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Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2005
283-4
KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 28 (2005) ⋅ No. 3-4 ARTICLES Martin Siefkes Logik und Freiheit: Ein semiotisches Modell des Denkens im Anschluss an C.S. Peirce .............................. 211 Klaas Willems Die Grenzen der Ikonizität der Sprache: Saussures Konzeption des “fait linguistique” revisited................................................... 243 Andreas Rittau Le produit in situ : analyse (sémiotique) d’une photographie d’Andreas Gursky 99 cent .............................................................................................. 273 Dagmar Schmauks Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson ................................................. 279 Klaus H. Kiefer „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik........................... 301 Viktoria Eschbach-Szabo and Shelley Ching-yu Hsieh Chinese as a Classical Language of Botanical Science: Semiotics of Transcription .............................................................................................. 317 Sebastian Schmideler Das Leben der Vögel (1861) - Zur Anthropomorphisierung bei Tiervater Alfred Brehm (1829-1884)....................... 345 Karoline Münz Das Unsagbare zur Sprache bringen. Über die Aufgabe der Dolmetscher beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ............ 379 REVIEW ARTICLES Ernest W.B. Hess-Lüttich Semiotik por kilo Ein Essay zum Abschluß des de Gruyter Handbuchs für Semiotik ................................ 411 Ernest W.B. Hess-Lüttich Frauen und Medien Feministische Kommunikation und Wissenschaft .......................................................... 417 REVIEWS ...................................................................................................................... 423 Addresses of authors....................................................................................................... 432 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate € 98,- (special price for private persons € 64,-) plus postage. Single copy (double issue) € 54,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2006 ⋅ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: Nagelsatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0171-0834 Logik und Freiheit Ein semiotisches Modell des Denkens im Anschluss an C.S. Peirce Martin Siefkes Allen Denkprozessen liegen Zeichen zugrunde, das ist bekannt. Doch wie werden diese Zeichen im Gehirn repräsentiert, in welche Typen gliedern sie sich und wie setzen sie sich zu größeren Bewusstseinsinhalten zusammen? Die Beantwortung dieser Fragen setzt ein semiotisches Modell des Denkens voraus. Lange Zeit wurde für selbstverständlich gehalten, dass die Repräsentation von Zeichen im Gehirn formal-algorithmisch und damit rein symbolisch geschieht; dieses Paradigma ist jedoch in eine Krise geraten. In dieser Arbeit werden Grundüberlegungen für ein alternatives Modell des Denkens vorgestellt, das nicht nur symbolische, sondern auch ikonische und indexikalische Repräsentationsweisen berücksichtigt. Das Modell basiert zugleich auf der Semiotik und auf der Logik von C.S. Peirce: Es verbindet den Zeichen-Dekalog in der Interpretation von Floyd Merrell mit den Existenzgraphen, jenem hochentwickelten und bis heute nicht vollständig erforschten System der graphischen Logik. Damit ist es das erste Modell des Denkens, dem es gelingt, Rationalität (verstanden als logisches Denken) und Kreativität (verstanden als Operation auf „Ähnlichkeit“ oder Ikonizität) in systematischen Bezug zu setzen. 1. Einleitung John R. Lucas argumentierte 1961 in seinem Artikel „Minds, Machines and Gödel“ 1 gegen die Auffassung, dass das Gehirn wie ein Computer funktioniert („computationalism“). Obwohl es nie überzeugende Indizien für diese Auffassung gab, wurde sie zu dieser Zeit von den Anhängern der „Künstliche Intelligenz“-Forschung gerne als Faktum hingestellt, auf dessen Grundlage ihre Behauptungen, in wenigen Jahrzehnten, wenn nicht Jahren einen Computer mit einer dem Menschen in allen Gebieten ebenbürtigen Intelligenz zu bauen, erst gemacht werden konnten. Weniger verständlich als solche durch Betriebsblindheit erklärbaren Äußerungen ist, dass viele Philosophen begannen, diese Auffassung zu übernehmen. Lucas’ Artikel löste daher nicht enden wollende Debatten aus, ebenso wie zwanzig Jahre später das „Chinese Room“- Gedankenexperiment von John Searle. 2 Roger Penrose veröffentlichte schließlich 1989 eine sehr detaillierte und fundierte Argumentation wiederum auf der Grundlage von Gödels Theorem, 3 die er 1994 noch einmal auf 200 Seiten unter Berücksichtigung aller bekannten Einwände präzisierte. 4 KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 212 Martin Siefkes Vielleicht der wichtigste Grund für die Überzeugungskraft, die der „computationalism“ gerade auf Geisteswissenschaftler ausübte, bestand darin, dass er überhaupt ein präzises Modell des Denkens anbot, auf dessen Grundlage Theorien entwickelt werden konnte. Im Moment sieht es für dieses Modell des Denkens nicht gut aus. Es sollten daher alle plausiblen Alternativen in Betracht gezogen werden. In dieser Arbeit möchte ich argumentieren, dass das Peircesche Zeichenmodell, verbunden mit seiner Logik, das Potential für ein solches Modell besitzt. Insbesondere werde ich versuchen, den Peirceschen Zeichen-„Dekalog“ mit den Existenzgraphen in Verbindung zu bringen und einige Hinweise auf die damit entstehenden Möglichkeiten zu geben. 2. Merrell und der Peircesche Zeichen-Dekalog 2.1 Denken in Zeichen Peirce geht davon aus, dass Denken generell in Zeichen stattfindet, die bei ihm „phanerons“ (‚Gedankenzeichen‘) genannt werden. In seinem „Zeichen-Dekalog“ konstruiert er eine Übersicht der Zeichen. Die Grundstruktur des Zeichen-Dekalogs basiert auf zwei triadischen Gliederungen: Zum einen der Aufteilung in Repräsentamen (R), Objekt (O) und Interpretant (I), zum anderen deren Unterscheidung nach den Peirceschen Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit. Durch zweimalige Anwendung der Savanschen Qualifikationsregel (siehe Abschnitt 2.3) entsteht eine Liste von zehn Zeichentypen. Das wichtigste Merkmal des Zeichen-Dekalogs ist daher tatsächlich sein fundamentales Verhältnis zu einem der zentralen Peirceschen Konzepte: der Dreigliederung aller Relationen in Monaden, Dyaden und Triaden. Zentral dabei ist die Peircesche Reduktionsthese, die zum einen aussagt, dass sich alle höherwertigen Relationen (Tetraden usw.) auf Triaden reduzieren lassen, zum anderen, dass es genuine Triaden gibt, die sich nicht weiter reduzieren lassen. Die Gültigkeit der Reduktionsthese ist wohl das wichtigste Merkmal dafür, ob man es bei einer entsprechenden Unterscheidung tatsächlich mit Monaden, Dyaden und Triaden im Peirceschen Sinne zu tun hat. Sie wird in Abschnitt 3.2 untersucht werden und uns eine Verbindung des Zeichen-Dekalogs zur graphischen Logik von Peirce aufzeigen. Floyd Merrell hat sich mit dem Zeichen-Dekalog auseinandergesetzt und einige seiner Möglichkeiten aufgezeigt. 5 In Abschnitt 2.3 wird eine Darstellung in Anlehnung an die Merrellsche Interpretation des Dekalogs gegeben. Dabei können wir zum einen seine Leistungsfähigkeit überprüfen: Wir werden sehen, dass er die Möglichkeit bietet, eine breite Palette von gedanklichen Zeichenphänomenen abzudecken, und dass sich die verschiedenen Zeichenkategorien recht präzise voneinander abgrenzen lassen. Zum anderen jedoch soll die Untersuchung des Zeichen-Dekalogs vor allem die Funktionsweise seines Konstruktionsprinzips beleuchten, die aus einer Anwendung der Peirceschen Kategorienlehre auf die drei Teile des Zeichens R, O und I besteht, und die Plausibilität des dadurch gewonnenen Ergebnisses betrachten. Logik und Freiheit 213 2.2 Die Rolle des Interpretanten Bevor wir den Zeichen-Dekalog untersuchen, ist eine klärende Anmerkung zum Verständnis des Peirceschen Zeichenmodells angebracht. In der Literatur zu Peirce erscheint die Deutung von Repräsentamen und Objekt des Zeichens als relativ einheitlich, weshalb ich auf eine Erläuterung verzichte.6 Leider gilt das nicht für den Interpretanten, so dass ich die in dieser Arbeit zugrunde liegende Auffassung dieses Teils der Triade kurz darstelle. Der Interpretant steht zwischen Repräsentamen und Objekt, er stellt die Beziehung zwischen ihnen her. Dabei geht Peirce von der Rolle des Interpreten aus: Er verweist darauf, dass erst eine bestimmte Information in einem Gehirn die Interpretation eines Zeichens möglich macht; diese nennt Peirce den Interpretant des Zeichens. Dabei kann es sich um eine spontane Assoziation handeln (Erstheit: eine Möglichkeit), um eine spezifische Erinnerung (Zweitheit: ein Einzelfaktum), oder um ein Wissen über allgemeine Gesetzmäßigkeiten (Drittheit: eine Regel). 7 Bei einem Symbol (also im Bereich der Drittheit) lässt sich der Interpretant noch genauer beschreiben. Die Information eines Symbols (z.B. eines Begriffs, der bei Peirce zu den Symbolen gehört) 8 definiert Peirce als Produkt aus Extension und Komprehension. 9 Im Gegensatz zur Auffassung der logischen Positivisten ist hier die Komprehension (= Intension) nicht bloß ein Mittel zur Bestimmung der Extension; beide sind gleichermaßen Bestandteil der Information. Das lässt sich damit begründen, dass ein Zeichenbenutzer nie die gesamte Komprehension eines Symbols kennt - und selbst wenn, wäre er nicht in der Lage, sie auf alle Objekte nacheinander anzuwenden. So ist für einen Zeichenbenutzer das Wissen, welche Eigenschaften z.B. einem Auto zukommen („hat einen Motor“, „dient der Fortbewegung“) genauso wichtig wie das Wissen, welche Objekte Autos sind und welche nicht („ein PKW ist ein Auto“, „ein Motorrad ist kein Auto“). 10 Der Interpretant stellt nun die Information, die ein einzelner Zeichenbenutzer über ein Symbol hat, dar; diese Information kann sich von der konventionellen Information, die für die große Mehrheit der Zeichenbenutzer charakteristisch ist, unterscheiden. Es leuchtet ein, dass sich dadurch für unterschiedliche Zeichenbenutzer unterschiedliche Objekte ergeben. Hier zeigt sich der große Vorteil der Zeichendefinition von Peirce gegenüber der von Saussure: Sie ist in der Lage, das Verständnis eines Symbols bei verschiedenen Zeichenbenutzern als unterschiedlich, aber in wesentlichen Punkten übereinstimmend zu erklären. Kurz angemerkt sei, dass sie daher dem Widerspruch vieler Poststrukturalisten gegen das zu statische Saussuresche Zeichenmodell nicht unterliegt, ohne diesen Vorteil durch den Verzicht auf eine präzise Beschreibung der Zeichenfunktion zu erkaufen. 2.3 Der Zeichen-Dekalog In seinem Buch „Sensing Semiosis“ gibt Merrell Beispiele für die 10 Zeichentypen des Peirceschen Zeichendekalogs an. 11 Basierend auf dieser Darstellung soll im folgenden eine kommentierte, um Präzisierung und Kohärenz bemühte Version des Zeichen-Dekalogs entworfen werden. Die hinzugefügten Erläuterungen sollen hauptsächlich die Zuordnungen der drei Elemente des Zeichens zu den drei Kategorien plausibel machen. Ein Wort zur Konstruktion des Dekalogs: David Savan hat die dafür gebrauchte Regel als „Qualifikationsregel“ formuliert. 12 Sie besteht darin, dass wir die ‚Wertigkeit‘ des Zeichens, d.h. die Einordnung seiner drei Bestandteile entsprechend den drei Peirceschen Kategorien, in 214 Martin Siefkes der Reihenfolge R x O y I z mit } 3 , 2 , 1 { , , ∈ z y x ; z y x ≥ ≥ konstruieren. Beginnend beim Repräsentamen werden dabei die Wertigkeiten zunächst des Objekts und in einer zweiten Anwendung der Regel des Interpretanten bestimmt. Die Regel besagt, dass Erstheit nur durch Erstheit qualifiziert werden kann; Zweitheit durch Erstheit und Zweitheit; Drittheit durch alle drei Kategorien. Jede Kategorie kann also nur durch gleichwertige oder niedrigerwertige Kategorien qualifiziert werden. Es ergeben sich bei einmaliger Anwendung der Qualifikationsregel sechs geordnete Paare von Kategorienangaben: 1-1, 2-1, 2-2, 3-1, 3-2, 3-3. Durch erneute Anwendung der Regel gelangen wir zu zehn Tripeln von Kategorienangaben: 1-1-1, 2-1-1, 2- 2-1, 2-2-2, 3-1-1, 3-2-1, 3-2-2, 3-3-1, 3-3-2, 3-3-3. Diese Kategorientripel werden nun den drei Bestandteilen des Zeichens in der Reihenfolge R, O, I zugeordnet. 13 Es entstehen die folgenden Zeichen: 1. Qualizeichen (qualisign) Zusammensetzung: R 1 O 1 I 1 Beschreibung: ein Gefühl, eine Wahrnehmung Beispiel: die Wahrnehmung von „Bläue“, die ich von einem blauen Objekt erhalte Erläuterung: R, O und I befinden sich im Bereich der Erstheit, die Peirce mit Möglichkeit assoziiert. Möglichkeit bedeutet hier vor allem, dass noch keine klare Begrenzung des Objekts stattgefunden hat. Blauheit kann vielen Objekten zukommen; die Wahrnehmung von Bläue (R 1 ) zeigt mir, dass „da etwas ist“, doch es gibt viele Möglichkeiten, was das sein kann (O 1 ). 14 2. Ikonisches Sinzeichen (iconic sinsign) Beschreibung: etwas noch nicht klar Unterschiedenes Beispiel: ein Diagramm, solange ich noch nicht verstehe, was es bedeuten könnte Zusammensetzung: R 2 O 1 I 1 Erläuterung: Das Repräsentamen befindet sich im Bereich der Zweitheit, d.h. es ist ein spezifisches Ding mit einer spezifischen Form, ohne als Token eines allgemeinen Typs (z.B. als Darstellung eines Schaltkreises) erkennbar zu sein, was es in den Bereich der „Drittheit“ (der Regel) bringen würde. 3. Rhematisches indexikalisches Sinzeichen (rhematic indexical sinsign) Zusammensetzung: R 2 O 2 I 1 Beschreibung: ein plötzliches Erkennen oder eine überraschte Reaktion angesichts eines Zeichens Beispiele: ein Ausruf der Überraschung angesichts eines Bekannten; die plötzliche Ablenkung des Blicks durch eine Bewegung am Rand meines Blickfelds Erläuterung: Das plötzliche Aufleuchten einer Reflexion am Rand meines Blickfelds ist ein Zeichen für ein bestimmtes Objekt oder Ereignis, etwas Wirkliches und Konkretes mit festen „Raum-Zeit- Koordinaten“ und nicht etwas Unspezifisches wie der Sinneseindruck „blau“. Peirce spricht hier von Zweitheit, die bei diesem Zeichen dem Repräsentamen (dem Aufblitzen) wie dem Objekt zukommt. Logik und Freiheit 215 Warum wird dem Interpretanten, dem spontanen Hinwenden des Blicks, Erstheit zugeordnet? Es handelt sich um die einfachste aller Interpretationsformen, vergleichbar der spontanen Assoziation beim Gedankenzeichen. Sie gehört in den Bereich der Möglichkeit (also Erstheit), weil das Herstellen einer Verbindung sozusagen „ins Blaue hinein“, auf gut Glück erfolgt. Dabei ist nicht die Unbewusstheit entscheidend (der Blickwechsel kann auch mit Absicht erfolgen), sondern allein die Tatsache, dass ich das Ziel meines Blicks vor dem Hinschauen noch nicht kenne. 4. Dizentisches Sinzeichen (dicent sinsign) Zusammensetzung: R 2 O 2 I 2 Beschreibung: Ein der Erfahrung direkt zugänglicher Gegenstand, der auf etwas von ihm Verschiedenes verweist und Information darüber vermittelt. Dies gelingt ihm, da es durch sein Objekt beeinflusst wird und/ oder ihm benachbart ist (Kontiguität). Beispiele: Abbiegerpfeile auf Fahrspuren; Wetterhahn Erläuterung: Der Prototyp für „Benachbartheit“ ist der Pfeil oder auch der ausgestreckte Zeigefinger, die auf etwas hindeuten. „Beeinflussung“, d.h. Ursache-Wirkungs-Relationen, können z.B. der Schatten unter einem Baum sein, der mir signalisiert, dass es dort kühler ist (Ursache als R und Wirkung als O) oder der Regen auf dem Mantel einer Hereinkommenden, der mir signalisiert, dass es draußen regnet (Wirkung als R und Ursache als O). Die Verbindung lässt sich spontan erschließen, es bedarf dazu keiner konventionellen Regel; daher I 2 und nicht I 3 . 5. Ikonisches Legizeichen (iconic legisign) Zusammensetzung: R 3 O 1 I 1 Beschreibung: ein allgemeiner Typ von Zeichen, der auf etwas anderes unspezifisch verweist, dies aber unabhängig vom speziellen Kontext tut Beispiele: ein Diagramm oder Formalismus für einen Zeichenbenutzer, der seine formalen Bildungsregeln verstanden hat, so dass er es für verschiedene Kontexte zeichnen könnte, aber dessen Interpretation ihm nicht bekannt sind (z.B. ein formales System für jemanden, der weiß, nach welchen Regeln es funktioniert, aber nicht, für welche Interpretation diese Regeln entworfen wurden, 15 oder der Besuch eines Fußballspiels durch einen Außerirdischen, der die Regeln des Spiels schnell erfasst hat, aber nicht weiß, was ein Spiel überhaupt ist und wieso Menschen so etwas machen) Erläuterung: Dieses Zeichen ist einer der Schwachpunkte des Zeichen-Dekalogs; es ist schwer, dafür plausible Beispiele zu finden. Wie einem Repräsentamen Drittheit zukommen soll, dem Objekt aber Erstheit, ist schwer zu erklären. 6. Rhematisches indexikalisches Legizeichen (rhematic indexical legisign) Zusammensetzung: R 3 O 2 I 1 Beschreibung: ein Zeichentyp, bei dem jedes seiner Vorkommnisse auf ein kontextspezifisches Objekt verweist; die Interpretation erfolgt assoziativ, automatisch und kontextbezogen Beispiele: ein Demonstrativpronomen, eine Tasse als Zeichen für Kaffee auf einem Automaten Erläuterung: Die Kombination „R 3 O 2 “ kennzeichnet Phänomene der Deixis, die sich durch Drittheit des Repräsentamens (aufgrund der Konventionalität der Tatsache, dass es sich bei „dieser“ um ein Demonstrativpronomen handelt; dass ein Pfeil an einem Ende eine Spitze hat und ich in die 216 Martin Siefkes Richtung dieser Spitze zu sehen oder mich zu bewegen habe; usw.) sowie Zweitheit des Objekts (aufgrund der Kontextabhängigkeit des durch „dieser“ bzw. durch den Pfeil angegebenen Objekts) auszeichnen. 7. Dizentisches indexikalisches Legizeichen (dicent indexical legisign) Zusammensetzung: R 3 O 2 I 2 Beschreibung: ebenfalls ein Zeichentyp, bei dem jedes seiner Vorkommnisse auf ein kontextspezifisches Objekt verweist; die Interpretation erfolgt nach einer kurzen Analyse der Situation, jedoch abhängig vom Einzelfall Beispiele: ein Schritt oder eine Handbewegung, die andeuten, dass man jemandem den Vortritt lässt; der Ausruf „Vorsicht! “ auf der Straße Erläuterung: Die Zweitheit des Interpretanten erklärt sich daraus, dass er einerseits nicht unabhängig von einem Verständnis der Situation zustande kommt (wie es beim Anblick der dampfenden Tasse auf dem Kaffeemaschine der Fall ist), andererseits aber nicht über den Einzelfall hinaus auf eine Regel zurückgreift. Einer solchen Geste oder einem solchen Schrei kann ich die ihm zukommende konkrete Bedeutung nur nach Berücksichtigung gewisser Kontextfaktoren zuordnen: ich schaue mich um, berücksichtige die Personen in der Umgebung, ein sich näherndes Fahrzeug, das Wetter etc., bis ich der Meinung bin, dass ich die Bedeutung des Schreis zutreffend erkannt habe. Der Ausruf „Vorsicht! “ könnte wie ein typischer Index erscheinen, er unterscheidet sich aber z.B. vom Pfeil auf einer Abbiegespur (dizentisches Sinzeichen; R 2 O 2 I 2 ) durch seine konventionelle Bedeutungszuordnung (R 3 ). 8. Rhematisches Symbol (rhematic symbol), symbolisches Rhem (symbolic rheme) oder Term Zusammensetzung: R 3 O 3 I 1 Beschreibung: ein Zeichen, dessen Interpretant kontextunabhängig und ohne bewusste Anwendung einer Regel erfolgt (I 1 ) Beispiele: die Wörter der offenen Klassen jeder Sprache sowie einige der geschlossenen Klassen (z.B. Derivations- und Flexionsmorpheme), nicht aber deiktische Ausdrücke; mathematische und logische Operatoren; jedes Element eines formalen Systems, wenn diesem eine Interpretation zugeordnet ist Erläuterung: Die Erstheit des Interpretanten beruht darauf, dass die Zuordnung normalerweise durch reine Gedächtnisleistung erfolgt. Weder der Kontext des Einzelfalls (Zweitheit) noch eine Regel (Drittheit) spielen für die Bedeutungszuordnung eine Rolle. 9. Dizentisches Symbol (dicent symbol) oder Proposition (Satz) Zusammensetzung: R 3 O 3 I 2 Beschreibung: ein Zeichen, das auf einem oder mehreren rhematischen Symbolen basiert; sein Interpretant funktioniert zwar auf Basis der grammatischen Regeln, aber dennoch in Abhängigkeit von einer Welt (I 2 ) Beispiele: jede Proposition (in der Logik); jeder Satz (in natürlichen Sprachen); jeder wohlgeformte Ausdruck eines formalen Systems mit Interpretation Logik und Freiheit 217 Erläuterung: Konventionen sind zur Interpretation eines Satzes nicht erforderlich (nur idiomatische Wendungen basieren auf Konventionalität); wir interpretieren ihn aufgrund unseres grammatikalischen Wissens, im Falle natürlicher Sprachen aus seinen Lexemen, die als rhematische Symbole (R 3 O 3 I 1 ) die Einheiten des dizentischen Symbols bilden. Die Zweitheit des Interpretanten lässt sich so erklären: Die „Abhängigkeit von einer Welt“, die verhindert, dass es sich um eine nur regelbestimmte Interpretation handelt (I 3 ), liegt darin, dass jeder Satz einen Sachverhalt nur im Rückgriff auf eine bestimmte Welt beschreibt. 10. Argument Zusammensetzung: R 3 O 3 I 3 Beschreibung: ein Zeichen, das auf einem oder mehreren rhematischen Symbolen basiert; sein Interpretant ist konventionell (I 3 ) Beispiele: eine Argumentation; eine bestimmte Textsorte Erläuterung: Hier begegnet uns zum ersten Mal ein konventioneller Interpretant (I 3 ). Eine Argumentation folgt bestimmten Konventionen; sie kann nur nachvollzogen werden, wenn die Regeln des Denkens, auf denen sie basiert, bekannt sind. 2.4 Ein Modell des Denkens Der Zeichen-Dekalog bietet ein klar gegliedertes Modell der Zeichen. Vor allem aber ist seine Darstellung analytisch: Sie gibt die Bausteine der einzelnen Zeichentypen an, zeigt in Savans Qualifikationsregel eine Methode zu ihrer Konstruktion und begründet damit, warum es genau diese und keine anderen Zeichentypen gibt. Zwar lassen sich auch Schwachstellen finden, die teilweise in den Erläuterungen angesprochen wurden. Trotzdem bleibt der Dekalog aufgrund seiner präzisen Konstruktionsweise, die weit über ein bloß empirisch begründetes Postulieren einer Reihe von Zeichentypen hinausgeht, vorläufig das beste Modell für Gedanken-Zeichen (die Peirceschen „phanerons“), das wir besitzen. Aber wie können wir uns die Repräsentation dieser Zeichen im Gehirn vorstellen? Dieser Frage wird der Rest dieser Arbeit gewidmet sein. Im Mittelpunkt steht dabei die graphische Logik von Peirce: die Relationenlogik und die Existenzgraphen. Insbesondere die Existenzgraphen, ein System ikonischer Logik von der gleichen Ausdrucksstärke wie die Prädikatenlogik erster Stufe, demonstrieren eindrucksvoll, dass eine Repräsentation von logischen Propositionen keineswegs nur auf symbolischer Grundlage möglich ist. Und sie bieten auch noch weitere Eigenschaften, die für ein leistungsfähiges Modell der Repräsentation von Zeichen im Gehirn wünschenswert sind; diese Eigenschaften werden im nächsten Abschnitt diskutiert. Doch warum brauchen wir überhaupt ein solches Modell? Reicht es nicht, zu wissen, dass das Gehirn Inhalte mit Hilfe neurologischer Muster darstellt, und anzunehmen, dass die im Peirceschen Zeichendekalog enthaltenen Zeichen auf irgendeine Weise mit Hilfe dieser Muster repräsentiert werden? Nehmen wir den Zeichendekalog als Grundlage eines Modells des Denkens an, dann stellen sich sofort eine Reihe von Fragen der folgenden Art: 218 Martin Siefkes - Wie entstehen die einzelnen Zeichen? Wie gelingt eine sinnvolle Verbindung von Zeichen (gleich ob streng logisch oder assoziativ), wobei offensichtlich neue Zeichen auf eine sinnvolle Weise aus anderen hervorgehen? Welchen Regeln folgen diese Prozesse? - Wenn jedes Zeichen durch andere verursacht wird, wie gelingt es uns, aus dieser Kette auszubrechen und etwas Neues zu denken? Falls es aber Zeichen gibt, die nicht direkt durch andere verursacht werden, wie erkennen wir die Bedeutung dieser neuen Zeichen und ordnen sie in unsere Zeichensysteme ein? - Wie können wir Zeichen erzeugen, die sich auf die Wirklichkeit beziehen? - Wie können wir unser Denken bis zu einem gewissen Grad steuern, ohne zu willkürlichen Ergebnissen zu gelangen, die Nachvollziehbarkeit unseres Denkens für andere zu gefährden und in die Gefahr des Autismus zu geraten? Anders gesagt: Was ermöglicht uns zwischen der Determiniertheit der logischen Deduktion und der Subjektivität freier Assoziation ein Denken, das kreativ und doch für andere verständlich ist? Die folgende Diskussion wird die genannten Fragen nur implizit aufgreifen. Für ihre explizite Beantwortung ist es zu früh; außerdem müsste man jeder von ihnen ein Buch widmen, um sich nicht dem Vorwurf der Simplifizierung auszusetzen. Sie werden aber im Verlauf dieser Arbeit im Hintergrund präsent bleiben, und einige Anhaltspunkte für ihre mögliche zukünftige Beantwortung soll die folgende Diskussion der Peirceschen Logik aufzeigen. Sie haben auch einen Bezug zu den wesentlich spezifischeren Fragen, die im nächsten Abschnitt aufgestellt und in Abschnitt 3.1 bis 3.4 einzeln untersucht werden. Die Merrellsche Konzeption des Peirceschen Zeichen-Dekalogs kann soweit präzisiert werden, dass sie eine ausreichend präzise Erfassung unterschiedlicher Arten von Zeichen zu leisten imstande ist. Sie hat damit das Potential für ein plausibles Modell, um die unterschiedlichen Arten von Gedanken-Zeichen (die Peirceschen „phanerons“) auf ihre Bestandteile R, O und I hin zu überprüfen und jeweils nach den Peirceschen Grundkategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit zu unterscheiden. Damit ist es uns gelungen, die drei Bestandteile des Zeichens und die drei Grundkategorien als Bauteile aller Zeichendarstellung im Gehirn plausibel zu machen. Jetzt müssen wir uns fragen, wie eine Darstellung der auf diese Art gewonnenen Zeichen im Gehirn aussehen könnte. Ein Formalismus scheidet dabei aus zwei Gründen aus: a) Laut „Putnams Theorem“ ist die Bedeutungszuordnung in einem formalen System grundsätzlich auf viele Arten möglich, womit die Vorstellung der klassischen Modelltheorie, man könne die Bedeutung eines Satzes nur durch Angabe der Wahrheitswerte für alle vorstellbaren Situationen eindeutig festlegen, als widerlegt gelten muss: 16 Wüsste man nichts über diese Situationen als das wiederum durch den Formalismus selbst ausgesagte, könnte man der Vieldeutigkeit nicht entkommen. Die Auswahl einer spezifischen Bedeutungszuordnung kann daher immer nur mittels einer Konvention erfolgen. Konventionelle Zeichenbeziehungen setzen jedoch nach der Peirceschen Kategorienlehre Drittheit voraus und werden daher nur den Symbolen zugeschrieben. Damit müsste für die Darstellung auch der einfacheren Zeichentypen Ikon und Index eine Grundlagenebene der symbolischen Darstellung im Gehirn angenommen werden, die dann alle anderen Zeichentypen kodieren würde. Genau so funktioniert die Zeichendarstellung beim Logik und Freiheit 219 Computer, der jedes Zeichen, auch ein Ikon wie eine bildliche Darstellung oder ein Index wie einen deiktischen Ausdruck, letztlich nur symbolisch (über die Kodierung in binärer Logik) repräsentieren kann. Dies widerspricht jedoch der Peirceschen Konzeption, die die grundlegende Natur dieser Zeichen betont und davon ausgeht, dass sich Symbole aus einfacheren Zeichentypen aufbauen und nicht umgekehrt. Der Vorteil der Merrellschen Darstellung des Zeichen-Dekalogs und des von ihm angenommenen Prozesses der „Generierung“ (‚generation‘) der komplexeren symbolischen Zeichentypen aus den einfacheren ikonischen und indexikalischen besteht gerade darin, dass sie diese grundsätzliche Charakteristik bewahren. b) Jeder Formalismus lässt sich durch einen Algorithmus wiedergeben. Doch die Probleme des „computationalism“, der Annahme also, dass das Gehirn auf einem Algorithmus basiert, sind im Laufe der Zeit immer größer geworden und lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass eine solche Lösung tragfähig sein könnte. 17 Wenn wir die kognitive Realität der Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit annehmen wollen, um auf ihnen unseren Zeichen-Dekalog aufbauen zu können, aber keine (selbst wieder symbolische) Kodierung durch einen Formalismus möglich ist, müssen wir auf ein grundlegenderes Darstellungssystem zurückgreifen. Dieses Darstellungssystem sollte folgende Eigenschaften haben: 1. Es sollte nicht-symbolisch sein; 2. es sollte die Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit, die wir für den Aufbau des Zeichen-Dekalogs benötigen, in angemessener Weise unterscheiden; 3. es sollte zumindest teilweise analog sein, da sich analoge Systeme nicht verlustfrei berechnen lassen und daher einen Ausweg aus der Falle der Berechenbarkeit bieten; 4. es sollte die Übergänge zwischen verschiedenen Propositionen bzw. Sätzen darstellen können (logische Beweise bzw. natürlichsprachliche Argumente) und damit einen Ansatzpunkt für die Prozesse des logischen Denkens liefern. Es muss dagegen nicht die Eigenschaft haben, sich direkt auf neuronale Prozesse zu beziehen. Die neuronale Repräsentation eines solchen Modells muss separat betrachtet werden. Nur soviel sei angemerkt: Auf dieser grundlegenden Ebene tritt das Problem, wie das Denken nicht-algorithmisch modelliert werden kann, erneut auf. 18 Im folgenden werde ich zeigen, dass die Existenzgraphen von Peirce als Grundlage eines solchen Darstellungssystems in Frage kommen, da sie alle genannten Forderungen erfüllen. Diese werden in Abschnitt 3 einzeln behandelt: Zu 1: siehe Abschnitt 3.1 „Eine nicht-symbolische Logik“; zu 2: siehe Abschnitt 3.2 „Peirces Relationenlogik“; zu 3: siehe Abschnitt 3.3 „Analoges Denken“; zu 4: siehe Abschnitt 3.4 „Logisches Schließen“. 220 Martin Siefkes 3. Die Peirceschen Existenzgraphen Eine allgemeine Einführung in die Existenzgraphen (EG), das wichtigste System der graphischen Logik von Peirce, kann hier nicht gegeben werden; der Leser sei auf die entsprechenden Werke von Jay Zeman 19 und Don D. Roberts 20 verwiesen. Einen schnellen Einstieg in die Funktionsweise und die Besonderheiten des Systems bietet John Sowa anhand von MS 514, einem Manuskript, in dem Peirce selbst eine knappe Einführung in die Existenzgraphen aufgeschrieben hat, wobei er auf die gewöhnliche Unterscheidung zwischen Aussagen- und Prädikatenlogik verzichtet und die entsprechenden Teile seiner Logik (Alpha und Beta) gemeinsam präsentiert. Der Kommentar von Sowa stellt die Verbindungen zu anderen logischen Entwicklungen von Peirce her und gibt weitere Beispiele für die Möglichkeiten des Systems. 21 3.1 Eine nicht-symbolische Logik 3.1.1 Ikonizität Don D. Roberts betont in seinem Buch über die Existenzgraphen, 22 dass für Peirce die Ikonizität der EG eine wichtige Qualität darstellten. Dies lässt sich auf seinen Begriff des „diagrammatic reasoning“ zurückführen: By diagrammatic reasoning, I mean reasoning which constructs a diagram according to a precept expressed in general terms, performs experiments upon this diagram, notes their results, assures itself that similar experiments performed upon any diagram constructed according to the same precept would have the same results, and expresses this in general terms. 23 Die Bedeutung von „diagrammatic“ beschreibt Peirce folgendermaßen: I dwell on these details […] because they go to show that this syntax is truly diagrammatic, that is to say that its parts are really related to one another in forms of relation analogous to those of the assertions they represent, and that consequently in studying this syntax we may be assured that we are studying the real relations of the parts of the assertions and reasonings; which is by no means the case with the syntax of speech. (MS 514: 15) 24 „Diagrammatisch“ bedeutet für Peirce also, dass die Teile einer Aussage auf der syntaktischen Ebene zueinander in denselben Relationen stehen wie auf der semantischen Ebene. Diese Eigenschaft bezeichnen wir heute als „Ikonizität“, weil sie für den von Peirce „Ikon“ genannten Zeichentyp charakteristisch ist. Die zitierte Beschreibung macht klar, dass sich bei ikonischen Systemen zusätzliche Informationen über die Relationen, in denen die Teile einer Aussage zueinander stehen, direkt ablesen lassen. Eine äquivalente nicht-ikonische Notation könnte zwar denselben Sachverhalt ausdrücken, doch müssten die bei einem ikonischen System direkt ausgedrückten Eigenschaften der semantischen Ebene hier erst erschlossen werden, da sie nicht auf der syntaktischen Ebene repräsentiert sind. 25 Hier zeigt sich ein weiterer Grund, warum eine ikonische Notation plausibler als Grundmodell des Denkens ist als eine symbolische: schließlich ist jenes „Erschließen“ selbst wieder ein Denkprozess. In einem ikonischen Modell stehen die zusätzlich repräsentierten Relationen dagegen ‚direkt‘, nämlich als bestimmte Eigenschaften der Repräsentation selbst zur Verfügung, auf die das Gehirn operieren könnte. Damit würden dem Gehirn mehrere Arten Logik und Freiheit 221 des Umgangs mit logischen Verhältnissen zur Verfügung stehen: die umformende, die durch die Regeln des logischen Schließens bestimmt ist (vgl. Abschnitt 3.4), sowie diejenige der Operation auf den ikonischen Eigenschaften (beispielsweise ein Vergleich bestimmter relationaler Verhältnisse innerhalb zweier komplexer Propositionen). Hier könnte ein Zusammenhang mit jener Denkweise bestehen, die wir als „intuitiv“ oder „assoziativ“ bezeichnen. Diese Überlegung ist jedoch spekulativ und muss hier nicht entschieden werden. Die Möglichkeit der direkten Operation auf den zusätzlich repräsentierten Eigenschaften macht ein ikonisches System für ein Modell des Denkens in jedem Fall interessant. An einigen Beispielen sollen die ikonischen Eigenschaften der EG dargestellt werden: 26 This syntax is so simple that I will describe it. Every word makes an assertion. Thus, man means „there is a man“ in whatever universe the whole sheet offers it. The dash before „man“ is the „line of identity“. this means „Some man eats a man“. 27 Es handelt sich um zwei voneinander getrennte Identitätslinien. Die beiden Vorkommnisse von „man“ sind zwei einstellige Prädikatoren, „eats“ ist ein zweistelliger Prädikator, und die Argumente der beiden einstelligen Prädikatoren werden mit je einem Argument des zweistelligen Prädikators gleichgesetzt. Die Aussage lässt sich genauer als „Es gibt einen Essvorgang, bei dem ein Mann identisch ist mit etwas, das isst, und ein Mann identisch ist mit etwas, das gegessen wird“ paraphrasieren. In Peirce-Peano-Notation 28 lautet die entsprechende Formel: ( ∃ x)( ∃ y)(man(x) ∧ man(y) ∧ eats(x,y)) 29 Ikonizität: Vergleichen wir die Ikonizität des Existenzgraphen (EG) mit der der Peirce-Peano- Notation (PPN): Beide repräsentieren die Tatsache, dass eine bestimmte Anzahl von Termen ausgesagt wird, durch die entsprechende Anzahl von Symbolen. PPN benutzt zwei Existenzquantoren, EG zwei Identitätslinien. Auch die Übereinstimmung der beiden einstelligen und des zweistelligen Prädikats ist klar zu erkennen. - Bisher hat in punkto Ikonizität keine Notation einen Vorsprung. To deny that there is any phoenix, we shade that assertion which we deny as a whole: Thus what I have just scribed means „It is false that there is a phoenix“. 30 ~( ∃ x)phoenix(x) 222 Martin Siefkes Anmerkung : Meistens wird die Verneinung einfach durch eine geschlossene Linie ausgedrückt, den „cut“ (‚Schnitt‘); jedes ungerade Level lässt sich dabei als schattiert denken. Für die Einführung ist es hilfreich, diese Level tatsächlich zu schattieren. Peirce möchte, dass man sich den „cut“ als einen realen Schnitt durch die Assertionsfläche (‚sheet of assertion‘) denkt, der eine weitere Ebene öffnet. But the following: only means „There is something that is not identical with any phoenix“. 31 ( ∃ x)~phoenix(x) Ikonizität : Die beiden Graphen unterscheiden sich nur dadurch, dass die Identitätslinie im zweiten den „cut“ überschneidet und dadurch verneint wird. (Jede Identitätslinie, die ein offenes Ende hat, gilt als existentiell quantifiziert.) Hier zeigt sich der erste Vorteil gegenüber der PPN: In den EG kann ich sofort erkennen, dass eine Aussage über etwas gemacht wird, das nicht etwas anderes ist, dem ein bestimmtes Prädikat zukommt, während im ersten Fall eine Aussage über etwas gemacht wird, das etwas ist, dem ein bestimmtes Prädikat zukommt. Diese Eigenschaft wird klar im Schneiden der Identitätslinie durch den „cut“ ausgedrückt, die aus Identität eine Nicht-Identität macht. Gleichwertig bezüglich Ikonizität sind die beiden Notationen in punkto Negation, sofern man annimmt, dass die PPN eine implizite Klammerungskonvention enthält: Wenn ich diese Konvention kenne, wird offensichtlich, dass sich die Verneinung ~ in der ersten Formel auf die ganze Aussage bezieht. Die EG drücken dies dadurch aus, dass die ganze Aussage innerhalb des „cut“ steht. Fig. 3 denies fig. 4, which asserts that it thunders without lightening. For a denial shades the unshaded and unshades the shaded. Consequently fig. 3 means „If it thunders, it lightens“. 32 Fig. 4 in PPN: ( ∃ x)(thunder(x) ∧ ~lightening(x)) Logik und Freiheit 223 Fig. 3 verneint Fig. 4: ~( ∃ x)(thunder(x) ∧ ~lightening(x)) Dies lässt sich umformen zu: ( ∀ x)~(thunder(x) ∧ ~lightening(x)) Dies entspricht: ( ∀ x)(thunder(x) ⊃ lightening(x)) Wörtlich heißt dies: „Für jedes x gilt, wenn x donnert, dann blitzt x.“ 33 Ikonizität : Ein kleiner Vorteil kann auch hier gesehen werden. Die PPN hat zwei wichtige Möglichkeiten zur Darstellung der Implikation: als ~(p ∧ ~q) und als p ⊃ q. Letztere ist rein symbolisch; erstere ist ikonischer, da sie zusätzliche Eigenschaften offenbart, nämlich die eine Wahrheitswertezuordnung, die allein eine Implikation falsch werden lässt. 34 Dafür hat sie den Nachteil, drei Operatorensymbole zu benötigen: ~, ∧ , (). Die EG zeigen genau die erste Darstellungsmöglichkeit ~(p ∧ ~q), benutzen dabei jedoch nur zwei Operatorensymbole, den „cut“ und die Identitätslinie, sofern man von der impliziten Konjunktion aller Aussagen auf der Assertionsfläche absieht. 35 Zur Ikonizität der Assertionsfläche : Roberts betont anhand der Implikation den Vorteil, den die Assertionsfläche als ikonische Repräsentation hat: Alles, was darauf geschrieben wird, wird ausgesagt (implizite Konjunktion). In PPN unterscheiden sich p ∧ q und p ⊃ q nur nach Analyse des (symbolischen) Operators. Bei den EG, wo für p ∧ q einfach auf eine beliebige Stelle der Assertionsfläche p und auf eine andere q geschrieben wird, sehen wir sofort, dass beide unabhängig voneinander ausgesagt werden, während bei p ⊃ q weder p noch q ausgesagt wird, wie Fig. 3 zeigt. Der „cut“, der seinen Inhalt von der Assertionsfläche abgrenzt, ist damit eine ikonische Art, nicht ausgesagte Propositionen von ausgesagten abzugrenzen. 36 Die implizite Konjunktion ist nun aber eine Eigenschaft, die vielen der Medien, die wir für Zeichenprozesse benutzen, zukommt: Wenn wir zwei Aussagesätze nacheinander sagen, dann sagen wir für gewöhnlich beide aus. Dasselbe gilt, wenn wir sie nebeneinander auf Papier niederschreiben. Diese Eigenschaft unseres Kommunizierens, über nebeneinander bzw. nacheinander Ausgesagtes unabhängig vom Medium implizit zu konjugieren, ist uns so selbstverständlich, dass wir sie leicht übersehen. Dies könnte ein Hinweis auf die kognitive Realität der Assertionsfläche der EG mit ihrer impliziten Konjunktion sein. 3.1.2 Kontinuität, Symmetrie und Additivität Sowa demonstriert die ikonischen Eigenschaften der EG an einem eindrucksvollen Beispiel, das hier wiedergegeben und diskutiert werden soll. 37 224 Martin Siefkes Analyse der Kontinuität: Eine besondere Eigenschaft der Identitätslinien besteht darin, dass sie die Identität kontinuierlich darstellen: Jede Identitätslinie kann als Verkettung von Dyaden der Form —ist— dargestellt werden. Dadurch werden die folgenden beiden Graphiken von Sowa äquivalent: Im linken Graph wird die Identität der beiden durch je eine Identitätslinie angegebenen Individuen negiert, da diese nur auf der schattierten Fläche verbunden sind. Der Graph kann gelesen werden als „Es gibt zwei Dinge, die nicht identisch miteinander sind“. 38 Im rechten Graph wird eine Stelle der Identitätslinie durch die Dyade —is— („etwas ist identisch mit etwas“) ersetzt; dies kann an unendlich vielen Stellen jeder Identitätslinie erfolgen, ohne die Bedeutung des Graphen zu verändern. ( ∃ x)( ∃ y)x≠y Analyse der Symmetrie und Additivität: Die letzte Formel bezeichnete die Existenz von mindestens zwei Dingen. Im nächsten Beispiel steht der linke Graph für „Es gibt mindestens drei Dinge“, der mittlere Graph für „Es gibt höchstens drei Dinge“ und der rechte Graph für „Es gibt genau drei Dinge“. Dem linken Graph entspricht die Formel, die aussagt, dass ein x, ein y und ein z existieren, von denen jedes mit keinem der beiden anderen identisch ist: ( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z) (x≠y ∧ y≠z ∧ x≠z) Dem mittleren Graph entspricht die Formel, die aussagt, dass ein x, ein y und ein z existieren, und dass es falsch ist, dass ein w existiert, dass nicht identisch ist mit x und nicht identisch ist mit y und nicht identisch ist mit z: ( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z)~( ∃ w) (w≠x ∧ w≠y ∧ w≠z) Logik und Freiheit 225 Der rechte Graph ergibt sich durch Übereinanderlegen des linken und mittleren; er sagt also, dass es höchstens drei Dinge gibt und mindestens drei Dinge gibt: ( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z) (x≠y ∧ y≠z ∧ x≠z ∧ ~( ∃ w)(w≠x ∧ w≠y ∧ w≠z)) Anhand dieses Beispiels zeigen sich mehrere ikonische Eigenschaften der Existenzgraphen: Symmetrie : Ein EG, dem ein symmetrisches Objekt entspricht, kann so gezeichnet werden, dass er diese Symmetrie wiedergibt (wobei eine solche Darstellung unter Umständen mehr als zwei Dimensionen benötigt, um die Kreuzung von Linien zu vermeiden). Additivität : Die (semantische) Konjunktion zweier EG kann durch (syntaktische) Kombination erzeugt werden, indem die ursprünglichen beiden EG übereinander gelegt werden, ohne dass etwas hinzugefügt, gelöscht oder umgestellt werden muss. Im obigen Beispiel ist darauf zu achten, dass die drei Individuenvariablen des einen EG denen des anderen EG durch Verbindung der Identitätslinien einzeln zugeordnet werden. Hierzu reicht es aus, dass die Größe und Ausrichtung der beiden EG zuvor richtig gewählt wurden (siehe Graphik). Die PPN erzeugt denselben Effekt durch Einfügung der zweiten Formel innerhalb des Skopus der drei Existenzquantoren, wobei die entsprechenden Existenzquantoren der eingefügten Formel wegfallen. Beide Formeln werden daher in ihrem Erscheinungsbild verändert. Symmetrische Ikonizität der Zahldarstellung: Jede natürliche Zahl n wird durch ein EG dargestellt, dass sich in n gleiche Untergraphen 39 aufteilen lässt. Die symbolische Notation besitzt keine dieser Eigenschaften. Besonders auffällig ist, dass sie für „mindestens drei“ mit drei Variablen und drei Existenzquantoren auskommt, während sie für „höchstens drei“ und „genau drei“ vier Variablen und vier Existenzquantoren verwenden muss! Ohne Kenntnis der EG könnte man zur Entschuldigung der symbolischen Notation argumentieren, dass die Aussage „höchstens drei“ eben etwas über ein weiteres von diesen drei verschiedenes Individuum aussagt, nämlich dessen Nichtexistenz, und dass ihr damit der Symmetriebruch gegenüber „mindestens drei“ inhärent ist. Der Vergleich mit den EG zeigt jedoch, dass dies falsch ist: Der Symmetriebruch liegt in der Notation begründet, nicht in der logischen Struktur der Wirklichkeit, die sie darstellen will. An anderer Stelle argumentiert John F. Sowa anhand vieler Beispiele, dass die Existenzgraphen in der Lage sind, die natürliche Sprache wesentlich direkter und einfacher wiederzugeben als die klassische Peirce-Peano-Notation der PL. 40 Natürliche Sprache ist aber nicht nur eine der komplexesten und erstaunlichsten kognitiven Leistungen des Menschen, sie ist auch ab einer gewissen Komplexitätsstufe die Voraussetzung vieler anderer Fähigkeiten des menschlichen Geistes. 41 Die Nähe der Existenzgraphen zur natürlichen Sprache kann daher auch als Hinweis auf ihre Nähe zur kognitiven Realität gelten. 226 Martin Siefkes 3.2 Peirces Relationenlogik Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit Forderung 2 aus Abschnitt 2.4: Das Darstellungssystem sollte die Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit, die wir für den Aufbau des Zeichen-Dekalogs benötigen, in angemessener Weise unterscheiden. Nun lassen sich viele Darstellungssysteme denken, die auf irgend eine Weise zwischen den drei Kategorien unterscheiden. Wichtig ist daher der Zusatz „in angemessener Weise“. Semantische Überlegungen kommen dabei nicht in Frage, da es ja um ein Darstellungsmodell unterhalb der semantischen Ebene geht (die Semantik beschäftigt sich mit dem Verhältnis von R und O; wir wollen jedoch R, O und I überhaupt erst repräsentieren). Eine solche Darstellung muss den formalen Kriterien genügen, die Peirce an seine Kategorien stellt. Das zentrale Kriterium ist hier die Peirce Reduktionsthese: Ob es sich einfach um „irgendwelche“ Monaden, Dyaden und Triaden oder aber um Monaden, Dyaden und Triaden im Peirceschen Verständnis handelt, lässt sich an der Gültigkeit dieser These erkennen, die Peirce in seinem Werk mehr als 20 Mal wiederholt. 42 3.2.1 Die Geltung der Reduktionsthese in der Relationenlogik Bevor wir uns der Reduktionsthese zuwenden, müssen wir zunächst sehen, an welcher Stelle in der graphischen Logik von Peirce die Dreiteilung in Monaden, Dyaden und Triaden vorkommt. Dies kann kurz und schmerzlos anhand eines Peirce-Zitats aus dem schon vielstrapazierten MS 514 geschehen: 43 Indivisible graphs usually carry „pegs“ which are places on their periphery appropriated to denote, each of them, one of the subjects of the graph. A graph like „thunders“ is called a „medad“ as having no peg (though one might have made it mean „some time it thunders“ when it would require a peg). A graph or graph instance having 0 peg is medad. A graph or graph instance having 1 peg is monad. A graph or graph instance having 2 pegs is dyad. A graph or graph instance having 3 pegs is triad. Der Medade entspricht in der Aussagenlogik die Proposition. Der Monade entspricht in der Prädikatenlogik das monadische Prädikat (oder die Eigenschaft). Der Dyade entspricht in der Prädikatenlogik das dyadische Prädikat (oder die binäre Relation). Der Triade entspricht in der Prädikatenlogik das triadische Prädikat (oder die ternäre Relation). 44 Jaqueline Brunning setzt sich mit der Peirceschen Reduktionsthese in Bezug auf die Relationenlogik auseinander, die später zur Basis der Identitätslinien der EG wurde. 45 Ausgangspunkt ist die von Peirce vorgenommene Unterscheidung zwischen der „degenerierten“ (‚degenerate‘) und der „genuinen“ (‚genuine‘) Triade. Eine degenerierte Triade ist eine, die durch die Zusammensetzung dreier Dyaden entsteht; sie wird von Peirce so eingestuft, weil sie seiner Reduktionsthese widerspricht, derzufolge eine genuine Triade nicht auf Dyaden reduziert werden. Nehmen wir an, wir haben drei dyadische Relationen mit einem über- Logik und Freiheit 227 einstimmenden Korrelat: D—A, D—B und D—C. Es scheint, als könne man sie zu einer Triade kombinieren: Peirce war es jedoch wichtig, dass diese Art der Kombination keine genuine Triade ergibt. Brunning erklärt dies damit, dass Peirce als Operation zur Kombination von Relationen nur das relative Produkt zuließ. Dieses Produkt, dass wir unten genauer betrachten werden, ist vom algebraischen Typ (n + m) - 1. „Algebraischer Typ“ meint hier die Formel, die die Anzahl der Korrelate der neuen Relation aus denen der alten Relationen errechnet. Zur Kombination dreier dyadischer Relationen müsste man es zweimal anwenden, was den algebraischen Typ (n + m + r) - 2 ergäbe. Die obige Graphik dagegen ließe sich aus D—A, D—B, D—C nur durch eine Operation des algebraischen Typs (n + m + r) - 3 erzeugen. Da Peirce nur das relative Produkt zur Erzeugung genuiner Triaden zulässt, kann eine solche, aus drei dyadischen Relationen zusammengesetzte Triade in seinem System nur eine degenerierte Triade sein. Wie aber kann man dann überhaupt eine Triade erzeugen? Peirce schreibt: „it is permitted to scribe an unattached line of identity on the sheet of assertion and to join such unattached lines in any number of spots of teridentity“ (MS 478). Als Teridentität bezeichnet Peirce jene Stellen einer Identitätslinie, an der sich drei Linien treffen. Es ist sofort einsichtig, dass man jede Anzahl von Termen verbinden kann, ohne eine höherwertige Art der Verbindung als die Teridentität zu benötigen, da ein Anschluss ja an jeder Stelle möglich ist. Damit ist jener Teil der Reduktionsthese, der besagt, dass jede höherwertige Relation auf eine genuine Triade zurückgeführt werden kann, in den Graphen unmittelbar einsichtig. Um den anderen Teil, die Nichtreduzierbarkeit genuiner Triaden, nachzuweisen, müssen wir zeigen, dass sich Teridentität nicht innerhalb der Graphen definieren lässt, sondern als Grundelement angenommen werden muss. Dies ist leicht zu zeigen, da Peirce, wie bereits erwähnt, nur das relative Produkt zur Verbindung zweier Terme zulässt. Betrachten wir zunächst die Funktionsweise des relativen Produkts. Eines seiner Beispiele ist „Lover of a woman“. Dies setzt sich nach Peirce aus „lover of something“ mit der PPN- Formel ( ∃ x)( ∃ z)(Lxz) und dem EG —lover— und „something is a woman“ mit der PPN-Formel ( ∃ t)(Wt) und dem EG —a woman zusammen. 228 Martin Siefkes Hier handelt es sich um ein monadisches Prädikat und eine dyadische Relation. Die Anwendung des relativen Produkts bewirkt, dass sie durch Gleichsetzung eines Korrelats verbunden werden: ( ∃ x)( ∃ z)(Lxz) ∧ ( ∃ t)(Wt) ∧ (z=t) Dies ergibt die Formel ( ∃ x)( ∃ t)(Lxt ∧ Wt) Dem entspricht in den EG die Verbindung zweier „hooks“ oder „pegs“ (offene Enden von Identitätslinien): —lover of— —a woman Dies ergibt den EG —lover of——a woman. Wie man sieht, ergibt sich aus der Zusammenfügung einer Dyade mit einer Monade keineswegs eine Triade. Auch durch die Zusammenfügung mehrerer Dyaden entsteht keine Triade, sondern nur eine längere Kette: —sister of——lover of——a woman Das folgende Beispiel, das Brunning nach MS 292 zitiert, zeigt zwei zusammenhängende Triaden: 46 „Somebody steals something from somebody and gives it back.“ Der rechte EG ist mit dem linken äquivalent. Beim linken EG verstecken sich Triaden in den Relationsausdrücken „gives (to)“ und „steals (from)“, an die ohne genauere Begründung je drei Existenzlinien angehängt werden, die für die drei Korrelate stehen: den Dieb, den Bestohlenen und das Gestohlene/ Zurückgegebene. Beim linken EG sieht man, dass für jede Triade drei Dyaden erforderlich sind, was eine Gesamtzahl von sechs dyadischen Ausdrücken ergibt. Diese werden paarweise durch Identifizierung je zweier Korrelate verbunden (dies ergibt die drei Identitätslinien auf der rechten Seite). Zwei neue Prädikate werden eingeführt („act of gift“ und „act of theft“), die mit Logik und Freiheit 229 je drei der freibleibenden Korrelate identifiziert werden (die beiden Existenzlinien auf der linken Seite). Die vierfache Kreuzung der Identitätslinien kann problemlos als zwei Teridentitäten erkannt werden (durch Verschiebung der von links kommenden Linien nach oben oder unten); für jede Triade sind hier also zwei Teridentitäten vonnöten! 47 Durch Umformungen solcher Art können die Verhältnisse explizit gemacht werden. Es ergibt sich die ausführliche Formel ( ∃ r)( ∃ s)( ∃ t)( ∃ u)( ∃ v)( ∃ w)( ∃ x)( ∃ y)[(ACTGIFT(x) ∧ Pxr ∧ Exs ∧ Oxt) ∧ (ACTTHEFT(y) ∧ Ryu ∧ Iyv ∧ Pyw) ∧ t=u ∧ s=v ∧ r=w] In Worten lässt sich der Graph wiedergeben als: Es gibt eine Schenkung und es gibt einen Diebstahl, und der Ausführende bei der Schenkung ist identisch mit dem Ausführenden beim Diebstahl, und der Empfänger bei der Schenkung ist identisch mit dem Bestohlenen beim Diebstahl, und das Geschenkte bei der Schenkung ist identisch mit dem Gestohlenen beim Diebstahl. Das Beispiel zeigt die Nichtreduzierbarkeit von genuinen Triaden. Im linken EG ist nichts Genaueres über die Natur der beiden Triaden zu erkennen. Doch die Umformung in den rechten EG zeigt es: Hier ist jede der beiden Triaden in drei Dyaden aufgelöst - doch die Drittheit verschwindet nicht! Sie drückt sich weiterhin in den Teridentitätspunkten aus, die notwendig sind, um die drei Dyaden jeweils miteinander zu verbinden. Kommen wir noch einmal zurück auf die Reduzierbarkeit höherwertiger Relationen, wozu wir am Anfang dieses Abschnitts bereits den algebraischen Typs des relativen Produkts betrachtet hatten. Für die graphische Darstellung der Reduzierung gibt uns Robert W. Burch 48 den entscheidenden Tipp. Die Relation R(x 1 x 2 ,…, x n ) lässt sich durch n dyadische Terme I 12 , I 22 , …, I n2 und einen neu definierten modadischen Term R 1 ersetzen, die sich nun durch relatives Produkt verbinden lassen: 49 ( ∃ y)[R 1 (y) ∧ I 12 (y,x 1 ) ∧ I 22 (y,x 2 ) ∧ … ∧ I n2 (y,x n )] Dies bedeutet, in der graphischen Syntax der Relationenlogik, dass der n-adische Term 230 Martin Siefkes ersetzt wird durch (Anmerkung: Der Trick besteht darin, dass eine Monade konstruiert wird, die, mit den anderen Dyaden relativ multipliziert, für Gleichsetzung von mehr als drei Variablen sorgt. Im obigen Beispiel von Brunning hatten wir für jede der beiden Triaden eine Monade konstruiert, die Prädikate „act of gift“ und „act of theft“). Zum Abschluss noch einmal je ein Beispiel für eine degenerierte und eine genuine Triade: „Bruder der Kollegin seiner Freundin“ ( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z)(Bxy ∧ Kyz ∧ Fzx) „Diebstahl (durch jemanden, an jemandem, von etwas)“ ( ∃ u)( ∃ x)( ∃ y)( ∃ z)(Du ∧ Rux ∧ Iuy ∧ Puz) 50 3.2.2 Die Reduktionsthese als Verbindung zwischen Existenzgraphen und dem Zeichen-Dekalog Die Gültigkeit der Reduktionsthese zeigt, dass die Monaden, Dyaden und Triaden, die wir in der Relationenlogik und in den EG finden, mit den Monaden, Dyaden und Triaden innerhalb des Zeichen-Dekalogs in enger Verbindung stehen. Nicht umsonst betont Peirce immer wieder, wie wichtig die Nichtreduzierbarkeit der Triadizität des Zeichens ist. Dies gilt auch für die Nichtreduzierbarkeit von genuinen Triaden auf Dyaden, und von genuinen Dyaden auf Monaden in der Relationenlogik, wobei letzterer Punkt hier nicht ausgeführt werden konnte. Damit ist die Unterscheidbarkeit zwischen Erstheit, Zweitheit und Drittheit in den Existenzgraphen gegeben. Hier muss jedoch gewarnt werden: Die Identitätslinien eines EG und die Tatsache, dass sie dasselbe Korrelat für einen, zwei oder drei Terme bezeichnen, ist nicht mit den Zeichentypen Index, Ikon und Symbol gleichzusetzen. Obwohl die Identitätslinien Grundlage der ikonischen Logik der EG sind, sind sie selbst als Symbole anzusehen; das gilt für unverzweigte Identitätslinien ebenso wie für verzweigte. 51 Jedes Ikon ist eine Monade, jeder Index eine Dyade, jedes Symbol eine Triade; doch nicht alle Monaden, Dyaden und Triaden sind Index, Ikon bzw. Symbol! Dennoch zeigt die Gültigkeit der Reduktionsthese für die Existenzgraphen, dass wir ein Experiment wagen können: Wir können versuchen, uns die EG als Denkmuster vorzustellen, die aus verschiedenen Zeichentypen zusammengesetzt sind. Wenn wir Peirce folgen, müssen Logik und Freiheit 231 wir annehmen, dass sich unser Denken aus den drei Grundtypen Index, Ikon und Symbol zusammensetzt, wobei es sich um eine Grobklassifikation handelt; wir erinnern uns, dass sie durch die Anwendung von Savans Regel weiter qualifiziert werden können, so dass wir schließlich zum Zeichen-Dekalog gelangen. Wenn Erstheit, Zweitheit und Drittheit der drei Teile jedes Zeichens (R, O und I) aber ausreichen, um es zuverlässig zu klassifizieren, dann könnten sich die Existenzgraphen als geeignet erweisen, die Syntax der Gedankenprozesse im Gehirn darzustellen. Dabei müssen wir uns jedoch zweierlei klarmachen: Zum einen, dass wir zwischen möglichen Repräsentationen für R, O und I einerseits und zwischen der (schwierigeren) Frage unterscheiden müssen, ob auch für diese Grundtriade des Zeichens selbst eine Repräsentation als EG vorstellbar ist. Zum anderen, dass das Gehirn mit Sicherheit keine Existenzgraphen, wie wir sie auf dem Papier sehen, repräsentiert und speichert. Hier geht es nicht um die Frage der Repräsentation auf neuronaler Ebene, sondern um ein semiotisches Modell des Denkens. Dieses Modell des Denkens soll einen Vorschlag machen für den Zusammenhang zwischen den Zeichentypen, mit denen sich die Semiotik beschäftigt, und den Denkinhalten, mit denen sich die Logik beschäftigt. Die Repräsentation dieses Modells auf neuronaler Ebene dagegen ist keine Frage, die allein aus semiotischer Sicht geklärt werden kann; hier müssen genauere Erkenntnisse der Hirnforschung abgewartet werden. 52 3.3 Analoges Denken In diesem Abschnitt wollen wir die Existenzgraphen als analoge Logik untersuchen. Nur eine nicht-berechenbare Logik kann unserem Denken gerecht werden, soviel ist sicher - aber bietet die Analogität hier einen Ausweg? Zu Beginn soll ein Vergleich zwischen den Peirceschen „Existenzgraphen“ (EG) und den „Conceptual Graphs“ (CG) von John Sowa gezogen werden. Er dient als Einführung zu einer Analyse eben jener Eigenschaft, die das System der EG ungewöhnlich machen: ihrer Analogität, die sich aus der Verwendung der Kontinuität (bei „cuts“, Identitätslinien und Assertionsfläche) ergibt. Die hier gegebenen Erläuterungen sind ergänzend zu den bereits in 3.1 gezeigten ikonischen Grundeigenschaften der EG gedacht. 3.3.1 Die Analyse von Identität und Kontinuität Peirce hielt seine EG für überlegen gegenüber der symbolischen Logik, die er selbst zuvor um den Allquantor und den Existenzquantor erweitert hatte. 53 Sehr aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Passage, in der Peirce die „selectives“ diskutiert. Dies sind Zeichen, die bei komplizierten Beta-Graphen zur besseren Lesbarkeit die Identitätslinien ersetzen können, indem sie jedes Ende einer Identitätslinie mit einem Buchstaben des Alphabets markieren und dann die Linien löschen. Peirce betont jedoch explizit, dass diese Zeichen eine zweitklassige Notation erzeugen und möglichst vermieden werden sollten. Für die meisten heutigen Logiker wird dies unverständlich erscheinen - schließlich sind die beiden Notationen von ihrer Ausdrucksstärke her äquivalent! Peirce erläutert dazu, dass die Identität der beiden Buchstaben nur durch eine spezielle Konvention für ihre Interpretation („convention of interpretation“) zustande kommt (CP 4.561). Dasselbe gilt natürlich auch für jede Variable in einer gewöhnlichen algebraischen Notation: Es kennzeichnet die Symbolizität von Variablen, bei dem die Bedeutungszuordnung 232 Martin Siefkes konventionell erfolgt und damit auch die Identität verschiedener Token desselben Typs konventionell gewährleistet wird. Man vergleiche dies mit einer ikonischen Darstellung, wo keine konventionelle Bedeutungszuordnung erfolgt und deshalb auch keine Token-Identität konventionell festgelegt werden muss: Sind die Token eines Repräsentamens (oder Signifikanten, in Saussurescher Terminologie) identisch, verweisen sie von alleine auf dasselbe Objekt (bzw. Signifikat). Es könnte vielleicht wie eine persönliche Vorliebe erscheinen, dass Peirce die Ikonizität der Symbolizität vorzieht, doch er kann gute Gründe dafür angeben: Die symbolische Darstellung ist weniger analytisch. „There is here no analysis of identity“ (CP 4.561). Peirce ging es aber bei seiner Logik um eine Analyse des „mathematical reasoning“, womit er allgemein das deduktiv schließende Denken bezeichnete. 54 Im Gegensatz zu manchem späteren Logiker verstand Peirce, dass dabei die Identität auch einer Analyse bedarf. Wir wissen heute, dass das Gehirn kein präzise arbeitender, mechanischer Apparat ist, eine Vorstellung, die sich seit dem 18. Jahrhundert und seiner Maschinengläubigkeit zunehmend verbreitet hatte. Würde das Gehirn symbolisch arbeiten, dann wäre auch die Darstellung der Identität kein Problem, da die angenommenen Symbole gewöhnlich als Bestandteile eines Kodes betrachtet werden und damit die Unterscheidung zwischen Token (dem Auftreten eines Kode-Elements) und Typ (dem Kode-Element selbst) wirksam wird. Wenn zwei Token auftauchen, verweisen sie als Bestandteile eines festgelegten Kodes auf das absolut Gleiche. Arbeitet das Gehirn aber „analog“ (oder ikonisch), muss dies keineswegs der Fall sein. Tatsächlich scheint es unwahrscheinlich, dass Menschen jemals zweimal den gleichen Begriff verwenden u nd absolut dasselbe darunter verstehen können (in der Realität ist eine Kontamination der Begriffe durch den jeweiligen Kontext wahrscheinlicher) - dies ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt noch Spekulation. Entscheidend ist, dass Peirce offenbar annahm, dass das Gehirn, wenn es in einer Proposition die Identität von Termen annehmen will, gut daran tut, diese direkt zu verbinden. Symbolisch zweimal dieselbe Variable zu schreiben, ist verglichen damit ein unsicheres Verfahren, weil es immer möglich ist, dass die Variablen doch nicht genau dasselbe bezeichnen. 55 Sollte diese Überlegung die Gründe, aus denen Peirce seine Existenzgraphen gegenüber der symbolischen Logik für überlegen hielt, zutreffend wiedergeben, dann ahnte Peirce, was uns die Neurologie heute nahe legt: Dass unser Denken ein höchst komplexer, immer von Interferenzen bedrohter Prozess ist, bei dem keine neuronale Repräsentation und keine mit Hilfe der Umformung neuronaler Repräsentationen erzeugte Argumentation vor Interferenzen durch zunächst unbeteiligte Neuronen sicher ist, die wir als „Assoziation“, „Konnotation“, „plötzliche Erinnerung“ usw. erleben. Nun besitzen die Existenzgraphen natürlich verschiedene Token eines Typs, z.B. zwei verschiedene Identitätslinien. Diese jedoch verweisen niemals auf ein- und dasselbe Objekt; dieses wird immer durch eine Identitätslinie verbunden. Damit analysieren die EG die Identität selbst, was in Peirce' Augen ein großer Vorteil war. Eng mit dem Problem der Identität verbindet sich das der Kontinuität. Peirce wollte eine Logik schaffen, die Kontinuität und Diskontinuität auch tatsächlich darstellt: Auch dies gelingt ihm mit den EG, wo eine Existenzlinie, die nicht von einem „cut“ gekreuzt wird, Kontinuität darstellt, eine Existenzlinie, die von einem „cut“ gekreuzt wird, dagegen Diskontinuität darstellt. Logik und Freiheit 233 Betrachten wir noch einmal einen Ausschnitt aus MS 514: 56 Thus fig. 5 denies that there is a man that will not die, that is, it asserts that every man (if there be such an animal) will die. It contains two lines of identity. Peirce spricht von zwei Linien, eine etwas unglückliche Ausdrucksweise; er sollte lieber von zwei Teilen einer Linie oder von einer durchgeschnittenen Linie sprechen, da zwei getrennte Existenzlinien zwei verschiedene Argumentvariablen für die beiden einstelligen Prädikate anzeigen würden. 57 It denies which fig. 6 asserts, „there is a man that is something that is something that is not anything that is anything unless it be something that will not die“. I state the meaning in this way, to show how the identity is continuous regardless of shading; and this is necessarily the case. In the nature of identity that is its entire meaning. For the shading denies the whole of what is in its area but not each part except disjunctively. Die etwas schwer verständliche Formulierung für die Existenzlinie könnte man auch so ausdrücken: „Es gibt etwas, das identisch ist mit etwas, das identisch ist mit etwas, das nicht identisch ist mit etwas, das identisch ist mit etwas, das sterben wird“. Jeder Punkt auf der Linie (und es sind natürlich unendlich viele) kann auf diese Weise beschrieben werden: Die Identität wird kontinuierlich auf der Existenzlinie weitergegeben. Zeman betont, dass die überlegenen analytischen Eigenschaften bezüglich Identität und Kontinuität für Peirce so wichtig waren, dass sie die Überlegenheit der EG gegenüber symbolischer Logik begründeten. 58 Leider bringt Zeman „diskontinuierliche“ und „geschnittene“ Existenzlinien durcheinander und missachtet dabei den mathematischen Begriff der Kontinuität. 59 Um das zu vermeiden, können wir den Sachverhalt so ausdrücken: - Identität von Individuen wird durch nicht (von einem „cut“) geschnittene Kontinuität angezeigt; - Nicht-Identität von Individuen wird durch (von einem „cut“) geschnittene Kontinuität angezeigt; - getrennte Untersuchung von Individuen wird durch Diskontinuität (oder Separation) angezeigt. 234 Martin Siefkes Ebenso nimmt Peirce für die Assertionsfläche zweidimensionale Kontinuität an, wie das folgende Zitat zeigt: 60 You may regard the ordinary blank sheet of assertion as a film upon which there is, as it were, an undeveloped photograph of the facts in the universe. I do not mean a literal picture, because its elements are propositions, and the meaning of a proposition is abstract and altogether of a different nature from a picture. But I ask you to imagine all the true propositions to have been formulated; and since facts blend into one another, it can only be in a continuum that we can conceive this to be done […]. Of this continuum the blank sheet of assertion may be imagined to be a photograph. Und wenn es um Gamma-Graphen geht, die alle möglichen Welten mit berücksichtigen sollen, ist sogar eine dreidimensionale Menge von Assertionsflächen, die durch „cuts“ miteinander verbunden werden können und auf die vierdimensionale Graphen geschrieben werden sollten, 61 vorgesehen! Dieses Projekt scheiterte jedoch daran, dass Peirce für die Gamma- Graphen keine vollständige Menge von Inferenzregeln mehr angeben konnte. 62 3.3.2 Analogität als Ausweg? Dass Peirce die Kontinuität als Darstellungseigenschaft der EG so wichtig war, erklärt sich daraus, dass er auch das Denken als kontinuierlichen Prozess ansah. 63 Und in der Tat hatte Peirce dieselbe Idee, die in dieser Arbeit vertreten wird, wenn er schreibt: „the system of existential graphs is a rough and generalized diagram of the Mind“. 64 Hier sind wir nun mit einem Mal wieder bei unserem Grundproblem angekommen: der Frage, wie das Gehirn denn Inhalte repräsentieren kann, wenn dem Denken kein Algorithmus zugrunde liegt. Eine plausible Interpretation dafür ist Analogität . Analoge Prozesse sind in der Regel nicht verlustfrei in digitale umsetzbar; diese können sie nur mehr oder weniger gut annähern. Eine solche Annäherung stellt bei linearen Prozessen in der Regel kein besonderes Problem dar; man muss nur wissen, wie genau man sie haben will, und entsprechend mehr oder weniger Rechenaufwand investieren. Bei nicht-linearen Prozessen dagegen addieren sich winzigste Abweichungen in nicht vorhersehbarer Weise auf. Diese extreme Sensibilität gegenüber den Anfangsbedingungen führt dazu, dass solche Prozesse überhaupt nicht mehr im strengen Sinne berechenbar sind, obwohl häufig ein typischer Verlauf berechnet werden kann. Analogität ist also eine Annahme, die eine Erklärung für das nicht-algorithmische Funktionieren des Denkens bieten könnte. 65 Und die von Peirce betonte Kontinuität seiner Logik ist natürlich nichts weiteres als Analogität! 66 Zu fragen ist allerdings, ob Analogität nicht eine zu schwache Form der Nicht-Berechenbarkeit erzeugt; so lassen sich, wie erwähnt, die Prozesse des Wetters nicht vorausberechnen, sie sind jedoch in ihrem typischen Verlauf durchaus berechenbar. Fassen wir zusammen : Peirce war der Meinung, dass die EG eine Analyse der Identität boten, während die zuvor von ihm selbst weiterentwickelte symbolische Logik diese unanalysiert voraussetzen muss. Dies geschieht über eine kontinuierliche Weitergabe der Identität auf der Identitätslinie. Aus unserer Sicht bedeutet das einen großen Schritt in Richtung „kognitive Realität“. Zwar ist es durch die in der Einleitung erläuterten Ergebnisse keineswegs ausgeschlossen, dass das Gehirn Inhalte symbolisch repräsentiert; doch die Tatsache, dass es nicht-algorithmisch arbeitet, schließt eine Funktionsweise auf rein symbolischer Basis aus. Logik und Freiheit 235 Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass analoge Prozesse in unserem Denken eine Rolle spielen. 3.4 Logisches Schließen In diesem Abschnitt soll die Möglichkeit zum logischen Schließen innerhalb der EG erläutert werden. Dabei wird uns nicht nur die Funktionsweise der Schlussregeln interessieren; wir werden vor allem sehen, dass mit ihrer Hilfe größere analytische Genauigkeit bei starker Vereinfachung des Schließens gegenüber konventioneller symbolischer Logik gegeben ist. Für unseren Gesichtspunkt des Vergleichs der kognitiven Realität der graphischen und der symbolischen Logik spielt es vor allem eine Rolle, dass ein kompliziertes „Neuschreiben“ bei den EG unnötig ist: Logisches Schließen wird zu einem Prozess der Umwandlung eines Graphen. Dies verwandelt den Schlussprozess in einen zeitlichen Ablauf (vgl. die Beispiele in Abschnitt 3.4.2); Peirce spricht von „Moving pictures of thought“. 67 Man vergleiche dies mit der konventionellen Methode zur Darstellung logischer Schlüsse, bei der die Stadien des Schlusses in tabellarischer Form aufgeschrieben werden. Da immer wieder auf frühere Stadien zurückgegriffen werden muss, ist eine Speicherung des ganzen Beweisprozesses notwendig. Dagegen erlauben es die Schlussregeln der EG, einfach so lange an einer Proposition ‚herumzuspielen‘, bis man das gewünschte Ergebnis hat. Auch hier zeichnet sich also ein Vorteil bezüglich der kognitiven Realität ab (vgl. Abschnitt 3.4.3). 3.4.1 Inferenzregeln Wie jede formale Logik besitzen auch die Existenzgraphen Schluss- oder Inferenzregeln, von Peirce „Permissions“ genannt. Sie sind erstaunlich einfach und übersichtlich. Dennoch haben sie gegenüber den Inferenzregeln der Prädikatenlogik verblüffende Vorteile. Dazu gehört die schnellere Ableitbarkeit; so ist die Ableitung des Leibnizschen Praeclarum Theorema in nur 7 Schritten möglich. 68 Neben diesem eher technischen Vorteil besitzen sie jedoch auch eine größere analytische Genauigkeit, wie ein Vergleich mit der Fregeschen „Begriffsschrift“ zeigt (Abschnitt 3.4.2). Peirce formuliert die folgenden Regeln: 1st Permission. Any graph-instance on an unshaded area may be erased; and on a shaded area that already exists, any graph-instance may be inserted. This includes the right to cut any line of identity on an unshaded area, and to prolong one or join two on a shaded area. (The shading itself must not be erased of course, because it is not a graph-instance.) 2nd Permission. Any graph-instance may be iterated (i.e. duplicated) in the same area or in any area enclosed within that, provided the new lines of identity so introduced have identically the same connexions they had before the iteration. And if any graph-instance is already duplicated in the same area or in two areas one of which is included (whether immediately or not) within the other, their connexions being identical, then the inner of the instances (or either of them if they are in the same area) may be erased. This is called the Rule of Iteration and Deiteration. 3rd Permission. Any ring-shaped area which is entirely vacant may be suppressed by extending the areas within and without it so that they form one. And a vacant ring shaped 236 Martin Siefkes area may be created in any area by shading or by obliterating shading so as to separate two parts of any area by the new ring-shaped area. 69 Die drei grundlegende Werke zu den Existenzgraphen von Don D. Roberts, 70 Sun-Joo Shin 71 und Jay Zeman 72 untergliedern die „Permissions“, um sie übersichtlicher zu machen; sie kommen dabei jedoch auf eine unterschiedliche Anzahl von Regeln. Für den vorliegenden Zweck können wir es jedoch bei der Wiedergabe der Peirceschen Formulierung belassen. 3.4.2 Die analytische Genauigkeit der Inferenzregeln Die analytische Genauigkeit ist für Peirce ein wichtiges Kriterium für die Qualität einer Logik. Wer das nicht beachtet, könnte zu der Überzeugung kommen, dass die Geschwindigkeit eines Beweises die Hauptsache ist: „Namely he would suppose the object was to reach the conclusion from given premises with the utmost facility and speed, while the real purpose is to dissect the reasoning into the greatest possible number of distinct steps and so to force attention to every requisite of the reasoning.“ 73 Die Existenzgraphen ermöglichen tatsächlich überraschend schnelle Beweise. Zu Recht weist Peirce jedoch darauf hin, dass ein wichtigeres Kriterium die analytische Genauigkeit der Darstellung ist (die natürlich nicht mit Umständlichkeit verwechselt werden darf); doch auch hier sind die EG anderen logischen Systemen überlegen. Sowa zeigt dies anhand der beiden Inferenzregeln aus Freges „Begriffsschrift“, deren Herleitung aus den Inferenzregeln der EG er demonstriert; 74 die Möglichkeit dieser Herleitung beweist die größere analytische Genauigkeit der EG. Die erste Inferenzregel ist der modus ponens , der voraussetzt, dass ein beliebiger Satz p und die Implikation p ⊃ q gegeben sind: Sowa orientiert sich an den Nummern für die Inferenzregeln von Peirce selbst, unterteilt diese aber in 1i, 2i, 3i und 1e, 2e, 3e. „i“ steht für „insertion“ und bezeichnet die jeweilige Unterregel zur Einfügung, „e“ für „erasure“ die Unterregel zur Löschung. Mittels 2e wird zunächst das innere Auftreten von p gelöscht. 1e ermöglicht auch die Löschung des äußeren p, das wir jetzt nicht mehr brauchen. Schließlich wird durch 3e die leere schattierte Fläche (doppelte Verneinung) gelöscht. Die andere Inferenzregel ist die Allquantor-Beseitigung. Sie ermöglicht die Einsetzung eines Terms t für eine universell quantifizierte Variable in einem Satz der Form ( ∀ x)P(x). Der Term t wird in EG durch den Graph —t ausgedrückt. Der Allquantor wird als eine Linie dargestellt, deren äußerer Teil sich in einer schattierten Fläche befindet: Logik und Freiheit 237 Im ersten Schritt wird durch 2i eine Wiederholung der äußeren Identitätslinie in der schattierten Fläche erzeugt. Da auch diese Wiederholung mit t verbunden sein muss, entsteht eine Verlängerung der Linie. 1i fügt eine Verbindung zwischen den beiden Identitätslinien im schattierten Bereich ein. 3e ermöglicht nun die Löschung der doppelten Verneinung. 3.4.3 Transformation statt Iteration: Die kognitive Realität rückt näher Der letzte Abschnitt hat einen wichtigen Unterschied zwischen den EG und der traditionellen symbolischen Notation deutlich gemacht: In den EG transformiert man zur Durchführung eines Beweises einen einzelnen Graph, indem man etwas dazutut (dazuschreibt) oder wegnimmt (löscht), während man in der traditionellen Notation viele Beweisschritte nacheinander schreiben muss. Dies ist beim gewöhnlichen Umgang mit einer Logik kein großer Vorteil, zum einen, weil man beim Durchführen eines Beweises nicht mit Bleistift und Radiergummi hantieren will, zum anderen, weil man Beweise nachvollziehbar machen möchte und dann eben doch neu schreiben muss, wie die obigen Beispiele zeigen. Für die Frage der kognitiven Repräsentation dagegen ist es eine faszinierende Eigenschaft. Aus mnemotechnischen Untersuchungen ist bekannt, dass das Gehirn nur wenige Elemente gleichzeitig zur sofortigen Verfügung halten kann; so kann man zwar große Mengen von Informationen im Langzeitgedächtnis speichern, versucht man aber nur drei Informationen im Kurzzeitgedächtnis zu behalten und nimmt dann noch eine vierte hinzu, ist das Risiko groß, dass eine von ihnen verloren geht. Diese Tatsache spricht dagegen, dass ein klassisches Beweisschema mit seinen vielen Wiederholungen und der Notwendigkeit, sich immer wieder auf frühere Schritte zurückzubeziehen, kognitive Realität beanspruchen kann. - So denken wir ganz sicher nicht! 4. Fazit: Ein semiotisches Modell des Denkens Die Wiederentdeckung der Semiotik und ihre Neubegründung als moderne interdisziplinäre Grundlagenwissenschaft, an der Peirce entscheidenden Anteil hatte, hat eine zentrale Erkenntnis gebracht: Allen Denkprozessen liegen Zeichen zugrunde. Ohne Zeichengebrauch ist keine Repräsentation der Wirklichkeit im Gehirn denkbar; eine solche Repräsentation bildet die Voraussetzung für eine sinnvolle Interaktion von Lebewesen mit der Welt. Diese Erkenntnis eröffnet die Möglichkeit, ein Modell zu entwerfen, dass den Aufbau der Zeichen im Gehirn und ihre Interaktion sowie den Aufbau von komplexen Zeichengebilden („Propositionen“) und deren Interaktion auf systematische Art beschreibt. Ein solches Modell darf mit Recht ein „Modell des Denkens“ genannt werden. In dieser Arbeit wurden Grundüberlegungen für ein semiotisches Modell des Denkens im Anschluss an C.S. Peirce vorgestellt, das nicht nur symbolische, sondern auch analoge 238 Martin Siefkes (ikonische) Repräsentationsweisen berücksichtigt. Es wurde davon ausgegangen, dass ein solches Modell ein Reservoir an verschiedenen Zeichen zur Verfügung stellen sollte, die einerseits systematisch begründet sind und sich andererseits zu empirisch nachweisbaren Zeichenarten in Bezug setzen lassen. Beides leistet der Peircesche Zeichen-Dekalog in der Interpretation von Floyd Merrell; er stellt eine überzeugende Bandbreite von Gedankenzeichen („phanerons“) zur Verfügung. Doch wie kann man sich die Repräsentation dieser Zeichen im Gehirn vorstellen? Einen interessanten Ansatz bietet hier die graphische Logik von Peirce. Dabei zeigt sich, dass Peirce seine Kategorienlehre nicht zufällig als theoretische Grundlage von Logik, Semiotik und Epistemologie formuliert hatte. Mit ihrer Hilfe gelingt es, eine Verbindung zwischen dem Zeichen-Dekalog als Grundlage der Semiotik und der graphischen Logik von Peirce herzustellen. Dazu musste nachgewiesen werden, dass Erstheit, Zweitheit und Drittheit im Bereich der Semiotik tatsächlich genau so funktionieren wie im Bereich der graphischen Logik. Als schlüssiges Indiz dafür kann die Gültigkeit der Reduktionsthese in dem jeweiligen Bereich gelten, eines zentralen Postulats von Peirce bezüglich seiner Kategorienlehre, das zum einen die Nicht-Reduzierbarkeit genuiner Triaden, zum anderen die Reduzierbarkeit jeder höherwertigen Relation fordert. Dieses Ergebnis wird in den zitierten Arbeiten von Brunning von Burch für die Relationenlogik gewonnen; es ist jedoch auf die Beta-Existenzgraphen übertragbar, wo die Identitätslinien die Analyse der kategorialen Wertigkeit übernehmen. Zwar handelt es sich bei den Existenzgraphen um eine Logik, die mit der Aussagenlogik (Alpha-EG) bzw. mit der Prädikatenlogik (Beta-EG) äquivalent sind, doch besitzt sie darüber hinaus weitere Aspekte. So liefert sie eine Analyse der Identität und Kontinuität innerhalb der Propositionen, die sie darstellt. Sie fußt nicht nur auf Symbolen, sondern besitzt auch ikonische und indexikalische Eigenschaften. Damit zeigt sie semiotische Merkmale, die weit über klassische symbolische Logik und deren Funktionsweise hinausgehen. Im Hintergrund steht dabei die Krise des „Computationalismus“, der Idee, dass das menschliche Denken fundamental berechenbar ist; sie macht es nötig, für die Grundlagen unserer Denkprozesse nach Alternativen zu suchen. Aber welche Prozesse bieten überhaupt die Möglichkeit, der Berechenbarkeit zu entkommen - und damit der Gödel-Falle, in die jedes ‚Computerhirn‘ tappen muss, weil sie der Erkenntnisfähigkeit mittels formaler Systeme prinzipielle Grenzen setzt? Hier bietet sich das Prinzip der Analogität an. Jedes formale System beruht auf Symbolen. Das Gehirn dagegen verfügt in seinen Mechanismen, die auf einander beeinflussenden Synapsen basieren, über ein analoges Rechensystem. Die gegenseitige Beeinflussung von Synapsen und die Frage, ob eine bestimmte Synapse letztendlich feuert oder nicht, lässt sich zwar digital simulieren, aber eine solche Simulation bleibt immer nur eine Näherung. Doch kann die Analogität des Denkens tatsächlich einen Unterschied machen? Um das festzustellen, wurden die nicht-symbolischen Eigenschaften der „Existenzgraphen“ ausgiebig untersucht und es wurde festgestellt, dass sie für das menschliche Denken entscheidende Vorteile bieten könnten. Obwohl wir sicher nicht ‚in Existenzgraphen denken‘, bietet dieses System der graphischen Logik eine Reihe von faszinierenden Eigenschaften, die auf seiner nicht-symbolischen Repräsentationsweise basieren. Sie zeigen die Richtung an, in der wir bei der Bildung von leistungsfähigen semiotischen Modellen des Denkens zu gehen haben. Logik und Freiheit 239 5. Literatur Brunning, Jaqueline (1994), Peirce’ Unterscheidung zwischen genuinen und degenerierten Triaden. In: Pape 1994: 114-125. Brunning, Jaqueline (1997), „Genuine Triads and Teridentity“. In: Houser u.a. 1997: 252-263. Burch, Robert W. (1997), „Peirce’s Reduction Thesis“. In: Houser u.a. 1997: 234-251. DeLong, Howard (1970), A Profile of Mathematical Logic. London u.a.: Addison-Wesley. Houser, Nathan, Don D. Roberts und James Van Evra (Hg.) (1997), Studies in the Logic of C.S. Peirce. Bloomington u.a.: Indiana University Press. Kappner, Stefan (2004), Intentionalität aus semiotischer Sicht. Berlin: Walter de Gruyter. 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Kappner klärt auch die Grundlagen des Zeichen-Modells und seine Einordnung in die Peircesche Philosophie und Semiotik: ebd.: 105-122. 7 Kappner 2004: 134. 8 Vgl. Abschnitt 2.3, Zeichen 8: rhematisches Symbol. 9 Peirce 1931-1958, Bd. 1: 465. 10 Kappner 2004: 133. 11 Merrell 1998: 2ff. Eine weitere Darstellung des Dekalogs findet sich in Merrell 1997. 12 Savan 1988: 14. 13 Merrell 1995: 97. 14 Ebenso gibt mir die blaue Farbe z.B. auf einem nicht-gegenständlichen Bild viele Möglichkeiten der Assoziation, und die blaue Farbe in einem Farbkasten zahllose Möglichkeiten ihrer Verwendung. 15 Als konkrete Beispiele lassen sich hier ein Algorithmus nennen, dessen Programmiersprache ich kenne, aber dessen Funktion nicht dokumentiert ist, oder Searles „Chinese Room“-Gedankenexperiment, in welchem der Zeichenbenutzer die Regeln kennt, aber nicht ihre Bedeutung. 16 Putnam 1981: 217f. Zur Auswirkung auf die modelltheoretische Semantik siehe Lakoff 1987: Kap. 15. 17 Vgl. die Einleitung. 18 Die Frage, auf welche Art neuronale Prozesse nicht-algorithmisch modelliert werden können, kann hier aufgrund ihrer Komplexität nicht erläutert werden, man vergleiche die Darstellung des Problems und die vorgeschlagene Lösung in Penrose 1989 und 1994. Sie braucht uns auch nicht zu beschäftigen, da jedes nicht-mentalistische Modell einer Zeichenrepräsentation im Gehirn natürlich auf einer grundlegenden Ebene neuronale Prozesse annehmen wird und sich daher dieser Frage stellen muss. Wichtig ist für den Versuch, ein tragfähiges Modell des Denkens zu finden, dass wir nicht schon auf einer höheren Ebene „in die algorithmische Falle“ tappen, wie es z.B. bei der Annahme eines Formalismus zur Darstellung von Denkprozessen geschehen würde. Um erklären zu können, wie Denken funktioniert, müssen wir erklären können, wie die Repräsentation von Zeichen möglich ist, und wie sich aus diesen Zeichen größere Zusammenhänge (Propositionen, Sätze und Argumente) ergeben. Einen ersten Ansatz dazu soll diese Arbeit liefern. Dass ein solches Modell des Denkens wiederum neuronal repräsentiert sein muss, ist sofort einsichtig; wir haben es also mit zwei verschiedenen Ebenen der Repräsentation zu tun, die sorgfältig getrennt werden müssen. 19 Zeman 2002. 20 Roberts 1973. 21 Sowa 2003. Diese nützliche Arbeit wird in der Folge wiederholt zitiert werden. Sie zeigt insbesondere auch die ikonischen Eigenschaften der EG auf. 22 Roberts 1973: 123ff. 23 Peirce, Charles Sanders (1976), New Elements of Mathematics. Hg. von Carolyn Eisele. 4 Bde. Den Haag: Mouton. Bd. 4: 47f. 24 Zitiert nach: Sowa 2003. 25 Peirce schreibt dazu an anderer Stelle: „A great distinguishing property of the icon is that by the direct observation of it other truths concerning its object can be discovered than those which suffice to determine its construction“ (Peirce 1931-1958: 2.279; vgl. MS 650). 26 Die folgende Darstellung orientiert sich an Sowa 2003, dem auch die Zitate aus MS 514 und die Graphiken entstammen. 27 MS 514: 11. 28 Ich folge Sowa in dieser Benennung der häufig „Peano-Russell-“ genannten Standardnotation der Prädikatenlogik, die aber von Russell nur adaptiert wurde (vgl. Sowa 2003). 29 Peirce benutzte die Symbole Σ (Sigma für „(logische) Summe“) und Π (Pi für „(logisches) Produkt“), da die Quantoren als Kurznotation für logische Summe bzw. logisches Produkt über alle für eine bestimmte Variable einsetzbaren Terme verstanden werden können. Ich werde jedoch die heute gebräuchlicheren Symbole ∃ und ∀ verwenden. 30 MS 514: 11. 31 MS 514: 11. 32 MS 514: 11. Logik und Freiheit 241 33 Sowa 2003: Kommentar zu MS 514: 11. 34 Dies ist aus dem Zeichen ⊃ nicht zu erkennen, was vielleicht dazu beiträgt, dass Logik-Anfänger manchmal p ⊃ q irrtümlich als p ⇔ q interpretieren. Dass ~(p ∧ ~q) tatsächlich mehr Information über die Relationen zwischen den Teilen der Aussage enthält, also ikonischer ist, zeigt sich daran, dass es im Fall solcher Missverständnisse zur Erklärung benutzt werden kann. 35 Diese kann als Grundregel eingeführt werden, so dass sie automatisiert wird und als kognitiver Aufwand nicht ins Gewicht fällt, während das Symbol ∧ in ~(p ∧ ~q) natürlich gelesen werden muss. 36 Roberts 1973: 125. 37 Die Darstellung folgt Sowa 2003. 38 Diese Übersetzung betont die Tatsache, dass die Identität der beiden Individuen, die durch Identitätslinien auf einer weißen Fläche existentiell quantifiziert sind, negiert wird. Roberts gibt dagegen die Übersetzung: „There are two objects such that no third object is identical to both.“ (Roberts 1973: 53.) Diese Übersetzung betont die Tatsache, dass die Identitätslinie durch zweimaliges Überschreiten des „cut“ in drei Teile aufgeteilt wird, also drei Individuen bezeichnet, deren Relation zueinander dahingehend spezifiziert ist, dass das mittlere Individuum, das mit beiden anderen verbunden (also identisch mit ihnen) ist, nicht existiert: Es befindet sich in der schattierten (d.h. verneinten) Fläche. Dies entspricht der Formel: ( ∃ x)( ∃ y)~( ∃ z)(x=z ∧ y=z) 39 Der Begriff „Untergraph“ (‚subgraph‘) wird in der graphischen Logik in Entsprechung zu „Unterformel“ (‚subformula‘) in der symbolischen Logik gebraucht. 