Technik”, die stilistisch unterschiedliche Manifestationen einer PE zum Ausdruck bringen kann. Voraussetzung dazu ist, dass diese allgemeinen sprachbildenden Muster im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Sie sind es, die Stabilität und Kontinuität der PE im Verlaufe der Zeit garantieren, obwohl sie in ihrem konkreten Gebrauch praktisch immer unterschiedlich verwendet werden. Meist lernt man PE in ihrer Basis- oder Stammform. Tatsächlich kommt der an der Norm orientierte Stammresp. Normgebrauch auch am häufigsten vor - und dieser geht selten über die syntaktische Konstruktion eines Satzes hinaus. Zwar gibt es durchaus auch Stilgebrauch innerhalb der Satzgrenze, der z.B. durch Einfügung, Ersetzung, Zusätze, phraseologisches Zeugma, Inversion, Periphrase, Überblendung, Konversion, Metathesis, Diminutivgebrauch erreicht wird. Meist jedoch sprengen stilistische Abweichungen die Satzgrenzen und dehnen sich über einen größeren Abschnitt hinweg, ja gar über ganze Texte aus. Diese Eigenschaft nennt Naciscione Spannweite (sustainability). Das Bild der figurativen Bedeutung einer PE kann z.B. über längere Strecken eines Textes explizit oder implizit formbildend sein, indem entweder immer wieder Bezug auf das Bild genommen wird oder dieses sozusagen den unsichtbaren roten Faden des Textes oder Textabschnitts bildet. PE leisten also einen nicht geringen Beitrag zur Kohäsion eines Textes. Die üblichsten Muster des stilistischen Gebrauchs von PE im Diskurs werden dann anhand zahlreicher Beispiele aus der Literatur illustriert. Dazu gehören phraseologische Metaphern, Wortspiele und Andeutungen. Letztere sind z.B. implizite mentale Bezugnahmen zum Bild der PE, die im Diskurszusammenhang durch ein oder mehrere explizite bildtragende Elemente vorliegen. Selbst relativ stark abgewandelte Variationen vermögen nicht die kohäsive Kraft zur Basisform zu tilgen. Für das Erkennen und die Interpretation des Stilgebrauchs von PE ist also der kognitive Zugriff zur Basisform und den allgemeinen sprachbildenden Mustern zentral. Phraseologische Einheiten innerhalb des Diskurszusammenhangs bilden dabei mit dem Kontext ein komplexes Netz semantischer Interferenzen, die u.a. durch Stilgebrauch spannungsmässig aufgeladen werden. Dies zu erkennen ist notwendig, will man den Text und in seiner Vielschichtigkeit und die verschiedenen Arten, wie PE mit einem Text verwoben sein können. Eine dieser Arten ist die Wiederholung. Die wiederholten Einheiten legen ein Netz über den Text oder die Textteile und schaffen dadurch einen Zusammenhang, auch wenn die einzelnen Verwendungen der PE meist unterschiedlich sind und in einem unterschiedlichen Kontext erscheinen. Jede Wiederholung besitzt also nicht nur identische Elemente, sondern auch individuelle, die ebenso individuelle wie vielschichtige semantische und stilistische Bezüge schaffen. Wiederholter Gebrauch von PE ist eine Form von Kohäsion und kann mit einer variierenden Technik des stilistischen Gebrauchs wie Metapher, Wortspiel, Stilbruch, Allusion usw. gekoppelt werden. Eine andere Art ist der Gebrauch von Diminutiva. Das moderne Englisch kennt zwar vergleichsweise wenige Diminutiv-Suffixe, sondern diminu- Reviews 340 iert eher durch Lexeme wie little, small, thin, petty, wee, slight, a drop of, a bit of usw., aber in PE findet man suffigierte Diminutiva relativ häufiger. Oft verwandeln erst sie die Wortkombination in eine PE. Dabei kann die semantische Richtung nicht derart bestimmt werden, wie dies bei normalen Diminutivbildungen der Fall ist. Auch eine nicht durch Diminution gebildete PE kann aus aktuellen kontextuellen Bedürfnissen heraus diminuiert werden und so eine stilistische Variante zum Normgebrauch darstellen. Weil dies aber ein eher seltenes Phänomen ist, kann es auch neue semantische und stilistische Möglichkeiten eröffnen. Eine weitere Variante besteht darin, daß verschiedene stilistische Mittel (z.B. Einfügung, Umkehrung, ausgedehnte Metapher, Ersetzung, Ellipse/ Allusion, Stilbruch) gleichzeitig zur Anwendung gelangen. Die Stilmittel können in dieselbe Richtung zielen und so eine starke stilistische Wirkung erzeugen oder aber auch einander widersprechen, so daß sie damit sozusagen in semantische oder stilistische Konkurrenz treten oder so miteinander verbunden und verwoben werden, daß sie ein komplexes Bedeutungsgefüge bilden, in dem die aktuellen semantischen Spannungen die figurativen Inhalte überlagern und dominieren. Diese Verwendungsweise wird zu einem semantischen und stilistischen Knotenpunkt, weil hier die verschiedenen figurativen Wendungen aufeinander treffen und so zahlreiche momentane Sinneffekte schaffen, die die Aufmerksamkeit des Hörers/ Lesers erregen. In Titeln, Schlagzeilen oder in der Coda werden PE über einen ganzen Text hinweg wirksam. Codas, die den Text zu einem Abschluss bringen, fassen den Inhalt schlagwortartig zusammen, können aber auch abschließende Bemerkungen und weiter führende Informationen enthalten. Die Funktionen der Coda können also ganz unterschiedlich sein. Bildet nun eine PE die Coda, so drückt sie oft die Quintessenz des Textes aus. Beispielhaft findet man solche Gebrauchsformen in Fabeln. - Das letzte Kapitel und zugleich der zweite Teil des Buches ist der Angewandten Stilistik gewidmet, die die Verf. so definiert: “Applied stylistics is an area which explores the practical utilisation of the principles, discoveries and theories of language, literature and stylistics. It is an umbrella term which denotes the application of the stylistic competence of the language user in the fields of teaching, curriculum design, translation, lexicography, glossography, the compilation of notes and comments on literary texts, sociocultural studies, visual representation, advertising and marketing” (S. 174). Angewandte Stilistik schaffe ein Bewußtsein für bedeutende Unterschiede, die zwischen Standardformen resp. -bedeutungen und dem konkreten, beabsichtigten Sinn bestehen können; für figurative Bedeutungen und die Möglichkeit, damit neuen Sinn zu kreieren; für assoziative Verbindungen und Kohäsionen und stilistisch kohäsive Bindungen in unterschiedlichen Textformen und in zahlreichen Anwendungsbereichen, in denen das Stilbewußtsein eine wichtige Rolle spielt: im Unterricht, in (literarischer) Übersetzung, Lexikographie und Glossographie, in der Werbung und im Marketing. In einem weiteren Anwendungsbereich dienen stereotypische PE auch zur Abgrenzung von anderen Nationen, Völkern, Gruppen. (Man denke an die vielen PE mit pejorativ oder sexuell konnotierter Bedeutung, mittels derer sich Engländer abzugrenzen lieben: Dutch courage, Dutch cap, Dutch widow, Dutch wife/ husband, French kiss, to French, French postcards/ prints, excuse/ pardon my French usw.). Auch die Werbung spielt gern mit figurativen Bedeutungen von PE. Nacisciones Buch führt auf eine verständliche Weise in die Phraseologie ein und gibt eine gelungene Übersicht über Themen und Probleme. Daneben stellt es nützliche Konzepte und Methoden vor, die auch in anderen linguistischen und nicht-linguistischen Bereichen relevant sind und sinnvoll eingesetzt werden können. Das Buch zielt auf die Kreativität des Sprachgebrauchs und schärft das Bewußtsein für semantische und stilistische Zusammenhänge primär von verbalen, grundsätzlich aber auch von multimedialen oder polycodierten Texten und ist daher als Seminarlektüre in textwissenschaftlichen Fächern zu empfehlen. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Reviews 341 Hartmut Stöckl: Die Sprache im Bild - Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. (= Linguistik - Impulse und Tendenzen 3). Berlin, New York: Walter de Gruyter 2004, 421 S. ISBN 3-11-018027-8 Der Autor legt hier seine etwas überarbeitete Habilitationsschrift vor, die ein sehr breites Panorama über die “Bildwissenschaft(en)” und die Beziehung von Sprache und Bildern liefert. Nach einem allgemeinen Einleitungskapitel zu Forschungskontext und Fragestellungen (1-43) folgt das eigentliche Kapitel 1 über verschiedene Bildtheorien (mit philosophischem, psychologischem und linguistisch-semiotischem Hintergrund), das mit einer der auch für die folgenden Teile typischen Kapitelzusammenfassungen endet. Diese Zusammenfassungen stellen echte inhaltliche Synthesen dar, die immer auch weiterführende Perspektiven aufweisen. Im Kapitel 2 “Sprache-Bild-Texte: Bilder als Text - Bilder im Text” geht es nicht so sehr um die Beziehungen zwischen Sprache und Bild, sondern um das Phänomen des “Bildes ALS Text”. Einen weiteren Schwerpunkt bilden hier die Begriffe der Bildtypen und Bildsorten sowie damit verbunden eine entsprechende Bildsortenkompetenz. Die Kapitel 3 “Sprachlich - Phraseologisch - Idiomatisch” und 4 “Anschauungsorientiertes Verstehen im Text” behandeln Phraseologismen und Metaphern (wobei zwischen diesen beiden Phänomenen enge Querverbindungen bestehen). Ein besonderes Anliegen des Verfassers ist es ja, Zusammenhänge zwischen “sprachlichen” und “materiellen” Bildern (also Bildern im engeren Sinn) aufzuzeigen, wobei kognitive Überlegungen eine größere gegenseitige Nähe erkennen lassen, als vielfach bisweilen angenommen wurde. Das Kapitel 5 befasst sich schließlich mit Sprache-Bild-Bezügen ganz allgemein, während es im letzten und sechsten Kapitel um jene dem Autor besonders am Herzen liegende Beziehungen zwischen Sprachbildern und materiellen Bildern geht, durch die metaphorischen Wendungen ihre wörtliche Bedeutung zumindest teilweise zurückgegeben wird (etwa wenn im Sprachtext von Ratschlägen die Rede ist, die “Hand und Fuß” haben und im dazugehörigen Bild tatsächlich Hände und Füße zu sehen sind, vgl. S. 323). Der Verfasser dieser Rezension hat sich selbst jahrelang mit Bild-Sprach-Phänomenen befasst, und daher sieht man bei einem sehr nahe stehenden Thema auch immer eine Reihe von Punkten, die man etwas anders darstellen würde. Es sei aber bereits an dieser Stelle betont, dass trotz einiger kritischer Anmerkungen (siehe weiter unten) Stöckls Buch ein ganz wesentliches und in Hinkunft nicht zu umgehendes Werk ist, wenn man sich von nun an mit der Sprache-Bild-Thematik befassen will. Die meisten Veröffentlichungen zu diesem Thema wählen einen eher eingeschränkten Zugang, Stöckl gibt hingegen jeweils einen sehr umfassenden Überblick über die entsprechenden Ansätze und Theorien (vgl. seine Ausführungen zu philosophischen, psychologischen und linguistisch-semiotischen Bildtheorien, Kapitel 1) und führt diese zu eigenständigen und im Prinzip auch eher undogmatischen Synthesen zusammen. Bestimmte früher unauflösbare Probleme lassen sich, wie Stöckl zeigt, auf Grund kognitiv(ist)ischer Überlegungen recht flexibel lösen. Es ist weder möglich noch notwendig, Bildinhalte und Sprachinhalte lückenlos zu beschreiben und sie miteinander abzugleichen (um festzustellen, was im Gesamttext vom Bild und was von der Sprache kommt); genau so wenig ist man jemals im Stande gewesen, ganz präzise die Beziehungen von wörtlicher und übertragener (metaphorischer) Bedeutung anzugeben, diese auch für alle potentiellen Neukreationen vorauszusagen und auch die oft vorhandene Doppelpräsenz von wörtlicher und übertragener Bedeutung zu erklären. Der kognitivistische Ansatz betont lediglich die Aktivierung gewisser neuronaler bzw. damit auch semantischer Bereiche, die nach bestimmten Relevanz-Prinzipien (vgl. zu diesem Terminus Sperber-Wilson 1986) im Rezeptionsprozess - aber bereits auch im Produktionsprozess - normalerweise schnell und ökonomisch einander zugeordnet werden. Dies