40 Sowa 1997. 41 Vertreter der KI-Forschung, aber auch Logiker vergessen bisweilen, dass ohne Einsatz der natürlichen Sprache noch kein Algorithmus erstellt und kein formales logisches System entwickelt wurde. 42 Brunning 1994: 114. 43 MS 514: 13. 44 Sowa 2003: Kommentar zu MS 514: 13. 45 Brunning 1997. Graphik: 256. (Die in diesem Abschnitt gezeigten Graphiken sind den zitierten Artikeln entnommen.) 46 Brunning 1997: 260f. Graphik: 260. 47 Das Beispiel zeigt, dass höherwertige Relationen auf eine zunehmende Anzahl von Teridentitäten reduziert werden. 48 Burch 1997. 49 Burch 1997: 250. Graphiken: 250 und 251. 50 R, I, P sind dyadische Relationen, deren Benennungen aus dem obenstehenden Beispiel von Peirce stammen und für „removing“ (‚entfernen‘), „impoverishing“ (‚bestehlen‘) und „performed by“ (‚ausgeführt von‘) stehen. Entscheidend ist, dass zur Verbindung dieser drei Relationen die Variable u eingeführt werden muss, die durch das Prädikat D („Diebstahl“) gekennzeichnet wird und mit dem ersten Korrelat der drei Relationen R, I, P identifiziert wird. Die Relationen werden dadurch zu „Diebstahl von x“, „Diebstahl an y“, „Diebstahl durch z“. 51 Man könnte sogar mit gewissem Recht behaupten, dass eine verzweigte Linie, also eine mit Teridentität, mehr ikonische Aspekte zeigt als eine unverzweigte. 52 Vgl. zu diesem Punkt Abschnitt 2.4, Fußnote 18. 53 Zeman 2002: Introduction, Abschnitt „The Continuity Interpretation“. 54 ebd. 55 Dies lässt sich nur dann vermeiden, wenn man bei einem Darstellungssystem genau weiß, was akzidentiell und was bedeutungsunterscheidend ist (wie wir bei einem Buchstaben wissen, was Merkmale der Schrift sind - z.B. die Serifen - und was bedeutungsunterscheidend ist - z.B. der Haken, der ein i von einem j unterscheidet). Doch solche Merkmale können sich ändern; z.B. kann die Veränderung der Schriftart, die bei einer wissenschaftlichen Arbeit irrelevant wäre, in einem fiktionalen Text oder bei einer Handschriftenprobe bedeutungsunterscheidend sein. Eines der Merkmale des kreativen Denkens besteht darin, dass es die Festlegung, welche Merkmale akzidentiell und welche für die Bedeutung relevant sind, ändern kann. 242 Martin Siefkes 56 Zitiert nach: Sowa 2003. 57 Die Formel für fig. 7 lautet: ( ∀ x)(man(x) ⊃ sterbenmüssen(x)) Wäre die Identitätslinie auf der schattierten Fläche unterbrochen, bedeutete fig. 7: „Wenn es einen Menschen gibt, dann muss alles sterben.“ ( ∀ x)( ∀ y)(man(x) ⊃ sterbenmüssen(y)) Wäre die Linie auf der weißen Fläche unterbrochen, bedeutete fig. 7: „Wenn es einen Menschen gibt, dann gibt es (irgend) etwas, das sterben muss.“ ( ∀ x)( ∃ y)(man(x) ⊃ sterbenmüssen(y)) 58 Die Analyse der Identität besteht darin, dass jeder Diskontinuität auf der Assertionsfläche eine Diskontinuität im Diskursuniversum entspricht (Zeman 2002: Introduction, Abschnitt „The Continuity Interpretation“). 59 In der Mathematik wird der Begriff „kontinuierlich“ gleichbedeutend mit „stetig“ gebraucht. Für reelle Funktionen (das sind Funktionen, bei denen der Definitionsbereich X und der Zielbereich Y Teilmengen der reellen Zahlen sind) gilt die folgende Definition: 60 Peirce 1931-1958: 4.512. Siehe Zeman 2002 (Introduction, Abschnitt „The Continuity Interpretation“) für Erläuterungen und weitere Peirce-Zitate zur Kontinuität der Assertionsfläche. 61 Eine zusätzliche Dimension ist, streng genommen, notwendig, um zwischen Abzweigungen einer Identitätslinie und Überkreuzungen verschiedener Identitätslinien zu unterscheiden. (Das gilt ebenso für die normale Assertionsfläche.) 62 Zeman 2002: Introduction, Abschnitt „The Continuity Interpretation“. 63 Roberts 1973: 113. 64 CP 4.582. Dabei darf aber nicht außer acht gelassen werden, dass Peirce nicht nur Deduktion, sondern auch Abduktion und Induktion als logische Prozesse ansah. Der Deduktion entsprechen in einer Logik die Inferenzregeln (vgl. Abschnitt 3.4); Induktion und Abduktion dagegen lassen sich nicht formalisieren. Peirce wurde damit zum Begründer einer tychistischen Logik, d.h. einer Logik der Kreativität. Vgl. dazu: Ana H. Maróstica, Tychistische Logik. In: Pape 1994: 126-143, sowie Helmut Pape, A Nonmonotonic Approach to Tychist Logic. In: Houser u.a. 1997: 535-559. 65 Im Unterschied dazu postuliert Penrose eine „neue Physik“, die Quantenphysik und konventionelle ‚Makrolevel‘-Physik (Relativitätstheorie) vereinigt und das an ihrer Schnittstelle stehende Phänomen der „Dekohärenz“ mit bislang noch unbekannten Gesetzen als nicht-deterministischen Prozess erklärt. Dies ist ein faszinierender Gedanke, doch die Analogität ist ein einfacherer Ausweg aus der „Gödel-Falle“. 66 Analogität ist auch notwendige Bedingung von Ikonizität und damit Voraussetzung für die wichtigste zusätzliche Eigenschaft der EG gegenüber der PPN. Der Zusammenhang kann hier nicht erläutert werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass eine nicht-analoge, aber scheinbar ikonische Logik in Wirklichkeit versteckt symbolisch sein wird, wie es z.B. der Fall wäre, wenn die Identitätslinien beim Versuch einer kontinuierlichen Interpretation, wie er oben dargestellt ist, Widersprüche zeigen würden. 67 Peirce 1931-58: Bd. 4, § 8. Auch MS 298: 1 und MS 296: 6. (Zitiert nach: Pietarinen 2003: 2.) 68 Vgl. Sowa 2003. 69 Peirce, MS 514: 17f. (zitiert nach: Sowa 2003) 70 Roberts 1973. 71 Shin 2002. 72 Zeman 2002 (erstmals veröffentlicht 1964). 73 MS 514: 21. Zitiert nach: Sowa 2003. 74 Die Darstellung in diesem Abschnitt folgt Sowa 2003. Die Grenzen der Ikonizität der Sprache: Saussures Konzeption des “fait linguistique” revisited Klaas Willems (Gent) “Parler d’idées générales avant d’avoir fait de la linguistique, c’est mettre la charrue devant les bœufs, mais il le faut bien! ” Ferdinand de Saussure, CLG-E (Engler), 248, Sp. B. The limits of iconicity in language: Saussure’s ‘fait linguistique’ revisited. In the Cours de linguistique générale, Saussure’s exposition of the “fait linguistique” is among the hallmarks of his much acclaimed as well as criticized theory of language and linguistics. This paper sheds new light on this extraordinary part of the Cours by comparing the texts and diagrams to be found in the edition by Bally, Sechehaye and Riedlinger (1916) with the critical edition by Engler (1968 and 1974), a number of relevant excerpts from additional student notes as well as Saussure’s recently published Écrits de linguistique générale (2001). It is argued that the long-established interpretation of Saussure’s exposition of the “fait linguistique” is seriously biased by what the editors of the “Vulgate” concocted from the available sources. However, a close reading of the notes taken by Saussure’s original students and by Saussure himself not only shows how much the common interpretation of Saussure’s concept of the linguistic sign is in need of thorough revision, it also reveals a radical yet highly coherent theory of semiosis which can be considered of great theoretical importance to the theory of iconicity in language even today. 1. Einführung 1.1 Spätestens seit den kritischen Würdigungen von F. de Saussures Cours de linguistique générale (CLG) durch Vertreter der Prager Schule in den 20er Jahren des 20. Jh.s (cf. Wunderli 1981a, 121ff.) sowie der halbherzigen Rezeption des CLG in der englischsprachigen Linguistik (cf. neuerdings Falk 2005) ist das Verhältnis der modernen Linguistik zu Saussure, gelinde gesagt, ambivalent. Einerseits wird Saussure pauschal als Gründervater des Strukturalismus und damit der modernen Linguistik überhaupt bezeichnet, und seit den 60er und 70er Jahren war manch einer nicht nur bestrebt, nachzuweisen, dass das wahre Denken von Ferdinand de Saussure nicht mit der publizierten Fassung des CLG - der “Vulgata” - identifiziert werden dürfe, sondern ebenso wenig mit der gelegentlich simplifizierenden Darstellung zu verwechseln sei, die es in vielen Handbüchern und Beiträgen über das KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 244 Klaas Willems sprachwissenschaftliche Œuvre des Genfer Meisters gibt. Bahnbrechende Verdienste kommen in dieser Hinsicht, aus zum Teil unterschiedlichen Gründen, Autoren wie R. Godel, R. Engler, T. De Mauro, P. Wunderli, L. Jäger, E. Coseriu, R. Amacker, E.F.K. Koerner, T. Scheerer, J.E. Joseph und S. Bouquet zu. Allerdings sagt es etwas über das problematische Verhältnis der modernen Linguistik zu Saussure aus, dass Wunderlis Aufsatzsammlung Saussure-Studien (1981a) nach wie vor zu den ganz wenigen Versuchen gehört, das Werk von Saussure nicht nur wissenschaftsgeschichtlich einzuordnen, sondern - wie Godel (1957) - auch exegetisch, und ohne die Oberflächlichkeiten, die rein historiographischen oder metatheoretischen Darstellungen gelegentlich anhaftet, zu erklären und zu deuten. Andererseits sind viele Linguisten heute der Überzeugung, die Entwicklungen der Linguistik nach Saussure hätten gezeigt, dass seine Sprachtheorie mangelhaft, einseitig oder zu radikal sei. R. Jakobson z.B., den man - trotz der vielen verschiedenartigen Einflüsse, die er in seine Sprachwissenschaft zu integrieren versucht hat - mit Fug und Recht einen Strukturalisten nennen kann, ging ab den 20er Jahren mit dem, was wir heute in der Saussure- Forschung unter “la double essence du langage” verstehen, ins Gericht. (Knappe kritische Würdigungen von Saussures Sprachtheorie und Theorie der Sprachwissenschaft finden sich u.a. in den beiden “Retrospects”, die 1962 und 1971 in den beiden ersten Bänden von Jakobsons Selected Writings erschienen sind.) Jakobson wies darauf hin, dass natürliche Sprache nicht einfach ein lineares Gebilde sei, wie Saussure es wahrhaben mochte, Phoneme bildeten vielmehr Bündel von Merkmalen, die im Sprechen gleichzeitig realisiert würden. Auch sei Sprache nicht arbiträr in dem Sinne, wie Saussure sich das gedacht habe, im Gegenteil weise sie allerhand Formen von Ikonizität auf (1971, 717; s. auch Jakobson 1971 [1959], 272-273). 1 Dabei ging Jakobson so weit, zu behaupten, dass die Wörter für Mama und Papa (sog. “nursery words”) in den meisten uns bekannten Sprachen keine zufällige Lautstruktur besäßen (Jakobson 1962 [1960], 538-545), womit Saussures Theorie der Arbitrarität und Konventionalität sprachlicher Zeichen der Gnadenstoß verpasst schien. Nicht nur entsprechen Mama und Papa und ihre Äquivalente in anderen Sprachen, so Jakobson, einer Reduplikation der auch ontogenetisch primitiven Konsonant-Vokal-Struktur, wobei / m/ und / p/ bilabiale Verschlusslaute sind, die Kinder ganz zu Anfang erwerben sollen (Jakobson 1962 [1941], §13), darüber hinaus stimme der bilabiale nasale Laut / m/ mit dem Geräusch überein, das ein Säugling produziere, wenn es an der Mutterbrust gestillt werde, wodurch orales / p/ sogleich - wahrhaft die ursprünglichste aller lautlichen Oppositionen - zur Bezeichnung des Vaters vorherbestimmt sei (1962 [1960], 542-543). Auch Saussures Dichotomie zwischen Synchronie und Diachronie findet in Jakobsons Augen keine Gnade und er setzt dieser Dichotomie das Konzept einer “dynamic synchrony” (1971, 721; s. auch Jakobson 1971 [1959], 275) entgegen, in dem Synchronie und Diachronie synthetisch aufgehoben erscheinen - damit eine Kritik an der Saussure’schen Synchronie/ Diachronie- Dichotomie weiterführend, die bereits einige Jahre nach dem Erscheinen des CLG formuliert wurde, zunächst von H. Schuchardt (1917), danach von W. von Wartburg (1931 u.ö.) und vielen anderen (s. Wunderli 1981a, 128ff.). Andere Autoren, die an der Entwicklung des Strukturalismus in der Sprachwissenschaft maßgeblich beteiligt waren, kritisierten Saussure noch in anderen Hinsichten. So etwa bezeichnete Hjelmslev (1943, 46; 1963, 50) Saussures Darlegungen über die Sprache als Vermittlerin zwischen den beiden unbestimmten Kontinua der Gedanken und der Laute als bestenfalls ein “pädagogisches Gedankenexperiment”, das bei Lichte besehen dennoch sinnlos Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 245 sei. Hjelmslev kam auch zum Schluss, dass Saussures Dichotomie zwischen langue und parole dualistisch und empirisch inadäquat sei und er setzte ihr eine differenziertere Einteilung in System, Norm, Usus (die nach ihm zusammen die langue bilden) und parole entgegen (Hjelmslev 1971 [1943], 80ff.; vgl. Hjelmslev 1928, 238ff.). Diese Einteilung findet sich später, mutatis mutandis, teilweise in Coserius Trichotomie langue - norme - parole wieder (Coseriu 1952). Bemerkenswert ist, dass auch nach der strukturalistischen Ära Linguisten es in der neueren Sprachwissenschaft immer wieder für sinnvoll und nötig gehalten haben, sich Saussure gegenüber zu profilieren, so etwa die kognitive Linguistik, die u.a. Saussures Unterscheidung zwischen der sprachsystematischen “valeur” eines Zeichens und dessen Weltbezug im konkreten Sprechen ablehnt und darüber hinaus allgemeine vorsprachliche kognitive Strukturierungen postuliert, die in der Sprache lediglich reflektiert würden (cf. Taylor 2002, 43 u. 55); oder die integrationelle Linguistik Harris’scher Prägung, in der Saussure geradezu als Übervater des verderblichen Segregationismus zwischen langue und parole in der modernen Linguistik gilt, weil er einer Konzeption von Sprache als autonomem “Code” das Wort geredet haben soll (Harris 1998, 21). Nicht immer freilich erscheint die Kritik an Saussure gut fundiert, aber sie beweist auf jeden Fall, dass Saussure nach wie vor für wichtig genug gehalten wird, sich mit ihm auseinanderzusetzen und sich ggf. von ihm zu distanzieren. Vor diesem Hintergrund ist es besonders erfreulich, dass in jüngster Zeit eine Reihe von Monographien und Sammelwerken erschienen sind, die nicht nur das erneute Interesse an Saussure auf beredte Weise belegen, sondern das Saussure’sche Denken auch aus zum Teil neuen Blickwinkeln beleuchten (s. u.a. Fehr 1997, Bouquet 1997, Normand 2000, Bouquet [Hg.] 2003 und Sanders [Hg.] 2005). Aufwind hat die zeitgenössische Beschäftigung mit Saussure darüber hinaus seit der Publikation eines 1996 aufgefundenen Manuskripts und einiger weiterer Notizen bekommen, die 2002 von M. Bouquet und R. Engler unter dem Titel Écrits de linguistique générale (ELG) veröffentlicht wurden (Saussure 2002). Allerdings weist Trabant (2005) zu Recht darauf hin, dass jegliche “Saussure-Etymologie” letztlich nur vor dem Hintergrund der publizierten Fassung des CLG sinnvoll ist - “Saussure est un texte” (Trabant 2005, 114). 1.2 Mit dem vorliegenden Aufsatz möchte ich in eben diesem Sinne einen Beitrag zu einem Thema beisteuern, dem man bisher verhältnismäßig wenig Beachtung geschenkt hat, obwohl es ein zentrales Thema nicht nur der Saussure’schen Sprachtheorie, sondern auch seiner Theorie der Sprachwissenschaft darstellt, zu dessen Klärung und richtigem Verständnis ein sorgfältiger Vergleich der Vulgatafassung des CLG mit den Quellen erforderlich ist. Es handelt sich um die Darlegungen zum sog. “fait linguistique” (CLG-BSR 156, CLG-E 252, Troisième Cours 137-143) 2 , die Saussure in der letzten Vorlesung des dritten Cours am 4. Juli 1911 vorgetragen hat. 3 Die zwar berühmte, jedoch relativ selten eingehend kommentierte Stelle stellt Saussures Versuch dar, zu erläutern, was die eigentümliche Funktion der Sprache hinsichtlich der Gedanken (fr. “idées”) einerseits und der Laute (fr. “sons”) andererseits ist. Die Darlegungen werden von einer schematischen Darstellung begleitet, die auf den ersten Blick vielleicht einfach anmutet, in Wahrheit aber manches Rätsel aufgibt, zumal in der Form, wie sie in der Vulgata abgedruckt ist. Ich nehme dieses bekannte und vielfach reproduzierte Schema im vorliegenden Beitrag zum Anlass einer kritischen Lektüre des erwähnten Passus in der Vulgata und den Quellen. Zunächst werde ich nachweisen, dass sich das Schema in der Vulgata in einigen wichtigen Punkten von der Darstellung unterscheidet, die uns die 246 Klaas Willems historisch-kritische Ausgabe des CLG von Engler aufgrund der Studentenskripte bietet (§ 2). Danach werde ich aufgrund der Studentenskripte und Saussures eigenen Notizen argumentieren, dass ein Vergleich der Schemata nicht nur aufschlussreich, sondern letztlich unabdingbar ist für ein richtiges Verständnis des Saussure’schen Gedankenganges, der in der Vulgata verschüttet erscheint (§ 3). Ich werde bestrebt sein, zu zeigen, dass die Herausgeber der Vulgata Saussures durchaus radikalen Standpunkt an verschiedenen Stellen abgeschwächt, an anderen geradezu entstellt haben, mit dem Ergebnis, dass die Erläuterungen zum sog. “fait linguistique” in der Vulgata insgesamt nicht als kohärent gelten können. 4 Aufgrund der Quellen lässt sich dagegen eine kohärente Theorie des “fait linguistique” rekonstruieren, die auch 100 Jahre nach den Vorlesungen des Genfer Meisters durch ihre Stringenz und ihren Tiefsinn besticht. Abschließend stelle ich die Frage, was der rekonstruierte Gedankengang von Saussure für unsere heutige Sicht auf ikonische Sprachzeichen, insbesondere Lautmalereien, auf die Saussure im untersuchten Passus explizit hinweist, noch bedeuten kann (§ 4). 2. Ein Vergleich der Vulgata mit den Quellen 2.1 Die Darstellung, der ich mich im Folgenden eingehender widmen möchte, findet sich im CLG unter dem Abschnitt, den die Herausgeber mit dem Titel “La langue comme pensée organisée dans la matière phonique” überschrieben haben; es handelt sich um den ersten Abschnitt des 4. Kapitels, “La valeur linguistique” (CLG-BSR 155). Der Titel des ersten Abschnitts, “La langue comme pensée organisée dans la matière phonique”, stammt von den Herausgebern und weist bereits auf eine Redaktion des gesamten Kapitels hin, die im Hinblick auf die Quellen, wie sich herausstellen wird, problematisch ist (vgl. De Mauro 1995 [1967], N. 204 und N. 206 sowie 111). 5 Im genannten Abschnitt thematisiert Saussure das Verhältnis der Sprache zu den “idées” und den “sons”. Der Abschnitt ist nicht nur ein Herzstück der neuartigen Zeichentheorie, die Saussure entwickelt, es ist - trotz des Titels der Herausgeber - unübersehbar, dass Saussure darin zugleich nachzuweisen versucht, warum eine naheliegende Ansicht über die Sprache nicht haltbar ist. Gemeint ist die Ansicht, dass die Sprache ein Mittel sei, Gedanken eine lautliche, materielle Form zu verleihen - eine Überzeugung, die nicht nur mit einem gewissen Common Sense vereinbar sein dürfte, sondern darüber hinaus spätestens seit der (von Saussure bekanntlich verpönten) rationalistischen Sprachtheorie von Port-Royal in der Geschichte der Sprachwissenschaft Tradition hat. Ebenso unhaltbar wäre es natürlich, Sprache als ein Mittel zu betrachten, Lautgebilde mit Gedanken zu versehen. Statt dessen erklärt Saussure, dass die Sprache eine “Vermittlerin” zwischen jenen beiden Bereichen sei, ihre Rolle sei “de servir d’intermédiaire entre la pensée et le son” (CLG-BSR 156; vgl. CLG-E 253). Interessanterweise besteht zu diesem neuartigen Gesichtspunkt auch eine schematische Darstellung. Im veröffentlichten CLG gibt es relativ wenig schematische Darstellungen, weshalb es angebracht ist, bei jeder zu verweilen, sie in den Quellen zu tracieren und ihrem vollständigen Sinn sorgfältig nachzuspüren. In CLG-BSR (156) entspricht dem Gesagten folgende Darstellung: Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 247 Schema 1 (Vulgata) Dabei steht A für das noch nicht abgegrenzte, vorsprachliche Kontinuum der Gedanken (“idées confuses”) und B für den ebenfalls konfusen (“non moins indéterminé”) Bereich der Laute. Für diese schematische Darstellung findet man in den Studentenskripten keine unmittelbare Entsprechung. Statt dessen finden sich darin die beiden folgenden Schemata, von denen man annehmen darf, dass sie eher dem entsprechen, was Saussure selbst an die Tafel gezeichnet hat: Schema 2 (Engler) Schema 3 (Engler) Schema 2 findet sich formidentisch zweimal in Englers Ausgabe des CLG (CLG-E 252, Sp. B und E), Schema 3 dagegen nur einmal (Sp. C). Der Eintrag “masse informe” in der letzten Darstellung ist ebenfalls Englers Ausgabe entnommen. 6 2.2 Man kann in den Darstellungen in der Vulgata und der historisch-kritischen Ausgabe des CLG vier auffallende Unterschiede erkennen: 248 Klaas Willems (1) Der Bereich der “idées” und derjenige der “sons”, worauf in CLG-BSR u.a. mit dem Begriff “plan”, laut Studentenskripten aber auch mit “royaume” verwiesen wird (s. auch Troisième Cours 138), werden nur in der Vulgata “plastisch”, mit “amorphem”, kurvigem Linienspiel dargestellt. In den Quellen sind die Linien der beiden Bereiche klar abgegrenzt und außerdem - mit einer Ausnahme in der Mitschrift von E. Constantin (Troisième Cours 140), s. Schema 7 unten § 3.3.3 - gleichförmig und spiegelbildlich; die “chaotische” Materie (“chaotique”, CLG-E 252, Sp. D und E, danach auch CLG-E 253, Sp. B und C sowie CLG-BSR 156), die sie repräsentieren sollen, wird in Schema 2 allenfalls durch eine zusätzliche gestrichelte und gekrümmte Linie in beiden Bereichen angedeutet. (2) In CLG-BSR sind die beiden “amorphen Massen” A und B parallel eingezeichnet, A und B sind von links nach rechts mehr oder weniger gleich weit voneinander entfernt. In CLG-E sind die beiden Bereiche dagegen so dargestellt, dass die obere und die untere Linie, die sie repräsentieren, rechts und links weiter voneinander entfernt sind als in der Mitte. Der erwähnte Parallelismus in der Zeichnung in CLG-BSR kommt in keinem der Studentenskripte vor. (3) Die vertikalen Striche sind in CLG-BSR nicht nur als gepunktete Linien erkennbar, sie sind darüber hinaus über die beiden Bereiche der “idées” und der “sons” angebracht und reichen in der Darstellung von oben bis unten. 7 In CLG-E überschreiten die nichtgestrichelten vertikalen Linien dagegen nirgends die zwei gekrümmten vollen Linien, die die beiden Bereiche der Gedanken und Laute angeben. Nur in der Mitschrift von E. Constantin (Troisième Cours 140) gibt es eine schematische Darstellung, in der zwei vertikale Striche über die horizontalen Linien hinausgehen (s. weiter unten § 3.3.3, Schema 7). (4) Die schematische Darstellung in Schema 3 weicht dadurch von der anderen Darstellung in Schema 2 ab, dass sie statt einer parallelen spiegelbildlichen Strichellinie in beiden Bereichen ein unterbrochene und zugleich gewölbte Strichellinie im oberen Bereich aufweist. In allen anderen Darstellungen, sowohl in der Vulgata als auch in den Quellen, sind die beiden Bereiche dagegen ohne irgendwelche Abweichungen untereinander eingezeichnet. Im nächsten Abschnitt werde ich diese Unterschiede einen nach dem anderen im Hinblick auf Saussures theoretische Erläuterungen deuten und nachweisen, dass die Darstellung in der Vulgata bestimmte Nachteile besitzt, die die Darstellungen in den Quellen nicht haben. Die in den Quellen vorhandenen Texte und Figuren zum Problem des “fait linguistique” lassen sich, so werde ich argumentieren, als Saussures Versuch lesen, dem Sprachzeichen die scheinbare Natürlichkeit zu nehmen, die ihm nicht nur seit der Antike und der scholastischen Sprachtheorie, sondern auch in der rationalistischen Sprachtheorie sowie in der historischvergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jh.s anhaftete. Das Sprachzeichen wollte Saussure durchaus radikal als eine Einheit definiert wissen, die gar nicht, wie man leicht meinen könnte, Gedanken und Laute in signifiés und signifiants umwandelt, sondern vielmehr - wie es die originalen Schemata in den Quellen sowie verschiedene Textstellen unzweideutig belegen - zwischen Gedanken und Lauten gebildet wird und damit eine eigenständige, nicht von diesen beiden Bereichen her begründbare Form von Semiosis darstellt. Darüber hinaus zeichnen sich Sprachzeichen für Saussure durch eine Form von Bilateralität aus, die streng genommen nur in der natürlichen Sprache vorkommt. Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 249 3. Analyse der Differenzen zwischen der Vulgata und den Quellen 3.1 Der erste Unterschied betrifft die graphische Repräsentation der “chaotischen” Gedanken und Laute, sofern sie “noch nicht” durch die Sprache geformt sind. Obwohl sich die Darstellungen in der Vulgata und den Quellen visuell stark voneinander unterscheiden, erscheinen diese Unterschiede in den verschiedenen Figuren inhaltlich doch als relativ unerheblich. Ob man das ungegliederte Kontinuum der Gedanken als leeren Raum darstellt, der durch einen einzigen Strich abgegrenzt und durch eine zusätzliche Strichellinie symbolisiert wird (CLG-E), oder als einen materiellen “Fluss” von willkürlichen Strichen, tut im Wesentlichen nichts zur Sache, und dasselbe gilt für das ungegliederte Kontinuum der Laute. Hauptsache ist, dass in der Darstellung der beiden Kontinua keinerlei Gliederung erkennbar ist, weil Saussure eine solche Gliederung unter dem Begriff der “Artikulation” (articulation, CLG-BSR 156 und 26, CLG-E 253 und 34; vgl. Engler 1968, 14) strikt für die Sprache vorbehält. Dennoch bleibt dieser erste Unterschied in der graphischen Repräsentation nicht folgenlos. Die Darstellung in der Vulgata dürfte für die Herausgeber den Vorteil besessen haben, dass Gedanken und Laute als materielle Realitäten, als “Substanzen” dargestellt werden (vgl. ihre Einschätzung von Saussures valeur-Theorie im Titel des Abschnitts: “La langue comme pensée organisée dans la matière phonique”). Ich erinnere daran, dass genau an diesem Punkt die bekannte Kritik von L. Hjelmslev an Saussures Erläuterung ansetzte: Laut Hjelmslev gibt es keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass die Gedanken und Laute in irgendeinem Sinne der Sprache vorausgingen, und von keiner “Substanz” könne man behaupten, sie besitze eine “selbständige Existenz” (Hjelmslev 1943, 46 und 1963, 50). Diese Kritik ist berechtigt, trifft aber nicht auf Saussures Gedankengang zu, sondern auf dasjenige, was die Herausgeber des CLG daraus gemacht haben. Um das nachzuweisen, müssen wir aber zunächst alle relevanten Unterschiede zwischen der Vulgata und den Quellen in Augenschein nehmen. 3.2 Der zweite Unterschied hat mit dem wechselseitigen Verhältnis der Bereiche der Gedanken und der Laute in den graphischen Darstellungen zu tun und erscheint komplizierter als der erstgenannte Unterschied. Die Darstellungen in CLG-E deuten darauf hin, dass die beiden Bereiche, räumlich gesprochen, nicht immer oder in jeder Hinsicht gleich weit voneinander entfernt sind, anders gesagt, das Verhältnis zwischen Gedanken und Lauten in der Sprache ist nicht immer und in jedem Fall identisch, sofern Gedanke und Laut sowohl eine unmittelbare Nähe (so in der Mitte der Darstellungen in den Schemata 2 und 3) als auch eine größere Entfernung voneinander aufweisen können (an den beiden Extremen dieser Darstellungen). Diese Verschiedenheit im Verhältnis zwischen den beiden Bereichen wird in der Darstellung in CLG-BSR in keinerlei Weise visualisiert, und es erhebt sich die Frage, ob sie signifikant ist. Man könnte die Hypothese aufstellen, dass die Darstellungen in den Quellen mit bestimmten Erläuterungen von Saussure über scheinbare Ausnahmen vom Prinzip des “arbitraire du signe” (CLG-E 152-157; vgl. CLG-BSR 100-102) übereinstimmen, während die Darstellung in der Vulgata in dieser Hinsicht neutral ist. Im erwähnten Abschnitt über die Arbitrarität des Sprachzeichens diskutiert Saussure u.a. den Unterschied zwischen einerseits den vollständig willkürlichen Zeichen fr. sœur [s-œ: -r] ‘Schwester’ und fr. bœuf [b-œ-f] vs. dt. Ochs [o-k-s] und andererseits Zeichen, die einer solchen Arbitrarität zumindest teilweise zu widersprechen scheinen, insbesondere Onomatopöien. Zwar weist Saussure darauf hin, dass 250 Klaas Willems die Einschätzung etwaiger Ikonizität historisch adäquat zu sein habe (der scheinbaren lautmalerischen Qualität eines Wortes wie lat. pluit ‘es regnet’ z.B. steht die Tatsache entgegen, dass das Wort etymologisch auf lat. plo(v)it und ple(v)it zurückgeführt werden kann, CLG-BSR 101, CLG-E 156); dass aber Onomatopöien wie tic-tac und glou-glou eine ikonische Motivation aufweisen, lässt sich nicht abstreiten. Es liegt nahe, dies in den Termini, die Saussure für die beiden vorsprachlichen Bereiche verwendet, zu denen er das “fait linguistique” in Beziehung setzt, wie folgt auszudrücken: Bei Onomatopöien wie tic-tac und glou-glou entspricht dem Gedanken (“idée”) eine Lautform (“son”), die weniger arbiträr ist als in Fällen wie sœur und bœuf. In § 3.1 komme ich hierauf zurück und werde ich erklären, weshalb eine solche Darstellung von Lautmalerei inadäquat ist und den Darlegungen Saussures nicht gerecht wird; für einen Vergleich des Schemas 1 mit den Schemata 2 und 3 reicht das Gesagte vorläufig jedoch aus. Kann man nun behaupten, dass die schematischen Darstellungen in den Quellen den erläuterten graduellen Unterschied im Verhältnis zwischen Gedanke und Laut auf sinnfällige Weise zum Ausdruck bringen? Ein Vorteil einer solchen Deutung der Schemata 2 und 3 wäre, dass sie mit Saussures Überzeugung im Einklang zu stehen scheinen, dass es zwischen rein arbiträren, in keinerlei Weise motivierten Sprachzeichen und ikonischen oder teilweise motivierten Zeichen keinen grundsätzlichen Unterschied gibt. Sowohl ikonische als auch nicht-ikonische Sprachzeichen sind, wie ich unten noch weiter ausführen werde, für Saussure grundsätzlich von der allesbeherrschenden Arbitrarität der Sprache anzugehen: Sprachliche Ikonizität ohne Arbitrarität ist für Saussure keine Eigenschaft von Sprachzeichen. Obwohl einer solchen Interpretation der Schemata in CLG-E inhaltlich nichts entgegensteht, stößt sie doch auf das Problem, dass eine leicht abgewandelte Variante der Schemata 2 und 3 in einigen Studentenskripten ein weiteres Mal auftaucht (CLG-E 264, Sp. B und E und Troisième Cours 139-140), allerdings in einem Sinn, der von der gerade formulierten Hypothese abweicht. Im CLG-E lautet der Passus wie folgt: 1898 Donc, nous voyons que la représentation: n’est qu’une manière d’exprimer qu’il y a en français une certaine valeur cher, 1900 circonscrite dans système français par opposition à d’autres termes. Ce sera une combinaison d’une certaine quantité de concepts avec une certaine quantité de sons: (CLG-E, 263-264, Sp. B; Hervorhebungen im Original) Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 251 Hier ist weder von Ikonizität im angegebenen Sinne noch von irgendeiner variablen “Nähe” zwischen Gedanke und Laut in einem allgemeinen, vortheoretischen Sinne die Rede. Vielmehr soll das zweite Schema im Zitat zeigen, was es heißt, dass eine bestimmte Quantität von Konzepten, die im Bereich der Gedanken mit dem Wort cher verknüpft sind, und eine bestimmte Quantität von Lauten - [ S ε -r] - “psychisch”, d.h. mental, miteinander verbunden werden, so dass sich das Wort cher im Geiste des Sprechers als das psychische Äquivalent eines Sprachzeichens mit bestimmten formalen und materiellen Qualitäten konstituiert. Auf eine “Nähe” oder “Entfernung” zwischen dem Bereich der Gedanken und demjenigen der Laute bezieht sich Saussure dabei nicht. Das legt den Schluss nahe, dass der zweite Unterschied in der graphischen Repräsentation, die uns hier beschäftigt, nicht vor dem Hintergrund der Ikonizitätsfrage zu deuten ist. Dafür aber geht aus dem gerade zitierten Passus in CLG-E hervor, dass Saussure die Struktur der Schemata 2 und 3 nicht nur verwendet, um zu visualisieren, was man sich unter dem “fait linguistique” vorzustellen hat, sondern auch, um ein einzelnes Sprachzeichen zu repräsentieren. Auf dieses Verhältnis gehe ich im nächsten Abschnitt ein. 3.3 Die Besprechung unter § 3.2 führt zum dritten Unterschied zwischen den Schemata in der Vulgata und den Quellen über. Die senkrechten Linien sind in beiden Schemata anders konzipiert. Nicht nur unterscheiden sie sich dadurch, dass sie in der Vulgata keine vollen Linien sind (in CLG-BSR handelt es sich um gepunktete Linien, in dem von Engler wiederabgedruckten Text der Vulgata um gestrichelte Linien, s. CLG-E 252, Sp. A), die senkrechten Linien erfassen in der Vulgata durchgängig die beiden Kontinua selbst, während sie in den Quellen nur bis zu den Krummen reichen, die die Grenzen der Kontinua angeben. Einen Grund für die Entscheidung, statt voller Linien gepunktete (oder gestrichelte) Linien zu wählen, geben die Herausgeber der Vulgata nicht. Dahinter dürfte aber eine bestimmte Interpretation des Saussure’schen Gedankenganges durch die Herausgeber stecken, die mit anderen Unterschieden zwischen der Vulgata und den Quellen korreliert. Dadurch, dass die senkrechten Linien in Schema 1 der Vulgata über die beiden Kontinua der Gedanken und der Laute führen, statt bis an deren Grenzen zu reichen, wie in den Quellen, legt die Darstellung in der Vulgata nahe, dass die Sprache die beiden Kontinua der Gedanken und der Laute einteilt und aufgliedert, indem sie sie miteinander verbindet - und das ist auch die Ansicht, die bis heute als die eigentlich Saussure’sche tradiert wird: Die langue wird als “pensée organisée dans la matière phonique” (CLG-BSR 155, Titel) verstanden. Dagegen geben die Schemata 2 und 3 in den Quellen zwar ebenfalls eine Verbindung zwischen Gedanken und Lauten wieder, weil aber die senkrechten Linien lediglich vom einen Kontinuum bis zum anderen reichen, wird eine allfällige Einteilung und Aufgliederung zwischen den beiden Kontinua, und nicht in ihnen selbst postuliert. Nun erfasst diese zweite Darstellung den Grundgedanken Saussures nicht nur präziser, sie ist mit der traditionellen, auf der Vulgata basierenden Interpretation der Saussure’schen Definition des “fait linguistique” letztlich nicht vereinbar, und wir müssen Saussures Bestimmung des “fait linguistique” daher anders formulieren als gemeinhin geschieht. Dafür lassen sich aufgrund der Quellen drei Gründe nennen. 3.3.1 Erstens stimmen streng genommen nur die Schemata in den Studentenskripten mit der Aussage von Saussure überein (die auch in den Mitschriften in CLG-E belegt ist), die besagt, dass es nicht die Funktion der Sprache ist, das Denken anhand von Lauten zu “materia- 252 Klaas Willems lisieren”, sondern dass die Sprache vielmehr als Vermittlerin (“intermédiaire”) zwischen den Gedanken und den Lauten fungiert. In CLG-BSR lautet die Stelle allerdings wie folgt: Le rôle caractéristique de la langue vis-à-vis de la pensée n’est pas de créer un moyen phonique matériel pour l’expression des idées, mais de servir d’intermédiaire entre la pensée et le son, dans des conditions telles que leur union aboutit nécessairement à des délimitations réciproques d’unités. (CLG-BSR 156) Die Studentskripte ähneln sich hier weitestgehend, in Sp. C lesen wir z.B.: 1828 Le rôle caractéristique du langage vis-à-vis de la pensée, ce n’est pas d’être un moyen phonique, mais c’est de créer un milieu intermédiaire entre la pensée et le son, des unités d’une espèce particulière. (CLG-E 253, Sp. C, Hervorh. im Original) Während in CLG-BSR als Ergebnis der Sprache die “délimitations réciproques d’unités” angeführt werden, ist in den Quellen erstens von “unités d’une espèce particulière” die Rede, und zweitens steht nirgends, dass Einheiten “voneinander abgegrenzt” würden. Vielmehr heißt es, dass “Einheiten” zustande gebracht werden; in drei Mitschriften wird das Verb “aboutir” verwendet, vgl.: 1828 […] c’est de créer un milieu intermédiaire de telle ‹nature› que le compromis entre la pensée et le son aboutit d’une façon inévitable à des unités ‹particulières›. (CLG-E 253, Sp. B; vgl. Sp. D und E; Hervorh. im Original) Wir haben es hier keineswegs nur mit einem Unterschied im Wortlaut zu tun. Der Text der Vulgatafassung stimmt freilich durchaus mit der sie begleitenden schematischen Darstellung der Herausgeber überein: In Schema 1 erscheint dasjenige, worauf die Sprache als “intermédiaire” angewandt wird, als zwei Substrate, die beide als “amorph” dargestellt werden, solange sie keine Gliederung (“Artikulation”) durch die Sprache erfahren haben, und die Verbindung der Gedanken und Laute durch die Sprache führt zu Abgrenzungen (“délimitations”) von Einheiten (“unités”). In den Quellen nichts dergleichen: Zwar sind auch in den Schemata 2 und 3 in den Quellen die Ebene der Gedanken und die Ebene der Laute vorgegeben, sie werden von den senkrechten Linien jedoch nicht erfasst und erscheinen demnach auch nicht als Substrat. Das belegen auch die Texte der Studentenskripte, wo es u.a. heißt: 1830 […] la pensée-son implique des divisions / qui sont les unités finales de la linguistique. Son et pensée ne peuvent se combiner que par ces unités. (CLG-E 253, Sp. B; vgl. auch Sp. C und D; Hervorh. im Original) Hiervon ist in der Vulgata lediglich übriggeblieben: […] que la “pensée-son” implique des divisions et que la langue élabore ses unités en se constituant entre deux masses amorphes. (CLG-BSR 156) Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 253 Den Quellen zufolge aber führt die “Artikulation” nicht zu Einheiten, indem sie diese von “amorphen” in “artikulierte” umwandelt, sondern die Einheiten werden allererst als eigenständige “unités d’une espèce particulière” geschaffen, und die Ebenen der Gedanken und der Laute werden streng genommen erst durch diese Einheiten (“par ces unités”) miteinander verbunden. Daher auch nennt Saussure die Sprachzeichen folgerichtig “les unités finales de la linguistique”: Nicht um die Einteilung der Gedanken und Laute durch die Sprache hat die Linguistik sich zu kümmern, sondern um die Sprachzeichen als “unités”, deren Zweck es ist, die Ebene der Gedanken und diejenige der Laute miteinander in Verbindung zu bringen, indem sie Synthesen von einem signifié mit einem signifiant bilden. Es kann demnach auch nicht verwundern, dass Saussure an anderer Stelle schreibt, dem Sprachwissenschaftler, der sich über das Objekt der Linguistik Klarheit verschaffen möchte, obliege die “Definition sprachlicher Einheiten”: Tout le travail du linguiste qui veut se rendre compte, méthodiquement, de l’objet qu’il étudie revient à l’opération extrêmement difficile et délicate de la définition des unités (ELG 26; Hervorh. im Original). Wir sind hiermit an dem Punkt angelangt, wo sich die Schlussfolgerung aufdrängt, dass man - mit Saussure - die beiden universellen Bereiche der Gedanken (“idées”) und Laute (“sons”) scharf von den sprachlichen Ebenen der signifiés und signifiants unterscheiden muss, und zwar deutlicher und viel konsequenter als in der Vulgata geschieht. Zugleich aber gilt es zu betonen, dass in Saussures Darlegungen kein Weg von den “idées” und “sons” zu den signifiés und signifiants führt: Die “idées” und “sons” sind in Saussures Bestimmung des “fait linguistique” keine vorgegebenen Substanzen, woraus sich anhand der Sprache Sprachzeichen bilden ließen (vgl. CLG-E 276, Sp. F und Godel 1957, 214 und 230). Vielmehr sind es die Sprachzeichen selber, die als aus signifiés und signifiants bestehende Einheiten die Verbindungen von “idées” und “sons” realisieren. Um diese Schlussfolgerung genauer zu verstehen, ist es angebracht, auf einen weiteren, für die Interpretation der Saussure’schen Zeichentheorie ebenfalls sehr wichtigen Unterschied zwischen der Vulgata und den Quellen einzugehen. 3.3.2 Die Quellen weichen auch im folgenden entscheidenden Punkt von der Vulgata ab: In der Vulgata ist bei der Beschreibung des “fait linguistique” konsequent von der Funktion der langue die Rede, vgl.: Le rôle caractéristique de la langue vis-à-vis de la pensée […] (CLG-BSR 156), On pourrait appeler la langue le domaine des articulations […] (CLG-BSR 156), La langue est encore comparable à une feuille de papier: la pensée est le recto et le son le verso […] (CLG-BSR 157), usw. Für diese Verwendungen des Begriffs langue, der in Saussures CLG definitorisch bekanntlich auf eine ganz spezifische Bedeutung eingegrenzt ist, gibt es in den Quellen wiederum keine Entsprechungen. Der Text der Herausgeber ist auch deshalb in hohem Maße irreführend, weil Saussures Unterscheidung zwischen langue und langage gerade in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zukommt. Alle Studentenskripte weisen aus, dass Saussure im Abschnitt über das “fait linguistique” nicht bei der langue, sondern bei dem langage ansetzt, heißt es in den Quellen doch: 254 Klaas Willems 1828 Le rôle caractéristique du langage vis-à-vis de la pensée (…) (CLG-E 253, Sp. C, D; vgl. B und E; Kursivierung von mir, alle anderen Hervorh. im Original, KW). Der Unterschied zwischen langue und langage ist natürlich nicht einfach vernachlässigbar (für eine Übersicht der relevanten Attestierungen in Saussures Texten vgl. Engler 1968, 30-32). Den Begriff langage verwendet Saussure im CLG in zwei verschiedenen Bedeutungen, entweder um die Sprache im Allgemeinen, d.h. die Sprache, sofern sie aus langue und parole besteht, zu bezeichnen, oder als Kurzform für faculté du langage (Wunderli 1981a, 57-58). Wie Wunderli (1981a, 57) zu Recht hervorhebt, bedeutet die erste Verwendungsweise auf keinen Fall, dass langage bei Saussure eine “auf einer höheren Hierarchiestufe stehende Entität” wäre. Der Begriff langage verweist dann nämlich auf ein “Konglomerat” von zwei möglichen Objekten linguistischer Analyse, nämlich langue und parole, ohne dass diesem Konglomerat selber der Stellenwert einer objektivierbaren Entität zukäme (vgl. Premier Cours 27). Im zitierten Satz “[l]e rôle caractéristique du langage vis-à-vis de la pensée” wird langage jedoch in der zweiten Bedeutung, als faculté du langage verwendet. Damit verweist Saussure auf die psychische Sprachfähigkeit des Menschen, mittels Lauten nicht nur Sprache zu schaffen, sondern auch langue in parole überzuführen (Wunderli 1981a, 62-63). Die faculté du langage erscheint im zitierten Satz als die universelle psychische “Voraussetzung” (“condition nécessaire”, Godel 1957, 148; vgl. Wunderli 1981a, 73) für dasjenige, was das eigentliche Objekt der Saussure’schen Systemlinguistik ausmacht: die langue mit ihren einzelsprachspezifischen, systematischen, differentiellen Einheiten. Davon ist nicht nur die im Sinne der Saussure’schen Linguistik nicht-objektivierbare faculté du langage, sondern auch die konkrete parole, die Realisierung von langue-Einheiten durch individuelle Sprecher, deutlich zu unterscheiden. Die “rôle caractéristique” der Sprache, die Saussure im Abschnitt über das “fait linguistique” erläutert, kann demnach schlechterdings nicht “de la langue” sein, wie auch die Quellen unzweideutig bestätigen (vgl. Godel 1957, 190 und Jäger 1975, 62). Die langue selbst kann in Saussures Darlegungen nur das Produkt der “rôle caractéristique du langage vis-à-vis de la pensée” sein - das Wort “Produkt” hier im prägnanten Sinne eines intentionalen und zugleich intersubjektiven Erzeugnisses genommen. 8 Ebenso ist der Satz der Herausgeber, “[o]n pourrait appeler la langue le domaine des articulations” (CLG- BSR 156) irreführend, weil das Wort “articulation” bald als Nomen acti, bald als Nomen actionis aufgefasst werden kann, während es in der langue keinerlei Artikulation, sondern nur bereits artikulierte Einheiten - “articuli” (CLG-E 253, Sp. B und E) - gibt. Die langue ist mit anderen Worten das, was die Artikulation aufgrund der faculté du langage, die selber keine “Artikulation” besitzt, 9 hervorbringt, und zwar indem die faculté du langage Gedanken und Laute dergestalt miteinander verbindet, dass artikulierte “unités d’une espèce particulière” (CLG-E 253, Sp. B und C) geschaffen werden (“aboutir à”), die eine solche Verbindung von Gedanken mit Lauten in einem einzelsprachspezifischen System allererst ermöglichen. Die dergestalt erzeugte langue bildet dann aber ihrerseits den Fundus für das Sprechen, weil die (faculté du) langage immer schon auf die Existenz einer geteilten, historisch gegebenen langue angewiesen ist: “La langue pour nous ce sera le produit social dont l’existence permet à l’individu l’exercice de la faculté du langage” (Saussure, Troisième Cours 66, Hervorh. im Original). 10 Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 255 Und schließlich ist auch die langue keineswegs “comparable à une feuille de papier: la pensée est le recto et le son le verso” (CLG-BSR 157), wie die Herausgeber schreiben und wie es seitdem unzählige Male in der linguistischen Literatur wiederholt worden ist. Zu sagen, die langue sei mit einem Blatt Papier vergleichbar, ist sinnwidrig, weil das System einer Einzelsprache natürlich keine Zweieinheit von Gedanke und Laut ist. Richtig ist dagegen, dass die langue aus (lexikalischen und grammatischen) Sprachzeichen besteht, die durch die faculté du langage zustande gebracht werden und ausnahmslos solcherart Zweieinheiten sind. Die Metapher des Blattes kann also nur auf ein individuelles Sprachzeichen als Teil einer langue zutreffen, nicht auf die langue selbst. 11 Dieser Exkurs über den Unterschied zwischen faculté du langage und langue 12 lässt von einer anderen Perspektive deutlich werden, weshalb Schema 1 in der Vulgata problematisch ist. Wenn die Herausgeber fälschlicherweise schreiben, dass die langue die Vermittlerin zwischen Gedanken und Lauten sei, dann ist es auch vollkommen plausibel, warum sie die vertikalen Linien in Schema 1 so einzeichnen, dass sie die Bereiche der Gedanken und der Laute erfassen, ist doch die langue ein System von Sprachzeichen mit zugleich signifié- und signifiant-Charakter. Eine schematische Darstellung, in der die senkrechten Linien, wie in den Schemata 2 und 3 der Studentenskripte, nur bis zu den Rändern der beiden Bereiche der Gedanken und der Laute reichen, ergäbe von diesem Standpunkt aus keinen rechten Sinn, weil eine solche Darstellung die Sprachzeichen auf der Ebene der langue ihres notwendigen bilateralen signifié- und signifiant-Charakters enthöbe. Das Rätsel löst sich aber, wenn man dem Wortlaut der Quellen folgt: Geht man - mit Saussure und im Gegensatz zur Darstellung in der Vulgata - davon aus, dass ein System von Sprachzeichen dadurch zustande gebracht wird, dass die faculté du langage - und nicht die langue! - in der Lage ist, zwei vollkommen unterschiedliche Bereiche (den der Gedanken und den der Laute) 13 miteinander in Verbindung zu bringen, dann wird klar, dass das Produkt einer solchen Verbindung nicht einfach Gedanken sein können, die in Lauten eine materielle Form erhalten. Es kann sich vielmehr nur um “des unités d’une espèce particulière” handeln, die nur als Sprache, langue, denkbar sind und somit eine neue Schicht darstellen, die nicht einfach mit demjenigen verwechselt werden darf, was man “denkt” und/ oder an Lauten produziert, kann doch die Verbindung der Gedanken mit den Lauten, die es gemäß Saussure linguistisch zu objektivieren gilt, erst durch die Sprache selbst geleistet werden. 14 Insofern ist auch die Fügung “milieu intermédiaire” - die dreimal in den Quellen auftaucht (CLG-E 253, Sp. B, C und D), in der Vulgata jedoch zu “intermédiaire” gekürzt wurde (CLG- BSR 156) - durchaus vielsagend und für ein richtiges Verständnis von Saussures Darlegungen zum “fait linguistique” von entscheidender Bedeutung: Die durch die faculté du langage erzeugte langue erscheint in den Schemata 2 und 3 tatsächlich als eine eigenständige Schicht sui generis, die weder von den Gedanken noch von den Lauten her als solche konzipierbar ist. Das erklärt, warum die senkrechten Linien diese beiden Bereiche in den Schemata der Studentenskripte - ganz folgerichtig - nicht erfassen: Der Saussure’sche signifié (z.B. der signifié mouton oder der signifié sheep, CLG-BSR 160, CLG-E 261) unterscheidet sich vom Gedanken ebenso sehr, wie sich der signifiant vom Bereich der physikalischen Laute (Klänge) unterscheidet. Dazu lesen wir in Saussures eigenen “Notes”: S’il est une vérité a priori, et ne demandant rien d’autre que le bon sens pour s’établir, c’est que s’il y a des réalités psychologiques, et s’il y a des réalités phonologiques, aucune des deux séries séparées ne serait capable de donner un instant naissance au moindre fait 256 Klaas Willems linguistique. - Pourqu’il y ait fait linguistique, il faut l’union des deux séries, mais une union d’un genre particulier […] (CLG-N 36, Sp. 1). Nicht umsonst hebt Saussure die “nature incorporelle” der Sprachzeichen hervor (vgl. ELG 287 und Deuxième Cours 15), um ihre Eigenständigkeit zu unterstreichen. Saussures Erläuterungen sind damit auch vollends im Einklang mit seinem Insistieren auf der Tatsache, dass signifié und signifiant rein psychisch sind und nur im psychischen Sinne - oder, wie es in zwei Mitschriften noch präziser heißt: im “spirituellen” Sinne (CLG-E 149, Sp. B und E) 15 - miteinander eine Verbindung eingehen : “ils [les deux termes concept et image acoustique, KW] sont tous les deux psychiques: concentrés au même lieu psychique par l’association” (CLG-E 148, Sp. B). Von der Behauptung der Herausgeber, das Denken werde “organisé[e] dans la matière phonique”, ist eine solche Sicht der Dinge denkbar weit entfernt. Eine solche Behauptung bringt Saussures Sprachbzw. Zeichentheorie auf eine Stufe zurück, die Saussure in seinen drei Cours weit hinter sich lässt. Im “Nature du signe linguistique” überschriebenen Abschnitt der Vulgata geben die Herausgeber unter dem Subtitel “Signe, signifié, signifiant” gleich drei Varianten des “signe linguistique” (CLG-BSR 99): 16 Schema 4: a, b und c (Vulgata) Die Tatsache, dass die Herausgeber des CLG die drei Varianten dieses Schemas (zur Bedeutung der Pfeile s. Godel 1957, 237ff.) für gleichermaßen geeignet halten, das Zeichenkonzept Saussures wiederzugeben, zeigt, dass sie einem durchaus naiven semiotischen Naturalismus verhaftet bleiben, zu dem das gesamte Saussure’sche Denken letztlich im Widerspruch steht. Vor allem die unselige Variante c) bildet für die mangelhafte Durchdringung der Saussure’schen Lehre seitens der Herausgeber einen schlagenden Beweis, und es ist besonders bedauerlich, ja mitunter zynisch, dass gerade diese Darstellung nach dem Erscheinen des CLG unzählige Male reproduziert wurde und bis heute, in zum Teil völliger Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 257 Unkenntnis der Saussure’schen Lehre, als schematische Darstellung seiner Zeichentheorie angesehen wird. Wenn Saussure laut den Quellen die Zeichnung eines Baumes dem Wort arbos (und nicht arbor) gegenüberstellt, dann spricht er erstens gar nicht von einem Verhältnis zwischen signifiés und signifiants, sondern vom Verhältnis zwischen “objets” und “noms” (CLG-E 147, Sp. B und E, Troisième Cours 74), und zweitens weist er ausdrücklich darauf hin, dass es sich um eine naive Herangehensweise (“methode enfantine”) handelt, die er nur deshalb zur Sprache bringt, weil er ihre Unzulänglichkeit aufzeigen möchte, ist doch die Sprache keine Nomenklatur: On a souvent eu tort de se figurer qu’il n’y a dans la langue qu’une nomenclature (arbre, feu, cheval, serpent). ‹Le contenu de la langue ramené à ses premiers traits.› C’est une méthode enfantine. Si nous l’adoptons pour un moment, nous verrons facilement en quoi consiste le signe linguistique et en quoi il ne consiste pas. On se place devant une série d’objets et une série de noms […] (Troisième Cours 74). Das Gesagte impliziert freilich nicht, dass den beiden Bereichen der “idées” und “sons” in Saussures Bestimmung des “fait linguistique” keine grundsätzliche Bedeutung zukäme. Gedanken und Laute werden zwar auf arbiträrer Basis durch den langage miteinander verknüpft, eine jede langue aber ist mit Notwendigkeit ein Mittel, Gedankliches zum Ausdruck zu bringen. Und auch wenn die Realisierung des langage als langue nicht apriori auf Laute angewiesen ist (die Existenz der Gebärdensprachen, so lässt sich ergänzend hinzufügen, beweist es, dazu s. § 4), jede langue ist per definitionem semantisch (s. Godel 1957, 214-215). Es gibt im CLG reichlich Hinweise darauf, dass Saussure zu den Sprachwissenschaftlern gehört, die die Sprachen als ihrem Wesen nach “semantische Strukturierungen” (Coseriu 1987, 140) von “idées” - bzw. deren Korrelat, der außersprachlichen Wirklichkeit - betrachten: Die Formen im Ausdruck, die man in den Sprachen vorfindet, sind letztlich immer Mittel, mit denen man inhaltliche Unterscheidungen im Denken trifft. Darauf komme ich abschließend in Abschnitt 4 noch zurück. 3.3.3 Drittens schließlich entspricht der hier erläuterten Interpretation die Tatsache, dass Saussure seine schematische Darstellung explizit als eine visuelle Repräsentation des “fait linguistique” verstanden wissen will, d.h. sie repräsentiert streng genommen weder das Sprachsystem (“la langue”) als solches noch individuelle Sprachzeichen (“signes linguistiques”), sondern vielmehr die Zeichenhaftigkeit der Sprache im Allgemeinen, verstanden als Ereignis. Diese “prozedurale” Dimension des “fait linguistique” hängt aufs Engste mit der gerade erläuterten Tatsache zusammen, dass Saussure das “fait linguistique” als eigenständige Schicht zwischen den Gedanken und Lauten auffasst. Diese fundamentale Verbindung von Ereignis und “Intermediarität” bringt E. Constantin in seiner Nachschrift prägnant zum Ausdruck (Troisième Cours 138): 17 C’est entre deux [“idées” und “sons”, KW] que le fait linguistique se passe: Fait linguistique Schema 5 (Constantin) 258 Klaas Willems Die Schemata 2, 3 und 5, die allesamt Varianten ein und desselben Grundschemas sind, geben die Tatsache wieder, dass der langage eine langue konstituiert, d.h. dass Menschen - bei Saussure freilich als “Gemeinschaft” (“l’âme collective”, “masse parlante”, CLG-E 172 und Troisième Cours 66) gedacht - mittels des langage eine langue von Sprachzeichen hervorbringen. Ein Vorteil der schematischen Darstellung Saussures aber ist, dass sie im Prinzip zugleich dazu geeignet ist, die Bilateralität eines Sprachzeichens als Faktum in einer langue zu repräsentieren. Zwar verwendet Saussure in der Regel eine Variante von Schema 4, dem zweigeteilten elliptischen Schema (vgl. CLG-BSR 99 und CLG-E 148-151), wenn er ein bestimmtes Sprachzeichen oder das Sprachzeichen im Allgemeinen visuell darstellt. In § 3.2 aber sahen wir bereits, dass Saussure an einer Stelle auch das Schema des “fait linguistique” dazu anwendet, nämlich wenn er das Verhältnis von der “idée: cher” zum “image auditive: cher” erläutert (s. CLG-E, 263, Sp. B sowie Troisième Cours 139) und eine vereinfachte Variante von Schema 2, 3 und 5 heranzieht, das er zuvor für das “fait linguistique” entworfen hat: Schema 6 (Engler) Auch diese Variante des Schemas wurde von den Herausgebern unterdrückt. Visualisierte es anfänglich, wie die faculté du langage das System der langue hervorbringt, da gibt es hier “une combinaison d’une certaine quantité de concepts avec une certaine quantité de sons” wieder (CLG-E 264, Sp. B). In Constantins Notizen erscheint das Schema wie folgt (Troisième Cours 140): Schema 7 (Constantin) Interessant an dieser Variante ist, dass die beiden vertikalen Striche so eingezeichnet sind, dass sie über die horizontalen Linien, die die beiden Bereiche der “idées” und “sons” wiedergeben, hinausgehen (s. § 2.2). Man darf annehmen, dass die Herausgeber der Vulgata in den ihnen zur Verfügung stehenden Studentenskripten auf diese Variante gestoßen sind. 18 Entscheidend aber ist, dass Schema 7 in einem Zusammenhang auftaucht, wo gerade nicht vom “fait linguistique”, sondern von einem Sprachzeichen (fr. cher) die Rede ist, das von beiden Seiten her ausdrücklich als Substanz, als materielles Sprachzeichen im doppelten Sinne objektiviert wird, d.h. als die Verbindung einer Menge von Konzepten mit einer Menge von Lauten (s. CLG-E 264, Sp. B). Schema 7 stellt folglich das als ein Einzelzeichen materialisierte Ergebnis des “fait linguistique” im Saussure’schen Sinne dar und nicht das “fait linguistique” selbst. Das Schema zeigt damit auf einleuchtende Weise, was es heißt, dass Sprache Gedanken Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 259 “artikuliert” und insofern dem Denken gleichsam kompartimentierte Denkinhalte in der Form von delimitierten Bedeutungen (signifiés) entgegensetzt, und dass es dazu zugleich der parallelen Artikulation von signifiants bedarf, wodurch die Sprachzeichen (signifiants + signifiés) als einzelne articuli ausgewiesen sind (s. CLG-BSR 156, CLG-E 253; vgl. CLG- BSR 26, CLG-E 34). In Constantins Nachschrift selbst gibt es dazu folgende aufschlussreiche Erläuterung: Ce fait ‹linguistique› donnera naissance à des valeurs que elles ‹pour la première fois› seront déterminées […] Si l’on revient maintenant à la figure qui représentait le signifié en regard du signifiant on voit qu’elle a sans doute sa raison d’être mais qu’elle n’est qu’un produit secondaire de la valeur. Le signifié seul n’est rien, il se confond dans une masse informe. De même pour le signifiant (Troisième Cours 138-139). Um noch einmal das Beispiel von Saussure selbst aufzugreifen: Der gedankliche Bereich ‘Schaf’ wird im Englischen mittels zweier Wörter, sheep und mutton, artikuliert, im Französischen dagegen nur durch ein einziges Wort, mouton (CLG-BSR 160, CLG-E 261). Wendet man das Schema des “fait linguistique” an, dann lässt sich dieser Sachverhalt wie folgt darstellen: Schema 8: Anwendungen von Schema 6 auf engl. sheep/ mutton und fr. mouton signifié signifiant 260 Klaas Willems Ein und dasselbe Schema - das Saussure’sche Basisschema - lässt sich also für die Darstellung von zwei grundsätzlich verschiedenen, zugleich aber aufeinander angewiesenen Aspekten der Sprache anwenden, einmal um die “Artikulation” im Hinblick auf die Laute und die Gedanken (Saussure verwendet hierfür Verben wie “préciser”, “répartir” und “décomposer”, CLG-E 253, Sp. B und C) durch den langage darzustellen, einmal um die Bilateralität eines oder mehrerer Sprachzeichen einer spezifischen langue zu visualisieren. Wie aus Schema 8 hervorgeht, können beide Anwendungen des Schemas darüber hinaus problemlos miteinander kombiniert werden. Um nicht in die fehlerhafte Interpretation der Herausgeber des CLG zu verfallen, die sich aus einer solchen Kombination ergeben kann, empfiehlt es sich, im Anschluss an Godel (1957, 241) zusätzlich Pfeile zu benutzen; daneben erscheint es ratsam, auch die Ebenen des “fait linguistique” einerseits und des “signe linguistique” andererseits eigens zu markieren. Die Pfeile setzen in Schema 8 jeweils beim Sprachzeichen, wie es aufgrund des “fait linguistique” als mentale Größe zwischen den beiden Kontinua der “idées” und “sons” konstituiert wird, an und zeigen auf dessen “Realisierung” in Form von einem oder mehreren Gedanken (z.B. ‘sheep’) und Lauten ([ S i: p]), die selber also die Verbindung von signifiant und signifié zur Voraussetzung hat. Durch die zusätzlichen Pfeile wird der Gefahr vorgebeugt, dass man etwa ‘sheep’ und [ S i: p] als Substanzen, und damit als Substrate des Sprachzeichens sheep deutet, während sie in Wahrheit die Zielbereiche sind, in denen das bilaterale Sprachzeichen realisiert wird. Auf diese Weise trägt Schema 8 auch ausdrücklich der Tatsache Rechnung, dass Saussure den Substratgedanken im Hinblick auf seine Theorie des Sprachzeichens an mehreren Stellen explizit zurückgewiesen hat: Il n’y a aucun substratum quelconque aux ‹entités› linguistiques; ‹elles› ont la propriété d’exister de par leur différence […] (CLG-N 47, Sp. 2). […] or il semble que la science du langage soit placée à part: en ce que les objets qu’elle a devant elle n’ont jamais de réalité en soi, ou à part des autres objets à considérer; n’ont absolument aucun substratum à leur existence hors de leur différence ou en DES différences de toute espèce que l’esprit trouve moyen d’attacher à LA différence fondamentale (mais que leur différence réciproque fait toute leur existence à chacun) (ELG 65, Hervorh. im Original). 3.4 Damit komme ich auf das letzte Merkmal zu sprechen, worin sich die Schemata in den Quellen und der Vulgata unterscheiden. Gemeint sind die gewölbten Strichellinien, die allerdings nur in Schema 3 angebracht sind; sie fehlen in den anderen Schemata in den Quellen, wie auch in Schema 1 der Vulgata. Weil kein Zweifel darüber bestehen kann, dass der obere Bereich des Schemas für die “idées”, der untere für die “sons” steht (die Bereiche A und B in der Vulgata, CLG-BSR 156, stimmen mit der Ordnung überein, die überall in den Quellen auftaucht, vgl. u.a. CLG-E 254- 264 und Troisième Cours 139-140), gilt es einen Grund ausfindig zu machen, weshalb die Strichellinien, sofern sie authentisch sind, im Hinblick auf die inhaltliche Seite, nicht aber auf die lautliche Seite des “fait linguistique” sinnvoll sind. Eine Erklärung ergibt sich, wenn man sich den allgemeinen “semantischen” Standpunkt von Saussure vor Augen hält (siehe § 3.3.2) und berücksichtigt, dass Saussures Schema sowohl für die Darstellung des “fait linguistique” als Ereignis wie auch für die Darstellung des Sprachzeichens als Faktum geeignet ist. Dann liegt es nahe, die Strichellinien als “Zonen” auf der Ebene des Inhalts zu interpretieren, nicht ungleich den “Bedeutungszonen”, auf die sich die spätere strukturelle Semantik für die Definition des “Wortfeldes” berufen sollte, wie es z.B. von E. Coseriu definiert wurde: Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 261 Ein Wortfeld ist eine paradigmatische Struktur, die aus lexikalischen Einheiten besteht, die sich eine gemeinsame Bedeutungszone teilen und in unmittelbarer Opposition zueinander stehen. (Coseriu 1979 [1970], 166) Dass bei Saussure das Konzept des “Wortfeldes” voll ausgeprägt ist, auch wenn er dafür noch keinen terminus technicus verwendete, steht außer Zweifel. Das stimmt darüber hinaus vollkommen mit dem überein, was Saussure an anderer Stelle über den oppositiven Stellenwert der semantischen valeurs sagt. Dieser Teil der Saussure’schen Darlegungen ist allgemein bekannt und ich brauche ihn hier nicht zu reproduzieren (s. CLG-BSR 159-162, CLG-E 259-264 u.ö.). Wichtig erscheint nur, zu betonen, dass das Wortfeld nur eine Seinsweise des “semantischen Paradigmas” ist, und bereits Saussure selbst führt außer Beispielen lexikalischer Bedeutung auch solche grammatischer Bedeutung an (vgl. Coseriu 1976, 37-62 und 1987, 133-134). Im Englischen müssten also sheep und mutton (vs. fr. mouton) durch eine Strichellinie im oberen Bereich der “Gedanken” erfasst werden, desgleichen lieb und teuer im Deutschen (vs. fr. cher; CLG-E 262, Sp. B, C und E), craindre und redouter im Französischen (CLG-E 261, Sp. B), der Plural und Dualis im Sanskrit (vs. Plural im Deutschen; CLG-E 262, Sp. B), usw. 19 Man könnte erwägen, diese Interpretation mit einer anderen, bereits erwähnten Besonderheit in Schema 1 in Verbindung zu bringen: Während die Herausgeber des CLG die tatsächlich vorfindbaren gestrichelten Linien in den Schemata der Studentenskripte allesamt getilgt haben, haben sie zugleich die darin vorkommenden vollen senkrechten Linien übernommen und nicht nur ausgebreitet, sondern durch gestrichelte Linien ersetzt. Es liegt nahe, diese einigermaßen paradoxe Änderung ebenfalls auf eine problematische Deutung des Saussure’schen Gedankenganges durch die Herausgeber zurückzuführen. Aus dem im Abschnitt 3.3 Gesagten ist hervorgegangen, dass es den Herausgebern nicht gelingt, langage und langue im Passus über das “fait linguistique” kohärent und im Sinne von Saussure voneinander zu unterscheiden. Dadurch bleiben sie, wie wir sahen, einer überkommenen Substrattheorie verhaftet, die Saussure nicht vertritt. Mit dieser Substrattheorie ist nun aber die Ansicht verträglich, dass Sprachzeichen keine diskreten Einheiten sind, was insbesondere auf deren Inhaltsseite zutrifft: Die Aufteilung des Bereichs der “idées” durch die Sprache kann ohne weiteres in überwiegend psychologistischen und assoziationistischen Begriffen gefasst werden, die gar nicht auf einen strikten Oppositionsgedanken, wie ihn Saussure im Hinblick auf die Sprache entwickelt (“ce qui distingue une chose [est] ce qui la constitue”, CLG-N 47, Sp. 2), angewiesen sind. Beispiele dafür finden sich bekanntlich zuhauf in den sprachwissenschaftlichen Texten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh.s (vgl. etwa Texte von A. Darmesteter und M. Bréal, um nur zwei bekannte französische Sprachwissenschaftler zu nennen, mit denen Saussure sich auseinandersetzen musste). 20 Auch aus diesem Grund aber müssen die gepunkteten (bzw. gestrichelten) senkrechten Linien in Schema 1 abgelehnt werden, weil sie dem Denken Saussures nicht adäquat sind. Darüber hinaus können sie fälschlicherweise den Eindruck erwecken, Saussure habe den Standpunkt vertreten, Sprachzeichen seien systematisch polysem. Aus seinen Ausführungen geht jedoch hervor, dass Saussure unter Bedeutungen allgemeine semantische Werte (valeurs) verstand, die weder mit unendlich variablen Bezeichnungen noch mit Redeinhalten verwechselt werden dürfen, wie u.a. aus folgendem Passus in den Écrits hervorgeht: 21 262 Klaas Willems le sens “propre” n’est qu’une des multiples manifestations du sens général; à son tour ce sens général n’est pas autre chose que la délimitation quelconque qui résulte de la présence d’autres termes au même moment (ELG 76). 4. Die Ikonizität von Sprachzeichen In diesem Abschnitt möchte ich nun abschließend noch die Frage stellen, was die obigen Erläuterungen aus heutiger Sicht zu unserem Verständnis von Onomatopöien beitragen. In § 3.2 habe ich dargelegt, wie man Saussures Ansichten zur mimetischen Ikonizität, insbesondere den Lautmalereien, gemeinhin wiedergibt. Außer den Lautmalereien werden auch Ausrufe (“exclamations”) kurz von Saussure diskutiert (CLG-BSR 102, CLG-E 156-157, Troisième Cours 77). Um die Besprechung nicht in die Länge zu ziehen, lasse ich diese im Folgenden jedoch unberücksichtigt. In der Vulgata wird in erster Linie die Sonderstellung der Lautmalereien im System der Sprache betont, und zwar sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht: Mais elles [les onomatopées] ne sont jamais des éléments organiques d’un système linguistique. Leur nombre est d’ailleurs bien moins grand qu’on ne le croit. (CLG-BSR 101-102) Das qualitative Argument bezieht sich auf zweierlei: Lautmalereien sind nicht vom phonetischen Sprachwandel ausgenommen und was aus synchronischer Perspektive ikonisch erscheint, braucht diachronisch gar nicht auf eine ursprüngliche Lautmalerei zurückzugehen. Für beide Argumente gibt es in den Quellen (CLG-E 156) eindeutige Vorlagen. Auch das quantitative Argument ist in allen Studentenskripten belegt (vgl. z.B.: “On exagère en géneral beaucoup le nombre des onomatopées”, CLG-E 156, Sp. E). Zum Verhältnis zwischen Lautmalerei und Sprachwandel gibt es in der Vulgata jedoch auch folgenden Abschnitt: En outre, une fois introduites dans la langue, elles [les onomatopées authentiques] sont plus ou moins entraînées dans l’évolution phonétique, morphologique, etc., que subissent les autres mots (cf. franç. pigeon, du latin vulgaire pīpiō, dérivé lui-même d’une onomatopée): 22 preuve évidente qu’elles ont perdu quelque chose de leur caractère premier pour revêtir celui du signe linguistique en général, qui est immotivé. (CLG-BSR 102) Wie das Beispiel ist auch die Schlussfolgerung im letzten Satz eine Ergänzung der Herausgeber. Zwar gibt es auch in den Quellen einen Satz mit dem Wort “preuve”, dieser aber handelt von etwas ganz Anderem und lautet wie folgt: 1158 La preuve du peu d’importance - ‹valeur› - des onomatopées, c’est que nous pouvons très bien nous y tromper et en voir où il n’y en a pas. (CLG-E 156, Sp. B; vgl. auch Sp. D und E; Hervorh. im Original) Saussure kommt hier auf die Möglichkeit zu sprechen, dass sich die Ikonizität eines Sprachzeichens nicht als der Ausgangspunkt von Sprachwandel herausstellt, sondern als dessen Ergebnis. Vergleicht man die Vulgata mit den Quellen, dann kann man nicht umhin, festzustellen, dass die Herausgeber Saussure eine Argumentation unterschieben, die nicht nur seine Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 263 Ausführungen über die Lautmalerei verdreht, sondern darüber hinaus seine Definition des “fait linguistique” zuwiderläuft. Erklärt man nämlich, wie die Herausgeber, dass der formale Wandel von Lautmalereien im Zuge des üblichen Sprachwandels der Beweis (“preuve évidente”) dafür sei, dass sie etwas von ihrer ursprünglichen Natur verlieren und statt dessen die Form von nicht-ikonischen (“normalen”) Sprachzeichen annehmen würden, dann impliziert das, dass Lautmalereien anfänglich gar nicht als authentische Sprachzeichen gelten können. Sie wären bestenfalls auf dem Weg, Sprachzeichen zu werden, ihre ursprüngliche Natur (“leur caractère premier”) indes hätte mit wirklichen (“nicht-motivierten”) Sprachzeichen nichts zu tun. Es ist üblich, eine solche Darstellung von mimetischer Ikonizität aufgrund der Vulgata mit Saussures CLG zu identifizieren. Nirgends in den Quellen gibt es aber Anzeichen dafür, dass Saussure ikonische Zeichen als Ausnahmen des “fait linguistique” verstanden wissen wollte, ganz im Gegenteil, wie er sich denn auch bei der Besprechung von Ausrufen entschieden gegen die vielleicht naheliegende Ansicht wendet, sie wären “dictées par la nature” (CLG-E 156, Sp. B und E; im Wortlaut auch in der Vulgata beibehalten, vgl. CLG-BSR 102). Da erst der langage die Verbindung zwischen den “idées” und den “sons” herstellt, die für die Sprachwissenschaft die notwendige und unhintergehbare Bedingung ihres Objektes (langue) bildet, muss auch jedes ikonische Sprachzeichen in Saussures Modell zwangsläufig ein Produkt des langage sein - und damit an der Zeichenhaftigkeit der Sprache ursprünglich Anteil haben. Es ist folglich ausgeschlossen, dass der “caractère premier” ikonischer Sprachzeichen für Saussure in einem der beiden Bereiche der Gedanken oder Laute auf einem bereits vorgegebenen Substrat beruhen könnte, denn das würde eine Form von Kausalität voraussetzen, die mit Saussures Theorie nicht vereinbar ist. Auch ikonische Sprachzeichen können für Saussure nur intentional konstruiert werden, und das heißt, dass sie das Merkmal der Arbitrarität, wie sie Saussure im denkbar radikalen Sinne auffasst, ebenfalls voraussetzen, statt ihr zu widersprechen: Ikonizität ist in Saussures Modell des “fait linguistique” nicht anders denn als Ikonisierung konzipierbar, d.h. als eine höherstufige Intention in der Aktivität des langage, die per definitionem Arbitrarität voraussetzt. Der “caractère premier” etwa von tic-tac oder glou-glou - Saussures eigenen Beispielen (CLG-E 156) - ist nicht etwas, was diese Sprachzeichen im Laufe der Zeit bzw. des Sprachwandels “verlieren” könnten, und zwar in dem Maße, dass sie statt dessen den “caractère […] du signe linguistique en général, qui est immotivé” annehmen würden. Vielmehr ist die Ikonizität von tic-tac oder glou-glou heute in jeder Realisierung genau so intendiert und wird es auch in der Zukunft genau so sein, wie sie es immer schon gewesen ist, auch bei der allerersten Erzeugung dieser Lautmalereien in der Sprache. Das erklärt auch, weshalb die Ikonizität eines Sprachzeichens ohne weiteres das Ergebnis von Sprachwandel sein kann: Es ist in Saussures Modell des “fait linguistique” vollkommen irrelevant, ob ein Sprachzeichen entweder synchronisch oder diachronisch ikonisch ist. Ikonizität beruht nicht auf einem Substrat, sondern entspricht einer Intention des Sprechers, aus egal welcher Perspektive. Es ist freilich interessant, darauf hinzuweisen, dass die Deutung, die die Herausgeber Saussures Ausführungen über Lautmalereien zuteil werden lassen, durchaus mit ihrer zuvor diskutierten Deutung des “fait linguistique” verträglich ist, wie sie sich auch im Schema 1 der Vulgata manifestiert: Die senkrechten Linien erfassen ja auch das “amorphe” Kontinuum der Laute, und die “sons” erscheinen im Schema nicht so sehr als der ikonische Zweck onomatopoetischer Sprachzeichen, als die Saussure sie auffasst, sondern als deren Grundlage, wovon 264 Klaas Willems sie sich höchstens mit der Zeit entfremden können. In Wahrheit aber trifft in Saussures Modell auch auf ikonische Zeichen wie Lautmalereien und Ausrufe zu, was für alle Sprachzeichen gilt, d.h. für alle Einheiten einer langue, die durch den langage zustande gebracht wird: “idées” fallen nicht mit signifiés zusammen, so wie “sons” niemals mit signifiants zusammenfallen. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Passus im Abschnitt über synchronische und diachronische Sprachwissenschaft, in dem Saussure im Hinblick auf das für sein Modell zentrale Konzept valeur einen Vergleich zwischen der Sprachwissenschaft und “d’autres sciences”, z.B. den Wirtschaftswissenschaften, anstellt (CLG-E 175-179, Troisième Cours 104 und vgl. CLG-BSR 114-116). Dazu sind auch interessante “notes personnelles” von Saussure überliefert (CLG-E 178 und vgl. auch ELG 333). Saussure hebt die sprachliche valeur mit aller wünschenswerten Deutlichkeit von z.B. der wirtschaftlichen valeur ab, indem er darauf hinweist, dass erstere nicht wie letztere auch in den Sachen selbst (“dans les choses”) begründet ist (vgl. Godel 1957, 239-240). Die Klarheit, mit der Saussure es versteht, nicht nur seinen radikalen Standpunkt über das “fait linguistique” als fundierende Zeichenhaftigkeit, sondern auch die unverwechselbare Eigenart der Sprache im Vergleich zu anderen Systemen von valeurs zum Ausdruck zu bringen, gestattet es, den Passus etwas ausführlicher zu zitieren: 1324 […] on arrive 3° aux sciences qui s’occupent de la valeur arbitrairement fixable (sémiologie), ‹non plus de la valeur ayant une racine dans les choses,› = signe arbitrairement fixable (linguistique) […] 1325 Toute valeur a deux côtés comme le signe ‹linguistique›. Tant que cette valeur a, au moins par un de ses côtés, une racine dans les choses, par example ‹Valeur: par rapport au franc›, 1327 il est encore relativement possible de la suivre dans le temps avec les variations de sa valeur, et sans oublier que la contrevaleur (50000 fr.) varie à son tour de valeur, selon les états d’abondance de l’or, etc. 1328 Mais tout cela garde une valeur finale de par les choses, et ne peut le plus souvent dépasser une certaine limite. 1329 Au contraire dans l’association constituant le signe il n’y a rien depuis le premier moment que deux valeurs existant l’une ‹en vertu de› l’autre (arbitraire du signe) (CLG-E 178, Sp. F; Hervorh. im Original) Interessanterweise schließt Saussure den Passus mit einer Bemerkung ab, in der er zugleich wiederum die Semantizät der Sprache als fundierendes Prinzip hervorhebt: fonds de terre Z 50 000 francs Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 265 Si l’un des deux côtés du signe linguistique pouvait passer pour ‹avoir› une existence en soi, ce serait le côté conceptuel, l’idée comme base du signe. Nicht wider Erwarten ist der letzte Satz in den Konditional gefasst (vgl. auch Troisième Cours 104), im Lichte der obigen Darlegungen ist er deshalb aber nicht weniger klar: Sprachzeichen entsprechen ihrem Wesen nach einer “Bedeutungsintention” (den Begriff entnehme ich der Phänomenologie Husserls, vgl. Husserl 1980 [1913], II/ 1, 41) und nicht etwa nur einer Ausdrucksintention, die zwar die Bedeutungsintention realisiert, nicht aber fundiert. Wenn daher Saussure schreibt, “l’idée” sei die “base du signe”, dann ist das nicht so zu verstehen, als könne man Bedeutungen von Sprachzeichen (in der langue) einfach auf Gedanken zurückführen und schon gar nicht, dass die langue schlichtweg als “pensée organisée dans la matière phonique” aufzufassen sei (vgl. auch ELG 44-45 und 75-76). Vielmehr führt Saussure eine außerordentlich wichtige epistemologische Differenzierung ein zwischen dem Sprachzeichen als Objekt der Linguistik (langue) und dessen Begründung als Objekt einer Theorie der Sprachwissenschaft. Darüber hinaus weist die angeführte Stelle bei Saussure manche Ähnlichkeit mit der berühmten Bemerkung W. von Humboldts in “Latium und Hellas” auf, in der Humboldt einerseits zwar einräumt, dass ein Sprachzeichen (ein Wort) das semantische Pendant einer Sache oder eines Begriffs in der außersprachlichen Welt sei, Humboldt andererseits aber zugleich die für das Sprachstudium verhängnisvolle Ansicht kritisiert, das Sprachzeichen sei einfach einem Referenten zugeordnet : Den nachtheiligsten Einfluss auf die interessante Behandlung jedes Sprachstudiums hat die beschränkte Vorstellung ausgeübt, dass die Sprache durch Convention entstanden, und das Wort nichts als Zeichen einer unabhängig von ihm vorhandenen Sache, oder eines eben solchen Begriffs ist. Diese bis auf einen gewissen Punkt freilich unläugbar richtige, aber weiter hinaus auch durchaus falsche Ansicht tödtet, sobald sie herrschend zu werden anfängt, allen Geist und verbannt alles Leben […] Das Wort ist freilich insofern ein Zeichen, als es für eine Sache oder einen Begriff gebraucht wird, aber nach der Art seiner Bildung und seiner Wirkung ist es ein eignes und selbständiges Wesen […] (Humboldt 1904 [1806], 167; meine Hervorhebungen, KW). Wenn Saussure in seinen Darlegungen zum “fait linguistique” hervorhebt, dass die “articulation” 23 in “unités d’une espèce particulière” (CLG-E 253, Sp. B und C) resultiert, dann kann man mit Fug und Recht behaupten, dass er mit Humboldts These einiggeht, Sprachzeichen (Wörter) seien “Wesen einer durchaus eignen Natur” (vgl. Humboldt 1904 [1806], 168). Zu beachten ist auch, dass ein solcher Standpunkt Humboldt nicht daran hinderte, eine differenzierte Theorie sprachlicher Ikonizität zu entwickeln (im Gegenteil, bildet er dazu doch die notwendige Voraussetzung, s. Humboldt 1907 [1830-1835], 73-78 und vgl. Trabant 1986, 71-98), und dasselbe trifft auf Saussure zu, dessen Ausführungen zur Ikonizität in der Sprache freilich summarischer und einfacher sind als diejenigen Humboldts. 24 Ikonizität ist gemäß Saussures Ansatz - und damit greife ich das unter § 3.2 Gesagte wieder auf - kein Weniger, sondern ein Mehr: Ikonische Sprachzeichen sind Sprachzeichen wie alle anderen, allerdings kommt bei ihnen eine sekundäre Motivation hinzu, durch die ihre Form selbst eine zusätzliche semantische Funktion erhält. Dabei ist diese sekundäre Motivation - so möchte ich Saussure ergänzen - als ein Verfahren zu verstehen, das das übliche Verhältnis zwischen Sprachproduktion und Sprachrezeption durchbricht: Ikonisierung bedeutet nämlich, dass die Form eines Sprachzeichens als bereits interpretierte Form vermittelt wird. Erstens aber soll man nicht vergessen, dass es auch an Lautmalereien wie tic- 266 Klaas Willems tac und glou-glou weitaus mehr arbiträre formale Eigenschaften als ikonische gibt, und zweitens neigen wir als Sprecher einer Sprache (oder mehrerer Sprachen) in der Regel dazu, die Historizität der formalen Eigenschaften bei Lautmalereien zu unterschätzen, und zwar gerade weil ihre sekundäre ikonische Motivation sie von der Norm der meisten Sprachzeichen unterscheidet. Wie wenig “ikonisch” - und wie “konventionell” - eine Form wie glou-glou in Wirklichkeit aber ist, erhellt sofort, wenn man solche Formen Menschen vorlegt, die keine “europäische” Sprache sprechen - sie können die Form nicht als bereits interpretiert verstehen. Für einen seichten Ikonismus, wie Jakobson (1960) ihn angesichts der “nursery words” Mama und Papa vertrat (s. oben § 1.1), gibt es in Saussures Modell keinen Platz. Das aber wird man schwerlich als Nachteil dieses Modells empfinden können. 25 5. Schlussbetrachtungen Ich habe in diesem Beitrag darzulegen versucht, dass die Vulgata Saussures Ausführungen zum “fait linguistique” nicht exakt, mitunter schlichtweg falsch wiedergibt. Ein Vergleich mit den Quellen, der bei der schematischen Darstellung der beiden Kontinua im CLG ansetzt, zeigt, dass die Herausgeber die Darlegungen Saussures in zentralen Punkten geändert und zum Teil wohl auch missverstanden haben. Insbesondere gilt es, folgende Aspekte hervorzuheben: - die Herausgeber haben die Radikalität von Saussures Darlegungen zum “fait linguistique” abgeschwächt oder - zumindest teilweise - verkannt; - sie haben an entscheidenden Stellen (faculté du) langage und langue miteinander verwechselt; - sie haben das “fait linguistique” nicht durchgängig vom “signe linguistique” unterschieden; - sie haben den Bereich der “idées” nicht sorgfältig von den signifiés sowie den Bereich der “sons” nicht sorgfältig von den signifiants unterschieden; - sie haben an mehreren Stellen an Begriffen festgehalten, die Sprache als Substanz fassen, während Saussure selbst eine ausgesprochen formale Perspektive auf die Sprache einnimmt (wobei “formal” nicht mit “formalistisch” verwechselt werden darf); 26 - schließlich haben sie mit ihrer Fassung der schematischen Darstellung des “fait linguistique” einer Interpretation Vorschub geleistet, in der Ikonizität als kausaler Prozess missverstanden werden kann, während aus den Quellen hervorgeht, dass Ikonizität für Saussure ein intentionales Verfahren ist. Während Saussure offenbar alles daran setzte, das Sprachzeichen (“signe linguistique”) vom Standpunkt des “fait linguistique” her zu konzipieren und zu diesem Zweck die Autonomie von signifié und signifiant in ihrer Verbindung zu einem einzigen Sprachzeichen betonte, fielen die Herausgeber hinter die theoretisch kohärenten und durchaus klaren Distinktionen von Saussure zurück. 27 Sie identifizierten, aufgrund einer Verwechslung von langue und (faculté du) langage, den signifié mit einem Ausschnitt aus dem Bereich der Gedanken, den sie als ideelles Substrat des Sprachzeichens darstellten, und den signifiant mit einem Ausschnitt aus dem Bereich der Laute (Klänge), der auf diese Weise zum materiellen, “phonischen” (CLG-BSR 156, CLG-E 253) Substrat des Sprachzeichens avancierte. Saussures Darstellung des “fait linguistique” ist mit einer solchen Sicht der Dinge jedoch nicht vereinbar: Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 267 Er begründet Sprachzeichen eindeutig als “unités d’une espèce particulière” und wendet sich damit entschieden gegen “l’idée banale que le langage est un moule” (CLG-E 252, Sp. B). Sowohl das Schema 1 als auch der begleitende Text der Herausgeber bleiben dagegen einem ontologisierenden Natürlichkeitsdenken verhaftet, der zwar in der Saussure vorangehenden Geschichte der Sprachwissenschaft üblich war, dem aber die gesamte Konzeption Saussures letztlich entgegengesetzt ist: Der signifié eines Sprachzeichens bildet keinen Gedanken ab, und sei es auch nur teilweise, wie auch dessen signifiant keinerlei phonische Qualitäten in irgendeinem Sinne widerspiegelt. Vielmehr kreiert der Mensch dank seiner faculté du langage in einer ursprünglichen Synthesis - in einem “synthetischen Akt der Zeichenartikulation”, wie Jäger (1978, 26) 28 es treffend formuliert - Sprachzeichen, die notwendigerweise bilateral sind und deren signifiés und signifiants auf keine dem Sprachzeichen fremden Substrate reduzierbar sind. Weil aber die fundierende Intention dieses “fait linguistique” nichts Anderes als eine originäre Bedeutungsintention ist, kann Saussure - vollkommen kohärent - behaupten, dass durch das bare Faktum der Erzeugung von Sprachzeichen als langue jene Verbindung von “idées” und “sons” geleistet wird, die nicht nur vor, sondern auch noch nach Saussure immer wieder als phonische Materialisierung von Gedanken missverstanden wurde. Bibliographie Primäre Literatur von Ferdinand de S AUSSURE : CLG-BSR: F. de Saussure (1995 [1916]). Cours de linguistique générale. Publié par Ch. Bally et A. Sechehaye avec la collaboration de A. Riedlinger. 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Bibliographie). 3 Dazu schreibt De Mauro (1995 [1967], N. 224): “Son auditoire étant désormais relativement entraîné […], Saussure peut commencer à lui exposer les points les plus ardus de sa doctrine de la langue”. 4 Dabei muss man natürlich immer im Auge behalten, dass die Herausgeber des CLG nicht über alle die Quellen verfügten, die uns heute zur Verfügung stehen (vgl. Godel 1957, 95-97 und Bouquet/ Engler 2002, 11). 5 Es ist übrigens bedauerlich und letztlich widersprüchlich, dass auch noch S. Bouquet und R. Engler in ihrer Ausgabe der Écrits de linguistique générale (2002) selbst erfundene Zwischentitel verwenden, um Saussures Notizen äußerlich die Form eines durchlaufenden Textes zu verleihen; vgl. Trabant (2005, 122). 6 Eine leicht von Schema 2 abweichende Darstellung findet sich in der Mitschrift von E. Constantin (Troisième Cours 138), eine leicht von Schema 3 abweichende Darstellung in Godel (1957, 214). Auf beide Varianten komme ich weiter unten zu sprechen (s. § 3.3.3). 7 Schema 1 wurde für die historisch-kritische Ausgabe von Engler neu angefertigt und dabei leicht angepasst. Die vertikalen Striche erscheinen in CLG-E (252, Sp. A) als gestrichelte Linien, und nicht länger als gepunktete Linien, wie in der Vulgata (CLG-BSR 156). Für diese leichte Abwandlung gibt es keinen ersichtlichen Grund. Auf die signifikanten Unterschiede zwischen Vulgata und Quellen gehe ich in den Abschnitten § 3.2-3.4 ein. 8 Vgl. dazu ausführlich Saussure (Troisième Cours 7 und 66). Bekanntlich hob Saussure die “soziale” Dimension der Sprache - die langue als “produit social” (ebd.) - besonders hervor. 9 In Saussures eigenen Notizen heißt es dazu sehr klar: “La nature ‹nous› donne l’homme organisé pour le langage articulé, mais sans langage articulé” (CLG-N 16, Sp. 1; Hervorh. im Original); vgl. Godel (1957, 148 und 212ff.). 10 Die Verwechslung von langue und (faculté du) langage durch die Herausgeber ergibt sich auch aus einem Satz wie “l’exercice du langage repose sur une faculté que nous tenons de la nature” (CLG-BSR 25; vgl. aber CLG-E 32, Sp. B und E). Dagegen heißt es in Saussures eigenen Notizen: “Le langage est un phénomène; il est l’exercice d’une faculté qui est dans l’homme” (ELG 129). 11 Vgl. auch die Stelle in der Vulgata (CLG-BSR 159), wo die Herausgeber die Metapher des Blattes ein zweites Mal (und ohne Indizien in den Quellen) heranziehen, sie dann aber dem Geiste Saussures entsprechend korrekt auf Sprachzeichen beziehen. 