erklärt sowohl, dass die gegenseitige Zuordnung sprachlicher und bildlicher Inhaltselemente de facto recht wenig Probleme schafft, unabhängig davon, ob der Bildbegleittext das Bild genau beschreibt oder nur in Reviews 342 einem mehr oder minder losen Bezug zum Bild steht (vgl. dazu auch schon meine Ausführungen zur verschiedenen Rolle von Bildunterschriften, z.B. in Stegu 1993 und 2000), als auch dass Metaphern im Allgemeinen recht leicht verstanden werden. Kompliziert wäre oder ist lediglich der Versuch, derartige Vorgänge in einer allgemein gültigen, kompletten und formal präzisen - etwa struktural-semantischen - Analyse beschreiben zu wollen. In moderneren Bildtheorien war es Mode, über Roland Barthes (vgl. Barthes 1964) herzuziehen und ihm vorzuwerfen, er habe Bildliches und Sprachliches nicht richtig voneinander getrennt und es sei ihm eigentlich nicht gelungen, eine dem Phänomen Bild angemessene Rhetorik bzw. Semiotik zu entwickeln. Ich selbst habe intuitiv immer für eine De-facto-Präsenz des Sprachlichen plädiert, Stöckl gelingt es nun auch dies, auf kognitivistischer Basis zu begründen: Bilder evozieren Sprachliches, Sprachliches evoziert Bilder - wir haben es in unserer kognitiven Realität immer mit Mischformen zu tun, eine penible Trennung in “rein Bildliches” und “rein Sprachliches” bleibt theoretische Spielerei. Dies gilt in ganz besonderer Weise für Sprach-Bild- Kombinationen, vgl. S. 60: “Es macht […] kaum Sinn, Sprach- und Bildverstehen als radikal unterschiedliche Prozesse zu konzeptualisieren - im Verstehen multimodaler Texte kommen die unterschiedlichen Repräsentationsformate und -prozesse zusammen und greifen ineinander. Daher will ich Textverstehen als eine integrative und interdependente Verkoppelung von Bild- und Sprachverstehen begreifen.” In ähnlicher Weise kommt es zu einer zu Recht erfolgenden endgültigen Rehabilitierung des primären Ikonizitätscharakters von Bildern (S. 65). Auch hier wurde von der moderneren Bildsemiotik jede/ jeder der Naivität, ja Blindheit geziehen, der/ die nach wie vor behauptet hat, (konkrete) Bilder stünden mit den Referenten in einem Ähnlichkeitsbezug. Vor allem der diffuse Ähnlichkeitsbegriff (Worin und bis zu welchem Grad muss die Ähnlichkeit bestehen? ) war stets Anlass für Kritik. Stöckl weist hier darauf hin, dass trotz der Verschiedenheit von Bild und Realität durch Bilder ähnliche kognitive Prozesse hervorgerufen werden (vgl. Eco 1987, der hier seine ursprünglich ‘harte’ anti-ikonizistische Position ebenfalls relativiert hat; dazu auch Stegu 1993, 278ff.); man könnte formulieren: die Ähnlichkeit ist ein real-kognitives, aber, theoretisch-puristisch betrachtet, kein “objektives” Phänomen. Auch die Betonung der Textualität des jeweiligen Gesamtkomplexes Sprache-Bild ist ein wesentliches Anliegen Stöckls - dies ist zwar auch keine völlig neue Einsicht (vgl. Spillner 1982, vgl. auch meine beiden Hauptteile in Stegu 1993, “Bilder als Texte” und “Bild-Text-Kombinationen als Texte”), sie erhält aber durch die bereits mehrfach erwähnte kognitive Grundausrichtung seiner Überlegungen eine verstärkte theoretische Stützung. Stöckls Hauptverdienst ist es wohl, ein sehr breites Spektrum möglicher Berührungspunkte von Sprache und Bildphänomenen aufgezeigt haben. Wäre man zunächst versucht zu denken, Metaphern (als “Sprachbilder”) sowie mentale Bilder hätten mit materiellen Bildern überhaupt nichts zu tun und man sollte diese verschiedenen Bild-Begriffe eher nicht vermischen und schön theoretisch trennen, geht Stöckl gerade den umgekehrten und letztendlich überzeugenden Weg: Alle diese Phänomene haben sehr wohl viel miteinander zu tun, und wie das reiche Beispielmaterial zeigt, gehen sie oft überaus bemerkenswerte und überraschende Synthesen ein. Ich darf nun auf einige meines Erachtens etwas problematische Aspekte eingehen. Stöckl gibt, wie erwähnt, im 1. Kapitel eine gute Übersicht über verschiedene Bildtheorien (v.a. im philosophischen Bereich sehr in Anlehnung an Scholz 1991), danach führt er im ersten Teil der Kapitelzusammenfassung (1.6.1., S. 80) den Begriff “Bildwissenschaft” ein, allerdings ohne ihn näher zu definieren. Handelt es sich hierbei um den synthetischen Ansatz, den Stöckl selbst propagiert (vgl. 80: “Innerhalb eines solchen Projekts der Bildwissenschaft bestehen vor allem Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen philosophischen und semiolinguistischen Bildtheorien.”), oder ist es doch eine Art Dachbegriff für alle bestehenden und auch möglichen bildtheoretischen Ansätze verschiedenster Provenienz? Hier besteht m.E. ein grundsätzliches wissenschaftstheoretisches und -soziologisches Problem - man ist oft geneigt, eine Theorie als “linguistisch”, “semiotisch”, “psychologisch” usw. zu bezeichnen, weil die jeweiligen AutorInnen einen Reviews 343 entsprechenden background haben oder sich selbst gewissen communities zuordnen. “Bildwissenschaft” wäre hingegen tatsächlich ein recht neutraler und nicht unbedingt von einer bestimmen Schule besetzter Terminus und daher für einen interdisziplinär-synthetischen Ansatz gut geeignet. (Für viele wäre selbstverständlich die Semiotik die allgemein[st]e Dachdisziplin, in der auch die verschiedensten Bildtheorien gut aufgehoben wären; der semiotic community eher fern stehende WissenschaftlerInnen würden dies aber eher als quasi-imperialistischen Anspruch sehen und der automatischen Zuordnung zur Semiotik skeptisch gegenüber stehen.) Bei jeder Arbeit, die nicht auf einem eindeutig festgelegten und dann statistisch ausgewerteten Korpus beruht, stellt sich die Frage der Repräsentativität. Stöckl, der sich schon lange mit Werbekommunikation befasst (vgl. Stöckl 1997), ist gerade vom kreativen Potential der Werbesprache und den hier gehäuft auftretenden besonders originellen Sprache-Bild-Verbindungen fasziniert. Auch wenn die Werbekommunikation für andere Kommunikationsformen Vorbild sein kann (vgl. ähnlich gestaltete Zeitgeistmagazine, Stadtzeitungen usw.), sind diese “originellen” Sprachbild-Bild-Texte doch nach wie vor statistisch eher marginal und stellen nicht den prototypischen Kernbereich dieses Bereichs dar (sowohl innerhalb als auch vor allem außerhalb der Werbung, etwa in Tageszeitungen). Bei der Analyse derartiger Texte durch ExpertInnen haben wir es auch immer mit dem Spannungsfeld von reiner Deskription und Textkritik zu tun - sind vielleicht manche Text-Bild- Verbindungen “geglückter” als andere? So ist das wohl als besonders gut empfundene Beispiel “dickes Fell” (s. 361; Werbeanzeige für das Hamburger Abendblatt), in dem es zu einer sehr engen Verflechtung von Bild und Sprachtext kommt (abgebildetes Fell einerseits und eine große Anzahl von Fell-Phraseologismen im Bildbegleittext andererseits: “sich ein dickes Fell zulegen”, “die Felle davonschwimmen”, “sparen Sie sich das Fell” und noch einige weitere), doch als eher ‘zu bemüht’ oder ‘bloß gut gemeint’ einzustufen, wenn ein Kommunikationsspieltyp wie in diesem Fall derart überstrapaziert wird. Stöckl rezipiert ja sehr viel und will so viel wie möglich auch in seiner Gesamttheorie berücksichtigen - dabei ist er an sich auch Systematiker und bietet lobenswerterweise immer wieder Zwischenzusammenfassungen und auch teilweise groß angelegte Übersichtstabellen, bei denen allerdings die Gefahr besteht, dass vor lauter hier aufgenommenen “Bäumen” die “Waldstruktur” nicht so recht einsichtbar wird. Bei einigen seiner Aufzählungen wirkt die Aneinanderreihung der Unterabschnitte mit ihren jeweiligen Bezeichnungen nicht ganz einleuchtend bzw. logisch, vgl. SS. 251f.: “Auf folgende Kriterien will ich meine Aufmerksamkeit konzentrieren. i. Art des Bildes […], ii. Textstrukturen […], iii. Semantisch-pragmatische Brücke zwischen Sprache und Bild […], iv. Kognitive Operationen zur Sinnstiftung zwischen Sprache und Bild […], v. Bild-Bildbezüge […]” In manchen Fällen wird m.E. wieder zu wenig differenziert - etwa wenn Stöckl in einer an sich großen (über zwei Doppelseiten gehenden) und im Grunde sehr einleuchtenden Übersicht (SS. 137ff.) Werbebild, Zeitungsbild, Illustriertenbild, Comicbild, Karikaturbild und fachliches Bild gegenüberstellt, aber dabei zu sehr an gewisse Prototypen denkt und von wesentlichen Unterschieden innerhalb dieser Klassen abstrahiert - so unterscheiden sich z.B. Zeitungsbilder grundlegend sowohl nach Zeitungstyp (Boulevardzeitung, konservative oder zeitgeistige Tageszeitung) als auch nach Artikeltyp (Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport …; vgl. Stegu 1988). Aber dies ist wohl ein unlösbares Problem - denn wie kann man in einem Gesamtüberblick auch noch detaillierteren, allen an sich wesentlichen Differenzierungen gerecht werden (ohne sich wiederum dem Vorwurf der Überladenheit auszusetzen)? Was den Gesamteindruck betrifft, ist das Buch sehr leserInnenfreundlich und in einem angenehmen Stil abgefasst, was ja auch nicht ganz unbeabsichtigt ist - soll es doch auch interessierte PraktikerInnen ansprechen. Besonders die Fallbeispiele sind vielfach sehr unterhaltsam und erhöhen zweifellos den Lesegenuss. Die Reproduktion der Bildbeispiele lässt jedoch leider bisweilen etwas zu wünschen übrig (zu kleine Schrift, verschwommene Darstellung, vgl. S. 24 und S. 27). Druck- und Schreibfehler sind relativ selten, S. 88: “Was ist eine Bild? ”, S. 116: “trompe l’oueil” (anstelle von “œil”), S. 157: “erhärtern”, S. 409: “Reinbeck” Reviews 344 (anstelle von “Reinbek”). Die im Text befindlichen Verweise auf Tabellen und Abbildungen enthalten keine Seitenanzahlen (was bei der Produktion eines solchen Manuskripts mit ständig wechselnden Umbrüchen ja verständlich ist), aber bisweilen muss die LeserIn etwas suchen, um die entsprechende Bezugsstelle zu finden. (So schreibt Stöckl etwa im Abschnitt 2.6.3., S. 123f.: “Meiner Ansicht nach lässt sich eine [sic! ] solches Modell auf der Basis der in 2.5. zusammengetragenen Beobachtungen […] entwerfen.”, wo man zunächst nicht weiß, ob sich dieser Hinweis auf den vorangegangenen “Abschnitt 2.5.” oder auf eine - tatsächlich auf den nächsten Seiten auftauchende - “Tab. 2.5.” bezieht.) Alle diese kleinen Einwände schmälern nicht die bereits weiter oben erwähnten Vorzüge dieses Werks, das sicher einen Meilenstein in der Bild- und Sprach-Bild-Forschung darstellt. Stöckls Stärke liegt sicherlich nicht so sehr in der Schaffung völlig eigenständiger und originärer Theorien als in der kreativen Synthese bestehender Ansätze (obwohl in diesem Werk bestimmt viel mehr Persönliches enthalten ist als in früheren Arbeiten). Die Lektüre des Buchs erspart einem sozusagen die Lektüre vieler anderer Bücher und Artikel - auf Grund seiner umfassenden und auch, wie erwähnt, undogmatischen Ausrichtung -, und ist daher - im besten Sinn des Wortes - ein “Einführungsbuch” in die Gesamtproblematik. Darüber hinaus gibt es sowohl der KommunikationspraktikerIn als auch der TheoretikerIn (TextlinguistIn, SemiotikerIn, PhraseologIn, BildwissenschaftlerIn, MedienwissenschaftlerIn …) genügend Anstöße für weiterführende Überlegungen. Was soll und kann man sich denn noch mehr wünschen? Literatur Barthes, Roland (1964) : “Rhétorique de l´image”. In Communications 4, 1964, 40-51 (Auch in: Barthes, Roland [1982]: L’obvie et l’obtus. Paris: Seuil 1982, 25-42) Eco, Umberto (1987): Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. München: Fink Scholz, Oliver R. (1991): Bild, Darstellung, Zeichen: philosophische Theorien bildhafter Darstellung. Freiburg: Alber Sperber, Dan / Wilson, Deirdre (1986): Relevance. Communication