12 Ebenso ist es Saussure darum zu tun, das Wesen des langage - und nicht der langue, wie Jäger (2003, 51) irrtümlicherweise meint - zu bestimmen, wenn er darauf hinweist, “qu’il faudra en dernier lieu revenir toujours à la question de savoir ce qui constitue de par l’essence du langage une identité linguistique” (ELG 18). 13 In den Écrits spricht Saussure von zwei “objets hétérogènes” (ELG 20). 14 Die Tatsache, dass Sprachzeichen Einheiten einer ganz eigenen Ordnung sind, hebt Saussure an verschiedenen Stellen hervor; vgl. etwa: “Il faut un effort pour saisir ce qui forme les diverses entités contenues dans la langue ou pour éviter de prendre comme entités linguistiques ce qui sont des entités d’un autre ordre” (CLG-E 253, Sp. E). Dazu s. ausführlich Jäger (2003, 26-52). 15 Daneben verwendet Saussure auch die Begriffe “interne” und “intérieur” (ELG 17 und 21). 16 Dass Saussure das Wort “signe” im Cours in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet (einmal als Relationsbegriff im Hinblick auf das Verhältnis zwischen signifié und signifiant, einmal als Dingbegriff im Hinblick auf den signifiant allein bzw. dessen Realisierung), ist bekannt (s. Godel 1957, 191ff.) und braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. 17 Ein sehr ähnliches Schema aus der Mitschrift von G. Dégallier reproduziert Godel (1957, 214): Es stimmt in der Struktur mit Schema 5 überein, weist aber zusätzliche Strichellinien wie im obigen Schema 3 auf und enthält darüber hinaus den Vermerk “masse informe” im unteren Bereich, ebenfalls wie im Schema 3. Die Grenzen der Ikonizität der Sprache 271 18 Die Mitschrift von E. Constantin kam zwar erst 1958 ans Licht und war den Herausgebern der Vulgata somit unbekannt (s. E. Komatsu in Troisième Cours viii), aber aus den Studentenskripten geht hervor, dass Saussures Zuhörer ihre Mitschriften aufgrund der Notizen der anderen ergänzten. Ich habe nicht kontrollieren können, ob ein ähnliches Schema wie 7 z.B. in der Mitschrift von G. Dégallier vorhanden ist, die die Heraugeber nebst anderen Quellen für die Fertigstellung des dritten Cours verwendet haben (s. CLG-BSR 8). 19 S. auch CLG-E 261, Sp. C: “chien désignera le loup, tant que le mot loup n’existera pas”; dasselbe Beispiel findet sich in ELG 80. Vgl. dazu auch Godel (1957, 199 und 225), der die Anwendung des Konzeptes “Paradigma” auf den Bereich der grammatischen Bedeutungen einer Einzelsprache jedoch für problematisch hält (Godel 1957, 232). 20 Einige Zitate von A. Darmesteter und M. Bréal mögen hier genügen (damit soll freilich nicht gesagt sein, dass Bréal nicht über den recht grobschlächtigen und heute kaum noch erträglichen Naturalismus von Darmesteter hinausgegangen sei): Darmesteter: “Le langage est une matière sonore que la pensée humaine transforme, insensiblement et sans fin, sous l’action inconsciente de la concurrence vitale et de la sélection naturelle” (Darmesteter 1979 [1887], 31); “Le mot [cf. “mots = sons articulés”, KW] est le serviteur de l’idée; sans idée, point de mot; ce n’est qu’un vain assemblage de sens. Mais l’idée peut exister sans mot; seulement elle reste dans l’esprit, à l’état subjectif, et ne fait point de partie du langage” (40), usw.; Bréal: “[la conjugaison indo-européenne] n’a pas essayé d’enfermer trop de choses dans un même mot. Nos langues, en général, se sont abstenues de marquer beaucoup de vaines distinctions, qui, n’allant pas au fond des choses, sont comme une frivole dépense d’intelligence. En japonais, par exemple, les mots changent suivant que l’on compte des quadrupèdes ou des poissons, des jours ou des mesures de longueur” (Bréal 1921 [1897], 94-95); “Pourquoi les mots sont disproportionnés aux choses” (107); “il n’est pas douteux que le langage désigne les choses d’une façon incomplète et inexacte. Incomplète: car on n’a pas épuisé tout ce qui peut se dire du soleil quand on a dit qu’il est brillant […] Inexacte, car on ne peut dire du soleil qu’il brille quand il est couché” (177), usw. (Vgl. dagegen u.a. Saussure in ELG 76: “Mais ce serait ne pas comprendre où est la puissance de la langue que de se plaindre de son inexactitude”.) 21 Zum teilweise auch terminologisch - nämlich anhand der Begriffe signifié und signification - durchgeführten Unterschied bei Saussure s. insbesondere Godel (1957, 230-242) und Wunderli (1981b). 22 Das Beispiel fr. pigeon stammt von den Herausgebern, Saussure erwähnte laut den Quellen lediglich lat. pluit und fr. tic-tac und glou-glou (CLG-E 156 und Troisième Cours 77). 23 “Artikulation” ist - wie auch “Gliederung” - bekanntlich ein Begriff, der auch in Humboldts Denken eine zentrale Rolle spielt, vgl. u.a. Humboldt (1905 [1820], 4), (1906 [1824], 116ff.), (1907 [1830-1835], 57, 66-67) und (1907 [1827-1829], 153): “Der articulirte Laut, oder, allgemeiner zu sprechen, die Articulation ist das eigentliche Wesen der Sprache, der Hebel, durch welchen sie und der Gedanke zu Stande kommt, der Schlussstein ihrer beiderseitigen innigen Verbindung”. Zu einigen Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Saussure und Humboldt, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann, s. u.a. Lohmann (1967), Christmann (1972) und Jäger (1975, 57ff.), (1986, 21ff.). 24 Dagegen haben Saussures Ausführungen vor denjenigen Humboldts den nicht zu unterschätzenden Vorzug, dass Saussure die Lautsprache im Gegensatz zu Humboldt - vgl. u.a. Humboldt (1906 [1824], 110ff.) und (1907 [1830-1835], 52ff.) - nicht als die einzige wesensadäquate Realisierungsform der Sprache auffasst (vgl. Godel 1957, 148). Für Saussure ist die Lautsprache nur eine der denkbaren und möglichen “Modalitäten” von Sprache, neben der insbesondere auch die Gebärdensprache erwähnt werden muss; vgl. insbesondere Saussure (Troisième Cours 8, 66 und 71), mit Verweis auf W. D. Whitney, der die Verschiedenheit der möglichen Modalitäten der Sprache bereits hervorhob (vgl. Whitney 1875, 291-294). 25 Ohne hier weiter darauf eingehen zu können, weise ich noch darauf hin, dass die These, bei Saussure sei Ikonizität ein semiotisches Mehr und kein Weniger, auch durch Saussures Ausführungen zum Verhältnis zwischen dem “arbitraire absolu” von Simplizia (z.B. fr. hache ‘Beil’, second ‘zweiter’) und dem “arbitraire relatif” von Wortbildungen (fr. couperet ‘Hackmesser’, dixième ‘zehnter’) gestützt wird (s. CLG-E 297-303). Letztere Form von Arbitrarität baut auf ersterer auf, nicht umgekehrt (vgl. Joseph 2000, 1-4 sowie bereits Godel 1957, 226-230). Dazu lesen wir in den Quellen: 2108 […] Tout ce qui fait d’une langue un système ‹ou un organisme› demande d’être abordé sous ce point de vue, où on ne l’aborde guère en général: ‹comme une› limitation de l’arbitraire par rapport à l’idée. 2109 Implicitement on s’appuiera ainsi sur la meilleure base possible, 272 Klaas Willems 2110 puisque la donnée fondamentale du signe linguistique, c’est l’arbitraire (CLG-E 301, Sp. E, Hervorh. im Original). 26 Man vergleiche noch folgende Notiz von Saussure selbst, übrigens eine der wenigen Stellen, wo Saussure Bréals Begriff “sémantique” verwendet, den er ansonsten geflissentlich vermeidet, wohl auch um klarzumachen, dass sich seine Bedeutungstheorie grundsätzlich von derjenigen seiner Vorgänger unterscheidet: “Nous disons qu’il n’y a point de morphologie hors du sens, malgré que la forme matérielle soit l’élément le plus facile à suivre. Il y a donc encore bien moins à nos yeux une sémantique hors de la forme! ” (CLG-N 37, Sp. 2; vgl. auch 41, Sp. 2). Dass Saussure über die erläuterte formale Perspektive hinaus auch für eine logisch-mathematische Perspektive in der Linguistik empfänglich war, soll freilich nicht geleugnet werden, vgl. dazu u.a.: “Il arrivera un jour, et nous sommes absolument conscient ici de la portée de [ ], où on reconnaîtra que les quantités du langage et leurs rapports sont régulièrement exprimables, de leur nature fondamentale, par des formules mathématiques” (ELG 206); vgl. Godel (1957, 44 und 220). Die Analyse der Tragweite und Bedeutung solcher und ähnlicher Aussagen Saussures muss indes einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. 27 Auf die “konsistente Argumentationslogik” und die “mentale Stringenz” des Saussure’schen Denkens weist auch Jäger (2003, 44) nachdrücklich hin, der diese Vorzüge darüber hinaus mit der “aphoristischen Denkungsart” Saussures in Verbindung bringt (Jäger 2003, 42-55). 28 Vgl. auch Jäger (1986, 15-16 und 28). Zum Konzept “Synthesis” in der Sprachphilosophie (Humboldt’scher Prägung) s. Trabant (1986, 75-77). Le produit in situ : analyse (sémiotique) d’une photographie d’Andreas Gursky 99 cent Andreas Rittau Dans le sillage de l’exposition de Gursky au Centre Pompidou Andreas Gursky, le photographe allemand le plus célèbre actuellement 1 , est né à Leipzig en 1955 dans une famille de photographe. Il entreprend donc tout naturellement des études de photographie d’abord à la Folkwangschule d’Essen (berceau de la photographie artistique et expérimentale en Allemagne) puis à la Kunstakademie de Düsseldorf. Si Gursky est bien un représentant de la photo actuelle, il l’est surtout de la photographie allemande car il s’inscrit dans une lignée, celle de sa famille et celle de ses maîtres, Illa et Bernd Becher, couple d’artistes connu pour ses travaux d’inventaire photographique du patrimoine industriel (en noir et blanc) 2 . Gursky se découvre finalement par l’adoption de la couleur et du grand format pour faire de la photo un art à part entière. En effet, la photo, après avoir été dénigrée et reléguée à l’état de miroir du réel, réussit enfin à s’imposer sur la scène du monde comme un support visuel parmi les autres qui tend à évincer la peinture où l’on ne constate plus d’avant-garde créatrice. La photo s’impose partout : exposition, galeries plus nombreuses, musée, cotation, actualité (le mois de la photo à Paris en 2004). La photo n’est plus une doublure du monde, mais un lieu d’expression, un révélateur. La photo dans les dernières décennies a donc changé de statut. Regardée d’abord comme superficielle, facile, évidente, acceptable sur le moment de vision ou de lecture, elle est devenue un art avec son cortège de réglementations juridiques. Devenir artiste célèbre et côté n’engage pas que le juridique mais aussi le secteur de la critique : on discute de la photo, on s’identifie, on glose ! Une distance réflexive s’est imposée aussi tout à coup pour Andreas Gursky car il s’agit pour lui, en allant sur place photographier, « d’une réflexion sur l’identité des lieux » 3 , ce qu’ils révèlent, ce qu’ils fondent, ce qu’ils nous induisent à accepter et à penser. Si Gursky appartient bien au monde de la photo d’aujourd’hui, il appartient surtout au monde d’une lignée allemande 4 . En France qui dit photo dit Arles, en Allemagne, qui dit photo, dit Düsseldorf et objectivité devant les réalisations de l’homme ou de la nature. La tendance photographique allemande à l’objectivité s’accompagne de dépouillement de l’image réduite à des cadrages essentiels presque impersonnels (aéroport, supermarché). Le second aspect qui engage Gursky dans la culture allemande, c’est la double exigence de gigantisme (format) et de précision (recadrage, effacement, traitements divers appliqués, goût du détail). Il ressort de ces tiraillements une sorte d’impersonnalité qui semble agir par l’objet qui s’expose KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 274 Andreas Rittau lui-même lucidement plutôt que par l’œil du photographe. L’objet s’installe et se traduit en s’exposant pleinement (format). Tout l’ensemble entraîne des niveaux de lecture non présents dans la perception réelle. La photo allemande semble dialoguer avec la mémoire visuelle et oblige à considérer cette nouvelle fenêtre ouverte sur le monde qui n’est plus une peinture. En combinant tous ces aspects - engouement sociétal pour la photo comme art, l’appartenance de Gursky au courant de la photo allemande documentaire - est tenté ici la démarche de prolonger le regard sur une photo précise, à savoir 99 cent en la soumettant à deux approches contrastées, de manière à comprendre un cliché cadré et recadré du monde comme un support imagé herméneutique : tout d’abord un commentaire personnel (la réaction au tableau sur place - Centre Pompidou) et ensuite une analyse technique sémiotique. Le succès d’une photo se traduit par le nombre de visiteurs et d’acheteurs. Que recherche-t-on à travers une vue photographique ? Si le silence de chaque spectateur entoure en quelque sorte la photo dans un consensus muet, le but ne peut être atteint. Toute image réussie, qui rencontre une approbation du public, entraîne une critique interprétative devant l’existant. Le premier commentaire est son titre, sa légende ou encore sa référenciation complète. Cependant vivre avec l’image engage maintenant plus qu’un avis rapide sur le tas ! La photo s’entoure et s’enrobe en quelque sorte de tous les commentaires suscités. Pour mieux saisir ‘les usages du monde’, il est judicieux de tenter à plusieurs reprises une approche à partir d’attitudes différentes face à la photo : la réaction personnelle participante, vivant en interaction avec l’image est une première manière de soulever le voile sur le sens présent/ absent de l’image. Ce qui frappe tout de suite à la perception, ce sont les couleurs. Par quels moyens faire signifier ces couleurs dans une culture interculturelle et une mémoire visuelle ? Ce sera donc la première approche d’une lecture personnelle ; ce commentaire personnel est une réponse possible à la perche tendue par la photo. Puis, le moment de réflexion s’impose et une autre attitude se dessine. Que m’a-t-il échappé de cette photo ? Pour jauger cette image, voici maintenant les ressources techniques bien rodées de la sémiotique graphique. Une nouvelle tentative s’échafaude donc, plus ordonnée, en cherchant ce que me transmet une photo aussi commune que celle d’un supermarché dont tout le monde a la pratique. Comment est créée par la photo l’attraction pour des produits sous emballages ? L’interrogation se recentre sur ce qui se découvre de l’espace du supermarché traduit dans l’espace photo (également de grande taille). 1. Commentaire personnel : la bigarrure, l’ampleur chamarrée s’est réfugiée dans la présentation des produits qui se cachent, se voilent sous des emballages ruisselants de couleurs (bleu, vert, jaune, rouge, blanc, noir). Andreas Gursky a su faire affleurer à la conscience les couleurs des produits rivalisant avec le multicolore des fleurs ! Seulement des lignes parallèles d’étalage imitant déjà un code barre coloré s’étagent au regard, du jaune au rouge, du vert au bleu, teinté de métallisé, du bleu au mauve des couvercles. Une palette moderne se distribue en arc-en-ciel géométrique étonnant que seuls les chiffres des prix viennent distinguer ; ces derniers étant bicolores : noir et rouge pour les centimes. Bleu pour les chiffres géants. Ce qui attire encore une fois, c’est l’ampleur du déploiement ; et soudain parmi ces rayonnages ordonnés et ruisselants de couleurs, quelques têtes passantes parmi les coloris ! Elles vont du jaune-soleil tournesol au bleu-horizon, au vert d’eau de mer. Le blanc innocent s’assure aussi un passage entre les rangées parallèles. Une tache de vert parmi le rose, rouge, Le produit in situ : analyse (sémiotique) d’une photographie d’Andreas Gursky 99 cent 275 276 Andreas Rittau rouille, un tapis de bleu-ancolie de juin, un miroir d’aluminium aux bords tantôt verts, tantôt bleus. Le regard s’y perd comme en forêt … L’écriture n’est pas distincte, elle s’efface devant la couleur des jus de fruits, des shampooings, des caramels. Et voilà une femme habillée en taches dalmatiennes qui s’avance vers le rayon où du noir et du bleu se succèdent, puis une longue surface de jaune paille. L’écriture se déplace aussi dans ce paysage circonscrit. Les vêtements des acheteurs sont le plus souvent monochromes puisque voilà la couleur réfugiée de préférence dans les pâtes, les olives, les sauces tomate, la lessive Ariel, les désodorisants au choix : lavande, pin, œillet ou lilas. Les éponges vertes et jaunes attendent longtemps sous les blancs néons. Des mains se tendent, hésitent du bleu pâle au bleu marine, du vert-mousse au vert-bouteille. Le mauve s’affiche à la mode et le café brille toujours sous l’emballage noir-doré ou mordoré. Le sel est éternellement bleu et blanc comme le lait, la tomate rouge-tomate immuable, l’eucalyptus désinfectant vert, l’eau de Javel Lacroix rouge et blanche. Les barres céréales jaunes, rouges et couleur Icetea. Au regard, le métallisé fait cligner les yeux, le rose indien repousse, le blanc est trop blanc. Grâce à ce photographe, on entre, avec lui, conscient dans le temple postmoderne de la consommation. Résultat historique des rêves ancestraux des affamés des âges passés appelant la nourriture du ciel (la manne) et voilà le rêve solidifié ou soldé sous forme de taches colorées comme des champignons. Emerveillement non pas du réel mais de l’œil photographique qui a choisi cette transformation éparpillée des couleurs. Et cela d’autant plus que le plafond se fait miroir où viennent se refléter encore les couleurs nacrées, inaccessibles d’où émerge, comme des yeux, le fameux double chiffre incantatoire 99. Cartons colorés des biscuits, plastique fluo, cellophane, brouillards teintés assemblés audessus des chiffres des prix haussés, baissés, stabilisés, offerts spécialement, labellisés, barrés, tous code-barrés seulement en noir et blanc. Et de choisir la boîte de sel cartonné rectangulaire bleue et blanche parce qu’elle comporte une photo de lagune ou marais et la beauté de l’entremêlement de terre, de sable, et d’eau de mer. La boîte ronde plastique reste au magasin mais l’alternance bleue et blanche domine dans tous les cas de figures. Aller à la caisse pour la faire vacciner au laser ! Sous la couleur apparente, d’autres images se révèlent encore… Ressortir de l’éblouissement des couleurs, des lumières d’Andreas Gursky. Et des quantités immenses aussi. Voilà le ruban de la rue du retour des courses : la rue terne, grise, sèche. Les acheteurs en cordée sur le revêtement lisse, uniforme couleur d’ardoise, parfois luisant, rentrent vers la maison avec l’estampille des cinq lettres bleues et jaunes EDEKA et remontent vers les étages où le blanc, le nuageux, l’ocre des toits, le bleuté de l’horizon sont maîtres. Les produits miroitent encore dans leur choix multicolore et rentrent au frigo blanc, une fois retiré leur tatouage comme l’a su révéler Andreas Gursky sur la large photo : elle est révélatrice des produits de tous les jours, ceux qui nous accompagnent au jour le jour de notre vie. 2. Approche sémiotique 5 : la photo est extraite du catalogue d’exposition Andreas Gursky (Centre Pompidou 2002, p. 44). L’identification du lieu (le supermarché) n’est pas spécifié. Cette photo n’est pas commentée dans le catalogue. Le titre de la photo est 99 Cent, 1999, 207 x 336 cm. La photographie se trouve au Musée d’art moderne du Centre Pompidou (acquise en 2002). Le produit in situ : analyse (sémiotique) d’une photographie d’Andreas Gursky 99 cent 277 Les grandes lignes se présentent en parallélismes horizontaux (environ 7 rangées repérables) et se réverbérant au plafond. Ce rythme est rompu par 3 colonnes verticales. Les grandes lignes très simples sont immédiatement perceptibles presque comme des lignes d’écriture. Les formants imitent les grandes lignes dans la mesure où les différents produits reproduisent des barres parallèles, des rectangles en parallélismes alignés. Des êtres humains apparaissent entre ou parmi les rayons, peu nombreux. La lumière ou luminosité semble venir du fond et du plafond. Elle est forte. Les couleurs sont l’élément important de cette photo puisqu’elles semblent pouvoir même effacer les formants dans une multitude de couleurs : jaune, orange, bleu, rouge, rose, vert, mauve, blanc, métallisé, bicolore aussi combinant toutes les couleurs énumérées. Toutes ces couleurs se mêlent dans une fête du regard tellement elles s’enchevêtrent. On joue sur la profusion. Le chiffre 99 se répète de couleur bleue (en gros) ou rouge. Un effet de multitude, d’ampleur, de puissance, de vue grandiose immense, en grande taille se dégage de ces alternances de couleurs et du cadrage. Le rapport texte/ image est important, mais seuls les grandes lettres apparaissent nothing, days, open, des mots en anglais. Des écritures sont devinées sur les produits sans être bien identifiables. L’écriture est présente à la manière d’un dessin parmi la couleur si variée. Mais ce sont surtout les chiffres qui s’imposent, un chiffre symbolique et chanceux : 99. Tantôt de grande taille, tantôt de plus petite taille et sans cesse répété, comme multiplié. Le prix est aussi dans le titre de la photo : 99, c’est un symbole équivalant à Amen (et que cela se fasse), un jeu facile pour la publicité. Une bonne fortune. La forme géométrique ovale est omniprésente devant chaque catégorie de produit, et tous les autres chiffres de différentes tailles sont bien lisibles, contrairement aux lettres. Les deux formes les plus présentes sont le parallélisme et l’ovale, elles impriment un ordre visuel, une logique de cohérence à cette image amalgamée et confuse à cause de la couleur. En conclusion, l’image propose un effet de grouillement d’où émergent des têtes humaines parmi une mer de couleurs chatoyantes. Les produits restent devinables, ceux de tout supermarché. Mais par l’ampleur du cadrage et de la prise de vue ils acquièrent une autre prise de conscience, celle d’Andreas Gursky qui se cachait derrière nos habitus (faire les courses). Ce paysage devient pour l’œil aussi un dépaysement malgré une insistance sur l’alignement rompu par la couleur et les humains dispersés mis sur le même plan que les produits. C’est la couleur qui donne la signification à l’image, sans quoi le cadrage serait trop rigide et apparaîtrait comme trop simplifié. Seule la couleur modifie le rapport à l’organisation stéréotypée de l’ensemble. Quant aux formants, ils ne fonctionnent pas comme référence au réel (l’huile, l’eau, le chocolat à repérer) mais comme éléments du spectre lumineux tout entier de la multiplicité. Culturellement, le rapport établi entre la puissance, la taille du supermarché et la minutie (les couleurs détaillées des produits) fait reconnaître Andreas Gursky comme une référence allemande, l’Allemagne qui culturellement a toujours combiné la grandeur (taille, échelle, proportions architecturales, gigantisme) et la minutie (application dans les détails, fioriture dans la peinture ancienne, miniature). Ce rapport dialectique perdure aujourd’hui, c’est seulement le déplacement du support culturel (peinture/ photographie) qui nous y rend à nouveau sensible mais « ce n’est donc pas pour eux-mêmes que Gursky photographie des immeubles, des sites, des intérieurs d’usines, des espaces de production, des champ de courses, 278 Andreas Rittau des aéroports, ou encore des espaces d’exposition et des vitrines. Il ne cherche pas à rendre le visible, mais à rendre visible que le monde peut être vu comme une série d’œuvres d’art, que l’art moderne a informé notre regard. A l’inverse de la posture réaliste ou documentaire qui croit pouvoir offrir un accès direct au réel, Gursky entrecroise la réalité matérielle avec celle de l’art moderne. Ses œuvres sont moins la reproduction des apparences que leur conversion en œuvres d’art 6 ». * Tous les théoriciens de la photographie aussi bien Roland Barthes 7 pour la France qu’Hans Belting 8 pour l’Allemagne sont d’accord pour donner à la photo une valeur de référence au réel d’une part et de double, dédoublement, miroir, copie d’autre part. Cependant, à la suite des lectures théoriques accomplies, si l’on se reporte encore une fois à la photo, elle n’apparaît pas attractive en raison de sa référence bien qu’il y ait immédiatement reconnaissance d’un supermarché (scène de supermarché). Ce qui frappe est en porte à faux avec la théorie parce qu’au-delà de la reconnaissance (expérience du quotidien) on constate soudain tout ce qui nous en échappe habituellement : d’abord une vue d’ensemble écrasante, l’architecture si fruste (des barres parallèles sans plus), puis l’harmonie des couleurs non révélée au regard du consommateur. La photo met à distance. En cadrant, elle fait signifier autrement par le plaisir de la vue et de la signification qui la traverse. La scène du supermarché se charge d’un sens qu’il n’avait pas eu auparavant. Andreas Gursky nous le fait voir autrement comme si, en fait, je ne l’avais jamais vraiment vu en soulignant que la culture ambiante a beaucoup évolué puisque les produits sont aujourd’hui sous des coques de couleurs que les designers ont su aussi mettre en scène. L’analyse sémiotique normée a-t-elle enrichi la compréhension ? Elle a rendu la prise de conscience plus stable, mais sans envol. Quelle approche vient le mieux couvrir de significations cette photographie offerte à nos yeux et un instant à notre réflexion ? Notes 1 cf. « Distanzierter Blick. Mit grossformatigen Fotografien feiert Andreas Gursky weltweit Erfolge », dans : Spiegel special ‘Die Deutschen’, n° 4, 2005, pp. 104-113 2 exposés au Centre Pompidou en hiver 2004/ 2005 3 Michel Guerrin, « Aux confins du formalisme décoratif », dans : Le Monde, 22 février 2002 4 on cite souvent à propos de Gursky le Bauhaus, Caspar David Friedrich et Gerhard Richter (cf. par exemple Jacinto Lageira, « Infime, immense, infime », dans : A. Gursky, Catalogue de l’exposition, Centre Pompidou, 2002, pp. 28-35). Mais ces références sont peut-être de trop. Le Bauhaus, recherche systématique, ne renierait pas Gursky, mais quelle appartenance cela représente-il ? Quant à Friedrich, ses vues sont toujours cerclées alors que celles de Gursky sont plates et droites. 5 La grille d’analyse suit l’ordre suivant : référenciation, repérage des grandes lignes de structuration, analyse des formants (ou repérage des formes principales), luminosité, couleurs, rapport image/ texte, symboles présents, signes géométriques. Jean-Marie Floch (Identités visuelles, Puf, 1995) comprend par formants des unités visuelles significatives de sens. 6 André Rouillé, La photographie, Entre document et art contemporain, Gallimard, 2005, p. 501 7 Roland Barthes, « La chambre claire », dans : Œuvres complètes, tome V, Paris, Editions du Seuil 2002, pp. 785-892. Barthes associe étroitement photo et référenciation. 8 Hans Belting, Bild-Anthropologie : Entwürfe für eine Bildwissenschaft, Wilhelm Fink, 2001. Belting associe la photo à la performance ou à l’instantané hors de l’habitus. Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson Dagmar Schmauks „Der Ernst hat eine feierliche Seite, eine schauerliche Seite, überhaupt sehr viele ernsthafte Seiten, aber ein elektrisches Fleckerl hat er doch immer, und da fahren bei gehöriger Reibung Funken der Heiterkeit heraus.“ Nestroy 1. Einleitung Dieser Artikel versteht sich als tiefe Verbeugung vor einem bislang nur punktuell beachteten Semiotiker, nämlich dem amerikanischen Cartoonisten Gary Larson. Geboren am 14.8.1950 in Tacome/ Washington 1 , publizierte er ab den späten 1970er Jahren zahlreiche Cartoons in Zeitungen und den Sammelbänden „The Far Side“, die ihn weltweit bekannt gemacht haben. Im Jahr 1985 wurde ihm die seltene Ehre zuteil, dass man neu entdeckte Tierart nach ihm benannte: die Eulenlaus Strigiphylus garylarsoni. Am 1.1.1995 stellte Gary Larson seine Zeichentätigkeit ein und zeigt dem Leser in Abbildung 1, wie er aus der Welt seiner Geschöpfe wieder auftaucht und wie diese mit der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 28 (2005) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Abb. 1: Ein selbstreferentieller Larson-Cartoon (Last Chapter 80). Dagmar Schmauks 280 realen Welt verknüpft ist. Seine Cartoons werden jedoch weiterhin gelesen, ständig nachgedruckt und sind in immer neue Kontexte eingewandert. Weil sie vielfältige Probleme der Kommunikation sehr einprägsam und lakonisch „ins Bild setzen“, werden sie gern zur Illustration von Vorträgen und Lehrveranstaltungen eingesetzt. Und obwohl sie - wie alle Witze - Nachrichten äußerster Kürze sind, erweisen sie sich bei eingehender Analyse als reizvoll komplex. Text- und Bildelemente sind eng aufeinander bezogen, und der Rezipient muss viele Arten des Wissens aktivieren, um die dargestellte Szene zu verstehen. Das klassische Indiz des Witze-Verstehens ist das Lachen, von dem Volksmund und Medizin behaupten, es sei gesund. Beim Lachen bewegt man Dutzende von Muskeln, atmet vertieft, kurbelt sein Immunsystem an, baut Stresshormone ab und vergisst vorübergehend die Kümmernisse des Alltags. Seminare und Workshops sollen „Lachmuffel“ zu befreiendem Kichern, Glucksen und Gackern anregen, und seit Mitte der 1990er Jahre feiert man am ersten Sonntag im Mai den „Weltlachtag“. Zahlreiche Theoretiker haben Ursachen, Arten und Wirkungen des Lachens untersucht, bahnbrechend etwa Sigmund Freud (1905) in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Das Lachen zu verbieten ist sogar gefährlich, so geschehen etwa die zahlreichen Morde in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (1982) nur, weil ein verschollenes Buch über das Lachen weiterhin geheim gehalten werden soll. In dieser Arbeit geht es um die absichtliche Auslösung von Lachen, also darum, wie man andere zum Lachen bringt. Humor-Herstellung wird als ein Handwerk gesehen, das man wie jedes andere gezielt lernen und dann mehr oder weniger erfolgreich ausüben kann. Humor ist eine grundlegende Funktion menschlicher Kommunikation, die sich in allen Medien realisieren lässt. Sogar in Musik, Architektur, Kleidung und Kulinaristik gibt es Humor, die meisten Humor-Handwerker jedoch produzieren Texte, Hörspiele, Bilder, Theaterstücke und Filme. Eine bunte Mischung von Gewährsleuten, deren Werke sich besonders für semiotische Analysen eignen, sind etwa Lichtenberg, Karl Valentin, Maurits C. Escher, René Magritte, Groucho Marx, Charlie Chaplin, Dick und Doof, Woody Allen, Monty Python sowie die Texter und Zeichner der „Neuen Frankfurter Schule“ (unter anderem F.W. Bernstein, Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid, Hans Traxler und F.K. Waechter). Als Einleitung zur Werkanalyse skizziert Abschnitt 2 einige allgemeine Strategien der Kreativität. Darauf aufbauend charakterisiert Abschnitt 3 Humor als Handwerk und als Zeichenspiel. Der Schwerpunkt liegt auf dem Nachweis, dass die Strategien der Humorerzeugung ein Sonderfall von Kreativität sind, der durch Reflexion besser verstanden und durch Übung verfeinert werden kann. Ferner zeigt sich, dass die zugrundeliegenden kognitiven Strategien medienübergreifend sind und darum in Texten und Bildern gleichermaßen eingesetzt werden. Der 4. Abschnitt erhellt in Detailanalysen wichtige semiotische Aspekte der Cartoons von Larson. Wegen der vielen Auflagen der Sammelbände wird nicht nach Erscheinungsjahren zitiert, sondern mit eindeutigen Kurztiteln wie „Valley“ für „Valley of the Far Side“. Zitierte Bildunterschriften und Äußerungen in Sprechblasen wurden übersetzt, falls nicht Wortspiele oder Anspielungen im englischen Original dies unratsam erscheinen ließen. Manche der deutschen Bildunterschriften versuchen aber auch, Larsons Cartoons mit bekannten Liedzeilen und anderen Textfragmenten zu verknüpfen, also eine weitere Schicht Humor darüberzulegen. 2 Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 281 2. Strategien der Kreativität Eine notwendige Voraussetzung aller kognitiven Leistungen ist die kategoriale Wahrnehmung, also das Zusammenfassen von Objekten zu Mengen aufgrund wahrgenommener Ähnlichkeiten. Bereits einfachste Lebewesen unterscheiden Umweltreize als „angenehm“ vs. „unangenehm“. In späteren Phasen der Phylogenese differenzieren sich die Einteilungskriterien immer feiner aus. Überleben wäre kaum möglich, wenn ein Individuum jede Reizkonstellation gesondert überprüfen müsste. Es ist ungleich empfehlenswerter, auf bestimmte Muster spontan mit Flucht zu reagieren, weil sie dem phylogenetisch gründlich getesteten Konzept „Feind“ entsprechen, als jedes Mal eine Fragetabelle abzuarbeiten („Groß? Gelbschwarz gestreift? Lange Eckzähne? Schnell sich nähernd? - Hilfe, Tiger! “). Der sog. „Analogieschluss“, also das Wahrnehmen von Ähnlichkeiten zwischen weit entfernten Sachgebieten, ist eine der anspruchsvollsten und beeindruckendsten kognitiven Leistungen überhaupt. Vier einschlägige Geschichten sollen zeigen, dass die „Geburt“ neuer Gedanken mit bestimmten Namen verknüpft wird. In allen Fällen wird ein lange bestehendes Problem durch sog. „Inspiration“ gelöst, die kein Mirakel ist, sondern unter anderem auf implizitem Wissen über Strukturen sehr hoher Ordnung beruht. Der klassische Ausruf „Heureka! “ gibt die Innenansicht einer solchen Entdeckung wieder. Denn da der größte Teil der Verknüpfungsarbeit unterhalb der Bewusstseinsschwelle stattfindet, hat die Person selbst den Eindruck, die Einsicht sei „schlagartig“ und „von selbst“ gekommen. • Der Chemiker August Kékulé (1829-1896) träumte von einer Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Dieses Bild lieferte ihm den „Benzolring“ als die lange gesuchte Strukturformel für Benzol. • Den Chemiker Dimitrij Mendelejew (1834-1907) inspirierte die zweidimensionale Struktur von Patiencen zum periodischen System der Elemente. Bei reihenweiser Anordnung der chemischen Elemente nach steigender Atommasse stehen nun verwandte Elemente untereinander und die Eigenschaften noch unbekannter Elemente lassen sich vorhersagen. • Der Mathematiker, Logiker und Philosoph Gottlob Frege (1848-1925) übertrug die Theorie der chemischen Bindung auf die Sprache, um deren „Zusammenhalt“ zu erklären. Funktoren als „ungesättigte“ Ausdrücke brauchen „gesättigte“ Ausdrücke als Argumente, so dass etwa der Junktor „und“ durch zwei Namen gesättigt werden kann wie in „Himmel und Erde“. Da hier auch die Ursprungsdomäne eine Wissenschaft ist, begründet dieser Strukturtransfer eine besonders seltene Art von Transdisziplinarität. • Das Atommodell des Physikers Ernest Rutherford (1871-1937) orientiert sich am Sonnensystem; in ihm umkreisen die Elektronen den Atomkern wie die Planeten die Sonne. Wissenserweiterung geschieht ferner oft durch sog. „Abstraktion“, nachdem man Alternativen zur bisher selbstverständlich geltenden Kopplung von Objekt und Eigenschaft kennengelernt hat. Wer nur blaue Veilchen kennt, behauptet ohne langes Räsonnement den Allsatz „Alle Veilchen sind blau“. Das Sehen einer weißen Albino-Form widerlegt ihn empirisch und legt zugleich die Vermutung nahe, es könne noch mehr Farbvarianten geben. Das Kennenlernen gelber Gebirgsveilchen oder gefleckter Hybriden überrascht dann nicht mehr, denn das Merkmal „Farbe“ ist durch Abstraktion bereits parametrisiert geworden. In Alltag und Wissenschaft müssen wir ständig unsere Wissensbestände aufgrund neuer Informationen erweitern und korrigieren. Gary Larson verdanken wir etliche Vorstöße in Dagmar Schmauks 282 erstaunliche Bereiche, die uns ohne ihn als Pfadfinder verschlossen geblieben wären. Sogar erfahrene Kellnerinnen hätten vielleicht nicht vermutet, dass sie in einem Arktis-Restaurant die Gäste warnen müssen mit „Vorsicht, die Teller sind sehr, sehr kalt“. * Und obwohl auch Laien schon von Spinnenphobie und Platzangst gehört haben, kennt kaum jemand die „Luposlipaphobia“ (It Came 43): Die Angst, von hungrigen Wölfen um einen runden Tisch gejagt zu werden, während man mit Wollsocken auf dem frisch gebohnerten Boden ausrutscht. 3. Humor als Handwerk und als Zeichenspiel Witze sind eine Textsorte, die in speziellen Kontexten anzutreffen ist. Viele Zeitungen und Zeitschriften haben eine eigene Rubrik „Humor“ und es erscheinen immer neue Anthologien mit Titeln wie „Ärztewitze“ oder „Österreichische Witze“. Das Erzählen von Witzen erfolgt an sog. „Lachorten“ (vgl. Bachtin 1969) wie Stammtisch und Betriebsausflug sowie in kommerzialisierten Formen wie Büttenrede, Kabarett und Comedy. Witze haben nur wenige Grundmuster. Eine klare und umfassende Darstellung der Techniken und Tendenzen des Witzes erarbeitet Hirsch (2001) anhand von 700 erstklassigen Beispielen. So tauchen die folgenden schlichten Strategien mit immer neuen inhaltlichen Füllungen auf: • Ausnutzen von lexikalischer Mehrdeutigkeit („Ich bin Wirtschaftsprüfer - meistens schaffe ich 2-3 Kneipen pro Abend“) • Verballhornung von Namen („Wie heißt die Clinton-Ära in den USA? - Sex between the bushes! “) • gezieltes Enttäuschen pikanter Erwartungen („Arnold Schwarzenegger hat einen ganz langen, Brad Pitt hat einen ganz kurzen, Madonna hat gar keinen und der Papst hat zwar einen, benutzt ihn aber nicht. Was ist das? - Der Nachname! “) • „Dreierregel“ (vgl. Vorhaus 2001: 162ff): Zwei gleichartige Elemente scheinen eine Regel einzuführen, die durch ein ganz andersartiges drittes Element sofort wieder gebrochen wird („Friede, Freude, Eierkuchen“ oder „Fürchte den Stier von vorne, den Hengst von hinten, und Dolby Surround von allen Seiten“). Der Terminus „ontologische Fehlgriffe“ soll Fälle bezeichnen, in denen sachlich weit voneinander entfernte Dinge kombiniert werden wie in der Frage: „Wenn das Universum sich fortwährend ausdehnt, warum finde ich dann nie einen Parkplatz? “ (Vorhaus 2001: 91). Ein Fehlgriff etwas anderer Art ist der Satz „Fettflecke werden wie neu, wenn man sie dünn mit Butter bestreicht“. Er maskiert sich als Ratschlag für die Hausfrau und ist sachlich vollständig richtig - abgesehen davon, dass Flecken keine Objekte sind, deren Konservierung uns am Herzen liegt. Zwischen Witzen und Rätseln sind Darstellungen von etwas angesiedelt, das der Rezipient erst als logisch unmöglich erkennen muss. Ein sprachliches Beispiel ist ein „Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt“ (Lichtenberg 1994, 3 Band: 452) und ein bildliches der ständig aufwärts fließende Wasserlauf auf Eschers Zeichnung Wasserfall. Bild-Text-Kombinationen erlauben die besondere Strategie der De-Metaphorisierung, bei der eine vorher metaphorisch verwendete Redensart in einem geistigen Salto mortale wieder Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 283 “And so, without further ado, here’s the author of ‘Mind over Matter’ …” Abb. 2: Rest cogitans und res extensa … (Far Side o.S.) wörtlich genommen wird. So wirbt die Ökobauern-Organisation Neuland mit dem Slogan „Wir lassen die Sau raus“, und im Bild trabt sie gerade vergnügt über ihre Weide. Eine weitere Quelle des Lachens sind Widersprüche zwischen Bild und Text, für die Larson viele Beispiele liefert (vgl. Abschnitt 4.8). So soll der Redner in Abbildung 2 laut Bildunterschrift in bewährt dualistischer Manier vortragen über „Der Geist - Beherrscher der Materie“. Das Bild hingegen macht die vollständig gegenläufige Aussage, dass diese Herrschaft doch stark schwächelt. Im Bildhintergrund knallt nämlich der angekündigte Redner gerade gegen einen Strebepfosten als widerständiges Element des res extensa, wobei er auch noch Brille und Manuskript als die etablierten Mittel intellektueller Weltbemächtigung verliert. Wer die Regeln politischer Korrektheit streng anwendet, muss Larsons Cartoons unverzüglich auf den Index setzen. Wer hingegen meint, politisch korrekter Humor sei so etwas wie alkoholfreies Bier oder fettarmer Joghurt - gesund aber doch eher unlecker -, ist bei ihm gut aufgehoben. Er trifft dann etwa eine Gruppe massiger „Weight Watchers“, die aus einem Fenster beäugt werden, das die Aufschrift „Whale Watchers“ trägt. * Als explizite Stellungnahme zu den Regeln politischen Korrektheit besteht ein Sumpfmonster darauf, „wetlands-challenged mutant“ (Curse 26) genannt zu werden. Die bevorzugteste Zielgruppe von Larsons Geißelungen sind jedoch die kognitiv Herausgeforderten: • bei einem Haustürgeschäft erscheint jemandem das Versprechen „Verdoppeln Sie Ihren IQ oder kein Geld zurück“ verlockend (Beyond o.S.), • ein Junge drückt verbissen gegen die Eingangstür der „Schule für Hochbegabte“, an der ein riesiges Schild „Ziehen“ hängt (Observer 100), • die Vereinigung der „Idioten Amerikas“ trägt ihr Transparent verkehrt herum (Far Side o.S.) und • in einer „Schule für mechanisch Zurückgebliebene“ wird die Handhabung eines Schraubenziehers durch Nahaufnahmen erläutert (Abbildung 3). Dagmar Schmauks 284 4. Semiotische Aspekte bei Gary Larson Gary Larson Universum heißt „The Far Side“, wobei es rhetorisch sensible Personen vielleicht freut, dass die Abkürzung „FS“ ein Chiamus zum üblichen „SF“ als Akronym zu „Science Fiction“ ist. Denn gerade die hohe Eigenständigkeit seines Weltbildes hat Larsons Cartoons so bekannt gemacht, wobei er seine Leser stark polarisiert - entweder man liebt seinen Humor, oder man findet seine Weltsicht bekämpfenswert negativ. Während jedoch viele platte Optimisten unter dem Motto „Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos“ dahinsegeln, verkündet Larson wie alle großen Humoristen die Gegenthese: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst“. 4.1 Die „Andere Seite“ der Welt Die Anthologien der „Far Side“ wurden im Deutschen unter dem Titel „Die andere Seite“ veröffentlicht. Zu diesem Ausdruck drängt sich mir eine Parabel aus früher genossenem Religionsunterricht auf. Ihr zufolge erscheint unsere Erfahrungswelt nur deshalb so konfus und fehlerhaft, weil wir sie „von der falschen Seite“ betrachten. Wie Kakerlaken unter dem Teppich sehen wir nämlich nicht dessen wunderbare Muster, sondern nur die vielen schlampigen Knoten und sinnlosen Schlingen, mit denen die Fäden vernäht wurden. Erst im Tod schreiten wir durch den Teppich auf dessen „richtige“ Seite, die nun in ihrer ganzen seidigen Farbenpracht sichtbar wird. Man denkt hier auch an triviale Science-Fiction-Romane und deren schlichte Ratschläge für Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit („Hyperdrive“): „Lege den Raum in Falten und geh quer hindurch! “ Nun, liebe Mit-Kakerlaken, werfen wir mit Larson einen vorzeitigen aber unerschrockenen Blick auf die „Andere Seite“! Interessanterweise hat auch Alfred Kubin, der in erster Linie als Zeichner phantastischer Motive bekannt ist, seinem einzigen Roman den Titel „Die andere Seite“ gegeben (Kubin 1909). Er beschreibt darin die abgelegene und beklemmende Stadt Perle in Zentralasien. Sie wird von einem Schulfreund des Erzählers bis in kleinste Details gesteuert und damit letztlich vernichtet. Larsons „andere Seite“ hat Herrscher abstrakterer Art, nämlich vor allem Banalität und Dummheit. Alle Lebewesen vom Einzeller bis zum Menschen und sogar Außerirdische auf interstellaren Reisen sind ihnen unterworfen. Die Beispiele der Cartoons lassen sich auf zwei Stufen anordnen: Auf der ersten Stufe ist die Welt „nur“ absurd, auf der zweiten Stufe ist sie vollends fremdartig geworden. Oft reicht ein einziger Blick „wie von außerhalb“, um ein reales Ereignis als absurd zu entlarven. Sehr erhellend kollidiert Hochtechnologie oft mit simpelstem menschlichem Versagen. So stellt nach dem finalen Atomschlag ein Ehepaar in seinem üppig bevorrateten Bunker fest, dass der Dosenöffner vergessen wurde (Observer 48). Sogar die erste Landung von Außerirdischen auf der Erde bleibt undokumentiert, da der Fotograf erst die Kamera aufklappt, um zu prüfen, ob ein Film darin ist (Bride o.S.). Ein typisches Larson-Beispiel mit Gegenwartsrelevanz ist ein Schwertransporter mit einer Mittelstreckenrakete, an dessen Heck die tröstliche Mitteilung steht „Unsere Rücklichter brennen zu ihrer Sicherheit“ (Hound 66). Frösteln löst auch der Schnappschuss eines Schmetterlingsammlers aus, der eine besonders prachtvolle Beute preist: „Ein Symbol von Schönheit, Unschuld und bedrohtem Leben - reich mir den Äther! “ (Far Side o.S.). Absurdität fällt jedoch nur auf, so lange der Alltag „normal“ ist. Während also beim Erkennen einzelner absurder Szenen das gesamte Weltbild „heil“ bleibt, wird einem in extremen Gemütslagen die gesamte Realität bedrohlich fremd. Wenn Larsons Cafeteria-Gast Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 285 School for the Mechanically Declined Abb. 3: Die Liebe zum Detail (Dummies 20) Darrell suspected someone had once again slipped him a spoon with the concave side reversed. Abb. 4: Die Fremdheit des Alltäglichen (Search o.S.) argwöhnt, man habe ihm schon wieder „den Löffel mit der konkaven Seite nach außen gegeben“, ist dies eine beklemmende Momentaufnahme einer pathologisch verzerrten Welt (Abbildung 4). In solchen Parallelwelten gelten die Gesetze der Logik, des „gesunden Menschenverstandes“ und des sozialen Zusammenlebens nicht (mehr), sie sind „ver-rückt“ im wörtlichsten Sinn. Entsprechende Cartoons haben also einen schillernden Status. Einerseits bereichern sie das Weltbild des Lesers, indem sie ihn anleiten, die alltägliche Welt auf ganz neue Art zu sehen. Sie wirken dann einer „automatischen Wahrnehmung“ oder „funktionalen Fixiertheit“ entgegen und können sogar die eigene Kreativität steigern. Andererseits lauert jedoch am Horizont immer das umfassende Gefühl einer unaufhebbaren „Fremdheit in der Welt“, das ein Leitsymptom einiger Persönlichkeitsstörungen ist; das Asperger-Syndrom heißt sogar umgangssprachlich „wrong planet syndrome“). 4.2 Grundprobleme der Bildpragmatik Auf der Darstellungsebene sind Larsons Cartoons sehr schlicht. Menschen, Tiere und Dinge werden durch einfache Umrisslinien gezeichnet, die den Strichmännchen auf Kinderzeichnungen ähneln. So reichen ein paar Kreise und Kringel, um eine frustrierte Hausfrau mit Schmetterlingsbrille, Rüschenschürze und betonharter Dauerwelle zu skizzieren. Ähnlich genügt ein Häkelkissen als Kürzel eines Interieurs, und drei Bogenlinien deuten eine Hügellandschaft an. Sparsame Schraffuren schaffen nur andeutungsweise eine Illusion von Räumlichkeit. Derselbe Minimalismus findet sich bei den Textelementen. Die Bildunterschriften Dagmar Schmauks 286 sind ebenso lakonisch wie die Texte der nicht allzu häufigen Sprechblasen, die sich oft auf eine einzige Interjektion beschränken (vgl. Schmauks 2004). Rezipienten mit Sinn fürs Absurde werden den Index zu schätzen wissen, den Larson seinem Band „Wiener Dog Art“ beigefügt hat (Wiener Dog 109-111). Alle Buchstaben des alphabetischen Register sind leer geblieben, nur unter „T“ drängen sich Kurztitel sämtlicher Witze zusammen, etwa „The one about cow poetry“. Man beachte, dass dies exakt die Strategie des Witze-Erzählens abbildet, denn innerhalb dieses Sprachspiels wird ein neuer Witz eingeleitet durch Fragen wie „Kennst du den von Tünnes und dem Pinguin? “ Reale und gezeichnete Welt sind nicht streng getrennt, sondern haben durchlässige Grenzen. So nimmt der Bauer, der in einer Schneekugel lebt, die sich nähernde Riesenhand wahr und ruft „Geh rein, Ma, ein Schneesturm kommt“ (Selections 38). In Abbildung 5 sind sogar vier Welten ineinander geschachtelt: Wir blicken aus unserer Welt in die des Zeichners, in der herumlungernde Gaffer die Zeichnung verdecken, in der wiederum ein Bild an der Wand hängt (man denke an die Redensart „ins Bild laufen“, wenn Passanten beim Fotografieren stören). Die Welt in Abbildung 6 ist auf andere Art komplex, denn hier tritt eine Larson-typische artübergreifende Wohngemeinschaft mit den Protagonisten anderer Zeichner in Kontakt. Nicht nur werden die „Möglichen Welten“ der Philosophie sehr witzig als Apartments im Wohnblock des Seins konzeptualisiert, sondern die Larsonianer haben auch einen Grad an Selbsterkenntnis, um den wir sie beneiden sollten - sie wissen nämlich um ihre Nicht-Ernsthaftigkeit. Ernst ist es hingegen einem Cartoon-Teenager, der seinen Eltern (? ) vorwirft, er „habe nicht darum gebeten, gezeichnet zu werden“ (Observer 83). Ein Kennzeichen von Bildern besteht darin, dass sie ihre eigenen Konventionen nicht auf einer Meta-Ebene selbst thematisieren können. Larson jedoch schafft auch diesen Spagat über die Ebenen, wenn er den Stil der Umrisslinien (glatt vs. gewellt) zu einem quasi-biologischen Merkmal erhebt und damit die semiotische Kardinalsünde der Verwechslung von Urbild und Abbild begeht (Abbildung 7, vgl. Schmauks 2001). Gombrich hat auf die Existenz kulturspezifischer Darstellungskonventionen für bestimmte Objekte hingewiesen. So sieht die stark stilisierte Darstellung eines fliegenden Vogels aus wie der kleine Buchstabe „m“, und dies wissen sogar die Vögel selbst (Abbildung 8). Gegenständliche Bilder lassen sich danach einteilen, ob ein bestimmtes Objekt abgebildet werden soll oder ob schematische Aspekte im Vordergrund stehen. So interpretieren wir dasselbe Bild einer Person je nach Bildtitel als „Porträt“ („Susanne Musterfrau“) oder als „Genrebild“ („Junge Frau am Fenster“). Ebenso ist das Bild eines berühmten Rennpferdes ein Porträt, während Schautafeln wie „Die Hummel“ immer arttypische (also schematische) Merkmale abbilden. Larson wirbelt diese Einteilung gründlich durcheinander, wenn der Leser des Buches Know your insects „Brustbilder“ von Insekten sieht mit Unterschriften wie „Linda“ und „Ted“ (Hound 84). 4.3 Der Mensch und seine Mitgeschöpfe Als auffälligster Zug des Larson-Universums handeln alle Lebewesen bis in winzigste Details genau wie Menschen, und zwar wie solche der amerikanischen Mittelschicht. So dippen Wölfe auf einer Party tote Schafe in Soße (It Came 104), Bären lesen den Ratgeber Winterschlaf leicht gemacht (Bride o.S.), und vergessene Bügeleisen in Vogelnestern erweisen sich als „dritthäufigste Ursache von Waldbränden“ (Valley 31). Während Schweine früher wegen hübscher Rundungen geschätzt wurden, hat der Jugend- und Schlankheitswahn nun auch die Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 287 Suddenly, two bystanders stuck their heads inside the frame and ruined one of the funniest cartoons ever. Abb. 5: Metasemiotische Bildstörung (Selections 90) “I just can’t tell from here … That could either be our flock, another flock, or just a bunch of little m’s” Abb. 8: Artübergreifende Kenntnis von Darstellungskonventionen (It Came 41). “Now watch your step, Osborne. … The Squiggly Line people have an inherent distrust for all smoothliners.” Abb. 7: Der Argwohn der Gewelltlinigen (Curse 36). “Oh, man! You must be looking for ‘Apartment 3-G,’ ‘Mary Worth,’ or one of those other ‘serious’ cartoons.” Abb. 6: Im Haus des Cartoons sind viele Wohnungen (Selections 18). Dagmar Schmauks 288 Tierwelt angesteckt, und Bauern holen ihre Säue - die nun schmale Taillen haben - vom Fettabsaugen ab (Selections 74). Auch auf der mikroskopischen Ebene ist der Alltag ebenso banal wie bedroht. In Abbildung 9 geben menschliche Spermien sich als Paketbote, Versicherungsvertreter oder Handwerker aus, um sich den Eintritt in die Eizelle zu erschleichen. Ein anderes Spermium setzt auf Technologie und überholt alle Konkurrenten durch einen Außenbordmotor (Selections 24). Besonders reizvoll sind die bislang unbekannten Probleme des artübergreifenden Zusammenlebens, etwa wenn im Restaurant der menschliche Gast die irrtümlich servierten „Regenwürmer Alfredo“ für Spaghetti hält (It Came 55) oder ein neugieriger Knabe das Warnschild übersieht, mit dem Hornissen ihre „angry hour“ ankündigen (Selections 11). Manches im Tierreich bleibt uns natürlich verschlossen, etwa die Kennzeichnungen der Toilettentüren von Quallen (Abbildung 10). Solche Szenen wirken umso bizarrer, je eher wir ihre Protagonisten zu den so genannten „niederen Tieren“ zählen, also je „weiter weg“ in der gemeinsamen Stammesgeschichte wir sie empfinden. Wer wusste schon, dass Einzeller gemütliche Wohnzimmer mit Sofas und Fernsehgeräten besitzen (Search o.S.), Pornobilder von Zellteilungen mit schwarzen Balken entschärfen (Hound 11), einander „Dick-Membranigkeit“ vorwerfen (Hound 24) oder verbittert fragen: „Reiz - Reaktion, Reiz - Reaktion: DENKST Du auch manchmal? “ (Observer 11). Inmitten einer vermüllten Wohnung, im Sessel fläzend und eine Bierflasche schwingend gibt ein Wimperntierchen sogar ohne mit den Wimpern zu zucken zu, „die niedrigste Lebensform zu sein“ (Cows 52). Insekten besuchen ein Horrorkabinett mit Spinnen und Fliegenklatschen (Dummies 33) und gruseln sich im Film „Die Rückkehr der Killer-Windschutzscheibe“ (Search o.S.). Wenn sie einander zwischen den Schulterblättern kratzen (oder jedenfalls dort, wo wir solche haben, Abbildung 11), klingt die Theorie der eingebetteten Welten mit der Frage an, ob herumlaufende Menschen etwa auch Juckreiz bei der Erde auslösen, die selbst ein riesiges Lebewesen ist. Beschwipste Regenwurm-Casanovas versuchen auf einer Party, das „falsche Ende“ einer Dame zu beeindrucken (Valley 38), und Schweine erhalten obszöne Anrufe, bei denen man nur „Schnaufen und Keuchen“ hört (Far Side o.S.). Und es ist wie ein Blick in einen unfreundlichen Spiegel, wenn Schlangen das laaaaange Ausklappfoto von Playsnake anstarren (Hound 81) oder im Insekten-Nachtclub eine verführerische Dame aus ihrer Puppenhülle schlüpft (Dummies 45). Zwischen Tier- und Pflanzenreich besteht bestenfalls ein gradueller Unterschied. Pflanzen fürchten sich vor der Schere des Gärtners (Bride o.S.) und rächen sich für Misshandlungen durch den Menschen: „So, jetzt werden wir mit Dir mal ein bisschen ‚Sie liebt mich - sie liebt mich nicht’ spielen! “ (Far Side o.S.). Wie ahnungsvoll zu befürchten, trägt der Mensch alle seine Fehler mit sich, wenn er aufbricht, um das Weltall zu erobern (dieselbe pessimistische Grundthese findet sich in den Romanen und Erzählungen von Stanislaw Lem). So reißt ein Astronaut nach der Mondlandung jubelnd die Arme hoch und zertrümmert dabei seinem Kollegen die Sichtscheibe des Raumanzugs (Far Side o.S.), andere Raumfahrer purzeln mit dem Schrei „Erster! “ die Landungstreppe hinunter (Bride o.S.). Da tröstet es nur mäßig, dass es den Aliens genauso ergeht. Sie kommen im falschen Sonnensystem an (Valley 80), jagen Fußgänger mit dem Ruf „Yeeeeha! “ durch eine Straßenschlucht (Beyond o.S.), sperren den Schlüssel in ihrer Fliegenden Untertasse ein (Beyond o.S.) oder stolpern auf der Treppe, wenn sie ehrfurchtgebietend den Erdlingen entgegenschreiten wollen (Abbildung 12). Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 289 How the human egg is often deceived. Abb. 9: Befruchtender Betrug (Wildlife 28) “Wonderful! Just wonderful! … So much for instilling them with a sense of awe.” Abb. 12: Interstellare Begegnung der peinlichen Art (Search o.S.). “Yes! Yes! That’s it! … Just a little higher.” Abb. 11: Rekursive Parasiten (Dummies 83)? Only they know the difference. Abb. 10 Piktogramme auf Toilettentüren (Observer 102) Dagmar Schmauks 290 4.4 Popularisierung von wissenschaftlichen Theorien Larsons Talent, wissenschaftliche Theorien durch lakonische Zeichnungen zu illustrieren, macht diese zum idealen Einstieg in mancherlei wissenschaftliche Vorträge. Was könnte etwa griffiger in Jakob von Uexkülls Theorie der „Merkwelten“ einführen als Abbildung 13? Auch für das semiotisch interessante Thema „Mimikry“ gibt es neue Belege mit bislang unbekannten Tierarten, die ganz bestimmte Lebewesen als Futter schätzen: Ein Riesenfrosch tarnt sich mit weit aufgerissenem Maul als Vogeltränke (Far Side o.S.), die „Venus-Kinderfalle“ lässt ihre Tentakel wie Autoreifen zum Schaukeln baumeln (Bride o.S.), und die Zunge eines riesigen Monsters, das in offenbar übel beleumundeter Gegend seinen Rachen aufsperrt, sieht haargenau wie eine Schnapsflasche aus (Bride o.S.). Eine besonders raffinierte Strategie besteht darin, mit einem artifiziellen Hintergrund zu verschmelzen, wie es die Sofa-Kobra in Abbildung 14 vorführt. Im Schnittbereich von Science Fiction und Horror spielen viele Geschichten mit der Angst vor dem Unbekannten, indem sie unheimliche Wesen aus dem Weltraum zeigen, die heimlich die Erde erobern. In Abbildung 15 lernen wir eine besonders ausgeklügelte Unterwanderung kennen und werden künftig Ampelkreuzungen mit Argwohn begegnen. Eine überlegene Intelligenz nutzt hier durch geniale Tarnung die ohnehin vorhandene Neigung des Menschen aus, einander mit ihrem Lieblings-Artefakt plattzufahren (vgl. Abschnitt 15). Ortstreue Lebewesen markieren meist ihre Reviere, wobei sie artspezifische Zeichen verwenden. Abbildung 16 stellt je eine akustische und visuelle Strategie vor und zeigt zugleich in sehr schräger Beleuchtung, wie sich der homo sapiens gegenüber seinen Mitgeschöpfen definiert. Diese nur erschließbare Kritik an unserem Verhalten gegenüber anderen Arten ist sehr typisch für Larsons eher leise Strategien der Aufklärung. So wird man über Professor Doyle, der in einem Alien-Zirkus mit der Peitsche zum Lösen von quadratischen Gleichungen angetrieben wird (Chickens 87), nur einen Augenblick lang vorbehaltlos lachen. Dann drängen sich innere Bilder von Delphinen auf, die wir in winzigen Bassins durch Reifen springen lassen. Heute nimmt man an, dass die Evolution die sexuelle Vermehrung nur „erfunden“ hat, um durch ständige Neukombination der Erbinformationen die Abwehrkräfte gegen Parasiten fit zu halten. Larson stellt diese Theorie vom Kopf auf die Scheinfüßchen, denn aus Virensicht ist menschliches Sexualverhalten nur eine Agentur für Fernreisen (Abbildung 17). Auch komplexe philosophische Theorien werden in Strichzeichnungen eingefangen, etwa die konstruktivistische Überzeugung, dass die scheinbar „vorgegebene“ und „gemeinsame“ Welt von den Bewohnern unterschiedlicher Lebenswelten ganz verschieden strukturiert wird. Bei schärferem Nachdenken erscheint es aber ganz natürlich, dass Monster auf ihren Partys gerne den Hit „The Best of Little Kids Screaming“ hören (Curse 109) und sich vor Wesen AUF ihrem Bett fürchten, während sie selbst - wo sonst? - DARUNTER liegen (Abbildung 18). 4.5 Berufskarikaturen Mit besonderer Hingabe zielt Larsons Spott auf Wissenschaftler, die er dem Stereotyp entsprechend als weltfremd und kindisch zeigt. Gruppen bebrillter Männer in Laborkitteln stürmen jubelnd zum Eiswagen (Bride o.S.), schwärzen neckischerweise das Okular des Teleskops (Bride o.S.), stülpen einander Probengläser auf die Nase (Bride o.S.), bewerfen Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 291 How birds see the world Abb. 13: “Vogelperspektive” wörtlich genommen (Valley 18). “And now, Randy, by use of song, the male sparrow will stake out his territory … an instinct common in the lower animals.” Abb. 16: Reviermarkierung bei höheren und niederen Lebewesen (Search o.S.). “Our people are positioned on every street corner, commander … Shall we commence with our plan to gradually eliminate the creatures? ” Abb. 15: Rot heißt stehen … (Wiener Dog 86). The deadly couch cobra - coiled and alert in its natural habitat Abb. 14: Snakey Mustermann in Lauerstellung (Wiener Dog 36). Dagmar Schmauks 292 Be a virus, see the world. Abb. 17: Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise (Chickens 63). “For crying out loud, gentlemen! That’s us! Someone’s installed the one-way mirror in backward! Abb. 20: Erkenne dich selbst! (Valley 95) “Now that desk looks better. Everything’s squared away, yessir, squaaaaared away.” Abb. 19: Einstein entdeckt die Masse-Energie- Formel (Valley 87). “I’ve got it again, Larry … an eerie feeling like there’s something on top of the bed.” Abb. 18: Die Angst der Monster (Beyond o.S.) Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 293 sich mit Radiergummis (Far Side o.S.), tropfen einander Säure in den Nacken (Cows 42) oder lassen Plastiksaurier miteinander kämpfen (Valley 67). Ferner zeigt sich, dass gerade die ganz Großen unserer Geistesgeschichte auf recht seltsame Weise zu ihren Ergebnissen kamen. So verdankt Einstein seine weltbekannte Formel offenbar seiner Putzfrau (Abbildung 19). Das Zentrum für Primatenforschung kommt vergleichsweise spät zu einer Einsicht, die eine Neubewertung aller bisherigen Beobachtungen nahelegt (Abbildung 20). Designer eignen sich als Zielscheiben für Spötteleien, insofern ihre Werkzeuge und Produkte nicht so ganz zu den Forderungen des Faktischen passen. In frühen Epochen, in denen die Welt der Artefakte erst mäßig ausdifferenziert war, hatte der steinzeitliche Klempner es natürlich schwer, seine Werkzeuge scharf zu unterscheiden (Abbildung 21). Dass derlei Inkompetenz keineswegs der Vergangenheit angehört, belegen die Absatzprobleme der Firma „Wonker Wiener“, die ihre Würstchen QUER in ihre Hot Dogs steckt (Far Side o.S.). Die Jetztzeit stellt völlig neue Design-Probleme. So sollte man Fluggästen auf keinen Fall allzu viel Einfluss auf wesentliche Aspekte des Flugzeugs zugestehen (Abbildung 22). Auch Ärzte kommen nicht ungeschoren davon. Sie wetten während einer Operation, ob das Herz vier Kammern habe (Far Side o.S.), ermahnen einen Frischoperierten, mit „seinem nur temporären Gehirn nicht allzu hart zu denken“ (Wiener Dog 70) und blenden eine reanimierte Patientin im verdunkelten Operationssaal mit der Taschenlampe, woraufhin sie in einer Talkshow über Nahtoderlebnisse ergriffen vom „Licht am Ende des Tunnels“ berichten kann (Cows 95). 4.6 Vergessene Momente der Weltgeschichte Rühmkorffs Sammlung Über das Volksvermögen enthält zahlreiche Verse, die Autoritäten und zelebrierte Hochkultur verspotten. Sie zeigen Heldengestalten in peinlichen Situationen und lassen Geistesheroen Banales äußern (Rühmkorff 1969: 55) wie „Salomo der Weise spricht Laute Fürze stinken nicht“ Ähnlich respektlos stellt Larson uns Szenen aus unserer Geschichte vor, die in Vergessenheit geraten sind. Wer wusste schon, dass unsere amphibischen Vorfahren das Meer nur darum erstmals verließen, um einen verlorenen Baseball zurückzuholen (Search o.S.), oder kennt die wahren Gründe für das Aussterben der Einhörner (Abbildung 23)? Die Volksweisheit „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ wird durch neue Belege bestätigt. Der junge Moses teilt zur Übung die Milch in seinem Frühstücksbecher (Wildlife 8), und der erwachsene scheitelt mit derselben dramatischen Geste sein langwallendes Haar (Chickens 40). Leonardo da Vinci ergreift beiläufig ein Streichholzheftchen mit einem Pferdekopf und der Aufforderung „Zeichne mich! “ und findet so zu seiner wahren Berufung (Bride o.S.). Und endlich wird auch jenen Personen ein Denkmal gesetzt, die bislang anonym blieben. So erwähnte kein Geschichtsbuch jemals, dass es die Firma „Lambini & Söhne“ war, die den FUSSBODEN der Sixtinischen Kapelle geschaffen hat (Selections 100). 4.7 Metachrone Weltenverzwirbelung Besonders kreativ sind Zeichnungen, die den Ablauf der Geschichte auf verblüffende Weise sozusagen „in Schleifen legen“. So kleben an Saurier-Höhlen Zettel mit der Botschaft Dagmar Schmauks 294 “So what’s this? I asked for a hammer! A hammer! This is a crescent wrench! … Well, maybe it’s a hammer. … Damn these stone tools.” Abb. 21: Der steinige Weg zur Hochtechnologie (It Came 75). “Well, there it goes again … And we just sit here without opposable thumbs.” Abb. 24: Form follows function (Bride o.S.)? “Well, so much for the unicorns … But, from now on, all carnivores will be confined to ‘C’ deck.” Abb. 23: Noah macht eine schreckliche Entdeckung (Far Side o.S.). Fumbling for his recline button, Ted unwittingly instigates a disaster. Abb. 22: Der fatale Endbenutzer (Chickens 7). Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 295 In the days before television Abb. 25: In Erwartung des Fortschritts (Beyond o.S.). “No doubt about it, Ellington - we’ve mathematically expressed the purpose of the universe. Gad, how I Abb. 26: Larsons Weltformel (Valley 92). Ausgestorben“ (Valley 22). Die gängige Ansicht, dass Lebewesen die Technik als „Verlängerung“ ihrer artspezifischen Physis schaffen (Freuds „Prothesengott“, vgl. Freud 1948: 451), wird durch ein Rinderpaar in Frage gestellt, das in seinem gediegen ausgestatteten Wohnzimmer das Telefon nicht abheben kann, weil ihnen der abspreizbare Daumen fehlt (Abbildung 24). Larson wirft auch Menschen in solche Zeitschleifen. So muss ein steinzeitlicher Schüler etliche Male an die Tafel schreiben „Ich darf mich im Klassenzimmer nicht primitiv benehmen“ (Search o.S.), ein steinzeitlicher Archäologe datiert eine Granitschüssel auf „den frühen Juli“ (Wildlife 87), und eine Familie starrt vor Erfindung des Fernsehens gebannt die leere Wand an (Abbildung 25). 4.8 Metaphysik und Eschatologie In diesem letzten Abschnitt soll die Behandlung überzeitlicher Themen bei Larson an einigen repräsentativen Beispielen vorgeführt werden. Skeptiker mag es befriedigen, wenn es der Wissenschaft gelingt, den Zweck des Universums stringent nachzuweisen (Abbildung 26). Diese Strategie, einen unverfänglichen Text mit einem brisanten Bild zu kombinieren, verwenden viele Humor-Handwerker. In Wilhelm Buschs Bildergeschichte Die fromme Helene etwa bemerkt nur ein sehr aufmerksamer Leser, dass Helenes neugeborene Zwillinge ihrem Vetter Franz (mit dem sie innige Stunden beim Bohnenpflücken verbrachte) in bedenklichem Ausmaß ähnlich sehen (Analyse weiterer Beispiele zum Thema „Schweigende Texte, sprechende Bilder“ in Schmauks 1998). Dagmar Schmauks 296 Metaphysisch relevante Entscheidungen wollen wohl erwogen sein. Abbildung 27 lässt an der gängigen Vorstellung zweifeln, dass der ausgetretene und bequeme Weg ins Verderben, der steile und dornige hingegen zum Heil führt (man erinnere sich: Der „Mensch am Scheideweg“ ist von Herakles bis zu Andachtsbildern des 19. Jahrhunderts ein geläufiger Topos, vgl. Harms 1970). Typisch für Cartoons sind Sprechblasen, die Äußerungen und Sprecher einander zuordnen. Folglich entsteht ein besonders witziger Effekt, wenn der Bildausschnitt den Sprecher absichtlich ausklammert. In Abbildung 28 kann der Betrachter nur erschließen, dass die Interjektion „uh-oh“ von Gott selbst geäußert wird, weil die Stimme des unsichtbaren Sprechers aus den Wolken tönt, in christlicher Lesart also aus dem Himmel. Durch diese minimalistische Strategie wird also die sehr skeptische (bzw. blasphemische) Überzeugung vorgeführt, Gott sei bei der Erschaffung des Menschen ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen. Besorgt betrachtet man darum einen weiteren Cartoon mit der Interjektion „uh-oh“, hier geäußert von einem Virenforscher, dessen Probenglas gerade mitten auf einer belebten Straße zerschellt ist (Bride o.S.). Am anderen Ende der Zeitlichkeit wartet die Apokalypse, die nicht nur den Menschen (be)treffen wird. Folglich gibt es, wie Abbildung 29 vorführt, auch im Tierreich Nostradamusse, die als Mahner und Warner auftreten. Die Beschaffenheit der Hölle hat viele Autoren stark beunruhigt, man denke an Überlegungen von James Joyce in Porträt des Künstlers als junger Mann (Joyce 1987: 380ff) und von Thomas Mann im zentralen Kapitel XXV von Doktor Faustus (Mann 1971). In Larsons Hölle bekommen bekannte Redewendungen einen neuen, höchst beunruhigenden Sinn. Am Eingang hängt der Spruch „Heute ist der erste Tag vom Rest Deines Lebens“ (Far Side o.S.) und die Sekretärin wird vom Teufel angewiesen, lästige Vertreter „zum Himmel zu schicken“ (Observer 44). Dass Aerobic in der Hölle mit „5 Millionen Wechselschritten“ beginnt (Valley 5), die teuflische Videothek nur das Video „Ishtar“ ausleiht (Cows 28), die Verdammten lediglich Magazine über Fernreisen und Outdoor-Sport zu lesen bekommen (Cows 78) und alle Kaltfronten laut süffisant vorgetragenem Wetterbericht „seitlich vorbeiziehen“ (Cows 62), ist nur konsequent. Noch beunruhigender aber sind Privathöllen, die für einzelne Sünder „maßgeschneidert“ wurden. So muss der Tänzer Baryshnikow bis in alle Ewigkeit an einem ländlichen Square-Dance teilnehmen (Dummies 43), Charlie Parker „New Age Music’s Greatest Hits“ hören (Selections 45) und ein Dirigent eine Klasse dümmlich glotzender Banjospieler unterrichten (Bride o.S.). Auch dieses Schicksal teilen unsere Mitgeschöpfe, so hat <Larson/ der Teufel> für verdammte Hunde überaus passende Strafen gefunden: Sie arbeiten als Briefträger oder Straßenreiniger (Hound 21). Die Mythen vieler Kulturen charakterisieren die Orte ewiger Verdammnis durch extreme Temperaturen, wobei die buddhistische Eschatologie (deren Anhänger mit Hochgebirgen vertraut sind) außer der glutheißen Hölle auch eine eisige kennt. Abbildung 30 belegt jedoch, dass wir die Temperatur unserer Umwelt nicht ganzheitlich wahrnehmen, sondern jedem Objekt einzeln eine optimale Temperatur zuschreiben. Der letzte Blick dieses Artikels soll jedoch dem Himmel gelten. Ähnlich wie schon Xenophanes darauf hinwies, dass jede Art von Lebewesen sich Gott nach ihrem eigenen Bild schafft, liefert Larson überzeugende Beispiele dafür, dass auch der Himmel artspezifisch gestaltet sein muss. Selbst die Jenseitshoffnungen unserer niedrigsten Mitgeschöpfe werden getreulich erfüllt, so ergötzen sich verklärte Fliegen an einer Schüssel mit - hoffentlich verdorbenem! - Kartoffelsalat (Abbildung 31). Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 297 “I don’t know if this is such a wise thing to do, George.” Abb. 27: Verhängnisvoller Pioniergeist (Wildlife 19). “Oh, man! The coffee’s cold! They thought of everything! ” Abb. 30: Über die Temperaturunterschiede der Hölle (Curse 72). Abb. 29: Auf den Hund gekommen, und wieder herunter (It Came 67). Abb. 28: Vermasselte Genesis (Beyond o.S.). Dagmar Schmauks 298 Fly heaven Abb. 31: Ich fliege mit dir in den Himmel hinein (Valley 22). Cow philosophy Abb. 32: Für dich soll’s rote Rosen regnen … (Beyond o.S.). Der abschließende Ratschlag an alle Leser sei einem Rinder-Guru ins Flotzmaul gelegt. Kurz und griffig formuliert, gilt er mit artspezifischen Parametern für die Wesen aller Welten (Abbildung 32). Passen Sie gut auf sich auf! Literatur Primärliteratur Larson, Gary (1982): The Far Side. Kansas: Andrews and McMeel. - (1983): Beyond the Far Side. Kansas: Andrews, McMeel und Parker. - (1984): In Search of the Far Side. Kansas: Andrews, McMeel und Parker. - (1985): Bride of the Far Side. Kansas: Andrews, McMeel und Parker. - (1985): Valley of the Far Side. Kansas: Andrews, McMeel und Parker. - (1986): It Came from the Far Side. Kansas: Andrews, McMeel und Parker. - (1984): Hound of the Far Side. Kansas: Andrews, McMeel und Parker. - (1987): The Far Side Observer. Kansas: Andrews and McMeel. - (1988): Night of the Crash-Test Dummies. Kansas: Andrews and McMeel. - (1989): Wildlife Preserves. Kansas: Andrews and McMeel. - (1990): Wiener Dog Art. Kansas: Andrews McMeel. - (1991): Unnatural Selections. Kansas: Andrews McMeel. - (1992): Cows of Our Planet. Kansas: Andrews McMeel. - (1993): The Chickens Are Restless. Kansas: Andrews and McMeel. - (1994): The Curse of Madame „C“. Kansas: Andrews and McMeel. - (1996): Last Chapter and Worse. Kansas: Andrews and McMeel. Semiotische Aspekte in den Cartoons von Gary Larson 299 Sekundärliteratur Bachtin, Michail (1969): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München: Hanser. Eco, Umberto (1980): Il nome della rosa. Milano: Bompiani. Deutsch: Der Name der Rose. München: Hanser 1982. Freud, Sigmund (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Wien: Deuticke. Gesammelte Werke Bd. 6. Frankfurt a.M.: Fischer 1948. Taschenbuchausgabe: Frankfurt a.M.: Fischer 1965. Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. Leipzig u.a.: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. In: Gesammelte Werke Bd. 14: 419-506. Frankfurt a.M.: Fischer 1948. Harms, Wolfgang (1970): Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München: Fink. Hirsch, Eike Christian (2001): Der Witzableiter oder Schule des Lachens. Erweiterte und überarbeitete Neuauflage. München: Beck. Joyce, James (1987): Stephen der Held. Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kubin, Alfred (1909): Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. München: Müller. Reprint München: Edition Spangenberg 1990. Lichtenberg, Georg Christoph (1994): Schriften und Briefe in vier Bänden. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins. Mann, Thomas (1971): Doktor Faustus. Frankfurt a.M.: Fischer. Rühmkorf, Peter (1969): Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund. Reinbek: Rowohlt. Schmauks, Dagmar (1998): „Schweigende Texte - sprechende Bilder“. In: Hans Czap, Heinz Peter Ohly und Simone Pribbenow (eds.): Herausforderungen an die Wissensorganisation: Visualisierung, multimediale Dokumente, Internetstrukturen. Würzburg: Ergon: 3-12. Schmauks, Dagmar (2001): Verwechslungen von Urbild und Abbild. Memo Nr. 43, FR Philosophie, SFB 378, Univ. Saarbrücken. Schmauks, Dagmar (2004): „Die Visualisierung von Interjektionen in Werbung und Comic“. Zeitschrift für Semiotik 24: 113-127. Vorhaus, John (1994): The Comic Toolbox. To Be Funny Even If You’re Not. Los Angeles: Silman-James Press. Deutsch: Handwerk Humor. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2001. Anmerkungen * Von diesem Cartoon fehlt mir leider trotz heftigen Stöberns die Quelle - er wurde mir als Ausriss aus einer Zeitung geschickt. 1 Woraus folgt, dass er nur einen Monat und einen Tag nach der Autorin auf diesem Planeten abgesetzt wurde (vgl. die Anmerkung zu Abbildung 4). 2 Ja, dazu fühle ich mich berufen und geeignet, denn meine Herkunft aus einer linksrheinischen Familie von Büttenrednern, Elferratsmitgliedern und Heimatdichtern lieferte „nature“ und „nurture“. narr studienbücher Ulrich Schmitz (Hrsg.) Linguistik lernen im Internet Das Lehr-/ Lernportal PortaLingua narr studienbücher, 2004, 281 Seiten, div. Abb., € 19,90/ SFr 34,90 ISBN 3-8233-6073-6 PortaLingua ist das deutschsprachige Portal zum Lernen und Lehren von Sprach- und Kommunikationswissenschaft im Internet.Studienanfänger können sich damit eine vollständige Einführung erarbeiten, die große Teile des üblichen Kanons im Grundstudium an den meisten deutschen Universitäten abdeckt. Studierende in höheren Semestern und Examenskandidaten finden vielfältige Spezialitäten und umfangreiches Material für elektronische Repetitorien. Lehrende können PortaLingua-Bausteine mediendidaktisch gezielt in ihre herkömmlichen Lehrveranstaltungen integrieren. Das Buch stellt Konzept und Aufbau des Portals vor, führt in die Nutzung der umfangreichen Materialien ein und berichtet über praktische Erfahrungen im universitären Einsatz. Narr Francke Attempto Verlag Postfach 2567 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 75288 Internet: http: / / www.narr.de · E-Mail: info@narr.de „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik Klaus H. Kiefer „Was konstituiert unseren Geist? “ Hugo Ball, 7. Mai 1917 1. Geographie und Genese 1 Dada ist bekanntlich in Zürich entstanden - wenn auch „aus dem Nichts“. 2 Beide Angaben, zumal in dieser paradoxen Gegenüberstellung, erstaunen: In diesem Lande der Rohköstler, Joghurtfanatiker, Konkubinatsschnüffler, in der freien Schweiz, die Friedrich Schiller besungen hat, in diesem Lande des Kropfs, der Seen und der landschaftlichen Schönheit, das von Alfieri als ein Abort und von Madame de Staël als ein Paradies bezeichnet wurde, wo die Kühe wie Menschen und die Menschen wie Kühe sind, in diesem Land, in dem Gottfried Keller als totes Schemen die Lebendigen mehr sekkiert als je ein Torquemada die Häretiker sekkiert haben kann - hier wurde eines Tages Dada geboren, die Weltanschauung der freiesten Menschen, die dieser verfluchte Planet hervorgebracht hat. 3 Die Ursprungshypothese „aus dem Nichts“ hat weit weniger Interesse erweckt als die leicht faßbare Exilsituation. Zwar hatte Dada einige deutsche Väter - und eine deutsche Muttergottes 4 -, so daß man in Paris wie schon im Falle des Kubismus seine „origine boche“ 5 beklagte, und es gab viele Dadas avant la lettre im In- und Ausland, ob sie nun den scheinbar so unverbindlichen Namen übernahmen oder damit konkurrierten, wie etwa Kurt Schwitters’ „Merz“. Die Ursprungsfrage - wie so vieles bei Dada - ist und bleibt indessen von Widersprüchen gezeichnet, die nicht durch Ortbestimmungen und Staatszugehörigkeitfeststellungen aufgelöst werden können. Das „passé simple“, das Tristan Tzara 1918 in seinem Manifest gebraucht, „Ainsi naquit DADA [...]“, 6 stellt zwar eine historische Ordnung her, 7 aber nur zwei Seiten weiter beteuert der unzweifelhafte Mitbegründer der Bewegung: „Je vous dis: il n’y a pas de commencement [...].“ 8 Ja, im Programm einer „Kleinen Dada-Soirée“ von 1922 konnte man lesen: „Dada existe depuis toujours. La Sainte Vierge déjà fut dadaïste.“ 9 Raoul Hausmann ging noch weiter zurück - weiter geht’s nicht im christlichen Abendland: „DADA [...] sprang aus der magischen Büchse des Demiurg am Anfang der Welt [...].“ 10 Doch - auf die Gefahr KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 302 Klaus H. Kiefer hin, mir selber zu widersprechen: „Bevor Dada da war, war Dada da.“, 11 so nämlich Hans Arp. „Dieses kindliche Suchen nach einem Anfang“, 12 das schon Carl Einsteins Bebuquin als schädlich erkannte, wird uns allerdings noch weiter beschäftigen. 2. Der „Krieg der Geister“ 13 Ungeachtet aller politischen und ökonomischen Implikationen war der Erste Weltkrieg auch und gerade seitens der jungen Künstler und Intellektuellen als „Lösung“ der Décadence- Problematik, empfunden worden. 14 Nicht nur in Deutschland; längst schon hatten die italienischen Futuristen den Krieg zur „einzigen Hygiene der Welt“ 15 erklärt. Dienstuntauglich versucht sich Hugo Ball sogar - man höre und staune - an die Front zu schmuggeln; die Erfahrung traumatisiert ihn. 16 Er war nicht der einzige. Eine umfassende Darstellung des Verhältnisses Dadas zum Weltkrieg fehlt allerdings. 17 Als Ball und anderen Zürich zum Exil wird, wirkt der Krieg jedenfalls wie ein Filter, der bestimmte politische, philosophische oder auch religiöse Themen nicht mehr durchläßt - wenn auch nur für kurze Zeit, und während Ball konvertiert, politisiert sich der Berliner Dadaismus denn auch wieder, „will etwas“. 18 Der Krieg, obwohl als „Kulturkrieg“ propagiert, potenziert die europäische Kulturkrise. Auch für Dada wurde er zur „Urkatastrophe“. 19 Von daher rührt das (weitgehende) Fehlen positiver oder gar „melioristischer“ 20 oder überhaupt eindeutiger Aussagen im dadaistischen Diskurs - bis zum flagranten Selbstwiderspruch: „Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein! “, 21 bis zur Verleugnung jeder Botschaft, auch der eigenen: „Dada will nichts [...].“ 22 - „Dada bedeutet nichts.“ 23 Ob nun vom Geschützdonner, den man von Verdun her bis in die Schweiz hören konnte, oder der großen Negertrommel untermalt, Tzaras Ideal, Ideal, Ideal Erkenntnis, Erkenntnis, Erkenntnis Bumm-Bumm, Bumm-Bumm, Bumm-Bumm 24 drückt den „Bankrott“ aller Weltanschauungen und Ideologien und ihrer sprachlichen Vermittlung synekdotisch aus. Die Klage über den „journalistischen“ (politischen! ) Mißbrauch der Sprache ist auch bei Expressionisten frequent. Hugo Ball betont jedoch: „Die Sprache als soziales Organ kann zerstört sein, ohne daß der Gestaltungsprozeß zu leiden braucht. Ja es scheint, daß die schöpferischen Kräfte sogar gewinnen.“ 25 Dieser radikale Relativismus oder Nihilismus geht indessen auf die Vorkriegszeit zurück - was breit zu dokumentieren wäre: in Deutschland durch Namen wie Georg Simmel, Ernst Mach, Hans Vaihinger, indirekt auch Albert Einstein u.v.a.m. Wenn man Hugo Balls Exposé einer Nietzsche-Dissertation betrachtet - die er glücklicherweise nicht vollendet hat -, so findet man freilich nicht die „passenden“ Belege, etwa bezüglich der Reduktion von „Wahrheit“ auf bloße Rhetorik und Semiotik. 26 Als Moral- oder Religionsersatz fordert Ball 1909/ 1910 „eine Art philosophisches Kunstwerk mit ästhetischen Werten“. 27 Es nimmt nicht Wunder, daß die jungen Künstler, die sie nun einmal waren, auf dieser prätheoretischen „Schwelle“ verharrten 28 und auch als ihre Gewährsmänner vorzugsweise Künstler und Literaten zitierten, so insbesondere Frank Wedekind. 29 Wie ein Brennspiegel zieht das Anfang Februar 1916 gegründete Cabaret Voltaire diese Anregungen auf seine Bühne und setzt gerade dadurch die Münchner oder Berliner, aber auch „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik 303 Züricher Kabarettkultur des Vorkriegs fort. Auch hier fehlen internationale Quellen nicht; ich nenne nur z.B. Alfred Jarrys „Ubu Roi“, aus dem Hans Arp rezitierte. 30 Nachdem so gut wie „[a]lle Stilarten der letzten zwanzig Jahre“ 31 Revue passierten, stellt sich Hugo Ball zurecht die Frage: „Sind wir nicht magische Eklektizisten? “ 32 Dieser dadaistische Eklektizismus, der durch das zirzenische Moment des Cabarets noch verstärkt wurde - „Die Bildungs- und Kunstideale als Variétéprogramm -: das ist unsere Art von ‘Candide’ gegen die Zeit.“ 33 -, ist freilich nicht nur als Fakt zur Kenntnis zu nehmen, sondern als semiotisch konstitutiv 34 zu betrachten. Selbst Desinteresse und Unverständnis seitens des (mehrheitlich studentischen) Publikums 35 potenzierte die dadaistische Semiose, denn obwohl gegen das Publikum spielten, tanzten, gestikulierten, trommelten die Dadaisten eigentlich nur für sich, d.h. die subjektive Radikalität wurde - zumindest anfänglich - weder dialogisch noch kommunikativ noch auch durch kommerzielle Rücksichten gemildert. 3. Gesamtkunstwerk und poetische Funktion Seinem Erfinder, Hugo Ball, 36 zufolge war das Cabaret Voltaire ein - freilich minimiertes und modernisiertes - „Gesamtkunstwerk“, das von Richard Wagners „Festspielidee“ kaum mehr als die Synästhesie der Kunstgattungen bewahrte als im übrigen auch der „Blaue Reiter“, dem Dada ebenfalls Anregungen verdankt. Daß in Balls Künstlertheater Carl Einsteins „Dilettanten des Wunders“ die „Richtung“ weisen sollten, 37 wirkte dabei eher kontraproduktiv - wenn ich mir als Vorsitzendem der Carl-Einstein-Gesellschaft/ Société-Carl-Einstein 38 diese Bemerkung erlauben darf -, denn welche „Richtung“ könnte das sein? Die Vielfalt der Mittel und Stile - „afrikanische“ Masken und Trommeln, 39 „kubistische“ Tänze und Kostüme, 40 Folklore, Rezitation, Gesang, Schrei, Gestik usw. - formten ein lebendiges Potpourri, das sich heute außer in Photos und anderen Bildzeugnissen 41 nur noch in den Texten spiegelt, und von Texten werde ich im folgenden (fast) ausschließlich handeln. 42 Dada nutzte verschiedenste Textsorten, um sich mitzuteilen und zu propagieren, von der einfachen Pressenotiz - nicht selten ein Bluff 43 - über die „chronique scandaleuse“ 44 bis zum Manifest. 45 Der Übergang von diesen Gebrauchsformen zur literarischen Gattung (im engeren Sinne) ist fließend, einmal ganz abgesehen davon, daß die Absicht, „Literatur“ oder „Kunst“ zu „machen“, bei Dada unterschiedlich ausgeprägt war. Ohne Zweifel bietet aber die Lyrik - neben und in der dramatischen „Performance“ 46 - ein besonderes Medium für das, was Dada war - gewollt oder ungewollt. Im narrativen Genre, auch im Film, tat sich der Dadaismus jedenfalls viel schwerer. 47 Völlig ausgeschlossen ist es im gegebenen Rahmen, einen Katalog aller lyrischen Formen und Verfahren zusammenzustellen: das Lautgedicht, das Simultangedicht, das bruitistische Gedicht, das gymnastische wie das statische usw. 48 Auch die mehrsprachigen Texte oder die sog. „Negergedichte“ 49 wären zu berücksichtigen. Vielmehr möchte ich fragen, was diese Werke gemeinsam haben, und dies auch ohne jede Hoffnung, das Thema zu erschöpfen. 50 Angesichts der unterschiedlichsten Reduktionen von Syntax, Semantik - womit auch „Logik“ konnotiert sei -, Phonetik usw. wird klar, daß hier die dichterische Freiheit weit über das „expressionistische“ Maß à la van Hoddis oder Lichtenstein hinausgeht, 51 und das gilt auch für Gedichte, wie sie Emmy Hennings und Hugo Ball selbst noch in Zürich schreiben. 52 Gewiß wirkt in den multilingualen und multimedialen Lautmalereien Balls, z.B. der „Elefantenkarawane“, 53 ein mimetisches Prinzip, wenn auch weniger als in der expressionistischen 304 Klaus H. Kiefer Wortkunst August Stramms, 54 ist in Arps „weh unser guter kaspar ist tot“ ein verfremdetes aber deutliches Echo von Nietzsches inhaltsschwangerer Aussage „Gott ist tot“ zu vernehmen, 55 ebenso wie sich hinter dem hiatisch gesperrten Referenzobjekt von Huelsenbecks Refrain „es schließet der Pfarrer den Ho-osenlatz rataplan rataplan den Ho-osenlatz“ 56 dasselbe säkulare Anliegen regt. „Inhalte“ sind also mehr oder weniger zu erkennen. 57 In jedem Werk wird aber das Verhältnis von Mimesis und Poiesis neu bestimmt. 58 Dadaistisch (im engeren Sinne) wird ein Gedicht da, wo sich seine Sprache „materialisiert“ oder „abstrakt“ oder „absolut“ oder „plastisch“ wird - keiner der Begriffe ist treffend -, wo der Autor mit seinem in unterschiedlichste Einheiten zerfällten Material - Sätze, Wörter, Laute - komponiert, 59 wo er thematische Brüche collagiert, so daß sich eben doch auf „höherer“ - oder „tieferer“ - Ebene ein ästhetischer Zusammenhang ergibt. Dieser „Umwertung“ werden alle Medien unterworfen und einverleibt: Zeitungsausschnitte, graphische und typographische Elemente usw., die fast alle Dadaisten, aber nicht nur diese - man denke an die kubistische Collage - in ihren Arbeiten montieren. Kurt Schwitters Forderung einer „prinzipiellen Gleichberechtigung aller Materialien“ 60 bestätigt 1919 nur eine längst geübte Praxis, und André Bretons „Manifeste du surréalisme“ von 1924 wirkt in dieser Hinsicht geradewegs epigonal, wenn es da heißt: „Il est même permis d’intituler ‘poème’ ce qu’on obtient par l’assemblage aussi gratuit que possible (observons, si vous voulez, la syntaxe) de titres et de fragments de titres découpés dans les journaux [...].“ 61 Das wurde sechs Jahre nach Tzaras Gebrauchsanweisung „Pour faire un poème dadaïste“ 62 geschrieben - bei dem „Tempo dieser Zeit“ 63 keine Kleinigkeit... Die „Materialisation“ aller sprachlichen Einheiten oder sonstigen Zeichenträger erzeugt eine wahrhaft „ptolemäische“ Isotopie, die dem dadaistischen Eklektizismus, seiner Mehrsprachigkeit, 64 seinen „Negergedichten“, seinem Humor, 65 seinen Texten und Collagen usw. einen gemeinsamen Nenner verleiht, sie um eine gemeinsame Achse dreht. Informationen sind nicht mehr falsch oder richtig, die Wahrheitsfrage zu stellen wäre absurd, Widersprüche lösen sich als „polymorph“ pervertierbar/ permutierbar 66 auf. In diesem Sinne sind, so Walter Serner, „Weltanschauungen“ in der Tat nichts anderes als kaleidoskopische „Vokabelmischungen“. 