and cognition. Oxford: Blackwell Spillner, Bernd (1982): “Stilanalyse semiotisch komplexer Texte. Zum Verhältnis von sprachlicher und bildlicher Information in Werbeanzeigen.” In: Kodikas/ Code 4/ 5 (1982) 1, 91-106 Stegu, Martin (1988): “Text und Bild im Wirtschaftsjournalismus (dargestellt anhand der österreichischen Tageszeitung Kurier).” In: Bungarten, Theo (Hg.): Sprache und Information in Wirtschaft und Gesellschaft. Vorträge eines Internationalen Kongresses, zugleich der XI. Jahrestagung der Internationalen Vereinigung “Sprache und Wirtschaft”. Hamburg: Attikon 1988, 399-407 Stegu, Martin (1993): Texte, Bilder, Bildtexte. Möglichkeiten postmoderner Semiotik und Linguistik. Wien: (unveröffentlichte) Habilitationsschrift Wirtschaftsuniversität Wien Stegu, Martin (2000): “Text oder Kontext: zur Rolle von Fotos in Tageszeitungen.” In: Fix, Ulla / Wellmann, Hans (Hrsg.): Bild im Text - Text und Bild. Heidelberg: Winter, 307-321 Stöckl, Hartmut (1992): Werbung in Wort und Bild. Textstil und Semiotik englischsprachiger Anzeigenwerbung. Frankfurt am Main: Peter Lang Martin Stegu (Wirtschaftsuniversität Wien) Tarasti, Eero: Existential Semiotics. Bloomington/ Indianapolis: Indiana University Press (= Advances in Semiotics) 2000, 218 pp, ISBN 0-253-21373-8. Is it possible to model “the dynamically changing, temporal, flowing world? ” (p. 3) Tarasti follows this question through the three sections of his new book entitled Existential Semiotics. In the first part, Philosophical Reflections, he circumscribes his new approach to semiotics. In the second part, he leads the reader through the Forest of Symbols by exploring the relationships between ethics and esthetics, arguing about the style of 20 th -century art, or dwelling over the question of authenticity of musical and culinary styles. In the third part, The Social and Cultural Fields of Signs, Tarasti leaves the ‘high’ arts and plunges into popula r cultur e a nd sociology: Postcolonialism, Walt Disney, and advertising are some of the themes he picks up. Tarasti’s methods seem to be known by anybody who has been tracking his career as the Reviews 345 leading figure of musical semiotics. But this publication is different. Tarasti claims to have abandoned structuralist analysis. Neither would he use the methods developed by Charles Sanders Peirce. Nor would he stick to theories of secondgeneration semiotics, poststructuralist or deconstructivist ones. Tarasti develops a rather amazing new approach. And this approach is called Existential Semiotics. It aims at renewing, or, more precisely, remodeling semiotics without giving up some valuable insights produced over the last thirty years. But Existential Semiotics digs deeper, or reaches higher. It draws its inspirations from existential philosophy, includes ideas of German idealism, and blends them with a variety of semiotic, sociological and other philosophical ideas (p. 18). What is the result? Tarasti discloses the theoretical foundation of Existential Semiotics in the first part of the book and explains what existential signs are, the object of investigation of this branch of semiotics. According to Tarasti, existential signs can only be created by a subject with a certain, call it existential, experience. Tarasti analyzes this experience with the help of a transcendental-existential reinterpretation of the Greimasian square. It can be described as a Hegelian-Kierkegaardian-Sartrean path through transcendental negations and affirmations, which, in fact, can be traveled by every one, for “every subject living in this world glimpses and strives for transcendence.” (p. 19) The path leads first into a Sartrean experience of emptiness - Negation. After negation, there is affirmation, and the traveler will meet the world soul, the universe as plenitude. This existential experience becomes for the subject the condition of possibility to transcend ordinary communication, to create existential signs: “When a subject for a second time returns to his/ her world of Dasein and creates signs, these are existential, in the sense that they reflect the subject’s journey through transcendence”. (p. 19; cf. pp. 76-83). Tarasti makes use of this quite amazing foundation of the creation of existential signs to categorize signs from a new, existential-semiotic perspective. This categorization tries to specify the different modes of signs in the process of creating existential signs. Existential Semiotics distinguish six species of signs: “pre-signs, signs in the process of becoming and shaping themselves; ” “transsigns, which are signs in transcendence; ” “actsigns, those signs actualized in the world of Dasein; ” “endoand exo-signs, which are signs in the dialectics of presence/ absence; ” “internal/ external signs; ” and “as-if-signs,” “signs that should be read as if they were true.” (p. 19). This categorization can be concretized by explaining in what state they emerge. When a subject feels a dissatisfaction with his existential, unstable and every changing world (p. 31), it strives for the transcendental (cf. above), searches its soul, and finds one of three possible transcendental ideas - either the True, the Good, or the Beautiful. These ideas will serve as pre-signs. They will be enacted in the act of creating something in an act-sign. And they will be interpreted in a post-sign (p. 33). Tarasti also analyzes re-enactments of signs in the framework of Existential Semiotics, and he tries to find out more about the special circumstances making a sign appear again. A sign can be detached from its original use, its Dasein no. 1, and travel through transcendence to Dasein no. 2; but this is only possible if the sending and receiving modalities are strong enough. Tarasti illustrates his idea by referring to Bach’s St. Matthew Passion and its various phases of reception. In 1729, its Dasein no. 1, it was sent on its transcendental journey by strong sending modalities, pushing to its “surrounding infinity.” It was then attracted back to its Dasein no. 2 in 1829, when Mendelssohn put Bach’s masterpiece back on the map. Mendelssohn’s interpretation must have been so overwhelming as to send it into the transcendental sphere, again. It could resume its journey to Dasein no. 3 in 1989, when Nikolaus Harnoncourt called it back to the world by staging it authentically (pp. 25-26). According to Tarasti, signs rest in transcendental peace until an artist will re-enact them. The essays of the second part are dealing mainly with music and art; interesting is Tarasti’s analysis of 20 th -century-art. Tarasti is picking up two philosophical paradigms, structuralism and existentialism, and transforms them into two general esthetic categories: ‘the existential’ and ‘the structural’. He shows that in modernism, “the categories of structural/ existential appear in many variations and combinations.” (p. 102) Under the structural view he subsumes quite heterogeneous currents: cubism, surrealism, Dadaism. According to Tarasti, the structuralist style can be identified by its replacing the emotive function of commu- Reviews 346 nication in the arts with the poetic function, by its concentration on the form of a message instead of its content. It is characterized by subjectlessness, and the anti-humanistic idea of reducing the parole into a moment of langue. He even makes out a link between this conception of art and certain metaphysical doctrines. Logical positivism, e.g., would lead to a structuralist conception of art (pp. 102-105). The existential style is much harder to characterize. Tarasti compares it with femininity in the arts: It would be almost impossible to define an objective quality of a musical, literary, or visual artistic text or utterance. Such a property would exist only as a particular communicative situation, as a relationship between sender and receiver, in the act of enunciation and being enunciated, in the interaction of coding and decoding. (p. 107) But still, he gives the reader a definition: “the existential style represents subjects without structures”. Applied to literature, “the existential modus is the je, I.” Tarasti claims that paradigmatic for the existential style is, Bernano’s Le journée d’un curé à la campagne; in this story, “everything is seen through the eyes of an anguished Kierkegaardian subject.” (p. 108) But anguish and nothingness is not all existential style is about. As Tarasti already showed in his philosophical essays, after nothingness comes plenitude. So he can distinguish two existential styles in art: The negative one is anguished and rebellious, the affirmative one is “transfigured, blending together with the harmony of the spheres”: “This kind of sign ‘levitation’ is seen in Chagall’s paintings, in which things hover freely in the air. These signs then move into the universe of ‘plethora’ or ‘world soul,’ where they become laden or heavy, as it were, with the meanings of that place.” (p. 110) Tarasti writes in the third part of the book about sociological and pop-cultural sign processes. He even picks up the now trendy discourse of post-colonialism, this subdiscipline of the new humanities which investigates the traces colonialism left in art, literature, and the souls of the colonizer and colonialized. Postcolonial theory and Existential Semiotics are, according to Tarasti, closely connected. Postcolonial theory is aiming at a liberation from the dominant/ dominated relationship, and trying to conceptualize how the subaltern could speak (cf. Gayatri Spivak). Existential Semiotics emphasizes the situation of the individual. It accentuates the abilities of everyone to influence the signifying process, anyone who is able to create new existential signs to break free from the powers of the signified and so will create new meaning. Tarasti realizes that communication can be colonialized, but he also realizes that the subaltern can be given a voice, or even has he voice, because there are always ruptures from which the voice of the subaltern can break through. He insists that this voice should be encouraged to speak (p. 140). Ordinary postcolonial theorists might be stunned by this conclusion, but his analysis might shed new light on the question if an individual is really just spoken by discourse or has, in fact, a voice. Tarasti’s explanations, analyses and comments of sign processes in art and everyday life might seem amazing at first sight. He is not afraid of heavily speculative and heavily metaphysical thinking. But his approach becomes less surprising if it is compared to another semiotic thinker who tried to analyse the condition of the human self, its existential questions and its strive after meaning in an ever changing world. Like the German-American theologian-philosopher Paul Tillich who developed a theological-philosophical explanation for the questions of an individual living in a meaningless world, who referred to the unconditional underlying the questions about being, and who saw the unconditional revealing itself in symbols, Tarasti is trying to explain the appearance of plenitude in signs (cf., e.g., Tillich 1999). Unlike Tillich, he’s not referring to religion, and his aim is not so much to give hope to a frightened subject. But he still wants to show us that there can be more involved in sign processes than pure conventionality, maybe even something that is beyond the grasp of the Semiotician. Reference Tillich, Paul (1999): The essential Tillich . An Anthology