67 Sogar der Zusammenbruch der europäischen Kultur im Ersten Weltkrieg macht hier Sinn: Gleichberechtigung der Bruchstücke. 68 Die Idee der Rotation faszinierte auch Melchior Vischer oder Richard Huelsenbeck. 69 Schreibt ersterer einen „unheimlich schnell rotierenden Roman“, 70 so charakterisiert letzterer seinen Protagonisten Dr. Billig mit den Worten: „Billig hat die Fähigkeit der Begeisterung. Er sagt: ‘Dreh dich! Dreh dich! - Knalle! Explodiere! ‘“ 71 Mit dieser „Drehachse“ ist allerdings nicht die von Raoul Hausmann attackierte - gleichsam „goldene“ - „Mittelachse“ gemeint, die dem „Ganzen“ durch Unterscheidung von Gut und Böse, Recht und Unrecht etc. Sinn verleiht: [...] wir [Dadaisten] sind weit entfernt von der Symbolik, dem Totemismus; elektrisches Klavier, Gasangriffe, hergestellte Beziehungen, Brüllende in Lazaretten, denen wir erst durch unsere wunderbaren widerspruchsvollen Organismen zu irgendeiner Berechtigung, drehender Mittelachse, Grund zum Stehen oder Fallen verhelfen. 72 Es handelt sich auch nicht um die von Algirdas Julien Greimas postulierte „semantische Achse“ (im Sinne eines gemeinsamen Nenners von Oppositionen), 73 sondern entgegen dem Hausmannschen Verständnis von Totemismus oder Animismus eben doch um kulturrelativ „dezentrierte“ Achsen, die je nach Ansatz unterschiedliche Weltbilder entwerfen, wie es spätestens Carl Einstein der Avantgarde ins Bewußtsein geprägt hat. 74 Einstein zufolge handelt es sich um einen universellen „metamorphotischen Dynamismus“. 75 Wenn nun aber „Materiali- „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik 305 sierung“ „Ästhetisierung“ bedeutet, und damit auch „Semiotisierung“, insofern jedes Zeichen eine sinnliche bzw. imaginative Komponente besitzt, 76 so geht Dada als die erste wirklich „primitive“ Kunstbewegung der Moderne auf die Ursprünge der menschlichen Zeichengebung zurück 77 und legt in seiner Züricher Praxis eine Funktion frei, 78 die in der Theorie zur selben Zeit wiederentdeckt wird, und zwar in Genf. 4. Semiotik und Wirkungsgeschichte Es ist kein Zufall, daß sich Ferdinand de Saussure zunächst mit indoeuropäischem Sprachvergleich und vergleichender Grammatik beschäftigte, dann aber nahezu zeitgleich mit den Dadaisten, nämlich in seinem 1916 veröffentlichten „Cours de linguistique générale“, 79 die Funktion des Sprachzeichens selber fokussiert. 80 Während bei ihm, abgesehen von seinen - m.E. abseitigen - Studien zum Anagramm, keine literarischen Interessen bekannt sind, entsteht das Werk Roman Jakobsons wenig später im engen Austausch mit der russischen Avantgarde, insbesondere mit Velimir Chlebnikow. Aber er widmet auch 1919 schon dem Futurismus einen Artikel, 81 in dem das zentrale Begriffspaar der neueren Stilistik „Material“ und „Verfahren“ bereits genannt wird. Im Prager Linguistenkreis, dem sich der Exilant Jakobson dann anschließt, wird insbesondere die Differenz zwischen Standardsprache und poetischem Sprachgebrauch herausgearbeitet, wiederum, so vor allem bei Jan Mukařovský, in engem Anschluß an die avantgardistische Kunst. Es ist zwar noch ein weiter Weg bis zu Mukařovskýs „Kunst als semiologisches Faktum“ 82 oder Jakobsons „Poetik und Linguistik“, 83 aber die Analogie zwischen den Errungenschaften der Avantgarde und der neueren Semiotik ist so augenfällig, daß sie weiterer Erklärungen bedarf. Offenbar hat Dada dadurch, daß er die von Saussure postulierte Zeichenfunktion, nämlich - gut cartesianisch - gedankliche und ideologische Ordnung herzustellen, „distinguer deux idées d’une façon claire et constante“, 84 sei es willkürlich, sei es zufällig, außer Kraft und die menschliche Kreativität 85 wieder in Kraft setzte, sowohl das Prinzip der Arbitrarität entdeckt als auch deren poetische Funktion freigelegt. Arbitrarität und Poetizität sind dasselbe, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Dada betrieb freilich keine Wissenschaft, und selbst seine kühnsten Theoretiker blieben Dilettanten, deren Wortspiele keinen theoretischen Abschluß fanden, weil ihnen die Metasprache 86 fehlte: „Dada [...] bedeutet nichts. Dies ist das bedeutende Nichts, an dem nichts etwas bedeutet. Wir wollen die Welt mit Nichts ändern [...]“, 87 rodomentiert Richard Huelsenbeck. Immerhin erkennt er sich in Salomo Friedlaenders schwerverdaulichem Opus „Schöpferischer Indifferenz“ wieder, wo es heißt: „Wie lächerlich ist es doch, seinen Ausgangspunkt wo anders zu nehmen als im schöpferischen Prinzip selber! “ 88 Auch Raoul Hausmann beruft sich noch 1970 auf Friedlaender: „Die Wandlung wurde auf das Wort, bis auf den Buchstaben, bis auf das Zeichen - befolgt.“ 89 Trotz Hausmanns Annäherung und auch Schwitters’ z.T. grotesken Spekulationen über Laut und Sinn etc. 90 sind Semiotik und Dada ohne wechselseitige Kenntnisnahme geblieben, und das nimmt auch nicht Wunder, da man in Deutschland in den 30er Jahren, als sich die semiotische Internationale formierte, auf höhere Weisung hin, dem „ganzen Kunst- und Kulturgestotter von Kubisten, Futuristen und Dadaisten“ 91 zu entsagen hatte. Unter den Zeitgenossen hätte am ehesten Carl Einstein die theoretische Kraft besessen, Dada zu verstehen, doch sein Verhältnis zu Dada ist problematisch 92 - trotz seiner Teilhabe am 306 Klaus H. Kiefer Berliner Dadaismus. Er setzt von Anfang an auf den Kubismus, dessen „konstruktive Willkür“ 93 er 1926 als humanen Befreiungsschlag deutet: „Ist Tradition der Kunst Wiederholung, so bewirkt sie gleichzeitig nachahmende Verblödung.“ 94 Als er dann wohl unter dem Eindruck der „surrealen“ Entwicklung Georges Braques Ende der 30er Jahre von der nihilistischen „Gewalt des Funktionalen“ 95 spricht, wäre damit ein Theorieansatz für die dadaistische Semiose gefunden gewesen, der sich semiotisch hätte ausbauen lassen können. Doch auch Einsteins Werk blieb unvollendet. Die poetischen und die theoretischen Diskurse haben sich nach je eigenen Gesetzen aneinander vorbei entwickelt, wie der klägliche Mißerfolg mancher Linguisten, „unsinnige“ Wörter und Sätze zu bilden, bezeugt, 96 und auch Jacques Derrida - im Kontext von 1968 (wenn ich mich recht erinnere) als „der große Derdiedas“ 97 tituliert - hätte gleich bei Dada nachlesen können, was er mühsam aus de Saussure, Nietzsche oder gar Heidegger herausinterpretiert: „Ce jeu, pensé comme l’absence du signifié transcendental [...]“, 98 das ist doch Dadas „Narrenspiel aus dem Nichts“, und nichts außerdem. Nichtsdestotrotz kann in der Anwendung semiotischer Begrifflichkeit auf Dada ein „wirkungsgeschichtliches Moment“ 99 im Sinne der Gadamerschen Hermeneutik geltend gemacht werden, das in allem Verstehen von Überlieferung wirksam ist. Die Wirkung Dadas rührt nicht zuletzt daher, daß Mehrsprachigkeit, 100 Vieldeutigkeit, 101 Primitivismus, 102 Sinnlosigkeit, 103 Arbitrarität, Reklame, kurzum: alle Merkmale und „höheren Fragen“ 104 der Moderne, in seinem Namen eingeschmolzen sind, so daß es nur genügt, das „Zauberwort“ 105 auszusprechen... Nicht verschwiegen werden soll indessen ein gewisses Tautologieproblem der wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik, das im gegebenen Falle jedoch durch Orientierung an der aktuellen semiotischen Theoriebildung kontrolliert werden kann. Nur durch diese maßvolle Vereindeutigung können die divergenten, zwischen (richtiger) Intuition und Irrationalismus oszillierenden Thesen Dadas überhaupt erst verstanden und als Einsicht in „höhere Fragen“ gewürdigt werden. 5. Dada-Didaktik „Wo [...] sollte die Welt hin, wenn schon die Literatur, mit der man gewohnt war, die Kinder zum Gehorsam zu bringen, sich so gebärdete...? “, 106 so beschreibt Richard Huelsenbeck den inneren Monolog des Publikums auf der 8. Dada-Soirée am 9. April 1919, 107 während man in Tzaras „Chronique Zurichoise“ nachlesen konnte: „[...] la salle [...] oublia les frontières de l’éducation des préjugés, [et] sentit la commotion du NOUVEAU.“ 108 Eine didaktische Beschäftigung mit Dada heute kann dieses emanzipatorische Lernziel nach wie vor verfolgen, auch wenn die von Jefim Golyscheff, Raoul Hausmann und Richard Huelsenbeck 1919 geforderte „Verpflichtung der Geistlichen und Lehrer auf die dadaistischen Glaubenssätze“ 109 keinen Sinn hätte - Sätze ohne Gegensätze gibt es bei Dada bekanntlich nicht; außerdem bliebe die Genehmigung des Kultusministeriums, welcher Couleur auch immer, mit Gewißheit aus... Die arbiträren Knalleffekte des dadaistischen Kulturschocks dürften in unserer Gegenwart im übrigen schlichtweg verpuffen. Eine moralisierende Beschäftigung mit Kunst und Literatur, die im Nachkriegsdeutschland bis in die 60er Jahre unter dem Begriff „Lebenshilfe“ 110 praktiziert wurde und nach dem „moral bombing“ 111 durch die alliierten Bomberflotten dem „moralischen Wiederaufbau“ diente, ist durch mehrere Innovationsschübe der Didaktik, die sachorien- „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik 307 tierte, die kritische, die kommunikative, die produktionsorientierte und die postmoderne Wende, außer Kraft gesetzt worden, obwohl Wertfragen in der ästhetischen Erziehung und Rezeption nie ganz ausgeklammert werden können und dies auch gar nicht geschehen soll. 112 Ohne Zweifel ergeben sich „Reibungen“ zwischen der dadaistischen „Botschaft“ - selbst wenn diese null und nichtig (gewesen) wäre oder gerade deswegen - und dem institutionalisierten Unterricht, der immer ein gewisses, allein schon organisatorisches Maß an Zwang und Disziplin 113 bedeutet (was Pädagogen aber nicht gerne hören) sowie eine so normative wie rationale Zielsetzung impliziert. Dadas schulische Domestifikation ist aber allein schon deswegen sinnvoll, weil die Jugend ohne entsprechende „Belehrung“ in den öffentlichen Erziehungsanstalten vermutlich gar nicht mit Dadaismus konfrontiert würde. 114 Die Ablenkung durch andere massenhafte Medienangebote 115 und ideologische Institutionen - Fernsehen, Fußballstadien, Diskotheken, Kirchen, Playstations, Drogen usw. - wäre ansonsten zu groß. Zwar können nicht alle historischen Gegenstände Unterrichtsinhalt werden - eine Auswahl ist unumgänglich -, aber das Prinzip der Geschichtlichkeit fordert zumindest in den geisteswissenschaftlichen Fächern einen Durchlauf durch die wichtigsten „Epochen“ - das legitimiert Dada, auch wenn Raoul Hausmann gegen „historische Bildung“ 116 an sich polemisieren mochte. Dabei steht Dada jedoch in der Schule wie in der germanistischen Forschung überhaupt in Konkurrenz zum Expressionismus. Auch tut sich der Deutschunterricht deshalb schwer mit Dada, weil Dada eben nicht nur deutsch war und eben nicht nur Literatur. Daher ist ein fächerübergreifendes Arbeiten in der Verbindung mit Kunsterziehung, Musik und insbesondere auch Französisch geboten. Es handelt sich dabei notwendigerweise um ein gesamteuropäisches Projekt. 117 Um einerseits den ethischen Herausforderungen des Gegenstandes gerecht zu werden, andererseits aber auch den Normalisierungsdruck des Fachunterrichts zu kompensieren, bedarf es einer ausbalancierten Methodik. Setzt man den didaktischen Akzent auf die Historizität des Themas, wird man eher zu analytischen Methoden greifen. Folgt man dem wirkungsgeschichtlichen bzw. wirkungsästhetischen Impuls Dadas stärker, wird man das kreative Potential der Werke in den Vordergrund rücken. Dada kann dank seiner konstruktivistischen Ansätze - man denke an Tzaras „Pour faire un poème dadaïste“ 118 - „gemacht“ werden. Herstellung von Collagen in Kunsterziehung, kreatives oder produktives Schreiben im Deutschunterricht gehören zu den unterrichtlichen Standards der Gegenwart. 119 Dadaistische Werkstrukturen, wie etwa die Verschmelzung von lyrischem und szenischen Vortrag in einer Performance, entsprechen dem Verfahren der „szenischen“ Interpretation, deren wirkungsgeschichtliche Verknüpfung mit dem historischen Dadaismus hier nicht nachzugehen ist. Man kann auch dadaistische Texte oder Stücke regelrecht inszenieren, wie ich es selber einmal mit Hugo Balls bruitistischen „Krippenspiel“ getan habe. 120 Die Effekte einer „produktiven Hermeneutik“ 121 sind in der Regel intensiver und authentischer als hermeneutische Aktualisierungen im Rahmen von Strukturanalysen. Auch wenn die Tendenz kritisch gewürdigt werden muß, Dada und seinen Epigonen „Konkrete Poesie“ in der Unterstufe zu verankern, fordern längst kanonisierte Texte wie Kurt Schwitters „An Anna Blume“ oder „Ernst Jandls „Ottos Mops“ 122 nicht unbedingt eine entwickelte Lesekompetenz. Die „Behandlung“ Dadas ist jedoch auf jeden Fall mit „höheren Fragen“ zu verknüpfen. 123 An der Infantilisierung Dadas ist die Bewegung selber mitverantwortlich, denn ohne Zweifel wurde das Kindliche, Naive und zugleich auch Primitive propagiert, 124 allerdings als „Kriegsmaschine“ gegen den bildungsbürgerlichen Kanon, und nicht als Lesealter- Bestimmung. Gleichwohl ist diese Tendenz in Verbindung zu sehen mit der Reformpädagogik, 308 Klaus H. Kiefer die um 1900 die künstlerische Kreativität des Kindes 125 entdeckte - wiederum in Parallele mit der Kunst der Naturvölker und der Geisteskranken. 126 Pädagogisch aktiv wurde Dada in seiner Zeit allerdings kaum, es sei denn man berücksichtigt die Wandbemalung des Vorraums der Züricher Pestalozzi-Schule, deren Direktor Han [Heinrich] Cor[r]ay war, durch Hans Arp und Otto van Rees - ein Jahr nach der Malaktion wurde Corray bekanntlich entlassen. 127 Auf der Internationalen Dada-Messe in Berlin machte der 14jährige Hans Citroën als Vertreter der „Dada-Jugendgruppe“ 128 und Verfasser dadaistischen Textcollagen auf sich aufmerksam (er war freilich das einzige Mitglied der Gruppe). Die Interaktion der Dadaisten mit dem Publikum war bekanntlich „offensiv“, aber wenn es zu einem Informationsaustausch kam und nicht nur zu wechselseitigen Störungen, kann man Dada den guten Willen zur Erwachsenenbildung nicht absprechen. Diese Tendenz nahm zu, je mehr sich der Dadaismus in größeren Veranstaltungen und Ausstellungen etablieren konnte. Huelsenbeck berichtet aus der Mitte März 1917 gegründeten Galerie Dada (vormals Corray): „[...] ich sehe Herrn Tzara, wie er in Escarpins mit etwas geneigtem Kopf vor den Teetassen der älteren Damen herumschwirrt, die sich - ach, wie entzückend - für die junge Kunst interessieren.“ 129 Und auch Hugo Ball nennt die Galerie tagsüber: „eine Art Lehrkörper für Pensionate und höhere Damen“. 130 Dada hat sich in vielfältiger Weise nicht nur selbst inszeniert, selbst zu Markte getragen, sondern auch selbst dargestellt und erläutert: in aktuellen Vorträgen, Meldungen, Führungen, Erklärungen, Manifesten usw. sowie in recht bald einsetzenden geschichtlichen Rückblicken. Mehr oder weniger geschah das allerdings im selben Diskurs und im selben Stil, in dem bereits die Werke verfaßt worden waren, so daß Dadas Didaktik zum Teil wenigstens eine Anti-Didaktik darstellt. Anmerkungen 1 Grundlage des Artikels ist ein Vortrag, den ich am 20. Januar 2006 anläßlich einer „Journée d’étude sur Dada“ im Maison Heinrich Heine in Paris gehalten habe, die wiederum in Verbindung stand mit der großen Dada-Ausstellung im Centre Pompidou, Paris, 5. Oktober 2005 - 9. Januar 2006, Kat. hg. v. Laurent Le Bon, Paris: Ed. du Centre Pompidou 2005. Der Organisatorin der Tagung, Anne-Marie Corbin, sowie dem DAAD für einen Reisekostenzuschuß sei hiermit gedankt. 2 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, Luzern: Stocker 1946, S. 91. Das Gleiten der attributiven Bestimmung vom Räumlichen zum Modalen macht das Nichts zu einer Konstitutive des Spiels - das dann in der Tat nur „närrisch“ sein kann -, wobei Balls Intuition, daß dieses in „alle höheren Fragen“ verwickelt sei, noch zu klären bleibt. Vgl. Carl Einsteins These (die er Nebukadnezar Böhm in den Mund legt): „[...] das Nichts ist die indifferente Voraussetzung allen Seins. Das Nichts ist die Grundlage [...].“ (Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, in: ders.: Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 1: 1907-1918, hg. v. Hermann Haarmann u. Klaus Siebenhaar, Berlin: Fannei & Walz 1994, S. 92-130, hier S. 104). Vgl. auch Hanne Bergius: Der Da-Dandy - Das „Narrenspiel aus dem Nichts“, in: Tendenzen der Zwanziger Jahre, 15. Europäische Kunstaustellung u. d. Auspizien des Europarates in der Neuen Nationalgalerie, der Akademie der Künste und der Großen Orangerie des Schlosses Charlottenburg zu Berlin, Kat., Tl. 3: Dada in Europa - Werke und Dokumente, hg. v. Eberhard Roters u. Hanne Bergius, Berlin: Reimer 1977, S. 3/ 12-3/ 29, bes. S. 3/ 13. Hier wird ebenfalls unter Berufung auf Carl Einstein die „absolute Ambivalenz“ Dadas herausgearbeitet. 3 Richard Huelsenbeck u. Tristan Tzara: Dada siegt! Bilanz und Erinnerung, Hamburg: Nautilus/ Nemo u. Zürich: Ed. Moderne 1985, S. 13. 4 Richard Huelsenbeck nennt Emmy Hennings eine „Madonna” von Hugo Balls Gnaden; s. Huelsenbeck: Mit Witz, Licht und Grütze. Auf den Spuren des Dadaismus, hg. v. Reinhard Nenzel, Hamburg: Nautilus 1991, S. 76. „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik 309 5 Rachilde, zit. n. Henri Béhar u. Catherine Dufour: Dada, circuit total, in: Dada, circuit total, hg. v. dens., Lausanne: L’Age d’homme 2005 (Les Dossiers H), S. 7-14, hier S. 8; vgl. Francis Picabia: A Madame Rachilde, femme de lettres et bonne patriote, in: Dada Almanach. Im Auftrag des Zentralamts der deutschen Dada-Bewegung hg. v. Richard Huelsenbeck, Berlin 1920, Nachdr. Hamburg: Nautilus 1980, S. 109. Louis Vauxcelles konstatiert schon 1912 „un peu trop d’Allemands et d’Espagnols dans l’affaire fauve et cubiste“, zit. n. Daniel-Henry Kahnweiler. Marchand, éditeur, écrivain, Ausstellung: Musée Nationale d’Art Moderne/ Centre George Pompidou, 22. November 1984 - 28. Januar 1985, Kat. u. Mitarb. v. Sylvie Warnier hg. v. Isabelle Monod-Fontaine u. Claude Laugier, Paris 1984, S. 31. Vgl. auch Christian Derouet: Quand le cubisme était un „bien allemand“..., in: Paris - Berlin. Rapports et contrastes France - Allemagne 1900-1933, Ausstellung: Centre National d’Art et de Culture Georges Pompidou, 12. Juli - 6. November 1978, Kat. hg. v. Pontus Hulten, Paris 1978, S. 42-46. 6 Tristan Tzara: Manifeste Dada 1918, in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. Henri Béhar, Paris: Flammarion 1975, Bd. 1: 1912-1924, S. 359-367, hier S. 361. 7 Vgl. Roland Barthes: Le degré zéro de l’écriture, Paris: du Seuil 1953, S. 45ff. 8 Tristan Tzara: Manifeste Dada 1918, S. 363. 9 Kleine Dada-Soirée: Theo van Doesburg und Kurt Schwitters, um 1922, Kunsthaus Zürich, zit. in: „Dada ist groß Dada ist schön“ - Zur Geschichte von „Dada Zürich“, in: Hans Bolliger, Guido Magnaguagno, Raimund Meyer: Dada in Zürich, Zürich: Arche 1994 (2. Aufl.), S. 9-79, hier S. 9. 10 Raoul Hausmann: Am Anfang war Dada, m. e. Nachw. v. Karl Riha hg. v. dems. u. Günter Kämpf, Giessen: Anabas 1980, S. 10. 11 Hans Arp: Dada-Sprüche, in: ders.: Unsern täglichen Traum... Erinnerungen, Dichtungen und Betrachtungen aus den Jahren 1914-1954, Zürich: Arche 1995, S. 48-50, hier S. 48 (Hervorh. Kf). 12 Carl Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, S. 101. 13 Nach Hermann Kellermann (Hg.): Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkrieg, Weimar: Duncker 1915. 14 S. Klaus H. Kiefer: Kriegsziele und literarische Utopie im Ersten Weltkrieg/ War Aims and Literary Utopia in the First World War, in: Krieg und Literatur/ War and Literature, Bd. 5 (1993), Nr. 9, S. 19-40. 15 F.T. Marinetti: Manifeste du Futurisme (1909), in: Futurisme. Manifestes - proclamations - documents, hg. v. Giovanni Lista, Lausanne: L’Age d’homme 1973, S. 85-89, hier S. 87. 16 Vgl. Hugo Ball (1886-1986) - Leben und Werk, 23. Februar - 31. März 1986, Wasgauhalle Pirmasens u.a., Ausst. u. Kat. ausgew. u. zus.gest. v. Ernst Teubner, München: Publica o.J., S. 17f.; vgl. auch die Version von Richard Huelsenbeck: Reise bis ans Ende der Freiheit. Autobiographische Fragmente, Heidelberg: Lambert Schneider 1984, S. 94. 17 Vgl. Richard Cork: Das Elend des Krieges. Die Kunst der Avantgarde und der Erste Weltkrieg, in: Rainer Rother (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin [u.a.], Berlin: Ars Nicolai, S. 301-396. 18 Vgl. Jefim Golyscheff, Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck: Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland? , in: Dada Berlin, in Zus.arb. m. Hanne Bergius hg. v. Karl Riha, Stuttgart 1979, S. 61- 62, hier S. 61: „Der Dadaismus fordert: 1. die internationale revolutionäre Vereinigung aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt auf dem Boden des radikalen Kommunismus [...].“ - Diese Willenserklärung dürfte ernst gewesen sein, wenn auch nicht im Sinne eines orthodoxen Marxismus. 19 Englisch in: George F. Kennan: The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875-1890, Princeton/ NJ u. Guilford: Princeton UP 1979, S. 3f. 20 Tristan Tzara u.a.: Was wollte der Expressionismus? [einschl. Dadaistisches Manifest], in: Dada Almanach, S. 35-41, hier S. 37. 21 Ebd., S. 41. 22 Ebd., S. 35. 23 Ders.: Manifest Dada 1918, in: Dada Almanach, S. 116-131, hier S. 118. 24 Ebd., S. 124. 25 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 107. 26 Vgl. Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München - Berlin - New York: dtv u. de Gruyter 1980, Bd. 1, S. 873-890, hier S. 881 u. ders.: Aus dem Nachlaß der Achtzi- 310 Klaus H. Kiefer gerjahre, in: ders.: Werke (Tb-Ausg. in 5 Bdn.), hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt/ M. - Berlin - Wien: Ullstein 1972 (Nachdr. d. 6. durchges. Aufl.), Bd. 3, S. 777 (= Tb-Ausg., Bd. 4, S. 369). 27 Hugo Ball: Nietzsche in Basel. Eine Streitschrift (1909/ 1910), in: ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, m. e. Nachw. hg. v. Burkhard Schlichting, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1988, S. 61-99, hier S. 98; man muß dabei jedes Wort als bedeutsam gewichten. 28 Vgl. Hugo Ball: Eröffnungs-Manifest, 1. Dada-Abend, Zürich, 14. Juli 1916, in: Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente, hg. v. Karl Riha u.Waltraud Wende-Hohenberger, Stuttgart: Reclam 1992, S. 30: „Warum kann der Baum nicht Pluplusch heißen, und Pluplubasch, wenn es geregnet hat? Und warum muß er überhaupt etwas heißen? “ 29 Besonders „dadaistisch“ mutet Frank Wedekinds „Oaha, die Satire der Satire. Komödie in vier Aufzügen“ an; in: Wedekind: Werke in zwei Bänden, m. Nachw. u. Anm. hg. v. Erhard Weidl, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1992, Bd. 2, S. 417-500. Hugo Ball zitiert das Stück in: Die Flucht aus der Zeit, S. 87. 30 Am 14. März 1916, s. Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 79. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 156. 33 Ebd., S. 94. 34 Ebd.: „Was konstituiert unseren Geist? “ 35 Vgl. Richard Huelsenbeck: Reise bis ans Ende der Freiheit, S. 79. 36 Vgl. Henri Béhar: Le théâtre dada et surréaliste, Paris: Gallimard 1979, S. 42. 37 S. ebd., S. 12f. 38 S. www.carleinstein.de. 39 Vgl. Evan Maurer: Dada und Surrealismus, in: Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Kat. Museum of Modern Art New York, hg. v. William Rubin, München: Prestel 1984 (dt. Ausg.), S. 547-607. 40 Vgl. Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 100; Abb. als „kubistischer Bischof“ in: Dada, Kat. Centre Pompidou, S. 141 (im Kontext des „Karawane“-Textes); Abb. von Sophie Taeuber-Arp als Tänzerin im kubistischen Kostüm s. ebd., S. 925 (vgl. Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 144). 41 So z.B. Marcel Jancos verschollenes bzw. nur als Photographie überliefertes Gemälde: Abb. in: Hugo Ball (1886-1986) - Leben und Werk, S. 137; vgl. dazu Francis M. Naumann: Janco/ Dada: Entretien avec Marcel Janco, in: Dada, circuit total, S. 163-175, hier S. 170. 42 Vgl. Rainer Rumold: The Janus Face of the Avant-Garde. From Expressionism toward Postmodernism, Evanston/ Il: Northwestern UP 2002, bes. S. 47. 43 Walter Serners Aktionen dokumentiert in: Dada Zürich, S. 122ff. 44 Vgl. Tristan Tzara: Chronique Zurichoise, in: Dada Almanach, S. 10ff. 45 Vgl. Adrian Marino: Le manifeste, in: Les avant-gardes littéraires au XX e siècle, 2 Bde., hg. v. Jean Weisgerber, Budapest: Akadémiai Kiadó 1984, Bd. 2: Theorie, S. 825-833; zur Funktion des Manifests vgl. auch Hans Günther: Literarische Systematik und Mechanismen der Stabilisierung in der sowjetischen Kultursemiotik, in: Epochenschwellen und Epochenstruktur im Diskurs der Literatur- und Sprachtheorie, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. Ursula Link-Heer, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1985, S. 302-311. 46 S. Günter Berghaus: Dada Theater or: The Genesis of Anti-Bourgeois Performance Art, in: German Life and Letters, Bd. 38 (1988), S. 293-312. 47 Die Erzählung kompensiert ihre mediale Unfähigkeit („epische Breite“! ) zur Abstraktion - was mit Jean- Paul Bier durchaus, wenn auch mit Bedenken, als „pauvreté littéraire de Dada“ zu bezeichnen wäre (Bier: Zurich et le domaine allemand: Berlin, Cologne, Hanovre, in: Les avant-gardes littéraires au XXe siècle, Bd. 1: Histoire, S. 344-363, hier S. 348), durch eine „halbherzige“ Tendenz zum Humor, Kriminellen, Phantastischen, insgesamt: Trivialen. Erfüllte Dada die Gattungsnormen der Humoreske (Mynona), des Krimis (Walter Serner), der Liebesromanze (Richard Huelsenbeck) etc. voll und ganz, ginge die spezifisch dadaistische Antihaltung verloren. Zu Melchior Vischer vgl. Klaus H. Kiefer: „Sekunde durch Hirn“ - Zur Semiotik und Didaktik des bewegten Bildes, in: MedienBildung im Umbruch. Lehren und Lernen im Kontext der Neuen Medien, u. Mitarb. v. Holger Zimmermann hg. v. Volker Deubel u. Klaus H. Kiefer, Bielefeld: Aisthesis 2003 (Schrift und Bild in Bewegung, Bd. 6), S. 41-58, bes. S. 41f.; Vischer motiviert sein narratives Verfahren durch die bekannte „near death experience“, daß man im Todesfalle - hier fällt der Held tatsächlich vom Gerüst - sein ganzes Leben in Sekundenschnelle vor dem geistigen Auge vorüberziehen sieht. Dieser „mentale Sekundenstil“ wurde offenbar auch von Raoul Hausmann als „dadaistisch“ empfunden; s. dessen Gedicht „Brauner Hirntrank“, erstmals veröffentlicht in: Andreas Kramer u. „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik 311 Richard Sheppard: Raoul Hausmann’s Correspondence with Eugene Jolas, in: German Life and Letters, NS, Bd. 48, Nr. 1 (1995), S. 39-55, hier S. 40 u. 50. - Der dadaistische Film schwankt zwischen den beiden Extremen, Abstraktion und Komik; vgl. Hans Richters abstrakte Kompositionen auf der einen Seite und sein zum „Ulk“ tendierender, auch musikalisch so ausgelegter „Vormittagsspuk“ auf der anderen (vgl. Charles W. Haxthausen: Kontinuität und Diskontinuität in der Kunst von Hans Richter, in: Hans Richter 1888-1976. Dadaist - Filmpionier - Maler - Theoretiker, Ausstellung: Akademie der Künste, Berlin, 31. Januar - 7. März 1982 [u.a.], Kat. hg. v. Barbara Volkmann u. Rose-France Raddatz, S. 7-15, bes. S. 8). Die Rolle des „slapstick“ etwa in Charly Chaplins frühen Werken bedürfte gesonderter Untersuchung. 48 S. Tristan Tzara u.a.: Was wollte der Expressionismus? [einschl. Dadaistisches Manifest], in: Dada Almanach, S. 39 u. Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, SS. 79f. u. 98. 49 Vgl. dazu Béchié Paul N’guessan: Primitivismus und Afrikanismus. Kunst und Kultur Afrikas in der deutschen Avantgarde, Frankfurt/ M.: Lang 2002, SS. 68ff. u. 117ff. (die Dissertation ist bei mir noch in Bayreuth entstanden). 50 Den besten Überblick bieten nach wie vor die beiden Bände der „Histoire Comparée des Littératures de Langues Européennes“: Les avant-gardes littéraires au XXe siècle, 2 Bde., hg. v. Jean Weisgerber, Budapest: Akadémiai Kiadó 1984. 51 Hugo Ball mißt sich auch an den „parole in libertà“ Marinettis; vgl. Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 95f.; vgl. auch Richard Huelsenbeck: Erste Dadarede in Deutschland, in: Dada Almanach, S. 104-108, hier S. 108. 52 Z.B. Emmy Hennings: Nach dem Cabaret, in: Dada Zürich, S. 57 u. Hugo Ball: Cabaret, ebd., S. 61f. 53 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 99; vgl. Klaus H. Kiefer: „Für denjenigen, der eine solche Arbeit verrichtet hat, ist der Sinn glasklar“ - Dada lebt, in: ders. u. Margit Riedel: Dada, Konkrete Poesie, Multimedia - Bausteine zu einer transgressiven Literaturdidaktik, Frankfurt/ M. u.a.: Peter Lang 1998, S. 11-83, bes. S. 33ff. 54 Vgl. Eckard Philipp: Dadaismus. Einführung in den literarischen Dadaismus und die Wortkunst des „Sturm“-Kreises, München 1980, der Wortkunst und Dada allzu eng verknüpft, indem er sie auf gemeinsame Einflüsse zurückführt. 55 Auf Arps zahlreichen Parallelismen, „wer trägt nun die brennende fahne im zopf“, „wer dreht die kaffeemühle“, „wer lockt das idyllische reh“ etc. (Hans Arp: Die Schwalbenhode, in: Dada Zürich, S. 91-94, hier S. 91) paßt Carl Einsteins Begriff von Gott als „umfassender Idiosynkrasie“ (Einstein: Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, S. 104). Die einschlägigen Nietzsche-Belege s. Die fröhliche Wissenschaft, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 3, S. 343-651, hier SS. 481 u. 575. 56 Richard Huelsenbeck: Ebene, in: Dada Zürich, S. 75f. 57 Vgl. Wieland Herzfelde: Zur Einführung in die Erste internationale Dada-Messe, in: Dada Berlin, S. 117- 119, hier S. 118: „[...] die berühmte Frage: Ja, aber der Inhalt, das Geistige? “ 58 Vgl. Dietmar Till: Poiesis, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, gem. m. Georg Braungart u.a. hg. v. Jan-Dirk Müller, Berlin u. New York: de Gruyter 2003, S. 114: „[...] Wird ‘Poiesis’ in Relation zur ‘Mimesis’ , also zur ‘Nachahmung’ bzw. ‘Darstellung’ von Wirklichkeit definiert, dann wird darunter vor allem die nicht realitätsgebundene, freie ‘Schöpfung’ als autonome ‘Erdichtung’ [...] verstanden und emphatisch die Selbständigkeit des so entstandenen Werks betont [...].“ 59 In der Prosa ist hier insbesondere der dem „Sturm“ nahestehende Otto Nebel zu nennen (bes. „Zuginsfeld“ u. „Unfeig“, in: Das dicherische Werk, Bd. 1, hg. v. René Radrizzani, München: Text + Kritik 1979); auch Carl Einsteins „Bebuquin“ zeigt aus dieser Sicht „protodadaistische“ Züge, owohl sich der Autor später vom Kubismus bestätigt fühlt; vgl. Klaus H. Kiefer: Äternalistisches Finale oder Bebuquins Aus-Sage. Carl Einsteins Beitrag zur Postmoderne, in: Neohelicon, Jg. 21 (1994), Nr. 1, S. 13-46. 60 Kurt Schwitters: An alle Bühnen der Welt, in: ders.: Das literarische Werk, hg. v. Friedhelm Lach, Köln: Dumont 1981, Bd. 5: Manifeste und kritische Prosa, S. 39-41, hier S. 39. Auch das „Dadaistische Manifest“, als Flugblatt 1918 verfaßt von Richard Huelsenbeck, fordert „die Benutzung des neuen Materials in der Malerei“ (Tristan Tzara u.a.: Was wollte der Expressionismus? [einschl. Dadaistisches Manifest], in: Dada Almanach, S. 40). 61 André Breton: Manifeste du surréalisme (1924), in: ders.: Manifestes du surréalisme, Paris: Gallimard 1970, S. 11-64, hier S. 56. 312 Klaus H. Kiefer 62 Tristan Tzara: Pour faire un poème dadaïste, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 382. Der Surrealismus hat auch die deutschen Quellen Dadas weitgehend verschüttet und verdrängt. 63 Nach Rudolf Paulsen: Das Tempo unserer Zeit und der Expressionismus. 1918, in: Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung, hg. v. Paul Raabe, München: dtv 1965, S. 149-153. 64 Vgl. Klaus H. Kiefer: Eugene Jolas’ multilinguale Poetik, in: Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, hg. v. Manfred Schmeling u. Monika Schmitz-Emans, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2002 (Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 18), S. 121-135. 65 Vgl. Hanne Bergius: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadisten und ihre Aktionen, Giessen: Anabas 1989. Vgl. auch die - späte - Sammlung von André Breton: Anthologie de l’humour noir, o.O.: Pauvert 1966 (erste Fassung 1939). 66 Vgl. Sigmund Freud schon 1905 in „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in: ders.: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt/ M.: S. Fischer 1972 (4., korr. Aufl.), Bd. 5: Sexualleben, S. 37-145, hier S. 97 u.ö. („polymorph pervers“). 67 Walter Serner: Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen, in: ders.: Das Gesamte Werk, Bd. 7, hg. v. Thomas Milch, München: Renner 1981, S. 16. 68 Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Turiner Brief vom Mai 1888, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 6, S. 13-53, hier S. 27; vgl. nochmals Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 107. 69 Seit Georg Simmels Studie „Die Großstädte und das Geistesleben“ (in: Die Großstadt. Jahrbuch der Gehe- Stiftung zu Dresden, Bd. 9 [1903], S. 185-206, bes. SS. 188, 193, 196) hat die „richtungslose Dynamik“ der Moderne immer wieder die Soziologen beschäftigt, wie ich nach Abschluß des Manuskripts zumindest Thomas Assheuers Besprechung von Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2005 zitieren kann (Assheuer: Atemlos, in: Die Zeit, Nr. 5 [20. Januar 2006], S. 55). 70 So der Untertitel von Melchior Vischer: Sekunde durch Hirn. 71 Richard Huelsenbeck: Doctor Billig am Ende. Ein Roman mit 8 Illustrationen von Georg Grosz, Nachw. v. Karl Riha, Frankfurt/ M.: Makol 1973; vgl. auch seinen Vers „birribum birribum saust der Ochs im Kreis herum“, in: Huelsenbeck: Ebene, in: Dada Zürich, S. 75. 72 Raoul Hausmann: Synthetisches Cino der Malerei, in: ders.: Bilanz der Feierlichkeit, Bd. 1, S. 14-16, hier S. 16. Den Hinweis auf dieses Zitat danke ich Marc Cluet. 73 Vgl. Algirdas Julien Greimas: Sémantique structurale. Recherche de méthode, Paris: Larousse 1966, S. 20f. 74 S. Klaus H. Kiefer: Die Ethnologisierung des kunstkritischen Diskurses - Carl Einsteins Beitrag zu „Documents“, in: Elan vital oder Das Auge des Eros. Kandinsky, Klee, Arp, Miró und Calder, Ausstellung zur Neueröffnung des Hauses der Kunst, 20. Mai - 14. August 1994, Kat. hg. v. Hubertus Gaßner, München u. Bonn 1994, S. 90-103. 75 Carl Einstein: Georges Braque, in: ders.: Werke, Bd. 3: 1929-1940, u. Mitarb. v. Steffen Damm u.a. hg. v. Hermann Haarmann u. Klaus Siebenhaar, Berlin: Fannei & Walz 1996, S. 400; zum dem von Einstein stark herausgearbeitetem Prinzip der Metamorphose s. Klaus H. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischen Avantgarde, Tübingen: Niemeyer 1994 (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 7), S. 366ff. 76 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart u. Weimar: Metzler 2000 (2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl.), S. 131ff. 77 Im Anschluß an Dada entwickelt auch Eugene Jolas einen semiotischen Ursprungsmythos, den er allerdings transzendental wendet; s. dazu Klaus H. Kiefer: „Wortkunst“ in Paris - Eugene Jolas und der deutsche Expressionismus, in: [Kongreßakten: France and German Expressionism, University of London, 24.- 25. Mai 2006, hg. v. Frank Krause], ersch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 78 Der Akzent liegt hier auf „Dada“; vgl. Paul Bouissac: Semiotics and Surrealism, in: Semiotica 25 (1979), S. 45-58, der S. 58 zwar behauptet: „Dada and Surrealism [...] put semiosis itself in focus.“, seine These aber vor allem am ihm wohl besser bekannten Surrealismus nachweist. Vgl. dazu auch meine Ausführungen zu Carl Einsteins „surrealistischer Wende“ und seiner „Poetologisierung der Ästhetik“ in: Klaus H. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins, SS. 385ff. u. 449ff. - „Funktion“ ist ein „Leitbegriff“ der Moderne (Karl Steinbacher: Funktion, sozialwissenschaftlich/ Funktionalismus, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hg. v. Hans Jörg Sandkühler u.a., Hamburg: Meiner 1990, Bd. 2, S. 205-211, hier S. 205). Hier kann nur auf die Ursprünge funktionaler Theorie hingewiesen werden, die „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik 313 auch von der Avantgarde registriert wurden: Ernst Cassirers „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ von 1910. Ich gebrauche den Funktionsbegriff im Folgenden nicht als „final“ oder als „zwischen Elementen eines Systems bestehend“ (so Jörn Albrecht: Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick, Tübingen: Francke 1988, S. 190), sondern als „konstitutiv“. 79 Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale, u. Mitarb. v. Albert Riedlinger hg. v. Charles Bally u. Albert Sèchehaye, krit. Ausg. v. Tullio de Mauro, Paris: Payot 1976. 80 Zu allem, auch zu Vorgeschichte und Nachwirkung, vgl. The Cambridge Companion to Saussure, hg. v. Carol Sanders, Cambridge u.a.: Cambridge UP 2004. 81 Roman Jakobson: Futurismus (1919), in: ders.: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982, hg. v. Elmar Holenstein, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1992, S. 41-48. 82 Jan Mukařovský: Die Kunst als semiologisches Faktum (1936), in: ders.: Kapitel aus der Ästhetik, übers. v. Walter Schamschula, Frankfurt/ M. 1970, S. 138-147. 83 Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960), in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1989 (2. Aufl.), S. 83-121. 84 Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale, S. 155. Vgl. Descartes: Discours de la méthode, in: ders.: Œuvres philosophiques, Bd. 1: 1618-1637, hg. u. komm. v. Ferdinand Alquié, Paris: Garnier 1963, S. 567-650, hier S. 604. Dem im unmittelbaren Kontext zitierten cartesianischen Zentralmotiv setzt Raoul Hausmann ein „Cogito ergo sum DADA.“ entgegen, s. ders.: Am Anfang war Dada, S. 107. 85 Vgl. Hans Arp: Emmy Hennings und Hugo Ball, in: Hugo Ball u. Emmy Hennings: Damals in Zürich. Briefe aus den Jahren 1915-1917. Mit Fotos und Faksimiles, Zürich: Arche 1978, S. 179-182, hier S. 181. Arp spricht hier zwar vom Schöpferischen, hat aber einen Begriff im Auge, der erst in den 50er Jahren von der amerikanischen Kreativitätstheorie wiederentdeckt wurde. Angesichts der Rezeption der avantgardistischen Verfahren durch die Werbebranche nimmt es nicht Wunder, daß der Begründer der Kreativitätstheorie, Joy Paul Guilford, diesem Gewerbe entstammt; vgl. Guilford: Creativity, in: American Psychologist, Bd. 5. (1950), S. 444-454. 86 Vgl. die Unterscheidung Roland Barthes’, ob der Diskurs auf einer zweiten Ebene konnotativ oder denotativ verfährt; im ersten Fall entstehen Mythen, Ideologien, Literatur, im zweiten Fall Metasprache und Wissenschaft; s. Barthes: Eléments de sémiologie, in: Communications 4 (1964): Recherches sémiologiques, S. 91-135, hier S. 130f. 87 Richard Huelsenbeck: Erklärung. Vorgetragen im „Cabaret Voltaire“, im Frühjahr 1916, in: Dada Zürich, S. 29. 88 Salomo Friedlaender: Schöpferische Indifferenz, München: Georg Müller 1918, S. XXIX; vgl. auch Richard Huelsenbeck: An avant Dada. Die Geschichte des Dadaismus (1920), Hamburg: Nautilus 1978 (2. Aufl.), S. 41. 89 Raoul Hausmann: Am Anfang war Dada, S. 13; vgl. ebd., S. 12 (wo allerdings ein Datierungfehler vorliegt). 90 Kurt Schwitters’ „Reflexionen“ sind verstreut in: Das literarische Werk, Bd. 5; z.B. S. 95: „Lernen Sie erstlichmal deklinieren: der Haß, die Hose, das Haus.“ 91 Adolf Hitler: Eröffnungsrede zur „Zweiten Großen Deutschen Kunstausstellung“, zit. n. Mario Andreas von Lüttichau: „Deutsche Kunst“ und „Entartete Kunst“: Die Münchner Austellungen 1937, in: Die „Kunststadt“ München 1937. Nationalsozialismus und „Entartete Kunst“, hg. v. Peter-Klaus Schuster, München: Prestel 1988, S. 83-118, hier S. 106. Die Nennung Dadas in Hitlers „Mein Kampf“ ist belegt bei Thomas Anz u. Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, Stuttgart: Metzler 1982, S. 181f. 92 Vgl. Andreas Kramer: „Versuch zur Freiheit? “ Carl Einsteins Verhältnis zu Dada, in: Die visuelle Wende der Moderne. Carl Einsteins „Kunst des 20. Jahrhunderts“, hg. v. Klaus H. Kiefer, Paderborn: Fink 2003, S. 163-178. 93 Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin: Propyläen 1926 (Propyläen-Kunstgeschichte, Bd. 16), S. 70 zu Picasso. 94 Ebd., S. 56 zu Beginn des Kubismus-Kapitels. 95 Ders.: Diese Ästhetiker veranlassen uns..., in: ders.: Werke, Bd. 4: Texte aus dem Nachlaß, hg. v. Hermann Haarmann u. Klaus Siebenhaar, Berlin: Fannei & Walz 1992, S. 194-221, hier S. 196. 314 Klaus H. Kiefer 96 Vgl. Noam Chomsky: Syntactic Structures, The Hague u. Paris: Mouton 1957, S. 15: Colorless green ideas sleep furiously.” - für Dada wie für andere Dichter, Lewis Caroll, Joyce etc., kein Problem! Andere Beispiele s. http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Colorless_green_ideas_sleep_furious. 97 Nach Hans Arp: Ich bin der große Derdiedas, in: Dada Zürich, S. 94. 98 Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris: Les Editions de Minuit 1967, S. 73. 99 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965 (2., u. e. Nachtr. erw. Aufl.), S. XIX. 100 Vgl. Hugo Ball: Flucht aus der Zeit, S. 88. 101 Raoul Hausmann: Am Anfang war Dada, S. 13. 102 Vgl. Richard Huelsenbeck: Dada Lives (1936), in: ders.: Wozu Dada. Texte 1916-1936, hg. v. Herbert Kapfer, Giessen: Anabas 1994, S. 80-83, hier S. 81. 103 Ders.: En avant Dada, S. 22. In seiner poetischen Funktion entspricht Dada dem Mana primitiver Gesellschaften, das Claude Lévi-Strauss zufolge eine „valeur symbolique zéro“ besitzt bzw. „symbole à l’état pur“ ist, „donc susceptible de se charger de n’importe quel contenu symbolique“. Dada ist jener „signifiant flottant“, „gage de tout art, toute poésie, toute invention mythique et esthétique“, aber wissenschaftlich schwer zu disziplinieren; s. Lévi-Strauss: Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss, in: Marcel Mauss: Sociologie et anthropologie, Paris: Quadrige/ PUF 1983 (8. Aufl.), S. IX-LII, hier S. XLIXf. 104 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 91. 105 Von der „Magie des Wortes“ sprechen Tristan Tzara: Manifeste Dada 1918, in: ders.: Oeuvres complètes, Bd. 1, S. 359 (Motto); so auch Richard Huelsenbeck: Reise bis ans Ende der Freiheit, S. 129. Vgl. auch Joseph von Eichendorff: Wünschelrute, in: ders.: Ausgewählte Werke, 5 Bde., m. e. Nachw. hg. v. Hans A. Neunzig, München: Nymphenburger 1987, Bd. 1, S. 108: „Und die Welt hebt an zu singen / Triffst du nur das Zauberwort.“ 106 Richard Huelsenbeck: Mit Witz, Licht und Grütze, S. 57. 107 Vgl. Hans Bollinger: Dokumente: Einzelschriften, Almanache, Zeitschriften, Ausstellungskataloge, Programme und Einladungen, Tanzprogramme, Typoskripte, Plakate, Fotos, in: Dada in Zürich, hg. v. dems., Guido Magnaguagno, Raimund Meyer, S. 178-285, hier S. 267. Obwohl angekündigt, hatte Huelsenbeck an der Veranstaltung nicht teilgenommen. 108 Tristan Tzara: Chronique Zurichoise 1915-1919, in: Dada Almanach, S. 10-29, hier S. 26f. 109 Jefim Golyscheff, Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck: Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland? , in: Dada Berlin, S. 61-62, hier S. 61. 110 Vgl. Otto Schober: Studienbuch Literaturdidaktik. Neuere Konzeptionen für den schulischen Umgang mit Texten, Analysen und Materialien. Kronberg/ Ts.: Scriptor 1977, S. 35: Literatur wurde als „Vehikel für Normen, Leitbilder, Lebensregeln, kurz als Mittel verwendet, vorgegebene Ziele zu erreichen“. 111 Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, München: Propyläen 2002 (10. Aufl.), S. 63 u.ö. 112 Ein brauchbares Ausgangsmodell bietet hier Jan Mukařovský: Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten (1936), in: ders.: Kapitel aus der Ästhetik, übers. v. Walter Schamschula, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1970, S. 7-112 u. ders.: Das dichterische Werk als Gesamtheit von Werten (1932), in: ders.: Kapitel aus der Poetik, übers. v. Walter Schamschula, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1967, S. 34-43. S. dazu Klaus H. Kiefer: http: / / www.edu.lmu.de/ Ethik-Aesthetik/ Kiefer-DD-Tag- Vortr.2.7.05.pdf. 113 Vgl. Michel Foucault: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris: Gallimard 1975, S. 216: Schule wie Strafanstalt besitzen ein „pouvoir de normalisation“. 114 Eine große Mehrheit auch des erwachsenen Publikums steht dem Wirken der Avantgarde nach wie vor verständnislos gegenüber. 115 Als kurioses post-Hausmannsches Dada-Beispiel im Internet s. www.hsl.com/ dada/ . Eine Online- Bibliographie zu Dada s. http: / / lib.uiowa.edu/ dada/ oasis.htlm. 116 Raoul Hausmann: Pamphlet gegen die weimarische Lebensauffassung, in: ders.: Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933, hg. v. Michael Erlhoff, München: text + kritik 1982, Bd. 1, S. 39-42, hier S. 42. Mit dem Postulat „Für das eigene Erleben! ! ! “ (ebd.) schließt sich Hausmann der Erlebnispädagogik an. 117 Vgl. Eberhard Roters: Mouvement Dada, in: Tendenzen der Zwanziger Jahre, Tl. 3, S. 3/ 1-3/ 11, hier S. 3/ 1f.: „[...] Dada ist die erste übergreifende Bewegung des europäischen Geistes [...].“ 118 Tristan Tzara: Pour faire un poème dadaïste, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, S. 382. „Ein Narrenspiel aus dem Nichts“ - DADA - Semiotik und Didaktik 315 119 Die wirkungsgeschichtliche Verknüpfung der Kreativitätstheorie mit der Avantgarde bedürfte einer eigenen Untersuchung. Vorerst kann lediglich eine überraschende Analogie zwischen Kreativität und dadaistischen Verfahren festgestellt werden; vgl. Eike Gebhardt: Kreativität und Mündigkeit. Zum gesellschaftspolitischen Stellenwert kreativen Verhaltens, Weinheim: Deutscher Studien-Vlg. 1992, bes. S. 69- 81. 120 S. Klaus H. Kiefer: „Für denjenigen, der eine solche Arbeit verrichtet hat, ist der Sinn glasklar“ - Dada lebt, in: ders. u. Margit Riedel: Dada, Konkrete Poesie, Multimedia, S. 11-83, hier S. 18ff. Der Text s. Hugo Ball u.a.: Ein Krippenspiel. Bruitistisch, in: Dada Zürich, S. 125-127. 121 S. Günter Waldmann: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht. Grundriß einer produktiven Hermeneutik. Theorie - Didaktik - Verfahren - Modelle, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 1999 (2. korr. Aufl.). 122 Vgl. Klaus H. Kiefer: „Ottos Mops“ in der Schule - Didaktische Konkretion und Abstraktion, in: ders. u. Margit Riedel: Dada, Konkrete Poesie, Multimedia, S. 87-112. 123 Zum Verhältnis von - auch - destruktiver, chaotischer oder subversiver Kreativität und pädagogischer Verantwortung vgl. Helmut J. Serve: Förderung der Kreativitätsentfaltung als implizite Bildungsaufgabe der Schule, München: PimS 1994, S. 112ff. 124 Richard Huelsenbeck u. Tristan Tzara: Dada siegt! , S. 17: „[...] wir verstanden von fern den Sinn der Primitivität - Dada, das Kinderlallen, das Hottehotte [= Steckenpferd] - die Primitivität, die das Zeitalter durch seine Vorliebe für Negerplastik, Negerliteratur und Negermusik anzudeuten schien.“ Vgl. Joachim Schultz: Wild, irre & rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarichen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940, Gießen: Anabas 1995, S. 103f. 125 Vgl. Johannes Gläser (Hg.): Vom Kinde aus. Arbeiten des Pädagogischen Ausschusses der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburg, Hamburg u.a.: Westermann 1920; vgl. Theo Dietrich: Die pädagogische Bewegung „Vom Kinde aus“, Bad Heibrunn/ Obb: Klinkhardt 1982 (4., durchges. Aufl.); zur Reformstimmung um 1900 überhaupt vgl. Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München: dtv 1987. 126 Hans Prinzhorn: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beirag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung (1922), m. e. Geleitwort v. Gerhard Roth, Wien u. New York: Springer 2001 (6. Aufl.). 127 Vgl. Raymund Meyer: „Dada ist groß Dada ist schön“ - Zur Geschichte von „Dada Zürich“, S. 37ff. Jetzt kritisch zu Corrays reformpädagogischen Intentionen s. Fritz Osterwalder: Dadaismus und Reformpädagogik bei Han Coray oder: Wie traditionalistisch ist die „neue Erziehung“? , in: Reformpädagogik. Neue Zugänge - Befunde - Kontroversen, hg. v. Hein Retter, Bad Heilbrunn/ Obb.: Klinkhardt 2004, S. 19-34. Zwar lassen Heinrich Corrays „Neulandfahrten“ (Ein Buch für Eltern, Lehrer und Kinder, Leipzig - Aarau - Wien: Meyer 1913 [2. Aufl., zuerst 1911]) eine dadaistische Wende nicht ahnen, weder im „unmethodischen“ Umgang mit Literatur noch mit bildender Kunst, aber die Motivation ist bereits vorhanden: „In jedem Menschen schlummert ein Drang nach Produktion, nach schöpferischen Gestalten. Das zeigt sich schon im Spieltrieb des kleinen Kindes.“ (ebd., S. 8f.). 128 S. ders.: Dada? Dada! in: Dada. Eine internationale Bewegung 1916-1925, Ausstellung: Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, 4. September - 7. November 1993 [u.a.], Zürich: Limmat 1993, S. 30. 129 Richard Huelsenbeck u. Tristan Tzara: Dada siegt! , S. 32. 130 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 157. Sprachwissenschaft A. Francke Preisänderungen vorbehalten Katja Kessel Sandra Reimann Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache UTB 2704 M, 2005, XII, 278 Seiten, zahlr. Abb., [D] 14,90/ SFr 26,80 UTB-ISBN 3-8252-2704-9 Wussten Sie, dass Polysemie keine Krankheit ist und dass Komposition nichts mit Biomüll zu tun hat? Auch Spitzenstellungstests finden Sie nicht in Assessment Center für angehende Führungskräfte. Das Einführungsbuch beschäftigt sich unter anderem mit diesen sprachwissenschaftlichen Grundbegriffen. Es wendet sich an Studienanfänger der Germanistik, die die deutsche Gegenwartssprache im wissenschaftlichen Sinne durchschauen und unter analytischen Gesichtspunkten kennen lernen wollen. Gegenstand sind die wichtigsten Teilbereiche und Methoden der neueren deutschen Sprachwissenschaft. Besonders ausführlich werden die komplexen Kapitel Syntax und Wortbildung behandelt, die zum Kanon der meisten sprachwissenschaftlichen Prüfungen gehören. Didaktisch gut aufbereitete Kapitel leiten die Studienanfänger zu konkreten Analysen an. Jedes Kapitel enthält Übungen mit Lösungen und weiterführende Literatur, sodass die Studierenden auch die Möglichkeit haben, sich den Stoff selbstständig zu erarbeiten und ihre Kenntnisse zu überprüfen. Der Transfer in die Analysepraxis steht stets im Vordergrund. Das Buch ist als Begleitmaterial für Seminare und zum Selbststudium bestens geeignet, auch für den Studiengang Deutsch als Fremdsprache. Chinese as a Classical Language of Botanical Science: Semiotics of Transcription Viktoria Eschbach-Szabo, Shelley Ching-yu Hsieh 1. Classical languages of science and botany The history of ancient and modern botanical science can only be studied properly if the Eurasian continent is treated as a connected unit with connected and disconnected cognitive worlds. Topics of interest in classical languages of science (Chinese, Sanskrit, Greek, Arabic, Latin) and modern international languages of science (English, German, French, Russian, Chinese and Japanese etc.) are all connected to each other, but no scientific revolution is without linguistic conflicts. Languages function in this case as tools of integration and growth, but the influence of language remains often unconscious so that the “translation” of concepts, transcription of words, is often difficult or impossible. In the case of progressive vocabulary change in natural sciences we are often unaware of such problems, which causes not only linguistic but also scientific distortions. In the case of the standardization of notations terminological or orthographical ethnocentrism is an insidious, and often unrecognised, problem in scientific description. It occurs when words in one language, for example Chinese, Latin or English, are uncritically used to describe another scientific term with an inevitable distortion of code, meaning and classificatory dimension. On the other hand an extremely strong distortion is practically neglects scientific universes although the separate terms are referring to the same topic. How much can semiotics contribute to the study of botany? It is the purpose of this essay to approach this problem from the viewpoint of linguistics and to try to define language bound questions in the praxis of botany in connection to the East Asian botanical taxonomical tradition. In this essay we shall address 6 main points: 1. First we will review the historical steps in the linguistic connection of Chinese and Japanese to Western scientific language and postulate the difficulties of the Western treatment of these languages. 2. Secondly, the question of whether or not the linguistic transmission of Eastern matters to the Western discourse in the beginning of the 21 st century is equal and well balanced? KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 318 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh 3. Are there any semiotic reasons for the difficulties in the transmission of the nomenclature of botany? How can we prove linguistic distortion in botanical terminology? 4. The next step is a discussion of the semantics of Western and Eastern botanical taxonomy. 5. As the next topic, we have to deal with the importance of the fact that the medium of botanical discourse language is connected to institutions and international legitimating. As nature and human environment are connected to botany we will proceed to characterising legal questions. What are the legal problems from the linguistic point of view? 6. If we apply ourselves to such a task from a semiotic point of view, we may provisionally establish working hypotheses for the research of international botany in the future. 1.1 Classical Chinese and Japanese in Western scientific and linguistic tradition First we should consider the history of linguistics working in intercultural language contacts. Classical science, as it was developed in Europe in the 17 th , 18 th and 19 th centuries, had adopted, as a basic assumption, the idea that science has to deal with an already existing objective reality, independent of the observer and remaining the same during its description. Classical Chinese, Mandarin Chinese, Sino-Japanese and Japanese were at that time used as languages for scientific description for a long time (Classical Chinese has a 3500-year-old tradition). The first attempts to describe Chinese and Japanese language were a result of the widening geographical and political world. The impressive investigation of the Chinese and Japanese language was a practical aim for the first missionaries during the 16 th century and the beginning of the 17 th century. At that time it was self-evident to base it on the Latin grammar as an objective frame. For the missionaries it was not easy to treat ideographic writings systems appropriately. The aesthetic and cognitive qualities of ideographic systems may be convincing for all modern linguists and one may naturally expect at the beginning of the 21st century both writing conventions can profitably be applied to the analysis of terminological facts; but there are serious problems in connecting the differing visual universes 1 . For effective work the theory of notation was crucial but because of the dominance of alphabetic systems in international communication languages writings, the Chinese writing systems are always handicapped. Although there is good reason to expect that alphabetic and ideographic systems both have advantages, alphabetic standards were connected to the Western scientific tradition and there were no perfect methods to apply ideographic systems to alphabetic conventions. In our article we concentrate on the language factor of our time that often has serious consequences when representing scientific notation. 1.2 Western knowledge about Chinese grammar and script Ever since the 16 th century Europeans have often expressed their amazement at the fact that the Chinese language seemed to have no fixed word classes. Specialists of Chinese in Chinese as a Classical Language of Botanical Science 319 later times, such as Karlgren (1926: 16), also declared that Chinese lacked features like the complex phonologies, system of conjugation and declension that are common to European languages. But the elasticity of Chinese grammar is restricted; even though classical Chinese may be flexible with regard to grammatical function, the lexical items are not indifferent to the way they function. Lexical items have certain preference otherwise Chinese could not function as a human language with sets of rules (cf. Harbsmeier 1998: 123). The American descriptive linguist Leonard Bloomfield (1933: 44) stated that Chinese is not a single language but a family of languages made up of a variety of mutually unintelligible languages. Although historical and dialect dictionaries of local languages can also be discussed as studies on different languages (cf. Harbsmeier 1998: 76) from stand point of scientific terminology it would appear that there is a real core of Chinese realised in the standard way of reading and writing the Classical Chinese language, as in literary and scientific Chinese. This is not to deny the fact of the importance of the variations of Chinese or other languages in the area. The Portuguese-Dominican friar Gaspar da Cruz commented in 1569 that the Chinese (Mandarin Chinese) have no fixed letters in their writing rather that they compose words and characters. Each thing is signified by one character as in the case of heaven, earth and man (Boxer 1953: 161-2). The Italian-Jesuit missionary Matteo Ricci 2 (1552-1610) has a more authoritative description of Chinese writing that was adopted by Nicola Trigault (1615: 25-29, 144). The Chinese have a system of writing similar to Egyptian hieroglyphics and they do not express their concepts by writing with a few alphabetic signs like most of the world, rather they paint as many symbols as there are words. Each word has its own hieroglyphic character; there are no fewer symbols than words. The great number of characters is in accordance with the great number of things, though the number of characters does not exceed seventyto eighty-thousand. In a collection of missionary reports and essays in the 18 th century, Ko Jéf presented his view of Chinese characters: They are composed of symbols and images, and that these symbols are images, not having any sound, can be read in all languages, and form a sort of intellectual painting, a metaphysical and ideal algebra, which convey thoughts by analogy, by relation, by convention, and so on (Mémoires 1776: 24). Chinese characters where then systematically compared to Latin words. Marshman (1841: 33) reported on a manuscript Latin-Chinese dictionary that classified the characters according to their names. He calls the names primitives and notes that all the dictionary characters (about nine thousand) were formed from eight hundred and sixty-two characters, through the addition of only one element. Von der Gabelentz (1881: 501) presented characters formed by combining radicals and phonetics. A few radicals combine with a few phonetics to form a number of characters that are phonetically related through their common phonetics and semantically differentiated by their different significs. In the 19 th century more and more character dictionaries were published. Another important point to mention is that Chinese has received a lot of loan-words from neighbouring civilisations. Written Chinese has Latin-like functions as the East Asian lingua franca for Korea, Japan and Vietnam. They are around about 50, 000 hanzi (Chinese for characters) 320 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh or kanji (Japanese for characters) and many variations of the signs have been used in the Chinese script area ever since former. 1.3 Japanese grammar and script The first step in the Western description of Japanese was the work of Portuguese missionaries. The quality of linguistics at that time is famous. As Maës had pointed out in his discussion of the missionaries attempt - Rodriguez’s (? 1561-1634) (cf. Maës 1975: 12) Rodriguez grammar, Arte breve da Lingoa Japoa, demonstrates a considerable understanding of the differences between Japanese and Latin grammar. To illustrate this phenomenon let us discuss the social deictic field and the question of pronouns in Japanese. Rodriguez was aware of the fact that Japanese has no agreement marker and that it has a large amount of pronouns which are used elliptically. It is not easy to understand from the perspective of Latin grammar, but Rodriguez preferred a double solution: on the surface to production of Latin-like grammatical paradigms, in order to describe Japanese, in this case to give a fictive declination for the six-person-paradigm in Japanese and to deal with all different nouns and pronouns marking one person individually on the pragmatic level of Japanese. Enumerating 40 nouns and pronouns for the second person means also to know many Chinese characters. Honorifics are connected to the complex writing system. The Japanese language has been studied by several philologists and orientalists in Europe such as H. J. Klaproth, Georg von der Gabelentz, August Pfizmaier, Abel Rémusat, Léon Pagés and Johann J. Hoffmann. Johann Joseph Hoffmann (1805-1878) worked on Siebold’s material for Japanese and, though he had never been in Japan, developed in his Japanese grammar almost the same as Rodriguez. The spread of Non-Indo-European languages, as a part of linguistic scientific research in the 19 th century, helped linguists to understand that language is a record of cultural practices; or phrased differently, a syntactic and semantic representation of what is important or salient in that culture (cf. Lyons 1977). That is to say, languages are far from neutrality, but they are systems of interpretations, values, attitudes and interests handed down through history. Since Humboldt’s time linguistic thinking has become strongly influenced by the fact that our perception of the world is structured by our mother tongue. Language is not only a tool for human beings but linguistic categories can influence our experience (cf. Trabant 2003). The Japanese writing system is much more complicated then the very specific Chinese one. For this reason, missionaries tried to use other writing conventions in order to be able to quickly use Japanese for oral communication. They called the Japanese writing system the language of evil because of the complicated practices of adaptation of the Chinese into the grammatically different Japanese; as in reading Chinese characters in Sino-Japanese or in many Japanese variants. When missionaries abandoned the original Sino-Japanese and Japanese script for the treatment of the spoken Japanese language and used only their own romanized transcription, it was very useful for practical communication but absolutely unacceptable for genuine Chinese and Japanese scientists. Since then, the process of orthographic diversification has continued on and different systems have come to complicate the representation of ideographic hanzi and kanji in Mandarin and Japanese in modern times. In spite of all the systematic difficulties, Japanese Chinese as a Classical Language of Botanical Science 321 writing conventions are very well researched and lexicalised by now. Therefore, there is good reason to expect that there are no serious problems in adapting Chinese or Japanese writing systems for Western scholars if they are able to read in non-alphabetic convention. 2. Equal transmission or semiotic orientalism Linguistics can be suitably combined with appropriate means of linguistic research but it can also contribute to the formation of myths that a language is unique. Chinese and Japanese orientalism can strengthen the idea that special qualities of those languages are part of the representative culture; such as vagueness and illogical argumentation. This psychological isolation has also historical, geographical and linguistic genetic reasons. If, however, we treat Chinese and Japanese as international languages, we will notice that Chinese and Japanese are members of the group of the most widely spoken language among the languages in world. By 2000, the overall consensus among those concerned with linguistics was that some form of knowledge of Chinese and Japanese is necessary as a basic tertium comparationes for theoretical linguistics and for the description of English. In the Japanese case, the need for information on special Japanese examples is further highlighted by the attraction of orientalism. The excessive adulation of exotic facts is a little bit troubled by the dilemma that some of the authors cannot read Chinese and Japanese and therefore only use second hand information. Hand in hand with the colloquialization of knowledge about Chinese and Japanese syntactical and pragmatic facts, is the lack of opportunity to prove the information from Chinese and Japanese materials or linguistic literature. Today’s attitude towards the observation of information is that communication is creating the communication process by itself and that it’s not only a repetition of already existing facts. As Michael Foucault argues the discourses must always be seen as moments of power as well; as information power is invariably implicated in any effort to produce and represent knowledge. Although Chinese and Japanese studies outside of the home countries had shown sensitivity to questions of orientalism, there have been no attempts to understand linguistic orientalism especially when directed toward the continuously growing common sense as linguistic tradition. On the whole one can say that information concerning naming entities or orthographical questions in both Chinese and Japanese are very spare in lexicons in Western languages. This means that that while language contacts are very common, adaptations of the knowledge about these languages is only possible for specialists. The implications in connection with the use of scientific terms are quite complex and shall be explained for different ranges of use. 2.1 Possibility of transmission - a state of helpless obscurity In studying Chinese and Japanese we are interested in exploring the further possibilities and limitations of modern linguists. When we compare Chinese linguistics from China and Japanese linguistics from Japan and Western Chinese and Japanese linguistics or Western general linguistics, we often make an extremely poor form in terms of comparison. In 322 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh addition, we have persisted far too long in thinking of the relations between the two worlds in narrow bilateral terms. Think of the changes that have taken place in the two worlds in the course of the linguistic development in the twentieth century. The history of Chinese and Japanese linguistic thought in China and Japan and in contact with Western traditions is well documented from one side from the Asian perspective. On the other side, beneath the brilliant surface achievements in the role of Chinese and Japanese in Western linguistics, scholarly interest in the study of their history seems not to exist in the Western perspective. In the beginning phases, Western linguists specialized in Chinese often make acquaintance with the author of the ancient Chinese work on lexicology and semiotics Shuowenjiezi 說 文解字 (‘Explaining Graphs and Characters’, +100) from Xu Shen 許慎 in the Han dynasty and that of the phonological masterpiece Qie Yun 切韻 (‘Carved Rhymes’, +601) from Lu Fa-yan 陸法言 in the Sui dynasty. The rhetorician Liu Xie 劉勰 (+465-552) is known for his Wenxindiaolong 文心雕龍 (‘The Carving of Literary Dragon’) and the grammarian who introduced Western linguistics, Ma Jian-zhong 馬建忠 , is recognized by his comprehensive work Mashiwentong 馬 氏 文 通 (‘Mr Ma’s Comprehensive Treatment of Chinese Grammar’, 1904). Needless to say, one often has one’s own preferred linguists. As for the modern linguists who are known in the Western linguistic field we should mention Hu Shi 胡適 , Lin Yu-tang 林語堂 , Chao Yuan-ren 趙元 任 , Wang Li 王力 , Li Fang-gui 李方桂 , Zhou Zu-mo 周祖謨 and Lü Shu-xiang 呂叔湘 . The Chinese linguistic tradition is of extraordinary interest to the global history of linguistics, but there are very few translations into Western languages. Language barriers also exist in the Japanese case - with only a few exceptions - linguistics written in Japanese is little known to foreign scholars. Doi (1977: 272) called this state in Japan “a state of helpless obscurity” as there are almost no translations of Chinese and Japanese linguists into European languages. The tendency is just to neglect this problem, though of course not without honourable exceptions 3 . Among those fortunate linguists, who are capable of reading and speaking Japanese this problem may be not vital. But it is vital to all linguists working about these languages, but who are lack sufficient knowledge of Chinese and Japanese. Ignoring this question is a popular technique for the most general linguists, who maybe suppose that there is sufficient knowledge of Japanese in English materials. Nevertheless, one might still ask ‘what is going on? ’, when factually all linguistic classics are not translated into any “readable” language. Classical botanical works are also very rarely translated. Furthermore, we can observe that there are almost no modern translations of linguistic works in languages other than English into Chinese or Japanese. As a result, we desperately need to create academic systems capable of overcoming these barriers and to allow languages other than the main scientific languages, to thrive in the linguistic community. If we treat the situation in terms of sociological analysis we can take the famous Japanese sociolinguistic distinction of uchi (inside) and soto (outside). The following list characterizes the situation faced by general linguists when dealing with Chinese and Japanese: Chinese as a Classical Language of Botanical Science 323 Information source for general linguistic research in China, Japan and Europe for the study of Chinese and Japanese China and Japan Europe Language materials inside outside Linguistic materials inside outside Materials about linguists inside outside Writing system inside partially inside, partially outside Grammatical categories inside outside Writing standards inside outside Dangers: Homogenisation Isolation from the western context Belief in the unique character of the mother tongue No control over the instances of discourse Orthographic problems Dangers: Homogenisation, neglecting dialectal and stratificational varieties, neglecting the delicacies Isolation from the Asian linguistic context Creating information for the convenience of the specific theory Oversimplification in typological thinking No control about the instances de discourse Orthographic problems In connection to the problem of inside-outside scientific spaces we should remember Needham’s visions as the visions of the greatest European scholar in the field of research of East-Asian natural sciences: Next comes the spacious story of the Chinese botanical literature, until now almost unknown to Westerners and others who lack acquittance with the script in which it was written. First we talk about the lexicographic and encyclopaedic texts, because there is in them a vast wealth of botanical information, hitherto very little drawn upon by historians of the plant sciences. Then follow the imperial florilegia (unique to the Chinese tradition), the classified compendia, and the dictionaries of origins, together with those based on script, sound and phrase. If these could all be made to yield up the knowledge about plants which they contain, then in spite of a certain amount of mutual copying, and allowing for a modicum of legendary lore, great benefit would accrue to the oecumenical history of mankind’s understanding of the plant world (Needham 1986: XXVIII). 3. Semiotic spaces: connected and disconnected 3.1 Distorted scientific communication in natural sciences due to language inequality There are strong common links between natural sciences in our modern world. In the international scientific world English and Latin/ Greek serve as link languages that allow the scientists of different countries to communicate with one another. The spread of neutral international scientific languages facilitates international communication but because of 324 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh the difficulties of different traditions there is strong evidence that points to distortion in the communication that takes place in international scientific matters. We define distorted communication according to Mueller (1973) as all forms of restricted and prejudiced communication that, by their nature, inhibit a full discussion in issues and ideas that have public relevance. Distorted communication can be politically directed, arrested because of restricted or more elaborated codes and constrained, consuming time and energy. The basis of the scientific standards in East Asian botany was the classical Chinese language and script. Distinguishing the common and the learned names for plants we can find in the text of Theophrastus, and we find that his contemporaries in China in the 300 BC century The Chinese traditional botanical names are the Chinese inventions, although systematically very similar to the European botanical classification (Graham 1969, Needham 1986: 165): Our thesis is that there was an exact parallelism between East and West in the choice and a construction of plant names. (…) Whatever aura of advanced science may hang about the accepted Latin generic names of today is really illusory, for there is an exact analogy between the principles on which they were framed and those that gave the Chinese the nomenclature. Most of the Chinese herbal names are adopted from famous ancient herbal works, such as Bencaogangmu 本草綱目 (‘The Great Pharmacopoeia, the Pandects of Natural History’, 1596), Jiuhuangbencao 救荒本草 (The Pharmacopoeia written by Zhu Su, 1406), etc. A traditional and commonly used naming methodology is: First a noun is subscribed as the head to name plants in the same genus, e.g. cao 草 (grass), hua 花 (flower), and jue 蕨 (fern). Then, according to the appearance, habitat, place of orign and fruitage of the plants (cf. Hsiung 1998: 57, 60), a modifier is chosen to distinguish the genus, e.g. bai he cao 白鶴草 (white crane grass; Rhinacanthus nasultus). The description of the appearance of the plant as the modifier is the most productive method. The flower of bai he cao (white-crane-grass; Rhinacantus nasultus) is white and the Chinese believe that the form of the flower resembles a crane. Cultural perception is often noticed here. A crane carries a positive connotation and linguistic concept for the Chinese and thus is often adopted in naming. Morphemes as such as shan 山 (mountain), hai 海 (ocean), shui 水 (water) are used to describe or to distinguish between the different habitats of those celeries grown in water and those on land, e.g. shui qin cai 水芹菜 (water celery). Moreover, yang 洋 (foreign) and fan 蕃 (barbarian) often serve as contrasts to distinguish two entities in the same species as indigenous or exotic. For some trees, the economic value lies in the fruits they bear, so these trees are named after their fruits, e.g. pin-guo shu 蘋果樹 (apple tree). The various ways of referring to plants in the Chinese scientific vocabulary 4 : 1. Chinese traditional names 2. Vernacular names: The vernacular names (also called common names) are named by local biologists or local people and such names are popular in non-academic herbal literature, e.g. wu-gong cao 蜈蚣草 (a ciliate desert-grass). 3. The popular alphabetic names: e.g. 銀杏 gingko (in these cases Chinese names will be mentioned too). Chinese as a Classical Language of Botanical Science 325 4. The international scientific names (Latin): A full list of scientific names with Chinese correspondent terms is sometimes provided in the appendix of the given articles or books. 5. Chinese traditional names and any of the above mentioned names. 6. A combination of all the aforementioned categories. As Needham stressed, the greatest difference between China and Europe in the plant nomenclature and taxonomic language is that the latter had a dead language in its past from which scientifically defined names could be derived. Latin was a permanent barrier for the common names in specific languages. Chinese ideographs could not function the same way as a “scientific fence” separating scientific names from common names (cf. Needham 1986: XXVII). It is well-know fact, that modern Japanese has adopted thousands of lexical entities from Classical Chinese and Western languages its scientific vocabulary. For the extensive territories of modern terminology there are still many neglected facets of lexical innovation and compatibility. While borrowings are now mostly from English, the basic concepts of the original scientific vocabulary can be divided into 5 groups: 1. Japanese words proper 2. Sino-Japanese words, which have been imported from the Chinese language since the beginning of the 6 th century, but are disappearing gradually nowadays 3. Latin and Greek loan-words as internationalism 4. European loan-words - mostly English 5. Combination of all categories The Japanese description can be based on the Western and on the Eastern taxonomynormally it is a mixture of both of them. Satakes (1993: 146) description of Oleacae gives Latin information on the higher level-Family, Genus, not mentioning the Latin termini and at level and gives no information on the Chinese scientific terminology. All the following bold items are added to the original source: Family ---- モクセイ科 (Mokuseika) Oleaceae Genus トネリコ属 (Tonerikozoku) Fraxinus シオジ (shioji) (Fraxinus platypoda) Chin. Scient. Kuan bing bai la shu, Chin. Vulg. shui jiou マルバアオダモ( marubaaodamo) (Fraxinus sieboldiana) Chin. Scientific guang la shu, Chin. Vulg. xi bo bai la shu シマトネリコ (shimatoneriko) (Fraxinus griffithi) タイワンシオジ (taiwanshioji) Chin. Scientific, Bai ji you, Chin. Vulg. 0 This source presents only one case of the correlations between Latin and Japanese botanical taxonomy. As predicted, two language and processing systems are necessary for comprehension. 326 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh The results of the research of the National Language Research Institute prove there is actually a great terminological instability in Japanese (cf. Miyajima 1981). Many terms are in concurrency to each other; clarification is needed in scientific and everyday language life. In the context of scientific communication, loan-words can also cause a lot of work and, in many cases of distorted communication. The reason for their instability is the process of intercultural mediation (an orthographic and semantic process) affects human cognition is not necessarily consciously recognized, because the language one uses is taken for granted and interchangeable; and only in cases of disturbances can language be recognized, as an important fact - a reality of its own. As to the types of disturbances: we examine semantic and orthographic problems as overt restrictions upon freedom of expression. 3.2 Hanzi/ kanji-universe - alphabet universe The dominance of alphabetic systems in international and intercultural communication often creates serious consequences in representing languages from the hanzi/ kanjiuniverse, as Chinese and Sino-Japanese are always handicapped. The immediate importance of proper orthographic tools for scientist can be seen in noting the most common errors and difficulties. Over time, Chinese and Japanese botanical terms have been extended to the Latin specification of botanical terminology, but these specifications include a great variety of designations that belong to different sections of vocabulary. Qualitatively, Chinese characters may denote the same or a different plant, in connection to Latin, in a diglossic situation. Latin botanical terms may be connected to a great variety of Chinese and Japanese botanical names and clarify the concept. The Japanese language is well known for its heavy debt to Chinese; it not only began as a written language using both Chinese ideographs and phonetic symbols based on them, but borrowed in the long history of cultural contact heavily from Chinese vocabulary. It is a clear phenomenon that kanji in Japanese may have another sense as in Chinese. As far as such hanzi/ kanji is in a specific context - information is recoverable. Implications in connection with the use of Chinese, Japanese and Latin botanical terms are quite complex. The representation of Japanese plant terms displays variants in different codes - in Japan there is a triglossic situation. Chinese as a Classical Language of Botanical Science 327 Botanic Terminology in Chinese and Japanese with orthographic variation Chinese scientific botanic terminology CHINESE TRADITIONAL NAMES (hanzi) CHINESE vernacular names (hanzi) Romanization More than 20 Pinyin Taiwan 5 LATIN Alphabetic Chinese popular plant names Vernacular (hanzi) Dialect variation (hanzi) Historical variation (hanzi) Japanese scientific botanic terminology Usual writing TRADITIONAL SINO- JAPANESE NAMES OR JAPANESE TERMINI (katakana) JAPANESE vernacular NAMES (katakana) Romanization More than 12 Hepburn Kunrei LATIN Alphabet Writing variation Kanji, katakana, hiragana Katakana-kanji Japanese popular plant names Vernacular (kanji, hiragana, katakana) Dialect variation (kanji, hiragana, katakana) Historical variation (kanji, hiragana, katakana) The total number of plant species known in the world is around 225,000, with an average of eighteen species to each genus. The Sino-Japanese flora is much richer than that of Europe and China has some 30,000 species and in the north temperature zone where Japan only has 5,500 (cf. Needham 1986: XXVI). The identification of plant names in the north temperature zone is a huge scientific field, even when only talking about the lexicographic matters. Before entering into the question of lexicology, through it seems necessary to mention that lexical and orthographic differences could be seen as non-significant details but we should remind ourselves that in modern data technology minimal variations are significant. Alphabetic conventions are very sensitive to all sound deviation in orthography. 3.3 Homographic terms - camellia or cedar? Due to the long borrowing tradition of Chinese characters and words Chinese and Sino- Japanese have many varieties of writing in artificial and natural language usage. Different plants with the same Chinese character can appear as a homographic question. In the next step, we enumerate the consequences of using the same hanzi/ kanji 椿 for different plants for the botanical description of Japanese: Sazanka or Sasanqua; “The Japanese Rose”. The name Camellia Japonica was given by the East India Company 328 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh (1702) though the plant, popular in Europe in the nineteen-forties, was essentially Chinese 6 . The Chinese name for ornamental camellias is chahua 茶花 ‘tea flower’ or sancha 山茶 ‘mountain tea’. The relationship between ornamental flower and tea caused many problems for European botanists, who for a long time could not decide whether the generic name should be Camellia or Thea. Now, the general content name Theaceae is retained for the family, but the tea has the name Camellia sinensis. Theaceae as a generic name (gakumei 学名 ) is called Japanese Tsubakika ツバキ科 and the next classificatory step (zokumei 属名) is Camellia called Tsubakizoku ツバキ属。 Therefore variations of the scientific and vernacular names can still be confusing today. Camellia japonica, Camellia Sasanqua Chinese shancha 山茶 (‘mountain tea’ or according to Kaempfer Sa Sa or vulgo Jamma Tjubakki, Kaempfer, Amonitates exoticae 1712) Camellia reticulata But shancha could also stay for Camellia reticulata, the Yunnanese cultivation of flowers with various red shades Chinese chamei 茶梅 (‘tea plum’related to Camellia oleifera, native in China, where it is used as cosmetic oil 7 haishiliu 海石瑠 (‘see stone coloured glaze’) Japanese vernacular name tsubaki 椿 The usage of the same character fort he scientific name of cedar in Sino-Japanese. Cedrela sinensis. Juss. Roem Japanese Chanchin 香椿 チャンチン Chinese Chun 椿、香椿 Polygraphic and polysemic problems Chinese: chahua ‘tea flower’, shancha ‘mountain tea’, chamei ‘teaplum’, haishiliu ‘see stone coloured glaze’, chun ‘cedar’ etc. Japanese: sasanka, sazanka ‘tea mountain flower’, (Sasanqua), Yama tsubaki or yabu tsubaki ‘mountain/ bush camellia or cedar’, Hime sazanka ‘princess tea mountain flower’, Hime tsubaki ‘princess camellia or cedar’, tsubaki ‘cedar’ etc. Western-Latin: Sasanka, Sasanqua, Camellia Japonica, Camellia sasanqua, Yama tsubaki, Camellia sinensis, Camellia japonensis, Camellia reticulata, Camellia oleifera, Schima wallichii, tsubaki, cedar Practical use Camellia: tea, oil, flower, art Cedar: oil, art, building As the usage of camellia and cedar can be very different we can see that homographic problems can cause serious mistakes in the use of plants. Next a few words on a similar Chinese as a Classical Language of Botanical Science 329 case from Needham’s description of a plant called chhin phi 秦 ‘the bark of the chin tree’ synonymous with kku shu (ku shu 苦樹 ) in Pen ching or its full title Shen nung pen chao jing 神農本草經 (Shen nong ben cao jing, ‘Classical Pharmacopoeia of the Heavenly Husbandman’, 1596) which is a compendium of medical plants discovered in antiquity up until later Han time (cf. Needham 1986: 478). Ku shu could be Celastrus angulata Maxim a member of the Celastrace, but it is also supposed to be the bark of the chin tree: There is considerable uncertainty about its botanical identity. Porter smith called it Fraxinus pubivernus, while Read preferred Fraxinus bungeana. The Genus Fraxinus would be the plant of Oleaceae. The Kang Mu states that chhin phi kills invertebrates (sha chung) and leaves can be used for washing clothes. Porter Smith confirmed the value of the bark as astringent, and that it is effective as a wash for snake and insect bites (Needham 1986: 484). Such controversies are not purely academic questions, especially if we are searching for medical or biological-washing materials. Botanical compendia of high international reputation cannot always help Western scholars to solve the problem Harvard’s Flora of China as a taxonomy includes some hanzi/ kanji but the Swedish one from the Botanical Institute of Göteborg University does not. The problem of the romanization approach is not the use of the alphabetical termini but the fact that connecting two types of ‘signifiants’ as carriers of combined or different items builds significant barriers. 