of the Writings of Paul Tillich. Ed. F. Forrester Church. Chicago: University of Chicago Press. Daniel H. Rellstab (Universität Bern) Reviews 347 Nilgün Yüce & Peter Plöger (eds.): Die Vielfalt der Wechselwirkungen. Eine transdisziplinäre Exkursion im Umfeld der Evolutionären Kulturökologie, Freiburg/ Brsg.: Karl Alber 2003, 333 S., ISBN 3-495-48084-6 Aus Anlaß des 60. Geburtstages von Peter Finke, der begründet hat, was er Evolutionäre Kulturökologie nennt, ist ein Sammelband erschienen, der 13 Beiträge von namhaften Physikern, Biologen, Wissenschaftstheoretikern, Sprach-, Wirtschafts- und Staatswissenschaftlern, Philosophen und Künstlern versammelt, die alle im engeren oder weiteren Umfeld der Evolutionären Kulturökologie entstanden sind. Der ökosemiotisch interessierte Leser muß sich also auf ganz unterschiedliche und höchst heterogene Themengebiete gefaßt machen. Peter Finke spricht in diesem Zusammenhang in seiner langen (fast 90-seitigen) “Erwiderung auf alle Beiträge” zu Recht von “einer Wildnis”: Vor uns erstreckt sich eine Wildnis. Viele mögen das nicht, denn ihnen ist eine Wildnis zu wild. Zugegeben: Es gibt die verwirrende, abstossende Wildnis. Doch diese ist anders: Sie ist eine schöne Wildnis. Sie enthält überraschende An- und Aussichten, ungewöhnliche Wegverläufe, verborgene Entdeckungen (S. 237). Damit sich der Leser beim Durchstreifen dieser ‘Wildnis’ nicht verläuft, legen die Herausgeber einen Pfad an, indem sie die Beiträge so anordnen, daß sie von der Natur über die Sprache zur Kultur hinführen. Der erste Teilabschnitt dieser “transdisziplinären Exkursion” (so der Untertitel des Bandes) erkundet die Natur, auf daß der Mensch von ihr lernen könne: “Sie ist die Grundlage der Kultur, erhält und nährt sie wie ein Baum die Misteln auf seinen Ästen” (S. 9). Die zweite Etappe führt in das Gebiet der Sprache, die zwischen der Natur und Kultur steht. Sie sei ein “strukturell intermediäres System” (S. 10), das seit je zwischen Natur und Kultur vermittelt habe. Dank der Brückenfunktion der Sprache treten die anderen beiden Bereiche in Wechselwirkung zueinander. Aus einer anderen Perspektive könnte man auch formulieren: Sprache bildet das Scharnier, um das sich Natur und Kultur drehen. Die letzte Wegstrecke ist der Kultur gewidmet. Hier kommen so unterschiedliche Bereiche wie Staat, Wirtschaft, Kunst und Medien ins Blickfeld. Der Weg der Exkursion spiegelt die Spannung wieder, in der die Evolutionäre Kulturökologie selber steht. Sie wird beschrieben als neuer integrativer Ansatz, als transdisziplinäres Forschungssegment, das die Entstehung und Entwicklung, Funktion und Kritik kultureller Systeme wie Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur untersucht und dabei traditionelle Disziplingrenzen unbekümmert überschreitet. Das Neue daran ist weniger der transdisziplinäre Ansatz - diesen Anspruch erhebt heute manches Projekt -, wichtiger und wesentlich ist die neue Perspektive, die sie auf bekannte Phänomene wirft, und die (gesellschafts)kritische Haltung, mit der sie ihrem Gegenstandsbereich gegenübertritt. Wissenschaftliche Entwicklung war und ist darauf ausgerichtet, in immer spezialisierteren Bereichen immer mehr Wissen zu generieren mit immer genaueren Methoden. Die Wissenschaft will dieses Wissen den Menschen verfügbar machen, damit sie die natürlichen Kräfte zur Erleichterung ihrer Tagesmühen nützen und die materiellen Ressourcen zu ihrem Wohle und Vergnügen besser ausschöpfen können. Dabei läuft sie aber zugleich Gefahr, durch eine immer extensivere, intensivere und beschleunigtere Technik die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen zu gefährden. Die Evolutionäre Kulturökologie fordert daher ein Umlenken durch Umdenken. Der Perspektivenwechsel könne dabei von zwei Ausgangspunkten her gedacht und vollzogen werden. Erstens müsse man sich bewußt sein, daß das Umdenken nicht in den Mauern der traditionellen Disziplinen geschehen könne. Die traditionelle Sicht auf die wissenschaftlichen Gegenstände müsse vielmehr grundlegend geändert werden. Dies könne z.B. durch eine Perspektive geschehen, die einen Sachverhalt quer über die traditionellen Disziplinengrenzen hinweg betrachtet und so vielleicht nicht unmittelbar neues Spezialwissen erschließe, sondern die Wechselwirkungen des in den einzelnen Disziplinen bereits bestehenden Wissens über den Sachverhalt erkunde. Verschiedene Wissensbereiche würden auf diese Weise miteinander verbunden und ver- Reviews 348 glichen, gegeneinander abgewogen und austariert. Nur so bestehe nach den Vertretern der Evolutionären Kulturökologie die Möglichkeit, das Wissen verschiedener Fächer und Disziplinen in ein ‘ökologisches’ Verhältnis zu bringen und nutzbar zu machen. Mit dieser neuen Ökologie des Wissens resp. der Kulturen werde nicht einfach bestehendes Wissen neu sortiert und aufbereitet, vielmehr entstehe qualitativ neues Wissen, an dem sich der Mensch in seinem Verhalten und in seiner Haltung praktisch und ethisch orientieren könne. Verfügungswissen werde so mit Orientierungswissen wieder in ein ‘ökologisches’ Gleichgewicht gebracht. In diesem Sinne fordert Hans- Peter Dürr in seinem Beitrag “Was heißt wissenschaftliches Querdenken? ” eine neue Haltung oder Einstellung des Forschers zu seinem Gegenstand, ohne sich den Blick durch die Scheuklappen seiner Fachtradition einengen zu lassen. Von einem anderen Ansatzpunkt her fordern die Kulturökologen, daß der Mensch eine neue Position innerhalb des Systems der Wissenschaften einnehmen solle. Die Wissenschaft müsse ihre anthropozentrische Haltung überwinden und ein stärker ausgeprägtes Bewußtsein dafür entwickeln, daß der Mensch nur ein Teil der Natur sei. Die Evolution der Natur habe sich über sechs Milliarden Jahre hinweg entwickelt und