3.4 Homophonic problems - the same name for many plants The duality of reference in applying botanical terms is also reflected in the great number of possibilities for the transcription into alphabetical systems. As far as Japanese plant names are referred to in alphabetic systems, homophonic cases can appear. For instance the Japanese vernacular plant name kanran can be used for five plants, from which cabbage and olive are rather different. One of these plants is called kanran also has a scientific name. Let’s take some Sino-Japanese and Japanese examples. If they are written with Sino-Japanese kanji or syllabic distinctions in katakana, the usual way of writing them can help to differentiate: Kanran 8 - 5 plants Brassica oleracea var.capitata L. 甘藍 Cimbidium kanran Makino 寒蘭 Canarium album Lour. Raeusch. Chin Olive 橄欖 Olea europeae 橄欖 Burseraceae Canarium, Dacrydodes, Santiria カンラン For plant information it is impossible to identify this species by alphabetic convention. However, let us assume for the sake of argument that in spite of all these actual difficulties, the international communication is working on the prospective common definition of complicated items 9 . The very informative Flora of Japan (www.foj.info) Kodansha database in English gives information on the Japanese scientific names in katakana and not in kanji. Presenting the items in katakana is correct as a scientific convention, but as it is not referring to Chinese scientific conventions or the Japanese vernacular usage in kanji, it is 330 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh not in the authentic script. The authentic information is only represented on the Japanese sites. The present findings suggest that the linguistic spaces are not equally connected. 3.5 Phonetic adaptation - a lot of letters for the same phoneme Scientific terminologies were developed hundred years ago; changes in codification are only natural. Orthographic and semantic variations are possible in the Western scientific terminology but the possibilities are restricted to some cases: y-i as Wilde Malve, Malva syvestris/ silvestris capital letter Sylvaticussylvaticus hyphen Tollkirsche Atropa Bella-donna, Atropa belladonna Synonyms Graminae = Poaceae (Reis) Homonyms chinensis = sinensis Vowel or consonant variation Napauliensisi =nepalensis, nipalensis (Yamahara 2000) The variants of representation in cases of spoken and written natural or scientific language are quite complex and shall be explained for different ranges of use in the natural or scientific language use; semantic features of the Western and Sino-Japanese scientific inventory will be distinguished in section 4. We can now proceed to orthographic facets of language borrowing. In the vast range of possibilities, Chinese and Japanese writing systems play a key role. Because of the variety of writing conventions in Japanese and in the transcription of Japanese into alphabetical systems, the same artificial or everyday word for a plant can appear in many confusing variations. When writing Chinese or Japanese plant names, a number of phonetic realizations are possible and the recoverability of information is often seriously damaged. Although it is true that there are certain transcriptional techniques, which are most readily identifiable as spelling in higher-order Indo-European languages, it must be noted that romanization is not an invariably carrier of clear conventions. Variations of different romanization and the time factor: The botanical name - Camellia sasanqua 山茶花 is an adaptation of Latin with Sino- Japanese, but the same plant can appear as Sazanka (Kunrei or Hepburn system) Sasanka (Kunrei or Hepburn system) The second case is a clear illustration of the time factor: The botanical name Schima wallichii has nothing to do with shima ‘island’ in Japanese but is a variation of hime (‘princess’) also called Himetsubaki in modern Japanese. Schima can be correct in the sense of dialectal or individual variety when pronouncing hime, which was probably preserved in a German transcription sometime. Needham mentions (1986: 439) this plant with its Japanese specific name as chha mei 茶梅 (‘tea plum’) as a plant that continued to intrigue scholars, who were sent to Fukien in the 18 th century. As the Japanese cultivation became fashionable 43 species or varieties were classified before becoming popular in the middle of the 19 th century in the West. Chinese as a Classical Language of Botanical Science 331 3.6 Transcription systems for Chinese The recoverability of information is distorted by many transcriptional systems. Codifications in Main China and in Taiwan are different. Though there are now international efforts to achieve some botanical unification today, we should take it as granted, that every library in the world has the own different way of romanizing Chinese. Linguistically the process is far from being perfect. Looking for books is for example not an easy matter. For Chinese terms in German speaking context one should familiar with the following code-conventions (Kaden, 1975: 121 modified): Code-name Year Couvrer 1890 Dietz publishing house 1958 Franke 1930 Forke 1927 Gwoyeu Romatzyh 1928 Haenisch 1929 Lessing/ Othmer 1912 Palladius (Kafarov) 1888 Piasek 1957 Pinyin with accent As number 1958 Pinyin with accent as Marks 1958 Pinyin without accent 1958 Stange 1963 Latinxua Sin Wenz 1931 Vissière 1902 Wade/ Giles 1867 Yale-University 1943 Zhuyin Zimu 1918 Despite the circa 20 conventions for the romanization of Chinese, Western languages adapt lexical innovations from the Chinese in alphabetic orthography. Of course one should have a useful orientation for the loan-words. As we clarly see, the phonetic form has a crucial role in the loan-word adaptation of a foreign language - linguistics can serve as a mediating bridge in the transfer processes of Chinese terms. Phonetic issues are also qualitative aspects of lexical borrowing - the penetration of foreign expression into language usage can be much more effective if codification has already been decided. If the flood of Chinese loan-words into German continues through the variations of Pinyin, the codification of historical and obsolete forms is needed for integration. 椿 ch’un 1a long-lived tree, Cedrela 香椿 Cedrela odorata ch’un, ch’un 1 (Wade/ Giles), chun, chún chun, chun (Pinyin), 332 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh pinyin chun (4 tones) API tsh Dietz tschun Gwoyeu Romatz chhun Forke/ Stange tsch’un Haenisch ch’un Lessing/ Othmer tschun Vissiére tch’oun Wade Giles ch’un With such variations, data mining is really troublesome: the most extreme case is er, where almost no vowel and no consonant remains the same. When searching for er, one must consider: ör (Dietz), el, erl, eel, ell (Gwoyen Romatzyh), örl (Lessing), eul (Vissière), êrh (Wade Giles) As we can see in romanization the recognition of a word unit involves specific difficulties: We do not know what something is unless we know what it is not. Curiously, positive and negative recognition are important. If we want to know, for example, what an X is, we hardly feel enlightened if we are told only that it is neither x or y. Similar considerations apply to other botanical names. In studying an unknown plant, the scientist must crack the language code in the specific context. He must find and learn to recognize the phonemes and the letters or signs, which allow as specific unit to be understood. In order to adequately learn about plants in Asia, he must learn to recognize and utilize languages from an insider’s perspective. Variation can affect philological mistakes through the addition, replacement, or deletion of some plants. To work effectively we have to work on the theory and technique of notation. 3.7 Transcription systems for Japanese Here we mention the main orthographical types of Japanese written in alphabetic convention: Portuguese 1591 Dutch Studies 17th 18th century Siebold 1827 Hepburn 1867 Revised Hepburn 1905 Japanese official System kunrei 1885 Kunreireform 1937 Kunrei reform 1946 Meyer 1971 French, Landresse 19 th century Chinese as a Classical Language of Botanical Science 333 If we return to the example of Camelliatsubaki, we have at least the following names tcubaki (Portuguese), toebaki (Dutch), tsubaki (Siebold), tubaki (Japanese official kunrei), zubaki (Meyer), tsoubaki (French). Kunrei or Hepburn transcription of Japanese into alphabetic systems often ignores long vocals, which causes instability: sansho - sanshô, is often unspecified. As it is often translated as ‘Eschesamen’ ‘ash seed’; it is complicated to follow it up scientifically, as it has not closely connected Fraxinum to ash but according to various lexicons connected to Family Cornaceae / Genus Cornus officialis, sanshôzoku サンショー属 and Family Rutaceae, Genus Zanthoxylum piperitum. Sansho サンショ sansio, sansho, Or with a long vowel: sanshou, sanshoo, zanshoo, zanshou, Sanshô 山椒 Oleaceae, Fraxinus sansho sanshou zansho zanshou Blütengewächse Cornaceae Oleaceae Rutaceae Cornus officialis Fraxinus Zanthoxylum piperitum (cf. Satake 1993: Cornus, Flora of Japan database: Zanthoxylum) In German lexicons sanshô is often referred to a sort of Fraxinum like ‘pepper’ - as Eschesamen ‘ash seed.’ But if we look at the scientific terminology we can recognize that Fraxinum and Zanthoxylum/ xanthoxylum are not the same. The mistake is probably the result of reading of the kanji as the same shô, which can also mean the ash tree. For the discussion of effective adaptation and romanization of Japanese we can reconsider Lewin’s (cf. Lewin 1990) arguments pro and contra Hepburn and kunrei-norm as the most accepted systems, but it would not really help in practical questions as they are as variable and ambivalent as the many conventions for the alphabetic retranscription of Chinese. 3.8 Are internationalisms transparent? Unfortunately not. An appropriate way to solve this problem would be trivial if scientific terminology were international. In the case of Japanese plants, whith names that are international words, such as tulip or aster the situation would be more comfortable. Unfortunately the pronunciation of plant names and the convention of writing them in hanzi, kanji in phonetic variant or katakana (a syllabic and not an alphabetic convention) guarantee new problems in transcription. Under the heading of transcription or phonetic problems we can enumerate a lot of international plant names as: 334 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh CHINESE internationalisms tulip chûrippu crocus kurokkasu aster asutâ geranium zeranyûmu margarit mâgaretto The practical problem with these names is due to because of Japanese phonology; they are hard to grasp for the retranscription into the original language - and therefore not helpful. The linguist and the botanist are not conscious of the relationship between their respective fields of research. It should be easy to recognize that language is best treated as a system on its own and that researchers in botanical issues need training in natural sciences. Nevertheless, despite a well recognized relationship between lexicology and plant names, the practical value of the work of people engaged in translating Chinese or Japanese with special linguistic training are often overlooked and their necessity vaguely defined. At any rate, it would seem that we should make more use of lexicological knowledge when dealing with the many semantic and definitional problems, with the linguist engaged in Chinese and Japanese is constantly confronted. 4. The coherent semantics of botany 4.1 Divided linguistic spaces - essentially connected semantics In Saussurean sense, the term concept designates, basically, the conventional meaning we get from a sign, which can serve useful classificatory functions. Distinguishing, for instance between camellia and cedar as a botanical term constitutes conceptual patterns that obviously serve various practical, literal and scientific purposes cross-culturally. The semiotic functions from such distinctions are according to Rosch’s suggestion (1973) to superordinate as a classificatory function (e.g. ‘animal’), to be basic type (e.g. ‘cat’) or subordinate with providing details (e.g. ‘Siamese’). Denotative, connotative and metaphorical concepts and their networks have to be identified for scientific purposes. For the present purposes, it is sufficient to point out that they are interculturally nontransparent and in order to connect them we need various kinds of linkages. Scientific languages are languages of discovery. The language of botanic research is much more heterogeneous as the best representative scientific language is the language of mathematics. For the further semiotic analysis of scientific and natural languages we demonstrate the following inventory of taxonomical questions using Marcus’s definition of features of scientific languages (cf. Marcus 1979: 29-30). 1. Scientific language is the optimum expression of the rational hypostasis of human thinking, which is realized with a high syllogistic density. The heuristic function of scientific language relies upon its conciseness. 2. The syllogistic density leads to an axiomatic deductive structure, outlined by definitions and proofs, which require infinite synonymy, because they involve successive transformations of various assertions into others that are semantically equivalent to them. Replacements are essential. Chinese as a Classical Language of Botanical Science 335 3. The problem of style is very similar to thisas it consists of the choices between various synonym strings. 4. Translatibility is viewed as a particular form of transformation between synonymous strings. There are eight types of translation of s.l. in view of the fact that the infinite synonymy belongs to both natural and artificial component. 4.a replacement of the natural component by another natural component 4.b replacement of an artificial component by another artificial component 4.c replacement of the natural component by an artificial component 4.d translation of the artificial component into a natural language. 4.e conjunction of a. and b. - different symbolism and terminology 4.f conjunction of a. and d. 4.g conjunction of b. and c. 4.h conjunction of c. and d. is possible, but not common 5. Scientific language implies the primordiality of the cognitive function with respect to all other Jakobsonian communicative functions. 6. Scientific language can be learned only particularly before it is used. The metalinguistic function is essential. Only the continuous practice of science may lead to a deep knowledge of the operational behavior of some of its scientific objects and concepts. We can now proceed and clarify possible disturbances in the usage of botanical terminology and analyze the types of equivalency and distorted translation between natural language and scientific usage in comparison to English, German, Chinese and Japanese in botanical terms suggesting that most disturbances of our botanical taxonomy arise at the fourth level 4. Natural and artificial components of different languages will be demonstrated. We take the tree Fraxinus-Esche ‘ash-tree’ (Chinese) and compare natural language usage (common name = c.n.) dictionaries and botanical dictionaries written in katakana (‘syllabic alphabet’) or alphabet (scientific term = s.t.) and descriptions: Ash-tree is existent in Japan in the following variants (Satake 1993): Toneriko トネリコ、とねりこ " shioji 塩路 ‘salt way’, yachidamo 谷地だも ‘valley place ashtree’, miyamaaodamo ミヤマアオダモ ‘in the mountain blue/ green ash-tree’, marubaaodamo マル バアオダモ ‘round leave green/ blue ash-tree’, shimatoneriko シマトネリコ ‘island ash-tree’, aodamo アオダモ ‘blue/ green ash-tree’, yamatoaodamo ヤマトアオダモ ‘Yamato blue/ green ashtree’, shimatako シマタゴ ‘island tako’, tonerikoba no kaede トネリコノカエデ ‘Eschen-Ahorn’ 336 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh Japanese Scientific name J. Western scientific name L. in Japanese German/ English common name Chinese scientific Name Chinese common Name Common name toneriko Fraxinus Esche/ ash Toneriko Type mokusei Toneriko and Sino-Japanese mokusei Fraxinus excelsior or fraxinus japonica oleacae 0 gao bai la shu 高白臘樹 yang chen 洋梣 shioji shioji Fraxinus platypoda 0 kuan bing bai la shu 寬柄白 臘樹 shui jiou 水 揪 yachidamo yachidamo Fraxinus madshurica var. japonica 0 ri ben shui qu liu 日本水曲柳 shui qu liu 水 曲柳 miyamaodamo miyamaaodamo Fraxinus apertisqumifera 0 luo lin ye bai la shu 裸鱗葉白 臘樹 0 marubaaodamo marubaaodamo Fraxinus sieboldiana 0 xi bo bai la shu 西伯白臘樹 0 shimatoneriko shimatoneriko Fraxinus griffithi 0 guang la shu 光臘樹 bai ji you 白雞 油 aodamo aodamo Fraxinus lanuginosa f. serrata 0 mao ju chi ye bai la shu 毛鋸 齒葉白臘樹 0 yamatoaodamo yamatoaodamo Fraxinus longicapis 0 chang hua xu bai la shu 長花 序白臘樹 0 shimatago shimatago Fraxinus floribunda 0 duo hua bai la shu 多花白臘 樹 0 toneriko no kaede Toneriko no kaede Acer negundo Eschenahorn feng shu 楓樹 feng shu 楓樹 In fact, studies in Sino-Japanese botanical science are inextricably bound to databases and systems in these languages. Looking at the International Association for Plant Taxonomy database or the database of the Botanical Institute in Göteborg (www.sysbot.gu.se/ ) we have absolutely no understanding of the Chinese names of plants. Chinese flowering ash Fraxinus sieboldiana Blume, simply has no Japanese name. If we would consider it for the United Nations Convention of Biological Diversity and Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora, we would have to contact Chinese databases. Otherwise there is some help to be found in the Harvard Flora of China (hua.huh.Harvard.edu/ ) database supplying the Pinyin transcription lu shan qin without tone and hanzi with a question mark. In the case of Flora of Japonica (ww.foj.info) we can rely on the Latin and Katakana written Japanese names without reference to kanji. So we could name the plant properly Chinese as a Classical Language of Botanical Science 337 using many databases but this does not mean that we have all cross-references at the same timeso we are in need of treating a specific item. Who could tell us whether Chinese Flowering ash is Fraxinus sieboldiana or Fraxinus chinensis? Although we now have the possibility to have a look at the photos of its hermaphrodite inflorescence in Osaka as its leaves in Göteborg and the fruits in London. The database Biosis is a high quality English database with limited transparency. The reader then, in addition to developing botanical skills, must also master language and orthographic skills in order to regulate the appropriate resources. The present data also demonstrate that different processing strategies are necessary for Western and Chinese and Japanese botanical information systems as the subjects responding to our research are factually different in connection to the orthography. Japanese pepper sanshoo Xanthoxylum piperitum zanshou sansho 1 PREV200100040731 1 1 1 2 PREV200200115223 1 1 3 PREV200100189018 1 1 4 PREV199497461729 1 5 PREV199800404017 1 6 PREV199799571274 1 7 PREV200200377461 1 8 PREV199799547975 1 1 9 PREV199799502222 1 10 PREV199699252178 1 11 PREV199396056435 1 12 PREV199598181402 1 1 13 PREV199799742372 1 14 PREV199799742367 1 15 PREV199799648325 1 16 PREV199799383628 1 17 PREV199598428643 1 Sum 10 1 5 1 6 Budo-Zanshou Asakura-Zanshou Since the biosis database is written solely in the alphabetic convention, we cannot expect to get connection to the Chinese medical system as we see in the next entry in the database (cf. Liu, Ito, et al. Accession Number PREV 199799648525). Here once again we can show that differences in orthography are not irrelevant in coding information. As Japanese pepper Jiaomu was used as a diuretic in traditional Chinese medicine, it is derived from the genus Zanthoxylum, the family Rutaceae and of the same origin as huajiao. On the 338 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh other hand, it is difficult to identify Zanthoxylum seeds because of their similar external morphology and the difficulty in sectioning them to observe their inner structure. This text is designed to provide information on an article published in the Journal of Japanese Botany 1997, but without the original kanji or hanzi further investigations are nearly impossible 10 . Botanical nomenclatura is divided into geographic and linguistic spaces for historical reasons. But it seems to be nonsense that there are almost no databases combining different languages for reference and search in an appropriate way. For instance it is nearly impossible to search for the Chinese and Japanese scientific name or for ephitets from the Western perspective that would help to differentiate the geographic spaces for the location of specific plants in the world. In addition an interesting field of research is the cultural analysis in the semantic field of common botanical names in Chinese and Japanese as it is connected to cultural history through the names of mythology, heroes etc. As for the technique of translation specific concepts are very important. In matters of religious culture or philosophy the problems of translations are often the most perplexing. The names for deities are a continual difficulty because of heavy connotative significance (cf. Hsieh 2001). It is obvious that botanical questions are very important for medical matters. The first Chinese drug code was printed in 1930 In this code we can see the bi-codification of plant names according to the Chinese and the Western tradition. It is in essence the transfer of the material medical and related pharmaceutical procedures as they were described in the official pharmacopoeias of various European states. The first drug code of the People’s Republic of China was published in 1953. Chung-guo yao-tien The order of the monographs, in the main text follows the number of strokes of (the first character of) their Chinese names. Each substance (listed) in the main text is described, if applicable, according to the following criteria: 1. Chinese and Latin name of the drug. 2. Chemical structured formula. (cf. Unschuld 1986: 278). For searches inside this system the knowledge of Latin would be insufficient. As in the ideographic distinction various characteristics and properties of plants are utilised. We could suggest that a suitably improved ideographic name for a plant would be much better than a Latin name or quasi-numerical computer codes. Ever since the spread of Western scientific terminology, Chinese and Japanese scientific terms and Latin scientific terms are almost coded as a norm. We could show botanical names are double in China (Chinese-Latin) and in Japan triple-coded (Chinese, Japanese, Latin). The unbalanced situation is also observable in the case of common names where a lot of words are not translatable. The Japanese and the Latin scientific terms are often listed in parallel lists - classification and naming are not coherent. Natural and artificial components are often confused - dictionaries and scientific publications are often unclear. Pragmatically Latin terms do not have the same status as Sino-Japanese or Japanese scientific terms in international science (cf. Takayama-Wichter 2001). Chinese as a Classical Language of Botanical Science 339 5. Legal conventions 5.1 Dividing or connecting through codification Codes are necessary for the combination of knowledge in the global world. Botanical species are not natural things, defined by common essential properties as they were treated for a long time, rather botanical species are divided by shared derived charactersprototypes of cognitive recognition. Nomenclatura made by scientists are culturally differing but in cognition common based. For the international scientific and ecological work codes of taxonomical nomenclatura are essential. For promoting the efficiency in the dissemination of information we could show the importance of orthographic norms. The United Nations, the International Standards Organization and other international bodies have adopted official rules. As the rules are not sufficient for non-alphabetic systems the ideographical systems are not perfectly matched to alphabetic systems - the exhaustive treatment of various issues is the future work of international scientific teams. Of course not all problems can be solved but we should understand that orthographic matters have vital implication on information processing and policy. Multicode-systems are possible and very effective in codification. We should use the chance for “stratified linguistic and information space” for mankind in the 21 st Century (cf. Szépe 2002). As we know, we are very far from equal communication as the international botanical conventions are based only on Latin. The International Code of Botanical Nomenclature by the International Association for Plant Taxonomy 2001 (Tokyo Code) is unfortunately excludes all other languages with regulations like or forming specific ephitets, like 11 : a) To use Latin terminations insofar as possible. b) To avoid ephitets which are very long and difficult to pronounce in Latin. c) Not to make ephitets by combining words from different languages. d) Not to adopt ephitets from unpublished names found in correspondence, traveller’s notes, herbarium labels, or similar sources, attributing them to their authors, unless these authors have approved publication. e) To avoid using the names of little known or very restricted localities, unless the species is quite local. (www.bggm.org/ iapt/ nomenclature/ code/ toky-e/ art) The idea of non-alphabetic ordering and writing conventions is simply nonexistent in the international convention for the mankind. Chinese and Japanese are very intensively researched topics in computational linguistics in Japan and outside. In the complexities of all these cases and orthographical problems, the scientist is very frequently confronted by many difficulties in interpretation or equivalence. New standard-setting instruments as WIPO (World Intellectual Property Organisation) and UNESCO, can give recommendations for international convention to member states. Scientific communities like Plants systematics and linguistics can increase the overlapping of information and focus on indigenous knowledge in international terminology as defining it as an intangible cultural heritage and safeguarding the scope of its domains (UNESCO, Preparation of a new international standard-setting instrument for the safeguarding of the intangible cultural heritage, Paris 2001). 340 Viktoria Eschbach-Szabo / Shelley Ching-yu Hsieh As a historical anecdote we can mention that ideographic notifications where also used for plants in Europe. As a schoolboy, Linnaeus copied the alchemical signs from the Pharmacopoeia Leovardensis (1725, cf. Needham 1986: 179) and in later life applied them for botanical taxonomy adding a good many more: So far as we know, no Western botanist ever thought of suggesting that it might be convenient to denote all plant species by ideographs such were used by those ‘quaint Chinamen’, whose nursery gardens were providing such valuable spoils, and whose forests held such allure of species in thousands yet unknown to Western science: ideographs which would show at the merest glance to which division the plant or the animal belonged. It naturally never occurred to Western Botanists, not merely because European usages were implicitly those of the world of modern science, but also because, not being sinologists, they knew nothing of the radical system, nor the possibility of its improvement beyond what the Chinese themselves had ever attempted (Needham 1986: 178). 6. The semiotic future in natural sciences - data mining and terminology 6.1 Chinese or other languages for scientific purposes We can see the process of increasing culturization of East Asia and aestheticization especially in modern media. The East-Asian image has changed from Marco Polo and Rodriguez Shôgun to modern feng shui and computer animated Pokémon. We can see a range of consumer culture sites which have become increasingly important in everyday life - shopping with Asian products, European products with Chinese and Japanese brand names, computer amusement, Manga industry, animation, sports, films. Chinese and Japanese aesthetic features and objects become more important in our everyday environments. These countries are here in the everyday world around us. The computer standards from the last few years in the world allow us easily to write Chinese and Japanese. Chinese and Japanese texts are common in advertisement, tourism. Chinese and Japanese as exotic languages are existent in contemporary Europe. This process entails a shift from classical important languages to important new languages in the world. At the time of Rodriguez’s semiotic thinking, in East and West were probably independent. Chinese and Japanese are now becoming normal languages in European school education. If, however, Chinese and Japanese are not fully demystified linguistic ideologies and prejudices can be propagated on the basis of the vehicle of the language. Every semiotic practice presupposes an ideal awareness of its laws. It is difficult to say whether Chinese and Japanese and Western theories on the Japanese language have the same semiotic development or not. However, in many cases we have a certain common syntactic, semantic and pragmatic basic knowledge. Since the Chinese and Japanese script represented in our linguistic universe is already mediated and semiotized before data arrive, linguistics has to investigate the channels of many stages in the process of mediation. It is interesting to observe that such an open perspective of sources and levels of interpretation is quite abandoned. Original sources may also not be objective and we have to ask questions about these sources whether the author was able to break away from his own nativism, because nativism still inspires the Chinese and Japanese imagination to heights of self-conceit and cultural narcissism. Chinese as a Classical Language of Botanical Science 341 Because linguistic knowledge is part of our existence there are a lot of peculiarities in Chinese and Japanese compared to Indo-European languages. Western linguistic nativism could be the reason for neglecting the great impacts of Chinese and Japanese to the scientific community and to everyday life. To deal with the special variety of semantic and the written code universe, the tools of adaptation have to be defined on an equal level. 6.2 Semiotic connections and codification With such scepticism concerning the assumption of a semiotic reality behind the Chinese and Japanese lexicological studies, linguistics is still able to make its own contribution to the study of realities and myths in the age of the global scientific community. For the future development of our work we have to 1) Develop new questions about the way semantic and orthographic principles improve precision and clarity 2) Show whether the Sino-Japanese-European linguistic relations are equal or not and reduce the invisible ethnocentrism 3) Argue that the strongest and most important impact of cultural and language relations will come from the new quality of scientific and everyday relations 4) Define equal standards to avoid of so-called translation problems and analyse them as cultural contacts or as sensitive domains of acculturation, such as naming 5) Work on multilingual dictionaries and data-bases in different domains of science A professional system of botanical classification is like a natural language in that its full development requires a long history of actual discussion and refinement. References Asher, R.E., Simpson, J.M.Y. 1994. The Encyclopedia of Language and Linguistics. Oxford 10 vols. Bloomfield, Leonard. 1933. Language. 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Taipei. Notes 1 Cf. Eschbach, A. Eschbach-Szabo, V. 2002. 2 His original manuscript was written in Italian and first published 1942 (DeFrancis 1990: 134). 3 Cf. Harbsmeier 1998. 4 A number of familiar Western scientific ideas fall by the wayside if we accept the shifting from classical scientific categories to prototype-based categories of modern semantics. According to Lakoff (Lakoff 1990) biological species are memory based entities constructed by shared derived characters. Biological species are not natural kinds defined by common essential properties. 5 The phonetic system for transcribing Mandarin Chinese in Taiwan is used diversely. While children are learning zhu yin fu hao 注音符號 (Mandarin Phonetic Symbols) in the school, the mass and the public (such as street signs) are using Wade Giles and the academic publications (such as linguistic and biological related articles) tend to adopt either Wade Giles or Mainland Pinyin system is also adopted in this paper. 6 Cf. Needham 1984: 434-435. 7 Cf. Needham 1986: 439. 8 Chinese kanlan ‘soapnut’ for washing clothes cf. Needham 1986: 110. 9 The international botanical net of Kodansha is working now on a system based on DNA information but the long botanical history should be also included into compiling databases. 10 For various help in searching in databases I would like to thank Andreas Marcel Riechert, Tübingen. 11 Prof. Dr. Franz Oberwinkler director of the Botanical Garden of Tübingen University has provided incisive and crucial comments on plant taxonomy. UTB Linguistik A. Francke Kirsten Adamzik Sprache: Wege zum Verstehen UTB 2172 M, 2., überarbeitete Auflage 2004, VIII, 343 Seiten, 16 Abb., 4 Tab., 18,90/ SFr 33,40 UTB-ISBN 3-8252-2172-5 Das Buch stellt eine allgemein verständliche Einführung in das Phänomen Sprache und die Wissenschaft davon dar. Es setzt an alltäglichen Fragen und Erfahrungen an und führt von da zu zentralen Konzepten, die in der Sprachwissenschaft entwickelt worden sind. Im Vordergrund stehen die Bereiche Semiotik, Kommunikation, Soziolinguistik, Pragmatik, Semantik, Lexikologie, Grammatik und Textlinguistik. Erkenntnisse, die in diesen Forschungszweigen vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erarbeitet wurden, bilden den theoretischen Hintergrund der Darstellung; in den Vordergrund werden jedoch die sprachlichen Einheiten selbst gerückt. Für Studierende ist der Darstellung ein Glossar zum Nachschlagen wissenschaftlicher Termini und ein Verzeichnis grundlegender Literatur beigegeben. Eine Reihe von literarischen und journalistischen Texten über Sprache ergänzt und illustriert die Ausführungen und macht den Band zugleich zu einem kleinen Sprach-Lesebuch. Das Leben der Vögel (1861) - Zur Anthropomorphisierung bei Tiervater Alfred Brehm (1829-1884) von Sebastian Schmideler Im Prozess der Anthropomorphisierung werden menschliche Verhaltensweisen, Eigenschaften und Denkungsarten vor allem Tieren, aber auch Pflanzen und unbelebten Gegenständen zugeschrieben. Diese anthropomorphisierten Darstellungen gehören zunehmend dem Bereich der Popularkultur an. Die Wurzeln der populären literarischen Tierdarstellung liegen weit im 19. Jahrhundert. Einer ihrer entscheidenden Promotoren war der bekannte Zoologe und Tierschriftsteller Alfred Brehm, Erfinder und Vollender des literarischen Subgenres Thierleben. Weil die literarische Tiergestalt durch die Popularisierung stärker sprachlich vermittelt erscheint, entsteht ein Abbild, eine Als-ob-Gestalt des Tieres. Das Tier tritt als etwas Spezifisches auf, indem es immer auch für etwas Menschliches steht. Damit wird das Anthropomorphe zeichenhaft. Die Analyse von Brehms erstem Hauptwerk Das Leben der Vögel von 1861 zeigt, dass das Anthropomorphe bei Brehm auf fünf Teilelementen beruht: einer biomorphen und zoomorphen Gestaltungsweise, einer poetomorphen Gestaltungsweise, einer mythomorphen Gestaltungsweise, einer scientiamorphen (wissenschaftssprachlichen) Gestaltungsweise und schließlich einer soziomorphen Gestaltungsweise, die dominiert. Life of Birds (1861) - On Anthropomorphisation in the Works of Alfred Brehm (1829-1884), the Father of Zoology In the process of anthropomorphisation human behavioural patterns, characteristics and ways of thinking are attributed to animals, first of all, but also to plants and inanimate objects. Since their beginning deep in the nineteenth century anthropomorphised representations have more and more become part of pop arts. A major promoter of this development was well-known zoologist and author of animal stories Alfred Brehm, inventor and accomplisher of the animal story as a literary sub-genre. Through becoming a literary hero the animal becomes more and more popular - but with a very specific linguistic representation and also standing for something specific, representing some human characteristic or behaviour. Thus the animal becomes some kind of „as if“-image, an anthropomorph character. An analysis of one of Brehm’s first major works, the Life of Birds of 1861, reveals that anthropomorphisation in Brehm’s work relies on five basic elements - namely biomorph or zoomorph imaging, poetomorph imaging, mythomorph imaging, scientiamorph imaging (use of scientific language) and finally sociomorph imaging, which dominates the others. KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 346 Sebastian Schmideler 1. Anthropomorphisierung, Popularkultur und Semiotik „Geben Sie Ihrer Katze niemals Aspirin! “ - Diese denkwürdige Warnung eines Veterinärmediziners in einem Ratgebervideo zeigt pars pro toto, was für skurrile Deformationen des Denkbaren der Zivilisationsprozess auslösen kann. Ausgehend von der eigenen Seinsweise, von deren Anschauungen und Bedürfnissen auf die der animalischen Mitgeschöpfe zu schließen, ist hingegen eine uralte menschlich-allzumenschliche Eigenschaft. Doch der anthropomorphisierende Fehlschluss, auf ähnliche Symptome bei Mensch und Tier dieselbe Therapie anwenden zu wollen und dabei von gleicher Wirkung auszugehen, wäre hier fatal: Was dem modernen Bürger bei Unwohlsein helfen kann, kostet die Katze das Leben. Nicht minder schwer wiegend stellt sich die Bedeutung der Vermenschlichung 1 in begrifflich-abstrahierender Hinsicht dar: Vor allem in religionsphilosophischer und geistesgeschichtlicher Dimension birgt Anthropomorphismus seit jeher hochexplosiven Zündstoff in sich. 2 So hoch hinaus braucht jedoch niemand zu greifen, um jenseits der langen, bis in die Urgründe der Menschheitsgeschichte zurückreichenden Tradition dieser Anschauungsweise 3 auf Phänomene der Anthropomorphisierung im alltäglichen Leben zu stoßen: Der Osterhase als Dekorationsartikel, graue Plüsch- Mäuse mit übermäßig mutierten rosafarbenen Gliedmaßen als säkulare Kultobjekte, eine dicke, zufrieden lächelnde Seerobbe aus Porzellan als Sparbüchse, geschnitzte und farbenprächtig bemalte Kohlmeisen als Bücherstützen, die werbeträchtige lila Kuh als Markenzeichen in der Süßwarenindustrie, ganz zu schweigen vom Heer der Plüschtiere und anderen anthropomorphisierten Produkten der Spielwarenindustrie - ungezählt sind solche mehr oder minder künstlichen Kunstprodukte, die eingefärbt durch den Blick und die Gestaltung des Menschen zwischen Kultur- und Naturanschauung oszillieren, wenn sie uns auf Schritt und Tritt in der Alltagswelt begegnen. Auch an Animationsfilme (bspw. die grotesk und einfallsreich anthropomorphisierten Knetfiguren Wallace and Gromit), Tier-Comics, Tiersendungen im Fernsehfunk, Computerspiele mit anthropomorphisierten Tieren und Tiere in Sach- und fiktionalen Kinder- und Jugendbüchern wäre zu denken. Selbst die alten Tierdarstellungen wie die seit der Antike zu hohen Ehren gekommene Charakterfabel oder die Tiersymbolik im heraldischen Zeichen bspw. von Stadt- oder Staatswappen wirken nach wie vor unverbrüchlich auf unsere zivilisiert alltagsweltliche Wahrnehmung von anthropomorphisierten Tieren ein. Weniger zivilisiert sind hingegen die immer noch gängigen tierischen Schimpfwörter, mit denen sich Menschen titulieren können (z.B. Grünschnabel oder Spinatwachtel). Selbst das Tier in der Musik wie etwa der beliebte Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns (1835- 1921) findet nach wie vor sein Publikum, wie die vielen Bearbeitungen dieses musikalischen Scherzes aus jüngerer Zeit, zum Beispiel von Loriot oder Roger Willemsen, beweisen. Es verwundert daher, wenn der verdienstvolle Herausgeber der handbuchähnlichen Monographie Mensch und Tier in der Geschichte Europas 4 , Peter Dinzelbacher, zur Jahrtausendwende mit kritischem Blick auf das Phänomen der Tierdarstellung und damit auch der Anthropomorphisierung für unsere Zeit feststellt: „In der Kunst und Literatur könnte man für die Gegenwart, verglichen mit Altertum und Mittelalter, ebenso eine Marginalisierung der Tier- Themen konstatieren.“ (Dinzelbacher 2000: XIII) 5 Diese Beobachtung mag in Hinsicht auf die Qualität der gewissermaßen „kanonisierten“ literarischen bzw. der bildenden Kunst zuzurechnenden Tierdarstellungen stimmen und auch als Zustandsbeschreibung für den Grad der Entfremdung zwischen Mensch und Tier in Literatur und Kunst zutreffend sein. Was die Quantität der anthropomorphen Erscheinungsformen in der Gegenwart betrifft, bleibt jedoch eindeutig Das Leben der Vögel (1861) 347 festzuhalten: Nie war die Menge und Vielfalt dieser spezifischen Erscheinungen von Anthropomorphisierungen größer als heute. Nur ist dabei auffällig, dass die Abwanderung dieser von Dinzelbacher Tier-Themen genannten Phänomene aus dem Bereich der sog. „Hochkultur“ in den Bereich der Popularkultur in unaufhaltbarer Beschleunigung begriffen ist. Wichtig erscheint nicht mehr primär die Verarbeitung der Tier-Themen in einer komplexen, selbstreflexiven und reflektierten künstlerischen Struktur als Zeichen der Selbstbestimmung des Menschen und seiner ihn umgebenden Kultur, insbesondere in seinem spezifischen Verhältnis zur animalischen Natur - wenngleich Ausnahmen auch hier die Regel bestätigen können. 6 Insofern ist Dinzelbacher zweifelsohne zuzustimmen. Es geht in Kunst und Kultur wohl in der Tat auch weniger um die erkenntnisgeleitete maximale Annäherung an das Verstehen des Tieres in seiner Eigenart etwa durch eine kunstfertig und gekonnt bewältigte literarische Form wie eine in diesem Sinne anspruchsvolle Tiererzählung. Statt dessen rückt ein anderer Aspekt in den Vordergrund: Der Grad der Anthropomorphisierung der Tierwelt, die Vermitteltheit der Tierdarstellung, die zunehmend ludophile Art der Konstruktion von mehr und mehr vermenschlichten Tieren oder anders gesagt: die Entfremdung von der „echten“, originalen und lebendigen biomorphen Tiererscheinung hat mittlerweile durch die Beschleunigung der popularen Massenkultur die abstrusesten Formen angenommen. 7 Interessanterweise erinnern jedoch auch diese Kreaturen der hoch industrialisierten Kultur nach wie vor an die mythologischen und gleichsam evolutionsbedingten Ursprünge der Anthropomorphisierungen als „besonders charakteristisch für das vorwiegend naiv-anschauliche Erleben und das geringe Abstraktionsvermögen von Kindern; ebenso für religiöse Vorstellungen in alten Religionen (Stammesreligionen).“ (Brockhaus 2006: 132) Karen Druve und Volker Thies stellen deshalb bereits im Vorwort ihres originellen Lexikon[s] der berühmten Tiere, das genau diesem erweiterten Begriff der Popularkultur verpflichtet ist, mit Blick auf das Verhältnis dieser Geschöpfe der Massenkultur zum menschlichen Rezipienten fest: Das Tier wird nicht als Tier in seinem eigenen Seinsbereich beliebt und berühmt, sondern als Freund aller Kinder, Schrecken aller Verbrecher und Beschützer von Witwen und Kleinsäugern. Comic-Tiere tragen sogar Kleidung, fahren Autos und können sprechen. Ihr Leben gleicht bis ins Detail dem in der Menschenwelt, nur daß es mit dem Zuckerguß einer Niedlichkeit überzogen ist, die das Kindchenschema bis zum Anschlag ausreizt. Wir haben den alten totemistischen Naturglauben, nach dem die Menschen von verschiedenen Tieren abstammen, umgekehrt und infantilisiert. Tiere, so wie sie in unserer Massenkultur dargestellt werden, stammen eindeutig vom Menschen ab. (Druve/ Thies 1997: 7) Wie widersprüchlich sich diese nicht mehr zu übersehende Tendenz zum Diminutiven und Infantilen gestaltet und dass die nur scheinbar ungebrochene, distanzlose Annäherung des Menschen an das Tier, ja die spielerische Verwechslung und Gleichsetzung des Anthropomorphen mit dem Kreatürlichen lediglich auf einer medialen Oberfläche existiert, beweist andererseits die Unfähigkeit des zivilisierten Staatsbürgers, seine weiterhin wachen und ihn jagenden instinktiven Urängste gegenüber dem noch immer unverstandenen Tier zu überwinden. Wenn nicht Kaninchen oder Eichhörnchen, sondern seit jeher stark mit abschreckenden Konnotaten stigmatisierte Bären oder Wölfe 8 in ihren natürlichen Lebensraum zurückdrängen und dabei mit menschlichen Interessen kollidieren, schlägt die diminutive Anthropomorphisierung in eine ebenso radikale Dämonisierung um, wie das unausweichliche Schicksal des zum „Problembären“ stilisierten Braunbären „Bruno“ auch noch im Jahr 2006 einmal mehr bewiesen hat. - Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden entgegengesetzten Polen bewegt sich das 348 Sebastian Schmideler moderne anthropomorphisierte Verständnis des Tieres beim hoch industrialisierten Gesellschaftsmenschen. Das Phänomen der anthropomorphisierenden Popularisierung der Tierdarstellung, das sich zwischen den Extremen der Infantilisierung und der Dämonisierung bewegt, hat indessen seine Wurzeln bereits weit im 19. Jahrhundert - einmal abgesehen von einigen Vorläufern dieser Art popularer Tiergestaltungen in der Sachliteratur der Frühen Neuzeit. 9 Einer ihrer entscheidenden Promotoren war der bekannte Zoologe, Expeditionsreisende, Kulturgeograph und Tierschriftsteller Alfred Edmund Brehm, Erfinder und Vollender des literarischen Subgenres Thierleben. Er ist einer der ersten und erfolgreichsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts gewesen, denen die Beschreibung des Tierseins mit auffällig stark anthropomorphisierenden Mitteln als eine verstärkte Popularisierung gelang. 10 Sein erstes Hauptwerk Das Leben der Vögel von 1861, das einen ersten und besonders deutlich erkennbaren Einschnitt in diesem facettenreichen Bereich der Geschichte der Popularkultur darstellt, soll hier auf seinen projektiven Gehalt hinsichtlich der Anthropomorphisierung der Vogelwelt als Popularisierung des Tieres und damit als Teil eines Zeichen- und Kodierungsprozesses vorgestellt werden. 11 Diese Popularisierung ist dabei als ein verstärkter semantischer und literarischer Vermittlungsprozess zu verstehen. Denn durch die mehr oder minder bewusste und stark ausgeprägte Inklusion des vermenschlichenden Elements werden diese Darstellungen mit Hilfe eines höheren Grads an Vermitteltheit ausgedrückt. Damit geht überdies ein größtmögliches Maß an Simplifizierung von sich den Menschen nicht vollständig erschließenden tierischen Verhaltens- und Seinsstrukturen einher. Durch diese sprachliche Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit 12 wird zugleich ein Wiedererkennungseffekt beim Rezipieren evoziert. Und dieser Rezeptionsvorgang geschieht insbesondere durch die zeichenhaften Verbindungen zwischen Mensch und Tier. Damit ist das Anthropomorphe als das Zeichenhafte das entscheidende Charakteristikum der popularen Gestaltung dieser Tierschilderungen. Welche Teilaspekte dabei von entscheidender Bedeutung sind, soll im Folgenden gezeigt werden. Vowiegend in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus sind diese Darstellungen außerdem zunehmend und auffällig für ideologische Zwecke instrumentalisiert worden, sodass sie als Bereich der Massenkultur auch in politische Prozesse verstrickt waren und in der Vermittlung der verhängnisvollen und verderberischen Entgleisungen eine nicht unerhebliche Rolle spielten (cf. Nassen 1993). 13 Zunächst aber bedeutet dieser Prozess der Vermitteltheit ganz grundsätzlich Annäherung an sprachliche Anschaulichkeit, Bildhaftigkeit, an Konstruktion von Analogien, die Anwendung von Metaphern, allegorischen Internalisierungen und anderen vornehmlich gestalterischen Mitteln des Sprachsystems, die bildhaften und illustrierenden Charakter tragen. Durch geringe Abstraktion, Einfachheit und Klarheit in stilistischer Hinsicht, vor allem auch durch das Mittel des Vergleichs, durch die Evotion des Spannenden, Fesselnden, Anziehenden und Pointierten, durch die durchaus didaktisch motivierte Reduktion komplexer Sachverhalte, kurz: durch diese meist sprachtechnische Zurücknahme der Mehrdeutigkeit des Tierverhaltens auf einzelne Aspekte wird durch Sprache das populäre Tier geboren. Durch Angleichung entsteht damit Vermenschlichung. Mit dieser Vermitteltheit der Tierdarstellungen durch die Einschaltung anthropomorphisierender Elemente - und dies ist eben meistenteils an Popularisierung gebunden - rückt das Phänomen der Anthropomorphisierungen verstärkt in den Gegenstandsbereich der Semiotik, die sich traditionell mit derartigen Zeichenprozessen beschäftigt und auseinandersetzt. 14 Für die Semiotik als Querschnittsdisziplin können Anthropomorphisierungen in Kunst, Literatur und Alltagskultur neue Horizonte eröffnen, denn die Semiotik Das Leben der Vögel (1861) 349 könnte die Anwendung ihres historisch gewachsenen Methodeninstrumentariums (cf. Posner u.a. 1996: 592- 667) daran erproben, um zumindest einige Teilbereiche des Phänomens zu beschreiben. Als ein Zeichen dafür, dass Anthropomorphisierungen innerhalb von Verstehens- und Semioseprozesse ganz grundsätzlich und buchstäblich über Leben und Tod entscheiden können, sollte das eingangs eingeführte Beispiel der deutlichen Warnung Geben Sie Ihrer Katze niemals Aspirin! zeigen. Es sollte deutlich werden, wie anthropomorphe Sichtweisen ganz grundsätzlich zu Fehlschlüssen führen. Doch für semiotische Fragestellungen weitaus interessanter sind die gestalteten Tierdarstellungen in Kunst und Literatur. Hier liegt zwar auch ein Fehlschluss vor, der aber zugleich ein Gestaltungsprozess ist, der sehr komplexe Strukturen beinhaltet und als zeichenhaft beschrieben werden kann. Dies soll im Folgenden thematisiert werden. Es ist vor allem der zunehmende Grad der Vermenschlichung, wie er sich innerhalb dieser Popularkultur in Tierdarstellungen ausdrückt, der von semiotischem Interesse sein kann. 15 Denn indem Tiere im Prozess der Darstellung spezifische - und hier gilt es zu betonen: auf den Menschen zurückgehende Eigenschaften, Funktionen, Attribute, Verhaltensweisen zugeschrieben bekommen, entsteht ein durch die menschliche Perspektive und an die Grenzen des menschlichen Erkennens gebundenes Abbild. Dieses Abbild kann durch die Wahrnehmungsdifferenz vom Menschen zum Tier niemals ganz und vollständig verstehbar das tatsächlich existierende Tier repräsentieren. 16 Die dargestellte Tiererscheinung wird folglich immer durch Anthropomorphisierung vermittelt sein. Dieses Abbild muss andererseits jedoch als conditio sine qua non unhintergehbar auch zoomorph charakteristische Wesenselemente des wirklich existierenden biologischen Tieres enthalten. Denn diese Ingredienz muss das Abbild immer auch deshalb repräsentieren, um ein Erkennen und Auflösen des Abbilds, mithin ein Verstehen als Tier, ungeachtet des vermenschlichenden Anteils ermöglichen zu können. Gemeint sind bspw. Schnabel, Bürzel und Schwimmfüße bei der Entenhausener Comicfigur Donald Duck, die sie - obwohl in ihrem anthropomorphen Verhalten ganz Mensch - als Erscheinung einer Ente erkennbar machen. Es ist hervorzuheben, dass Tiere in genuin anthropomorphisierten Darstellungen nicht als bloße Tiere in ihrem ureigenen Seinsbereich und in einer gewissermaßen realistisch abgeschilderten, mimetischen 17 . Darstellung vorkommen, die mit dem Anspruch einer bruchlos aufgehenden Eins-zu-Eins-Entsprechung zu ihrem zoomophen und biologischen Wesen zu verstehen wäre. Sie treten hingegen immer als etwas Spezifisches auf. Sie sind nicht nur Tier an sich, sondern sie stehen zugleich zeichenhaft mehr oder minder deutlich für etwas Menschliches. Denn dieses Spezifische wird ihnen vom Menschen durch einen Zeichenprozess zugeschrieben. Tiere müssen dabei dieses anthropomorphe Element von Natur aus nicht einmal inhärent repräsentieren, können es aber. Anders gesagt: Es müssen - und die Ergebnisse der Ethnologie wie der Religionsgeschichtsforschung (siehe Totem und Tierkult) bestätigen es nachdrücklich - Verbindungen zwischen Mensch und Tier bestehen, die einer allegorischen Konstruktion, wie sie in der Fabel vorliegt, Vorschub leistet. (Haas 1996: 4) Dieses Spezifische jedoch, das die Tierdarstellung erst zu einem Abbild macht, kann als das Anthropomorphe und damit als das Zeichenhafte solcher Tiergestaltungen verstanden werden. Denn es handelt sich um eine mit graduell abgestuften projektiven Gehalten aufgeladene Alsob-Gestalt des Tieres, die in verschiedenen Abtönungen mit dem zoomorphen Wesen korrespondiert. Deshalb oszilliert dieses Spezifische als Abbild zwischen dem Tatsächlich- Tierischen auf der einen und dem Genuin-Menschlichen auf der anderen Seite. Wenn das Für- 350 Sebastian Schmideler sich-Sein des Tieres zu einem Als-etwas-Sein konfiguriert, liegt eine anthropomorphisierte Darstellung vor. Gleichwohl können einzelne anthropomorphe Elemente unabhängig davon auch im Für-sich-Sein des Tieres selbst schon enthalten und präfiguriert sein, wie dies bspw. bei Affen der Fall sein kann. Gemeint ist dann aber nicht das vom Menschen gestaltete, sondern das menschgestaltige Anthropomorphe. Denn erst durch das anthropomorphisierte Abbild, durch das Als-etwas-Sein wird das Tierisch-Kreatürliche zeichenhaft vermenschlicht dargestellt. Erst unter dieser Bedingung erscheint das Tierische gebrochen durch das Bewusstsein des Menschen. Im Extremfall - so etwa bei den Tiercharakteren in der klassischen Fabel - kann dieser Prozess sogar insofern umgekehrt werden und die Hauptrichtung seiner Perspektive ändern, als das Tierische nur als Maske oder Chiffre dient und damit wiederum nur als ein verhüllendes Zeichen für das gilt, was im Grunde für den reinen Menschen steht, der hinter dieser Maske eigentlich gemeint ist und mit dem Tier als einem Zeichen kaschiert wird. Das Als-etwas-Sein des anthropomorphisierten Tieres ist dabei in jedem Fall eingebunden in das komplexe System menschlicher Konventionen, Kodes, Rollen und Rituale. Als besonders herausfordernde Schwierigkeit stellt sich hierbei die Beschreibung des Verhältnisses dieser verschiedenen Elemente zueinander dar, die zum zentralen Problem einer zu entwickelnden Phänomenologie der Anthropomorphisierungen avanciert. 2. Phänomenologie der literarischen Anthropomorphisierung bei Alfred Brehm 2.1 Typisierungen und Klassifikationen Trotz der bis in die Antike zurückreichenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Anthropomorphisierung sind bis heute Versuche philologischer Beschreibung und Erklärung eher spärlich ausgefallen. 18 So gut wie unbetretenes Neuland ist insbesondere die literarische Tier-Vermenschlichung aus literaturwissenschaftlicher Sicht. In der germanistischen Philologie ist bislang noch nicht einmal der Begriff des Anthropomorphismus oder der Anthropomorphisierung durchgehend etabliert. 19 Elaborierte Definitionen zur Anthropomorphisierung und einige nützliche Analysen findet man für die populären literarischen Tierdarstellungen inzwischen vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendliteraturforschung (cf. Metzker 1955 [mit Einschränkungen], Morgenstern 1984, Grieser 1991 [mit Schwerpunkt auf das Tierbuch für Kinder und Jugendliche], Nassen 1993, Haas 1996 [grundlegend, aber auf die Gattung Tierbuch bezogen] u.a.). 20 Eine als verbindlich anzunehmende Definition fehlt jedoch noch immer. Nützlich sind überdies einige wenige sprachwissenschaftliche Untersuchungen, die es seit längerem zu diesem Phänomen gibt. (cf. Krüger 1978 u.a.) Klaus Stetter unterscheidet in einer grundlegenden Untersuchung zu Hermann Löns zwei Stufen der Anthropomorphisierung: 1. die dem tierischen Verhalten noch verpflichtete, aber in der Darstellung stark vermenschlichte Prägung der Tiergeschichte, 2. die dem tierischen Verhalten und Wesen unangemessene Vermenschlichung. (Stetter 1969: 369) Als Mittel der Komik bei Löns, auf die Stetter den Hauptakzent seiner Klassifizierung lenkt und die aus jeder der beiden Darstellungsstufen entspringen, sind seiner Meinung nach zu nennen: 1. Namensgebung, 2. Individualisierung, 3. moralisch-sittliche Bewertung, 4. menschliche Charakterisierung, 5. Übertragung menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens auf das Das Leben der Vögel (1861) 351 Tier, 6. Sprache, 7. Reduzierung des tierischen Verhaltens auf familiäre Verhältnisse. (Stetter 1969: 369) Diese Stufen enthalten bereits einige wesentliche Aspekte der Anthropomorphisierungen. Die Kategorie der Angemessenheit halte ich für problematisch und für wenig sachdienlich, da mit ihr eine Phänomenologie der vielfältigen Anthropomorphisierungen innerhalb der Popularkultur kaum ermöglicht werden kann, weil eine solche rein bewertende Beschreibung graduelle Unterschiede und Mischformen nur unspezifisch erfasst. Denn Sonderformen der Anthropomorphisierung wie die Lykanthropie (Werwölfe) und die menschliche wie animalische Sphäre vermischende Gestaltung anderer Tiermenschen (bspw. Nixen oder Kentauren) lassen sich damit nicht beschreiben. (cf. Völker 1994: 409-443) 21 Anders als Stetter differenziert Meyer hingegen zwischen der „Dominanz der anthropomorphisierenden Darstellung gegenüber der naturwissenschaftlich orientierten“ (Meyer 2000: 485). Hiergegen lässt sich einwenden, dass auch naturwissenschaftlich orientierte Tierbücher einen anthropomorphisierten Charakter haben können. Alfred Brehm mit seiner literarisierten Beschreibungsweise von naturwissenschaftlichen Sachverhalten und Prozessen ist dafür ein Paradebeispiel, wie die folgende Analyse noch zeigen wird. Rolf Morgenstern klassifiziert ganz anders mit starker Betonung auf die narrative Gattungstektonik kinder- und jugendliterarischer Tierbücher zwischen einer „Teilanthropomorphisierung der belebten Welt mit einer gefühls- und erlebnisreichen Darstellung“ zum einen, der „Anthropomorphisierung der belebten Welt mit didaktischer Intention“ zum anderen und einer bloßen „Anthropomorphisierung der belebten Welt - bei banalem Übertragen menschlicher Verhaltensweisen auf Tiere und Pflanzen“ zum dritten. (Morgenstern 1984: 45f.) Am stärksten differenziert Gerhard Haas seine Typologie anthropomorpher Tierbücher. Seine Unterscheidungskriterien, die er eigentlich auf Kinder- und Jugendliteratur bezieht, betreffen insbesondere auch sog. nicht intentionale Tierdichtungen, die nicht eigens für Kinder und Jugendliche geschrieben worden sind, sodass die Haassche Typologie auch für Tierdarstellungen der Erwachsenenliteratur Gebrauchswert finden kann: Es gibt in der Kinder- und Jugendliteratur erzählerische Texte a) in denen ausschließlich Tiere auftreten (Typus ‚Konferenz der Tiere‘), b) in denen Tiere zusammen mit Menschen auftreten (Typus ‚Paddington der kleine Bär‘ und Typus ‚Dschungelbuch‘), c) in denen Menschen in einem intensiven Kontakt mit Tieren stehen (Typus ‚Krambambuli‘ und Typus ‚Pferdebuch‘), d) in denen Tiere neutral und allein unter sachlichen Gesichtspunkten beschrieben werden (= Sachtexte). (Haas 1996: 8) 22 Alle diese Typologien und Klassifikationen, so brauchbar sie auch für die konkrete Analyse und Interpretation sind und so viele richtige und wichtige Aspekte sie benennen, können doch den Zeichenprozess, das Für-etwas-Sein des Tieres noch nicht hinreichend bestimmen. Denn so eindeutig sind die einzelnen Bereiche in praxi nicht zuzuordnen: „Es handelt sich selbstverständlich zumeist um Mischformen“. (Nassen 1993: 95) Die Kriterien (z. B. Distanz und Nähe oder intensiver Kontakt mit Tieren) lassen außerdem noch nicht erkennen, für welchen Bereich das Zeichenhafte der Tierdarstellung, wofür mithin der anthropomorphe Gehalt steht. Unklar bleibt auch, wie das Anthropomorphe in seiner Spezifik sich konkret gestaltet, ausdrückt und künstlerisch materialisiert. Da die verwirrende Mannigfaltigkeit der einzelnen literarischen Tierdarstellungen summa summarum uferlos erscheinen muss, bestünde das Gelingen einer Phänomenologie mit zeichentheoretischem Hintergrund aus meiner Sicht deshalb darin, aus dem uferlosen Bereich ein klar konturiertes Eiland herauszuarbeiten oder anders gesagt: das Buch mit sieben Siegeln auf 352 Sebastian Schmideler sieben zu entschlüsselnde Siegel zu beschränken, die den größtmöglichen Bereich des Phänomens als Zeichenprozess erfassen und umfassen können, ohne den Charakter der Mischformen durch allzu-eindeutige Zuordnungen zu missachten. Dies bedeutet, das entstandene und fertige Abbild der Tierdarstellung als sprachliches Konstrukt in seine Teilbereiche zu zerlegen, aber möglichst so, dass eine überschaubare Anzahl von Teilklassen dabei entstehen kann. Speziell für die Mischform von Alfred Brehms Das Leben der Vögel ist der folgende Kriterienkatalog entwickelt, der die Gestalt des anthropomorphisierten Zeichens bei Brehm nicht durch Zuordnung, sondern durch Zerlegung der Struktur des Anthropomorphen in seine wesentlichen elementaren Bestandteile beschreiben soll. Ich zerlege die komplexe Gesamtbedeutung und Zeichenstruktur des Für-etwas-Seins des Vogels in dieser Tierdarstellung in die in meinen Augen am deutlichsten erkennbaren Hauptelemente und zwar nur insofern sie sich auf genuin Anthropomorphes in der Zeichengestalt beziehen, ohne dabei die ebenso wichtigen Semioseprozesse bei der Rezeption zu berücksichtigen. Es geht mir nur um die im Text angelegte inhaltliche und zeichenhafte Struktur der Anthropomorphisierung. Diese elementaren Bestandteile bezeichne ich jeweils als spezifische Gestaltungsweise des Anthropomorphen, das im Insgesamt dieser Teilaspekte das genuin Anthropomorphe in Brehms Leben der Vögel ergibt. Ich beschränke mich dabei auf folgende fünf Hauptgestaltungselemente des Anthropomorphen bei Brehm, die sich aus meiner Analyse ergeben: die biomorphe und zoomorphe Gestaltungsweise zum ersten, die poetomorphe Gestaltungsweise zum anderen, die mythomorphe Gestaltungsweise zum dritten, die scientiamorphe (wissenschaftssprachliche) Gestaltungsweise zum vierten und schließlich die soziomorphe Gestaltungsweise zum fünften, auf die der Hauptakzent der Brehmschen Form der Anthropomorphisierung liegt. 2.2 Kulturhistorische Schnittstellen: Alfred Brehm als Promotor der Popularisierung anthropomorpher Tierdarstellungen Das ausgeprägt Individuelle und Charakteristische des Anthropomorphen bei Brehm besteht in einem besonderen, kulturell und zeithistorisch geprägten Arrangement, das zwar Brehms eigene schöpferische Leistung war, aber zu gleichem Teil auch Ergebnis einer epochenspezifischen Sicht auf das Animalische und einer spezifischen Einstellung gegenüber Tieren gewesen ist. Um zu verstehen, wie Alfred Brehms wissenschaftlich-literarisch-populare Tierschilderungen sich mit jenem sagenhaften Erfolg und einer nicht wieder erreichten und so lang anhaltenden Breitenwirkung herausbilden konnten, dass der Name Brehm bis heute fest im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verankert ist, und um zu ergründen, worin gewissermaßen das besondere Geheimnis von Brehms Tiergestaltung liegt, bedarf es einiger kulturhistorischer Hintergrundinformationen, die Teil der Spezifik des Anthropomorphen bei Brehm sind. Denn der immer wieder in den einschlägigen Studien deutlich hervorgehobene Befund, Alfred Brehms literarische Tierporträts würden mehr und in stärkerem Maße anthropomorphisieren, als es die Tierliteratur bis dahin gekannt hatte, ist zwar mittlerweile zu einer opinio communis avanciert, erklärt jedoch noch nicht hinreichend, welche historischen Konstellationen und zeitgenössischen Kodes und kultursemiotischen Elemente überhaupt erst zusammenwirken mussten, um diese erfolgreiche Mischform der Anthropomorphisierung ermöglichen zu können, die Brehm mit der Erfindung des Illustri[e]rten Thierleben[s] (1863-1869) geschaffen hat. Immerhin stellt Kehne 1992 mit Blick auf die langen Linien der europäischen Tierdichtung in einer nicht Brehm sondern Reineke Fuchs gewidmeten Analyse fest: Das Leben der Vögel (1861) 353 Brehms ausführliche, stark anthropomorphisierende Tierbeschreibungen zeigen ein neues Verhältnis von Mensch und Tier. Während in der Vergangenheit Tiere hauptsächlich als Zeichenträger für Gutes und Böses, als Heilmittel-Reservoir oder als in ihrem Verhalten exemplarisch für die Menschen dargestellt wurden, werden sie bei Brehm in noch stärkerem Maße mit menschlichen Attributen versehen. (Kehne 1992: 62) Als der junge, durch eine fünfjährige Afrikaexpedition weltgewandt gewordene und mit Scharfsinn, Fabulierlust und Abenteuermut reichlich ausgestattete, dem erlernten Maurerhandwerk entflohene, statt dessen promovierte Zoologe Alfred Brehm nach einem Studium in Jena und einer ersten, 1856 unternommenen Spanienreise in der Buch-, Messe-und Handelsstadt Leipzig eintraf, um dort - notgedrungen - am Privat-Gymnasium seines Onkels, des Pädagogen, Theologen und Dichters Moritz Zille (1814-1872) und an einer Schule für höhere Töchter Naturkunde und Geographie zu unterrichten (Genschorek 1984: 111), verknüpfte er mit der pragmatischen und zielgerichteten Wahl dieses Wohn- und Lebensortes ein ausgeklügeltes Kalkül. Als Sohn des weit über Deutschland hinaus renommierten Vogelpastors Christian Ludwig Brehm (1787-1864) aus dem thüringischen Renthendorf bei Gera - neben Johann Friedrich Naumann (1780-1857) der bedeutendste Gründungsvater der wissenschaftlichen Ornithologie in Deutschland - mit den besten Referenzen und Fachkenntnissen versehen, von seiner Mutter Bertha (1808-1877) mit gutbürgerlicher literarischer Bildung des 19. Jahrhunderts ebenso üppig ausgerüstet, strebte der zum hommes de lettres von Natur aus Begabte zur Verbindung von Wissenschaft und Literatur in neuartiger, populärer Form. Nach dem Erfolg seines ersten Buches, der zweibändigen Reise-Skizzen aus Nord-Ost-Afrika, erschienen 1854 und 1855, einem lebensvollen, feinsinnig und genau beobachteten Bericht über seine Afrikaexpedition, der schon den eleganten und versierten Stilisten erkennen ließ, und nachdem schon eine ganze Reihe ornithologischer Aufsätze von ihm publiziert worden war, machte der sehr selbstbewusste junge Naturwissenschaftler sich nichts weniger zur Pflicht und Aufgabe, als sich als freier Schriftsteller einen Namen zu machen. Das gehörte zum Programm. Schon 1849 hatten Vater und Sohn sich zur Maxime gesetzt: „Der Name Brehm soll mit Gottes Hülfe recht berühmt werden ...“ (Schneider 1988b: 52) So war Leipzig „ein Boden für eine Pflanze wie Alfred“ (Schneider 1988a: 29), weil die Stadt alles das bot, was Brehm benötigte, um sein Ziel zu erreichen, als populärer Tierschriftsteller berühmt und anerkannt zu werden: Leipzig war das pulsierende Zentrum des deutschen Buchhandels, sowohl ein Mekka der Verleger als auch der Distribution. Hier lebte Brehms Vorbild, der von ihm verehrte Tierschriftsteller, engagierte liberaldemokratische Zoologieprofessor und Politiker Emil Adolf Roßmäßler (1806-1867), 23 der sein Förderer, Berater, schließlich Kompagnon in dem gemeinsamen Buchprojekt von 1867 Die Thiere des Waldes wurde. Und hier in Leipzig fand Brehm das ihm unerlässliche liberale und neu erwachte demokratische Klima, hier gab es die bürgerlichen Bildungsvereine, die sich der von ihm forcierten Breitenbildung widmeten und - lust but not least - hier befand sich mit der Naturforschenden Gesellschaft auch ein geistig anregendes und respektables wissenschaftliches Diskussionsforum, das Brehm mit der Evolutionstheorie Charles Darwins (1809-1882) bekannt machte - ein für Brehms Weltbild entscheidendes Bildungserlebnis. 24 Brehm hatte Glück: Seine Rechnung ging ohne Bruch auf. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ernst Keil 25 , der kluge Begründer und Leiter der damals ungeheuer verbreiteten und beliebten ‚Gartenlaube‘, begrüßte den jungen Afrika-Forscher und federgewandten Zoologen mit offenen Armen als Mitarbeiter, druckte Aufsatz um Aufsatz von ihm und sorgte so ebenso 354 Sebastian Schmideler für seine Zeitschrift wie für das Bekanntwerden Alfred Brehms. Freilich, was dieser Autor erzählte, stach von dem übrigen Text des Blattes nach Form und Inhalt so auffällig ab, daß selbst der philisterhafteste Leser sofort nach seiner Brille griff, wenn etwas von Brehm im Hefte stand. (Neumann 1929: 57) Dass es Brehm mit der Popularisierung der Tierschriftstellerei sehr ernst war und der Anspruch für Haus und Familie zu schreiben, kein peripherer Wesenszug gewesen ist, beweist eindrücklich ein Briefwechsel zwischen ihm und dem Ornithologen Carl August Bolle (1821- 1909), gewissermaßen einem „Bruder im Geist“, was die Haltung zur populären Darstellung betraf. Über eine geplante, aber schließlich nicht zustande gekommene populärwissenschaftliche zoologische Zeitschrift schreibt Brehm aus Leipzig am 6. Januar 1861 programmatisch: Die Zeitschrift darf nur volksthümlich gehaltene Aufsätze enthalten: alle aber müssen auf der strengsten Wissenschaftlichkeit gegründet sein. Eine geschmackvolle Schreibweise und etwas Mitgliedschaft am potsdamer Verein für deutsche Sprache sind erforderlich. 26 (Schneider 1988b: 67) Und weiter: Es ist - da wir volksthümlich sein wollen - gar nicht nöthig, nur Originalbeiträge zu bringen; sobald der betreffende Mitarbeiter geschmackvoll zu schreiben und hübsch zu sichten versteht, ist er willkommen. (Schneider 1988b: 68) Das Erfolgsrezept des Illustri[e]rten Thierleben[s] war damit schon ausgesprochen. Die semantische Verbindungslinie von Wissenschaft und Literatur über Popularisierung wurde das Geheimnis der anthropomorphen Mischung bei Brehm. Das Leben der Vögel ist unverwechselbar in diesem geistigen Klima entstanden. Der Plan eines populären Vogelbuches geht bis weit vor die Spanienreise 1856 zurück. Der Sohn des Vogelpastors war durch seine ornithologischen Sachkenntnisse, die er durch den in Systematik, Klassifikation und Vogel- Morphologie Maßstäbe setzenden Vater erlernt hatte, ebenso gut auf diese Arbeit vorbereitet wie durch das im 19. Jahrhundert zweifelsohne besondere Privileg, dass er nicht nur die europäischen Vogelarten, sondern auch die afrikanischen aus eigener Beobachtung und Präparation genau kannte. Eine von Ernst Keil finanzierte Reise nach Nordeuropa (Genschorek 1984: 220) ergänzte diese Kenntnisse um einen weiteren Landesteil. Dieses handwerkliche Können Brehms und sein Wissen koppelte sich nun mit der literarischen Ambition, die sich schon in der gesamten Anlage des Vogelwerkes zeigte. Im ersten Teil des Buches schildert Brehm in fünf ausführlichen Abschnitten die Lebensweise der Vögel, untergliedert in Das leibliche Leben, Das geistige Leben, Heimath und Beruf, Häusliches und geselliges Leben, gefolgt vom fünften Abschnitt Der Mensch und die Vögel. Daran schließen sich fünfzig kleine Charakterstudien an, Lebensbilder genannt, literarisch genrehafte Vogelporträts - eine Galerie, gewissermaßen en miniature in sprachliche Goldrähmchen gefasst. Erste Lieferungen des Werkes erschienen nach seperaten Vorabdrucken in der Zeitschrift Aus der Heimath bereits 1859 im Verlag von Meidinger Sohn & Comp. in Frankfurt am Main. (cf. Schneider 1989: 81 Anm. 15) Durch die Vermittlung Roßmäßlers, der auf der Leipziger Buchmesse den Glogauer Verleger Carl Flemming (1806-1878) kennengelernt hatte, wurde das Werk in dessen Verlag aufgenommen, da Roßmäßlers populäre Zeitschrift Aus der Heimath bereits dort erschien, auch Brehm hatte für das beliebte Blatt publiziert. Brehm bezeichnete sein erstes zoologisches Hauptwerk als sein literarisches Lieblingswerk. (Schneider 1988b: 58 und Schneider 1988a: 38 Anm. 22) „Dargestellt für Haus und Familie“ erschien es 1861 in einer buchkünstlerisch aufwändig gestalteten Prachtausgabe, mit einer goldverzierten, ornamentreichen allegorisch-emblematischen Einbandprägung in dunkel- Das Leben der Vögel (1861) 355 grünem Leinen (Abb. 1) 27 und mit 24 unter Brehms fachkundiger und kritischer Leitung angefertigten farbig unterlegten Holzschnitten (Abb. 2) sowie drei Farbtafeln mit Eierdarstellungen. Bereits 1867 wurde trotz des hohen Preises von 12 Mark für die einfachere Ausstattung und 16 Mark für die elegant gebundene Ausgabe mit Goldschnitt eine zweite Auflage notwendig. 28 Die für ihre aufwändigen Abbildungen, später kolorierten Illustrationen berühmten Bände machten auch in dieser Hinsicht kulturhistorisch Furore. (cf. Genschorek 1984: 211ff.) Insbesondere durch Entwürfe von der Hand von Brehms Reisekameraden der Afrika- Expedition, dem Leipziger Tierzeichner Robert Kretzschmer (1818-1872) hatte Brehm mit seinem Buch Das Leben der Vögel die Idee für sein berühmtes Illustriertes Thierleben präfiguriert. Jene berühmten Bände, die Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) mit einem Auszug aus der Beschreibung des Sperlings in seinem Deutschen Lesebuch (1929) zu der vielsagenden Charakterisierung Brehms animierten: A.E. Brehm, Naturforscher (1829-1884), der Sohn des unvergleichlichen Ornithologen Christian Ludwig Brehm und wie dieser ein so treuer als ausgezeichneter Schilderer des Tierlebens, insbesondere der Vögel und ihrer Lebensweise. Hauptwerk das illustrierte ‚Tierleben‘ 1876-1879 29 , ein Buch, das ins Volk gewirkt hat wie wenige und in einer der Natur sich entfremdenden Epoche den Sinn und die Sehnsucht nach den Naturwesen lebendig erhalten hat. (Hofmannsthal 1984 [1929]: 501) 30 2.3 Phänomenologie des Anthropomorphen in Alfred Brehms Das Leben der Vögel 2.3.1 Die biomorphe und zoomorphe Gestaltungsweise Die erste, dem Wesen des Tieres am nächsten liegende Kategorie des Anthropomrophen bei Brehm betrifft Elemente der Tierdarstellung, die das Tier in seiner Gestalt und Eigenschaft als Tier beschreiben und die mit den menschlichen Mitteln der Wahrnehmung eine Versprachlichung der äußeren formalen Tiererscheinung und ihrer typischen Eigenschaften und Verhaltensweisen betreffen. Blickperspektive ist die selbstvergessene Beobachtung des Tieres durch den Menschen, ein sprachlich anschauliches, aber gewissermaßen „neutrales“ bzw. um Neutralität bemühtes und distanziertes bloßes Feststellen des Tierverhaltens und dessen spezifischer Züge. Es sind hier allgemeine Beobachtungen des Tierverhaltens und der äußeren morphologischen Erscheinung gemeint, die nicht in den Kontext der genuin wissenschaftlichen Beschreibung und Klassifikation des Tieres gehören, als deren typische Merkmale z.B. die Fachsprachlichkeit zu nennen wäre oder ein wertender Vergleich auf der Grundlage eines auf einen wissenschaftlichen Sachverhalt bezogenen Kriteriums. Wichtig an diesem biomorphen Element ist das bloße Wahrnehmen des Tieres, ohne es mit bewusster Strategie in das Verhältnis zum Menschen zu setzen. Es handelt sich um eine Kategorie der Beobachtung, nicht um eine der bewertenden Beschreibung, obgleich innerhalb des Elements gleichwohl Wertungen auftreten müssen um das Gemeinte verständlich ausdrücken zu können. Denn anthropomorph ist diese Kategorie insofern, als sie stets des Analogons der Wahrnehmung des Menschen und der Grenzen und Möglichkeiten der prinzipiellen menschlichen Beobachtungsfähigkeit bedarf, aus der heraus die Beschreibung geschieht. Nur insofern ist die bio- und zoomorphe Gestaltungsweise konnotiert. Ein für Brehm typisches Beispiel für dieses Element findet sich in einer Passage über den Flug der Geier: 356 Sebastian Schmideler Abb. 1: Das Leben der Vögel. Die von Robert Kretzschmer für diese Prachtausgabe entworfene allegorischemblematische Einbandprägung stellt eine bemerkenswerte Leistung der Einbandkunst des 19. Jahrhunderts dar. (Quelle: Brehm 1861, Privatbesitz d. Verf.) Das Leben der Vögel (1861) 357 Abb. 2: Wintergäste im Dorfe heißt der Titel dieses Holzschnitts, entworfen von Robert Kretzschmer, geschnitten von Richard Illner. Das Bild zeigt programmatisch, wie stark in Brehms Auffassung Vogelwelt und Menschenwelt ineinander greifen. (Quelle: Brehm 1861: zw. 368f., Privatbesitz d. Verf.) 358 Sebastian Schmideler Der Flug der Geier ist eher ein Schweben zu nennen, als ein Fliegen. Beim Erheben von der Erde nehmen sie einen Anlauf in Sprüngen; sind sie aber einmal in hinreichender Höhe angelangt, dann sieht man oft mehrere Minuten lang keinen einzigen Flügelschlag. Dennoch bewegen sie sich rasch und ohne jede bemerkliche Anstrengung. Ihre ausgezeichneten Flugwerkzeuge setzen sie in den Stand, in wenig Stunden bedeutende Strecken zurückzulegen; ihr scharfes Auge läßt sie aus der größten Flughöhe das von ihnen durchkreiste Gebiet absuchen. (Brehm 1861: 437) Anthropomorph ist an dieser Passage, dass Brehm, indem er sagt, der Geier fliege ohne jede bemerkliche Anstrengung, eine durch die menschliche Wahrnehmung gespiegelte Aussage trifft, die durch das Adjektivattribut bemerklich deutlich als vom Menschen ausgehend betont wird. Wertend ist auch der technische Begriff Flugwerkzeuge und deren Attribuierung als ausgezeichnet - beides soll auf die gute Anpassung des Vogels an seine natürliche Umgebung hindeuten. Die charakteristische Benennung des Flugs der Geier als Schweben zeigt Brehms stilistische Genauigkeit und seine Sicherheit beim Benennen von Sachverhalten im Prozess der sprachlichen Wiedergabe von Naturbeobachtungen. Auffällig sind die Gleichmäßigkeit und das Ebenmaß, mit denen Brehm Tierbewegungen völlig unaufgeregt beschreibt. Die Schilderungen wirken athmosphärisch, dicht und eindrücklich. Ihre geschickte Dramaturgie, ihre syntaktische und semantische Eleganz, der Sinn für Dynamik und Satzrhythmus reichen bis hin zur Interpunktion. Brehm achtet auf alliterativen Sprachklang und komponiert gute Stellen so treffend, dass diese Passagen manchmal sogar wie ein Widerschein von Seele wirken können: In den Morgenstunden sieht man den Bartgeier, wie den Geier, selten oder gar nicht, er scheint bis geraume Zeit nach Sonnenaufgang auf seinem Schlafplatze zu verweilen. Etwa zwei Stunden nach Tagesanbruch beginnt er das Durchstreifen seines Gebiets. Beide Gatten des Paares fliegen in nicht allzugroßer Entfernung von oder dicht neben einander längs und über den hauptsächlichen Zügen des Gebirges dahin, gewöhnlich in einer Höhe von nicht mehr, als etwa 150 Fuß. Wird der Hauptzug des Gebirges durch Querthäler unterbrochen, dann werden diese überflogen, selten aber mit durchsucht. Bei diesem Streichen fliegen die Bartgeier äußerst schnell, und zwar ohne Flügelschlag; sie lassen dabei aber ihren Blick nach allen Seiten schweifen; denn sowie Einer etwas bemerkt, beginnt er sofort seine Schraubenlinien über dem Gegenstand zu drehen, der andere vereinigt sich mit ihm, und beide verweilen nun oft lange, beständig kreisend über einer Stelle, ehe sie ihre Wanderung fortsetzen. (Brehm 1861: 440f.) Hier zeigt sich Brehms Fähigkeit zur Naturschilderung durch ein Zurücknehmen des betont vermenschlichenden Anteils. Wie einatmendes Aufnehmen der kreatürlichen Bewegung durch die Sinne wirkt Brehms reflektiertes Empfinden der Tierbewegung. Durch genaue Beobachtung entsteht ein um Exaktheit und Natürlichkeit bemühtes Erkennen und Aussprechen des Empfundenen. Vermittelst eines sprachlich adäquat ausgewählten Zeichens wird das Empfundene und Erkannte so exakt wie möglich repräsentiert. Dabei versucht Brehm, die emotionale und die rationale Seite der Wirkung gleichwertig zu berücksichtigen. Das Besondere an diesen Passagen ist, dass sie einen Eindruck des unmittelbaren Nachempfundenhabens beim Rezipienten hinterlassen können. Denn in ihren gelungensten Teilen suggeriert die Schilderung ein Vergessen der Verstehensdistanz zwischen Mensch und Tier. In diesem Sinne wird hier die Als-ob-Gestalt der Tierdarstellung anthropomorphisiert. Diese Passagen wirken deshalb durch das scheinbare Vergessenlassen nolens volens verstärkt selbstreferentiell. Sie scheinen ein Für-sich-Sein des Tieres auszudrücken. 31 Das Leben der Vögel (1861) 359 2.3.2 Die poetomorphe Gestaltungsweise In dieser Kategorie rückt die Reflexion über den Formaspekt der Tierdarstellung verstärkt in den Vordergrund. Denn Anthropomorphisierung kann bis hin zur Gestaltung als reine Selbstreferentialität artikuliert werden, wie die onomatopoetischen Einlagen beweisen. Dabei werden Tierstimmen phonologisch imitiert und vermittelst des Alphabets transkribiert. Es geht jedoch in dieser Kategorie zunächst grundsätzlich um die poetische und ästhetische Gestaltetheit der Brehmschen Vogelporträts und die genuin poetischen Elemente des ersten Teils von Brehms Vogelwerk. Denn die Kategorie berücksichtigt denjenigen Teil der Ästhetisierung der literarischen Tierdarstellung, der vorrangig die literarische Form kennzeichnet. Es geht um die sprachliche Repräsentation dieser Form im Hinblick auf das Anthropomorphe. Damit soll aber auch das formale Arrangement in seiner Gesamtheit gemeint sein. Ebenso soll diese Kategorie die Spezifik der literarisch-narrativen Tektonik der Tierdarstellung erfassen. Brehms literarisches Lieblingswerk Das Leben der Vögel lässt sich mit guten Gründen als ein intendiert ästhetisches Gesamtkunstwerk bezeichnen, in das die Anthropomorphisierungen geschickt distribuiert und poetisch eingebettet werden. Nichts wird dabei dem Zufall überlassen. Bereits die äußere Ausstattung des Buches, der Anspruch, es „dargestellt für Haus und Familie“ als ein Hausbuch für Jedermann, für ein Publikum jeden Alters zu bestimmen, sprechen dafür, dass das anthropomorphisierende Element in einem formschön gestalteten Rahmen und als eine arrangierte Ganzheit gedeutet und rezipiert werden soll. Doch das Formschöne soll sich bei Brehm ausdrücklich mit dem Popularen verbinden: „Mein Buch soll ein Unterhaltungsbuch sein, wie unsre Zeit es verlangt“, sagt Brehm dazu selbst. (Brehm 1861: V) Schon hingewiesen wurde auf die elementare Bedeutung, welche die Illustrationen und sogar der beim Betrachten des Buches zuerst auffallende, prachtvoll gestaltete allegorisch-emblematische Bucheinband für Brehms Werk einnehmen (cf. Abb. 1 und 2). Diesem Element des ästhetischen Arrangierens seiner Tierdarstellungen mit Präferenz des Poesievollen räumt Brehm darum im Vorwort seines Vogelwerkes auch genügend Raum ein. Brehm spricht aus, wie er das Anthropomorphe als das Illustrative, das Literarische, das Poetische und das Buchkünstlerische mit großer Umsicht präzise berechnet und bis ins Detail hinein gewissenhaft geplant und inszeniert hat: Bädecker’s und Georgy’s [zwei bekannte Genremaler des Tierfaches im 19. Jahrhundert, Seb.Schm.] Meisterhand haben aus reiner Freundschaft für mich mitgewirkt; Robert Kretschmer [! ] ist auf alle meine Vorschläge bereitwillig eingegangen und hat mir vortreff- liche und richtige Zeichnungen geliefert, welche Illner 32 mit ebensoviel Lust und Liebe als Geschick geschnitten hat; Frauenhände haben mir geholfen, die Blüthen aus unserem Dichtergarten auszuwählen, welche ich über das Ganze gestreut habe: und als das Gefundene noch nicht ausreichen oder passen wollte, haben sich meine lieben Freunde Welcker 33 und Sturm 34 dieses Buches wegen sogar an ihre heitre Muse gewendet und deren Hilfe mir erbeten. Dem handlichen Gebrauche des Werkes wird das beigegebene alphabetische Verzeichnis gewiß einige Erleichterung gewähren; dasselbe danke ich meinem Freunde Albrecht, welcher auch für möglichste Reinheit des Druckes vom zweiten Bogen an Sorge getragen hat. (Brehm 1861: VIIf.) Ästhetisierung als Sinn für das Formschöne, für das formal Richtige (Reinheit des Druckes) und für das bildungsbürgerlich Angemessene vom Holzschnitt bis zur Fahnenkorrektur im Dienst der Brehmschen Tierdarstellung! Sogar das drucktechnische Erscheinungsbild ist Programm: Der erste Teil des Buches ist in großzügigem Zeilenabstand und mit verschwenderisch 360 Sebastian Schmideler mehraufwändiger Formatierung gedruckt, die Tierporträts hingegen deutlich davon abgehoben und enger, dichter gesetzt; beide Teile werden damit auch optisch ersichtlich von einander getrennt. Doch poetomorphe Gestaltungsweise bedeutete für Brehm mehr als dies. Denn besonderes Gewicht wurde auf den eingearbeiteten, eindrucksvollen lyrischen Vogel-Zitatenschatz gelegt, der in seiner Fülle als Kanon des bildungsbürgerlichen Blicks auf die Poesie über Vögel bis heute unübertroffen bleibt und für sich gesehen für eine Brehmsche Philosophie des Poetischen steht. Zu Beginn eines jeden einzelnen Unterkapitels des ersten Teils und je zu Anfang der fünfzig Vogelminiaturen hat Brehm eine intertextuell aufwändig eingeflochtene lyrische Einlage arrangiert, die das ganze Buch wie eine poetische Ranke durchzieht. Über hundert einzelne Gedichte, Strophen oder Sentenzen, jedes und jede individuell zugeschnitten auf eine Vogelart wird einem der zahlreichen Seitenaspekte des Vogellebens an die Seite gestellt. Doch damit nicht genug. Auch innerhalb der Lebensbilder genannten literarischen Tierporträts spart Brehm nicht mit Zitaten aus den abgelegensten Anthologien und Lyrikbändchen, sucht er nach typischen Sprichwörtern, Volksweisheiten, Volksliedern, Kinderreimen und spürt mit dem Kennerblick und der Akribie des ewig geduldigen Besessenen noch das letzte und unbekannteste Zitat aus der Schatztruhe der aus seiner Sicht Berufenen der Weltliteratur auf, das seine erklärten Lieblinge nur irgend vorteilhaft oder charakteristisch im Licht der Poesie erscheinen lässt. (cf. Brehm 1861: 481-487, das Porträt der Schwalbe) Das alles zu einer Zeit als an Suchmaschinen noch lange nicht zu denken war und Wissen immer auch Kennen bedeutete. Nicht selten kommentiert Brehm diese Tier-Lyrik aus der Sicht des Naturforschers, schaltet sie so als bedeutsam für die Gesamtrezeption ein, erhöht damit ihren Rezeptionswert. Er bestätigt die Richtigkeit der Beobachtung oder verweist auf große Namen. „Schon Anakreon besingt ihr Kommen und Gehen“, heißt es zur Schwalbe. „Die neueren Dichter preisen sie nicht minder und betrachten, wie die Alten, sie als einen Vogel des Segens“, kommentiert Brehm nur wenige Zeilen weiter. „Doch welchem von uns wäre das Gedicht nicht bekannt? “, so prüft er den bürgerlichen Bildungskanon seiner Leser, geht mit seiner Bildung hausieren und schwärmt erneut, nur eine nachfolgende Seite weiter: „Unser Rückert 35 hat ihn [den Gesang der Schwalbe] in dem schon angeführten Gedichte nicht minder treu wiedergegeben.