so ihren Fortbestand garantiert. Der Mensch solle sich und seine kulturellen Errungenschaften an diesem natürlichen Entwicklungsprozeß der Evolution messen und orientieren. Mit dieser Perspektive erkenne er nämlich, daß nicht nur das kulturelle System der Wissenschaften auf Abwege geraten sei, sondern auch andere gesellschaftliche Systeme. Die Wirtschaft z.B. sei nach wie vor praktisch ausschließlich auf Produktion und Konsumtion ausgerichtet und vernachlässige die innerhalb einer funktionierenden Evolution dritte notwendige Komponente: die Reduktion. Erst sehr allmählich entstehe in der Wirtschaft ein Bewußtsein dafür, daß alles, was einmal produziert, d.h. von einem natürlichen in ein künstliches Produkt überführt wurde, auch wieder in einen natürlichen Zustand zurückgeführt werden müsse und daß dies mit Anstrengungen, Kosten und Energie verbunden sei. Ein zentraler Begriff, der im Hintergrund von all diesen Überlegungen steht, ist derjenige der Nachhaltigkeit. Christiane Busch-Lüty, politische und ökologische Ökonomin an der Universität München, untersucht den Begriff in einem die “transdisziplinäre Exkursion” einführenden Kapitel über die “Nachhaltigkeit als integratives Lebensprinzip” (S. 15-37) und bezieht sich darin auf Finkes Definition (S. 16): Nachhaltigkeit ist das Kennzeichen einer Kulturweise, die auch die Interessen der Nachgeborenen zu berücksichtigen versucht; ein kultureller Begriff also. Wenn wir unsere Kulturellen Ökosysteme, vor allem das des Wirtschaftens, auf seiner Grundlage zu reformieren versuchen, dann orientieren wir uns aber am Vorbild intakter Natürlicher Ökosysteme. Sie sind das Musterbeispiel nachhaltig organisierter Fließgleichgewichte des Produzierens, Konsumierens und Reduzierens, und viel spricht dafür, dass wir gerade das Reduzieren in den komplexen psychischen und sozialen Ökosystemen unserer kulturellen Sphären bislang nicht in den Griff bekommen haben [...]. Mit diesem Zitat ist ein Ziel der Evolutionären Kulturökologie bezeichnet: sie will das Bewußtsein der Menschen dafür wecken, daß sowohl in der Natur als auch in der Kultur ökologische Gesetzmäßigkeiten am Werke sind. Evolutionäre Kulturökologie impliziert mithin eine ethische Postulatorik. Sie will den Menschen verändern, damit er sich wieder besser in die Natur integriere und sich nicht mehr als ein von ihr losgelöstes, autonomes oder gar gottähnliches Subjekt betrachte und verhalte - nach dem Motto “Der Mensch mache sich die Welt untertan”, wie Bibel und Kreationisten oder ‘intelligent design’-Propheten verkünden. Der Band nimmt den Leser auf eine Exkursion mit, die durch eine (nicht in allen Winkeln gänzlich unbekannte) Wildnis des Wissenschaftsdschungels führt. Vielmehr trifft der Leser hier auf mehr und weniger bekannte und aktuelle wissenschaftliche Positionen, die ihm vertraut vorkommen mögen, manche ihm auch kaum wirklich neue Einsichten vermitteln. Darüber hinaus können, wie das in Sammelwerken zuweilen vorkommen soll, nicht alle Kapitel in gleicher Weise überzeugen. Das bedeutet aber nicht, dass die Anliegen und Forderungen der Evolutionären Kulturökologie nicht berechtigt wären und inso- Reviews 349 fern zu befürworten und zu unterstützen sind. Im Gegenteil: Je mehr Menschen sich für eine Erneuerung der Wissenschaften in der von der Evolutionären Kulturökologie skizzierten Richtung einsetzen (ob unter diesem Etikett oder anderen, vielleicht auch semiotischen, wie der Rezensent es demnächst mit etwas anderen Zielen und Akzenten versuchen wird), desto eher wird es gelingen, die mancherorts in allzu engen Fachgrenzen verkrusteten Strukturen oder auf allzu ausgetretenen mainstream-Pfaden weitergeschobenen Projekte oder durch Evaluationszwänge korrumpierten Ansätze in traditionellen Wissenschaftsbezirken, wie sie hier nur zart angedeutet werden können, zu überwinden. In diesem Sinne kann der vorliegende Sammelband durchaus eine anregende Lektüre sein. Literaturhinweis Ernest W.B. Hess-Lüttich (ed.) 2006: Eco-Semiotics. Umwelt- und Entwicklungskommunikation, Tübingen/ Basel: Francke Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Addresses of Authors Nina Bishara Universität Kassel Fb 02: Sprach- und Literaturwissenschaften Anglistik: Linguistik - Semiotik Georg-Forster-Str. 3 D-34109 Kassel nina.bishara@uni-kassel.de PD Dr. Hans W. Giessen Universität des Saarlandes Informationswissenschaft Im Stadtwald, Bau 4 D-66041 Saarbrücken h.giessen@gmx.net Prof. Dr. Dr. Ernest W.B. Hess-Lüttich Universität Bern Institut für Germanistik Länggass-Str. 49 CH-3000 Bern 9 hess@germ.unibe.ch Prof. Dr. Klaus Kaindl Universität Wien Zentrum für Translationswissenschaft Gymnasiumstr. 50 A-1190 Wien klaus.kaindl@univie.ac.at Markus Meßling Freie Universität Berlin Institut für Romanische Philologie DFG-Projekt Wilhelm von Humboldt und Frankreich Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin mam@zedat.fu-berlin.de Daniel Rellstab Universität Bern Institut für Germanistik Länggass-Str. 49 CH-3000 Bern 9 daniel.rellstab@germ.unibe.ch Prof. Dr. Dagmar Schmauks Arbeitsstelle für Semiotik Technische Universität Berlin Franklinstraße 28-29 Sekr. FR 6-3 D-10587 Berlin dagmar.schmauks@tu-berlin.de Prof. Dr. Karl-Heinrich Schmidt Bergische Universität Wuppertal Druck und Medientechnologie Rainer-Gruenter-Str. 21 D-42119 Wuppertal 520011799317-0001@T-Online.de Dra. Ulrike Schröder Professora Visitante/ Leitora do DAAD UFMG - FALE/ FAFICH Av. Antônio Carlos, 6627 BR-31270-901 Belo Horizonte MG - Brasil schroederulrike@gmx.com Dr. Markus Oliver Spitz 32, rue Michel Rodange L-2430 Luxembourg Markus_Oliver_Spitz@web.de Univ.-Prof. Dr. Martin Stegu Institut für Romanische Sprachen Wirtschaftsuniversität Wien Nordbergstraße 15, UZA 4 A-1090 Wien martin.stegu@wu-wien.ac.at