“ - Kein Zweifel: Diese lyrischen Formzitate sind für Brehm keine nur peripher bedeutsamen Ingredientien, sondern elementarer Bestandteil seiner Art, Tiere zu anthropomorphisieren. Sie zeigen zunächst ganz formal einen nicht unerheblichen Sachverhalt an: Damit ein Buch (und nicht nur ein Tierbuch) im 19. Jahrhundert Hausbuch und Familienbuch werden konnte, gehörte diese schöngeistig-mütterliche Seite Brehms, die er mit großem Genuss überall anbringt, zu den Hauptbestandteilen des Anthropomorphen. Auch Brehms ziselierte, überwiegend rhythmische, äußerst geschliffene und hypotaktisch ausgefeilte Prosa ist stilistisch elaboriert. Mit großem Aufwand ist Brehm um Klarheit, semantische Eindeutigkeit der Begriffe und Anschaulichkeit bemüht. Dabei wirkt die Bedeutung seiner Worte immer auch aufgeladen mit Ergriffenheit und Begeisterung. Durch das gekonnte Gleich- und Ebenmaß seiner sich im Ton immer selbst treu bleibenden, den Anspruch haltenden Schilderungen lässt dieser Individualstil ein erstaunliches Quantum an poetisch-ästhetischer Gestaltetheit erkennen. Doch vor allem zeigt Brehm in seinem Buch eine Haltung zur Poesie, die wesentlich für seine gesamte Naturauffassung ist. Das Überschwängliche bis Pathetische des Poetisierens von Vögeln findet dabei seinen stärksten Ausdruck im Kapitel Der Vogelgesang und das Menschenherz. (cf. Brehm 1861: 357-368) Hier gibt Brehm den Schlüssel für sein Verständnis des Poetischen als sprachliche Wort- und Tondichtung im Das Leben der Vögel (1861) 361 Schlüssel für sein Verständnis des Poetischen als sprachliche Wort- und Tondichtung im Kontext des Anthropomorphen. Brehm geht darin implizit von einer pan-poetischen Ganzheitlichkeit der poetischen Ausdrucksform in der gesamten Natur aus und beschreibt das Poetische als das Naturschöne schlechthin. Denn unter ganzheitlich ist dabei zu verstehen, dass die Poesie eine allgegenwärtige Ausdrucksform der Natur ist, die als ein omnipräsentes Prinzip wirkt und die gesamte belebte Welt erfasst. So korrespondiert das Poetische als Prinzip des Kunstschönen beim Menschen mit dem Poetischen als Prinzip der Sangeskunst bei den Vögeln auf frappierend eindrücklich geschilderte Weise: So reich und begünstigt der Vogel durch seine ihm verliehenen mannigfachen Gaben auch ist, keine derselben erwirbt ihm in gleicher Weise des Menschen Liebe und Freundschaft, des Menschen ganzes, volles Herz, wie sein Gesang. Auch hier ist es wieder Dichtung, welche dieser Freundschaft Träger wird; denn der Gesang ist ja eben nur eine Dichtung in Worten und Tönen zugleich: - Sänger und Dichter sind unserer Sprache fast gleichbedeutend. Der singende Vogel tritt gleichsam selbst als Dichter auf; und wenn wir auch die Worte seiner Liebe nicht verstehen, wir ahnen sie wenigstens! Der Vogelgesang steht höher, als andere Musik: er paßt zu jeder Gemüthsstimmung, er weiß sich jedem Gefühl anzuschmiegen. Und wie viele Empfindungen erweckt er in dem Innern! Die Dichtung wird wach in ihm, regt sich und lebt auf in Gedanken und Worten, in Klängen und Reimen. (Brehm 1861: 357) Das Naturschöne findet sich in Brehms literarischen Vogelbildern nicht nur in der Stimme, 36 sondern ebenso auch im Bau des Körpers, in den Verhaltensweisen der Vögel, vor allem aber im Kapitel Dichtungen der Bewegungen des Vogels (cf. Brehm 1861: 346-356), in dem das poetische Wort vom Flugzauber fällt. In diesem Kapitel geht es um das Pan-Poetische des Vogelflugs vom Orient zum Okzident: Wenn der Lauf des Hirsches oder Rehes und noch mehr der der Gazelle Dichtung genannt werden kann, verdient das rasende Wettrennen des Straußes, der Reigen der Bachstelze, der Balztanz des Birk- und Felsenhahnes diese Deutung gewiß in ebenderselben Ausdehnung. […] [Der Vogel] ist es, dem der Himmel offen steht! Sein Fliegen allein heißt Fliegen […] Der Vogelflug ist die herrlichste, die vollendetste aller Bewegungen des thierischen Körpers; denn sie vergeistigt gleichsam den sterblichen Leib. (Brehm 1861: 346f.) Für den Zeichenaspekt sind die onomatopoetischen Einschübe von besonderem Interesse. Hier konifguriert die Anthropomorphisierung als gewissermaßen selbstreferentielle Form des sprachlichen Zeichens, das nichts geringeres bedeutet will als einen reinen, puren Versuch einer menschenlautlichen Nachahmung der Vogelstimme. Diese Nachahmung kann natürlich nicht die Bedeutung des Vogelgesangs semantisch aufnehmen und wiedergeben. Das sprachliche Zeichen ist lediglich Lautkörper. Es dient dem Ziel, den Klang der Vogelstimme als menschlichen Sprachklang zu verschriftlichen. Das ganze Alphabet der Vogelstimmen ist vertreten, bspw. für A wie Ahu, kuh, kuha, E wie Ehrr, für G wie Gättgättgättgätt, Gih, Gih, Gih, Goh-ääää, Göp, Göp, Göp, für H wie Hip, Hip, Hu, Hu, Hupp, Hupp, für K wie Kix, Kix, Kix, Kloog, Kloog, Krach, Krach, Kruch, Kurre usw. reicht es über Quak, Quäht, Quäht, Ruckediguck, Schuschuhu, Sih, Sih, Sih, Tak, Tak, Tellterelltelltelltell, Uä, Uä; Weck, Weck, Weck, Whib, Whib, bis hin zu Zäkzäkzäk, Zgäzgäzgä, Zerr und Zikzikzik. Selbst Präfigurationen der konkreten Poesie finden sich bei dieser onomatopoetisch anthropomorphisierten Lyrik, gesammelt 1861. 37 Diese poetomorphen Elemente können unter Umständen von großer Skurrilität sein, insbesondere wenn sie zwischen Autoreferentialität und semantischer Bedeutung spielerlisch oszillieren. Etwa, wenn Brehm den „Schlag der Singdrossel“ (Zippe), eine antike 362 Sebastian Schmideler onomatopeotische Spielerei in lateinischen Versen, genüßlich vor seinem Leser ausbreitet und in der die Tonmelodie der Vogelstimme im Sprachspiel durch Modulation der Vokale, Konsonanten und der Satzmelodie imitiert wird (am wirkungsvollsten laut und nicht zu langsam zu lesen): Quis quis arat/ quis quis arat? / Vir arat, vir arat./ Tpo prope, tpo, prope,/ Corpusculum in gutture meo,/ Corposculum in gutture meo./ Quomodo hoc ex illo emoliendum est? / Quomodo hoc ex illo emoliendum est? / Consiliis, consiliis, consiliis! / Quo vero consilio? / Quo vero consilio? / Tir…ri-ll-itt. (Brehm 1861: 56) 2.3.3 Die mythomorphe Gestaltungsweise Die Kategorie der mythomorphen Gestaltungsweise ist eingeschaltet, um diejenigen Elemente des Anthropomorphen erfassen zu können, die auf mythologische Wurzeln zurückzuführen sind, die Mythen des Volks- und Aberglaubens o.ä. betreffen oder sich auf religionsphilosophische Grundlagen der Anthropomorphisierung beziehen. Angewandt auf den Spezialfall von Brehms Werk bedeutet dies auch, die spezifischen Einschlüsse aus der christlichen Religion in seinen anthropomorphen Darstellungen zu berücksichtigen. Es zeigt sich auch in dieser Kategorie, dass die Entstehung der anthropomorphen Zeichenstrukturen vorrangig über semantische Bedeutungszuschreibungen vollzogen wird, die insbesondere kulturhistorisch konnotiert sind. Die mythomorphe Gestaltungsweise bedient sich zum Teil uralter, bis hin zu totemistischen Tierdarstellungen reichenden Traditionen und Anschauungsweisen und trägt vor allem dazu bei, die Tierdarstellung animistisch erscheinen zu lassen. Dieser animistische Anteil rührt von semantischen Äquivalenzen zwischen der tiermythologischen Vorstellung der Wesensverwandtschaft zwischen Mensch und Tier sowie dem ernstzunehmenden Anspruch Brehms her, mit der sprachlichen Gestaltung seine Tiere plastisch, anschaulich, lebensecht zu präsentieren. Die mythologische wird in die aktuelle Bedeutung eingebettet und bekommt dadurch eine verstärkte Autoritäts- und Wahrhaftigkeitsfunktion. Die darwinistisch-evolutionäre, ganzheitliche Sicht Brehms, den Menschen als Maß aller Dinge anzusehen, hatte eine tiefe religiöse Wurzel, die den Schöpfungsgedanken so definierte, dass alle Wesen in einer graduellen seelischen Verwandtschaft als Ausdruck einer Weltseele zu verstehen seien. Auch Brehm vertrat die Auffassung, das zwar Seelen- und Wesensverwandtschaft der Arten bestehe, doch der Mensch als Krone der Schöpfung den Höhepunkt und Ausgangspunkt dieser Betrachtung bilden müsse. Diese mythologisch-religionsphilosophische Wurzel wird bisweilen von der Materialismusdiskussion übersehen oder von der Beschreibung der naturwissenschaftlichen Übergangsperiode zwischen spekulativer Tierseelenkunde auf der einen und naturwissenschaftlicher Tierpsychologie sowie exakter vergleichender Verhaltensforschung auf der anderen Seite verdeckt, die als alleinige Ursache von Brehms lediglich als psychologisierend charakterisierten Anthropomorphisierungen erörtert wird. 38 Doch Brehm deutete Instinkte des Tieres noch als allen Wesen gleiche Seelenentäußerungen, nutzte dieses Potential für ebenso „seelenvolle“ Ausdeutungen, die von einer prinzipiellen emotionsgeleiteten, durchaus christ- lichen Liebe (und dem kontradiktorisch implizierten Hass) bestimmt waren. Er entzweite nicht, sondern versöhnte damit im Grunde mehr oder minder bewusst die Evolutionslehre mit dem Mythos und mit der christlichen Religion - eine für ihn noch ganz selbstverständliche Tröstungsweise, die schon wenige Jahre später durch die Brechungen dieses Weltbildes durch die exakten und trennscharf operierenden Naturwissenschaften nicht mehr möglich war. Ganz Das Leben der Vögel (1861) 363 abgesehen davon, dass Brehm von Seiten orthodoxer Kirchenanhänger, die sich nicht scheuten, ihn in Verkennung seiner eben gerade nicht reinen, radikal-naturwissenschaftlichen Absichten einen „inhumanen, intoleranten Schimpansen“ zu nennen (Genschorek 1984: 210), seit jeher ein sehr scharfer Wind entgegenwehte. Doch so primitiv diskriminierend sind die komplexen anthropomorphen Strukturen im Werk Brehms jedenfalls nicht zu desavouieren gewesen. Brehm, als schwieriger Mensch gefürchtet, mochte durch seinen selbstbewusst überzeugten und schonungslos liberalen Stil gerade im Umgang mit der zeitgenössischen Theologie ein paar unbeholfene und starrsinnige Züge an den Tag gelegt haben, die dem Gusto und guten Ton des 19. Jahrhunderts nicht angemessen waren und Empfindliche zum Widerspruch reizten, aber er war vor allem ein hochgebildeter Grenzgänger zwischen Human- und Naturwissenschaften, ein praktischer Schöngeist und religiös empfindsamer, eloquenter und exakter Beobachter von hohen Gnaden, mit beeindruckendem enzyklopädisch-naturhistorischen, literarischen und zoologischen Wissen. Weder diese von fast grenzenlosem Interesse zeugende, vielfältige Fülle, noch die pathetisch-engagierte Art, in der dieses Wissen zumeist vermittelt wurde, kann als atheistisch oder als pur materialistisch eingestellt bezeichnet werden. Brehm war kein Renegat, sondern versuchte Mythos und Religion durch Evolution zu vereinen. Dies war für Brehm ein hermeneutischer und semiotischer Prozess. 39 Vielmehr ist daher die mythomorphe Gestaltungsweise das eigentliche Fundament von Brehms Tierbeschreibungen, eine zoologisch-naturwissenschaftliche Sicht aber an keiner Stelle das alleinige Ziel seiner anthropomorphen Tierdarstellungen. Im Grunde ist Brehms Anthropomorphisierung eine Evolutionsmythologie, die insbesondere Das Leben der Vögel als das erscheinen lässt, was Brehm von seinem Vater, dem Vogelpastor, von Haus aus „verordnet“ worden war: ein „Mischtrank aus Theologie und Naturwissenschaften“, wie Brehm es selbst einmal treffend bezeichnete (Schneider 1988a : 43). Dieser Mischtrank schmeckte wie die Essenz aus einer mythologischen Wurzel, von der aus entschieden christlich gewachsene Hauptabzweigungen abgingen. Das Populäre des Mythomorphen zeigt sich in Brehms - innerhalb der konkreten Formulierung erkennbaren - Vorgehen, das Althergebrachte, die traditionell überkommenen urmythischen, kultischen, bisweilen zum Totemistischen neigenden Tiervorstellungen aus eurozentristischer Perspektive überwiegend zu übernehmen. Durch diesen pragmatischen Trick gelang es, der Vorstellungswelt seiner Leser einen erleichterten Zugang zu seinen Tierdarstellungen zu ermöglichen. Dabei ging Brehm von einem religiösen Anthropomorphismus aus, den er mitttels des Darwinistischen Evolutionsprinzips zu einer neuen, vornehmlich immer noch christlich-eurozentristisch geprägten Evolutionsmythologie umdeutete: Man nennt mich Materialist, man hat mich schon Atheist gescholten, man hat mich als bitteren Feind der Priester bezeichnet. Wahr ist, daß ich einem gesunden Materialismus huldige, für ihn eingetreten bin, für ihn gekämpft habe. Wahr ist, daß ich mir die Gottheit gestalte nach meinem Verständnis, nach meinem Erkennen und Ermessen. Wahr ist endlich, daß ich auch solchen, welche sich Priester nennen, den Fehdehandschuh hingeworfen habe. Niemals aber habe ich das Urbild dem Zerrbild, niemals den Priester mit dem Pfaffen verwechselt, niemals dem ersteren entgelten lassen, was der letztere verschuldet. (Genschorek 1984: 210) Denn den Darwinismus hält Brehm, der nicht zuletzt auch Meister einer Freimaurerloge war, für eine Anschauung, die sich mit den sittlich-ethischen und religiösen Grundanforderungen seiner Zeit, freilich nicht immer mit den zeitgenössischen Institutionen, die ihre Positionen von Amts wegen verwalteten, in Übereinkunft bringen ließ, wie er in einem Aufsatz in der Gartenlaube des Jahrgangs 1872 freimütig bekannte: 364 Sebastian Schmideler Und was den sittlichen Gehalt des Darwinismus anlangt, so meinen wir, daß es keine mehr erhabene und veredelnde Anschauung geben kann als diejenige, welche im Sein und Walten der Natur nur eine ununterbrochene, unaufhaltsame Entwicklung und Weiterbildung vom Niedrigen zum Höheren sieht, eine Fortentwicklung, welcher sich der Mensch ebenso wenig entziehen kann wie jedes andere lebende oder belebte Wesen. […] Der Strenggläubige sieht in jedem Naturforscher der Neuzeit, insbesondere in jedem Tierkundigen, welcher ebenso spricht und schreibt, wie er denkt, einen berechtigten Anwärter auf das höllische Feuer, wenn nicht mehr. Er überlegt sich nicht oder vergißt, daß der Mensch seine Götter und Götzen nach seinem eigenen Bilde sich erträumte und gestaltete, ... und hängt deshalb mit Inbrunst an dem Wahne der gerade ihm gewordenen Ebenbildlichkeit. Nur hierdurch finde ich Erklärung des Entsetzens, welches die Lehren Darwins in gewissen Kreisen hervorgerufen haben, wie der geradezu kindischen Furcht vor dem sogenannten ‚Materialismus‘ und seinen Anhängern. (zitiert nach Schneider 1988a: 40) 40 Es mutet erstaunlich an, mit welcher offen-schonungslosen Konsequenz Brehm die Grenzen der Gottesebenbildlichkeit im Anthropomorphismus des Menschen erkennt und auszusprechen wagt - er, der doch selbst diesem Anthropomorphismus bis ins Detail verhaftet war. Der christlich mythomorphe Aspekt zeigt sich am deutlichsten in Brehms Charakteristiken, die sich in der Einschätzung zwischen diabolischen Tieren und königlichen Tieren bewegen. Die durch den Sündenfall der Eva und des Adam als teuflisches Wesen verdammte Schlange findet vor den Augen von Brehm keine Gnade, und es ist nicht nur Pragmatismus (die Gefahr der Schlangenbisse), der ihn dazu treibt, die Tötung von Giftschlangen mit Eifer zu fordern: ‚Nur frisch zu Steinen und Knütteln gegriffen und wacker losgeschlagen auf das Gezücht, wie es auch drohend sich hebe und mit schwellendem Halse zische‘, räth schon Virgil, und wir schließen uns ihm an. Wir schlagen die Giftschlangen todt und thun recht, indem wir so verfahren. Ihnen gegenüber dürfen vernünftige Menschen von Schonung nicht reden; denn nur ein unerbittlicher Vernichtungskrieg fördert unser Wohl. (Brehm 1878: 404) Besser ist es, ich wiederhole es, daß sie alle, die schuldigen wie die unschuldigen, vernichtet werden, als daß […] das Leben eines einzigen Menschen durch das höllische Gift in eine ununterbrochene Qual verkehrt werde. (Brehm 1878: 464) […] sie sind nicht bloß stumpfsinnig, sondern, wie bemerkt, auch stumpfgeistig. (Brehm 1878: 275) Das schuldige Tier, das höllische Gift, der Vernichtungskrieg als Wohl. Ganz unverkennbar ist diese Anthropomorphisierung christlich-mythologisch konnotiert. Dieses mythologisierende anthropomorphe Element hat wiederum einen scharfen Kontrast. Wie ganz anders ist es um den Jagdedelfalken und den Adler bestellt. Sie sind keine Kriechtiere, sondern werden als veredelte Himmelsvögel stilisiert, weil sie als solche Vorformen des Herren der Schöpfung sind, überdies dem himmlischen Vater gewissermaßen geistig und optisch viel näher. Denn sie sind nach Brehm evolutionärer Ausdruck eines Höherentwickelten, zugleich aber mythologisch und christlich-religiös besetzte Vorstufen des Menschen als der Krone der Schöpfung: Diese herrlichen Thiere [Edelfalken, Seb.Schm] […] sind unzweifelhaft die Könige aller Falken. (Brehm 1861: 459) Jeder einzelne Edelfalke ist, wie ich schon sagte, ein Bild des Adels; aber unter allen Falken gebührt dem Jagdedelfalken die Krone. Der Mensch muß seine Freude haben an diesem kühnen, edlen Gesellen. Das Luftmeer ist seine Heimat, die Jagd seine Lust; sein Leben ist voller Kampf, voller Mühe und dennoch unendlich schön. Außer dem Menschen hat er keinen Feind; er aber ist der Schrecken aller schwächeren Thiere. Seines Herrschers Macht drückt ihn nicht, er dünkt sich dem Könige der gefiederten Schaaren, Das Leben der Vögel (1861) 365 dem stärksten Adler, ebenbürtig. Hohe Gebirge sind sein Haus, Felsenzimmer seine Warte. Nur nach den höchsten Orten strebt er; er verachtet das Niedere. Adel und Raubgier vereint er in glücklichster Weise in sich: kurz er ist ein vollendetes Thier. (Brehm 1861: 460) Die Jagd seine Lust - mythomorphe Gestaltungsweise heißt bei Brehm allzuoft auch Mythos der Jagd. In seinen Tierschilderungen stellen sie eine ganz zentrale Katgeorie des Anthropomorphen dar (Abb. 3). Der Vogelfang, den schon der Vogelpastor, der nach seinem Tode 15.000 überwiegend selbst erlegte und präparierte Bälge hinterließ (Genschorek 1984: 10), zum Gegenstand seiner Gelehrsamkeit machte 41 und die mythisch begeisterte Tötung des Vogels haben in Brehms Anthropomorphisierungen zweifelsohne ausgeprägt triebhafte Züge, sodass Hanns Zischler zu einer kritischen aber nur allzuwahren Bewertung dieser mythomorphen Gestaltungsweise kommt: Brehm hat den Trophäen und Bälgen in seinen Texten zu einer kleinen Ewigkeit verholfen. Er war kein birder, sondern erzählender Jäger […] Aus seinen blutverkrusteten „Schmuckstücken“ [zieht er] moralische Bilanzen, die er an jedem Tier neu anstellt […] so wie er unverhohlen sadistisch seine Abschüsse kolportiert, als wären es gelungene Pointen. (Zischler 2002: ohne Paginierung) Brehms ungezügelter, ebenso blutiger wie mythologisch besetzter und stilisierter Jagdeifer findet im Kapitel Der Jäger und die Jagd seine widerspruchsreiche anthropomorphe Entsprechung (cf. Brehm 1861: 395-407): Ich kenne noch ein Band, welches Mensch und Vögel zusammenschlingt, ein frisches, grünes, heitres Band: die Jagd! Wenn ich das eine Wort höre, klingt es in mir, wie Hörnerton, Peitschenknall und Freischütz. Ich kenne die Freuden des Jägerlebens; denn ich habe Länder durchjagt und monatelang ohne Unterbechung dem Waidwerk obgelegen, und möchte es wohl gerne sagen, was Jagd- und Waidmannsleben ist: aber wie soll ich Das in Worte kleiden, was Männerherzen erfaßt und fesselt, so lange Männerherzen schlagen werden. (Brehm 1861: 395) Das Gewehr zittert mir in der Hand vor Jagdbegierde. Hundert Gefühle bestürmen mich, bald Hoffnung, bald Enttäuschung, bald die Furcht, daß der Hahn lebend vom Platze komme, bald unendliche Freude, wenn er sich wieder nähert. […] Der Schuß donnert durch den Wald - der Hahn hat aufgehört zu spielen; im Todeskampfe zuckt er bloß noch mit den Flügeln. (Brehm 1861: 402) Der triebhafte Abschuss der Kreatur als frisches, grünes, heitres Band zwischen Mensch und Vogel verdeutlicht eindeutig die semantische Aufladung der Jagd zu einem geradezu heiligen, menschheitsumfassenden Opfer- und Männlichkeits-Mythos. Widersprüchlich ist diese Mythologisierung, weil Brehm andererseits den Gedanken des Vogelschutzes immer wieder betont, denn schon im Vorwort fällt das Schlagwort „Schutz den Vögeln! “ (Brehm 1861: VII), sodass man zunächst annehmen könnte, dass die willkürliche Tötung des Vogels ein Tabu darstelle. Doch Vogelschutz betrachtet auch Brehm als Jagd aus Bestandsschutzgründen, die ausschließlich der Hege und Pflege diene. Damit soll die Jagd als Vogelschutz gerechtfertigt werden. Aber der mythologisch aufgeladene, triebhafte Aspekt der Jagd ist dadurch lediglich in den Hintergrund verschoben. Die Tendenz des triebhaften Tötens flackert allzu deutlich wieder auf, auch wenn Brehm auf den ersten Blick ganz rational argumentiert: Ich glaube, daß nunmehr die Worte verstanden worden sind: die Jagd befreundet Mensch und Vogel. Einen Widerspruch könnte man vielleicht gegen sie erheben: die Jagd auf der Krähenhütte, weil man gewöhnlich glaubt, daß diese einzig und allein betrieben werde, um 366 Sebastian Schmideler Abb. 3: Alfred Brehm als Jäger. Diese Atelieraufnahme des erfolgreichen Autors entstand während der Leipziger Zeit. (Quelle: Schmitz 1986: 155) Das Leben der Vögel (1861) 367 zu tödten, um nach dem Ziel zu schießen. Aber auch diese Jagd verfolgt einen edlen Zweck: sie will durch Ausrottung des Raubgesindels andere, wehrlose Vögel schützen. Die Jagd bei der Krähenhütte gehört zu den angenehmsten und edelsten Vergnügungen im Waidmannsleben; denn der Schütz wirkt hier nicht für sich selbst, sondern tritt als Rächer und Beschützer der Bedrängten auf. (Brehm 1861: 405) Das Anthropomorphisierende dieser Begründung ist frappant: Der Jäger dient in diesem Beispiel sowohl als Zeichen für die Rechtfertigung eines zum Mythos stilisierten menschlichen Triebs als auch als Zeichen für den Schutz einiger Tiere, denen andere mit eindeutig auch mythologischem Einschlag geopfert werden: Raubgesindel, Rächer und Schützer der Bedrängten. Hier ist das Tier ein rein rhetorisches Instrument der moralisch aufgeladenen Rechtfertigung und insofern anthropomorphisiert. Überdies zeigt sich in der christlichen Konzeption der Vogelehe ein weiterer mythomorpher Zug, der aber verstärkt zur soziomorphen Gestaltungsweise gehört. 2.3.4 Die scientiamorphe (wissenschaftssprachliche) Gestaltungsweise Wenn es um wissenschaftliche Beschreibung geht, dreht es sich immer auch um die Versprachlichung von Verhältnissen, die in einer wissenschaftssprachlichen oder scientiamorphen Gestaltungsweise ihren Ausdruck finden. Brehms Tierdarstellungen sind auch in dieser Hinsicht anthropomorphisierend und stehen auf der Höhe der Wissenschaftlichkeit der Disziplin in seiner Zeit. Doch gehörte es zu den Eigenarten der zoologischen Wissenschaftssprache der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, genau mit denjenigen sprachlichen Mitteln und Darstellungsweisen zu operieren, die im Ergebnis eine verstärkt anthropozentrische Sicht auf das Tier zeigten. 42 Damit zog die Wissenschaftssprache der Zoologie den Prozess der Popularisierung der Tierdarstellungen nachgerade auf sich. Dieser Effekt ergab sich gewissermaßen nolens volens von selbst. Neben der von dem Zoologen Brehm sozusagen als „Evolutionsmythologie“ gedeuteten darwinistischen Evolutionstheorie, die unhintergehbarer Kernbestand seiner Wissenschaftlichkeit darstellt, ist Brehm ein popular und wissenschaftlich zugleich denkender Sprachexperte gewesen, der sich um die Ausdrucks- und Inhaltsseite seiner Tierdarstellungen immer wieder erneut ernsthafte, prinzipiell-programmatische Gedanken gemacht hat. 43 Die heute gemeinhin als leichtfertig anthropomorphisiert erscheinenden Tierschilderungen sind jedoch vor der Folie des Wissenschaftsverständnisses der Zoologie dieser Zeit auch als Versuche zu verstehen, die Sprache der Tierwelt in eine anschauliche, klar verständliche und damit in diesem Sinne populare Sprache zu übersetzen. Denn da der Mensch in dieser Brehmschen Sicht als Krone der Schöpfung und als Maße aller Dinge das höchstentwickelte Lebendige auf Erden darstellt, muss alle Tierdarstellung in seinem Dienst stehen. Die Stufen der evolutionären Entwicklung müssenn sich damit auch innerhalb der menschlichen Sprache in Form von parallelen Simultanübersetzungen ausdrücken lassen. Denn der Aspekt einer Tiersprache, wie sie im Prinzip schon im Märchen rätselhaft mythisch auftaucht, 44 ist bei Brehm eine grundsätzliche Verstehenskategorie - und diese Tatsache ist wahrhaftig absolut anthropomorph gedacht. Der Mensch und die Menschensprache sind höchste Form einer tierischen Sprache. Dass Brehm einen so großen Wert auf geschliffenen Stil und verständliche Sprache legte, war seine Art, den hohen Wert, den er dieser aus seiner Sicht höchstentwickelten evolutionsgeschichtlichen Erscheinungsform beimaß, zu würdigen. Brehm hat diesen Zusammenhang 1873 sogar in einem knappen Programm explizit ausgesprochen: 368 Sebastian Schmideler Alle Tierkunde ist ein Beitrag zur Kunde des Menschen, denn sie geht von diesem aus oder richtet sich nach ihm hin. Durch Erkenntnis des Seins und Wesens der Tiere lernen wir die Bedeutung des Menschen verstehen und bestimmen damit fest und unwandelbar dessen natürlich[e] Stellung. Wer es versucht, das am höchsten entwickelte Tier von den übrigen zu trennen, würdigt den Menschen herab, anstatt ihn zu erheben. Denn der Mensch im Spiegel eitler Selbstüberschätzung, dünkt sich wohl ein Halbgott, ist aber nicht mehr als ein Zwitterwesen, zum Gott zu erbärmlich, zum Tier zu erhaben. Der Mensch im Auge des Tierkundigen dagegen ist das am höchsten entwickelte, also vollkommenste und edelste aller Tiere, die Krone und Spitze sämtlicher Gebilde der Erde. Mehr sein zu wollen, erscheint dem Denken als kindischer Wahngedanken - und urteilslose Träumerei. Dr. A. E. Brehm Zwischen Lehrstuhl und Volk stehender Dolmetscher der Tierkunde. Berlin, am Jultage 1873 (Schneider 1989: 71) Tierverstehen war deshalb für Brehm als ein intendierter sprachlicher Prozess zu begreifen. Die Grenzen der Erfassbarkeit des Tierischen waren Brehm dabei durchaus bewusst. Der Anspruch aber als zwischen Lehrstuhl und Volk stehender Dolmetscher der Tierkunde zu wirken, begegnet schon in Brehms erstem zoologischen Hauptwerk. Brehms sieht bereits hier seine Aufgabe darin, die Sprache der Vögel in die Sprache der Menschen zu übersetzen: Ja, wer doch ihre Sprache verstände! Gewiß erzählen sie uns singend gar mancherlei von ihrem Leben und Treiben in der Fremde: wir verstehen es nur nicht. Drum will ich versuchen ihr Dolmetsch zu werden. (Brehm 1861: 291) Dies bedeutete eine größtmögliche Annäherung an das Tiersein durch die Sprache und somit eine anthropomorphe Darstellungsweise! Das Bild des Naturforschers oszilliert bei Brehm zwischen poetischer, mythomorpher, soziomorpher und scientiamorpher Hinsicht und stellt auch hier eine Mischform dar: Der Naturforscher von Geist und Gemüth ist es, welcher den zwischen Mensch und Vogel bestehenden Freundschaftsbund am besten erkennt und am treuesten hält. Denn er ist es, welcher die Deutsamkeit der Vogelgestalt würdigt; er ist es, dem der Flug zwar nicht als ungelöstes Räthsel, wohl aber noch immer als herrliches Gedicht erscheint; er ist es, welcher zum Jäger und Fänger des Vogels wird, um ihn und sein Leben zu erforschen und dann ihm Gastfreund und Beschützer sein zu können; er ist es, welcher mit dem Vogel ein eignes Leben lebt, einen eignen Umgang mit ihm pflegt; er ist es, welcher ihn einen ‚Jubelruf der Natur‘ nennen darf, weil dieser Jubelruf in seinem Innern freudig widerklingt. Die Forschung ist das End- und Schlußglied jener Freundschaftskette zwischen Mensch und Vogel: sie vereinigt alle übrigen Glieder in sich. (Brehm 1861: 421) Auf der reinen Beschreibungsebene war Brehm andererseits ein exakter und zoologisch versierter Kenner. 45 Als Hauptcharakteristikum dieser Seite der scientiamorphen Gestaltungsweise fällt sicher das hohe Maß an Intertextualität innerhalb der Schilderungen auf. 46 Viele und weite Passagen hat Brehm großzügig ausgeschrieben und zitiert, er schöpfte dabei schon durch die Kontakte seines Vaters aus einem beeindruckendem Schatz an persönlichen Verbindungen mit namhaften Forschern und teils sehr gebildeten Laien, die mit ihm korrespondierten, und er konnte zweifelsohne auch verschwenderisch von einer enormen Fachkenntnis zehren, von den bis zur Antike reichenden Quellen bis zur zeitgenössischen Literatur der Natur- und Kulturgeschichte. Indem er diese Zitatbeispiele großzügig in seine Darstellung einbaute, nutzte er seine eigene Popularität aber zugleich auch zur Popularisierung anderer Fachliteratur. Dass die Vorbilder der wissenschaftlichen Schilderungen der zeitgenössischen Tierpsychologie für diesen Das Leben der Vögel (1861) 369 nicht zuletzt wissenschaftlich gemeinten Anthropomorphismus eine Rolle spielten, liegt auf der Hand. Deshalb wäre der Ausdruck des Befremdens über Brehms allzu menschliche Tier- und Vogeldarstellungen eine ahistorische Würdigung dieser wissenschaftlichen Ambitionen. Brehm trieb nur auf die Spitze, was im Wissenschaftsverständnis seiner Zeit schon in nuce angelegt war. Darum ist das Anthropomorphe brei Brehm immer auch wissenschaftssprachlich zu verstehen. 2.3.5 Die soziomorphe Gestaltungsweise Alfred Brehm hat den Schlüssel zu dem bei ihm dominierenden anthropomorphen Element - der soziomorphen Gestaltungsweise - im Leben der Vögel selbst gegeben: Der Mensch konnte sich nur mit geistig hochstehenden Thieren befreunden; denn von den niederen Klassen trennt ihn eine gar zu tiefe Kluft. Er sucht immer zuerst seine geistige Verwandtschaft mit den Thieren auf, und er muß sie gefunden haben, wenn er sich mit ihnen verbinden will. (Brehm 1861: 333) Das Menschliche durch geistige Verwandtschaft im Tierischen zu suchen, ist darum auch der entscheidende anthropomorphisierende Ausgangspunkt, von dem aus Brehm den Weg zur soziomorphen Gestaltung seiner Tierdarstellungen einschlägt. Es liegt nahe, dass er auf diesem Weg durch semantische Zuschreibungen auf gesuchte Parallelen stößt, die er zwischen der menschlichen und der tierischen Lebensweise hinsichtlich der Ontogenese des Menschen in ihrem Verhältnis zu Vergesellschaftungsprozessen sieht. Auch dieser Prozess ist genuin zeichenhaft, denn er vollzieht sich eben in der Tat auf geistigem Gebiet, weil er eine versprachlichte Annahme darstellt, die durch hypothetisch und zeichenhaft verbundene Elemente ein anthropomorphisiertes Abbild des Tieres auf der Grundlage der geistigen Verwandtschaft mit den Thieren assoziiert und formuliert. Brehm konzipiert bewusst soziomorphe Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen der bürgerlichen Welt und dem in Bezug auf das zivilisierte Menschenleben neutralen Tierverhalten. Der Vogel ist bei Brehm nicht Teil einer fremden, andersartigen Natur. Vielmehr reüssieren er und seine Natur über den Weg der zeichenhaften Versprachlichung seines Verhaltens zum Bestandtteil der hoch zivilisierten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Diese soziomorphe Gestaltungsweise vollzieht sich zum einen auf der Ebene des Privaten (Ehe - Häuslichkeit - Familie) im Kontrast zum Öffentlichen (Beruf - Handwerk) und hat damit Bezug zur Lebensweise von Mensch und Vogel. Hinzu kommt die Ebene des Ästhetischen (der Vogel als Künstler), die mit der poetomorphen Gestaltungsweise eng verknüpft ist In der Ebene des ethisch-moralischen und christlichen Urteils unterstellt Brehm vermenschlichend den Vögeln ein eigenes Urteilsvermögen und psychologisiert damit das Vogelverhalten. Diese Ebene stellt damit eine psychologisierende, eben die von Brehm geistige Verwandtschaft genannte Ähnlichkeitsbeziehung dar. Soziomorph sind schließlich auch diejenigen anthropomorphisierenden Elemente, welche die Art und Weise des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier bezeichnen. Zu nennen sind hier insbesondere der Aspekt der Gastfreundschaft gegen die Vögel (cf. Brehm 1861: 369-380), indem die „lieben Gäste“ vom Storch bis zum Haussperling beschrieben werden, „wie sie allesammt um unsere Freundschaft werben“ (cf. auch Abb. 2), sowie das Phänomen der Vogelhaltung, das Brehm im Kapitel Die Stubenvögel und ihre Freunde (cf. Brehm 1861: 381-394) beschreibt. Die Jagd des Tieres ist hingegen, obgleich ein soziales Phänomen, in der Gestaltungsweise ähnlich wie auch der Vogelfang dominant mythomorph. 370 Sebastian Schmideler Systematisch wird zunächst das „leibliche Leben“ untersucht. Dann betrachtet Brehm in einem eigenen Abschnitt das „geistige Leben“ des Vogels, beschreibt in Unterkapiteln „seinen Charakter“, seinen „Natur- und Kunsttrieb“, seinen „Verstand“ und sein „Gemüth“. Auch „Heimath und Beruf“ der Vögel, dem der dritte Abschnitt gewidmet wird, sind dem bürgerlichen Leben angeglichen, der „Beruf“ der Vögel wird geschildert, ihre „Ausrüstung zum Gewerbe“ in einem Unterkapitel abgehandelt. Vollends soziomorph gestaltet sich der vierte Abschnitt unter der programmatischen Überschrift „Häusliches und geselliges Leben“. Der Vogelalltag wird als „Tägliches Leben“ geschildert. Kapitel für Kapitel wird das Vogelleben mit Hilfe des Vokabulars des Zivilisationsprozesses semantisch übertragen. Brehm verdolmetscht „Liebe und Ehe“ als Äquivalent zur Familie, überträgt den „Nestbau“ mit dem Hausbau, das „Brutgeschäft“ mit der Wohnungseinrichtung, „Brutansiedlungen“ mit dem Verstädterungsprozess, „Wanderschaft“ mit dem logistischen Verkehr. Den als „Fremdenleben“ bezeichneten Vogelzug überträgt er auf das menschliche Reise- und Abenteuerbedürfnis. Sogar die hoch komplexe Vergesellschaftungsform des zivilisierten modernen Menschen ist bei Brehm in der Vogelwelt dergestalt ausgeprägt, dass die Lebensform der von Brehm so genannten „Gesellschaftsvögel“ als Vorbild für die Lebensform des Bürgers dienen kann: Der wahre Naturfreund kann schwerlich ein entsprechenderes Bild des Friedens einer Gemeinde finden, als er es hier vor Augen hat. Die buntfarbigen, zierlichen Thiere leben in innigster Gemeinschaft höchst gemüthlich zusammen; jedes einzelne Glied der Ansiedelung achtet und ehrt Recht und Eigenthum des anderen: es ist ein wahrhaft erhebendes Bild des geselligen Lebens. (Brehm 1861: 271) So übernimmt hier die ganze Gesellschaft die Sorge für das Fortkommen der Hilfsbedürftigen in ungleich menschlicherer Weise, als es in der menschlichen Gesellschaft zu geschehen pflegt. (Brehm 1861: 283) Der Vogel geht einer „Arbeit“ und einem „Gewerbe“ nach (Nahrungsbeschaffung), er bringt die „ans Licht getretenen kleinen Weltbürger hervor“, er frönt dem „Spatzirenfliegen“, er hat „Wanderlust und Heimweh“, und er führt nach dem vollendeten Nestbau eine bürgerliche Ehe mit viktorianisch konditioniertem Trieb, denn er lebt „in geschlossener Ehe auf Lebenszeit“: Der letzte Halm ist zum Neste getragen und kunstreich verwebt; - ein Jubelgesang des Männchens krönt sein Werk. Traulich sitzt nun das Pärchen beisammen und kost und plaudert, vielleicht über die künftig kommende Schaar der Kleinen, zu welcher das Weibchen bereits den ersten befruchteten Keim unter seinem warmen Herzen trägt. Zärtlich treibt es der Gatte, doch nun bald das fertige Nest zu betreten und sein Auge durch den Anblick der zierlichen Eier zu erfreuen. Er selbst singt hell und fröhlich seine schönsten Lieder, und seine Gattin lauscht diesen mit stiller Lust. Dann fliegen beide wieder und immer wieder an das Nest hin, und schauen da still vergnügt hinein, als müßten sie es noch sorgfältig prüfen, ob es auch wohl recht sei. Und während dieses Geschäftes regt sich die Liebe in Beider Herzen, und sie beginnen wiederum die herzigen Spiele derselben, das Werben und Versagen, Bitten und Sprödethun, bis dem begehrenden Männchen endlich doch der Sieg und die Gewähr zum Lohne wird. Das klingt wie Dichtung und ist doch die lautere Wahrheit. (Brehm 1861: 256f.) Auch die klassisch-christlichen und bisweilen etwas chauvinistisch anmutenden Rollenmuster des Bürgers werden dem von Brehm anthropomorphisierten männlichen Vogel im Vergleich zum weiblichen angedichtet, 47 auch wenn Brehm am Ende folgender Passage diese kokette Assoziation chevaleresk zurechtrückt: Das Leben der Vögel (1861) 371 Trotz der schönen und tiefsinnigen Gedanken zarter Dichterinnen, welche die Vogelmütter unter Anderm reizende Wiegenlieder singen lassen, müssen wir der Wahrheit die Ehre geben und dabei beharren, daß blos die Männchen der Vögel singfähig sind, niemals die Weibchen. Die Armen versuchen zwar zuweilen eine einzige, kurze Strophe abzusingen, aber es kommt nie zum Gesange, sondern bleibt immer bei’m Stümpern. Das Vogelweibchen mag die ganze kleine Brust voll dichterischer Liebesgedanken haben: es kann dieselben doch nur in einfachen, obgleich zärtlichen Tönen seinem Geliebten und der Welt mittheilen. Von dem männlichen Vogel allein sagt man, daß er ‚dichte‘; denn nur der im Gesang ausgesprochene Gedanke wird Dichtung genannt, obgleich das emsige Streben des Weibchens, das Haus zu bauen und die Brut groß zu ziehen, Manchem noch dichterischer erscheinen mag, als das nur Wenigen gegebene Lied. So wie das Weibchen an körperlicher Schönheit zurücksteht, kann es sich auch an dichterischer Begabung nicht mit dem Männchen messen - und das ist ein deutlicher Fingerzeig nach der Höhe, welche der Mensch im Verhältniß zu den Vögeln einnimmt. Denn bei ihm heißt das schöne Geschlecht bekanntlich schon seit alten Zeiten ‚das schönere oder das schöne‘ und steht auch an dichterischen Gaben, wie der Dichtungsschatz der Neuzeit hinlänglich beweist, keineswegs hinter dem männlichen zurück. (Brehm 1861: 46) Der Vogel ist sogar (Nestbau-, Sanges- und Lebens-) Künstler: Seine Kunst hat immer einen ganz bestimmten Zweck: sie will die Gefühle der in ihm erlebten Liebe ausdrücken. Der männliche Vogel dichtet, um seinem Lieb das ihm durch dasselbe gewordene höchste Lebensglück kundzugeben; der weibliche bildet, um der Mutterliebe Genüge zu leisten: der eine wirkt für die Gattin, der andere für die Kinder. (Brehm 1861: 242) In der bürgerlichen Liebeskonzeption der „Vogelehe“ gibt es „alte Hagestolze“ und „betrübte Witwer“, und es gilt: In der Vogelehe spielt die weibliche Hälfte eine durchaus leidende Rolle dem Eheherrn gegenüber, welcher immer als Herr auftritt, zumal im Anfange des Beisammenseins. [...] Hierin liegt auch kein Widerspruch mit Dem, was wir beim menschlichen Geschlechte zu beobachten gewohnt sind: bei den Vögeln ist das ‚schöne Geschlecht‘ ebenfalls vorzugsweise das eifersüchtige. (Brehm 1861: 226) Und: Obgleich sich die Weibchen den Tod ihres Gatten nicht allzu sehr zu Herzen nehmen, und ihre Liebe bald auf ein anderes Männchen übertragen, bewahren sie doch während der Ehe selbst ihrem Herrn und Gebieter die unwandelbarste Treue, nehmen keinen Hausfreund an, schielen nicht nach Anderen, sondern bleiben hübsch sittsam zu Haus und ehrbahr. (Brehm 1861: 236) Über die Kinder heißt es: Junge Vögel werden von ihren Eltern hübsch ordentlich zu Bett gebracht. (Brehm 1861: 213) Das semiotische Prinzip dieser Anthropomorphisierungsweise ist stets dasselbe: Der Vogel steht wie in der Fabel als Maske und Chiffre für den Menschen; ist Schauspieler im bürgerlichen Welttheater. Denn durch diese Szenen aus dem bürgerlichen Leben des 19. Jahrhunderts entsteht eine Brehmsche Comédie animale. Die von Brehm apostrophierte geistige Verwandtschaft dieser Komödie sowohl mit der göttlichen als auch mit der menschlichen sorgte für den nötigen Unterhaltungswert. Dass diese Inszenierung der Tierwelt, das Rollenspiel der Vögel eine Grundvoraussetzung war, damit diese Vorstellungen als Darstellungen popular werden konnten, offenbarte schon Brehms schriftstellerischer Lehrmeister Roßmäßler im Vorwort zu Die Thiere des Waldes mit Verweis auf seine Vorlagen: 372 Sebastian Schmideler Und doch ist zwischen beiden [Friedrich von Tschudi (1820-1886) Das Thierleben der Alpenwelt (1853) und Brehm/ Roßmäßler Die Thiere des Waldes (1867), Seb. Schm.] der erhebliche Unterschied, daß Tschudi nicht blos die Miemen des gewaltigen Alpentheaters vorführen, sondern daß er dieses selbst schildern durfte, welches Letzteres uns versagt war […], wir also den Schauplatz des Lebens und Treibens unserer Thiere durch genanntes Buch als bekannt voraussetzen mußten. […] So von der einen Seite gefordert […], Rückblicke auf die Waldscenerie unerläßlich waren, sich so zu sagen von selbst aufdrängten, da sie in diesem eine so stark hervortretende Rolle spielen, daß wir uns den Wald ohne diese Belebung gar nicht denken und hinwiederum diese Belebung nicht schildern konnten, ohne auf den Wald Bezug zu nehmen. (Brehm/ Roßmäßler 1867: IIIf.) Gewaltiges Alpentheater, Schauplatz des Lebens und Treibens, Waldscenerie, stark hervortretende Rolle - deutlicher lässt sich der Inszenierungsaspekt der Natur, der auch Brehms soziomorpher Gestaltungsweise anhaftet, nicht ausdrücken. Er ist Dreh- und Angelpunkt dieser Schilderungen und machte ihren besonders populären Charakter aus. Fragt man nach der Dominante von Brehms Art der Anthropomorphisierung, wird der Ausschlag eindeutig auf die soziomorphe Gestalt seiner Tier-Zeichen hinweisen. So lässt sich konstatieren, dass das Für-etwas-Stehen des Tieres eine hochkomplexe anthropomorphe Struktur haben kann, die in ihre Teilaspekte zergliedert werden muss und nicht ohne ihre kulturhistorischen Voraussetzungen beschrieben und gedeutet werden sollte. Dabei zeigte sich auch, dass es effizienter sein kann, den Prozess der Anthropomorphisierung mit Kategorien der semantischen Zuschreibung zu verifizieren, anstatt lediglich mit graduellen Abtönungen (Teilanthropomorphisierungen) zu klassifizieren. Denn auf diese Weise lässt sich die besondere Schwierigkeit des Umgangs mit Mischformen besser handhaben. Ebenso zentral bleibt festzuhalten: Dieser Prozess der semantischen Zuschreibung von anthropomorphen Bedeutungen ist genuin zeichenhaft und geht im Fall von Alfred Brehms zoologisch kuriosem Leben der Vögel mit einer bis dahin noch nicht gekannten Popularisierung einher, die mit dem Thierleben nur wenige Jahre später ihren ersten Höhepunkt erreichte. Deutlich sollte auch geworden sein, dass man, indem man mit dem Aussprechen der Worte das Tier steht als Zeichen für etwas Spezifisches, schon in einem einzigen Werk eines einzelnen Autors einen ganzen Kosmos an Konnotationen, semantischen Projektionen, Kodes und Semioseprozessen berührt, der durch seine Mannigfaltigkeit ein reizvolles Terrain für einen noch zu ordnenden und denkbar lebhaften interdisziplinären Diskurs bilden könnte. Quellen- und Literaturverzeichnis Brehm, Alfred Edmund 1861: Das Leben der Vögel. Dargestellt für Haus und Familie. Prachtausgabe, Glogau: C. Flemming. [Erstausgabe] Brehm, Alfred, Roßmäßler, Emil Adolf 1867: Die Thiere des Waldes. Zweiter Band. Die wirbellosen Thiere des Waldes, Leipzig; Heidelberg: C. F. Wintersche Verlagshandlung Brehm, Alfred Edmund 1878: Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs. Dritte Abtheilung. Erster Band: Die Kriechthiere und Lurche. 2. umgearbeitete und vermehrte Ausgabe, Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts Brockhaus 2006: Art. Anthropomorphismus. In: Brockhaus Enzyklopädie. Bd. 2. 21. völlig neu bearbeitete Aufl., Leipzig; Mannheim: Brockhaus: 132f. Dinzelbacher, Peter (Hrsg.) 2000: Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart: Alfred Kröner Das Leben der Vögel (1861) 373 Druve, Karen, Thies, Volker 1999: Lexikon der berühmten Tiere. Von Alf und Donald Duck bis Pu der Bär und Ledas Schwan. Durchgesehene Taschenbuchausgabe, München: Piper Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München: Wilhelm Fink Verlag Genschorek, Wolfgang 1984: Fremde Länder - Wilde Tiere. Das Leben des „Tiervaters“ Brehm. 2. Aufl., Leipzig: Brockhaus Grieser, Dietmar 1991: Im Tiergarten der Weltliteratur. Auf den Spuren von Kater Murr, Biene Maja, Bambi, Möwe Jonathan und anderen, München: Langen Müller Gruber, J. G. 1820: Art. Anthropomorphismus. In: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von J.S. Ersch und J.G. Gruber Professoren zu Halle. Vierter Theil. Anaxagoras - Appel, Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch: 287-288 Haas, Gerhard 1996: Das Tierbuch. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. 2. Erg.-Lfg. September 1996: 1-26 Hofmannsthal, Hugo v. (Hrsg.) 1984 [1929]: Deutsches Lesebuch. Eine Auswahl deutscher Prosa aus dem Jahrhundert 1750 - 1850, Leipzig: Reclam Kehne, Birgit 1992: Formen und Funktionen der Anthropomorphisierung in Reineke Fuchs-Dichtungen, Frankfurt am Main; Berlin u.a.: Peter Lang (= Deutsche Sprache und Literatur Serie 1 Bd. 1348) Krüger, Evelin 1978: Sprache über Tiere. Zur kommunikativen Funktion von Stil und Semantik in der Sachliteratur, Bochum: Studienverlag Dr. N. Brockmeyer. (= Bochumer Studien zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Bd. 16) Mazouer, Charles (ed.) 2003: L’animal au XVIIe siècle. Actes de la 1ére journée d’études (21 novembre 2001) du Centre de recherches sur le XVIIe siècle européen (1600-1700), Tübingen: Gunter Narr Verlag (= Biblio 17 Beilage 146) Meyer 1890: Art. Anthropomorphismus. In: Meyers Konversations-Lexikon. Bd. 1. 4. Aufl., Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut: 631 Meyer, Heinz 2000: 19./ 20. Jahrhundert. In: Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart: Alfred Kröner: 404-568 Metzker, Otto 1955: Die Gestalt des Tieres in der Literatur, besonders im Jugendschrifttum. In: Das gestaltete Sachbuch und seine Probleme. Das geschichtliche und erdkundliche Jugendbuch, das Tierbuch. Jahresgabe 1955, Reutlingen: Enßlin & Laiblin: 57-80 Morgenstern, W. Rolf 1984: Art. Anthropomorphismus. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1, Weinheim; Basel: Juventa: 44-46 Nassen, Ulrich 1993: Trieb, Instinkt, Politik. Einige Tierdarstellungen und -projektionen in fiktionalen Tiererzählungen für Kinder und Jugendliche 1918 - 1945. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien. 4. Beiheft: 95-106 Neumann, Carl W. 1929: Brehms Leben. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Ludwig Heck. Hrsg. v. d. Brehm- Gesellschaft e.V., Berlin: Brehm Verlag Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik. 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage mit 89 Abbildungen, Stuttgart; Weimar: Metzler Posner, Roland u.a. (Hgg.) 1996: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 1. Teilband,. Berlin; New York: de Gruyter Röhrich, Lutz 1973: Mensch und Tier im Märchen. In: Wege der Märchenforschung. Hrsg. v. Felix Karlinger, Darmstadt: WBG: 220-253 (= Wege der Forschung CCLV) Schalow, Herman 1919: Beiträge zur Vogelfauna der Mark Brandenburg. Materialien zu einer Ornithologie der norddeutschen Tiefebene auf Grund eigener Beobachtungen und darauf gegründeter Studien, Berlin: Deutsche Ornithologische Gesellschaft Schmitz, Siegfried 1986: Tiervater Brehm. Seine Reisen, sein Leben, sein Werk. Lizenzausgabe, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag Schneider, Bernhard 1988a: Leipzig - ein Boden für eine Pflanze wie Alfred. Der Leipziger Aufenthalt (1858- 1862) von Allfred Edmund Brehm und seine Freundschaft mit dem Naturforscher und naturwissenschaftlichen Volkslehrer Emil Adolf Roßmäßler. In: Leipzig. Aus Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge zur Stadtgeschichte 5, Leipzig: Fachbuchverlag: 29-67 374 Sebastian Schmideler Schneider, Bernhard 1988b: Drei Briefe von A. E. Brehm und Carl Bolle im Zusammenhang mit dem Entstehen des „Thierlebens“, geschrieben im Jahre 1861 von Leipzig aus. In: Veröffentlichungen Naturkundemuseum Leipzig Heft 5: 51-64 Schneider, Bernhard 1989: Weitere A. E. Brehm-Handschriften aus seinen Leipziger Jahren entdeckt. In: Veröffentlichungen Naturkundemuseum Leipzig Heft 6: 65-82 Stetter, Klaus 1969: Hermann Löns - Der Übersetzer. In: Annali Sezione Germanica XII. Neapel: 351-371 Toynbee, J.M.C. 1983: Tierwelt der Antike, Mainz: Philipp von Zabern (= Kulturgeschichte der Antiken Welt Bd. 17) Völker, Klaus (Hrsg.) 1994: Werwölfe und andere Tiermenschen. Dichtungen und Dokumente, Frankfurt am Main: suhrkamp (= Phantastische Bibliothek 312) Wuketits, Franz M.: Anthroposemiose. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 1. Teilband, Berlin; New York: de Gruyter: 532-548 Zimen, Erik 2003: Der Wolf. Verhalten, Ökologie und Mythos. Das Vermächtnis des bekannten Wolfsforschers, Stuttgart: Franckh Kosmos Zischler, Hanns 2002: Neuigkeiten aus dem Land der Väter. Über Alfred Brehm und „Das Leben der Vögel“ (1861). CD-Booklet zu Hanns Zischler liest Alfred Brehm Aus dem Leben der Vögel, München: Antje Kunstmann Verlag Notes 1 „Anthropomorphismus, hat Campe [Joachim Heinrich Campe (1746-1818) Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke (1801, 2. Aufl. 1813), Seb.Schm.] sehr treffend mit Vermenschlichung übersetzt; anthropomorphisiren, vermenschlichen.“ (Gruber 1820: 287) Zitate werden in originaler Orthographie wiedergegeben. 2 „Der eleatische Philosoph Xenophanes fand diese Vorstellungsweise [die Vorstellung von etwas Übermenschlichem in menschlicher Gestalt, Seb.Schm.] so naheliegend, daß, wenn Tiere überhaupt eine Vorstellung von etwas ‚Übertierischem‘ haben könnten, Löwen ihre Götter in Löwen-, Stiere die ihrigen in Stiergestalt denken würden. Da das einzige äußere und innere Wesen, welches der Mensch aus eigner Erfahrung besser als jedes andre kennt, sein eignes, dieses aber zugleich infolge sehr natürlicher Eigenliebe in seinen Augen auf Erden wenigstens das vollkommenste ist, so ist es begreiflich, daß er das Vollkommene, dessen Gedanken er faßt, nur unter der allerdings über das Maß seiner an sich erfahrenen Beschränktheit hinaus gesteigerten Form seiner selbst vorzustellen vermag. Statt zu lehren, der Mensch sei nach Gottes Ebenbild geschaffen, wäre es daher richtiger (mit Schleiermacher) zu sagen: der Mensch schaffe Gott (d.h. seine Vorstellung Gottes) nach dem seinigen.“ (Meyer 1890: 631) 3 Von Anthropomorphismus als einer „Anschauungsweise, die menschliche Eigenschaften oder menschliches Verhalten Außermenschlichem zuschreibt (vermenschlicht)“, spricht auch die 21. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie von 2006, die damit die Definition aus den älteren Ausgaben übernimmt (Brockhaus 2006: 132). 4 Hier auch erstmals ein ausführlicheres Literaturverzeichnis zum Thema (cf. Dinzelbacher 2000: 617-648). 5 Zu der von Dinzelbacher völlig zurecht hervorgehobenen Tierwelt der Antike cf. insbes. Toynbee (1983). 6 Zu denken ist bspw. an Irene Disches und Hans Magnus Enzensbergers poesievoll melancholische und historisch-politische Hasengeschichte Esterhazy oder an die raffinierten Tierbücher des New Yorker Cartoonisten William Steig (1907-2003) wie die Geschichten um die Zahnarztmaus Doktor De Soto. 7 Dass Tiere überdies auch weiterhin Interesse in weitesten Kreisen der Bevölkerung finden, zeigt bspw. die aus Nordamerika nach Deutschland als Subkultur eingebürgerte und organisierte Furry-Bewegung. 8 Wie die Stigmatisierung insbesondere des Wolfes als böse seit der Antike bis heute fortwirkt, beschreibt eindrücklich das 12. Kapitel „Der Wolf - verehrt, verkannt, verleumdet“ in Ziemen (2003: 381-435). 9 Populärwissenschaftliche Vorläufer von Tierschilderungen waren die von dem Züricher Stadtarzt, Linguisten, Polyhistor und Professor der Naturgeschichte Conrad Gesner (1516-1565) verfasste Historia animalium (1551-1558). Weitere Vorläufer stammen von den durch die französische Aufklärung beeinflussten Zoologen George Buffon (1707-1788) und Goerge Cuvier (1769-1832). „Neben der Eleganz der Sprache rühmte der namhafte deutsche Zoologe und Ornithologe Erwin Stresemann (1889-1972) an Buffon die Das Leben der Vögel (1861) 375 Wiedererweckung des Verständnisses für das Lebendige in seiner natürlichen Umwelt.“ (cf. Schneider 1988a: 59) 10 „Alfred Brehm hat das unsterbliche, epochemachende, kulturgeschichtliche Verdienst, die weitesten Kreise, das ganze Volk für die höhere Tierwelt, insbesondere die Vögel und Säugetiere, gewonnen zu haben. Und das gelang ihm, weil er nicht nur ein weitgereister Sammler, Forscher und Beobachter war, sondern auch ‚ein genialer Tiermaler mit Worten‘. Diesen Ehrentitel habe ich wohl zuerst für ihn geprägt, und ich möchte auch glauben, daß er den Kern seines Wesens und dessen wirksamste Ausstrahlung zutreffend bezeichnet.“ (Neumann 1929: 6) So voller Begeisterung und Pathos der Berliner Zoodirektor Ludwig Heck (1860-1951) im Jahre 1929 zum 100. Geburtstag Brehms. 11 „Die Semiotik interessiert sich für die Zeichen als gesellschaftliche Kräfte.“ (Eco 1972: 73) 12 Zu denken ist insbesondere an Metaphern (cf. Nöth 2000: 342-248). Des weiteren spielen an erster Stelle semantische Grundbegriffe (cf. Nöth 2000: 147-151) und das Verhältnis von Semantik und Semiotik entscheidende Rollen (Nöth 2000: 158-161). 13 Das den „Rassegedanken“ allegorisch deutende, grob verunglimpfende antisemitische Bilderbuch Der Pudelmopsdackelpinscher ist eines der abgeschmacktesten Beispiel hierfür. 14 „Was bewirkt die Einführung eines Codes? Die Kombinationsmöglichkeiten zwischen den beteiligten Elementen und die Anzahl der Elemente, die das Repertoire bilden, werden eingeschränkt.“ (Eco 1972: 56) Man könnte den Prozess der Popularisierung auch dergestalt deuten, dass der Grad der semantischen Vielbedeutungen dadurch eingeschränkt, die Rezeptionsbedingungen dadurch erleichtert werden - ein semiotischer Zeichenprozess. 15 Denn hier wäre auch das gewährleistet, was Eco kritisch als Voraussetzung der Zeichenhaftigkeit in der Natur erkennt: „Eco [vermag] Zeichenhaftes in der Natur nur dort zu sehen, wo der Mensch und seine Konventionen zu einer bestimmten Sichtweise dieser Prozesse geführt haben.“ (cf. Nöth 2000: 130) 16 Dabei ist noch nicht intendiert, in welchem Verhältnis sich die anthropomorphisierende Darstellungsweise zur Anthroposemiose verhält, die biologische und soziokulturelle Ebenen untersucht. (cf. Wuketits 1996: 532-548) „Anthroposemiosen sind damit Gegenstand einer umfassenden Theorie der organischen Evolution.“ (Wuketits 1996: 532) 17 Cf. Diegesis und Mimesis in Nöth (2000: 402). 18 Vor allem die religionsphilosophisch intendierten Definitionen in der älteren Literatur überzeugen. (cf. Gruber 1820; Meyer 1890) Zu einigen Gattungen der Tierdichtungen (insbes. Märchen, Fabel und Epos) gab und gibt es eine lebhafte Diskussion mit einigen Höhepunkten (cf. bspw. Röhrich 1973). 19 In großen gängigen Literatur-Lexika (z.B. Kilys Literatur-Lexikon) sucht man vergbens nach einer brauchbaren Beschreibung. Innovative Arbeiten dazu sind eher Ausnahmen (cf. Kehne 1992), originelle Sammelbände wie Mazouer (2003) liegen für das 19. Jahrhundert in Deutschland noch nicht vor. An gängigen Klassifikationskriterien mangelt es gänzlich, obwohl auch hier einige Versuche vorliegen. 20 „Das Genre ‚Tierbuch‘ rangiert […] an vierter Stelle; doch da das Thema ‚Tier‘ wie kein anderes die einzelnen Genres übergreift […], rückt es im Vergleich eindeutig an die erste Stelle.“ (Haas 1996: 1) „Von besonderer Relevanz ist die Bedeutung des Tieres im Jugendbuch der Gegenwart. […] Die Analyse [von 251 Kinder- und Jugendbüchern, Seb.Schm.] ergab, daß in 76 % der Bücher der Themenbereich ‚Natur und Tiere‘ erwähnt und dargestellt war. Dieses Resultat bedeutet, daß in diesen Büchern ‚Natur und Tiere‘ das am häufigsten behandelte Thema bildete“. (Meyer 2000: 484) 21 Zu diesem wichtigen Aspekt ist auch Völkers Bibliographie zu Rate zu ziehen. (cf. Völker 1994: 444-451) In Betracht kommen auch die Anthropomorphisierung von Himmelskörpern, von Maschinen und die insbesondere in der Jugendstil-Buchkunst zu großer Kunstfertigkeit entwickelte Anthropomorphisierung von vegetabilen Erscheinungsformen wie Blumen, Pflanzen und Früchten (vor allem Obst und Gemüse). Zu denken wäre bspw. an den Schweizer Ernst Kreidolf (1863-1956), an die Ostpreußin Sibylle von Olfers (1881-1916) und die Schwedin Elsa Beskow (1874-1953). 22 Zugleich entwickelt Haas nicht immer ganz konsequent und logisch bei der Formulierung der Typologie verschiedene „Typen des Verhältnisses von Tier und Mensch im Tierbuch“: Erstens „Die Figur des Tieres ist Chiffre für den Menschen“, zweitens „Das Tier - die Herausforderung an den Menschen“ (das Tier als Vorbild), drittens „Freundschaft mit Tieren“, viertens „Das Tier als das dem Menschen gegenüberstehende Andere, Fremde“, fünftens „Mensch und Tier in kreatürlicher Genossenschaft: Distanz und Nähe“, sechstens „Eine Welt: Mensch und Tier in selbstverständlicher Gemeinschaft“, siebentens „Die Welt des Tieres“, achtens „Berichte über das Tier“. (cf. Haas 1996: 8-25) 376 Sebastian Schmideler 23 „Durch Roßmäßler und seinen bürgerlich-demokratischen Kreis sowie den von der Darwinschen Evolutionstheorie beeinflußten Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft in Leipzig wurde er [Brehm, Seb.Schm.] mit dem Konzept einer naturwissenschaftlichen Volksbildung, die Bestandteil eines umfassenden humanistischen Bildungsideals ist, vertraut gemacht. Das geschah so gründlich und kongruierte so mit seinen Veranlagungen, daß sein ganzes späteres Leben davon geprägt wurde. In Leipzig erfolgte der ‚Umbau‘ des Naturforschers Brehm vom naturwissenschaftlichen Autor zum naturwissenschaftlichen Volkslehrer.“ (Schneider 1989: 68) 24 Darwin seinerseits hat später das zu internationalem Ruhm gelangte Thierleben genau gekannt. 25 Ernst Keil (1816-1878), liberaldemokratischer Verleger. 26 „Im Zusammenhang mit dem immer wieder aufgelebten Bestrebungen, die deutsche Sprache durch Gesellschaften und Vereine bewußt zu pflegen und - vor allem von Fremdwörtern zu reinigen, hat Friedrich Karl Keil, der wohl aus der Jahnschen Turnbewegung stammt, am 3.6.1848 den Potsdamer Verein für deutsche Sprache gegründet.“ (Schneider 1988b: 67) 27 Es handelt sich um eine „Repräsentation als ikonisches Zeichen“. Nach Godmann sind „Repräsentationen […] Bilder, die annähernd dieselbe Art von Funktionen haben wie Deskriptionen.“ (cf. Nöth 2000: 162- 168) Der ornamentale, reich vegetabil verzierte Einband kontrastiert in der Form eines angedeutet konischen Ovals Repräsentanten von einheimischen mit exotischen Vögeln. Es wird in der fließend übergehenden vegetabilen Auszier der linken unteren Ecken, seitlich eines Sockels, in den ein stattliches, bärtigmythologisches Götterhaupt eingearbeitet ist, ein Widehopf als Vertreter der teils unterirdisch lebenden, erdbewohnenden Vögel dargestellt, rechts ein weiterer Erdbewohner, links aufsteigend Repräsentanten der Schwimmvögel. Umgeben von blühenden Seerosen zunächst ein Höckerschwan, rechts von ihm ein Pelikan. Stockente und Haubentaucher gespiegelt vom Rücken des Pelikans entlang eines aufsteigenden Schilfrohrs dargestellt, das als mittig raumteilendes Ornament fungiert. Flamingo links und Graureiher rechts an den Außenseiten des Ornaments als je exotischer und einheimisch europäischer Vertreter der Ufervögel, kunstvoll verschlungen mit den nach oben strebenden vegetabilen Auszierungen, dazwischen links eine freifliegende Schwalbe. Jeweils rechts und links von den Außenseiten rankt sich das vegetabile Ornament nach innen bis zur Mitte des Schilfrohrs. Diese Verbindungslinie symbolisiert gleichsam den Übergang von der Strauchzur Baumzonengrenze. Die Auszierung wandelt sich sodann links oben in ein Laubgehölz, um Auerhahn und Birkhuhn als Vertreter des Mischwaldes zu zeigen, rechts oben im Kontrast Uhu und zwei Kreuzschnäbel auf einem Tannenornament als Repräsentanten der Vögel der Nadelgehölze. Darüber breitet als linke und rechte Seite verbindendes Schlussornament ein Adler als die Vogelwelt beherrschender König der Vögel und Repräsentant der Raubvögel seine weiten Schwingen aus. In das Initial des V im Buchtitel sind zwei Kanarienvögel als Vertreter der Stuben- und Singvögel integriert. - Summa summarum: Der von Robert Kretzschmer entworfene Einband für Das Leben der Vögel ist in seiner Verbindung von sinnfällig aufsteigenden metamorphosen Übergängen der vegetabilen Auszier mit den allegorisch platzierten Vogelrepräsentanten eine beeindruckende Leistung der Einbandkunst der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Ähnlich aufwändige und semiotisch bedeutsame allegorische Emblemata hat Brehm als Holzschnitt für den Frontispiz des Illustri[e]rte[n] Thierleben[s] in der 2. Auflage in zehn Bänden von 1876 und für den Einband von Die Thiere des Waldes anfertigen lassen. 28 20 Mark waren ein Goldstück. 29 Gemeint ist die Ausgabe letzter Hand, die auf zehn Bände erweiterte 2. Auflage. 30 Noch 1929 kennt die Begeisterung der Leser in der Tat kaum Grenzen. Das Thierleben „war als echtes Volksbuch gedacht, und da sein Verfasser, der Forscher und Jäger, der Kenner und Freund der Tiere, zugleich ein Meister der Feder war, so wurde auch ein Volksbuch daraus. Uns Deutschen ist es das Tierbuch schlechthin, die meisterliche Naturgeschichte, die Hunderttausenden von Lesern nicht nur reiche Belehrung gespendet und den Naturgenuß vertieft, sondern sie durch ihre schöne Sprache und ihre lebendigen Tierschilderungen auch gut unterhalten, gepackt und erbaut hat. Noch nie war einer Naturgeschichte gleich dauernder großer Erfolg beschieden wie diesem vortrefflichen Tierwerke Brehms.“ (Neumann 1929: 63) Metzker (1955: 56) hält dem zurecht entgegen, dass das Thierleben erst 1914, als die Urheberrechte fielen, richtig populär werden konnte und durch die oft bearbeiteten billigeren Volksausgaben wirkliche Breitenwirkung erreichte. 31 Eine wesentliche charakteristische Eigentümlichkeit von Brehms zoomorpher Gestaltungsweise ist in seiner Eigenart zu sehen, Tiere durch Tiere zu charakterisieren. In diesen Passagen wird der evolutionsbiologische Zusammenhang anthropomorphisiert, denn Brehm gelingt es, die „Verwandtschaftsbeziehungen“ Das Leben der Vögel (1861) 377 innerhalb der Tierwelt originell und einprägsam zu veranschaulichen. Das Für-sich-Sein der Tiere wird durch eine semantische Verbindungslinie auf der Grundlage der von Brehm akzentuierten Analogiebeziehungen zeichenhaft zu einem Als-etwas-Sein. Auf diese Weise steht ein Säugetier für einen Vogel. Brehm spricht es exakt wie ein Semiotiker aus: „Jeder Unbefangene erkennt in dem Adler das Bild (oder die treue Uebersetzung dieses Bildes) des Löwen, in der Eule das der Katze wieder; der Rabe vertritt den Hund, der Geyer die Hyäne, der Sperber den Fuchs, der Papagei den Affen und der Kreuzschnabel das Eichhorn, der Zaunkönig die Maus, der Würger das Wiesel, der Finke den Nager, der Trappe den Hirsch oder die Anthilope, der Strauß das Kamel, der Kasuar das Llama, der Wasserschwätzer die Wasserratte, die Ente das Schnabelthier, der Taucher den Fischotter, der Alk den Seehund u.s.w. Trotz aller dieser Anklänge, welche sich nur auf die äußere Gestalt beziehen, ist der Vogel stets wesentlich von dem Säugethiere verschieden.“ (Brehm 1861: 16)32 Richard Illner (1831-1895), gelernter Holzschneider, Maler, Zeichner, Graphiker. 33 Philipp Welcker (1794-1871), Lehrer, Bibliothekar, Schriftsteller. 34 Julius Sturm (1816-1896), Pfarrer, Erzieher, (religiöser) Dichter. 35 Friedrich Rückert (1788 - 1866), Orientalist, Dichter, Nationalliberaler - der Name ist zugleich (politisches) Bekenntnis Brehms: unser Rückert. 36 Auch der Gesang der Nachtigall wird - selbstverständlich - poetisiert: „daß in der Nachtigall Lied Alles liegt, was nur immer Liebe bieten und gewähren mag, daß es verständlich spricht von Sehnen und Hoffen, Bangen und Fürchten, Bitten und Flehen, Schmachten und Klagen, Jubel und Glück, Muth und Kampfeslust, daß der Nachtigallgesang nichts Anderes ist, als Morgen- und Abendroth in Töne und Klänge gefaßt, Rosenduft im Liede wiedergegeben.“ (Brehm 1861: 366) Hier zeigt sich Brehms ganzheitlich gedachte Naturpoesie paradigmatisch. 37 Schlag der Nachtigall (Auszug): „Tiuu tiuu tiuu tiuu,/ Spe tiu squa,/ Tiō tiō tiō tio tio tio tio tix, / Quito quito quito quito, / Zquō zquō zquō zquō, / Tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzü tzi, / Quorror tiu squa pipiquisi,/ Zozozozozozozozozozozozo zirrgading! “ (Diese Texte eignen sich hervorragend zur Sprecherziehung und zur Förderung der sprachlichen Musikalität.) 38 „Die Brehm angelastete ‚Vermenschlichung‘ der Tiere resultierte aus verschiedenen Ursachen. Sie war zum einen eine aus der Abstammungslehre abgeleitete Tendenz, nicht nur in anatomisch-physiologischer Hinsicht, sondern auch im Bereich des Psychischen keine unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und Tier bestehen zu lassen und einen kontinuierlichen Abstammungszusammenhang nachzuweisen; sie war vor allem durch die tiefe, emotional geprägte Liebe Brehms zum Tier bedingt und hatte ihre Quellen auch in seinem Studium einschlägiger Literatur. Brehm wurde stark von dem ‚Versuch einer vollständigen Tierseelenkunde‘ (1840) des Gallener Professors P. Scheitlin, einer überschwenglich-schwärmerischen Vermenschlichung tierischer Psyche, beeinflußt.“ (Genschorek 1984: 210) Zu denken ist aber auch an die Illustri[e]rte Naturgeschichte des Thierreiches (1851) in vier Bänden des Naturforschers, Reiseberichterstatters und Leipziger Zoologieprofessors Eduard Friedrich Pöppig (1798-1868). Mit über 2000 Abbildungen war hier die Idee der bildlichen Anschaulichkeit des Illustri[e]rten Thierleben[s] präfiguriert (cf. auch Schneider 1988a: 61). 39 „In der kindlichen Erzählung der biblischen Schöpfungssage liegt eine dunkle Ahnung des wirklich Geschehenen. ‚Tage‘ mußten in der That vorübergegangen sein, ehe unsere Erde die lieblichsten ihrer Geschöpfe empfangen konnte: die ‚Veste‘ mußte heraus getreten sein aus den ‚Wassern‘; das Licht mußte den Dunstmantel durchdrungen haben; Baum und Pflanze mußten sein, lange gewesen sein, bevor der Vogel, das leichte Kind des Lichts und der geläuterten Luft, auf unserem Wandelsterne seine Wohnung nehmen konnte. Es ist alles wahr, was hier erzählt wird: wir müssen die Wahrheit nur verstehen, die Erzählung zu deuten wissen. Der Wissenschaft unserer Zeit ist diese Deutung vollkommen gelungen. Ihr sind die verschiedenen Schichten der Erdrinde zu den Blättern eines Buches geworden, welches der Kundige mit Lust und Verständniß durchliest.“ (Brehm 1861: 3) 40 Brehms als Materialismus gedeuteter Darwinismus ist, wie Schneider beweist, eindeutig von Roßmäßler beeinflusst. Gegen dessen ideologiekritische Haltung etwa in Der Mensch im Spiegel der Natur muten Brehms Äußerungen jedenfalls bisweilen noch harmlos an: „Wenn sich aber der Mensch bemüht, sich in und an der Natur richtig zu erkennen, so wird er bald eine bessere Meinung als bisher von sich gewinnen. Er wird finden, daß er nicht der arme, elende, sündhafte Mensch, der unnütze Knecht ist, den die Kirche aus ihm gemacht hat, um ihn leichter beherrschen zu können, er wird sich im Gegenteil als ein Wesen kennenlernen, das, mit herrlichen Gaben ausgerüstet, sich zu einem hohen Grade von Vollendung ausbilden 378 Sebastian Schmideler kann und soll.“ (Schneider 1988a: 37). - Dieser positivistische Fortschrittsoptimismus lässt sich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts schwerlich teilen. 41 Christian Ludwig Brehm schrieb „eine gründliche Anleitung, alle europäischen Vögel […] zu fangen“, die 1855 unter dem Titel Der vollständige Vogelfang erschien. 42 Der verdienstvolle Ornithologe Herman Schalow (1852-1952) hat diese Eigentümlichkeit der zoologischen Wissenschaftssprache in einer treffenden Charakteristik zusammengefasst: „Die Zoologie wanderte damals auf anderen Wegen, auf den Bahnen reiner Beschreibung. Die Schilderung der wunderbaren Mannigfaltigkeit der Formen befriedigte lange Zeit vollauf den Systematiker [...] Die Erforschung des Lebens der höheren Tierwelt erschien den Zoologen jener Tage nebensächlich, wenn nicht gar unwissenschaftlich und überflüssig. […] Die biologischen Schilderungen des Lebens der Vögel standen in jenen Zeiten unter dem Einfluß einer sentimental-poetischen Anschauung […]. Es war nicht eine lässige Bequemlichkeit […] die diese uns oberflächlich erscheinende Form der Beobachtung und Darstellung wählte, sondern sie lag in der allgemeinen Zeitströmung begründet, in welcher die Bewunderung der herrlichen Naturumgebung in schwärmerischer Vertiefung Jean Jacques Rousseau’schen Empfindens zum Ausdruck kam. Viele spätere Ornithologen und wahrlich nicht die schlechtesten wie Naumann, Ludwig Brehm, Baldamus, Thienemann, Alfred Brehm und Radde standen, mehr oder weniger bewußt, in dem Bann dieser Art biologischer Darstellung. Es war oft nichts als Kleinmalerei des landschaftlichen Milieus, in welch letzteres die Tiere in ihren Daseinsgelegenheiten, soweit man dieselben zu erkennen glaubte, als fühlende, handelnde und denkende Wesen hineingesetzt wurden.“ (Schalow 1919: 546f.) 43 Brehms Interesse an der Sprache zeigte sich übrigens auch in seinen Bemühungen um die Entwicklung der Stenographie. 44 „Wie viele verschiedene Entwicklungsschichten der Einstellung des Menschen zum Tier im Märchen selbst nebeneinander möglich sind, zeigen etwa die Erzählungen, in denen das Verstehen der Tiersprache eine Rolle spielt. In manchen Märchen ist dieses Motiv noch gar nicht zum ‚Motiv‘ geworden, sondern es wird als selbstverständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig hingenommen, daß man die Tiere in ihrer Sprache verstehen kann. In anderen Märchen dagegen hat allein ein auserwählter Held diese Fähigkeit, mit der er dann sein Glück macht. Das Problem hat zwei Seiten, die man gut auseinanderhalten muß: Entweder versteht der Held die Tiersprache, oder es spricht ein Tier in menschlicher Sprache.“ (Röhrich 1973: 227) 45 So beim Leben der Vögel: „Sachlich exakt die in den Abschnitten der Körper und ihrer Organe, die Bewegungen, die Stimme und ihre Entwicklung gegebenen Informationen.“ (Genschorek 1984: 113) 46 Zischler (2002: ohne Paginierung) bemerkt diesbezüglich für Das Leben der Vögel: „Die wunderliche Geschichte des haus- und hofverwesenden Kranichs schließlich hat er komplett von seinen Kollegen [Herrn von, Seb.Schm.] Seyffertitz übernommen.“ Das Beispiel ließe sich zu einer Reihe fortsetzen. 47 An anderer Stelle noch deutlicher: „Das männliche Geschlecht [der Vögel, Seb.Schm.] ist bestimmt, zu ringen und zu kämpfen, um zu erzeugen, das weibliche, um zu vermehren und zu erhalten.“ Aber Brehm gibt auch zu: „Es ist wirklich auffallend, wie rasch das Männchen eines Paares ersetzt werden kann.“ (Brehm 1861: 217) Das Unsagbare zur Sprache bringen. Über die Aufgabe der Dolmetscher beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess Karoline Münz Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg (1945/ 46) ist ein Prozess der Übersetzungen: in die und aus den vier offiziellen Gerichtssprachen, in den juristischen Diskurs, aus den kommunikationslosen Täter- und Opfersprachen in bedeutende Aussagen, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und weiter in die Geschichtsbücher der Zukunft. Gelingen soll dies mit Hilfe des technikunterstützten Simultandolmetschens, das im Nürnberger Gerichtssaal erstmals eingesetzt wird. Der Aufsatz untersucht Momente des übersetzerischen Scheiterns und dekonstruiert die Logik der unmittelbaren Präsenz als Grundprinzip der Nürnberger Dolmetschung als illusionär und gefährlich. Denn erst, wenn die eigentliche Schwierigkeit beim zur Sprache Bringen der nationalsozialistischen Verbrechen ihre übersetzerische Entsprechung in einer ebenso gebrochenen, differenten Fremd-Sprache findet, lässt sich das Ausmaß der menschlichen Katastrophe des Holocaust in eine erfahrbare Form bringen. The Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal, held in Nuremberg in 1945/ 46, can be viewed as a trial of translations. It featured translation into legal discourse, from and into the four official languages of the trial, from both the delinquents’ and the victims’ distressed testaments into significant communication, and from past events into current hearings and future historical textbooks. This was to be accomplished through the technical system of simultaneous translation, used at Nuremberg for the first time. Analysing instances of translation failure, this paper deconstructs the logic of unmediated presence as a basic principle of the trial’s translation policy, and reveals the illusory and dangerous nature of this project. It suggests substituting, for the accurately edited Nuremberg translations, a broken foreign language interpretation. Only when the actual difficulty of putting national-socialist crimes into words has found its translation into similarly fragmented and different language can the dimension of the human catastrophe of the holocaust be taken. KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 380 Karoline Münz “Bei diesem Prozeß braucht man keine Anwälte. Was hier gebraucht wird, das ist ein guter Dolmetscher.” (Hermann Göring) 1. Der Angeklagte: Übersetzen und Überleben Am 1. Oktober 1946 beendet Lordrichter Sir Geoffrey Lawrence einen Gerichtsprozess, der Geschichte machen wird: den “Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof” (IMT). Verhandelt wurde über Leben und Werk der 22 überlebenden höchsten Vertreter des nationalsozialistischen Staates. Soeben verhängte das multinationale Gericht zwölf Urteile zum Tod durch den Strang. Einer der Verurteilten ist Fritz Sauckel, von 1942 bis zum Zusammenbruch “Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz” ausländischer Zwangsarbeiter. Angesichts des Todesurteils ist er fassungslos. Binnen weniger Stunden hat Sauckel eine Erklärung für seine Verurteilung gefunden, für die er Sympathisanten zu gewinnen versucht: “Er bestürmt Friseur, Gefängnisarzt und Psychologen mit dem Hinweis, daß alles zweifellos einem Übersetzungsfehler zuzuschreiben sei. Er sei fest überzeugt, daß man den Irrtum noch entdecken und das Urteil revidieren werde” ( Heydecker/ Leeb 1979: 475). Seiner Überzeugung zum Trotz wird Sauckel in der Nacht zum 16. Oktober 1946 in der Turnhalle des Nürnberger Justizgebäudes gehängt. Diese Momentaufnahme aus dem Leben Sauckels bringt in wenigen Sätzen eines der zentralen Probleme des Nürnberger IMT-Prozesses auf den Punkt: die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung jedes während des Prozesses geschriebenen und gesprochenen Wortes. Dieser Aufsatz versucht, Funktionsweise und Bedeutung der unterschiedlichen Übersetzungstechniken da aufzuzeigen, wo sie ihren vom Gericht zugewiesenen Bereich des reibungslosen Funktionierens verlassen, ins Stocken geraten oder ganz versagen. Der technischen Vision einer Simultan-Dolmetschmaschine, die zeitnah und präzise jedes Wort in jede andere der vier Gerichtssprachen 1 transformieren soll, steht eine heterogene Gruppe von Dolmetschern gegenüber, die Angeklagten, Richtern, Anklagevertretern, Verteidigern und Zeugen ihre Stimmen leihen müssen. Angesichts der Größe ihrer Aufgabe und der Schwierigkeit des zu übersetzenden Gegenstandes können sie die in sie gesetzten Hoffnungen nur enttäuschen. Dabei ist die Bedeutung der gerichtlichen Übersetzung in Nürnberg, wie die Prozessdolmetscherin Marie-France Skuncke feststellt, “capitale, au sens propre du terme” (Skuncke 1989: www, Hervorhebung nicht im Original). Wo es für die Angeklagten, aber auch für Zeugen, Richter, Anwälte und eben Dolmetscher im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht, kommt es nicht nur auf eine ausreichende Bedienung des physischen Sprech- und des technischen Übersetzungsapparates an. Dass Sauckel eine fehlerhafte Übersetzung für seine Hinrichtung verantwortlich macht, ist nur die eine Seite des Eingriffs in das Leben eines Menschen durch eine Übersetzung, die die von Skuncke angesprochene Verantwortung von Dolmetschern und Übersetzern verdeutlicht. Vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal kommen verschiedene Lebens- und Leidensgeschichten zur Sprache, in denen Übersetzungen in einem nicht unerheblichen Maße eine lebenserhaltende oder -verkürzende Rolle spielen. Gerade in der Welt der Konzentrationslager, in denen ein Häftling in ein unvergleichlich fragiles Verhältnis von Leben und Tod gestellt wird und wo, wie sich Primo Levi (1986: 92) erinnert, der Gummiknüppel der Aufseher “der Dolmetscher” genannt wird - “der, den alle verstanden” -, fungiert die (Nicht)-Übersetzung häufig als Zünglein an der Waage. Das Unsagbare zur Sprache bringen 381 So kann der Nürnberger Zeuge Samuel Rajzman vor dem IMT nur deshalb über die Vernichtungsmaschinerie des Konzentrationslagers Treblinka Bericht erstatten, weil ihn ein alter Freund erkannt und als Dolmetscher empfohlen hat: “Ich stand schon nackt, um auf der ‘Himmelfahrtstraße’ zur Gaskammer zu gehen. Mit einem Transport waren etwa 8000 Juden aus Warschau angekommen. Im letzten Augenblick, bevor wir auf die Straße traten, hat mich der Ingenieur Galeski bemerkt, ein Freund aus Warschau, den ich schon viele Jahre kannte. Er war Aufseher über die jüdischen Arbeiter. Er sagte mir, ich solle zurückkehren, da man einen Dolmetscher aus dem Hebräischen ins Französische, Russische, Polnische und Deutsche brauche. Und auf diese Weise gelang es ihm, mich anzustellen.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 8/ S. 360) Auf das Verhältnis von Übersetzung und Überleben geht auch Walter Benjamin im Vorwort seiner Übersetzung von Gedichten des französischen Dichters Charles-Pierre Baudelaire ein. 2 Benjamin beginnt seinen Übersetzeraufsatz mit der These, dass literarische Übersetzungen nicht eine möglichst Sinn-volle Vermittlung des Originals an wirkliche oder mögliche Rezipienten zum Ziel haben dürfen, sondern das Fortleben des Originals in einer übersetzten Form. Denn Original und Übersetzung verbinde ein “Zusammenhang des Lebens” (Benjamin (19+) 1972: 10), der nicht genealogisch verstanden werden darf. Vielmehr trägt eine Übersetzung idealer Weise nach außen, was tief im Inneren des Originals verborgen angelegt ist: Sie bringt, um Benjamins Bild zu benutzen, “den Samen reiner Sprache zur Reife” (Benjamin (19+) 1972: 17). Erst seine Übersetzung lässt das Original (und damit seinen Autor) überleben - und zwar, indem sie es verändert: “[…] so ist hier erweisbar, daß keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde. Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original.” (Benjamin (19+) 1972: 12) Aus seiner veränderten Übersetzung, der der biologischen Ausdruck der Metamorphose nicht fern ist, schöpft das Original die Kraft, weiterzuleben; seine neue Form erlaubt es ihm, wie Levi formuliert, “verwandelt, mißverstanden oder vielleicht auch durch eine unverhoffte Möglichkeit der fremden Sprache verstärkt” (Levi 1986: 176) sprachliche Aspekte aufgedeckt zu sehen, die dem, was eigentlich gemeint war, möglicherweise besser entsprechen als das Original. Hier offenbart sich die Unmöglichkeit eines übersetzerischen Abbildens von Sprache. Jedes Übersetzen, auch in seiner extremen Form des simultanen Dolmetschens, muss immer mit der Selbstverständlichkeit und Selbst-Verständlichkeit einer direkten Übertragung von Sinn brechen. Der Aufsatz macht sich zum Programm, Momente dieser Differenz im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess nachzuzeichnen und dort jeweils zu verdeutlichen, was Michael Wetzel (2002: www) programmatisch die “Wendung von der Mimesis zur Mehrwert-Montage” im übersetzerischen Denken nennt. Wenn also Fritz Sauckel sein Todesurteil als Folge von Falschübersetzungen ansieht, dann folgt er genau dieser Denkfigur der übersetzerischen “Mehrwert-Montage”: Seinen vermeintlich die Anschuldigungen gegen ihn entkräftenden Aussagen ist durch und in der Prozess-Übersetzung anscheinend soviel Kriminalität hinzufügt worden, dass er, unschuldig, vom IMT unangemessen hart bestraft worden ist. Mit einer Theorie der Übersetzung als Abbild des Originals ist diese Argumentation nicht mehr vereinbar. 382 Karoline Münz 2. Das Gericht: Logik einer Übersetzungsmaschine Wer sich einen Kriminalfilm ansieht, der kann verschiedene Techniken bei der polizeilichen und gerichtlichen Aufdeckung eines Falls beobachten, die viele Gemeinsamkeiten mit dem aufweisen, was ein Übersetzer für die Übertragung eines Textes in eine andere Sprache leistet. Analog zu dieser literarischen Übersetzer-Tätigkeit kann auch die polizeiliche Ermittlung, die in ein Gerichtsverfahren mündet, als Übersetzung der vorliegenden Spuren in einen Tathergang und in den juristischen Diskurs einer Verhandlung verstanden werden. Die hierbei verwendete Technik ist die des Abbilds, das für ein vorliegendes Phänomen (z.B. eine rechtfertigende Aussage) genau die Entsprechung in einer anderen Diskursform (z.B. dem Gesetzbuch) sucht, die den Sinn des Gesagten spiegelt, ohne ihn zu verändern. Gefahndet wird nach dem fremdsprachlichen Signifikanten, der den Signifikanten in der zu übersetzenden Sprache ersetzt, ohne dabei das gemeinsame Signifikat zu beeinflussen. Für diese gerichtliche Übertragungsarbeit findet sich im französischen Sprachgebrauch eine begriffliche Entsprechung: “jemanden vor Gericht stellen” bedeutet dort “traduire quelqu’un en justice”. Cornelia Vismann (2004: 47) resümiert Selbstbild und Arbeitsweise der Rechtsprechungs-Instanz deshalb als “Übersetzungsmaschine”. Die Logik von Übersetzungsmaschinen beschreibt Günter Abel als die Annahme, “daß das Sprechen und das Verstehen einer Sprache sowie das Übersetzen […] Vorgänge sind, die als das Beherrschen eines Kalküls bzw. Algorithmus angesehen werden können” (Abel 1997: 10). Die Möglichkeit einer Übersetzung wird weder von der maschinellen Sprachübersetzung noch von der rechtlichen Übersetzung in Frage gestellt. Ihr jeweiliges Gelingen ist nur von technischen Vorgaben abhängig. Ist das “Kalkül” einmal gefunden, widerspricht nichts mehr einer erfolgreichen Übertragung von Bedeutung in die neue Sprache im Sinne eines Abbilds, das, um mit der IMT-Eidesformel zu sprechen, “die reine Wahrheit sprechen […], nichts verschweigen und nichts hinzufügen” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 4/ S. 344) will. Mit seiner Hilfe soll die eine korrekte Entsprechung aus dem Fundus der (sprachlichen und juristischen) Möglichkeiten ausgewählt und unvermittelt übertragen werden. Der Übersetzungsprozess als solcher bleibt unsichtbar. Das Selbstverständnis des IMT entspricht in allem dem einer Übersetzungsmaschine. Die Richter von Nürnberg streben nach einer strafprozessualen Übertragung der einen Wahrheit des Holocaust. Die Fülle des zu behandelnden Materials und die Vielsprachigkeit potenzieren das juristische Übersetzungsproblem des ersten internationalen Kriegsverbrechertribunals in der europäischen Geschichte. Der zugrunde liegende Logarithmus, der trotz aller Probleme den Prozesserfolg garantieren soll, ist die Dolmetschmaschine, das System des technikunterstützten Simultandolmetschens. 3 Solange das Dispositiv des “technischen und menschlichen Apparat[s]” (Nürnberger Nachrichten 1945: 26) reibungslos funktioniert, stellt niemand die generelle Möglichkeit eines Gelingens der Übersetzung in Frage; stattdessen verschiebt sich die Übersetzungszu einer rein technischen Übertragungsproblematik, die durch einen stattlichen Regelkatalog beherrschbar scheint. Bis ins letzte Detail sind die zwölf verschiedenen Übersetzungswege, die sich aus den Prozesssprachen des IMT ergeben, 4 ausgearbeitet und durchdacht, ist das Filene-Finlay-IBM-System getestet und perfektioniert worden, um auf die Schwere der Anklage und die Komplexität des zu verhandelnden Gegenstandes mit einem ebenso komplexen technischen Apparat reagieren zu können. Das Unsagbare zur Sprache bringen 383 Der Versuch einer technisierten Kontrolle des offensichtlich unüberschaubaren Prozess- Gegenstands durch das Gericht macht auch vor den Dolmetschern selbst nicht halt. Was der langjährige Chefinterpret im Auswärtigen Amt Paul-Otto Schmidt als Dolmetscher-Bild der 20er Jahre notiert, hat seine Gültigkeit für das IMT auch 25 Jahre später nicht verloren: Dolmetscher werden als “eine Art Sprachautomat angesehen, in den man auf der einen Seite etwas hineinredete, das auf der anderen Seite mechanisch in der gewünschten Sprache wieder herauskam” (Schmidt 1949: 81). Dieser Vision des Dolmetschers als letztes Rädchen in der Übersetzungsmaschine kommt beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess eine erhebliche Bedeutung zu. Analog zum technisch-maschinellen Aufwand, den das IMT betreibt, haben auch die Dolmetscher ihre spezielle Funktion, wie Vismann (2004: 54) analysiert: “Damit das Kriegsverbrechertribunal nicht an Sprachlosigkeit und Sprachverwirrung scheitert, haben Dolmetscher […] dafür zu sorgen, dass die tief greifende Unübersetzbarkeit des Holocaust gar nicht erst wahrnehmbar wird.” In der babylonischen Sprachenvielfalt der Prozessteilnehmer und -inhalte tragen die Dolmetscher die Verantwortung dafür, dass eine reibungslose Übersetzung gelingt, die gleichzeitig ihr Übersetzt-Sein verbirgt. Die Präsenz und Unvermitteltheit suggerierende Gleichzeitigkeit der simultanen Übersetzungen (die Zeitspanne zwischen Originalaussage und Beginn der gedolmetschten Version darf laut Reglement nur acht Sekunden betragen (cf. Vismann 2004: 52)), ist hierbei nur ein erster Schritt. Denn mit einem umfangreichen Regelkatalog 5 bemüht sich das Gericht auch um eine Disziplinierung der Prozessteilnehmer: Sie sollen ihre Äußerungen so gestalten, dass der dargestellte Sachverhalt direkt von den Dolmetschern begriffen und übertragen werden kann. Der gerichtliche Regelkatalog, der angesichts neu auftretender Sprachschwierigkeiten während des Prozesses laufend ergänzt wird, beinhaltet Vorgaben über das Sprechtempo im freien Vortrag genauso wie über die Art und Weise der Artikulation. Mit diesen Vorgaben zielt das Gericht auf eine Art abbildender Wortwörtlichkeit der Übersetzung: Den Dolmetschern soll in einem angemessenen Tempo und mittels des in allen Gerichtssprachen möglichen Hauptsatzaufbaus ein Wort nach dem anderen geliefert werden, für das sie dann nur noch die entsprechende Vokabel nennen müssen. Indem das Gericht seine Übersetzungstechnik so weit es geht vervollkommnet, versucht es, den unüberbrückbaren Abstand zur unübersetzbaren “Wahrheit” des Holocausts so aufzufüllen, dass dabei der ursprüngliche Mangel vergessen gemacht werden soll. Dank der menschlich-technische Übersetzungsmaschinerie hält die Übersetzungsmaschine IMT den Holocaust für re-präsentierbar, zurück in die Präsenz des Verfahrens übersetzbar und schließlich erfahrbar. Der Holocaust als die “historische Wahrheit” 6 soll - so will es das Kriegsverbrechertribunal - übersetzend aus dem vorgetragenen Beweismaterial abgebildet werden; die ausgefeilte Technik und die Sprechregeln sorgen dafür, dass der Dolmetscher als Träger dieses Übersetzungsprozesses weitestgehend unsichtbar bleibt. Der Übersetzer garantiert die unmittelbare Präsenz der Übertragung, ohne aber als Medium dieses Vermittlungsprozesses auf sich aufmerksam zu machen. Mit der unvermittelten Präsenz des gesprochenen und simultan gedolmetschten Wortes, die durch die Vielzahl der Regeln unterstützt werden soll, steht und fällt die gerichtliche Strategie des zur Sprache Bringens der nationalsozialistischen Verbrechen. 384 Karoline Münz 3. Die Anklage: über die Urkunde zur Kunde Die internationale Anklagebehörde des Nürnberger IMT-Prozesses steht in der Vorbereitungsphase des Gerichtsverfahrens vor der Herausforderung, die zwölfjährige Geschichte des nationalsozialistischen Staates aufzurollen und seine Verbrechen zu dokumentieren. Wie schwierig es allein schon ist, in der Anklageschrift die von der nationalsozialistischen Staats-, Partei- und Militärführung begangenen Verbrechen gegen die Juden korrekt zu benennen, zeigt die Tatsache, dass erst einmal ein Name für diesen neuen Typ des systematischen Massenmords gefunden werden muss, damit er überhaupt in den juristischen Diskurs zu bringen ist (cf. Internationaler Gerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 19/ S. 26). Der Neologismus Genocidium entsteht aus dem griechischen génos (Geschlecht, Sippe) und dem lateinischen Suffix -zid (von caedere = töten) als griechisch-lateinisches Doppelfremdwort und verbindlicher terminus technicus der Anklage. 7 Fast scheint es, als habe sich keine der Anklagebehörden dazu durchringen können, die sprachliche Entsprechung eines derartigen Verbrechens in den ureigenen englischen, französischen und russischen Wortschatz einzugliedern. Auch die Beweisführung der Anklage im IMT-Prozess reflektiert das Problem der Direktheit in der gerichtlichen Übersetzung. Die Ankläger beschränkt sich auf den Beweis mittels Urkunden, den so genannten Dokumentenbeweis 8 - weil dieser, so glaubt der amerikanische Chefankläger Robert Jackson, die unmittelbarste und authentischste Art ist, den Sachverhalt zu klären: Die nationalsozialistischen Verbrecher sollen “sich selbst durch ihre eigenen Dokumente anklagen” (Kempner 1983: 212). Noch schärfer formuliert diese Absicht Jacksons Landsmann Sidney Alderman in seiner Anklagerede: “Was jedoch die Vorlage der deutschen Dokumente betrifft, so möchte ich, daß die Dokumente für sich selbst sprechen” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 283). Die Präsenz der Dokumente speist sich aus der Direktheit der Befehle, Verordnungen und Reden der Angeklagten selbst. Diese Direktheit erlaubt eine Übersetzung in den juristischen Diskurs als unvermittelte Übertragung, die ihre Medialität unterdrückt. Indem sie den vorliegenden Nazi-Dokumenten die Eigenschaft zubilligen, für sich selbst sprechend zu sein, negieren beide Ankläger (stellvertretend für die gesamte Nürnberger Staatsanwaltschaft) die Notwendigkeit ihrer Vermittlung und damit ihre eigene anwaltliche Rolle als Fürsprecher - ins Fremdwort übersetzt: Dolmetscher - der Texte, auf die sich die Anklage stützt. Ähnlich wie das Gericht bei der technischen Vorbereitung der Prozesse glauben die Ankläger, dass allein eine ausreichende Quantität an schriftlichem Material genügt, um eine Übersetzung der Tatbestände in den juristischen Diskurs und in die Köpfe der Beteiligten zu bewerkstelligen. Angesichts des Ausmaßes der Naziverbrechen kann dieses Anliegen nur scheitern. Denn für den Holocaust als unvorstellbares Verbrechen muss zunächst einmal eine Sprache gefunden werden, in die und in der er übersetzbar wird. Jean-François Lyotard schließt die unsagbare Erfahrung Auschwitz und den Komplex der Judenvernichtung aus diesem Grund aus dem Kreis der im juristischen Diskurs verhandelbaren Rechtsstreite (litige) aus und macht an ihrem Beispiel die Kategorie der Widerstreite (différend) fest. Der Widerstreit gründet sich auf das Paradox des “instant du langage où quelque chose qui doit pouvoir être mis en phrases ne peut pas l’être encore” (Lyotard 1983a: 29). Weil der Holocaust eine andere Sprache als alles bisher Dagewesene spricht, muss er übersetzend für den Prozess sprechend gemacht, also zur Sprache gebracht werden, um erfahrbar zu sein und im benjaminschen Sinne “fortleben” zu können (cf. Benjamin (19+) 1972: 11f.). Das Unsagbare zur Sprache bringen 385 Die Anklagebehörde bleibt der gerichtlichen Abbildtechnik bei der Feststellung von Verbrechen verhaftet. Sie hält am groß angelegten Dokumentenbeweis fest, mit dem sie das Ziel verfolgt, die Echtheit der nationalsozialistischen Verbrechen lückenlos zu verbürgen. Insbesondere überlebende KZ-Zeugen könnten, so fürchten nicht nur die Ankläger, sondern auch viele der Prozessbeobachter, dieser Aufgabe angesichts des erlittenen Unrechts nicht gewachsen sein. Gabi Müller-Ballin (1995: www) zitiert einen Ausspruch Jacksons, der diesen problematischen Anspruch an die Beweisführung illustriert: “Wir müssen unglaubliche Ereignisse durch glaubwürdige Beweise festhalten.” Die Nürnberger Ankläger halten urkundliches Beweismaterial für glaubwürdiger als mündliche Zeugenaussagen. Untermauert wird dieser Glaube durch die akribische Dokumentation der Authentizität der Dokumente in Form von schriftlichen eidesstattlichen Versicherungen (Affidavits) von mindestens zwei Soldaten, die die Dokumente gefunden und überprüft haben. Im Nürnberger Prozess lässt sich diese Authentifizierungskette (die aus Zeitmangel nicht ins offizielle Protokoll eingegangen ist) an einer Stelle des Protokolls nachvollziehen: im Vorspann des Films, den die Amerikaner aus dem Material zusammengestellt haben, das anlässlich der Befreiung der Konzentrationslager im Westen Europas gedreht wurde. Hier erscheinen zwei schriftliche eidesstattliche Erklärungen hochrangiger amerikanischer Offiziere, die die “wahre Wiedergabe der Personen und Szenen, die photographiert wurden” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 478), bezeugen. An dieser Stelle muss die Frage gestellt werden, inwieweit das menschliche Bezeugen der Authentizität eines Dokuments eben dieser Authentifizierung dienen kann, da die Kunde des unglaubwürdigen Zeugens doch genau mittels der glaubwürdigeren Urkunde umgangen werden sollte. Das paradoxe Problem der Authentifizierungsketten macht auch Sonja Neef zum Thema ihrer Analyse der Tagebücher Anne Franks und Adolf Hitlers. Sie kommt zu dem Schluss, dass “the idea of authenticity can no longer be rooted in a single and indivisible origin, for any certificate of authenticity is as much in need of authentication as the doubted document itself” (Neef 2006: 30). Allerdings gibt es Momente, die die Agonie des dokumentengestützten Prozessablaufs durchbrechen. Dies gelingt z.B. dem stellvertretenden französischen Hauptankläger Edgar Faure, der in seiner Anklagerede die Verschleppung von jüdischen Kindern aus dem französischen Izieu vorträgt und dabei, anstatt das entsprechende Dokument selbst und unvermittelt sprechen zu lassen, die Form des Berichts zum Thema macht: “Ich glaube, daß man wohl sagen kann, wenn es noch etwas Erschütternderes und Schrecklicheres gibt als die konkrete Tatsache der Verschleppung dieser Kinder, so ist es die verwaltungsmäßige Bearbeitung dieser Sache, der dienstliche Bericht über eine Konferenz, bei der verschiedene Beamte sich darüber ruhig wie über einen normalen Vorgang ihrer Dienststellen unterhalten.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 7/ S. 54) Hier sprechen die Dokumente eine noch schrecklichere Sprache als die bloßen Tatsachen; und genau diesen Bruch, der sich in der Übersetzung des Geschehenen in den schriftlichen Bericht zeigt, hat der Ankläger erkannt. In diesen seltenen Momenten, in denen die verandernde Kraft der Übersetzungen vor Gericht zugelassen wird, übersetzt sich auch das Grauen des Holocaust, wird es für die Beteiligten in Nürnberg fühlbar, wie der Verteidiger Carl Haensel festhält: 386 Karoline Münz “Die Luft in den Arbeitsräumen ist durchzittert von der Angst und dem Schrecken, die aus diesen Dokumenten wiederaufsteigen und uns nun einbeziehen. In ihrer saugenden Stille werden die kleinen schwarzen Zeichen auf den weißen Seiten in wache Gedanken umgesetzt.” (Haensel 1950: 86) Die Übersetzung, das Zur-Sprache-Bringen der traumatisierenden Ereignisse, von den unscheinbaren “kleinen schwarzen Zeichen” der Dokumente hinein in die Köpfe der Beteiligten, ist so zumindest momenthaft möglich - eine nicht unwichtige Erkenntnis angesichts der Tatsache, dass, genauso wie das Verhältnis vom Dokument zur Wahrheit, auch das Verhältnis der Zeugen zum tatsächlich Geschehen in einem komplexen Verhältnis steht. Der Holocaust ist ein Verbrechen, das keine Zeugen hinterlässt, sondern nur Opfer: die mehreren Millionen Getöteten und die unzähligen, die traumatisiert überlebt haben, ohne das Grauen zur Sprache bringen zu können. Susanne Düwell (2004: 27) definiert den Holocaust deshalb mit Shoshana Felman als “unbezeugbares Ereignis”. Darüber hinaus stellt der Komplex Holocaust und Zeugenschaft auch ein juristisches Dilemma dar, das der Rechtstheoretiker Thomas-Michael Seibert als “rechtssemiotisches Problem” der Konzentrationslager und ihrer Tötungsmaschinerie der Gaskammern versteht: “Wenn ‘Zeuge’ jemand ist, der tatsächlich etwas mit eigenen Augen gesehen hat, wie kann es dann einen Zeugen für die Endlösung und für den Tod in der Gaskammer geben? ” (Seibert o.J.: www). Genau das ist das Ausgangsproblem von Lyotards Widerstreit und das Paradox der Gaskammern, aus der sich auch die so genannte Auschwitz-Lüge speist: “La seule preuve recevable qu’elle tuait est qu’on en est mort. Mais, si l’on est mort, l’on ne peut témoigner que c’est du fait de la chambre à gaz” (Lyotard 1983a: 22). Auch wenn für den IMT-Prozess dieser letzte Beweis für die Gaskammer-Morde nicht geliefert werden muss, ist der Holocaust für Überlebende und Prozessbeobachter gleichermaßen schwer vorstellbar, wie der amerikanische Traumaforscher Dominick LaCapra analysiert: “The Shoah was a reality that went beyond powers of both imagination and conceptualization, and victims could at times not believe what they went through or beheld. It posed problems of ‘representation’ at the time of its occurrence, and it continues to pose problems today.” (LaCapra 1994: 220) Den Überlebenden des Holocaust fehlt die Möglichkeit, zur Sprache zu bringen, was sie erlebt haben. Trotzdem wollen und müssen sie vor allem in den entsprechenden Gerichtsprozessen ihre Erfahrungen in eine mitteilbare Form bringen. Holocaust-Zeugen, die unter Lyotards Definition des Opfers fallen - “Il est d’une victime de ne pas pouvoir prouver qu’elle a subi un tort” (Lyotard 1983a: 22) - bleiben in dem Dilemma gefangen, nicht übersetzen zu können, was für sie unaussprechbar ist. Ihnen fehlt die Möglichkeit einer Diskursform, die ihnen das erneute Durchleben-Müssen der traumatischen Situation erspart. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass in einer Übersetzung mehr passieren muss als ein bloßer Abbildungsvorgang des Grauens. Vielmehr geschieht für überlebende KZ-Häftlinge der Holocaust immer wieder aufs Neue, solange der Versuch, die Erfahrung mitzuteilen, an der Sprache scheitert. Aus diesem Teufelskreis von traumatischem Erinnern und unmöglichem Bezeugen lässt sich aber auch schließen, dass der Holocaust als stummes Trauma überwindbar ist, findet sich nur eine Diskursform, in die er sich übersetzen lässt. In einer solchen kommunikationslosen Situation wäre es an den Fürsprechern, den Fragestellern und den Dolmetschern, den Zeugen vor Gericht sprechend zu machen. Von dieser Das Unsagbare zur Sprache bringen 387 Möglichkeit Gebrauch macht der Ankläger im Jerusalemer Eichmann-Prozess, Gideon Hausner, der in seinem Anspruch, Leben und Sterben in allen Konzentrationslagern Europas zu dokumentieren, auf ein polnisches Lager stößt, aus dem (bis ins Jahr der Verhandlung 1961) kein Häftling überlebt hat: “So fiel es mir zu, die Geschichte des Todeslagers Belzec zu erzählen, eines Ortes, den ich selbst nie gesehen hatte, der aber zur Begräbnisstätte meiner Onkel, Tanten, Vettern und Kindheitsfreunde geworden war” (Hausner 1967: 529f.). Der Ankläger macht sich selbst zum Zeugen der Verbrechen, derer er Eichmann anklagt. Er spricht für die Opfer von Belzec, ohne das Lager je gesehen zu haben, und wird damit zu einem ähnlichen Dolmetscher der Toten wie die KZ-Überlebenden, die für den unbezeugbaren Tod ihrer Mithäftlinge in den Gaskammern bürgen. Die hier vorgestellten Beispiele für Zeugenschaft im Angesicht des Holocaust betonen die Unvereinbarkeit von nationalsozialistischem Massenmord und der Übersetzungstechnik des sprachlichen Abbildens, wie sie die internationale Staatsanwaltschaft beim Nürnberger Prozess praktiziert. Ein eifriger Ankläger, der einen überlebenden Zeugen “verstanden” hat und das ihm zugefügte Unrecht in drei rhetorisch brillanten Sätzen synthetisiert, könnte - anstatt ihn sprechend gemacht zu haben - bei seinem Zeugen ein noch viel tieferes Schweigen verursachen und sein Leid vergrößern. 9 Vielmehr soll in der Zeugenaussage das erlittene Trauma des Holocaust zur Sprache gebracht werden, ohne den gebrochenen Ausdruck zugunsten einer zusammenhängenden Aussage zu bereinigen - denn im Nicht-Sprechen-Können offenbart sich oft viel mehr als in einem korrekten, aussagekräftigen Bericht. “The problem is not the nature of the event, nor an intrinsic limitation of representation; rather, it is the split between the living of an event and the available forms of representation which/ in which the event can be experienced” (Alphen 1999: 25f.). Der Traumaforscher Ernst van Alphen spielt hier insbesondere mit seiner Dopplung “which/ in which” darauf an, dass der bezeugende Sprechakt einen performativen Satz darstellt. Analog lässt sich aus van Alphens Analyse schließen, dass sich die traumatische Erfahrung des Holocaust in einer performativen Äußerung mitteilen kann, sobald für diese die passende Diskursform gefunden ist. Losgelöst von einem mitteilenden Subjekt entsteht im Akt des Sprechens ein Sprachausdruck, der Akt, Handlung wird. Eine solche “Form” der Übersetzung, die gleichzeitig Übersetzung als Form ist (cf. Benjamin (19+) 1972: 16), macht es möglich, einen sprachlichen oder auch nichtsprachlichen Ausdruck zu finden, durch den, aber eben auch in dem sich das traumatische Erlebnis offenbaren kann. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und auch in den meisten anderen Nazi-Folgeprozessen ist der Film die übersetzerische Form, die den Prozessbeteiligten das von den Dokumenten Ausgelassene zeigt und die gleichzeitig die grausame “Art des Meinens” (Benjamin (19+) 1972: 14) der Holocaust-Erfahrung, die belastende Sprachlosigkeit angesichts der schrecklichen Bilder, erfahrbar macht. An zwei Stellen greifen die Nürnberger Ankläger auf Filmmaterial zurück: beim Beweis der “nationalsozialistischen Verschwörung” (Anklagepunkt eins) und bei der Beweisführung zu Anklagepunkt Zwei, den “Verbrechen gegen die Juden”. 10 Obwohl keine amtlichen Urkunden über offizielle KZ-Mordbefehle gefunden worden sind und obwohl das Dilemma der Zeugen das direkte Verbürgen des Gaskammertodes unmöglich macht, besteht für alle Prozessbeteiligten - auch für Angeklagte und Verteidiger - nach Anschauen des schlicht “Nazi- Konzentrationslager” betitelten Beweisstücks 11 kein Zweifel mehr an der objektiven Wirklichkeit der Judenvernichtung (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 477). Wie diese Wirkung gelingt, deutet US-Ankläger Thomas Dodd bereits in seiner Einführung an: “Dieser Film gibt […] in kurzer und unvergeßlicher Form eine Erklärung 388 Karoline Münz führung an: “Dieser Film gibt […] in kurzer und unvergeßlicher Form eine Erklärung dessen, was das Wort ‘Konzentrationslager’ bedeutet” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 476). “Kurz” und “unvergesslich” formulieren den wohl krassesten Gegensatz zu allem, was bisher zur Beweisführung der Anklage beigetragen hat: Allein schon weil sich das Filmmaterial von der Flut der Dokumente und ihrer langatmigen Verlesung abhebt, bewirkt es eine andere Prozess-Atmosphäre. Die eigentliche “Unvergesslichkeit” des Films ruht allerdings in einer tieferen Schicht: in der Unerträglichkeit der Bilder, die gleichermaßen auf alle Anwesenden wirken. Einer der wesentlichen Gründe für das lähmende Entsetzen, das der Film auslöst, offenbart sich in Werner E. Süskinds Verhandlungsberichts, den zu beenden er sich überwinden muss, denn: “Die Feder sträubt sich, über den Film zu berichten” (Süskind 1963: 27). Aus der beschriebenen Schockwirkung und den Schwierigkeiten des Zur-Sprache-Bringens ihrer Erlebnisse lässt sich ableiten, dass die Prozessbeteiligten nach der Filmsichtung vor dem gleichen Dilemma stehen wie die Holocaust-Überlebenden, die vor dem Gericht als Zeugen zu Wort kommen. Der “Nazi-Konzentrationslager”-Film hat sie stumm gemacht. Für das Grauen, das zu erfahren sie so begierig waren, haben sie nun selber keine Übersetzung mehr. Richter, Ankläger, Verteidiger, Angeklagte und Beobachter werden somit zu Zeugen und sprachlosen Opfern des Holocaust, wie Robert André am Beispiel Süskinds analysiert: “Die Sprache funktioniert nicht einfach, sie steht nicht bequem zur Verfügung, sondern Süskind muss vielmehr nach Sprachbildern suchen - ‘die Woge oder Schneewächte gliederpuppenhaft weicher und krampfig starrer Leiber’ - welche, gerade weil diese Metaphern so verfehlt und grotesk unangemessen sind, den schockartigen Eindruck vernehmen lassen, der das eigene Selbstbild und Selbstverständnis zum Einstürzen zu bringen droht.” (André 2004: 35, Hervorhebung im Original) Genau dieselbe Erfahrung macht der österreichische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Jean Améry beim innersprachlichen Übersetzen seiner unaussprechlichen KZ-Erfahrungen in Metaphern: “Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es ‘wie ein glühendes Eisen in meiner Schulter’ oder war dieses ‘wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl’? - ein Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karrussel der Gleichnisrede.” (Améry 1966: 63) Dass alle Anwesenden im Angesicht des Films zu Opfern geworden sind, die dieselbe Sprachlosigkeit teilen, kann nur bedeuten, dass mit dem Filmdokument die Diskursform gefunden worden ist, die den Holocaust für den Nürnberger Prozess übersetz- und damit erlebbar macht. Im verfahrenen Verfahren zur Feststellung der nationalsozialistischen Massenmorde, in dem die Opfer bislang kaum zu Wort, geschweige denn zur Sprache gekommen sind, ist der Konzentrationslager-Film der Stein, der das Verstehen des erlittenen Unrechts anstößt. Der Holocaust kann sich “setzen”, wie es Lyotard fordert, “pour que le tort trouve à s’exprimer et que le plaignant cesse d’être une victime” (Lyotard 1983a: 29). Ohne gesprochen haben zu müssen, hören die Zeugen auf, sprachlose Opfer zu sein, weil das Gericht die Grauenhaftigkeit des Gaskammertodes dank des Films in ihrer ganzen Tiefe erkennt. Es ist kein Zufall, dass die Überwindung des Widerstreits ausgerechnet dem Dokumentarfilm gelingt, ist jener doch auch formal der übersetzerische Kompromiss, der den gerichtlich- Das Unsagbare zur Sprache bringen 389 juristischen Abbildungswillen genauso entspricht wie der geforderten Authentizität. Als “Film, der Begebenheiten und Verhältnisse möglichst genau, den Tatsachen entsprechend, zu schildern versucht”, wie es der Fremdwörter-Duden (2000: 351) formuliert, wirkt der Dokumentarfilm authentischer als das Beweismittel der Zeugenaussage; er gibt vor, nicht mehr übersetzt werden zu müssen, sondern objektiv aufgezeichnet zu haben und wiedergeben zu können. 12 Zusätzlich zu dem Merkmal der Authentizität bietet das Filmdokument über seine fotografierten Bilder einen Vorteil gegenüber allen anderen Dokumenten; es re-präsentiert den Referenten auf eine weitaus zugänglichere, weniger vermittelte Art und Weise als das Schriftstück. Der Film suggeriert absolute Präsenz. Im Nürnberger Prozess soll das Filmdokument Dokumentarfilm eine Wiederholung der Wahrheit leisten. Mit dem Film zielt die Anklage darauf ab, die Schockwirkung des Holocaust entstehen, oder besser sich performativ, als Äußerung mit Handlungscharakter, herstellen zu lassen - der Film “Nazi-Konzentrationslager” soll nicht die Vernichtung der Juden zeigen, sondern sie ein zweites Mal vollziehen. Uwe Wirth sieht genau hierin die kommunikative Kraft der performativen Sprechakte: “Im Gegensatz zur ‘konstativen Beschreibung’ von Zuständen, die entweder wahr oder falsch ist, verändern ‘performative Äußerungen’ durch den Akt des Äußerns Zustände in der sozialen Welt, das heißt, sie beschreiben keine Tatsachen, sondern sie schaffen soziale Tatsachen.” (Wirth 2002: www) Der KZ-Film soll den Holocaust im Nürnberger Gerichtssaal herstellen. Dass diese Performativität nicht in einem krassen Gegensatz zur “technischen Reproduzierbarkeit” des Mediums Film steht, der Benjamin (1935: 19f.) genau den auratischen Charakter des Hier und Jetzt abgesprochen hat, verargumentiert Jacques Derrida mit einer Umkehrung des Verhältnisses von Performativät und Iterabilität, das John L. Austin in How to do things with words vorstellt. Schließt Austin (1962: 44f.) aus seiner Sprechakttheorie iterierbare performative Äußerungen wie z.B. ein gegebenes Versprechen im Rahmen einer Theateraufführung als parasitär aus, ist für Derrida die Iterabilität gerade die Bedingung für den Zeichencharakter des Zeichens: “un énoncé performatif serait-il possible si une doublure citationnelle ne venait scinder, dissocier d’avec elle-même la singularité pure de l’événement? ” (Derrida 1971a: 388). Das Zeichen bestätigt sich nicht in seiner Wiederholung, so Derrida, sondern verändert sich in der Singularität des Ereignisses. Iterabilität bei Derrida meint differente Wiederholung mit einem Bruch. Es entsteht das Paradox einer iterablen Singularität oder singulären Iterabilität. Diese derridasche Begriffsverschiebung rückt auch die Verhältnisse im Nürnberger Schwurgerichtssaal 600 wieder ins Gleichgewicht. Wenn, wie Derrida (1971b: 151) sagt, sich auch “in der performativen Äußerung, der ‘ereignishaftesten’ aller Äußerungsarten” eine Differenz manifestiert, dann wiederholt sich der Holocaust nicht vor dem IMT-Prozess, auch wenn die Anklage genau diese Wirkung beabsichtigt haben mag. Selbst der “Nazi- Konzentrationslager”-Film kann den Holocaust nicht präsentieren im Sinne von präsent machen, er kann ihn nur repräsentieren. Was der Dokumentarfilm im Gerichtssaal herstellt, ist nicht die historische Wahrheit der Holocaust-Erfahrung, nach der das IMT-Verfahren so lange schon sucht: Kein Jude, kein politischer Häftling wird im Gerichtssaal gefoltert oder ermordet. Trotzdem soll der KZ-Film ähnlich wie die Begehung eines Tatorts das Verbrechen durch die räumliche Nähe rekonstruieren - der Ort wird dadurch aber nicht derselbe wie im Moment der Tat. Auch die Wiederholung aller Tatumstände und die menschliche Präsenz am Tatort kann kein Verbrechen wieder entstehen lassen. Bei den im Kriegsverbrecherprozess gezeigten KZ- 390 Karoline Münz Filmen erhält dieser Aufschub von Authentizität noch eine weitere Dimension: Keiner der Filme zeigt tatsächlich den Mord an den Juden - zum Zeitpunkt der Aufnahmen ist der Holocaust bereits Geschichte. Die Beteuerung der vermeintlichen Unvermitteltheit des Anklagematerials lässt sich am Beweisstück des Dokumentarfilms am besten erläutern: Als direktes “Abbild” des Holocaust, behauptet der Film, keine Übersetzung, sondern eine Wiederholung des Konzentrationslagergrauens zu sein. Die durchschlagende Wirkung des Films gibt der Anklagetaktik Recht; aber auch die Filmbilder können den Holocaust nicht präsent, performativ machen. 4. Die Verteidigung: zur Übersetzung der nationalsozialistischen Sprachkorruption Die zentrale Frage, mit der sich die Verteidiger der angeklagten Gruppen und Einzelpersonen während des IMT-Prozesses konfrontiert sahen, fasst Haensel wie folgt zusammen: “Wie kann man dem Gericht klar machen, daß in den 12 Hitler-Jahren, die hinter uns liegen, das Wort einen anderen Sinn hatte, als vorher und heute vielleicht wieder? Die meisten Briefe und Berichte waren damals auf eine Art von Löschpapier geschrieben; die Tinte zerfloß zu verwaschenen Lettern, die anders aussahen, als man sie schrieb, wieder anders, wenn man sie las, und die dann schließlich noch ganz andres verstanden, ausgelegt und weitergegeben wurden.” (Haensel 1950: 201) Wo auf die Referenz der sprachlichen Zeichen kein Verlass mehr ist, da ist eine Verteidigungsarbeit, die auf nichts anderem als Dokumenten und Zeugenaussagen aufgebaut ist, enorm schwierig. Der kommunikative Aspekt von Sprache wird hier bewusst pervertiert, ohne dass die Mehrheit der Bürger (und auch längst nicht alle ihre Opfer) dieser Sprachpolitik gewahr werden. Nur Eingeweihte verstehen den Code und die dahinter steckende Botschaft. Im Falle der Nazi-Sprache ist die metaphorische Sinnverschiebung allerdings nicht Mittel zum Zweck der Veranschaulichung der Sprache, sondern genau zu deren Gegenteil. In der nationalsozialistischen Metaphorik beruht die Bedeutungsübertragung (z.B. von “töten” auf “liquidieren” 13 ) nicht auf einem konventionalisierten Verhältnis der Ähnlichkeit, sondern auf einem zumeist willkürlichen Akt der Neubennenung, der nur für Eingeweihte den Begriff als übersetzte und übersetzende Metapher kenntlich macht. Der Prozess der Neubenennung spielt in der Sprach- und Übersetzungstheorie Walter Benjamins eine wichtige Rolle. In der “heiligen Einsprache” des Paradieses garantiert der Akt der Namensgebung der gottgeschaffenen Dinge durch den gottgeschaffenen Menschen Adam die Einheit der Sprache und ihrer Referenten: “Durch das Wort ist der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden” (Benjamin 1916: 41). Diese absolute Identität von Sprache und Ding, von Bezeichnendem und Bezeichnetem im göttlichen Wort, wird mit der Vertreibung aus dem Paradies aufgehoben: “Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte […]. Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes” (Benjamin (19+) 1972: 14). Zwischen dem “Gemeinten” und der “Art des Meinens” tut sich ein Abgrund auf, der menschlichen Willkür ist es überlassen, einen Namen für jedes Ding zu erfinden und ihm somit eine vermittelnde Bedeutung zu geben. 14 Die nationalsozialistische Propaganda bricht das Verhältnis von Gemeintem und Art des Meinens weiter auf, indem sie in ihrer Sprache Neu- oder Umbenennun- Das Unsagbare zur Sprache bringen 391 gen vornimmt, die eine weitere Abstraktionsstufe zwischen den Namen und das Ding schieben: Das Wort soll nicht nur “etwas mitteilen (außer sich selbst)”, sondern etwas anderes mitteilen als sich selbst. 15 In der NS-Vernichtungspropaganda verweist der Name auf einen unbestimmten Referenten, der mit der eigentlich gemeinten Grausamkeit nichts zu tun hat. Gerschom Scholem scheint die nationalsozialistische Verquickung von Namensgebung und Manipulation bereits 1924 in seinem Unveröffentlichten Brief an Franz Rosenzweig vorausahnend zu thematisieren: “Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ist ihr Abgrund versiegelt” (Scholem zitiert nach Derrida 1996: 97). Im Akt der Namensgebung steckt die Macht, die kommunikative “Bedeutung” des durch die und in der Sprache bezeichneten Objektes zu verändern und zu vernichten. An keinem Beispiel wird diese “Versiegelung des Sprach-Abgrundes” besser deutlich als bei den so genannten Einsatzgruppen, die an vielen Stellen des IMT-Prozesses zur Sprache kommen und deren Mitgliedern später einer der zwölf amerikanischen Nachfolgeprozesse gewidmet ist. “Das Wort ‘Einsatzgruppe’ ist bürokratischer Jargon, eigens dazu erfunden, die Aufgaben dieser Einheiten zu verdecken”, bringt Henry A. Lea (2004: 70) die nationalsozialistische Sprachtaktik auf den Punkt. Die hauptsächlich aus SS-Freiwilligen bestehenden vier Einsatzgruppen gründen sich nach Beginn des Russland-Feldzuges 1941, um in den eroberten Ostgebieten die jüdische Bevölkerung zu ermorden. Für den internen und externen Schriftverkehr und Sprachgebrauch werden zahlreiche Begriffe erfunden oder ihrer ursprünglichen Bedeutung enthoben, um die Mordbefehle zu tarnen. Hannah Arendt deckt in ihrer Analyse der Banalität des Bösen diese “Sondercodierungen” (Seibert o.J: www) der Einsatzgruppen auf, die z.B. anstelle von “Befohlene Banden ermorden Juden” den Satz “Einsatzgruppen machen Gebiete judenrein” (Arendt 1963: 95) setzt. Dass dieser Ge- oder Missbrauch von heute berüchtigten Begriffen wie “Regulierung” oder “Liquidation” tatsächlich nicht den Zweck verfolgt, im benjaminischen Sinne auf die gemeinte Sache zurückzuverweisen, veranschaulicht allein schon die Tatsache, dass diese Termini aus dem Sprachgebrauch der Dritten Reichs verschwanden, hatten sich Gerüchte über ihre eigentliche Bedeutung verdichtet. So bemerken Karl-Heinz Brackmann und Renate Birkenhauer, dass der Neologismus Sonderbehandlung “durch seine dauernde Verwendung schließlich so bekannt [wurde, K.M.], daß neue Sprachreglungen angeordnet werden mußten, z.B. ‘durchgeschleust’” (Brackmann/ Birkenhauer 1988: 147). Wenn ein Wort aus dem Verkehr gezogen werden muss, weil seine Bedeutung klar geworden ist, so lässt dies eindeutige Rückschlüsse auf den eigentlichen Gebrauch dieses Wortes und die allgemeine Funktion von Sprache im Nationalsozialismus zu. Zwei Grundtendenzen lassen sich feststellen: Zum einen gelingt es der nationalsozialistischen Propaganda, mit der einfachen Ersetzung des gängigen Ausdrucks durch Fremdworte die eigentliche Bedeutung mancher Schlag-Worte zu verhehlen, zum anderen funktioniert die sprachliche Verschleierung mittels Neologismen, Wort- und Satzhülsen, deren Referenz im Dunklen bleibt. In beiden Fällen ist eine Übersetzung - zumal nach den strikten, auf Unmittelbarkeit abzielen Vorgaben des IMT - äußerst kompliziert. Hier ist nicht schwer zu verstehen, warum Vismann über Süskind stellvertretend für alle Prozessbeobachter festhält: “Süskind kommt zu dem Schluss, dass die Bürokratensprache der Nationalsozialisten unübersetzbar ist” (Vismann 2004: 63). Die Unmöglichkeit der Übersetzung zu bekämpfen, die Sprache der Nationalsozialisten korrekt und gleichzeitig nicht falsch zu übersetzen, ist eine der großen Herausforderungen des IMT-Prozesses - und ihr Paradox. Für die Wort- und Satzhülsen der 392 Karoline Münz Nationalsozialisten müssen in den anderen Prozesssprachen Entsprechungen gefunden werden, die gleichzeitig den Wortausdruck und die Bedeutung des Begriffs treffen; viele der Nürnberger Prozessteilnehmer halten das nicht nur bei Ausdrücken wie “Nacht-und-Nebel-Aktion” oder “der Endlösung zuführen” für ein nahezu unmögliches Unterfangen. Wie der Bürokratenjargon des NS-Regimes zu analysieren ist, fasst der amerikanische Hauptankläger Jackson zusammen: “In dem Lexikon der Nazis von zynischen Euphemismen bedeutete der Ausdruck ‘Endlösung der Judenfrage’ die Ausrottung, ‘Sonderbehandlung’ von Kriegsgefangenen bedeutete Tötung, ‘Schutzhaft’ war gleichbedeutend mit Konzentrationslager, ‘Arbeitsdienstpflicht’ bedeutete Sklavenarbeit, und ein Befehl, eine ‘feste Haltung einzunehmen’ oder ‘positive Maßnahmen zu ergreifen’ hieß, mit zügelloser Grausamkeit vorzugehen. Bevor wir ihre Worte als das gelten lassen, was sie auf den ersten Eindruck zu sein scheinen, müssen wir immer erst nach ihrer verborgenen Bedeutung suchen.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 19/ S. 478f.) Dem ersten Eindruck eines Begriffs oder einer Parole aus dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch muss stets misstraut werden, da dessen “zynische Euphemismen” wie “Sonderbehandlung” oder “Schutzhaft” in den allermeisten Fällen den Zweck verfolgen, zu verhüllen, worauf sie eigentlich verweisen. Was Jacksons Kollege Sidney Alderman als sprachtaktischen “double talk” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 468) zusammenfasst, lässt sich heute mit double bind verstehen - der aus der Psychoanalyse entlehnte Begriff thematisiert noch stärker die Diskrepanz zwischen dem Gesagten und der (körperlichen, hier aber auch politischen) Haltung, die die nationalsozialistische Sprache kennzeichnet. Sie meint etwas anderes, als sie sagt. Die Verweiskette zwischen Bezeichnung und Bedeutung hat die nationalsozialistische Sprachpolitik zu einer Festung ausgebaut. Die augenscheinliche Bedeutung eines Begriffs übersetzend zu durchschauen, zu verstehen, was hinter dem Begriff steckt, worauf er eigentlich verweist, verlangt daher viel Einsatz und tendiert je nach Geheimhaltungsstufe ins Unmögliche. Die Taktik dieser, wie Süskind sie bezeichnet, “propagandistische[n] Nazifassade” (Süskind 1963: 40) lässt sich analog zur “Mauer vor der Sprache” verstehen, mit der Benjamin ((19+) 1972: 18) in seinem Übersetzeraufsatz arbeitet. Die vermittelnden Übersetzungen errichten in der Unvollkommenheit der nachparadiesischen Sprachen eine zusätzliche Sprach- Mauer, die den Blick auf die reine Sprache verstellt. Diese Mauer einzureißen, ist für Benjamin Auftrag der idealen, nicht vermittelnden Übersetzung: “Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur umso voller auf das Original fallen” (Benjamin (19+) 1972: 18). Vor das Strahlen der reinen Sprache schiebt sich die Bedeutung der Sinn vermittelnden Übersetzung. Werden diese Sprachreglungen wörtlich, à la lettre, genommen, können sich nationalsozialistische Schreibtischtäter wie Sauckel als Befehlsübersetzer auf ihre “Buchstabenkompetenz” (Süskind 1963: 43) berufen und sich dadurch entschuldigen, wie folgender Protokoll-Auszug aus der Vernehmung Sauckels durch seinen Verteidiger belegt: “D R . S ERVATIUS : Über die Durchführung des Zwanges liegen ja nun eine Reihe von Berichten vor, die Sie ja hier auch gehört haben, die Methoden dartun, die ja wohl von jedem unbedingt abzulehnen sind. Sie haben gehört vom Abbrennen von Dörfern, Erschießen von Menschen. Wie stellen Sie sich generell dazu? Das Unsagbare zur Sprache bringen 393 S AUCKEL : Alle diese Methoden widersprechen eindeutig den Anordnungen und Weisungen, die ich gegeben habe und die ja aus der damaligen Zeit zahlreich hier vorliegen und auf die ich mich berufen muß. Es handelt sich hier um Methoden, die ich, wenn ich davon auch nur andeutungsweise erfahren habe, schärfstens bekämpft habe. D R . S ERVATIUS : Wer trägt denn die unmittelbare Verantwortung für solche Vorfälle? S AUCKEL : Für solche Vorfälle tragen die Verantwortung die örtlichen Stellen, die das ausgeführt haben.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 15/ S. 17) Sauckel pocht darauf, dass er in seinem “Verordnungs-Sprachgebrauch” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 15/ S. 57) nie von Brandstiftung und Erschießung gesprochen hat, sondern nur davon, “daß diese Arbeitskräfte unter allen Umständen nach Deutschland gebracht werden müssen, und daß man rücksichtslos vorgehen müsse” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 15/ S. 19). Hätten seine Untergebenen die gleiche Buchstabentreue besessen wie er, wäre kein Arbeiter getötet worden - da muss, so Sauckels Argumentation, irgendetwas mit der Übersetzung seiner Anordnungen an die “örtlichen Stellen” nicht funktioniert haben. Hier wird deutlich, dass eine so gedolmetschte Übersetzung der Dokumente sowie der Aussagen Sauckels trotz aller formalen Vorgaben des Gerichts einer Aufarbeitung der Naziverbrechen nicht dienlich ist: Die Sprache des dritten Reichs, die sich für den Preis der Wahrheit die trügerische Sicherheit in der Harmlosigkeit der Kommunikation erkauft, hat ihre Begriffe so korrumpiert, dass sie für eine wortwörtliche Übersetzung ungeeignet sind. Indem die Nazisprache die semiotische Verweiskette von Kommunikation aufreißt, ihre Sprache auf etwas anderes verweisen lässt als auf die Wirklichkeit, führen Übersetzungen der reinen Referenten zu nichts als einer Übertragung des Verständnisproblems in die jeweilige Zielsprache. Eine rein zwischensprachliche Übersetzung, wie die Dolmetscher sie zu leisten beauftragt sind, ist daher unmöglich. Stattdessen muss erst einmal in einer innersprachlichen Übersetzung das Gemeinte, der eigentliche Referent der Begriffe rekonstruiert werden, bevor dann dieses Ergebnis fremdsprachlich übersetzt werden kann. Das “uneigentliche Sprechen” als quasi-metaphorische Redeweise braucht eine Übersetzung zurück in die eigentliche, bedeutende Sprache 16 . In dieser Übersetzungsleistung zeichnen sich beim Nürnberger Prozess vor allem die britischen und russischen Anklagevertreter aus, die in ihren Kreuzverhören die wenigsten Nazi- Ausdrücke unkommentiert zum Dolmetschen freigeben, sondern ständig nach der Bedeutung der von Süskind (1963: 39) “begriffliches Gummielastikum” getauften Worthülsen der Kriegsverbrecher fragen. So kommt im Kreuzverhör Wilhelm Keitels, Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, durch den sowjetischen Hauptankläger R.A. Rudenko die Notwendigkeit des ständigen innersprachlichen Übersetzens der “Tätersprache” (André 2004: 44) zum Vorschein: “Was meinen Sie, wenn Sie von ‘Regulierung’ sprechen, denn wir kennen so viele Ausdrücke in der deutschen Armee: ‘Regulierung’, ‘Spezialbehandlung’, ‘Exekution’, all das in eine direkte Sprache übersetzt heißt Ermordung.” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 10/ S. 689) Ankläger und Richter überarbeiten den nationalsozialistischen “Fachjargon der Gewalttätigkeit” (Hausner 1966: 532), um zu einer Sprache zu kommen, der die Qualität der “Übersetzbarkeit” (Benjamin (19+) 1972: 9) sowohl im Hinblick auf andere Sprachen als auch im Hinblick auf ihre Übersetzung in Straftatbestände innewohnt. Nach der nicht selbstverständlichen Referenz der Worte muss gefragt werden - nach dem, was gemeint ist, gerade 394 Karoline Münz ohne dass es gesagt wird. Auch Sauckel wird so mitsamt seiner pseudomilden Manifeste entlarvt. Zur viel beschworenen Freiwilligkeit des Arbeitseinsatzes fasst der amerikanische Richter Francis Biddle lakonisch zusammen: “Das heißt mit anderen Worten, man konnte zwischen einer Zwangsarbeit in einer Fabrik in Frankreich oder in Deutschland wählen; in diesem Sinne war es freiwillig” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 15/ S. 223f.). Nur so ist die nationalsozialistische Sprachpolitik aufzubrechen. Die Übersetzungsschwierigkeiten, die alle Prozessbeteiligten und nicht zuletzt die Dolmetscher mit dem Propaganda- und Bürokratendeutsch der Angeklagten und Nazi-Zeugen haben, bleiben von den Verteidigern nicht unbemerkt. Angesichts der Masse und der Schwere der von Dokumenten und Zeugen unbestreitbar vorgebrachten Tatsachen sehen die Anwälte der Angeklagten in einem Infragestellen der Übersetzungen die einzige Chance, das vorgebrachte Material zu entkräften. Insbesondere Sauckels Verteidiger Servatius, den der amerikanische Ankläger Telford Taylor respektvoll einen “Rechts- und Sprachgelehrten” (Taylor 1992: 561) nennt, weil er als einziger im Gerichtssaal alle vier Prozesssprachen beherrscht, verfolgt diese Taktik. Sie beruht einerseits auf dem ständigen Zur-Sprache-Bringen sämtlicher mutmaßlicher Übersetzungsfehler in Affidavits, Dokumenten und sogar nachträglich im Verhandlungsprotokoll und andererseits auf der eigenen bewussten Missdeutung der vor allem in der Anklageschrift vorgebrachten Anschuldigungen. Hauptziel aller Verteidiger ist, die Ankläger zu einem Verzicht auf belastendes Beweismaterial zu zwingen. So streiten Sauckel und der Mitangeklagte Hans Fritzsche die als Beweisstücke eingereichten Protokolle ihrer Vorverhöre ab, da diese nach ihrer Aussage in englischer bzw. russischer Sprache schriftlich festgehalten wurden und somit nicht mehr im deutschen Original vorliegen. Fritzsche fasst dieses Problem mit den Worten “dieses Protokoll enthält nicht meine Sprache” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 17/ S. 224) prägnant zusammen. Auch Servatius begründet seinen Einspruch gegen die Verhörprotokolle seines Mandanten mit der Veränderung, die die Aussagen durch die und in der Übersetzung erfahren haben könnten; schließlich seien es “nicht die eigentlichen Niederschriften seiner bei der Vernehmung gesprochenen Worte […], da er in Deutsch vernommen worden sei” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 3/ S. 549). Hier stellt sich erneut das gerichtliche Verständnis einer abbildenden Übersetzung, die das Original nicht verändert und somit authentisch bleibt, gegen die benjaminische Auffassung einer Übersetzung als “verändernden qua ‘verandernden’” (Wetzel 2003: 148) Instanz. Einen Höhepunkt der taktischen Thematisierung der Übersetzungsproblematik erleben die Prozess-Teilnehmer mit Servatius’ Plädoyer für Sauckel, an dessen Beginn er, wie sein Kollege Viktor von der Lippe (1951: 388) beobachtet, “eine interessante sprachliche Abhandlung über die Terminologie des Statuts hinsichtlich der Begriffe Sklavenarbeit und Deportation” gestellt hat. Servatius argumentiert, dass die Anklageschrift in allen drei Sprachen der Ankläger unterschiedliche Übersetzungen des Begriffs Zwangsarbeit benutzt; was Sauckel zum Vorwurf gemacht werde, sei einerseits die unter Anklagepunkt vier (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) vermerkte Sklavenarbeit, die in den fremdsprachigen Anklage-Varianten mit “enslavement” und “réduction en eclavage” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 18./ S. 51) betitelt sei. 17 Diesem Komplex gegenüber stünden allerdings die unter Anklagepunkt drei (Kriegsverbrechen) fallenden “nicht humanitätswidrigen Maßnahmen” (Lippe 1951: 389) wie “slave labor” oder “travaux forcés”, die sich mit dem Begriff der “Zwangsarbeit” übersetzen ließen und nach Kriegsrecht beurteilt werden müssten. Sauckel bestreite, für Das Unsagbare zur Sprache bringen 395 eine “humanitätswidrige Arbeit, also Versklavung” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 18./ S. 512) verantwortlich zu sein, gebe den Tatbestand der Zwangsarbeit aber zu. Da in der Haager Landkriegsordnung als Kodex des Kriegsrechts nicht expliziert von Zwangsarbeit als Kriegsverbrechen die Rede sei, griffe der nulla poena sine lege-Grundsatz, und Sauckel könne nicht schuldig gesprochen werden. Hier wird mehr als deutlich, wie bewusst gerade dem sprachlich so kompetenten Servatius das Problem der Übersetzungen im Prozess ist und wie fragil das Verhältnis von Übersetzung und Wahrheit in Nürnberg erscheint. Die mehrfach geprüfte und für gut befundene Anklageschrift des IMT wird in ihrer Rückübersetzung durch den deutschen Verteidiger ihrer Anklage enthoben: Statt eines Todesurteils kann aus ihrem Wortlaut jetzt nur ein Freispruch gefolgert werden. Es offenbart sich die sprachverändernde Wirkung von Übersetzungen, die zwischen Höchststrafe und Entlassung das Zünglein an der Waage des Gerichts bilden. 5. Die Dolmetscher: eine unendliche Aufgabe Obwohl sie das vielleicht wichtigste Rädchen in der Übersetzungsmaschine des IMT darstellen, wird der Beitrag der Dolmetscher zu den Kriegsverbrecherprozessen erst seit kurzer Zeit reflektiert. 18 Dass sie fast 50 Jahre vergessen wurden, liegt wohl daran, dass das Gericht von Nürnberg Manifestationen ihrer Anwesenheit während der Prozesse weitestgehend unterbindet, um die unvermittelte Re-Präsentation der vorgetragenen Beweise zu betonen. Weil Richter und Ankläger den Übersetzungsprozess als reines Abbilden verstehen, kommt den Dolmetschern nur die Rolle des Mittlers zu. Ihnen ist nicht erlaubt, sich in irgendeiner Form in den Gerichtsprozess einzubringen; entsprechend der Vision des Gerichtes ist ihre Hauptfunktion in der Verhandlung, ihre eigene Rolle vergessen zu machen. Dies entspricht genau der zentralen Eigenschaft, die Schmidt einem guten Dolmetscher zuschreibt: “Er muß in allererster Linie, so paradox es auch klingen mag, schweigen können” (Schmidt 1949: 19). Im krassen Gegensatz zur der kaum dokumentierten Herkunft und Rekrutierung der Nürnberger Prozessdolmetscher stehen Berichte über ihre Arbeitsweise und ihren Tagesablauf - beides vom Gericht stark reglementierte Bereiche, über die schriftliche Referenzen vorliegen. Als direkte Prozessdolmetscher beschäftigt sind drei Teams mit jeweils zwölf Übersetzern. An einem Verhandlungstag arbeiten zwei Teams im Wechsel von etwa 90-minütigem Kabinendienst im Schwurgerichtssaal und 90-minütigem Standby in einem der Nachbarräume, von dem aus die Verhandlung verfolgt werden kann (cf. Skuncke 1989: www). Das dritte Team hat den Tag frei. Während die Stenografen alle 25 Minuten fliegend wechseln, können die Dolmetscher nur in den Verhandlungspausen ausgetauscht werden (cf. Poltorak 1965: 22). Eine der pointiertesten Charakterisierungen des Dolmetschers findet sich bei Derrida - allerdings in einem Abschnitt über den Schauspieler: “le comédien naît de la scission entre le représentant et le représenté. Comme le signifiant alphabétique, comme la lettre, le comédien lui-même n’est inspiré, animé par aucune langue particulière. Il ne signifie rien. Il vit à peine, il prête sa voix. C’est un porte-parole.” (Derrida 1967a: 430) Genauso versteht das Nürnberger Gericht den Verhandlungs-Dolmetscher: als Überbrücker des Zwischenraums zwischen dem Dargestellten (beim IMT-Prozess z.B. der Beweisführung gegen Sauckel) und dem Darsteller (z.B. dem amerikanischen Ankläger Jackson). Seine Exis- 396 Karoline Münz tenz bleibt dabei auf das schlichte stimmliche Übertragen von Sinn beschränkt, auf das Sprechen an der Stelle eines Anderen. Die deutsche Übersetzung dieser Passage Derridas bringt die Nähe des Schauspielers zum Dolmetscher noch stärker zum Ausdruck, indem sie den porteparole in seinem Doppelsinn betont: “Träger der Rede, Fürsprecher” (Derrida 1967b: 523, Hervorhebung nicht im Original). Durch die Dolmetscher sprechen Angeklagte, Richter, Ankläger und Verteidiger in Nürnberg und bleiben dabei trotzdem Angeklagte, Richter, Ankläger und Verteidiger. Dem Wiedergegebenen soll, so das gerichtliche Credo, der Dolmetscher nichts Persönliches hinzufügen, genauso wenig wie er den Ausdruck der Rede verändern oder Passagen weglassen darf. Festgeschrieben ist diese Philosophie in einem Teil des IMT- Regelkatalogs. Ein eigens für sie geschaffener Eid verpflichtet die Dolmetscher, alle Äußerungen vor Gericht “wahrheitsgemäß und nach […] bestem Wissen” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 17/ S. 363) wiederzugeben, was anscheinend auch die absolute Zurückhaltung aller individuellen Impulse einschließt. Für alle offiziellen Gerichtsdokumente bleibt das Gros der Dolmetscher anonym. Sollte während der Verhandlung einer der deutschen Dolmetscher ein deutsches Originaldokument verlesen, damit seine Kollegen es simultan in alle Gerichtssprachen einbringen, so erscheint, obwohl er der “Sprecher” des Dokuments ist, im Protokoll nicht sein Name, sondern seine Funktion: “Dolmetscher”. 19 Im Nürnberger Prozess ist er also nicht nur Darsteller der auftretenden Personen, sondern auch der auftretenden Dokumente. Insgesamt macht die geringe Zahl an (personalisierten) Protokollbeiträgen der Dolmetscher deutlich, dass dem Gericht nicht daran gelegen ist, neben eigentlichen Personen im Kriegsverbrecherprozess parasitäre, weil “unbeseelte” Redner in den offiziellen Verhandlungsmitschriften sprechen zu lassen. Emblematisch für dieses Bemühen ist das Phänomen der bunten Glühbirnen, mit denen die Dolmetscher auf den jeweils Sprechenden einwirken können. Sie verdienen eine kurze Analyse. Die Funktionsweise des Lampensystems im Nürnberger Gerichtssaal ist denkbar einfach: Kommt ein Dolmetscher beim Erfassen und Wiedergeben der zu übersetzenden Aussage nicht mehr hinterher, gibt er dem kontrollierenden Beamten ein Zeichen. Dieser aktiviert je nach Problemlage eine der beiden Birnen, die gut sichtbar auf der Richterbank (und später im Zeugenstand und auf dem Pult der Anwälte) platziert sind: ein blinkendes gelbes Licht steht dabei für “langsam sprechen”, ein rot blinkendes Licht bedeutet aufhören - “stop proceeding” - und warten, bis der Dolmetscher wieder auf gleicher Satzhöhe ist oder zum Wiederholen auffordert (cf. Lea 2004: 69; Poltorak 1965: 35). Genau so einfach nachzuvollziehen ist der Sinn dieses Warnsystems: Es soll den Dolmetschern die Möglichkeit geben, sprachliche Schwierigkeiten zu signalisieren, ohne dabei den ihnen zugewiesenen Bereich zu verlassen. Den Prozessdolmetschern steht kein eigener Diskurs zu, weswegen sie einen Zeugen oder gar einen der Richter nicht laut zum Langsamsprechen auffordern dürfen, sondern stattdessen dem diensthabenden Offizier eins der beiden in jeder Kabine ausliegenden Schilder “SLOW” oder “STOP” (cf. D’Addario/ Kastner 1994: 146) entgegenhalten müssen, woraufhin der Sprachoffizier, der als Relais zwischen den beiden in sich abgeschlossenen Bereichen von Dolmetschern und Gericht verstanden werden kann, das entsprechende Lämpchen auslöst. Das Lampensystem ist das wohl stärkste Symbol für die bis ins kleinste Detail hinein reichende Politik der Unsichtbarmachung des Dolmetschers, die das Gericht betreibt, um den Übersetzungsprozess möglichst unvermittelt wirken zu lassen. Und es deckt auch die Absurdität dieser Bemühungen auf: So gibt sich der Entlastungszeuge für Hans Fritzsche, Moritz von Schirmeister, in seiner Vernehmung die allergrößte Mühe, allen Anweisungen des Gerichtes Das Unsagbare zur Sprache bringen 397 Folge zu leisten und seine Rede frei von syntaktischen und semantischen Dolmetscher-Fallen zu gestalten. Ihm gelingt das Kunststück, keine der Birnen zum Leuchten zu bringen - zum Preis der absoluten Lächerlichkeit, wie von der Lippe notiert: “Fortsetzung der Vernehmung des Fritzsche-Zeugen Schirmeister, der ebenso wie gestern belustigend wirkt, da er die Übersetzungsarbeit des Dolmetschers scharf überwacht und seine kurz abgehackten Sätze mit zu den Dolmetschern gewandtem Gesicht spricht” (Lippe 1951: 350). Die Vorgaben des Gerichtes nicht nur wörtlich, sondern buchstäblich umsetzend, produziert Schirmeister eine allgemein erheiternde Einlage, die dem Fortschreiten des Prozessgeschehens wenig dienlich ist, weil sie den unverhältnismäßigen Aufwand, den das Gericht zur Unsichtbarmachung des Übersetzungsprozesses treibt, viel stärker betont als das kommunikative Ergebnis der Aussage. An Stelle der gewünschten Unmittelbarkeit der fremdsprachlichen Übertragung wird die zwischengeschaltete Instanz der Dolmetscher und damit die Mittelbarkeit der Übersetzung deutlich. Neben diesen rein sprachlichen Schwierigkeiten, die immer eine gebrochene Übersetzung der Reden vor Gericht verursachen können, macht auch das technische Dispositiv der Dolmetschanlage das übersetzerische Eingreifen der Dolmetscher sichtbar. Weil die Technik der Kopfhörer den Hörsinn von seiner ständigen Aufnahmepflicht - der er sich im Vergleich zum Sehsinn nicht entziehen kann - befreit, ist es mittels der Kopfhörer plötzlich möglich, während der Verhandlung genauso wegzuhören, wie man sonst nur wegsehen kann. Da im Gerichtssaal wegen der Mikrofone leise gesprochen wird, können sich die Angeklagten aus einer Anklagerede oder einer Zeugenaussage, die ihnen nicht gefällt, ausklinken, wie Rebecca West am Beispiel des so genannten “Reichsjugendführers” Baldur von Schirachs illustriert: “Der feminine Schirach machte eine rührende Geste. Er lauschte aufmerksam, was Sir Hartley über seine Handlungen als Reichsjugendführer zu sagen hatte, und als er hörte, wie dieser von seiner Verantwortung für die Deportationen von vierzigtausend sowjetischen Kindern sprach, hob er seine zarte Hand, nahm den halbringförmigen Kopfhörer ab und legte ihn in aller Ruhe vor sich auf die hölzerne Ablage.” (West 1946: 40) Hier wird die groteske Situation des mehrsprachigen Prozessaufbaus deutlich, die Vismann (2004: 51) in Analogie zur telefonischen Übertragungstechnik als “groß angelegtes Ortsgespräch” charakterisiert. In dieser paradoxen Situation, in der Menschen im selben Raum einander nicht hören und verstehen können, sondern auf die Übertragung durch Fernsprechtechnik angewiesen sind, wird die zwischengeschaltete Instanz der Dolmetscher wahrnehmbar. Sie sind nicht mehr nur stumme portes-parole des Referenten, sondern betonen den Unterschied zwischen dem eigentlichen Sprecher (der, anders als beim Schauspieler, im Raum physisch präsent ist) und dem Dargestellten, wie die argentinische Journalistin Victoria Ocampo in ihrem Prozesstagebuch verdeutlicht: “Die Stimmen und ihr Klang sind untrennbar mit den Worten verbunden. In Nürnberg wie überall zerstört die Synchronisation etwas Wesentliches” (Ocampo 1946: 244). Was eigentlich synchronisierend, zusammenführend wirken soll, betont den offensichtlichen Bruch, der umso stärker hervortritt, je mehr der dargestellte Sachverhalt die diensthabenden Dolmetscher bedrückt. Die wohl anschaulichste Darstellung der persönlichen Berührtheit, die die Dolmetscher in den Übersetzungsprozess einbringen, gelingt dem amerikanischen Schriftsteller und Prozessbeobachter John Dos Passos: 398 Karoline Münz “Als der Staatsanwalt bei den Verbrechen gegen die Juden anlangt, sind alle vor Anspannung erstarrt. Die Stimme der deutschen Dolmetscherin folgt der des Staatsanwalts wie ein schrilles Echo der Vergeltung auf dem Fuße. Hinter der gläsernen Trennwand neben der Box der Häftlinge ist das angespannte Gesicht der dunkelhaarigen Frau, die übersetzen muß, zu sehen. Ihr Gesicht ist eine Maske des Schreckens. Manchmal scheint ihre Kehle wie zugeschnürt, so daß sie Mühe hat, die entsetzlichen Worte auszusprechen. […] Jackson fährt ruhig und gefaßt in seiner Beschreibung der Taten von Wahnsinnigen fort. […] Es ist die Stimme eines vernünftigen Menschen, den die Verbrechen, die er entdeckt hat, entsetzen. Und ihr Echo, die erstickte, schrille Stimmer der Dolmetscherin, sirrt wie eine Stechmücke über den Bänken der Angeklagten.” (Dos Passos 1945: 88) Hier wird die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des diskreten “menschlichen Dolmetsch- Apparates”, wie ihn das Gericht vorgesehen hat, mehr als deutlich. Für Dos Passos und die meisten anderen Prozessteilnehmer sicht- und hörbar, fällt es der Dolmetscherin schwer, einem so grausamen Verbrechen ihre Stimme zu leihen: Sie stockt, verlässt die neutrale, sachliche Tonlage zugunsten eines “schrillen Echos” und verdeutlicht damit die Diskrepanz zwischen der vom Gericht gewünschten Emotionslosigkeit der unsichtbaren Dolmetschung und der sich in den Gefühlsausbrüchen äußernden Menschlichkeit der Dolmetscher. Ähnlich stark manifestiert sich die mehr als nur übermittelnde Präsenz der Dolmetscher, wenn Zeugenaussagen aus einer Sprache übersetzt werden müssen, die zu keiner der offiziellen Prozesssprachen zählt. Weil die IBM-Technik keine Übertragungsmöglichkeiten für eine fünfte Sprache besitzt, wird das Zeugenproblem anders gelöst: Ein der Zeugensprache mächtiger Dolmetscher begibt sich mit dem Zeugen in den Zeugenstand und übersetzt dessen Aussage simultan ins Mikrofon. Von da an geht die technikunterstützte Simultanübersetzung ihren gewohnten Gang. Während das offizielle Protokoll nur eine derartige Zeugenaussage vermerkt, 20 belegt der Fotoband Ray D’Addarios (1994: 149) ein weiteres Beispiel. 21 Plötzlich ist der Dolmetscher im Zeugenstand der eigentliche Redner, dem Mikrofon und Aufmerksamkeit gehören. Gleichzeitig ist er der Einzige, der den originalen Wortlaut der Aussage hören kann, denn da der Zeuge nicht ins Mikrofon spricht, kann seine Aussage nicht aufgezeichnet und hinterher mit der Übersetzung verglichen werden. Der Dolmetscher macht den Zeugen in seiner Übersetzung sprechend; gleichzeitig sind alle Simultanübersetzungen dieser Aussage Übersetzungen zweiten Grades (die Kabinendolmetscher dolmetschen die Aussage des Dolmetschers im Zeugenstand, nicht das Original). Von einer unvermittelten Abbildung als Mechanismus, der der Übersetzung zugrunde liegt, kann nicht mehr gesprochen werden - hier ist es der Dolmetscher, der, den Übersetzungsprozess thematisierend, erst die Übersetzung und erst in der Übersetzung die Sprache hervorbringt. Dolmetscher können gar nicht anders, als ihre Person in den Prozess der Übersetzung mit einzubringen. Sie laufen damit der gerichtlichen Vorgabe entgegen, für nicht mehr und nicht weniger als eine korrekte Übertragung in ihre Sprache zu sorgen. Das geschieht zumeist unbewusst und - wie im Fall der von ihren Emotionen überwältigten Dolmetscherin Jacksons - auch ungewollt. Ein Beispiel einer bewussten und durchaus provokanten Falschübersetzung im gerichtlichen Sinne ist die Verhörtechnik des aus Deutschland ausgewanderten und als amerikanischer Soldat und Dolmetscher nach Nürnberg zurückkehrenden Richard W. Sonnenfeldts. 22 Im Verhör Wilhelm Keitels, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, widersetzt sich Sonnenfeldt der vorgegebenen Frage Jacksons: “Ich hatte die Frage des Anklägers, ‘Sagen sie die Wahrheit? ’ mit ‘Warum lügen Sie wie ein Feigling? ’ übersetzt” (Sonnenfeldt 2002: Das Unsagbare zur Sprache bringen 399 186). Hier wird deutlich, dass sich die Arbeit eines Dolmetschers nicht unbedingt an den Kategorien von korrekt und inkorrekt messen lassen kann. Vielmehr gelingt es dem Dolmetscher hier, die richtige Übersetzung zu bringen: die Sprache zu treffen, die zwar nicht das sprachliche Original des Anklägers abbildet, aber in ihrem Anderssein, in dieser Differenz, mehr zum Ausdruck bringen kann, als es der korrekten Übersetzung gelungen wäre. Alle hier zitierten Beispiele liefern Belege für das Herauslösen des Dolmetschers aus seiner vorgegebenen Mittler-Rolle hin zu der eines Mediums, in dem die Informationen zusätzlich zur ihrer reinen Übertragung eine Veränderung erfahren, die sie bereichern. Nichts anderes macht Benjamin ((19+) 1972: 16) in seinem Übersetzeraufsatz zum Thema, indem er die Mitteilung bzw. Übermittlung aus dem Zentrum der Übersetzungsarbeit herauslöst und in der Aufgabe des Übersetzers die eines Mediums sieht, der das dem Original zugrunde liegende Sprachmaterial, die “Art des Meinens”, auf Kosten der Sinnübertragung aufdeckt und so den Weg zur “reinen Sprache” weist. In der gebrochenen, vorläufigen Version der Übersetzung von Nürnberg kommt genau das zum Ausdruck, was unter dem enormen technischen Aufwand und dem ausgefeilten Sprechregelwerk verborgen bleiben sollte: die Selbst-Thematisierung des Mediums der Übersetzung in der Manifestation der dolmetschenden Zwischenschaltung. Dass es in der Geschichte der internationalen Rechtsprechung nach dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess keine vielsprachigen Gerichtsverfahren mehr gegeben hat, ist nicht zuletzt diesem “Versagen” des Übersetzungsapparates geschuldet (cf. Vismann 2004: 54). Wie ist die Arbeit der Dolmetscher beim IMT-Prozess zu bewerten? Haben sie tatsächlich versagt? Oder wird durch sie nicht vielmehr zur Sprache gebracht, was ohne ihre Übersetzung im Rhythmus der “Übersetzungsmaschine” Gerichtsverfahren untergegangen wäre? Für Benjamin besteht die Aufgabe des Übersetzers darin, “diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird” (Benjamin (19+) 1972: 16). Das Echo des Originals zu erwecken, meint bei Benjamin aber gerade nicht, den Inhalt des Originalwerkes deckungsgleich abbildend zu übertragen, sondern vielmehr, den mitteilbaren Inhalt im Klangteppich des Echos unterdrückend, das der jeweiligen Sprache Eigentliche und Charakteristische, ihre “Art des Meinens”, herauszustellen und zu verstärken. Dies erklärt, warum - wie Benjamin ((19+) 1972: 15) beschreibt - “das Verhältnis des Gehalts zur Sprache völlig verschieden ist in Original und Übersetzung”. Einer Übersetzung darf nicht daran gelegen sein, das Original in der Zielsprache heimisch zu machen, es also in einer anderen Sprache simultan oder zeitversetzt zu wiederholen. Genau wie das Echo soll eine Übersetzung einen Wiederhall der Originaläußerung liefern, in der aber auch ein Widerhall, eine Gegenstimme gegen das Original und auch gegen die Zielsprache hörbar wird. Diesem Anspruch kommt das Simultandolmetschen beim IMT-Prozess mit seiner improvisierten Technik nahe, durch die häufig zwei oder mehr Prozesssprachen kurzgeschlossen werden. Im Kopfhörer klingt nicht mehr und nicht nur die auf der Wählscheibe gewünschte Sprache, sondern oft auch die Originalversion oder eine andere Fremdsprache mit, die in Form einer Gegen-Stimme nach- und widerhallt, wie Süskind (1963: 24) beschreibt: “Die Sprachen sind nicht aufs letzte voneinander isoliert. Manchmal summt die eine wie ein Muschelton unter der anderen fort.” Dieser Doppeleffekt der Stimmen lässt sich in Analogie zu Benjamin als akustische Interlinearversion verstehen. Zwischen den Zeilen, im Text des Originals, entsteht eine Übersetzung, die auf Syntax und Sinn verzichtet und jedes Wort einzeln aus der Ausgangsin die Zielsprache übersetzt. Oder vielmehr “über setzt”, denn Wetzel bezeichnet nicht umsonst die Benjaminsche Aufgabe des Übersetzers als “Fährdienst” (Wetzel 2002: www), um das ständige 400 Karoline Münz “Zwischen” der Übersetzung, das sich in der Interlinearversion auch räumlich manifestiert, auf den Punkt zu bringen. Was Benjamin als ideale Übersetzung bezeichnet, kann hier als ideales Dolmetschen verstanden werden. Aus dem Phänomen der Übersetzung als Echo lässt sich darüber hinaus noch Weiteres über den Charakter der Übersetzung erfahren. Bettine Menke bringt die doppelte Bewegung, die sich im Echo herstellt und sich in der gedolmetschten Version im Wieder- und Gegenhall der Stimmen besonders deutlich offenbart, auf den Punkt: “Als Gespenster der Stimme präsentieren Echos die oxymorale Ab-Anwesenheit der Stimme in jenen Wiederholungen, die sie sind, als Stimmen aus dem off” (Menke 2002: 130f.; Hervorhebung im Original). Die Stimme ist gleichzeitig präsent und absent. Mit seiner zeitlichen Verzögerung als Wiederholung des Gesagten und dessen Veränderung im Widerhall kann das gedolmetschte Echo in Analogie zu Derridas différance-Begriff verstanden werden, wie Menke an anderer Stelle ausführt: “‘Echo’ nutzt als Personifikation einer Differenz in der Wiederholung deren Widerspiel aus, um Bedeutung zu erzeugen; damit hört und erwartet sie aber nur ‘Laute’ statt der Worte, die gemeint waren; sie hat in dieser Wi(e)der-Gabe die Worte schon durchquert, einen Riß durch sie gelegt.” (Menke 2001: 370) Sprachmaterial und sprachliche Bedeutungsträger verschieben sich zeitlich und räumlich gegeneinander, um eine gebrochene, veranderte Bedeutung durchscheinen zu lassen. Genau in dieser doppelten Bewegung situiert Derrida seinen différance-Begriff. Aus dem französischen Verb différer (= auf-, ver-, hinausschieben, aber auch: sich von etwas unterscheiden) abgeleitet, überträgt Derrida die inhaltliche Doppelsinnigkeit des Wortes auf eine formale: Mit der différance wird ein “néo-graphisme” (Derrida 1968: 3) geschaffen, der ausschließlich in seiner schriftlichen Form einen Unterschied zum herkömmlichen Begriff der différence macht. Gleichzeitig lehnt sich différance an das Partizip Präsenz des Grundverbs (différant) an; hier begegnen und entzweien sich der aktive Vorgang des Aufschiebens mit der passiven, gesetzten Form des Unterschieds (cf. Derrida 1968: 9). Wie die différance ist das Echo (zeitlicher) Aufschub und (räumlicher) Unterschied zusammen, Wiederholung mit einem Bruch. Derrida charakterisiert die différance als allen Zeichensystemen zugrunde liegende “passage détourné et équivoque d’un différent à l’autre, d’un terme de l’opposition à l’autre” (Derrida 1968: 18), als permanentes Bewegen im Zwischen von Differenzen aller Art, das gleichzeitig vereint und entzweit. Schließlich ist jedes Zeichen als Zeichen nur ein anwesender Referent für das eigentlich abwesende Bezeichnete. Mit dem Begriff der différance bestimmt Derrida (1967b: 26) die “Urkraft” aller Sprachsysteme, die sich explizit gegen die Präsenz als Kernmoment des auf die Vorherrschaft des Wortes gegründeten Logozentrismus richtet. Denn wie in der Schrift, argumentiert Derrida, so gibt es auch in der Präsenz der Stimme, die sich über das s’entendre parler, den Live-Effekt des Sich-selber-als-Redner-Hörens, authentifiziert, das aufschiebende, differierende Moment. Anders als bei der Schrift wird die zeichenimmanente Spaltung Präsenz/ Absenz in der Rede aber nicht thematisiert und somit nicht deutlich. Wenn aber, so Derrida, alles Zeichenhafte différance, Unterschied und Aufschub ist, ist auch die Stimme Teil der Schrift und nicht anders herum - das Echo ist (trotz oder gerade wegen der paradoxen Tatsache, dass es im Schriftlichen kein Echo gibt) vielleicht das anschaulichste Argument, das die These Derridas stützt. Hier bricht die logozentristische Philosophie des Nürnberger Kriegsgerichtes, die in der unmittelbaren Präsenz der technikunterstützten dolmetschenden Rede das Kernstück ihrer Das Unsagbare zur Sprache bringen 401 Prozessführung sieht, auf. Nicht die vorgeschriebene Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit aller vor Gericht gesprochener Äußerungen durch den menschlichen und technischen Dolmetsch-Apparat bringt eine gute Übersetzung im Sinne der Präsenz des Bezeichneten, der Wahrheit des Holocaust, hervor. Vielmehr offenbart sich im differenten Zwischenraum und in der Zwischenzeit, in der die Nürnberger Prozessdolmetscher ihre echohaften, bruchstückartigen Übersetzungen produzieren, die richtige und gute Entsprechung einer jeden Äußerung. In diesem Zusammenhang dolmetschend das “Echo” des Holocaust zu erzeugen, bedeutet also, die Unmöglichkeit seines Zur-Sprache-Bringens ins Zentrum der Übersetzungsarbeit zu setzen. Analog zur plötzlichen Performanz des Dokumentenbeweises über die Verschleppung der Kinder von Izieu (der seine Wirkung aus der Betonung der Spaltung von Präsenz/ Absenz des Bezeichneten im Dokument zieht), ist die Diskursform, in der sich das erlittene Leid der Opfer des Nationalsozialismus offenbart, die differente, von “Sprachbrüchen” (Vismann 2004: 63) gezeichnete Übersetzung. Ganz ähnliche Schlüsse zieht Gerhard Scheit aus dem Scheitern des innersprachlichen Übersetzens bei Améry: “Indem Améry gerade die Unmöglichkeit, die Grenzen von Denken und Sprache beschwört, wird die Situation selbst, die unmöglich beschrieben und gedacht werden kann, gegenwärtig” (Scheit 1997: 396). Die eigentliche Leistung der Dolmetscher von Nürnberg besteht gerade darin, dass sie mit jedem Stocken, jeder Sinnverschiebung und jedem Aufgeben angesichts der Unmöglichkeit ihres Auftrags die Doppellogik offen legen, auf der ihre Übersetzungsarbeit gründet: Jede im IMT-Prozess übersetzte Äußerung thematisiert gleichzeitig ihre Unsagbarkeit. Auch diese Feststellung ist nicht weit von Derridas différance-Begriff entfernt, definiert er diese in der Grammatologie doch folgendermaßen: “La différance produit ce qu’elle interdit, rend possible cela même qu’elle rend impossible” (Derrida 1967a: 206). Als Moment der différance gelingt es der dolmetschenden Übersetzung, die sich zumindest im Live der Verhandlung (und in den Prozessberichten und Prozesserinnerungen - aber nicht mehr im offiziellen Protokoll) sprachliche Brüche und Widersprüche leisten kann, die Instanz des Zwischen zu thematisieren und so “zur Sprache [zu, K.M.] bringen, was unaussprechlich ist” (Vismann 2004: 54). Die Unaussprechbarkeit in eine sprachliche Form bringen - das ist genau der Anspruch, den Benjamin an den Übersetzer stellt, wenn er beim Übersetzen für eine Privilegierung der “Art des Meinens” der Sprache gegenüber dem “Gemeinten” des Autors wirbt. In der Fremdheit des gedolmetschten Sprachausdrucks (das dem Empfänger am Ende der Leitung eigentlich doch muttersprachig heimisch sein müsste) klingt - präsent/ absent, transparent - die Fremdheit der Originalsprache mit, die nicht ausreicht, um den Holocaust zu formulieren. Dass sich diese Verfremdung in der Übersetzung bis zur Entfremdung von Inhalt und Sprache steigern kann, ist für Klaus Reichert kein Verlust, sondern eher ein Gewinn: “Die Fremdheit kann bis an die Grenze der Unverständlichkeit gehen oder sogar über sie hinaus, wenn der Gegenstand - der zu übersetzende Text, die Wirklichkeitsform - es erfordert” (Reichert 1981: 51). Der Wirklichkeitsform des Holocaust entspricht möglicherweise tatsächlich nur der nichtbedeutende Diskurs, der wie die derridasche Schrift die Abwesenheit des Referenten hervorbringt, anstatt sie zu dissimulieren. Somit sind die als sprachlich defizitär und dolmetscherisches Scheitern gebrandmarkten und aus dem offiziellen Prozessprotokoll entfernten Übersetzungen die eigentlichen, richtigen Entsprechungen für die Schwierigkeit des Zur-Sprache- Bringens der Holocaust-Erfahrung. Indem sie die Medialität ihres Vermittlungsprozesses thematisieren, anstatt nur reine Dolmetschung 23 zu sein, bringen diese Übersetzungen den Moment der différance, den niemals ganz präsenten Charakter ihres Vermittlungsprozesses 402 Karoline Münz zum Ausdruck. Abel pointiert die vorangegangenen Überlegungen, indem er einen Bogen zwischen Übersetzen und Recht schlägt: “Im Übersetzen geht es auch darum, der anderen Sprache gerecht zu werden. […] Gelungene Übersetzung ist Gerechtigkeit der Sprache und auch darin Ausdruck von Humanität” (Abel 1997: 23f.; Hervorhebung im Original). Die Nürnberger Prozessdolmetscher haben mit jeder Äußerung, die sie aus den engen Grenzen der gut geölten Übersetzungsmaschine heraustreten lässt, die Diskursform getroffen, die die Unmöglichkeit des Beherrschens des Holocaust und seiner Opfer zum Ausdruck bringt und damit der Sprachlosigkeit des Holocaust “gerecht” wird. Wenn auch nur in kurzen Momenten der Verhandlung, manifestiert sich in diesen Augenblicken angeblicher Sprachstörungen die Diskursform, in der tatsächlich Recht gesprochen wird. 6. Das Urteil: Erinnerung als différance Das richterliche Urteil schließt ein Gerichtsverfahren ab - im doppelten Sinne des Wortes: als letzter Akt der Verhandlung und als finale Über- und damit Festsetzung des juristischen Sachverhalts sowie aller im Prozess gemachter Äußerungen. Mit dem Urteil ist ein Gerichtsprozess Geschichte. Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als historisches Ereignis geht hier noch einen Schritt weiter: Er soll - so wollen es vor allem die amerikanischen Ankläger 24 - den kurz zuvor beendeten Weltkrieg als geschichtliches Phänomen untersuchen und mit und in seinem Urteil für die Zukunft lesbar machen. Und so liest sich der mehr als 200 Seiten starke Urteilstext wie ein Geschichtsbuch, in dem akribisch alle in der Beweisführung ans Tageslicht gekommenen Verbrechen der Angeklagten aufgeführt sind. Dank des vorgebrachten Beweismaterials ist die Wahrheit des Holocaust aufgedeckt und in Tatsachen gepackt. Angesichts der Schwere des verhandelten Materials haben viele der Prozessbeobachter allerdings Zweifel an dieser Zielsetzung, der an einer möglichst eindeutigen Schilderung der Geschehnisse im Sinne einer abbildenden Übersetzung gelegen ist: “Es sagt sich so leicht: der Nürnberger Prozeß gehört der Geschichte an - und es klingt famos. Aber meistens bedeutet es leider: ein Aktendeckel schließt sich. Wenn es auch in diesem Fall so geht, dann ist wahrlich eine Schlacht verloren.” (Süskind 1963: 184) Süskind fürchtet eine abschließende Festschreibung der unbeschreibbaren Erfahrung des Holocaust, die diesen versteh- und schließlich auch überwindbar macht. Das Problem dieser Art der Geschichtsschreibung beruht auf der Prämisse, analog zur abbildenden Übersetzung einer apriorischen Sprache die Historiografie als abbildende Übersetzung der apriorischen historischen Wahrheit zu verstehen, die im Falle des Nürnberger Prozesses ein zusammenhängendes, authentisches Gesamtbild der Hitlerzeit ergibt. Dem Wunsch nach guter Lesbarkeit des so entstehenden gerichtlichen und geschichtlichen Urteils, das frei von Brüchen und Unstimmigkeiten ist, entspricht das, was man eine Planierung aller Widersprüche, Unsicherheiten oder Unaussprechbarkeiten nennen könnte. Die vollständige, end-gültige Erfassung von Geschichte ist insbesondere im Umgang mit dem Holocaust problematisch. So gibt der amerikanische Traumaforscher Dominick LaCapra (1994: 222) zu bedenken, dass der Versuch, traumatisierende Erfahrungen in nur einer schriftlich fixierten Version zu kanonisieren, eine von vielen Möglichkeiten darstellt, die Erlebnisse zu unterdrücken. Das Unsagbare zur Sprache bringen 403 In ihrer Analyse der “Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah” untersucht Susanne Düwell die literarische Bearbeitung von Holocaust-Erfahrungen der KZ- Überlebenden. Sie stellt dabei einen fundamentalen Unterschied zwischen dem geschichtswissenschaftlichen und dem autobiografischen Erinnern fest: “Dem visuellen Konzept rekonstruierender Erinnerung gegenüber steht ein Entwurf, der Erinnerung in erster Linie als sprachlichen Produktionsprozess auffasst. […] Erinnerung erscheint innerhalb dieser Konzeption als eine kreative Leistung, als nachträglich konstruktiver Akt und damit zwangsläufig als Bruch mit der Vergangenheit. Problematisch und dem Charakter der sich entziehenden Vergangenheit unangemessen ist demzufolge die Praxis, eine bestimmte Version als Geschichte festzuschreiben.” (Düwell 2004: 19) Damit etabliert Düwell einen Gegenvorschlag zu der repräsentationslogisch arbeitenden und die apriorische Wahrheit der Geschichte festhalten wollenden Erinnerung, die Derrida (1968: 12) in einem Nebensatz ganz ähnlich als “répression finale de la différence” charakterisiert: den “Akt” des Erinnerns, der als “sprachlicher Produktionsprozess” aus der Gegenwart verstanden werden muss. Im Hier und Jetzt stellt sich das Erinnern einer Erfahrung durch und in Sprache her. Die hier verwendeten Begriffe weisen stark darauf hin, dass die beiden verschiedenen Visionen des Übersetzens - die abbildende Übersetzung als Spiegel des Originals und das den Erkenntnisprozess durch Veränderung ins Zentrum ihres Denkens stellende Übersetzen, das im Dolmetschen seine vielleicht prägnanteste Form findet - als Erklärungsmodell für die beiden Grundrichtungen im Verständnis von Erinnerung/ Erinnern dienen können. Düwells Erinnerungsmodell des “nachträglich konstruktiven Akts” bringt van Alphen (1997: 10) in eine prägnantere Form, indem er der konservativen Holocaust-Repräsentation den Begriff des “Holocaust-Effekts” als performativem Erinnerungsakt gegenüberstellt: When I call something Holocaust effect, I mean to say that we are not confronted with a representation of the Holocaust, but that we, as viewers or readers, experience directly a certain aspect of the Holocaust or of Nazism […]. Those performative acts ‘do’ the Holocaust, or rather, they ‘do’ a specific aspect of it.” (Alphen 1997: 10) Als Beispiel für einen gelungenen Holocaust-Effekt, der auf die Verweiskette der Zeichen zugunsten eines anderen, gebrocheneren Zugangs zum Erinnerten verzichtet, nennt van Alphen die Fotoinstallationen Christian Boltanskis. 25 Dass dieser mit allen Repräsentationslogiken brechende Zugang zum Erinnerten über die von van Alphen angesprochenen Kulturbereiche Malerei und Photographie hinausgeht, bestätigt Düwell, die für den autobiografischen Roman mit ganz ähnlichen Worten als Kernmoment festhält: “Die Unabschließbarkeit der autobiographischen Erinnerung wird als permanenter Aufschub und als Verweigerung der Repräsentation von Vergangenheit prozessiert” (Düwell 2004: 221). Die differente Bewegung des “permanenten Aufschubs” bricht die Repräsentation des Erinnerten auf. Erfahrungen wie der Holocaust sind nicht einfach in ein erinnertes Bild zu bringen und damit zu übertragen. Zwischen Erinnertem und Erinnerndem nistet die différance von Zeichen und Bezeichnetem, die sich auch nicht von der noch so detailliertesten Darstellung völlig überbrücken lässt. Dagegen reißen Erinnerungen, die genau diesen Aufschub betonen - entweder durch unscharfe, ungleichmäßig beleuchtete Vergrößerungen von Fotos von Naziopfern vor ihrer Deportation wie bei den Bildinstallationen Boltanskis oder durch die Betonung der ungenügenden Sprachbilder wie in den Romanen Amérys -, die abbildende Referenz zum Erinnerten ein. “History is present - but not quite”, bezeichnet van Alphen 404 Karoline Münz (1997: 11) dieses aufschiebende Moment, das dem nicht repräsentierenden Holocaust-Effekt innewohnt und das ein Erinnern des Holocaust als “keep in touch” mit der Vergangenheit ermöglicht - obwohl und gerade weil die Schnittmenge mit dem Erinnerten kleiner sein kann als in einer Holocaust-Repräsentation. Hier reibt sich van Alphens Argumentation an Benjamins Übersetzeraufsatz, der zum Verhältnis von Original und Übersetzung im Hinblick auf den Sinngehalt folgendes Bild benutzt: “Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkt berührt […], so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkt des Sinnes das Original, um nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.” (Benjamin, Walter (19+) 1972: 19f.) Auch wenn es nur ein “unendlich kleiner Punkt” ist, den die benjaminsche Übersetzung noch mit dem Original gemeinsam hat, ist diese Übersetzung um einiges richtiger, “treuer” als eine abbildende Übersetzung - selbst wenn jene das Spiegelbild des Originals in der Fremdsprache ist. Denn nur die Übersetzung, die sich von der Sinnübertragung löst, bietet den Raum, in dem sich im Akkord der verschiedenen Arten des Meinens aller Menschensprachen idealer Weise die Erkenntnis der einen wahren Sprache performativ herstellen kann. Genauso kann geschichtliches Erinnern als Neuerleben von Erfahrungen nur dann geschehen, wenn in der Differenz Raum gelassen wird für verschiedene Arten des Umgangs mit dem Erinnerten, anstatt Reaktionen vorzuprogrammieren. Der Akt des Erinnerns, mit van Alphen verstanden als Holocaust-Effekt, zielt genau auf diese ständige performative Vergegenwärtigung des Vergangenen ab. Immer wieder und immer wieder aufs Neue stellt sich die Geschichte im übersetzerischen Akt des Erinnerns her, macht sich der Holocaust subjektiv in Kunst, Literatur und bald möglicherweise in neuen medialen Formen erfahrbar. So kommt der Holocaust und mit ihm der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess weder zu einem gedanklichen Abschluss, noch gerät er ins Abseits der Aktenberge. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der die letzten Zeugen des Holocausts sterben, sind Formen der Übersetzung von Erinnertem notwendig, die Geschichte machen, anstatt sie nur in Museen, Bibliotheken und Archiven abzubilden. 7. Fazit Im Zentrum dieses Aufsatzes steht das Prinzip der Unmittelbarkeit als Drehmoment juristischer, sprachlicher und medialer Übersetzung im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 1945/ 46. Das gemeinsame Symbol aller Übersetzungsarbeit von Nürnberg ist die Dolmetschmaschine, die die unvermittelte Präsenz aller Äußerungen im Rahmen der Verhandlung hervorheben und den Übersetzungsprozess als solchen (mitsamt ihrem medialen Träger, dem Dolmetscher) unterdrücken soll. Zwei Phänomene verursachen das zumindest zeitweilige Scheitern der vom Gericht gewünschten direkten fremdsprachlichen Übertragung: die Unmöglichkeit des Zur-Sprache-Bringens der traumatisierenden Holocaust-Erfahrung und die Unübersetzbarkeit der nationalsozialistischen Sprache, die als “uneigentliches Sprechen” die intern vereinbarte Referenz zwischen Sprachausdruck und eigentlicher Bedeutung camoufliert. Wo der Versuch der Opferzeugen scheitert, Erlebtes sprachlich zu repräsentieren, und wo eine Täter-Vokabel im wahrsten Sinne des Wortes nichts bedeutet, weil nicht klar ist, wofür sie steht, da kann eine unmittelbare Das Unsagbare zur Sprache bringen 405 bedeutet, weil nicht klar ist, wofür sie steht, da kann eine unmittelbare Übersetzung zwar die korrekte Entsprechung der Aussage einer anderen Sprache finden, aber keineswegs den Kern dessen treffen, was eigentlich gemeint ist. Der grundlegende Gedanke der strafprozessualen Dolmetschung als direktem Abbild und die diesen Gedanken sprengenden Momente des Übersetzens von Holocaust-Erfahrungen und der nationalsozialistischen Sprache bilden den Rahmen, in dem sich die Nürnberger Prozessdolmetscher situieren. Die vorliegende Arbeit hat versucht, die hinter der Simultandolmetschtechnik stehende Logik analog zu Jacques Derridas Dekonstruktion des logozentristischen Primats der Stimme zu dekonstruieren: Mit dem “technischen und menschlichen Dolmetschapparat”, der simultan im Medium der gesprochenen Rede arbeitet, gibt sich das Gericht ebenso der Illusion der Unvermitteltheit der Abbildung von Wahrheit in der Präsenz hin wie die Philosophen des Logozentrismus. Denn der aufschiebende Bruch der différance, die jeder repräsentationslogischen Abbildung im sprachlichen Zeichen innewohnt, durchzieht Sprechen und Dolmetschen genauso wie Schrift und Übersetzung. In Momenten der Unübersetzbarkeit wird dies besonders deutlich. Hier offenbart sich die Verantwortung der Nürnberger Prozessdolmetscher. Ihre Aufgabe, die sich oft genau in ihrem Aufgeben angesichts der Übersetzungsprobleme äußert, besteht eben darin, diese Unsagbarkeiten in einer bruchstückhaften, unrunden, differenten Übersetzung zu thematisieren, anstatt sie unter dem Siegel einer unmittelbaren Verständlichkeit einzuebnen. Den Holocaust-Zeugen würde damit die sprachliche Gerechtigkeit widerfahren, die Jean-François Lyotard (1983b: 33) als Ausweg aus der Sprachlosigkeit des “Widerstreits” vorschlägt. Die Bedeutung, die der Sprache und damit auch der Übersetzung nicht nur im Nürnberger Verfahren, sondern in jedem Gerichts- und Erinnerungsprozess zukommt, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In seinem Vorkriegstagebuch stellt der Philologe der Victor Klemperer fest, “daß Sprache für uns dichtet und denkt” (Klemperer 1946: 114) - dieses Wissen um die Bedeutung des Übersetzens bei der Umsetzung von Gedanken in Sprache und von Wahrnehmungen in Äußerungen sollte ausblickartig als die Basis verstanden werden, auf die ein verantwortungsvoller Umgang mit Sprache und Erinnerung gründen kann. Süskind zieht, so resümiert André, aus der Schreckenserfahrung der nationalsozialistischen Sprachkorruption genau diese Lehre: “Die Einsicht, dass die Sprache nicht bloß Welt abbildet oder das Vorhandene wiedergibt, sondern selbst wirklichkeitsschaffend ist, gibt […] zu der die Artikel des ‘Wörterbuch des Unmenschen’ tragenden Hoffnung Anlass, dass eine Reflexion auf den Sprachgebrauch dazu führen könnte, die vorhandenen Weltverhältnisse zu verändern.” (André 2004: 43) In diesem Zusammenhang kann sich in einer gerechten, reflektierten Sprache vielleicht tatsächlich performativ Gerechtigkeit für die Opfer als letztes Ziel eines gerichtlichen Verfahrens herstellen. Den Gerichtsprozessen weltweit - vom deutschen Amtsgericht bis zum Internationalen Strafgerichtshof - wäre diese Einsicht zu wünschen. Literaturverzeichnis Abel, Günter 1997: “Übersetzung als Interpretation”, in: Elberfeld, Rolf et al. (Hrsg.) 1999: Translation und Interpretation. Schriften der Académie du Midi, Bd. V. 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Mannheim etc.: Dudenverlag Anmerkungen 1 Den Prozess führen je zwei Richter aus den USA, der Sowjetunion, England und Frankreich in ihrer jeweiligen Muttersprache und in der Sprache der Angeklagten, auf Deutsch. 2 Die Aufgabe des Übersetzers - das geplante Vorwort zu Tableaux parisiens (1921) wurde allerdings erst nach Benjamins Tod veröffentlicht. 3 Die heute standardmäßig verwendete Technik des simultanen Konferenzdolmetschens erlebte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ihre Feuertaufe; zuvor war die auf simpler Telefontechnik aufbauende Anlage nur bei der International Labour Organization des Völkerbundes und ausschließlich für die Übersetzung von vorbereiteten Reden eingesetzt worden, die den Dolmetschern im Original vorlagen. 4 Nämlich für Englisch-Deutsch, Deutsch-Englisch, Englisch-Französisch, Französisch-Englisch, Englisch- Russisch, Russisch-Englisch, Französisch-Deutsch, Deutsch-Französisch, Französisch-Russisch, Russisch- Französisch und Russisch-Deutsch, Deutsch-Russisch. 5 Auf dessen Existenz nur einzelne Stellen der Protokolle hinweisen, allerdings werden Ankläger und Verteidiger im Laufe der Verhandlungen an die Einhaltung der Verhaltensregeln vor Gericht erinnert - und müssen somit einmal umgehend darüber informiert worden sein (cf. z.B. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 13/ S. 7). 6 So der französische Hauptankläger Auguste Champetier de Ribes in seinem Abschlussplädoyer (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 19/ S. 595). 7 Der Begriff “Genocidium” geht auf den Juristen Raphael Lemkin und das Jahr 1944 zurück, (cf. Wieviorka 1994: 593); “Völkermord” taucht im deutschen Protokoll abgesehen von einer Nennung am ersten Prozesstag erst im Plädoyer des britischen Hauptanklägers Hartley Shawcross auf (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 19/ S. 556). 8 Glaubt man den Angaben des Verteidigers Viktor von der Lippe, so haben die insgesamt 40 Anklagevertreter 2100 Dokumente vorgelegt, “aber nur 29 Zeugen verhört” (Lippe 1951: 159). 9 Genau das drückt der spanische Literaturwissenschaftler Jorge Navarro-Perez in seinem “Plädoyer für das Schweigen” aus: “Der interpretierte Mensch macht den Mund zu; er hat nichts mehr zu sagen, er ist bereits verstanden worden.” (Navarro-Perez, Jorge 1999: “Italo Calvino und Herr Palomar über Schweigen oder Übersetzen? ”, in: Elberfeld, Rolf et al. (Hrsg.) 1999: Translation und Interpretation. München: Fink, S. 157-162). 10 Zur Nazi-Verschwörung cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 3/ S. 448f.; zu Verbrechen gegen die Juden cf. ebd.: Bd. 3/ S. 597f., ebd., Bd. 13/ S. 189; zu dem im Sachindex nicht enthaltenen Hauptfilm cf. ebd.: Bd. 2/ S. 478ff. 11 Der etwa einstündige Film zeigt einen Zusammenschnitt von Bildern, die amerikanische Soldaten während und nach der Befreiung der Konzentrationslager Bergen-Belsen, Mauthausen und Buchenwald gedreht haben - die eigentlichen Vernichtungslager im Osten wie Auschwitz oder Treblinka bleiben den Anwesenden also erspart. 12 Auch wenn Roland Barthes den Film aus seiner Analyse der Fotografie und ihres zentralen Merkmals, der Repräsentation eines ça-a-été ausschließt, hält Manfred Hattendorf (1994: 75) eine Übertragung dieses Prinzips auf das Genre des Dokumentarfilms für zulässig. 13 Hier ist zu beachten, dass die metaphorische Bedeutung des Begriffs “liquidieren” (eigentlich: verflüssigen) dem heutigen Leser bekannt, der Übertragungsweg also klar ist; damals beruhte er aber gerade noch nicht auf einer Denkkonvention, was die “Beliebtheit” in der Verwendung des Begriffs erklärt. 14 Die Diskrepanz von Gemeintem und Art des Meinens, die in der Aufgabe der Identität zwischen Wort und Namen begründet ist, verursacht schließlich die unterschiedlichen Benennungen in den verschiedenen Sprachen der Welt und die Notwenigkeit der Übersetzung (cf. Benjamin (19+) 1972: 14). 15 Im Rahmen dieser Skizze der nationalsozialistischen Neu- und Umbenennungen soll nicht vergessen werden, dass sich der Akt der Namensgebung auch ins System der Konzentrationslager übersetzt: KZ- Häftlinge verlieren mit der Einlieferung ihren Namen und werden nur noch über die ihnen eintätowierte Das Unsagbare zur Sprache bringen 409 Nummer in den Arm registriert und identifiziert, wie Primo Levi berichtet: “Mein Name ist 174 517; wir wurden getauft, und unser Leben lang werden wir das tätowierte Mal auf dem Arm tragen” (Levi 1947: 34f.). 16 Die der benjaminschen Menschensprache entsprechen würde. 17 Auf die russischen Entsprechungen wird hier jeweils verzichtet. 18 Vgl. dazu den Beitrag Rosemaries Papadopoulos-Kilius in: Ueberschär, Gerd. R. (Hrsg.) 1999: Der Nationalsozialismus vor Gericht, Frankfurt a.M.: Fischer, oder die 2002 von Theodoros Radisoglou konzipierte Fotoausstellung “Dolmetscher und Übersetzer beim Nürnberger Prozess 1945/ 46” (z.T. elektronisch veröffentlicht unter http: / / www.radisoglou.de). 19 Die Beispiele sind vielfältig (cf. z.B. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 2/ S. 319). 20 Die des bulgarischen Katyn-Zeugens Boris Bazilevsky (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 17/ S. 351ff.). 21 Nämlich die Zeugenaussage Severina Schmaglewskajas zum Verschwinden der neugeborenen Kinder in Auschwitz (cf. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 8/ S. 349ff.). 22 Sonnenfeldt ist als Angestellter der amerikanischen Anklagebehörde, nicht des Gerichtes, für die Vorverhöre der Kriegsverbrecher vor Erhebung der offiziellen Anklage verantwortlich und steht somit nicht unter Eid. 23 Der Begriff Dolmetschen entspricht auch insofern der Derridaschen différance, als dass er wie sie aus der Partizip-Präsenz-Form des Stammverbs abgeleitet ist. Der Term Dolmetschung existiert nicht als vollendetes Produkt (wie die Übersetzung), sondern als aktivische Bewegung, als ständiger Prozess, der nie ankommen und “sich setzen” können wird. 24 Allen voran Telford Taylor, der in seinen Abschlussplädoyer auf diesen Anspruch an den Prozess hinweist: “Wir können hier nicht die Geschichte korrigieren, aber wir können danach trachten, daß sie wahrheitsgemäß geschrieben wird” (Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1947: Bd. 22/ S. 340). 25 An dieser Stelle sei nur auf van Alphens Analyse im 4. Kapitel seiner Monographie Caught by History (1999, Stanford: Stanford University Press) verwiesen; ein tieferes Eingehen auf die Performativität der Installationen Boltanskis würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Narr Francke Attempto Verlag Postfach 2567 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 75288 Internet: http: / / www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Kodikas / Code Supplement Ulf Harendarski Widerstreit ist zwecklos Eine semiotische Untersuchung zum Diskurs “Entführt von Außerirdischen” Kodikas/ Code Supplement 26, 2003, 340 Seiten, € 68,-/ SFr 115,- ISBN 3-8233-6011-6 Passieren kann es jedem: Es wird etwas erzählt, das ich nicht glauben kann, aber in der Situation kann ich unmöglich belegen, warum mir das Erzählte nicht wahr zu sein scheint. In täglichen Gesprächen kommt so etwas häufig vor, aber auch in medialen Diskursen. Dass da manche erzählen, sie würden von UFOs entführt, scheint unstrittig, wie aber kommen andere dazu, mit einer Haltung, die keinen Zweifel zulässt, zu behaupten, das sei wirklich geschehen? Mit den Mitteln der Semiotik und linguistischen Pragmatik untersucht Harendarski die indexikalische Einbettung dieser Behauptung in kulturelle Zusammenhänge. Mit seiner leitenden Frage, was derartig gewisse Behauptungen in der jeweiligen Situation als Rezeption fordern, geht der Autor der sonst kaum zu vermeidenden Wahrheitsfrage aus dem Weg und rückt die Mittel semiotischer Interpretationstheorien an ihre Stelle. Seiner spannenden Analyse konnte der Autor auch eine absolute Rarität zugrunde legen: authentisches Tonmaterial von Entführungserzählungen aus Hypnosesitzungen. Ausgezeichnet mit dem Förderpreis der Deutschen Gesellschaft für Semiotik Review Article Semiotik por kilo Ein Essay zum Abschluß des de Gruyter Handbuchs für Semiotik Ernest W.B. Hess-Lüttich Mit dem 4. Teilband des 13. HSK-Bandes wurde 2004 nun auch für die Semiotik ein einzigartiges internationales Nachschlagewerk zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. 1 HSK steht mittlerweile als in Sprach-, Text- und Zeichenwissenschaften geläufiges Kürzel für das Mammut- und Jahrhundertwerk des de Gruyter Verlages in Berlin und New York, nämlich die von dem 1982 verstorbenen Bonner Kommunikationsforscher Gerold Ungeheuer angeregte Reihe der Handbücher für Sprach- und Kommunikationswissenschaft, die heute für jede Bibliothek, die auf sich hält, unverzichtbar geworden und für jeden Privatnutzer leider fast unerschwinglich geblieben ist. Bei einem so teuren Unterfangen müssen auch die Autoren mithelfen und sich (mit Rabatt) ihr Belegexemplar selber kaufen. Vielleicht wirft der Verlag eines fernen Tages, wenn alle Bibliotheksetats geplündert sind, einmal eine Neuauflage im preiswerteren Taschenbuchformat auf den Markt, als wohlfeile Kassette etwa, wie sie die Zeitungsverlage neuerdings als PR-Maßnahme anbieten, oder er stellt das ganze Werk irgendwann ins Netz wie Brockhaus Meyers Konversationslexikon. Bis dahin wird man sich die kiloschweren Bände, zusammen über 4 000 Seiten stark, zu seinem Tische schleppen und sich darin mit Gewinn versenken. Die Planung des Werkes reicht gut 30 Jahre zurück, als der Berliner Germanist und Linguist Roland Posner an der TU Berlin Mitte der 70er Jahre kurz nach dem von Umberto Eco inaugurierten ersten großen internationalen Semiotik-Kongreß 1974 in Mailand eine kleine, aber hochkrätige Gruppe von Semiotikern um sich scharte und erste Skizzen des Projektes zur Diskussion stellte. Der Rezensent war damals als frisch gebackener Assistent für Germanistik und Linguistik an der FU Berlin aus ihm unerfindlich gebliebenen Gründen auch schon dabei und fasziniert von einem Programm, das ihm als Schüler von Ungeheuer (bei dem auch Posner in Bonn studiert hatte) von seinen zeichen- und kommunikationstheoretischen Prämissen her so viel eher einleuchtete als die seinerzeit nahezu obligatorische mainstream-Linguistik der Transformationsgrammatiker Chomskyscher Provenienz. Bald danach sah er sich unversehens zum Leiter der Sektion ‘Multimediale Kommunikation’ der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Semiotik gewählt und mit der Abfassung des Artikels zu diesem Stichwort für das geplante Handbuch betraut. Der in seiner ersten Fassung 1977 geschriebene Artikel erschien nach etlichen Aktualisierungen nun tatsächlich im KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 412 Ernest W.B. Hess-Lüttich Jahre des Herrn 2004. ‘Gut abgehangen’ nennt man das wohl. In den 70er Jahren wußte man natürlich noch nichts von den multimedia-Wunderwelten des digitalen Zeitalters, man dachte eher an das, was heute meist ‘multimodale Kommunikation’ genannt wird, um Verwechslungen mit dem Sprachgebrauch der Computer-Werbebranche zu vermeiden, wenn man Prozesse der Verständigung beschreibt, ohne sie auf das zu reduzieren, was in die Systembaukästen mancher betriebsblinden Linguisten paßt. Gegen den damals vorherrschenden (und heute an machen Universitäten immer noch liebevoll gepflegten) linguistischen ‘Reduktionismus’ konnte Posner trefflich streiten in mancherlei Variation (programmatisch z.B. in seinem dichten Artikel zur “Linguistischen Poetik” in der 2. Auflage des Lexikons der Germanistischen Linguistik 1980 bei Niemeyer). Den Blick zu befreien von den Scheuklappen und zu schauen, was faktisch alles passiert, wenn zwei sich mittels Zeichen zu verständigen suchen, ist das semiotische Programm, das heute nicht mehr umstritten ist, dem aber seinerzeit das geschärfte Mißtrauen all derer entgegenschlug, die sich in ihren jeweiligen eng umzäunten Erkenntnisgärtlein häuslich eingerichtet hatten. Gleichwohl hat es die dafür zuständige jahrtausendealte Lehre von Zeichen und Zeichenprozessen nicht geschafft, sich als eigenständige akademische Disziplin zu etablieren. Vielleicht liegt das nicht nur an den argwöhnisch verteidigten Claims der etablierten Fächer, sondern auch an der Natur ihres Gegenstands, der sich einfacher disziplinsystematischer Rubrizierung entzieht. Wo haben wir es nicht überall mit Zeichenprozessen zu tun? ! Praktisch in allen Fächern und allen Ecken und Enden der Welt. Davon und damit von dem ganzen Reichtum der Semiotik kann sich nun überzeugen, wer das unhandliche Handbuch zur Hand nimmt. Der Herausgeber Roland Posner hat sich mit diesem Lebenswerk, das ihn buchstäblich sein akademisches Leben lang beschäftigt hat, ein Denkmal gesetzt, in den ersten Jahren unterstützt von seinem früheren Mitarbeiter Klaus Robering, der längst als Professor in Dänemark lehrt, und, eher pro forma wohl, dem Nestor der akademisch institutionalisierten Semiotik, Thomas A. Sebeok, seinerseits Herausgeber des dreibändigen Encyclopedic Dictionary of Semiotics und als Denkmal hinreichend etabliert. Als der Rezensent Anfang der 90er Jahre neben seinem Lehrstuhl in German Studies an der Indiana University zugleich als Fellow am legendären Research Center of Semiotics in Bloomington arbeitete, beklagte sich dessen Chef gelegentlich, in die editorische Arbeit an diesem Mammutprojekt nicht nach seinem Geschmacke eingebunden zu sein. Sebeok hat seinen Abschluß nicht mehr erleben können; er verstarb im Jahre 2001 mit 81 Jahren hochgeehrt; das Semiotics Research Center Bloomington verlor schnell seinen Rang, sein Werk aber, kaum weniger umfangreich als was 175 Gelehrte aus 25 Ländern zu diesem Handbuch zusammengetragen haben, bleibt ein Meilenstein in der Geschichte semiotischer Forschung. Dies wird man vermutlich auch einmal von diesem Handbuch sagen können, das den Kenntnisstand unserer Zeit über die zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, so der Untertitel des Werkes, eindrucksvoll dokumentiert. - Die beiden ersten Bände erschienen in schneller Folge 1997 und 1998 und wurden an dieser Stelle im Rahmen einer Besprechung der zugleich erschienenen Handbücher von Winfried Nöth und Paul Bouissac bereits gewürdigt. 2 Deshalb sei hier nur kurz resümiert, worum es in diesen Bänden vor allem ging. Zunächst entfalten die Herausgeber die grundlegende Systematik des Feldes, wobei sie nach einer kurzen Skizze der Anlage des Werkes den Dimensionen der Syntaktik, Semantik und Pragmatik allein schon drei Kapitel von zusammen monographischem Umfang (ca. 250 Seiten) widmen. Der Gegenstand wird dann in zwei systematischen Hinsichten behandelt, nämlich im Hinblick auf die Aspekte der Semiose und die dabei invol- Semiotik por kilo 413 vierten Kanäle, Medien und Codes einerseits und zum andern die Typen der Semiose von der Evolution (Sebeok) über die Biosemiose (v. Uexküll), Zoo- und Anthroposemiose (Schuler, Wuketits) bis zur Ökosemiose (Tembrock). Dann folgt ein gründliches Methodenkapitel (mit Beiträgen u.a. von Jerzy Pelc), bevor im Rest des Bandes tief in die Geschichte der Semiotik eingetaucht wird. Die Namen einiger der Autoren seien hier ganz bewußt nur exemplarisch herausgegriffen, um zu illustrieren, wie prominent die Herausgeber die Stimmen in diesem polyphonen (und übrigens durchgehend zweisprachig geführten) Gespräch zu besetzen vermochten. Umberto Eco schreibt mit gewohnter Souveränität über Geschichte und Historiographie der Semiotik, Aleida Assmann sichtet die generellen Probleme der Erfassung von Zeichenkonzeptionen im Abendland, Marcelo Dascal aus Tel Aviv und der kürzlich verstorbene Klaus Dutz suchen nach dem Beginn einer wissenschaftlichen Semiotik. In drei großen Kapiteln wird dann die Geschichte der abendländischen Semiotik von den Anfängen im keltischen, germanischen und slavischen Altertum über die griechische und römische Antike bis zu den Höhepunkten zeichentheoretischen Denkens im lateinischen Mittelalter nachgezeichnet. Die Lektüre dieser Kapitel sei all jenen Ignoranten - es gibt sie tatsächlich immer noch - eindringlich empfohlen, die Semiotik immer noch für eine wissenschaftliche ‘Modeströmung’ unserer Tage halten, auf deren baldiges Vorübergehen sie glauben hoffen zu dürfen. Der zweite Band setzt die im ersten Band begonnene Geschichte der Semiotik in Einzeldarstellungen fort und beginnt mit dem nächsten (dem IV.) Abschnitt der Geschichte der abendländischen Semiotik, der die Zeit von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert umfaßt. Zeichenkonzeptionen in den verschiedensten Wissenschaftssparten werden hier einander gegenübergestellt, solche der Philosophie und der Ästhetik, der Logik und der Sprachtheorie, der Mathematik und Grammatik, der Rhetorik und Poetik, der Musik und Architektur und Bildenden Kunst, der Medizin und der Naturlehre. Auch nicht-wissenschaftliche Bereiche des Abendlandes haben Zeichenkonzeptionen beigesteuert: die Religion und das Alltagsleben. Der V. Teil dieser Geschichte reicht vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart und schreibt die wissenschaftlichen Sektoren des vorherigen Teils historisch fort, zu denen allerdings die Ökonomie und modernen Naturwissenschaften noch hinzutreten. Von keineswegs nur exotischem Interesse sind die Beiträge zur Geschichte der Semiotik, die fern des Abendlandes sich entwickelt hat, im Alten Orient etwa, oder im Amerika der Antike, in der islamischen Welt ebenso wie im nicht-islamischen Afrika, in Indien und China, Korea und Japan, in Indonesien und den Philippinen, in Ozeanien und den Festlandkulturen Südostasiens. Überall wurden dort Zeichenkonzeptionen entwickelt und keine davon stammt von Peirce oder Saussure: eine streckenweise faszinierende Lektüre. Das zwölfte Kapitel ist den Gegenwartsströmungen der Semiotik gewidmet. Hier nun werden Peirce und Saussure und ihre jeweiligen Nachfolger ausgiebig gewürdigt. Aber auch die semiotischen Implikationen der Arbeiten von Frege oder Wittgenstein, von Karl Bühler und Ernst Cassirer werden in fundierten Artikeln herausgearbeitet. Thure von Uexküll stellt die “Umweltlehre” Jakob von Uexkülls vor, und H. Walter Schmitz bietet eine luzide Geschichte der signifischen Bewegung in den Niederlanden, die bei Bouissac gar nicht vorkommt und bei Nöth (S. 36) nur knappe Erwähnung findet. Überhaupt ist die Nebeneinanderstellung von Darstellungen der zahlreichen für die Entwicklung der zeitgenössischen Semiotik relevanten Strömungen des dahingegangenen 20. Jahrhunderts von großem Gewinn. Phänomenologie und Logischer Empirismus, Konstruktivismus und Oxforder Schule der Ordinary Language Philo- 414 Ernest W.B. Hess-Lüttich sophy, polnische Praxeologie (oder Praxiologie) und dänische Glossematik, Russischer Formalismus und Prager Funktionalismus, die Moskauer Schule und die Tartuer Schule Lotmanns und die Pariser Schule Greimas’ - gerade in der Parallel-Lektüre all dieser Denktraditionen profiliert sich ihr semiotischer Kern. Artikel zu den Positionen von Umberto Eco und Nelson Goodman sowie ein ebenso kenntnisreicher wie nüchtern bilanzierender Beitrag von Peter Rusterholz über die Erträge der poststrukturalistischen Semiotik runden den Band ab. Danach folgen noch rund 20 erlesene Farbtafeln zu einzelnen Einträgen. Der dritte und vierte Band ließen dann etwas auf sich warten. War der zweite Band überwiegend wissenschaftshistorisch orientiert, so setzt der 2003 erschienene dritte Band disziplinsystematisch an und enthält auf seinen über 1000 Seiten nur zwei Kapitel, nämlich das XIII. zur Semiotik im Verhältnis zu andern interdisziplinären Ansätzen und das XIV. zur Semiotik und den Einzelwissenschaften. Den beiden Kapiteln stellt der Hauptherausgeber jeweils eine nützliche Einleitung voran, in deren erster er das Verhältnis zwischen Wissenschaftsdisziplinen und interdisziplinären Ansätzen erörtert, was in Zeiten, in denen von den Wissenschaftlern mehr Interdisziplinarität erwartet und gefordert und zugleich mit Nichtachtung (oder Nichtberufung) bestraft wird, wer damit ernst macht, solide Argumentationshilfen bereitstellt. Die ausgreifende und nach vielen Seiten Anschlußstellen markierende Bestimmung des Spezifischen der Semiotik im Verhältnis und in der Abgrenzung zur Wissenschaftstheorie, zur Systemtheorie, zur Informationstheorie, zur Gestalttheorie, aber auch zur Hermeneutik, zur Psychoanalyse usw. erleichtert es dem Leser, seine eigene Position im Ensemble der Theorien zu definieren. Die Einleitung zum zweiten Kapitel versucht eine semiotische Rekonstruktion der Einzelwissenschaften und setzt damit ein Vorhaben fort, das der Verfasser bereits mit seinem im Zusammenhang mit der Planung des Handbuchs in den 70er Jahren entstandenen Band über die Semiotik in den Einzelwissenschaften begonnen hatte. 3 Das besondere Verdienst diese Kapitels ist, nahezu das gesamte klassische Fächer- und Fakultäten-Spektrum von der Mathematik über die Naturwissenschaften der Physik, Chemie, Biologie, Neurologie, Astronomie und Kosmologie, über die Sozial- und Humanwissenschaften der Anthropologie, Psychologie, Medizin, Soziologie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Politologie und Publizistik bis hin zu den Kunst- und Geisteswissenschaften der Archäologie, Geschichtswissenschaften, Sprach- und Literaturwissenschaften, Theater-, Musik-, Film- und Kunstwissenschaften, Architektur und Ethnologie und endlich auch Pädagogik und Religionswissenschaft auf seine semiotischen Implikationen, Methoden und Fragestellungen hin abzuklopfen. Natürlich kann jeder, der will, sofort Lücken entdecken. Warum kein Wort zu den Geowissenschaften, zu Ingenieurwissenschaften, Umweltwissenschaften, Technikwissenschaften usw.? Vielleicht war der an einer TU lehrende Herausgeber diesen Feldern zu nah benachbart, um sie aus der Distanz sich zum Gegenstand semiotischen Interesses zu machen? Dennoch wird niemand nach der Lektüre dieser 27 Einzelartikel mehr behaupten können, Semiotik sei eine modische Marotte von ein paar Literarästheten aus Paris und Kalifornien auf postmoderntransitorischer Suche nach Orientierung. Vielmehr betrifft sie im Grundsatz jedes Erkenntnishandeln und jede Verständigung über Sachverhalte mittels Zeichen, einschließlich der Beobachtung von nicht-menschlichen Zeichenprozessen. Wer daher die Philosophie vermißt im Gänsemarsch der Disziplinen, tröste sich mit dem Handbuch insgesamt: sie durchzieht es als roter Faden vom Anfang bis zum Ende, mit großen Schwerpunkten in den zahlreichen historischen Kapiteln des ersten und des zweiten Teilbandes. Semiotik por kilo 415 Gegenüber diesen ziegelsteingroßen-kiloschweren ersten drei Bänden wirkt der vierte mit seinen 550 Seiten fast schmal. Er erschien 2004 und enthält so etwas wie einen Restekorb, der sozusagen ‘Sonstiges’ bietet, ein Allerlei von irgendwie auch noch Interessantem, versammelt im XV. Kapitel unter dem zutreffend-allgemeinen Titel “Ausgewählte Gegenstände der Semiotik”. In diese Auswahl geschafft haben es Artikel etwa zur Mantik und Futurologie, zum Sport und zur Gerontologie, zum Tourismus und zu Körpersignalen, zu Piktogrammen und Chiffren, zur Kryptologie und Sprachplanung, auch zur extraterrestrischen Kommunikation und der zwischen Lebewesen verschiedener biologischer Arten. Paul Bouissac, selber Herausgeber einer gewichtigen semiotischen Enzyklopädie (s.o. Anm. 1), hat die Erkenntnisse über “Interspecific Communication” beigesteuert, Umberto Eco lieferte Erstaunliches über “Fälschungen” ab. Ach ja, und auch der früh bestellte Beitrag des Rezensenten über “Multimediale Kommunikation” kam hier unter, ergänzt um ein Nachwort von Dagmar Schmauks zu deren neuesten Entwicklungen. Gloria Withalm, über viele Jahre Seele der IASS (= Int’l Association for Semiotic Studies), der der Hauptherausgeber über ebenso viele Jahre präsidierte, gibt im Anhang einen Überblick über semiotische Organisationen und Institutionen sowie über semiotische Nachschlagewerke und Fachzeitschriften. Weltverbände von Rang wie die IASS, aber auch ein längst verstummter Berner Gesprächskreis Semiotik, den der Rezensent einst ins Leben rief, findet sich hier getreulich verzeichnet, unter der Anschrift des Altersruhesitzes eines verdienten Kollegen. Erstaunlich lang auch die Liste der Zeitschriften und Buchreihen, manch verdienstvolles Unterfangen darunter, aber längst versunken, andere “in full flesh” wie diese Zeitschrift, was den Rezensenten als deren Mitherausgeber natürlich erfreut. Eine wirklich nützliche (wenn auch im Einzelfall nicht immer zuverlässige und zu überprüfende) Fleißarbeit stellen diese fast 100 S. starken Anhänge dar, gefolgt von gut 150 S. Register. Man fragt sich angesichts der eindrucksvollen Fülle lokaler und weltumspannender Aktivitäten in Sachen Semiotik nur, warum es bis heute so wenige Lehrstühle für das Forschungsfeld aus eigenem Recht gibt? Warum müssen alle, die es beackern wollen, sich mit klassischen Disziplin-Etiketten tarnen? Warum rühmen sich die neuerdings so machtvollen Rektoren unserer Elite-Universitäten nicht längst der Etablierung fakultätsübergreifender semiotischer Forschungszentren? Warum haben Stiftungen der Wissenschaftsförderung keine kompetenten Gutachter für das Gebiet, warum die Akademien der Länder keine semiotischen Mitglieder und Projekte? Aber das ist eine andere Geschichte. Literatur Bouissac, Paul (ed.) 1998: Encyclopedia of Semiotics, New York/ Oxford: Oxford University Press Nöth, Winfried 1990: Handbook of Semiotics, Bloomington: Indiana University Press Nöth Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, 2. Aufl., Stuttgart/ Weimar: Metzler Posner, Roland & Hans-Peter Reinecke (eds.) 1978: Zeichenprozesse. Semiotische Forschung in den Einzelwissenschaften, Wiesbaden: Athenaion Posner, Roland et al. (eds.) 1997-2004: Semiotik/ Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur / A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture, 4 Teilbände, Berlin / New York: de Gruyter Sebeok, T.A. (ed.) 1986: Encyclopedic Dictionary of Semiotics, 3 vols., Berlin: Mouton de Gruyter 416 Ernest W.B. Hess-Lüttich Anmerkungen 1 Roland Posner, Klaus Robering & Thomas A. Sebeok (eds.) 1997-2004: Semiotik/ Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur/ A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture (= HSK 13), 4 Teilbände , Berlin/ New York: de Gruyter, 3878 + 82 S. u. 45 Tafeln, ISBN 3-11-0/ 5661-X 2 Paul Bouissac (ed.) 1998: Encyclopedia of Semiotics, Oxford / New York: Oxford University Press; Winfried Nöth 2000: Handbuch der Semiotik, Stuttgart / Weimar: Metzler; cf. Ernest W.B. Hess-Lüttich 2002: “Semiotische Bilanzen”, in: K ODIKAS / C ODE . An International Journal of Semiotics 23.1-2 (2002): 143- 150 3 Roland Posner & Hans-Peter Reinecke (eds.) 1978: Zeichenprozesse. Semiotische Forschung in den Einzelwissenschaften, Wiesbaden: Athenaion Review Article Frauen und Medien Feministische Kommunikation und Wissenschaft Ernest W.B. Hess-Lüttich Wie in vielen Fächern melden sich auch in der Kommunikationswissenschaft Frauen zu Wort, die ein spezifisch feministisches Verständnis ihres Faches, seiner Methoden und Fragestellungen einklagen. So auch die streitbare Vertreterin ihrer Zunft Johanna Dorer (Jg. 1957) aus Wien, die gemeinsam mit der (Mit-)Begründerin des Wiener Frauenarchivs Brigitte Geiger einen Sammelband zur Feministischen Kommunikations- und Medienwissenschaft vorgelegt hat 1 , der laut seinem Untertitel “Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung” versammelt, weil nach der Auffassung der Herausgeberinnen die Auseinandersetzung mit einer das biologische Geschlecht betreffenden Asymmetrie “allen demokratisch Denkenden ein Anliegen sein müsste” (Dorer & Geiger eds. 2002: 9). Nun, wer will schon zu den undemokratisch Denkenden gehören? Also lassen wir uns mit der geforderten und gebotenen Empathie auf das ca. 380 S. starke Werk etwas genauer ein, zumal sich z.B. bei Amazon bislang nur eine Rezensentin gefunden hat, die aber nur die fünf Kapitelüberschriften resümiert und die 17 Autorinnen aufzählt, die (meist als Lehrbeauftragte) überwiegend an dem Wiener Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft tätig sind, an dem auch Frau Dorer als Assistenzprofessorin wirkt. In ihrem das erste Kapitel über Ansätze und Perspektiven einführenden Beitrag zeichnet sie die “Entwicklung und Profilbildung feministischer Kommunikations- und Medienwissenschaft” nach (S. 22-32), deren Institutionalisierung in den 90er Jahren eine Errungenschaft der den Universitäten verordneten Maßnahmen zur Frauenförderung gewesen sei. Wachsamkeit sei indes geboten, es gebe immer noch institutionelle und strukturelle Widerstände gegen die Disziplin (Disziplin? ), obwohl geschlechterspezifische Fragestellungen, Perspektiven und Methoden innerhalb der Kommunikationswissenschaft heute ebenso selbstverständlich geworden seien wie der breite Raum, den ihr (zumindest quantitativ) reicher Ertrag in den Verlagsprogrammen einnehme. Der ist der Zunft nicht verborgen geblieben, so daß angesichts der “zunehmenden Sensibilisierung für die Geschlechterkategorie” (S. 29) in den eigenen Reihen die Frage aufgeworfen wird, ob die feministische Theorie die Geschlechterstereotypen nicht selbst zu bekräftigen und zu festigen drohe. Um dieser Gefahr wirksam zu begegnen, plädiert Waltraud Ernst daher in ihren “Überlegungen zum Geschlechterbegriff” (S. 33-52) für die konsequente Dekonstruktion von Geschlechterordnungen, indem das Geschlecht als hierarchische Ordnungskategorie, Identitäts- und Körpernorm überhaupt in Frage gestellt würde, zum Beispiel durch die methodische Pra- KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 418 Ernest W.B. Hess-Lüttich xis, “beim Forschungsdesign von Fragebögen oder in Interviewsituationen keine fixen binären Geschlechterkategorien vorauszusetzen, sondern entweder vielfältigere Kategorien anzubieten oder graduelle Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit oder Geschlecht als offene Frage zu formulieren” (S. 44). Also Frauen, Männer und alles, was dazwischen liegt - was ja bekanntlich eine Menge ist, wie nicht nur Frauen wissen (vgl. Richter 2006). 2 Die kulturelle und stereotypisierte Geschlechterkonzeption müsse entlarvt werden durch eine diskursanalytische Medienforschung im Sinne Foucaults, pflichtet Dorer ihr bei in ihrer Skizze neuer “Perspektiven in der feministischen Kommunikations- und Medienwissenschaft” (S. 53-78). Sie habe dort anzusetzen, wo feministische Diskurse in ihrer medialen Repräsentation von Geschlecht so stark integriert seien, daß sie binäre Geschlechteridentität festigten statt sie zu dekonstruieren. Ihre Aufgabe sei es, jene identitätsbildende Rezeption gesellschaftlicher Normen in (Sub)Texten zu untersuchen, die innerhalb des Mediensystems selber produziert würden. Das zweite Kapitel über Öffentlichkeit und Journalismus leitet die Mitherausgeberin Brigitte Geiger mit zwei Beiträgen ein, in denen sie der Herstellung von Öffentlichkeit eine für die Entwicklung und gesellschaftliche Resonanz sozialer Bewegungen konstitutive Bedeutung attestiert. Das sich seit der Aufklärung mit Öffentlichkeit verbindende “Versprechen von Partizipation und Gleichheit” (S. 82) sei bis heute nicht eingelöst, weil gesellschaftliche Machtverhältnisse der Geschlechterhierarchien die Öffentlichkeitsstruktur nach wie vor bestimmten. Die sei nun mal weitgehend ‘männlich’ und grenze sich ab von ‘weiblicher Privatheit’. Diese ideologische Dichotomie müsse zugunsten eines feministischen Öffentlichkeitskonzeptes aufgehoben werden. Geiger illustriert diese These am Beispiel der Herstellung emanzipatorischer Frauenöffentlichkeiten durch die Frauenbewegungen der 70er Jahre bis hin zum vom Unabhängigen FrauenForum (kurz “Uff”) initiierten FrauenVolksBegehren 1997, das die bereits erfolgreiche Gleichstellungspolitik durch allerlei soziale Forderungen (von der Kinderbetreuung bis zur Pensionsregelung) zu untermauern suchte. Das reiche freilich längst nicht aus, diagnostiziert Sabine Funk in ihrem Beitrag über die “Darstellung sexueller Gewalt gegen Kinder in den Medien” (S. 124-137). Vielmehr müßten Journalistinnen selber ihre Themen aus feministischer Sicht öffentlich noch mehr zur Geltung bringen können. Dem stehe aber entgegen, daß zumindest in Österreich die Publizistik immer noch ein von Männern dominiertes Berufsfeld sei, obwohl, wie wiederum Dorer in ihrem dritten (oder mit der Einleitung vierten) Beitrag klagt, viel mehr Studentinnen als Studenten das Fach studierten, ausgebildet allerdings meist von Männern, die ihnen den Aufstieg in die Professorenschaft verwehrten (der Eindruck von den vielen Frauen an ihrem eigenen Institut muß demnach ebenso täuschen wie die Befunde einschlägiger Erhebungen etwa des deutschen Hochschulverbandes zum rasanten Anstieg des Frauenanteils unter der Professorenschaft im letzten Quartal des vergangenen Jahrhunderts). Natürlich verdienten Journalistinnen auch weniger als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie besser als diese qualifiziert seien, und wenn sie es doch in die Führungspositionen geschafft hätten, dann nur um den Preis der Anpassung ihres Privatlebens an die beruflichen Erfordernisse. Das sei eindeutig eine Diskriminierung von Frauen im Journalismus, bedingt durch den gesellschaftlich dominanten (und gerade in den Medien geführten) Diskurs, der einen hierarchischen Geschlechterdualismus ständig produziere und reproduziere. Dies zeige sich etwa in der meist konservativen geschlechtlichen Konnotierung weiblicher Subjektpositionen: “Besonders effizient gegen eine erfolgreiche Berufskarriere für Journalistinnen wirkt das Fest- Frauen und Medien 419 schreiben auf eine traditionelle weibliche Subjektposition mit Betonung der weiblich codierten Kriterien wie Schönheit und Alter” (S. 159). Keine Chance also für gut aussehende Journalistinnen? Oder umgekehrt? Wie auch immer, die Leistung von Frauen werde jedenfalls anders bewertet als jene ihrer männlichen Kollegen in derselben Arbeitsrolle, hat Elisabeth Klaus in ihren Betrachtungen zum “Aufstieg zwischen Nähkränzchen und Männerkloster” (S. 170-190) herausgefunden. Zwar konnte sie keinen explizit weiblichen Journalismus ausmachen - “Journalistinnen und Journalisten unterscheiden sich weder in ihrer Arbeitsweise noch in ihrem journalistischen Selbstverständnis” (S. 183) - , aber die Differenzen in Bezug auf bestimmte Themen, vor allem auf geschlechterspezifische, seien unverkennbar und das zöge zusätzliche Sanktionen nach sich und erschwere den beruflichen Aufstieg. Deshalb müßten Quoten her, fordert Dorer (S. 164), Frauenprogramme und Frauenangebote, die - “trotz einer möglichen Ghettoisierung” - vor allem der Förderung eines frauenspezifischen Journalismus dienten. Galt es nicht eben noch, geschlechtsspezifischen Journalismus zu überwinden? Zurück also zu den alten Gefechtsformationen - zumindest bis die Befehlsstände fest in Frauenhand sind? Das dritte Kapitel mit vier Beiträgen von fünf Autorinnen ist der Rezeptions- und Fernsehforschung gewidmet. Es wird eingeleitet mit einem kurzen Überblick über feministische Ansätze in den sog. Cultural Studies und in der Filmwissenschaft von Brigitte Hipfl (S. 192- 215). Ausgehend von der feministischen Kritik am ‘männlichen Kino’ und dem Film als “Produkt des patriarchalen Unbewussten” (S. 196) begann die Diskussion der Rolle der Zuschauerinnen bereits Ende der 70er Jahre mit besonderem Blick auf die bei ihnen angeblich besonders beliebten women’s genres wie soap operas und Liebesfilmen. Dabei habe sich herausgestellt, daß sich die patriarchale Strukturen reproduzierenden Inhalte nicht zwingend in der Lesart der Zuschauerinnen niederschlügen. Vielmehr nehme das weibliche (und wohl auch männliche) Publikum hauptsächlich jene Motive aus einem Film wahr, denen es im Sinne klassischer Identifikationsdramaturgie persönliche Relevanz zuzuordnen vermag. Die Annahme thematischer Voreingenommenheit hat die weitere Untersuchung der Medienrezeption offenbar nachhaltig beeinflußt. So zeigt Monika Bernold in ihrem Beitrag über “Fernseh-Familien, Geschlechterordnung und Reality-TV” (S. 216-234) am Beispiel der österreichischen Fernsehfamilie Leitner, daß televisuelle Repräsentation nicht als Konstrukt, vielmehr als Spiegel von Zuschauererfahrung erscheine. Der Erfolg der Serie aus den 50er und 60er Jahren des 20. Jh. sei vor allem darauf zurückzuführen, daß die familiären Szenen in gleichsam kollektiver Übereinkunft als realistisch und authentisch ‘aus dem Leben gegriffen’ galten, die Identifikationsangebote von traditionellen Geschlechterordnungen eingeschlossen. Diese Tradition der ‘Tele-Authentifizierung’ setze sich heute im neuen Zeitalter der multimedialen und häufig interaktiven Reality-Shows fort und enthalte nun “das Angebot zu einer televisuellen Beglaubigung der Position des Subjekts, das seinen Status darüber erhält, dass es gleichzeitig als wirkliche, ganz ‘normale’ Person und als TV-Subjekt identifizierbar, beobachtbar und kommunikationstechnologisch authentifizierbar, ‘anrufbar’ zu sein scheint” (S. 232). Stärker empirisch orientiert ist der nächste Abschnitt von Margrit Böck und Ulli Weish, die “Alter und Bildung als Differenzkriterien in einer Sekundäranalyse von Mediennutzungsdaten” untersuchen (S. 235-266). Im Unterschied zur feministischen Filmtheorie mit ihrem Interesse an der geschlechtsspezifischen Positionierung und Identitätsbildung medienhandelnder Subjekte verstehe die in der Tradition der ethnographisch-empirisch instrumentierten Cul- 420 Ernest W.B. Hess-Lüttich tural Studies betriebene quantitative Rezeptionsforschung das Geschlecht weniger als Konstrukt denn als Klassifizierungskriterium. Am Beispiel einer Studie über die Nutzung tagesaktueller Medien zeigen die beiden Autorinnen, wie problematisch es sei, Daten aus Repräsentationsbefragungen unreflektiert als Aussagen über Unterschiede zwischen Frauen und Männern darzustellen. Dabei fanden sie heraus, daß etwa die Variable ‘Bildung’ einen stark relativierenden Einfluß auf die aus der Statistik ersichtlichen Geschlechterdifferenzen beim Radiohören und Zeitunglesen habe: während die Präferenzen der gebildeten Frauen denen der ebenfalls gebildeten Männer glichen, bestünden in den unteren Bildungssegmenten durchaus Geschlechterunterschiede; das gelte übrigens auch für Unterschiede der Lesepräferenzen bei Büchern. Wer hätte das gedacht? Wen der Befund alarmiert, daß allenfalls Männern mindestens mit Matura (oder Abitur) “das insgesamt ‘weiblich’ konnotierte Buchlesen aus Gründen der Unterhaltung” als legitime Freizeitbeschäftigung gilt (S. 258), mag sich damit trösten, daß die Autorinnen immerhin überhaupt noch Bücher lesende Probanden für ihre Studie gefunden haben, obwohl “die von den AkteurInnen verinnerlichten geschlechterhierarchischen Ein- und Ausschlussmechanismen” (S. 260) das eigentlich schon gar nicht mehr erwarten ließen. Die Variable ‘Bildung’ bestimmt nach den Befunden von Waltraud Cornelißen auch den “Stellenwert des Fernsehens im Alltag von Frauen und Männern” (S. 267-289). Frauen mit geringer Bildung sitzen häufiger zu Hause vor dem Fernseher als die mit höherer Bildung. Daraus schließt die Autorin messerscharf, daß der Stellenwert des Fernsehens demzufolge im weiblichen Alltag höher sei als im männlichen (S. 270), obwohl ihre eigenen Tabellen kaum Unterschiede im (quantitativen) Nutzungsverhalten zwischen Männern und Frauen ausweisen. Was indes die Programmwahl betreffe, so gebe es Hinweise darauf, daß Frauen den Programmwünschen anderer Familienmitglieder häufiger nachgäben als Männer. Für derlei geschlechterspezifische Nutzungsstile seien aber weder “biologische Geschlechterzugehörigkeit noch geschlechterspezifische Sozialisationsprozesse verantwortlich” (S. 286), sondern familiäre Geschlechterhierarchien und traditionelle Geschlechterdefinitionen, die den Fernsehgebrauch von Männern und Frauen als einen Teil geschlechtsgebundener Alltagskultur prägten. So wird der tägliche Kampf der Geschlechter vor dem Fernseher in allerlei Tafeln und Tabellen unmittelbar anschaulich. Neben der ‘Bildung’ gilt auch das ‘Alter’ als eine Geschlechterdifferenzen relativierende Variable, wobei die schon länger geläufige Erkenntnis auch von Irmtraud Voglmayr noch einmal bekräftigt wird: “Das Alter ist kein nur biologisch gegebenes Faktum” (S.364), sein Erleben sei vielmehr abhängig von Schicht, Lebensstil, gesellschaftlichen Bedingungen und umgebenden Kulturwerten. Daher kommt sie in ihrer Studie über die Nutzung neuer Technologien wie des Internet, die am Schluß des Bandes einem eigenen Kapitel über Neue Technologien zugeordnet ist (S. 354-375), aber methodisch denen von Böck & Weish bzw. Cornelißen korrespondiert, zu dem nicht ganz unerwarteten Ergebnis, daß ältere Frauen sich Internetkenntnisse auf ihre Bedürfnisse hin aneigneten, womit sie ihre eventuelle körperliche Immobilität durch virtuelle Mobilität zu ersetzen und so die Kommunikatikon zwischen Jung und Alt aufrechtzuerhalten vermöchten (was den surfenden Großvätern offenbar nicht vergönnt ist). Der feministischen Filmforschung ist das vierte Kapitel gewidmet. Schon den ersten im Kontext der politischen Frauenbewegung entstandenen inhaltsanalytisch orientierten Filmtheorien sei die Entlarvung geschlechtsspezifischer Rollenklischees zu danken. Neueren An- Frauen und Medien 421 sätze machten sich Verfahren der Psychoanalyse zunutze und entdeckten die Sprache der Repräsentation. Andrea B. Braidt und Gabriele Jutz stellen (S. 292-306) den in dieser Hinsicht richtungweisenden Aufsatz “Visual Pleasure and Narrative Cinema” (1975) der britischen Filmwissenschafterin Laura Mulvey vor, die darin mit den üblichen Versatzstücken (Phallus, Fetisch, Ödipus, Kastration usw.) der im Film repräsentierten Weiblichkeit Fetischcharakter zuschreibt und dem Kino allgemein eine ausschließliche Männlichkeit. Leider gelangten derlei verdienstvolle Analysen trotz ihrer späteren entpatriarchalisierten Revision an Grenzen nachweislichen Realitätbezugs und empirischer Überprüfbarkeit (S.297). Semiotische Filmtheorien sind in feministischer Hinsicht offenbar weniger ergiebig, jedenfalls werden sie auf anderthalb Seiten eher beiläufig abgehandelt. Immerhin sei mit ihren Verfahren der Nachweis geschlechtsspezifischer Codierungen möglich - wie, wird aber nicht weiter ausgeführt. Deutlich mehr Sympathie der Verf. - und ihrer Kollegin Eva Warth in ihren “Annäherungen an das frühe Kino” (S. 307-319) - gilt dann wieder den Cultural Studies, die Texte als ideologische Repräsentationssysteme im Kontext von Kultur als eines komplexen Netzwerks von Institutionen, Repräsentationen und Praktiken zu beschreiben erlaube. Damit ließen sich diskursive und intertextuelle Bedeutungsproduktion, Mikrohistoriographie und Selbstreflexion dann auch mühelos als kulturelle Konstruktion von Geschlechterdifferenz analysieren. Interessant in diesem Zusammenhang ist der insgesamt aber leider zu kurz abgehandelte Ansatz der jüngeren sog. Queer Film Theory, weil sie der feministischen Debatte insofern neue Perspektiven eröffnen könnte, als sie das biologistische Konzept des Geschlechts zu einer performativen Kategorie erweitert und damit hergebrachte Binäroppositionen überwindet. Als ein aktuelles Beispiel dafür sieht Susanne Rieser in ihrem Beitrag über das “Geschlecht als Special Effekt” [sic] (S. 320-334) das Genre des Actionfilms bzw. das “Kino der spektakulären Grenzüberschreitungen” (S. 320). Die Helden und vor allem auch Heldinnen überschritten darin sowohl physische Grenzen als auch nationale, ethnische und eben geschlechtsspezifische Kategorien. So könne die moderne Geschlechterverwirrung zugleich “als Niederschlag zeitgenössischer Erfahrungen von Identität und Körper in einer von Medien geprägten Welt” gelesen werden, pflichtet ihr die Kunstkritikerin Ruth Noack bei (S. 337) in ihrer Analyse der Videotrilogie Me/ We; Okay; Gray der finnischen Videokünstlerin Eija-Liisa Ahila, deren Werk sich einer feministischen Perspektive auf die zeitgenössische Videokunst öffne. Eine zumindest für den Wiener Seminargebrauch nützliche Auswahlbibliographie zur feministischen Filmwissenschaft in Österreich schließt das Kapitel ab. Das letzte Kapitel enthält nur den bereits besprochenen Aufsatz von Voglmayr über “Ältere Frauen in der neuen Technokultur”, die aber nicht den Musikstil meint, sondern das Internet “als Fenster zur Welt”. Literatur Bernold, Monika 2002: “Tele-Authentifizierung: Fernseh-Familien, Geschlechterordnung und Reality-TV”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 216-234 Böck, Margit & Ulli Weish 2002: “Medienhandeln und Geschlecht. Alter und Bildung als Differenzkriterien in einer Sekundäranalyse von Mediennutzungsdaten”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 235-266 Braidt Andrea B. & Gabriele Jutz 2002: “Theoretische Ansätze und Entwicklungen in der feministischen Filmtheorie”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 292-306 422 Ernest W.B. Hess-Lüttich Cornelißen, Waltraud 2002: “Der Stellenwert des Fernsehens im Alltag von Männern und Frauen”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 267-289 Dorer, Johanna & Brigitte Geiger (eds.) 2002: Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Dorer, Johanna 2002 a: “Entwicklung und Profilbildung feministischer Kommunikations- und Medienwissenschaft”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 22-32 Dorer, Johanna 2002 b: “Diskurse, Medien und Identität. Neue Perspektiven in der feministischen Kommunikations- und Medienwissenschaft”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 53-78 Dorer, Johanna 2002 c: “Berufliche Situation österreichischer Journalistinnen. Ein Bestandsaufnahme empirischer Befunde”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 138-169 Ernst, Waltraud 2002: “Zur Vielfältigkeit von Geschlecht. Überlegungen zum Geschlechterbegriff in der feministischen Medienforschung”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 33-52 Funk, Sabine 2002: “Ver-rückte Tatsachen. Die Darstellung sexueller Gewalt gegen Kinder in den Medien”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 124-137 Geiger, Brigitte 2002 a: “Feministische Öffentlichkeiten. Ansätze, Strukturen und aktuelle Herausforderungen”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 80-97 Geiger, Brigitte 2002 b: “Geschlechterverhältnisse als Medienereignis. Berichterstattung und mediale Diskurse zum österreichischen FrauenVolksBegehren”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 98-123 Hipfl, Brigitte 2002: “Cultural Studies und feministische Filmwissenschaft. Neue Paradigmen und Rezeptionsforschung”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 192-215 Klaus, Elisabeth 2002: “Aufstieg zwischen Nähkränzchen und Männerkloster: Geschlechterkonstruktionen im Journalismus”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 170-190 Noack, Ruth 2002: “Me/ We; Okey; Gray. Über die politische Verortung der Lektüre von Medienkunst am Beispiel der Videotrilogie von Eija-Liisa Athila”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 335-341 Richter, Horst-Eberhard 2006: Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft, Gießen: Psychosozial-Verlag Rieser, Susanne 2002: “Geschlecht als Special Effekt”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 320-334 Voglmayr, Irmtraud 2002: “Das Internet als Fenster zur Welt. Ältere Frauen in der neuen Technokultur”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 354-374 Warth, Eva 2002: “Annäherungen an das frühe Kino. Cultural Studies, Gender Studies und Historiographie”, in: Dorer & Geiger (eds.) 2002: 307-319 Anmerkung 1 Johanna Dorer & Brigitte Geiger (eds.) 2002: Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befund und Perspektiven der aktuellen Entwicklung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 378 S., € 28,90, ISBN 3-531-13702-6 2 Horst-Eberhard Richter 2006: Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft, Gießen: Psychosozial-Verlag Reviews Hubert Knoblauch & Helga Kotthoff (eds.) 2001: Verbal Art across Cultures. The Aesthetics and Proto-Aesthetics of Communication (= Literatur und Anthropologie 10), Tübingen: Narr, 300 S., 39,- € / 74,- CHF 74,00, ISBN 3-8233-5709-3 Der Titel des Sammelbandes und die Tatsache, daß er in einer renommierten Literatur-Buchreihe erscheint, könnte potentielle Interessenten in die Irre führen: Die Herausgeber sind Linguisten und ihr Hauptaugenmerk gilt der alltäglichen Verständigung zwischen Menschen, nicht der poetischen Sprache im engeren Sinne. Ihr Verdienst ist es aber, unsern Blick mit diesem Band und seinen Beiträgen wieder auf den ästhetischen Mehrwert auch in der Alltagskommunikation zu richten, wie das die antike Rhetorik längst getan hat und wie es heute unter vielen Linguisten leider in Vergessenheit geraten ist. Sie gehen von der Prämisse aus, daß institutionalisierte Kunst, die ihren Zweck in sich selbst trage, und nichtinstititutionalisierte Formen ästhetischer Kommunikation, die auch pragmatischen Zwecken folgen, dieselben Basisstrukturen teilen. Denselben Grundgedanken hat der Rezensent in seinem Buch über Kommunikation als ästhetisches Problem (Tübingen: Narr 1984) vor über zwei Dekaden zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ästhetischer Texte genommen, allerdings sozusagen mit umgekehrtem Vorzeichen: er spürte den gemeinsamen Grundregeln nach, denen sowohl Gesprächspartner im Alltag ihrer Verständigung folgen, als auch literarische Autoren vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung als sensible Kommunikatoren, wenn sie kommunikative Prozesse ästhetisch modellieren, um die Analyse literarisierter Formen des Verstehens, aber auch des Mißverstehens für die kommunikationstheoretische und gesprächsanalytische Begriffsbildung fruchtbar zu machen. Der hier zu besprechende Sammelband hat demgegenüber jene proto-ästhetischen Formen im Visier, die allen Formen der Verständigung gemeinsam sind und die aus der Freiheit der Wahl aus einem Repertoire von Möglichkeiten entspringen. Dies ist Anlaß genug, auf den Band in semiotischem Zusammenhang noch einmal hinzuweisen, auch wenn er nicht eben druckfrisch aus der Presse kommt. Die beiden Herausgeber stellen dem Band eine gedrängte, aber luzide Einführung voran, in der sie die Prämissen ihres Ansatzes und die Zielrichtung ihres Interesses vorgeben. So sehen sie je kulturell definierte Formen ästhetischer Kommunikation grundiert in der alltagsweltlichen Kommunikation und rechtfertigen ihren Ansatz mit einem kurzen Blick auf die jüngere Entwicklung in der Wissenschaftsgeschichte der Kultur- und Kommunikationswissenschaften. Sie zeichnen den ‘communicative turn’ der Cultural Studies nach, der auch auf bestimmte Richtungen einer sozial- und kulturwissenschaftlich geprägten Sprachforschung nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat, sie stellen unter Rückgriff auf kunstphilosophische Traditionen die begriffssystematische Verbindung her zwischen Kommunikation und Ästhetik, rücken theoretisch breit gestützt das Konzept der Reflexivität in die dazugehörige Scharnierposition, schlagen unter dem von Roman Jakobson hergeleiteten Leitbegriff der Poetik die Brücke von der Kunst zur Sprache und formulieren das Ziel einer Proto-Äesthetik mundanen, also alltagsweltlichen Verständigungshandelns. KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen 424 Reviews Es folgt sodann eine knappe Vorstellung der Beiträge, die aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Symposion an der Universität Konstanz hervorgegangen sind, das die Co-Editorin Helga Kotthoff gemeinsam mit Elizabeth Couper-Kuhlen und Thomas Luckmann organisiert hat. Sie können im Rahmen einer Kurzrezension nicht referiert und kritisiert werden, aber sie seien mit Nachdruck zur Lektüre empfohlen. Sie repräsentieren im besten Sinne trans- und interdisziplinärer Kooperation ein weites Spektrum von Ansätzen, Fächern und Kulturen, insofern die Autoren wissenschaftlich unterschiedlichster Herkunft aus Ethnologie und Anthropologie, Soziologie, Linguistik und Volkskunde sich anhand unterschiedlichsten Objektmaterials deutscher, amerikanischer, afrikanischer, britischer, chinesischer, irischer, georgischer, brasilianischer und ozeanischer Provenienz zum Gespräch über den gemeinsam interessierenden Gegenstand gefunden haben. Die zwölf einzelnen Beiträge sind in drei Kapitel gruppiert unter den in der Einführung anspruchsvoll begründeten Leitthemen (i) Communication, Genres and Culture, (ii) Aesthetics in Everyday Life, (iii) Proto-Aesthetic Forms of Communication. Im ersten eher theoretisch orientierten Kapitel entwickeln Ruth Finnegan, Judith Irvine und Richard Bauman auf ihre je eigene Art Überlegungen zu einem reicheren Konzept des Kommunikationsbegriffs als unter Linguisten gemeinhin üblich und institutionell zugelassen; das zweite Kapitel versammelt eher empirisch gegründete Studien von Neil Roughley, Volker Heeschen, Helga Kotthoff und Hubert Knoblauch (mit Jürgen Raab) zu Variationen des Performativen (mit Material vom georgischen Trauerritual über Werbespots im deutschen Fernsehen bis zum Konfliktmanagement bei den Mek und den Eipo in den Bergen des westlichen Neuguinea); im dritten Kapitel widmen sich Greg Urban, Ruth Ayaß, Susanne Günthner, Michael Richter sowie das Autorenteam Dirk vom Lehn, Christian Heath und Hubert Knoblauch verschiedenen (als protoästhetisch markierten) Formen sprachlicher Verständigung (etwa in Imperativen, in Sprichwörtern, in mittelalterlicher Oralkultur, in der Gedächtniskultur von Museen und Galerien als Orten kommunikativer Erfahrungsproduktion im kulturbegründenden Gemeinschaftshandeln). Ein in seiner thematischen Vielfalt und in seinem theoretischen Anspruch wie transdisziplinären Horizont inspirierender Band, der trotz seines Publikationsortes Linguisten nicht entgehen sollte und der sich übrigens auch trefflich für den Seminargebrauch eignet, zumal für fächerübergreifend konzipierte Lehrveranstaltungen, die im semiotischen Focus des Materials und der Methoden seiner Analyse ihren gemeinsamen Gegenstand finden. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Zsuzsanna Iványi & András Kertész (eds.) 2001: Gesprächsforschung. Tendenzen und Perspektiven, (= Metalinguistica 10), Frankfurt/ Main / Berlin / Bern etc.: Lang, 260 S., ISBN 3-631-37627-8 In jüngerer Zeit gewinnt die ungarische Germanistik auch international wieder an Kontur, auf deren semiotisch, ästhetisch und linguistisch relevante Erträge an dieser Stelle gelegentlich aufmerksam gemacht werden soll, weil ihre Stimme in der Kakophonie der Buchmessen- Aktualitäten und Kongreßzirzensik leicht überhört zu werden droht, solange in westlicheren Breiten das Ungarische als Wissenschaftssprache noch weniger geläufig ist. Umso willkommener sind Germanisten Buchreihen in deutscher Sprache und Linguisten englisch und deutsch publizierte Arbeiten wie die z.B. aus Debrecen. Dort lehrt und forscht der rührige Germanist und Sprachphilosoph András Kertész, der die Reihe Metalinguistica herausgibt, die sich als wichtiges zweisprachiges Forum für Untersuchungen zu theoretischen, methodologischen und philosophischen Problemen der aktuellen linguistischen Forschung etabliert hat. Der zehnte Band dieser Reihe ist nun neueren Tendenzen und sich abzeichnenden Perspektiven der Gesprächsforschung gewidmet und damit einem der fruchtbarsten Felder linguistischer Pragmatik. Er versammelt (mit der Einleitung der beiden Herausgeber Zsuzsanna Iványi und András Kertész) rund ein Dutzend Beiträge von Reviews 425 jungen und z.T. bereits etablierten Gesprächsforschern, die sich im Rahmen einer Tagung der deutschen Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) in Frankfurt am Main in verschiedenen Sektionen (neben der Gesprächslinguistik auch solchen zur Mündlichkeitskultur, zur Medienkommunikation, zur Rhetorik und Sprecherziehung) und von den unterschiedlichsten theoretischen Positionen aus über den gemeinsam interessierenden Gegenstand dialogförmiger Verständigung austauschten und beschlossen, ihre Diskussionsbeiträge zu einem Band zu verbinden, der eine gelungene Momentaufnahme gegenwärtiger einschlägiger Forschung im deutschsprachigen Raum zu bieten vermag. Das so entstandene Bild ist in der Tat facettenreich. Die thematische Vielfalt der Beiträge und der darin repräsentierten Ansätze und Methoden wird balanciert durch das ihnen gemeinsame theoretische Interesse, das die vermeintliche oder unterstellte Theoriefeindlichkeit der ‘klassischen’ Konversationsanalyse zu überwinden trachtet, durch die Gemeinsamkeit der fachübergreifenden Orientierung und durch die von allen geteilte Absicht der empirischen Untermauerung der Untersuchungen in anschaulichen Fallstudien. Die Autoren widmen sich Themen, in denen sie sich auskennen, wie man aus andern Zusammenhängen weiß, und bewegen sich dabei auf sicherem Grund. Ulrich Dausendschön-Gay untersucht “Rituale und Höflichkeit”, Arnulf Deppermann plädiert für eine “reflexive ethnomethodologische Konversationsanalyse”, Wilhelm Grießhaber erklärt am Beispiel von Speiserestaurant und Cybercafé “Verfahren und Tendenzen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse”, Heiko Hausendorf nimmt die grammatischen Mittel der ‘Hervorhebung’ im Gespräch genauer unter die Lupe, Zsuzsanna Iványi steuert “Bemerkungen zur Möglichkeit von Warum- Fragen in der Gesprächsanalyse” bei, Inken Keim analysiert die Interaktionsmodalität des Klatsches bei Mannheimer Arbeitern, András Kertész prüft, inwieweit die kognitive Metapherntheorie sich auch für die Lösung erkenntnistheoretischer Probleme eignet, Walther Kindt fordert die Integration der Argumentationsanalyse in die Diskursforschung, Sven F. Sager entwirft das Programm einer Gesprächsethologie, Reinhold Schmitt entdeckt die Tafel als Statusrequisit in Situationen institutionell-hierarchischer Gruppenkommunikation, Carmen Spiegel und Thomas Spranz-Fogasy erörtern am Beispiel des Interaktionstyps ‘Schlichtung’ die Frage, wie der Handlungscharakter von Gesprächen beschrieben werden kann und greifen dafür auf die bewährte Handlungsschemaanalyse von Kallmeyer & Schütze zurück. Aufgrund der Qualität der Beiträge und des zuverlässigen Niveaus der Autoren ist dem Band die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu wünschen und den Herausgebern für dessen Aufnahme in eine Reihe zu danken, die den Dialog zwischen Theoretischer und Angewandter Linguistik zu befördern unternimmt. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Margrith Lin-Huber 2001: Chinesen verstehen lernen, Bern / Göttingen / Toronto / Seattle: Huber, 245 S., 19,95 € / 34,80 CHF, ISBN 3-456-83630-9 Natürlich sind die Chinesen den Europäern fremd, fast so fremd wie die Schweizer den Deutschen. Bei vielem, was ich über Kommunikation in China lese, kommt einem Deutschen, der seit etlichen Jahren in der Schweiz lebt, seine neue Umgebung in den Sinn, die zu verstehen kaum weniger Anstrengung kostet als die fernöstliche Fremde zu begreifen. Offenbar kommt dieses Gefühl nicht ganz von ungefähr. Der helvetische Schriftsteller Peter Bichsel hat einmal einen klugen kleinen Text geschrieben über “Die Deutschen” und darüber, wie sehr sie sich doch unterschieden von seinen Landsleuten (Bichsel 1985). Seine Bemerkungen über das unterschiedliche Kommunikationsverhalten sind von besonderem Interesse, wenn man den schmalen Band von Margrith A. Lin-Huber zur Hand nimmt, die sich als Schweizerin bemüht hat, Chinesen verstehen zu lernen. Dafür hatte sie Einblick aus der Nähe. Sie ist mit einem Chinesen verheiratet und hat ihr Buch ihrem Schwiegervater Lin Song gewidmet. So neige man, schreibt Bichsel, in Deutschland etwa dazu, Kontroverses ausführlich zu erörtern, worüber man in der Schweiz lieber schweige. 426 Reviews Dort genügten oft ein paar knappe Andeutungen dessen, was die Deutschen des langen und breiten auszuwalzen wünschten. Die Schweizer wissen eben auch, wie die Chinesen in ihrem berühmten Chengyu, “wenn ein Wort einmal über die Lippen gekommen ist, so können es die schnellsten Pferde nicht mehr einholen” (zitiert auch bei Lin- Huber 2001: 45). Der Zürcher Philosoph Elmar Holenstein (1998) hat sich nun in einem Experiment den akademischen Scherz erlaubt, in Bichsels Text zwei Wörter zu ersetzen, und zwar “die Deutschen” durch “die Europäer” und “die Schweizer” durch “die Japaner”. Er legte den ansonsten unveränderten Text Lesern in der Schweiz, in Deutschland und in Japan vor: niemand bemerkte die Vertauschung. Mit anderen Worten: das Verhalten von Schweizern kommt Deutschen ungefähr so exotisch vor wie das von Japanern, also ausweichend, konsensorientiert, indirekt und eigentlich undurchschaubar, während umgekehrt die Deutschen den Schweizern zu laut, zu direkt, zu aggressiv, zu arrogant und inflexibel erscheinen. Dieselbe Sprache zu sprechen bedeutet also keineswegs, dieselbe Kultur zu teilen; räumliche Nachbarschaft schützt nicht vor Fremdheit. Kulturelle Regelverletzungen wirken sich potentiell weitaus gravierender, d.h. beziehungsgefährdender und gesichtsbedrohender aus als ‘Fehler’ in der Grammatik oder bei der Aussprache, weil sie dem Sprecher als Person, als ens sociale, angelastet werden, nicht seiner Sprachkompetenz. Mit den Schweizern verbindet die Chinesen überdies, daß ihnen Vernunftgründe allein offenbar nicht auszureichen scheinen zur plausiblen Begründung von Behauptungen; sie erwarten von ‘vernünftiger Rede’ (jiang-li) darüberhinaus, daß sie auch mit der “menschlichen Natur” übereinstimme, also mit jener praktischen Vernunft, die nicht identisch sein muß mit der logischen. Auch in der Kunst interpersonaler Beziehungen (guan-xi) scheinen Chinesen und Schweizer prima facie einander näher als diese den Deutschen. Wenigen Fremden ist es gelungen, sich in das Wurzelwerk helvetischer Beziehungsnetze einzuflechten, das guan-xi à la suisse. Das Gefangensein in solchen Beziehungsnetzen empfinden manche freilich auch eher als Gefängnis, als soziale Kontrolle und Freiheitsbegrenzung bis zur Grenze des Erträglichen, wie Lu Xun in seinem Tagebuch eines Verrückten so eindrucksvoll beschreibt. Regelwerke der Verhaltenssteuerung wie das der qu- oder tschou-Etikette mit ihren 3300 Vorschriften (Lin 1981: 185-188) sind eben nicht nur Richtschnur, auch Einschnürung. Der Zwang zu Etikette, zu Umweg und Verschleierung bereitet manchen Westlern Mühe. Die Rhetorik des innuendo ist für sie ein stetig sprudelnder Quell immer neuer Mißverständnisse, während umgekehrt ihre unbekümmerten Äußerungen vom entsprechend trainierten chinesischen Gesprächspartner beständig auf versteckte Anspielungen und kritische Subtexte hin abgeklopft werden. Die Kunst der Täuschung im Gespräch hat in China eine lange Tradition, deren Wurzeln bis ins Ende der Ming-Zeit vor ca. 500 Jahren zurückreichen (cf. Behr ed. 2004). Die damals formulierten Handlungsanleitungen, die ihrerseits eine jahrtausendealte Erfahrung im Umgang mit schwierigen Situationen zusammenfassen und wohl ursprünglich Überlegungen zur Kriegskunst entstammen, sind im Westen von dem Sinologen und Juristen Harro von Senger (2000) erst vor kurzem als “Katalog der 36 Strategeme” einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht geworden. Die Kenntnis solcher Strategien listenreicher Konversation kann nützlich sein, wenn man selbst in argumentative Bedrängnis gerät oder gegen die Finten des Gesprächspartners sich wappnen will. Ironie oder Sarkasmus gelten dabei übrigens als ungeeignet, weil Chinesen aus Gründen der Höflichkeit ohnehin oft etwas anderes sagen als sie meinen und dies keineswegs mit Humor verbinden (cf. Lin-Huber 1998: 206). Kulturspezifische Sprach-, Denk- und Verhaltensmuster als Ursache interkulturellen Mißverstehens werden neuerdings auch von Kognitionspsychologen erforscht, deren Ergebnisse für die Linguistik interessant werden können. In ihren Untersuchungen von Gesprächen zwischen Asiaten und Kanadiern haben Forscher der University of British Columbia in Vancouver allerdings auch herausgefunden, daß die diesbezüglichen Testergebnisse der Asiaten denen der Einheimischen immer ähnlicher wurden, je länger sie im Lande lebten (cf. Hein 2004: 41). Mißverstehen ist also nicht gottgegeben (Babylon) oder genbestimmt (Biologie), sondern kulturbe- Reviews 427 zogen. Bei genügend Zeit und Geduld und wechselseitiger Neugier besteht also durchaus Hoffnung, daß auch Deutsche und Chinesen einmal einander verstehen lernen. Das Buch von Lin- Huber kann dazu einen gut dokumentierten Einstieg bieten. Literatur Behr, Hans-Joachim (ed.) 2004: List in Ost und West, Schöppenstedt: Eulenspiegel-Museum Bichsel, Peter 1985: “Wie deutsch sind die Deutschen? ”, in: id. 1985: Schulmeistereien, Neuwied: Luchterhand 151-165 Böckelmann, Frank 1998: Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen, Frankfurt/ Main: Eichborn Hein, Till 2004: “Das kommt Chinesen spanisch vor”, in: Die Zeit 41 v. 30.09.2004: 41 Holenstein, Elmar 1998: “Asiatische Werte - schweizerische Werte”, in: Neue Zürcher Zeitung 152 v. 4./ 5.7.1998 Lin, Yutan 1981: Glück des Verstehens, Stuttgart: Klett Lin-Huber, Margrith A. 1998: Kulturspezifischer Spracherwerb, Bern: Huber Lin-Huber, Margrith A. 2001: Chinesen verstehen lernen, Bern etc.: Huber Senger, Harro v. 2000: Strategeme, 2 vols., Bern: Scherz Senger, Harro von 4 2004 [ 1 2001]: Die Kunst der List, München: C.H. Beck Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Markus Oliver Spitz 2004: Erfundene Welten - Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk von Christoph Ransmayr, Würzburg: Königshausen & Neumann, 198 S., ISBN 3-8260-2962-3 Christoph Ransmayr ist ein sehr erfolgreicher österreichischer Schriftsteller, sein jüngstes Werk mit dem Titel Der fliegende Berg, ein in Flattersatz gedruckter und zum lauten Lesen animierender Versroman, der von der gefährlichen Expedition zweier Brüder im Transhimalaja erzählt, deren einer sie nicht überlebt, was an das Schicksal der Gebrüder Messner gemahnt, deren Geschichte Ransmayr aber erkennbar nicht erzählt, diese Epopoë vom Übergang zwischen Wirklichkeit und erfundener Welt wird in diesen Tagen der Buchmesse 2006 in allen besseren Gazetten mit lobendem Respekt besprochen. Dabei macht sich der Autor eher rar, gerade mal drei Romane hat er in den beiden letzten Dekaden publiziert. Sein erster, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, erschien 1984, vor 22 Jahren, und berichtete in fiktionaler Form ebenfalls von einer Expedition, und zwar einer historischen Eismeerexpedition. Das Werk des Debütanten machte ihn auf einen Schlag bekannt. Vier Jahre später erst, 1988, erschien sein zweiter Roman, Die letzte Welt, eine phantastische Erzählung auf den Spuren Ovids, aber ebenfalls mit historisch jüngeren Bezügen. Elf Jahre ist es nun schon wieder her, seit der dritte Roman, Morbus Kitahara, für Aufsehen sorgte, angesiedelt in einer merkwürdig unwirklichen Nachkriegszeit. Jetzt also sein vierter Roman, ein guter Anlaß zu prüfen, ob seine früheren Arbeiten bereits zum Gegenstand der jüngeren Forschung geworden sind. Die Ausbeute ist vergleichsweise gering. Aus den Dissertationen zu Ransmayrs Werk sticht jetzt die eines jungen Germanisten hervor, Jahrgang 1971, vor allem in England und Frankreich tätig, der die drei Romane einmal nicht im Lichte postmoderner Literaturtheorie zu lesen versucht, sondern als Modelle der Wirklichkeit aus dem Geiste der Aufklärung. Auf hermeneutisch und rezeptionsästhetisch solide bereitetem Boden sucht Spitz dabei Befunde aus den Romanen mit solchen aus dem Reportagenwerk gleichsam wechselseitig zu belichten. Dies scheint insofern plausibel, als es in allen drei Romanen um Geschichte geht - aber es sind keine “historischen Romane”. Aus anachronistisch verschachtelten Schichten verschiedener historischer Epochen wird vielmehr ein fiktives Handlungs- und Raumgefüge aufgebaut, in das Versatzstücke aus der jüngsten Geschichte eingepaßt sind. Diese Anachronismen, vor allem die aus der Zeit des Dritten Reiches, haben für das Verständnis der Texte eine Bedeutung, die in der bisherigen Forschungsliteratur noch kaum aus eigenem Recht herauspräpariert wurde. Ransmayr wurde dort meist entweder vorgeworfen, er verharmlose die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, oder aber er treibe ein postmodern beliebiges Spiel mit zeitlos montierten Zitaten. 428 Reviews Demgegenüber sucht Spitz in seiner Arbeit - darin im Ansatz ähnlich wie eine in Bern kurz zuvor entstandene (aber leider unveröffentlichte) Dissertation von Michele C. Marrafino - gerade aufzuzeigen, daß und inwiefern die Anachronismen eine zentrale narrative Funktion für das Verständnis der Werke Ransmayrs haben. Durch diese Erzählweise werden nämlich die dem Leser vertrauten Orientierungs- und Deutungsmuster, mit denen er der Vergangenheit gegenübertritt, im positiven Sinne des Wortes fragwürdig, d.h. Geschichte wird durch das Überschreiten der Wirklichkeit neu wahrgenommen, das vertraute historische Faktum wird durch seine Fiktionalisierung unvertraut, verfremdet, neu beleuchtet. Ransmayrs Debütwerk, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, behandelt vordergründig die Nordpol-Expedition Payer-Wayprechts von 1872-74. Der Ich-Erzähler erzählt die Geschichte eines in der Arktis verschwundenen Mannes, indem er all die ihm verfügbaren Informationen in eine Ordnung zu bringen versucht. Nach der Analyse der Erzählstruktur des Romans geht es um das Schreibprojekt des Ich-Erzählers und seine Schwierigkeiten, aus Geschehen Geschichte zu produzieren. Anfangs geht er von der Vorstellung aus, einfach nur zeigen zu wollen, “wie es wirklich war”. Geschichte, glaubt er, habe einen Sinn in sich selbst, sei die Wegstrecke zu einem Ziel, dessen Erreichen es nachzuzeichnen gelte. Das Ergebnis am Ende seines Schreibprojektes ist dann freilich eine allenfalls wahrscheinliche Erfindung. Geschichte wird als ein in der Gegenwart erzeugter Sinnzusammenhang gezeigt, der durch das Erzählen erst hergestellt wird. Literatur und Geschichte nähern sich an - und damit huldigt der Roman durchaus gewissen Grundauffassungen postmoderner Philosophie, nach der es eine ‘objektive’ Wirklichkeit nicht gibt. Dies hat Konsequenzen für die Erfahrung, Beschreibung und Bewertung dessen, was als ‘historische Wirklichkeit’ gilt und führt zu einer Geschichtsauffassung, in der die objektive Erkennbarkeit historischer Zusammenhänge obsolet geworden ist. Die aus der Strukturanalyse des Werkes (mit besonderem Blick auf die Rolle des Ich-Erzählers und dessen Reflexion des Scheiterns seines Erzählprojekts) gewonnenen Einsichten werden dann systematisch auf die etlichen in den Roman eingestreuten Exkurse über historische Ereignisse übertragen, die nun als Konstruktionen gelesen werden können, als ‘Erfindungen’ eines historischen Sinnzusammenhangs aus Texten. So muß der Leser erkennen, daß die Rekonstruktion von Vergangenem immer schon Konstruktion ist, ein Experiment mit Texten, dem Auswahl, Anordnung, Reflexion vorausgeht und Wertung folgt. Erst indem die Wertung als relativ zur Konstruktion offensichtlich wird, kann die Bildung von Ideologie in ihren sprachlichen Spiegelungen durchschaut werden. In Ransmayrs zweitem Roman Die letzte Welt wird das Gewicht vor allem auf das kritische Potential von Literatur gelegt, historische Diskurse aufzubrechen und zu verändern. Eine Detailanalyse des Romanbeginns exponiert die Frage nach der Erzählinstanz und dem Referenzrahmen des Romans. Er wird als Palimpsest verschiedener Texte gelesen, deren Relationen zueinander der Verf. zu bestimmen sucht. Wichtig wird hierbei vor allem die in der Forschungsliteratur äußerst kontrovers beurteilte Thies-Episode, die auf das historische Ereignis des nationalsozialistischen Holocaust verweist. Zunächst wird der im Roman gezeigte römische Staat unter Berücksichtigung historischer Totalitarismusbegriffe als Diktatur beschrieben. Die im Roman agierenden Figuren, allen voran der Führer des Staates, Kaiser Augustus, werden als tief in den Strukturen des totalitären Staates bzw. Diskurses gefangene Individuen gezeigt, die der Fiktion erliegen, als selbstreflexive und autonome Individuen “Geschichte machen” zu können. Vor diesem Hintergrund sei der Anachronismus der Thies-Episode zu lesen: die Gaskammern des augusteischen Staates seien in der Logik des römischen Diskurses angelegt. Das totalitäre System Roms beruft sich auf eine (verengte Form der) Vernunft, die totalitär in dem Sinne ist, dass sie alles außerhalb der von ihr festgelegten Grenzen zum Verschwinden bringt, aber damit auch die Möglichkeit einer Selbstbesinnung und kritischen Erweiterung ausschließt, selbst nachdem sich herausgestellt hat, daß die römische Ordnung (in der Thies-Episode) zu kaum mehr zu überbietenden Verbrechen fähig ist. Reviews 429 Am Beispiel der Perspektivfigur Cotta, der sich auf den Weg macht, den verschwundenen Dichter Naso und dessen Werk zu suchen, wird aufgezeigt, wie die Literatur einen Weg weist aus jenem Diskurs, der für die Gaskammern verantwortlich war. Die Erfahrungen von Szenen der Metamorphosen Nasos (bzw. Ovids) führen Cotta in eine Krise und schließlich zur Erkenntnis einer Wirklichkeit außerhalb des römischen Diskurses, zu einer höheren Form der Vernunft und zur Utopie einer Ordnung, in der die Gaskammern aus der Thies-Episode nicht mehr möglich sind. Der dritte Roman Morbus Kitahara greift das Thema aus der Thies-Episode erneut auf. Diesmal geht es um die Frage nach dem Umgang mit schuldhafter Vergangenheit. Der Verf. zeigt anhand mehrerer Figuren, wie aus Opfern Täter und aus Tätern Opfer werden können, wie ein falscher Umgang mit Geschichte dazu führt, daß eine Gesellschaft gleichsam moralisch erblindet und ihre Verstrickung in einen verbrecherischen Krieg verkennt. In einer fiktiven Nachkriegszeit, die viele Elemente der realen Geschichte vor allem aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zur Voraussetzung hat, wird die Geschichte des Dorfes Moor und seiner Bewohner über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten nachgezeichnet. Ransmayr reflektiert darin eine von den Siegern oktroyierte Nachkriegsordnung, in der sich die Moorer Gesellschaft nach den Bedingungen des Stellamour-Plans (also des Morgenthau-Plans) entwickelt. Die von den Siegern ideologisch festgeschriebene Geschichtsinterpretation führt bei den Moorern zu Abwehr und Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Vergangenheit. Anhand des Lebensweges der Hauptfigur Berings, eines der “Gnade der späten Geburt” teilhaftigen Nachgeborenen, belegt der Verf., wie die unterlassene Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte einerseits die Zukunft dieser Gesellschaft verunmöglicht, anderseits aber als tragische Schuld auf diese zurückfällt; denn die Geschichte wiederholt sich. Bering entwickelt sich zu einem mehrfachen Mörder, der sich schließlich gegen die eigenen Leute wendet und sich kaum mehr von den Verbrechern der Kriegszeit unterscheidet. Die von den Siegern institutionell verfügte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einerseits und die von den Moorern verweigerte Aufarbeitung der eigenen Geschichte andererseits formen aus Bering einen Mann, der geschichtsvergessen moralisch ‘erblindet’. Seine Wahrnehmung hat im schönen Doppelsinn des Wortes einen blinden Fleck. Morbus Kitahara - die titelstiftende Augenkrankheit, unter der Bering leidet - wird so zur Metapher für eine Wahrnehmungslücke, für einen Umgang mit der Vergangenheit, der die offene Perspektive ins Künftige versperrt. Literatur Marrafino, Michele C. 2002: Erfindung von Wirklichkeiten. Geschichte und Wirklichkeitskonstruktion. Zu Christoph Ransmayrs Romanwerken, Bern. Diss.phil., 194 S. [Mimeo] Spitz, Markus Oliver 2004: Erfundene Welten - Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk von Christoph Ransmayr, Würzburg: Königshausen & Neumann, 198 S., ISBN 3-8260-2962-3 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Angelika Corbineau-Hoffmann 2004: Einführung in die Komparatistik, 2. Aufl., Berlin: Erich Schmidt, 288 S., 19,95 €, ISBN 3-503-07909-2 Verglichen mit vielen andern historischphilologischen Fächern der Philosophischen Fakultät ist das Fach der Komparatistik ein eher junges. So lange gibt es die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft als akademisch etablierte Disziplin noch gar nicht, auch wenn Literaturwissenschaft noch nie nur nationalphilologisch betrieben werden mußte (und ‘fremde’ Literatur nicht nur zur Kenntnis genommen wurde, um sie für die ‘eigene’ zu instrumentalisieren, wie Corbineau-Hoffmann etwas voreilig unterstellt (S. 58). Den Philologien war sie anfangs meist als Teildisziplin oder als Abteilung zugeordnet, so etwa in Bonn, wo ich als 68er-Student der Germanistik neben der Neueren deutschen Literatur (u.a. bei Benno v. Wiese, Helmut Koopmann und Helmut Kreuzer) Allgemeine Literaturwissenschaft und Literaturtheorie (bei Beda Allemann) und eben - in der dazu neu 430 Reviews gegründeten Abteilung des Instituts - bei Horst Rüdiger und Erwin Koppen Vergleichende Literaturwissenschaft hörte. Wir Anfänger wurden in das Fach eingeführt mit dem, was damals als das Beste und Aktuellste galt, was dazu auf dem Markt zu haben war, nämlich mit Ulrich Weissteins Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, 1968 verlegt bei Kohlhammer in Stuttgart, der damals in diesem geisteswissenschaftlichen Segment noch engagiert war. Damals war ich von dem Werk fasziniert und hätte mir nicht träumen lassen, einmal ein Kollege des großen Gelehrten zu werden, der mich, im ‘joint appointment’ zu meinem Lehrstuhl am German Department, Anfang der 90er Jahre als Associate Professor of Comparative Literature an sein Institut holte. Durch diese frühen Eindrücke geprägt, nahm ich daher mit Interesse eine jetzt neu aufgelegte Einführung in das Fach zur Hand, neugierig, wie die Akzente sich im Laufe der Zeit (ich hatte mich seither längst andern Fragen zugewandt) verschoben haben mochten. Angelika Corbineau- Hoffmanns Einführung in die Komparatistik erschien im Berliner Erich Schmidt Verlag, ein philologischer Traditionsverlag, der mit handlichen Reihen propädeutischen Charakters bei Studierenden beliebt ist und damit verlegerisches Terrain zurückerobert hat. Schon im ersten Satz nimmt die Autorin den Titel fast wieder zurück, weil ‘Komparatistik’ als Lehre vom Vergleichen zwar die Methode, aber eben nicht den Gegenstand des Faches definiere. Deshalb überschreibt sie ihr erstes Kapitel, das den Namen und die von ihm bezeichnete Sache erörtert, denn auch trotzig mit “Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft” (so halten wir es zur Zeit auch noch in Bern mit einer solchen Abteilung im Rahmen der Germanistik), obwohl sich der kürzere Name als die handlichere Fachbezeichnung durchzusetzen beginne. Der Markt einschlägiger Einführungen ist heute reich bestückt; die ausführliche Bibliographie gibt davon mit vielen Hinweisen Zeugnis (und weist auch signifikante Lücken auf). Aber von vergleichbaren Büchern unterscheidet sich der Ansatz der Leipziger Komparatistin durch den Ausgang von Konzepten wie ‘Text’ und ‘Kontext’ (was für ‘reine’ Literaturwissenschaftler noch längst nicht immer selbstverständlich zu sein scheint), durch den wissenschaftshistorisch geschärften Blick auf die eigene Fachgeschichte, durch die Reflexion von Theorie und Methodik des Vergleichens und durch den durchgehenden Versuch, begriffliche und fachliche Diskussion mit der Anwendung auf eine bewußt begrenzte Textauswahl aus der Literatur des Fin-de-siècle (Hofmannsthal, Maeterlinck, Oscar Wilde) zu verbinden. Sie begründet diese Unterschiede in ihrem Vorwort zur ersten Auflage und kann ihr Buch auf diese Weise plausibel im Ensemble vergleichbarer Werke positionieren. Nach dem begriffssystematischen Einstieg nähert sie sich ihrem Gegenstand im ersten Kapitel durch verschiedene Perspektiven auf den Begriff der Weltliteratur (ohne dann für einen explizit Partei zu ergreifen), grenzt ihn behutsam ein auf ein eher kanonisches Verständnis von Literatur (was für Studienanfänger vielleicht auch sinnvoll ist), ohne dabei aber Berührungspunkte mit ästhetischen ‘Texten’ nichtliterarischen Charakters auszuschließen (‘Literatur und andere Künste’), und skizziert erste Entwürfe zu einer Theorie der ‘Textumgebung’ (was man auch mit Konzepten der Kontextualisierung und der Intertextualität verbinden könnte). Genauere ‘Konturen’ soll das Fach (oder ihr Ansatz? ) finden durch einen Blick auf die jüngere Fachgeschichte, bevor sie sich dem eigentlichen “Vergleich der Literaturen” zuwendet im Hinblick auf die Einfluß-, Wirkungs- und Rezeptionsforschung, auf die Inhalte (‘Thematologie’), auf die Gattungen und auf die Übersetzungen. Sympathisch ist dem Rezensenten, daß die Verf. potentiellen Interessenten am Studium nicht nur davon abrät, es zwecks Vermeidung der Linguistik zu wählen - “da bekanntlich Literatur aus Sprache besteht” (S. 10), woran auch manch gestandenen Literaturprofessor gelegentlich zu erinnern nicht überflüssig scheint - , sondern daß sie auch bei aller Offenheit für die Untersuchung der Beziehungen der Literatur zu andern Künsten für die gebotene Bescheidenheit plädiert, da der Literaturexperte nun mal nicht zugleich Experte in allen möglichen andern Fächern sein könne. Wenn indes das Interesse sich auf die Struktur dieser Beziehungen richtet, könnte das theoretische, begriffliche und methodische Rüstzeug der Reviews 431 Semiotik ihr die Aufgabe erleichtern (cf. Hess- Lüttich & Rellstab 2005), was aber weit jenseits des Horizonts ihrer Ambitionen zu liegen scheint. Das vierte und letzte Kapitel widmet sie der Literatur im kulturellen Kontext anhand von vier komplexeren Bezügen zur Imagologie, Intermedialität, Interdisziplinarität und Periodisierung. Von besonderem Interesse für den semiotisch versierten Leser wären gewiß die Ansätze zum Vergleich der Künste in der Komparatistik, den die Verf. am Beispiel einiger Darstellungen der Salome in Musik und bildender Kunst illustriert. Hier stößt die Komplexität des Themas freilich an die Grenzen der Textsorte Einführung. Zwar konzediert die Verf., daß die Künste sich als Zeichensysteme begreifen ließen (S. 213), zieht daraus aber keinen weiteren analytischen Nutzen. Dafür sind die berühmten Beardsley-Illustrationen zur Salome sehr hübsch beschrieben, was Anfängern ja nicht schaden kann. Heute ist die Literatur zu Comparative Arts allerdings so unübersehbar geworden, daß dem Studierenden mit einigen genaueren Suchanleitungen zur Ergänzungslektüre gedient wäre. Aus linguistischer und wissenschaftssoziologischer Sicht enttäuschen muß zwangsläufig der Abschnitt über das Verhältnis zwischen “Literatur und Wissenschaften”, fürwahr eine “komplexe Verbindung”, wie die Verf. in der Überschrift vorsichtshalber warnt. Die Bemerkungen zur Fachsprache (S. 230) und den Unterschied zwischen der Foucaultschen Diskurstheorie und der linguistisch-empirischen discourse analysis touchieren die Grenze zur Trivialität. Was hätte man hier nicht alles unter Aspekten der Fachsprache der Literaturwissenschaft einerseits und der literarischen Verwendung von Fachsprache andererseits diskutieren und mit entsprechenden Beispielen und Übungen illustrieren können. Wie reizvoll wäre ein genretypologischer Vergleich zwischen science fiction auf der einen Seite und science-in-fiction, also der Literarisierung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse, auf der anderen Seite gewesen. Nun ja, eine Einführung kann nicht alle Wünsche erfüllen und auf diese Dimension der Literaturwissenschaft, insoweit sie als Wissenschaft betrieben wird, überhaupt hingewiesen zu haben, ist der Verf. gewiß zugute zu halten. Ein Vergleich mit der eingangs erwähnten Einführung Ulrich Weissteins wäre aus dem historischen Abstand von fast vier Dekaden unangemessen, jedenfalls hat schon die frühe mir mindestens soviel Lust auf das Studium gemacht wie diese jüngste. Aber auch die neue Einführung von Corbineau-Hoffmann macht Lust auf mehr, zum Glück hat der Student von heute mehr Auswahl als seinerzeit, und auch ihren Leipziger Schülern, denen sie den Band widmet, weil sie sich, wie im Vorwort zur zweiten Auflage scherzhaft schreibt, “jedes Semester neu [...] mit der (dieser) Einführung beschäftigen (müssen)” (S.8), wird sie sicher nicht verbieten, zusätzlich noch ein paar andere zur Hand zu nehmen, damit sie deren Mängel auch erkennen und dann sich vom “Plädoyer für das Lesen” (S. 17) überzeugen und zur eigenen Lektüre umso nachdrücklicher motivieren lassen. Literatur Corbineau-Hoffmann, Angelika 2004: Einführung in die Komparatistik, 2. Aufl., Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W.B & Daniel Rellstab 2005: “Semiotik der Künste”, in: Karlheinz Barck et al. (eds.) 2005: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, vol. 7, Stuttgart / Weimar: Metzler, 247-282 Zima, Peter V. 1992: Komparatistik: Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen: Francke [utb] Ernest W.B. Hess-Lüttich (Universität Bern) Addresses of authors Prof. Dr. Viktoria Eschbach-Szabo Eberhard Karls Universitaet Tübingen Seminar für Japanologie Wilhelmstrasse 90 72074 Tübingen eschbach@japanologie.uni-tuebingen.de Prof. Dr. Shelley Ching-yu Hsieh Southern Taiwan University of Technology Nantai St. Yung-Kang City Tainan Taiwan 710 Republic of China Prof. Dr. Klaus H. Kiefer Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur Institut für Deutsche Philologie Universität München Schellingstr. 3 (Rgb.) 80799 München khk@germanistik.uni-muenchen.de Karoline Münz College of Europe Natolin Campus ul. Nowoursynowska 84 02-797 Warszawa Polen Karoline.Muenz@gmx.net Andreas Rittau Université Paris 13 LSHS 99, av. Jean-Baptiste Clément 93430 Villetaneuse FRANKREICH andreasrittau@hotmail.com Prof. Dr. Dagmar Schmauks Technische Universität Berlin Arbeitsstelle für Semiotik FB1, FR 6-3 Franklinstraße 28-29 10587 Berlin dagmar.schmauks@tu-berlin.de Sebastian Schmideler M.A. Brandvorwerkstraße 77 04275 Leipzig s.schmideler@nenoff.de Martin Siefkes Havelberger Str. 25 10559 Berlin Martin_Siefkes@gmx.de Prof. Dr. Klaas Willems Gent University General Linguistics Blandijnberg 2 9000 Gent Belgien Klaas.Willems@UGent.be KODIKAS / CODE Ars Semeiotica Volume 28 (2005) • No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen