Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2007
301-2
KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 30 (2007) No. 1-2 Special Issue / Themenheft Erzählstile in Literatur und Film Herausgegeben von Jan-Oliver Decker Jan-Oliver Decker (Kiel) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Magdolna Orosz (Budapest) ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt: Überlegungen zu einem umstrittenen Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Daniele Langer (Göttingen) Elliptische Sätze. Zur Funktion des Erzählstils als discours- Element in biographischen Erzählungen von Streeruwitz und Damm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Wolfgang Struck (Erfurt) Evidenz und evidentia. Die Suche nach einem dokumentarischen Stil in Adam Olearius’ Beschreibung der muscowitischen und persischen Reyse (1656) . . . 61 Madleen Podewski (Wuppertal) Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten: Versuch einer historischen Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Ingo Irsigler (Kiel) “Music makes the world go sound.” Die Adaption popmusikalischer Verfahren in der neueren deutschen Popliteratur am Beispiel von Andreas Neumeisters Gut laut (1998/ 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Martin Nies (Passau) Short Cuts - Great Stories. Sinnvermittlung in filmischem Erzählen in der Literatur und literarischem Erzählen im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Andreas Blödorn (Wuppertal) Stilbildung und visuelle Kodierung im Film. Am Beispiel der deutschen Edgar Wallace-Filme der 1960er Jahre und ihrer Parodie in D ER W IXXER . . . . . . . . . . . . . . 137 Jan-Oliver Decker (Kiel) Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘Postmoderne’ am Beispiel von Michel Gondrys E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Addresses of authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 108,- (special price for private persons 72,-) plus postage. Single copy (double issue) 58,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2007 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: NagelSatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0171-0834 Einführung Jan-Oliver Decker Ausgehend von den Problemen einer textsemiotisch fundierten Analyse von Stil in Literatur und Film beinhaltet diese Ausgabe ausgewählte Beiträge der 6. Sektion “Erzählstile in Literatur und Film”, geleitet von Jan-Oliver Decker und Hans Krah, des 11. “Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Stil als Zeichen. Funktionen - Brüche - Inszenierungen” (Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder, 23. bis 26. Juni 2005). Proceeding from the problems of textbased semiotic analyzises of style in literature and film this issue comprises selected contributions of the 6 th section “Erzählstile in Literatur und Film” - headed by Jan-Oliver Decker and Hans Krah - of the 11 th “Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Stil als Zeichen. Funktionen - Brüche - Inszenierungen” (Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder, 23. to 26. Juni 2005). 1. Vorbemerkung Nicht nur die Bestimmung von Stil-Phänomenen in den unterschiedlichsten soziokulturellen Bereichen, sondern auch ihre wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung sind Gegenstand der verschiedensten humanwissenschaftlichen Disziplinen (Literatur- und Medienwissenschaft, Kunstwissenschaft, Soziologie, um nur einige zu nennen). Mit den Fragen danach, was Stil überhaupt ist, wie man Stil-Phänomene in ihrer Unterschiedlichkeit systematisch erfassen kann und wie Stil-Analysen vorzunehmen sind, beschäftigen sich zahlreiche Abhandlungen und Einzeluntersuchungen, 1 ohne dass sich eine einheitliche Argumentationslinie, gar eine Definition aus semiotischer Sicht auch nur abzeichnen würde (vgl. Nöth 2000: 397ff.). Dementsprechend erheben die folgenden einführenden Anmerkungen weder den Anspruch auf vollständige Erfassung des Problemfeldes, wie sie ebenso keine Definition dessen liefern können, was Stil ist und wie man Stil-Phänomene allgemeingültig im Bereich der Literatur- und Medienwissenschaft analytisch aufbereiten könnte. 2 Vielmehr reflektieren meine Ausführungen die produktive Diskussion des Stil-Begriffes als textanalytische Kategorie in der Sektion “Erzählstile in Literatur und Film” unter Leitung von Hans Krah und mir, die im Rahmen des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik “Stil als Zeichen. Funktionen - Brüche - Inszenierungen” vom 23. bis 26. Juni 2005 an der Viadrina in Frankfurt an der Oder stattgefunden hat. Die vorliegenden Beiträge sind in Auswahl aus den in der Sektion gehaltenen Vorträgen entstanden und haben verschiedene Aspekte der Stil-Analyse aus literatur- und medienwissenschaftlicher Sicht an konkreten Beispielen beleuchtet. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Jan-Oliver Decker 4 Im Folgenden soll es auf der Basis der hier versammelten Beiträge und der Diskussion, wie sie in der Sektion geführt wurde, vor allem um eine selektive Sicht auf das komplexe Feld der Stil-Analyse gehen, die medienübergreifend für Literatur und Film relevante Leitlinien der Dimensionen und der Tragfähigkeit des Stil-Begriffes konturiert. Gerechtfertigt erscheint dieser medienübergreifende Ansatz, wenn man Literatur und Film als sekundäre semiotische Systeme definiert (vgl. Lotman 1993 4 , Titzmann 2003) und damit ihre wesensmäßige Gemeinsamkeit hervorhebt. Das heißt, Literatur und Film werden jenseits ihrer Medienspezifik als medial konkrete und diskrete Texte aufgefasst, die mittels der an ihrer Konstituierung beteiligten Informationskanäle virtuelle Welten entwerfen, die ausschließlich und nur für sie gelten. Literatur und Film bedienen sich primärer, vorgefertigter semiotischer Systeme (Sprache, Schrift, Musik, ikonische Zeichen etc.), sie konstituieren damit aber sekundäre Bedeutungssysteme, die so nur dem jeweiligen literarischen Text oder Film zukommen. Um es metaphorisch zu formulieren: Literarische und filmische Texte erzählen uns ihre spezifisch gültige, je eigene Welt. Insofern soll im Folgenden trotz des medienübergreifenden Anspruchs auch eine Verengung der Perspektive auf den Stilbegriff in Form des Begriffs ‘Erzählstil’ vorgenommen werden: i) Wenn es so etwas wie Stilphänomene in Texten gibt, dann sind selbstverständlich die Medienspezifika an seiner Konstitution beteiligt. In Abrede steht also nicht, dass verschiedene Medien verschiedene Oberflächenstrukturen erzeugen beziehungsweise aufweisen. ii) Allerdings erzeugen diese Oberflächenstrukturen vor allem und zuerst textspezifische Bedeutungen. Das bedeutet, jedes Element einer Oberflächenstruktur ist zunächst funktional in den Kontext des ihn umgebenden Textes eingebunden, der virtuell eine eigenständige Welt entwirft. iii) So banal diese Feststellung erscheinen mag, so relevant ist sie doch für jede Diskussion von Stil, denn wenn wir über Stil reden, dann reden wir zunächst über die Beschaffenheit von Oberflächenmerkmalen, die wir mehr oder weniger komplex zu einem Strukturmuster zusammenfassen und zu Strukturmustern anderer Texte in Beziehung setzen. Gerade in der Erzählforschung stellen Stilistik und Stilanalyse klassisch-traditionelle Gegenstandsbereiche dar. 3 So werden gerne Oberflächenphänomene von (literarischen und audiovisuellen) Texten isoliert und unabhängig von ihrem Anteil an einer tatsächlichen Bedeutungskonstruktion in den Texten betrachtet. Dies geschieht zum Beispiel, wenn von einem “film noir style” gesprochen wird, der losgelöst von den historischen Kontexten konkreter US-amerikanischer Filme der 40er/ 50er Jahre immer wieder auch auf gegenwärtige Filmproduktionen angewendet wird (ähnlich auch Dogma-Stil, Defa-Stil etc.). Exemplarisch ist dies in der Literaturwissenschaft zu sehen, wenn emphatisch ein Autorenstil postuliert und auf der Folie normativer Urteile kanonisiert wird. iv) Da literarische und filmische Texte als sekundäre semiotische Systeme mittels ihrer Oberflächenstrukturen textspezifische Bedeutungswelten generieren, ist eine textsemiotische Stilanalyse an diese Bedeutungswelten gebunden (vgl. auch Martínez/ Scheffel 1999: 191). Die Konzeption der Kategorie Stil ist damit nicht allein als Beschreibung von rein formalen Elementen tragfähig. Vielmehr muss eine textsemiotische Stilanalyse beispielhafte Kategorien der Beschreibung entwickeln, welche die spezifischen Oberflächenphänomene und Strukturmuster für Bedeutungszusammenhänge in Texten und/ oder in Textkorpora funktionalisieren. Einführung 5 v) Relevante Ebenen für Erzählstile sind in dieser Hinsicht sicherlich: - Rhetorisch-sprachlich und/ oder ikonisch/ kinematographisch fundierte Phänomene, die sich als spezifische Erzähl-, Rede-, Darstellungsweisen bestimmen lassen. - Daten der Erzählsituation im Allgemeinen und der Erzählinstanz im Besonderen. - Modusphänomene (Erzählfilter, Perspektivierung, Fokalisierung, Vermittlung, Pointof-View). - Syntagmatische Dimensionen (Anfang/ Ende, Exposition, Segmentierungen, Wiederholungsstrukturen). - Handlungsverläufe und narrative Muster (Merkmale von Dramaturgie, Plotpoints, Grad der Narration). vi) Semiotische Definitionsbemühungen von Stil können derzeit als noch nicht abgeschlossen gelten. 4 Als Kern der gängigen Definitionen beschreibt Stil eine Wahl zwischen formalen Alternativen bezüglich eines identischen Inhaltes, die möglicherweise auf Konzepten von Abweichung von einer Norm basiert. Zu diskutieren sind allerdings immer noch Intension und Extension des Begriffs. Eine textsemiotisch orientierte Stildefinition sollte damit auf den Verfahren klassischer Erzähltheorie beruhen, discours- Elemente im Bedeutungsgefüge von Texten zu instrumentalisieren. 5 Genau in dieser Hinsicht verstehen sich die hier versammelten Beiträge als Grundlagen zu einer textsemiotisch fundierten Stiltheorie, die detailliert ein Arsenal/ Inventar zur Beschreibung von Stilphänomenen in Literatur und Film in einer semiotischen Ausrichtung entwickeln und überhaupt erst einmal zur Diskussion stellen. 2. Text vs. Kontext: Relationalität und Relativität von Stil Wenn eine Stilaussage getroffen wird (“Der Text weist den Stil x auf ”), dann erfolgt damit eine Referenzialisierung von Textdaten auf Mengen im kulturellen Wissen 6 mit dem Ziel der Vereinheitlichung und Kontextualisierung von Einzelphänomenen zu einem übergeordneten Ganzen. Die Kategorie Stil ist damit also zwar etwas, was sich im Text als Strukturmuster an einer Oberfläche manifestiert, sie geht aber als wahrgenommens Phänomen nicht vollständig im Text auf. Diese kommunikative, im engeren semiotischen Sinne pragmatische Dimension des Stilbegriffes, also die Bedingtheit von Stil durch einen Zeichenbenutzer und einen Zeichendeuter, ist neuerdings mehrfach betont worden (vgl. schon Riffaterre 1973 und Spillner 1995 und 1996). Aus textsemiotischer Sicht ist somit zu fragen, inwiefern die Kategorie Stil eine kontextuelle Kategorie des kulturellen Wissens ist, die von außen an einen konkreten Text herangetragen wird und inwiefern konkrete literarische und filmische Texte selber durch ihre Beschaffenheit die Kategorie Stil als textuelles Phänomen aufweisen und ggf. stilistische Kontexte als bedeutungsrelevant indizieren. Aus der Funktion der Kategorie Stil, Textstrukturen auf Wissensmengen im kulturellen Wissen zu referenzialisieren, folgen grundsätzlich zwei elementare Merkmale von Stil: i) Stil ist ein relationaler Begriff, der Textstrukturen und Kontextwissen zueinander in Beziehung setzt. ii) Stil ist ein relativer Begriff. Die Intension (die kategorialen Merkmale von Stil) und die Extension (die konkreten Textstrukturen, die unter die Kategorie Stil potenziell fallen) des Begriffs sind nicht absolut definierbar, sondern sind abhängig von der Komplexität Jan-Oliver Decker 6 der Strukturen eines Textes (oder Textkorpus), die relational auf Mengen kulturellen Wissens von variabler Komplexität bezogen werden (linguistische Untersuchung des Sprachstils eines konkreten Textes, i.e. Mikrostilistik, im Gegensatz dazu Untersuchungen zu einem Autorenstil, Epochenstil etc., i.e. Makrostilistik) 7 . Zu bestimmen sind also die Grenzen von Stil einerseits hin zum Einzeltext und andererseits hinsichtlich verschieden komplexer Textkorpora. Aus der Relationalität und der Relativität des Stilbegriffes folgen drei weitere Feststellungen: i) Stil ist als Phänomen des kulturellen Wissens ein kulturelles Paradigma, das als relevante Kategorie gedacht werden muss, damit es ein Phänomen ist, das in Texten wahrgenommen wird. ii) Stil ist ein kulturelles Raster (im engeren linguistischen Sinne ein Register, vgl. Hess- Lüttich 1974), also ein Set von im kulturellen Wissen konventionalisierten formalen Merkmalen. iii) Als solches ist Stil ein Redegenstand verschiedener Diskurse wie z.B. des/ der poetischen, ästhetischen, linguistischen, literaturwissenschaftlichen, medienwissenwschaftlichen (Teil-) Diskurse(-s), die Wissensmengen über Stil produzieren; es gibt aber keinen stilistischen Diskurs, das heißt, es gibt keinen festgelegten Redegegenstand und keine festgelegten Regularitäten der Rede über Stil und damit (im Sinne der Diskursdefinition Titzmanns 1989), kein geordnetes System des Denkens und Argumentierens, das Wissen über Stil und Stile produziert. 8 Vielmehr bedingen die Relationalität und Relativität ebenso wie die kulturelle Kontextualität der Kategorie Stil, dass Stilphänomene Gegenstand verschiedenster miteinander mehr oder weniger verbundener Diskurse sind und Stilaussagen damit potenziell auch quer zu den Wissensmengen stehen können, die die Diskurse einer Kultur produzieren. Anders gesagt: Stilaussagen gehen weder vollständig in einem einzelnen Diskurs auf, der sie produziert, noch gibt es einen übergeordneten stilistischen Diskurs, der Stilphänomene umfassend beschreiben und erklären könnte. 3. Historizität: Normativität vs. Wahlmöglichkeit am Beispiel von Goethes 261. Xenie Aus meinen bisherigen Ausführungen sollte klar geworden sein, dass es aufgrund der Bestimmung von Stil als einer relationalen Kontextualisierung einen nur auf einen einzigen Text begrenzten Stil nicht geben kann. Es gibt keinen individuellen Stil eines Textes. 9 Zwar generiert selbstverständlich ein Text mittels seiner Oberflächenstruktur individuelle Textbedeutungen, diese sind dann aber individuelle Kodestrukturen des Textes, bei denen bestimmte Oberflächenmerkmale und Strukturmuster funktional an das von ihnen Bedeutete gebunden sind. Unabhängig davon kann allerdings ein einzelner Text Stil zum thematischen Gegenstand machen, wie beispielsweise in Goethes und Schillers 261. Xenie: Der bunte Styl Die französischen Bonmots besonders, sie nehmen sich herrlich Zwischen dem deutschen Gemisch alberner Albernheit aus. 10 Bekanntermaßen stellen die Xenien Goethes und Schillers von 1796 eine polemische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur, Literaturkritik und Poetik dar. Die oben Einführung 7 zitierte Xenie gehört mit den Xenien 246-285 zur Polemik gegen Friedrich Nicolai, besonders gegen seine Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 (Vgl. Eibl in Goethe 1989: 1171f., allgemein zu den Xenien 1157-1165). Die 261. Xenie wendet sich nun, durch ihre Überschrift expressis verbis, dem Sprachstil von Nicolais Beschreibung zu. Damit wird in der 261. Xenie eine Eigenschaft von einem Text, nämlich der Sprachstil von Nicolais Beschreibung zu einem Thema in einem Text, nämlich der 261. Xenie. Die in der 261. Xenie getroffene Stilaussage über Nicolais Beschreibung lässt sich, folgt man dem Syntagma, in folgende Einzelaussagen zerlegen: Kritisiert wird im Hexameter die Vermischung von deutscher und französischer Sprache, also die Uneinheitlichkeit des primären Sprachkodes. Diese sprachliche Oberflächenebene der Beschreibung wird im folgenden Pentameter auf die Bedeutungen ausgeweitet, die Nicolais Beschreibung produziert. Auch die Bedeutungen, die die Beschreibung konstruiert, werden als uneinheitliches Gemisch kritisiert. Um die Formel “alberner Albernheit” nicht als redundante Tautologie aufzufassen, muss angenommen werden, dass die deutsch formulierten Bedeutungen der Beschreibung sprachlich auf die Weise formuliert werden, dass ihre Irrelevanz sich auch in ihrem Sprachstil reflektiert. Als Uneinheitlichkeit wird damit also weniger eine Differenz zwischen der oberflächlichen Form und dem bedeuteten Inhalt der Beschreibung von der 261. Xenie behauptet. Schließlich drückt sich die Irrelevanz und Mischung des Bedeuteten ja kohärent auf der formalen Oberflächenbene der Beschreibung aus. Vielmehr unterstellt die 261. Xenie, dass die Inkohärenz des Ausgesagten, die sich in der Aussageform der Beschreibung spiegelt, der eigentlich kritikwürdige “bunte Styl” sei. Von besonderer Bedeutung sind nun drei Feststellungen, wenn man den Kontext berücksichtigt, in dem diese Stilkritik an Nicolai geübt wird: i) Die 261. Xenie stellt ihrerseits so etwas wie ein Bonmot dar, nur eben in einer anderen literarischen Form, nämlich einer Annäherung an griechische Distichen. ii) Auch die Xenien erweisen sich gerade nicht als kohärent. Die 261. Xenie bekommt ihre Bedeutung nur auf der Folie der anderen umgebenden Xenien wider Nicolai und diese sind wiederum mit anderen literarisch-programmatischen und literaturkritischen Xenien kombiniert. iii) Die Xenien selbst sind massiv durch eine Vermischung von Fremd- und Selbstreferenzialität gekennzeichnet und sind darüber hinaus auch noch eine Mischung verschiedenster Aussagen über Literatur. Auf dieser Folie bekommt die 261. Xenie damit folgende kontextuelle Bedeutung: Stilkritik an anderer Literatur wird im Textmodell der Xenien geübt, deren formale Eigenheit ebenfalls als Stillage lesbar ist, denn die Xenien drücken nicht nur eine kritische Haltung gegenüber der zeitgenössischen Literatur aus, sondern legen nahe, dass ihnen - literarisch überformt - im Gegensatz zu Nicolai eine kohärente literarisch-poetologische Programmatik zu Grunde liegt, ob sich diese nun faktisch in den Xenien finden lässt oder nicht. Um es vereinfacht zu sagen: Die Xenien üben auf Basis einer postulierten eigenen poetologischen Programmatik Stil- und Literaturkritik. Die Xenien werden damit zu einem Modus von Literaturkritik und zu einer literarisch überformten Darstellunsgweise individueller Poetik auf der Grundlage eines klassischen Formenrepertoires, den Distichen, stilisiert. Die klassizistische Form der 261. Xenie und der Xenien überhaupt steht im Kontrast zur im Hexameter der 261. Xenie geübten Kritik des Sprachstils an Nicolais Beschreibung, deutsch und französisch zu mischen. Anstatt sich wie Nicolai am Französischen als der Sprache der Aufklärung zu orientieren, referieren die Xenien stattdessen auf antike Literaturmodelle. Damit kodieren die Xenien auch, dass sie selber ein frei gewähltes Formenrepertoire darstellen, das zu dem kritisierten Formenrepertoire in Opppsition steht. Die vorgebrachte Kritik hätte man nämlich Jan-Oliver Decker 8 eben auch in anderer, in der Zeit konventionellerer Form äußern können, beispielsweise als Abhandlung über Nicolais Beschreibung. Dass nun die Form der Xenien gewählt und von Schiller und Goethe geradezu zu der innovativen Sprechweise über Literatur erhoben wird, markiert nun deutlich, dass die poetologischen Diskurse der Goethezeit dadurch bestimmt sind, i) dass es keine verbindlichen Regln mehr gibt, ii) dass die poetologische Diskussion in die Literatur selbst verlegt wird (vgl. Krah 2005b) und iii) dabei einerseits die Formenrepertoires und Darstellunsgweisen frei wählbar zu sein scheinen, diesen aber andererseits selbst eine Strategie zu eigen ist, sich zur normativen Form zu erheben, auf deren Folie das formal Andere und Abweichende bewertet wird. Am Beispiel der 261. Xenie zeigt sich damit einerseits die Relationalität und Relativität der Kategorie Stil in der Goethezeit um 1796. Andererseits zeigt die 261. Xenie, dass die Diskussion um die absolute Definition der Kategorie Stil ebenfalls relational und relativ ist. Erinnert sei daran, dass die Stiltheorien um zwei widersprüchliche Theoreme aufgebaut werden: Entweder Stil wird i) als Abweichung von einer Norm oder aber ii) Stil wird als Wahl zwischen zwei alternativen Formenrepertoires begriffen. 11 Die Xenien zeigen nun exemplarisch, dass die gewählte Form substanziell bedeutungstragend ist, um sich von der kritisierten Form abzuheben. Ab dem Moment, wo es keine definitiv gültige Regelpoetik mehr gibt und die antike Rhetorik ihre Verbindlichkeit der Kodierung von Form und Inhalt verliert, mögen die Formenrepertoires zwar frei wählbar sein, wie aber gerade die 261. Xenie im Kontext mit den Xenien insgesamt zeigt, müssen gewählte Formenrepertoires relational zum Kontext und zum historisch gültigen kulturellen Wissen bewertet werden. Gerade wenn es keine normative Verbindlichkeit für die Zuordnung einer Darstellungsweise zu einer Inhaltsebene gibt, zeigen zumindest die Xenien, dass die normative Kraft einer Darstellungsweise kontextuell durch den Zusammenhang von Texten mit Texten behauptet wird: Nur durch historisch und kulturell kontextuell manifeste, konkurrierende Normen von Darstellungsweisen erweisen sich Formenrepertoires als sinnvolle Wahlmöglichkeit, die einerseits die Distinktion von einem historisch gebundenen Stil ermöglichen, andererseits aber die Homogenisierung einer Stillage in Abgrenzung zu anderen erlauben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass gerade nicht aufgrund der Form, sondern allein durch Untersuchung der Produktionsbedingungen der Xenien die Autorschaft einzelner Xenien zweifelsfrei zugeordnet werden kann. Gerade dies demonstriert die Exklusivität des Xenien-Stils, mittels dessen sich die Autoren Goethe und Schiller eine eigenständige kunstrichterliche und eine sich über die zeitgenössische Literatur erhebende literarische Richtung innerhalb der Goethezeit erschaffen. Das Beispiel der 261. Xenie verdeutlicht also, dass eine Stilanalyse immer den kulturellen Horizont eines Stilphänomens in Texten rekonstruieren muss und dass durch die historische Bedingtheit von Stil als eines zeitgebundenen kulturellen Paradigmas in einem wandelbaren kulturellen Wissen die kategorialen Merkmale von Stil eben nicht absolut und ahistorisch verbindlich definiert werden können. 4. Stil als variable Kodestruktur am Beispiel von Queneuas Stilübungen Raymonds Queneaus Stilübungen aus dem Jahr 1947 erzählen in 99 Versionen die immer gleiche Geschichte: Ein junger Mann mit Hut benutzt einen Bus der Linie S. Hier beschimpft er zunächst einen älteren Passagier, um sich dann auf einen frei gewordenen Platz zu setzen. Später befindet er sich am Pariser Bahnhof Saint-Lazare, wo ihm ein Freund mitteilt, dass an seinem Mantel ein Knopf fehlt. Einführung 9 Auffällig an dieser Geschichte ist vor allem, dass hier im narratologischen Sinne keine Geschichte erzählt wird. Das heißt, es wird keine Transformation zwischen zwei Zuständen geschildert. Es liegt im narratologischen Sinne kein Ereignis vor, das eine Geschichte fundiert. 12 Queneaus Stilübungen erzählen auf der Ebene der histoire nur ein immer gleiches Geschehen. Relevant ist dieser Befund deshalb, weil Queneau damit eine kohärente Bedeutung weitgehend ausspart, die durch das Erzählte gestiftet wird: Nicht das, was erzählt wird, sonderen wie etwas erzählt wird, ist vor allem in den Stilübungen bedeutungstragend. Die 99 Varationen des immer gleichen Geschehens sind zwar betreffs dieses Geschehens semantisch redundant, sie sind aber eben gerade nicht in ihrer variierten Darstellungsweise semantisch redundant: Die 99 verschiedenen Darstellungsweisen, die verschiedene Texttypen und Sprechweisen miteinander kombinieren, schaffen jeweils 99 semantisch differenzierte virtuelle Vorstellungsräume und damit eine je eigene topikale Semantik. Beispielsweise entwirft die 46. Stilübung mit dem Titel Gespenstisch eine potenziell fantastische Welt, in der ein Jagdhüter aus historischer Vergangenheit Augenzeuge des modernen Geschehens der Busfahrt wird oder aber die 37. Stilübung mit dem Titel Icke, icke führt einen berlinernden Augenzeugen des Geschehens vor und konturiert damit das Klischee des Berliners mit großer Schnauze, der sich lärmend über seine Umwelt aufregt. 13 Sowohl die 37. als auch die 46. Stilübung konzipieren also zwei ganz unterschiedliche Erzählinstanzen und damit verbunden zwei ganz unterschiedliche Welten, in die das immer gleiche Geschehen eingebunden wird. Dabei sind es gerade die Überschriften, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Darstellungsweisen der einzelnen Stilübungen in Kombination mit ihrer jeweils eigenen topikalen Semantik kontextualisiert werden. Wenn zum Beispiel der Texttyp Komödie aufgerufen wird, dann referiert die dermaßen betitelte 43. Stilübung auf ein kulturelles Wissen über die Gattungstradition. Ganz ähnlich referieren andere Stilübungen beispielsweise auf kulturelles Wissen der Rhetorik, wenn eine rhetorische Figur die Darstellungsweise organisiert, oder aber bestimmte Sprechweisen verweisen auf Gebrauchstexte der Mathematik, Medizin und Philosophie. Gerade an Queneaus Stilübungen wird damit dreierlei deutlich: i) Auch wenn die histoire nur minimal bedeutungstragend ist, weist jedes der gewählten Formenrepertoires eine spezifische Semantik auf. ii) Diese spezifische Semantik manifestiert sich im konkreten Textbeispiel. iii) Gleichzeitig referiert das gewählte Formenrepertoire auf Teilmengen kulturellen Wissens und ist in diesem kulturellen Wissen mit Bedeutungen versehen, die vielleicht nicht konsequent systematisch organisiert sind, aber bestimmte, kontextabhängige semantische Rahmen vorgeben, in denen die konkreten Textbedeutungen eine referenzialisierende Bedeutung entfalten können. Damit ist jede Aussage einer Stildefinition falsifiziert, die von einer semantischen Invarianz von Formenrepertoires sui generis ausgeht, sei es in konkreten Textbeispielen oder sei es in Form der textexternen Kontexte. 14 Somit lässt sich am Beispiel von Queneaus Stilübungen festhalten, dass Stilphänomene als textuell manifeste Strukturmuster der Oberfläche ihre Bedeutung zugleich zwischen der konkreten Textbedeutung und der konventionalisierten Bedeutung im kulturellen Wissen entfalten. Es gibt also sowohl im kulturellen Wissen konventionalisierte Bedeutungen eines Formenrepertoires oder Registers wie auch individuelle Textbedeutungen solcher angewandten Strukturmuster aufzufinden sind. Jede Stilanalyse sollte keine dieser Bedeutungsdimensionen ausschließen. Auf der einen Seite erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, dass Stilanalysen, die aus der Perspektive des kulturellen Wissens und eines angewandten Stils erfolgen, Stil als ein Zeichenrepertoire auffassen, das auf der Folie seiner historisch wandelbar konventionalisierten Bedeutungen durch konkrete Texte variabel kodiert wird. Auf der Jan-Oliver Decker 10 anderen Seite erscheint Stil aus der Perspektive von Stiluntersuchungen, die von den konkreten Textbedeutungen ausgehen, als ein Phänomen, das zusätzliche, kontextuelle Bedeutungen aus dem kulturellen Wissen qua Konnotation in einen Text implementiert, die mit den individuellen Textbedeutungen interagieren und diese variabel zusätzlich kodieren. Wenn z.B. ein Film einen dokumentarischen Stil verwendet (Handkamera, direkte Adressierung der Protagonisten in die Kamera, Authentifizierung des gezeigten Geschehens als faktuales Ereignis etc.), dann ist immer zu fragen, welche Funktion diese Darstellungsweise im konkreten Film hat und welche Kontexte referenzialisiert werden: Werden aus der Perspektive des kulturellen Wissens durch das konkrete Beispiel den im kulturellen Wissen konventionalisierten Bedeutungen des zeitgenössischen dokumentarischen Stils neue Bedeutungen zugewiesen (beispielsweise könnte das vorgeblich Dokumentarische als medial Konstruiertes entlarvt werden) oder wird aus der Perspektive des Textbeispiels der konkrete Film in eine ganz spezifische dokumentarische Tradition eingruppiert? Für die Literatur- und Medienwissenschaft muss deshalb gelten, dass eine Stilanalyse immer die relationale und relative Dimension des Stilbegriffs zu berücksichtigen hat. Wissenschaftlich-präskriptiv hat die Stilanalyse keinen Wert in sich selbst. Stilanalysen haben sich also, um wissenschaftlich sinnvoll zu sein, i) auf dem Fundament wissenschaftstheoretischer Normen der Theorien und Methodologien der Literatur- und Medienwissenschaft zu positionieren, und ii) die Ergebnisse solcher Stilanalysen haben sich den Wissensmengen über Literatur und Film unterzuordnen, beziehungsweise einzugliedern, die solchermaßen wissenschaftlich gewonnen werden. Auch wenn das vorgefundene kulturelle Wissen zu Stilphänomenen möglicherweise quer zu den literatur- und medienwissenschaftlichen Diskursen steht, die Wissen über Literatur und Film produzieren, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass sich Literatur- und Medienwisenschaft auf die undifferenzierten Grundlagen dieses Wissen einlassen sollten. Vielmehr haben Literatur- und Medienwissenschaft zu fragen, welche kontextuellen Bedeutungen Literatur und Film durch Stilphänomene entfalten. Zusammenfassen läßt sich für die Dimensionen einer textsemitoisch fundierten Stilanalyse damit Folgendes: i) Stil ist ein relationaler und relativer Begriff, der auf der Basis von Strukturmustern auf der Textoberfläche von Literatur und Film die Funktion einer Klassenbildung übernimmt, indem Stilphänomene sowohl auf Kontexte und damit auf Bedeutungsmuster im kulturellen Wissen referieren als auch diese Bedeutungen individuell in einer konkreten Textbedeutung verarbeiten. ii) Als solches ist der Stilbegriff historisch zweifach variabel: 1. Stil selber ist als gedachtes relevantes Paradigma, das wahrgenommen und verwendet wird, ebenso historisch gebunden und wandelbar wie auch 2. die Komplexität und die Merkmale von zu Stil(en) zusammengefassten Merkmalsbündeln kulturell-historisch gebunden und wandelbar sind. iii) Da es keinen einheitlichen stilistischen Diskurs gibt und sowohl normative Diskurse (Rhetorik, Poetik, Ästhetik) als auch deskriptive Diskurse (Linguistik, Literatur- und Medienwissenschaft) Wissen über Stile produzieren, ist Stil synchron und diachron abhängig von anderen kulturellen Rastern und anderen kulturellen Wissensmengen. iv) Stil ist damit nur näherungsweise eingrenzbar, wohl aber nicht absolut semiotisch definierbar. Einführung 11 v) Sinnvoll erscheint, den Stilbegriff metaphorisch für einen weichen Kodebegriff zu verwenden, bei dem durch mehr oder weniger im kulturellen Wissen konventionalisierte Zuordnungsrelationen mindestens eine Ausdrucks- und zwei Inhaltsseiten miteinander verbunden werden, nämlich eine individuell konkrete des Textes und eine textübergreifende kulturelle. Aus meiner Sicht bedeutet dies, dass bestimmte Oberflächenphänomene zusammen mit der Tiefenstruktur zwar eine individuelle Bedeutung in einem Text oder einem Textkorpus konstruieren, dass darüber hinaus die formale Ebene aber sekundär durch Strategien der Redundanz, der Selbstthematisierung der Form etc. auf einen anderen Kontext verweist, sei dieser textkorpusintern oder aber auf ein bestimmtes kulturelles Wissen bezogen (z.B. auch eines, das die Literaturwissenschaft selbst konstruiert). vi) Die Abgrenzung von Kode und Stil ist meines Erachtens die wesentliche Leistung, die eine semiotisch fundierte Stilanalyse erbringen müsste. Wenn Stil-Phänomene Kodestrukturen angenähert sind, die mit einer Oberflächenebene Bedeutungen verbinden, dann hat eine Stilanalyse immer funktional auf dem Hintergrund der faktisch konstruierten Bedeutungszusammenhänge in filmischen und literarischen Texten und auf der Folie des kulturellen Kontextes pragmatisch zu erfolgen. Eine Stilanalyse hat also 1. die Funktion von Teilstrukturen des Textes im konkreten Text selbst, 2. ihre Funktion in komplexeren Textkorpora und 3. ihre Funktion innerhalb des textexternen kulturellen Wissens zu bestimmen. 5. Die Beiträge Ausgangspunkt aller hier versammelten Beiträge sind manifeste Oberflächenphänomene in konkreten Textbeispielen, deren Funktionen im Bedeutungsgefüge individueller Texte und/ oder Textkorpora beschrieben, erklärt und auf ihre Tragfähigkeit für eine Stilanalyse thematisiert werden. Im Folgenden werden die einzelnen Bereiche skizziert, in denen die Verwendung des Stilbegriffes in den Beiträgen diskutiert wird. Alle Beiträge laufen dabei letztlich auf eine Textsortensemantik hinaus. Das heißt, spezifische Oberflächenphänomene von Texten werden daraufhin befragt, inwieweit sie tragfähig zur Identifizierung und Klassifikation textuell konstruierter, historisch variabler Erzählverfahren und/ oder der Konturierung von Teilstrukturen eines Literatursystems oder eines Filmkorpus unter dem Aspekt einer Stilanalyse beitragen könnten. Die Abfolge der Beiträge in diesem Band orientiert sich dabei primär an der Aufeinanderfolge von literatur- und filmwissenschaftlicher Analyse von Stilphänomenen, wobei die Beiträge von Ingo Irsigler (Literatur und Musik) und Martin Nies (Literatur und Film) durch ihren medienübergreifenden Ansatz die Schnittsstelle zwischen Literatur und anderen Medien bilden. Sekundär orientiert sich die Abfolge der Beiträge durch die Komplexität der Kontexte, in denen Stil als Kategorie in und von Texten problematisiert wird. Diese Kontexte sind in den vorliegenden Beiträgen 1. Stil und Erzählmodelle, 2. Stil und Epoche, 3. Stil und Kode, 4. Stil und Medium. Diese Abfolge ist dabei weder als Rangfolge noch als endgültige Klassifikation der relevanten analytischen Kontexte der Stilproblematik in erzählenden literarischen Texten und Filmen zu verstehen. Vielmehr steht die Analyse von Erzählmodellen und ihren möglicherweise für Stil relevanten Implikationen in den meisten Beiträgen im Vordergrund, die dann mit den anderen Kontexten mehr oder weniger ausführlich verknüpft wird. Jan-Oliver Decker 12 Eine erste große Gruppe von Beiträgen (Daniela Langer, Martin Nies, Magdolna Orosz) nähert sich von verschiedenen narratologischen Standpunkten aus Stilfragen. Der Band beginnt mit dem Beitrag von Magdolna Orosz, der grundsätzlich über die Möglichkeit einer Stilanalyse im Rahmen narratologischer Untersuchungen in solchen literarischen Texten reflektiert, in denen Stil selbst thematisch ist. Im Sinne einer klassisch linguistischen Stilanalyse arbeitet Daniela Langer heraus, dass ähnliche bis gleiche Oberflächenphänomene in verschiedenen zeitgleichen Textsystemen unterschiedliche Funktionen bei der Konstruktion semantischer Komplexe (Frauenbilder und textpoetologische Konzeption der zeitgenössischen Biographie) übernehmen können. Daniela Langers Beitrag fasst Stil dabei in einem klassisch linguistischen Sinne als eine Wahl zwischen Alternativen auf der Grundlage lexikalisch-semantisch-grammatikalischer Differenzen im synchronen Sprachsystem oder diachron historischer Zustände eines Sprachsystems auf und untersucht die Funktionalisierung dieser Differenzen auf ihre Interaktion mit den narratologischen Kategorien Stimme und Modus. Sowohl der Beitrag von Magdolna Orosz als auch der Beitrag von Martin Nies widmen sich der Frage, inwieweit literarische und/ oder mediale Textstrukturen mehr oder weniger konventionalisiert zu historisch signifikanten Erzählmodellen zusammengefasst werden könnten, die einen spezifischen ‘Erzählstil’ konturieren. Während die literarischen Texte, die Magdolna Orosz ihrem Beitrag zu Grunde legt, die Wahl zwischen verschiedenen Erzählmodellen explizit und/ oder implizit thematisieren - hier also Kodes der Inszenierung selbstreflexiv thematisch werden, die eine Wahl zwischen verschiedenen Erzählmodellen und/ oder Textsorten simulieren -, konzentriert sich Martin Nies mit seinem Short-Cuts-Erzählmodell auf die intermediale Adaption filmischer und literarischer Erzählverfahren im jeweils anderen Medium. Gerade in diesen beiden Beiträgen wird dabei deutlich, dass unter Stilphänomenen auf der Grundlage von Redundanzen und anderen formalen Strukturen spezifische Inszenierungsstrategien medialer Texte verstanden werden müssen. Diese spezifischen Inszenierungsstrategien in mehr oder weniger umfangreichen Textkorpora müssen dabei im kulturellen Wissen als Formenrepertoire abgespeichert und konventionalisiert sein, auch wenn hier sicherlich von stark variablen und offenen Merkmalsbündeln auszugehen ist. Die zweite große Gruppe der Beiträge (Andreas Blödorn, Jan-Oliver Decker, Ingo Irsigler, Madleen Podewski, Wolfgang Struck) überprüft den Stilbegriff im Hinblick auf den Zusammenhang von Teilstrukturen von literarischen und filmischen Texten mit übergeordneten epochalen und/ oder Genre-/ Gattungsstrukturen. In diesen Beiträgen wird der Begriff Stil eher in einem metaphorischen Sinn zur Beantwortung von Fragen angewendet, inwieweit mit einem Stilbegriff Kodes von Literatursystemen und/ oder Filmkorpora beschreibbar wären. Am deutlichsten arbeitet Andreas Blödorn anhand der deutschen Edgar- Wallace-Serie und ihrer Parodierung heraus, dass diese Serie einen umfassenden Kode aufbaut und wohl eine eigenständige Richtung innerhalb der deutschen Filmserienproduktion der 60er Jahre etabliert. Gerade die Redundanz der Kodes in den Einzelfilmen durch das Prinzip der Serialisierung legt hier nahe, einen nur noch metaphorischen Stilbegriff aufzugeben und von Kodes einer Richtung oder Epoche zu sprechen. Im Falle der “Popliteratur” (Ingo Irsigler) wird nachgewiesen, dass die Einbindung musikalisch konnotierter Formen funktional für eine spezifische Konzeption der Person und ein charakteristisches Geschichtsmodell ist und diese literarische Adaption des musikalischen Mediums einen für die literarische Richtung “Popliteratur” typischen Kode beschreibt. Ebenfalls die in den barocken Textstrukturen angelegte epochenspezifische Wirkungspoetik, die der Beitrag von Wolfgang Struck herausstreicht, ist in diesem Zusammenhang zu verorten. Ganz ähnlich argumentiert Einführung 13 auch der Beitrag von Madleen Podewski in die Richtung, dass innerhalb des Literatursystems “Frühe Moderne” für das Textkorpus als “trivial” bezeichneter Literatur regelhaft bestimmte Bedeutungen im konkreten Text mit einer bestimmten Oberflächenebene verknüpft sind, um damit eine komplementäre Funktion im Literatursystem zu erfüllen: Wo in der kanonisierten Literatur der Frühen Moderne Kategorien entdifferenziert werden, demonstriert die so genannte triviale Literatur eine Differenzierung und Festigung dieser Kategorien. Einen etwas anderen Schwerpunkt setzte ich in meinem Beitrag über die Anwendbarkeit eines Begriffes “Epochenstil”: Einerseits weist der von mir untersuchte Film einen rekonstruierbaren Kode auf, bei dem Oberfläche und Tiefenstruktur funktional aufeinander bezogen sind, andererseits sind die Oberflächenphänomene des Films textextern in ein kulturelles Wissen eingebunden, das dem verwendeten Formenrepertoire bestimmte Bedeutungen im Rahmen der Postmoderne-Diskussion zuweist. 6. Literaturverzeichnis Primärliteratur Goethe, Johann Wolfgang von 1989: Gedichte 1756-1799, hrsg. v. Karl Eibl, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1989 (= Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I.1). Queneau, Raymond 1994 3 : Stilübungen, Frankfurt a.M.: suhrkamp [zuerst 1947]. Sekundärliteratur Arnold, Heinz Ludwig / Detering, Heinrich (ed.) 1996: Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Bordwell, David / Staiger, Janet / Thompson, Kristin 1985: The Classical Hollywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960, New York: Columbia University Press. Derselbe 1997: “Modelle der Rauminszenierung im zeitgenössischen europäischen Kino”, in: Rost (ed.) 1997: 17-42. Borstnar, Nils / Pabst, Eckhard, / Wulff, Hans-Jürgen 2002: Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft (= UTB 2362). Decker, Jan-Oliver 2005: Madonna: “Where’s That Girl? ” - Starimage und Erotik im medialen Raum, Kiel: Ludwig (= LiMeS, 3). Dehn, Wilhelm (ed.) 1991: Der Deutschunterricht III (1991): Stil. Ezgräber, Willi / Gauger, Hans-Martin (ed.) 1992: Stilfragen, Tübingen: Gunter Narr Verlag (= ScriptOralia, 38). Genette, Gérard 1998²: Die Erzählung, München: W. Fink (= UTB 8083). Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1974: “Das sprachliche Register. Der register-Begriff in der britischen Linguistik und seine Relevanz für die Angewandte Sprachwissenschaft”, in: Deutsche Sprache 2.4 (1974), 269-286. Krah, Hans 2005a (ed.): Zeitschrift für Semiotik: “Selbstreferenz und literarische Gattung”, Heft 1-2 (2005). Krah, Hans 2005b: “Einführung”, in: Krah 2005a: 3-21. Lotman, Jurij M. 1993 4 [zuerst 1972]: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink (= UTB 103). Martínez, Matías / Scheffel, Michael 1999: Einführung in die Erzähltheorie, München: C.H. Beck. Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, Stuttgart: J.B. Metzler. Posner, Roland / Robering, Klaus / Sebeok, Thomas A. (ed.) 2003: Semiotik/ Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 13.3., Berlin/ New York: Walter de Gruyter. Riffaterre, Michael 1973: Strukturale Stilistik, München: List (= Taschenbücher der Wissenschaft, Linguistik, 1422). Rost, Andreas (ed.) 1997: Zeit, Schnitt, Raum, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren. Sowinski, Bernhard 1999 2 : Stilistik: Stiltheorien und Stilanalysen, Weimar: Metzler (= Sammlung Metzler, 263). Spillner, Bernd 1995: “Stilsemiotik”, in Stickel (ed.) 1995: 62-93. Derselbe 1996: “3. Stilistik”, in: Arnold/ Detering (ed.) 1996: 234-256. Stickel, Gerhard (ed.) 1995: Stilfragen, Berlin/ New York: Walter de Gruyter (= Institut für deutsche Sprache, Jahrbuch 1994). Jan-Oliver Decker 14 Titzmann, Michael 1989: “Kulturelles Wissen - Diskurs - Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung”, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 99 (1989): 47-61. Titzmann, Michael (2003): “Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft”, in: Posner/ Robering/ Sebeok (ed.) 2003: 3028-3103. Verdonk, Peter 2002: Stylistics, Oxford/ New York: Oxford University Press. Anmerkungen 1 Vgl. exemplarisch die versammelten Beiträge in Stickel 1995 und Erzgräber/ Gauger 1992. Dabei kommt vor allem den Beiträgen in Stickel 1995 das Verdienst zu, Stil als analytische Kategorie aus den verschiedensten theoretischen Zugängen fundiert umfassend zu problematisieren und Lösungsvorschläge zu systematisieren. 2 Vgl. zu den literaturwissenschaftlichen Zugängen der Stil-Analyse im Überblick Spillner 1996 und Sowinski 1999 2 , die am umfassendsten in die aktuelle Theoriebildung und Verfahren der Stilanalyse einführen. In der deutschen Medienwissenschaft stellt sich Stil, bis auf einzelne Untersuchungen, aktuell kaum als paradigmatisches Problem, jedenfalls fehlt es in den neueren Abhandlungen zur Medientheorie und in den aktuellen Einführungsbüchern - exemplarisch Borstnar/ Pabst/ Wulff 2002, vgl. Beitrag von A. Blödorn in diesem Band. Dies liegt vielleicht in der Abgrenzung vom Stilbegriff der angloamerikanischen Medienwissenschaft, der - ausgehend von Bordwell/ Thompson/ Staiger 1985 - weitgehend paradigmatische (“classical narrative Hollywood Style”) und genre- und formatspezifische Erzählkonventionen beschreibt. Vgl. zur Konstanz von Bordwells Ansatz einer kontextlosen Stilgeschichte, die kulturelle Funktionen von Film explizit negiert und auf dem Maßstab ästhetischer Kategoriebildung absolut teleologisch argumentiert, nämlich dass formale Veränderungen allein auf technologische Entwicklungen und ästhetische Intentionen von Filmschaffenden zurückzuführen sind, Bordwell 1997. Am Beispiel von Verdonk 2002 lässt sich vermuten, dass die anglo-amerikanische Literaturwissenschaft unter Stilanalyse vor allem konventionalisierte Verfahrensweisen literarischer Kommunikation als solche aufbereitet und analysiert. Einem eher weiten und unproblematisierten Stilbegriff steht die deutsche Literaturwissenschaft als deutlich problembewusster gegenüber. 3 Meines Erachtens weist der Stilbegriff in diesem Zusammenhang eine humanwissenschaftlich diachrone Dimension auf: Gerade die Literaturwissenschaft entwickelt sich historisch vom positivistischen Beschreiben von Oberflächenstrukturen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zur gegenwärtig modernen Textwissenschaft. Dabei entwickelt sich die Literaturwissenschaft vom bloßen Beschreiben kontextenthobener Formen und vom Postulieren außerzeitlicher Universalien hin zu einer historisch-kritischen Kulturwissenschaft. Stil erscheint mir dabei als analytische Kategorie ein Erbe vergangener Zustände des Wissenschaftssystems zu sein, das sukzessive an die durch neue Theoriebildung entstehenden Methodologien angepasst wird. Möglicherweise könnte eine - immer noch zu schreibende - Mentalitätsgeschichte der Literaturwissenschaft dazu beitragen, welche (selbst historischen) Einstellungen und Haltungen der Literaturwisenschaft gegenüber ihrem Gegenstand und ihrer Aufgabe dieses Festhalten am Stilbegriff erfüllt. Die in diesem Zusammenhang relevante Rolle der Fachdidaktik würde m.E. beispielsweise eine Untersuchung des Wissenschaftsverständnisses der Beiträge in Dehn 1991 erhellen können, die sich theoretisch-methodologisch revisionistisch Stil und Stilanalysen nähern, um normative Stilistik im Deutschunterricht zu legitimieren. 4 Vgl. wiederum Nöth 2000: 394-399, ebenso Spillner 1996. 5 Ich verwende den Begriff discours nach Titzmann 2003: 3069f. als Gesamtmenge der Präsentationsstrategien einer dargestellten Welt, der histoire. 6 Vgl. zum Begriff des kulturellen Wissens Titzmann 1989, der als kulturelles Wissen alle für wahr gehaltetenen Aussagen der Mitglieder einer Kultur definiert. Das kulturelle Wissen umfasst nach Titzmann kognitive, affektive und evaluative Normierungen einer Kultur und lässt sich in allgemeines und gruppenspezifisches kulturelles Wissen unterteilen. Das kulturelle Wissen ist hierarchisch geordnet in einem rekonstruierbaren Wissensystem einer Kultur. Das Wissenssystem wird dabei durch Diskurse organisiert, die Titzmann als Systeme des Denkens und Argumentierens definiert, die die Produktion von Wissen steuern und durch einen gemeinsamen Redegegenstand und gemeinsame Regularitäten der Rede definiert sind. 7 Vgl. zur Unterscheidung in Mikrostilistik vs. Makrostilistik Sowinski 1999 2 : 71f. 8 Gerade der Aufbau von Sowinskis 1999 2 Monographie belegt den fehlenden einheitlichen stilistischen Diskurs: Einer ersten Annäherung an Stil und Stilanalysen aus der Perspektive der beteiligten Fachwissenschaften und ihrer spezifischen Diksurse folgen in einem zweiten Schritt pragmatische, Elemente der Einzeldiskurse Einführung 15 synthetisierende Verfahren der Stilanalyse; vgl. zur Absenz einer einheitlichen Stilistik auch Spillner 1996: 236-241. 9 Vgl. Spillner 1996: 243. 10 Zitiert nach Goethe 1989: 524. 11 Vgl. Nöth 2000, Sowinski 1999 2 und Spillner 1995 und 1996. 12 Vgl. zur narratologischen Unterscheidung von discours und histoire Fußnote 5; vgl. zur Unterscheidung von discours vs. histoire auch Martínez-Scheffel 1999: 20-26; vgl. zur narrativen Analyse der histoire auf der Grundlage der Definition eines Ereignisses als Grenzüberschreitung zwischen zwei semantischen Räumen Lotman 1993 und Titzmann 2003: 3075-3084. Vgl. zur narratologischen Analyse des discours Genette 1998 2 . 13 Im französichen Original heißt diese Episode Moi je und wählt das sprachliche Register eines Pariser Arbeiters. Gerade auch die Übersetzung zeigt hier die Bedeutungshaftigkeit von Formenrepertoires als solchen an. In diesem Zusammenhang sei nur auf die Stilproblematik in der Übersetzungswissenschaft hingewiesen, vgl. Spillner 1996: 238 zur komparativen Stilistik. 14 Vgl. in diesem Sinne auch Decker 2005, wo ich am Beispiel der Musikvideos von Madonna nachweise, dass bestimmte Verfahren der Rauminszenierung zu einem für Madonna spezifischen Kode verdichtet werden, der mit oberflächlich variierenden Inszenierungsweisen in Madonnavideos interagiert und auf diese Weise eine konstante Entwicklung des Images von Madonna produziert. Grundlagen der Ästhetik von der Klassik bis zur Gegenwart Literatur, Bildende Kunst, Film und Neue Medien DER SCHEIN DER DINGE EINFÜHRUNG IN DIE ÄSTHETIK Herausgegeben von Monika Fick und Sybille Gößl 2002, 287 Seiten, zahlr. Abbildungen, € 19,90 / SFr 33,50 ISBN 3-89308-352-9 Das Buch bietet eine Einführung in die Ästhetik, in der Kunst und ästhetische Theorie in einen Dialog gebracht werden. Es wendet sich an Studierende und Liebhaber, die grundlegende Informationen zur Ästhetik und zugleich einen Weg zur Kunst suchen. Der Bogen reicht von zentralen Konzepten der klassischen Ästhetik bis hin zu Entwicklungen der Postmoderne. Das Material ist systematisch gegliedert, wobei die Systematik mit Hilfe von Bildbeispielen erschlossen wird. Zugleich ist sie so gestaltet, daß historische Entwicklungen transparent werden, daß insbesondere der Zusammenhang zwischen Kunst, Kunsttheorie und dem jeweiligen Weltbild einer Epoche deutlich wird. Die Beiträge sind interdisziplinär, neben Literatur und Bildender Kunst sind Film und neue Medien vertreten. Attempto Verlag · Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen E-Mail: info@attempto-verlag.de Internet: www.attempto-verlag.de ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt Überlegungen zu einem umstrittenen Begriff 1 Magdolna Orosz (Budapest) Der Begriff ‘Stil’ scheint in der Narratologie der letzten Jahrzehnte keine zentrale Kategorie gewesen zu sein: Es wird zwar von den Eigenarten des Erzählens bei verschiedenen Autoren oder in verschiedenen Epochen und “Richtungen” gesprochen, es ist aber nicht unproblematisch, diese mit dem Stilbegriff eindeutig beschreiben zu wollen. Die Frage, was den ‘Stil’ eines Werkes, eines Autors usw. ausmacht, auf welchen Ebenen des Erzählens oder eben in der erzählten Welt Stilkategorien zu finden wären, ließe sich womöglich erst nach komplexen systematischen Untersuchungen beantworten. Der Beitrag stellt die Frage, ob ‘Stil’ durch Diskurserscheinungen zu fassen ist und versucht in einer ersten Annäherung von der Analyse der Einrichtung der erzählten fiktiven Welt (z.B. Raumstrukturen, Figurenkonstellationen, Konflikte) ausgehend Merkmale zu finden, die für eine umfassendere Stilanalyse nützlich gemacht werden könnten. Auf Grund einiger Textanalysen werden zeichenhafte strukturelle Eigenschaften beschrieben, die z.B. die Erkennbarkeit von Autoren, parodistische oder andersartige “Transponierungen” sowie (hier nicht behandelte) mediale Transfermöglichkeiten bestimmen, um dadurch zu Rückschlüssen in Bezug auf den untersuchten Begriff gelangen zu können. The concept of ‘style’ was in the narratology of the last decades not really important: although some characteristics of narration in the work of some authors, epochs or literary movements were discussed, it is not evident to describe them with different and traditionally accepted categories of style. The problem of the ‘style’ of a text, of an author or of a more or less vaste corpus of texts could be dealed with on the basis of a complex and systematical analysis. The paper poses the question if ‘style’can be apprehended through features of narrative discourse (or even of language phenomena), and, starting with a general analysis of the narrated fictional world (e.g. space structures, figural constellations, conflicts, etc.), it makes an attempt to find out some traits/ elements which could be used in the description of the characteristics of narrative worlds. On the basis of three literary texts, some structural features will be described which could lead to postulate some (textual or even here not discussed medial) “transpositions” demonstrating the necessity of a deeper situating of the concept, as style phenomena are extensively determined by the construction of narrative world. 1. Stilbegriff und Narratologie Der Begriff ‘Stil’ ist in der Literaturwissenschaft ein vielfach gebrauchter und, von den Analyseaspekten und den theoretischen Postulaten der jeweiligen Annäherungsweise abhängig, verschiedenartig und nicht eindeutig definierter Terminus, der zugleich auch Gegenstand einer eigenständigen Disziplin, der Stilistik ist, die, mit der Linguistik, der Ästhetik und K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Magdolna Orosz 18 der Rhetorik enge Beziehungen unterhaltend, zugleich disziplinübergreifende Probleme aufwirft und behandelt. Es ergeben sich je nach theoretischen Konzeptionen verschiedene Definitionsschwierigkeiten: ‘Stil’ wird allgemein als von den unterschiedlichen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten Gebrauch machende Gestaltung von sprachlichen/ literarischen Texten oft nicht nur als ein deskriptiv-analytischer Terminus verwendet, sondern auch mit normativen Kategorien verbunden und durch an und für sich schwer bestimmbare Abweichungen von einer (sprachlichen und/ oder rhetorischen und/ oder literarischen und/ oder ästhetischen) Norm zu bestimmen versucht, deren Grundlage das “Stilprinzip der Angemessenheit” (Plett 1991: 102) wäre. Demnach werden diverse Stilarten (Stillagen, Stilebenen oder Stilschichten) unterschieden, die nach “Intention, Thematik und Situation der Rede” gewählt und “durch einen festen Kreis von Stilkategorien” (Plett 1991: 102) bestimmt werden. Die Nähe einer solchen Behandlung von ‘Stil’ zu rhetorischen Kategorien ist, wie dies auch aus der Einteilung der “genera elocutionis” bei Lausberg hervorgeht (Lausberg 1990: 154) 2 , offensichtlich. Dabei spielen, obwohl Poetiken längst nicht mehr präskriptiv formuliert werden, normative Wertvorstellungen in der Beschreibung von Stileigenschaften von Texten, besonders in der Literaturkritik, weiterhin eine große Rolle, unabhängig davon, ob ‘Stil’ als besondere sprachliche Ausgestaltung, als Abweichung von einer bestimmten Norm, als (individuelle) Auswahl aus Alternativen oder “als das Resultat aus der Auswahl des Autors aus den konkurrierenden Möglichkeiten des Sprachsystems und der Rekonstituierung durch den textrezipierenden Leser/ Hörer” (Spillner 1996: 246) verstanden wird. 3 Die Festlegung verschiedener Stilebenen oder Stillagen variiert in einer großen Breite und zeigt unsichere und verschiedenartige Einteilungskategorien auf. Obwohl, der klassischen Rhetorik folgend, ein gehobener, ein mittlerer (alltäglicher, ungeschmückter) und ein niedriger Stil aus den verschiedensten Gruppierungen und detaillierten Differenzierungen bis heute allgemein hervorgeht (vgl. Plett 1991: 103f.), ist die Zuordnung verschiedener Stilelemente oder Stillagen ziemlich variabel und teilweise unsicher, zumal in kritisch-bewertenden Schriften oft auch individuell geprägte Begriffsverwendungen anzutreffen sind. So kann man in der Beurteilung literarischer Prosatexte 4 , vor allem die sprachliche Ausformulierung betreffend, u.a. über komischen, ironischen, sarkastischen, naiven, gewählten, spannenden, ausgeschmückten, lebendigen/ lebhaften, ruhigen, lakonischen, intellektuellen, dramatischen, theatralischen, straffen, geschwätzigen, schwerfälligen, leichtfüßigen, pointenreichen, vulgären, einfühlsamen, gefühlvollen, bildhaften, ausmalenden, andeutenden, märchenhaften, flachen, lakonischen, ungewöhnlichen, gegebenenfalls aber auch über linearen, filmischen oder sogar über Ich-Erzählstil wie über auktorialen Erzählstil lesen. Diese letzteren lassen sich dagegen auf andere Texteigenschaften und Textebenen beziehen als die vorigen: Sie verweisen auf eine gewisse Einrichtung der erzählten Welt bzw. ihre Vermittlung, die in einer narratologischen Analyse im Vordergrund stehen, 5 da ihre Eigenarten vielfältig auf alle Elemente und Ebenen der Textstruktur von Erzähltexten auswirken. Dementsprechend verdient die Untersuchung der Frage, inwiefern traditionelle Stilkategorien mit narratologischen Analysekategorien verbunden werden können, eine besondere Aufmerksamkeit, zumal narratologische Annäherungen eine komplexe Analyse von erzählter Geschichte und Erzähldiskurs, wenn auch mit jeweils anderen Akzentsetzungen, anstreben. Der Begriff ‘(Erzähl)stil’ kann dabei doppelt verwendet werden: Einerseits bezeichnet er “[i]m Sinne von ‘Sprachstil’ eine Eigenschaft der Darstellungsebene von Erzählungen” (Martinez/ Scheffel 1999: 191), d.h. die sprachliche Gestaltung/ Formulierung des Erzähltextes bzw. (mit einer gewissen terminologischen Unsicherheit) sogar “Darstellungsverfahren” (Martinez/ Scheffel 1999: 25), 6 andererseits werden damit, als ein Bündel von Erscheinungen, ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 19 die mit bestimmten Eigenarten des Erzähldiskurses, d.h. mit dem Verhältnis von explizit und implizit Thematisiertem, thematischem Vordergrund und unthematischem Hintergrund (Martinez/ Scheffel 1999: 132f.), d.h. unter anderem mit Perspektivierungen, Erzählerdispositionen verbunden sind, umfassende Phänomene des Erzähldiskurses benannt, die die Einrichtung der erzählten Welt kennzeichnen. Die Analyse der Einrichtung der erzählten fiktiven Welt, d.h ihrer Raumstrukturen, Figurenkonstellationen, Konflikte, rückt damit auch in den Skopus einer Analyse, die Stilkategorien aufzudecken und zu situieren bestrebt ist, um Merkmale bzw. Anhaltspunkte zu finden, die für eine Stilanalyse narrativer Texte nützlich gemacht werden könnten. 2. Stil, Stillagen und die Einrichtung der erzählten Welt Die gegenseitige Bedingtheit von erzählter Geschichte und Erzähldiskurs ist eine heutzutage selbstverständliche Voraussetzung einer narratologischen Analyse, die erzählte Welt wird sowieso erst durch eine erzählerische Vermittlung zugänglich. Dass die Art und Weise dieser Vermittlung eine entscheidende Rolle spielt, wird oft auch in Erzähltexten selbst thematisiert, wobei diese Thematisierung eben die Wahl der Elemente der erzählten Welt betrifft und somit die “Bauregeln” ihrer Einrichtung betont hervorhebt und erkennen läßt. Die Bemerkungen des fiktiven Erzählers über seine eigene Erzähltätigkeit (in meiner Terminologie: die Erzählerinterventionen) werfen häufig solche Fragen auf. In Thackerays Roman Jahrmarkt der Eitelkeit mischt sich der fiktive Erzähler immer wieder in seine erzählte Geschichte ein und bespricht verschiedene Themen, wobei er auch oft bestimmte Züge der von ihm erzählten Geschichte, ihrer Figuren, ihrer Konflikte, der Wahl der Schauplätze präsentiert und damit auch seine eigene erzählerische Tätigkeit diskutiert (diese Erzählerinterventionen gehören somit überwiegend zur Kategorie der die syntaktisch-semantischen Relationen bzw. die literarischen Konventionen und die Schreibtätigkeit thematisierenden Erzählerinterventionen) 7 . An einer Stelle werden der aktuelle Stand der erzählten Geschichte und die Frage ihrer Weiterführung aufgeworfen und die dem Erzähler zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten aufgezählt, wobei mit der Aufzählung der “vornehmen”, der “romantischen” und der “burlesken Art” zuerst die dem Erzähler potenziell zur Verfügung stehenden rhetorischen Stillagen thematisiert werden (die “romantische” könnte dabei eine zwischen der “hohen” und der “niedrigen” situierbare Stillage bezeichnen) 8 : Ich spiele eine reichlich sanfte Melodie, ich weiß (wenngleich einige erschütternde Kapitel im Anzuge sind). Indes möge ein nachsichtiger Leser sich vergegenwärtigen, dass wir es im Augenblick nur mit der Familie eines Börsenmaklers am Russel Square zu tun haben, die spazierengeht, ißt und trinkt, liebt und plaudert, wie man es so macht im gewöhnlichen Leben, ohne dass etwa wunderbare oder leidenschaftliche schwere Zwischenfälle das Wachsen ihrer Liebe bekundeten. Wir sind jetzt so weit gediehen: Osborne, verliebt in Amelia, hat seinen alten Freund zum Essen und nach Vauxhall eingeladen. Josef Sedley ist in Rebekka verliebt. Wird er sie heiraten? Diese große Frage soll uns hier beschäftigen. Wir hätten den Gegenstand auch auf die vornehme, die romantische oder die burleske Art behandeln können. (Thackeray 1975: 66, Hervorhebungen M.O.) Danach werden die konkreten Wahlmöglichkeiten bzw. die Konsequenzen einer bestimmten Wahl besprochen: 9 Magdolna Orosz 20 (1) die “vornehme Art”: Angenommen, wir hätten die gleichen Abenteuer an den Grosvenor Square verlegt, hätten gewisse Leute dann nicht zugehört? Wenn etwa Lord Josef Sedley sich verliebt und der Marquis Osborne Lady Amelia den Hof gemacht hätte mit voller Zustimmung des Herzogs, ihres hochgeborenen Vaters? (2) die “burleske Art”: Statt in die Höhen der vornehmen Welt hätten wir die Szene aber auch in die Niederungen verlegen und erzählen können, was sich in Mrs. Sedleys Küche tat, da der schwarze Sambo ein Auge auf die Köchin geworfen hatte (was auch stimmte), wie er sich ihretwegen mit dem Kutscher prügelte, wie der Küchenjunge mit einer gestohlenen kalten Hammelkeule erwischt wurde und Miss Sedleys neue Kammerjungfer ohne Wachslicht nicht zu Bett gehen wollte. Mit solchen ergötzlichen Bildern hätte man das vergnügteste Gelächter erwecken können. Sie würden allgemein für “Szenen aus dem Leben” gelten. (3) die “romantische Art”: Wenn wir uns statt dessen dem Erschrecklichen zugewandt und den Schatz der neuen Jungfer zum Gewohnheitsverbrecher gemacht hätten, der mit seinen Spießgesellen in das Haus einbricht, den schwarzen Sambo zu Füßen seines Herrn hinmordet, Amelia im Nachtgewand entführt und vor dem dritten Band nicht wieder losläßt, wir hätten eine spannende Geschichte zusammengebracht, deren feurige Kapitel der Leser atemlos durchfliegt. (Thackeray 1975: 66f., Hervorhebungen M.O.) Die lang ausholende Textstelle vereinigt alle drei Typen von Erzählerinterventionen: Eingangs werden literarische Stilmöglichkeiten und die Folgen einer Wahl für die erzählte Welt besprochen (Thematisierung von Gattungs- und Schreibkonventionen), am Ende wird die Textstelle als literarischer Text (selbstreflexive Thematisierung des Textes als Literatur) bzw. ihre Stellung innerhalb des Textes (Thematisierung syntaktisch-semantischer Relationen) kenntlich gemacht, und zuletzt wird noch eine (scheinbare) Referenz auf die außertextuelle Welt des Lesers eingeführt. Die komplexe Erzählerintervention führt auch die Konsequenzen für die erzählte Welt aus: Von der Wahl abhängig verändert sich zwar nicht die “Kerngeschichte”, d.h. die Tiefenstruktur der Ereignisse (es bleiben “die gleichen Abenteuer”, in denen man “spazierengeht, ißt und trinkt, liebt und plaudert, wie man es so macht im gewöhnlichen Leben”), wohl aber die Zusammensetzung des Figurenpersonals und ihrer Eigenschaften, damit verbunden die Art der Ereignisse sowie die Raumgestaltung. Eine “vornehme” Erzählung verlangt nach Lords, Marquis und Ladys mit “edler” Liebe sowie nach “Grosvenor Square”, die “niedrige” dagegen wird in die Unterschicht und somit in “Mrs. Sedleys Küche” mit den entsprechenden Figuren (Köchin, Kutscher, Küchenjunge, Kammerjungfer) und ihrer handgreiflichen eifersüchtigen Liebesgeschichte verlegt. Eine eventuelle Abenteuergeschichte (also die “romantische”) erfordert Einbrecher, Mord, Entführung und ein entsprechend schnelles Tempo der Ereignisse. Die statt all deren zu erzählende “hausbackene Geschichte” ist ebenfalls keine romantische, sie wird in die mittlere Schicht, in die Familie eines Börsenmaklers sowie - zumindest im eben referierten Kapitel - nur nach Russell Square als Wohnsitz der Figuren und in der aktuellen Episode nach Vauxhall als Zeichen für bürgerliche Vergnügung verlegt: Auf solche romantische Erzählungen dürfen meine Leser indessen nicht hoffen. Sie sollen sich mit einer guten, hausbackenen Geschichte zufriedengeben, mit einem Kapitel über Vauxhall, das fast zu kurz ist, um den Namen Kapitel zu verdienen, und doch ist es eins, sogar ein sehr wichtiges. Hat nicht jeder in seinem Leben solch kleine, scheinbar nichtige Kapitel, die doch den ganzen Ausgang der Geschichte ändern? (Thackeray 1975: 66f., Hervorhebungen M.O.) Die Erwägung der Wahlmöglichkeiten und die Entscheidung des fiktiven Erzählers für die eine oder andere Variante kommt auch bei anderen Autoren oft vor und erfüllt ähnliche Funktionen. So diskutiert der Erzähler in E.T.A. Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann die ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 21 Frage des passenden Anfangs der zu erzählenden Geschichte (wohlgemerkt: nachdem der Leser die drei Briefe, die die Vorgeschichte und ihre Bewertung durch die Figuren enthalten, schon mitgeteilt bekommen hatte): Das Wunderbare, Seltsame davon erfüllte meine ganze Seele, aber eben deshalb und weil ich dich, o mein Leser! gleich geneigt machen mußte, Wunderliches zu ertragen, welches nichts geringes ist, quälte ich mich ab, Nathanaels Geschichte, bedeutend - originell, ergreifend, anzufangen: »Es war einmal« - der schönste Anfang jeder Erzählung, zu nüchtern! - »In der kleinen Provinzial-Stadt S. lebte« - etwas besser, wenigstens ausholend zum Klimax. - Oder gleich medias in res: »Scher’ Er sich zum Teufel, rief, Wut und Entsetzen im wilden Blick, der Student Nathanael, als der Wetterglashändler Giuseppe Coppola« - Das hatte ich in der Tat schon aufgeschrieben, als ich in dem wilden Blick des Studenten Nathanael etwas possierliches zu verspüren glaubte; die Geschichte ist aber gar nicht spaßhaft. Mir kam keine Rede in den Sinn, die nur im mindesten etwas von dem Farbenglanz des innern Bildes abzuspiegeln schien. Ich beschloß gar nicht anzufangen. (Hoffmann 1985: 26f., Hervorhebungen M.O.) Hier, wie aus der Passage hervorgeht, wechseln allerdings nicht das Personal und die zu erzählenden Ereignisse, sondern eben ihre potenzielle Präsentation ab: sie reicht von “[zu] nüchtern” bis “bedeutend”, “originell”, “ergreifend”, “medias in res”, wobei die verschiedenen Möglichkeiten eben als nicht zur Geschichte passend empfunden werden, da sie “gar nicht spaßhaft” ist und deshalb quasi “unvermittelt”, d.h. nur durch die schon mitgeteilten Briefe präsentiert werden soll, was einem Verzicht auf jedweden traditionellen Erzählanfang gleichkommt: “Ich beschloß gar nicht anzufangen”. Fieldings fiktiver Erzähler unterscheidet in Tom Jones zwei grundlegende Arten der Wiedergabe von Ereignissen, die des Historikers und die des Erzählers und will seine Geschichte literarisch gestalten: 10 Obwohl wir dieses unser Werk mit Recht “Geschichte” betitelt haben und nicht “Leben und Taten”, oder “Verteidigung des Lebens und der Meinungen”, wie es der Mode mehr entspricht: so sind wir dennoch gesonnen, eher dem Gebrauch jener Schriftsteller zu folgen, deren Geschäft es ist, die umwälzenden Ereignisse der Länder darzulegen, als es dem mühseligen und bändereichen Geschichtsschreiber nachzumachen, der sich, um die Regelmäßigkeit seiner Chronika beizubehalten, verpflichtet fühlt, ebensoviel Papier mit der ausführlichen Schilderung von Monaten und Jahren zu beschreiben, in denen nichts Merkwürdiges vorgefallen ist, wie er zu jenen wichtigen Zeitläufen braucht, in denen sich die größten Auftritte auf der Bühne des Lebens abgespielt haben. […] Nun ist es unsre Absicht, in den folgenden Blättern einer jener ganz entgegengesetzten Methode zu folgen. Wenn sich ein außerordentlicher Auftritt darbietet (und wir glauben, dass dies oft der Fall sein wird), so werden wir weder Mühe noch Papier sparen, um ihn unserm Leser in vollem Umfang vor Augen zu führen: sollten aber ganze Jahre hingehen, ohne etwas hervorzubringen, was seiner Aufmerksamkeit wert wäre, so soll uns eine Lücke in unserer Geschichte keinen Kummer machen, sondern wir werden forteilen zu Dingen von Wichtigkeit und solche Zeitperioden überhaupt nicht beachten. (Fielding 1966: 61f., Hervorhebungen M.O.) Die Methode der zeitlichen Gestaltung der erzählten Geschichte wird hier ausdrücklich thematisiert, indem der Erzähler verspricht, in der literarischen Erzählung zeitraffend vorzugehen und nur bei einigen Knotenpunkten der ablaufenden Ereignisse stehenzubleiben, wodurch eine Gewichtung der Ereignisse für die Geschichte, also eine Art “Selektionsregel” der erzählten Welt angedeutet wird. Die Charakterisierung, die Eigenschaften und die Rolle der Figuren können (wiederum in Erzählerinterventionen eingebettet) auch explizit gemacht werden, wobei zugleich auf die Magdolna Orosz 22 potenzielle Beurteilung des gewählten Erzählverfahrens durch die Kritik selbstreflexiv angespielt wird: Wenn Figuren aus dem Stande einer relativen und metaphorischen Heiligkeit wieder - sei’s nur so vorübergehend - zu uns gewöhnlichen Menschen herabsinken und unter uns wandeln, so geraten sie dabei sehr leicht neuerlich in des Schriftstellers aufgestellte Netze: in diesen zappeln jetzt plötzlich zwei dick und fett gewordene alte trojanische Pferdchen. Sachte! Wir wollen sie bald wieder befreien; vorher aber doch ein bissel anschauen; wir wollen sehen, wie sie’s treiben. […] Die Kritik wird mit Recht sagen, dem Autor sei es nicht gelungen, diese beiden Figuren “schärfer zu profilieren und von einander abzuheben”. Nicht nur nicht gelungen; er hat es gar nicht einmal versucht! Hat sich was mit ‘profilieren’ bei diesen Menschern! Von allem Anfang an hab’ ich sie miteinander verwechselt, und nie gewußt, wie eine einzeln ausschaut, sondern immer nur, wie beide zusammen. (Doderer 1994: 293, Hervorhebungen M.O.) Als Ergebnis solcher Überlegungen kann sich die eine oder andere Figur als überflüssig für die Geschichte erweisen, und sogar diese Tatsache läßt sich ausdrücklich in einer die syntaktisch-semantischen Eigenschaften der erzählten Geschichte reflektierenden Erzählerintervention thematisieren: Goethe schreibt einmal an Schiller: “Die Poesie ist doch eingentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet.” Uns aber, soweit da von Poesie noch die Rede sein kann, geht, angesichts der beiden harmlosen Idiotinnen, die Pathologie und jegliches Pathos überhaupt aus; und worauf sollten wir dann gründen? Solche Figuren kann man nur aus der Komposition hinauswerfen, weil der Grad ihrer Simplizität unerträglich geworden ist und jedweder Kunst Hohn spricht (und ihrer durchaus nicht mehr bedarf). (Doderer 1994: 99f., Hervorhebungen M.O.) Die Beispiele ließen sich fortsetzen: Die Tatsache, dass sie aus Texten verschiedener Autoren und verschiedener Epochen stammen, läßt vermuten, dass es sich hier um eine allgemeine Reflexionsmöglichkeit literarischer Erzähltexte handelt, die aber nicht unbedingt in allen Texten wahrnehmbar präsent sein muß. Der fiktive Erzähler meldet sich tatsächlich nicht immer zu Wort, sondern nur in den sogenannten “auktorialen” Formen, obwohl eine fiktive Erzählinstanz zur Kommunikationsstruktur aller Erzählung gehört, wenn er sich auch nicht immer explizit zu Wort meldet. Die Postulierung eines fiktiven Erzählers ist eine notwendige Voraussetzung für alle Arten des Erzählens, so auch im sog. unpersönlichen Erzählen. 11 Die Art und Weise der Einrichtung der erzählten Welt gehört in den Wirkungsbereich des fiktiven Erzählers, und dieser Einrichtung, dieser Konstruktion kommt eine grundlegende Bedeutung zu. 12 Die Beschaffenheit der Einrichtung der erzählten Welt ist, wie dies aus den Beispielen hervorgegangen sein mag, unter bestimmten Bedingungen wählbar, und die Wahl wirkt auf die Geschichte, ihre Präsentation und die Ausgestaltung des Textes als Erzähltext, sowie auf seinen ‘Stil’ aus. 3. Die Einrichtung der erzählten Welt als fiktive ‘mögliche Welt’/ Textwelt Die erzählte Welt wird, wie dies die Textbeispiele gezeigt haben mögen, nach bestimmten Regelmäßigkeiten aufgebaut. Die in der Textwelt erzählte ‘Geschichte’ kann als eine fiktive ‘mögliche Welt’ betrachtet werden, die als “narrative Welt” als grundlegender Begriff der narrativen Theorie funktioniert, wie es von Doležel behauptet wird: ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 23 Fictional semantics does not deny that the story is the defining feature of narrative but moves to the foreground the macrostructural conditions of story generation: stories happen, are enacted in certain kinds of possible worlds. The basic concept of narratology ist not ‘story’, but ‘narrative world’, defined within a typology of possible worlds (Doležel 1998: 31). 13 Auf Grund von Textanalysen lassen sich narrative mögliche Welten (erzählte Textwelten) weiter untergliedern in verschiedene Weltsegmente, die miteinander unterschiedliche Beziehungen unterhalten und je nach Autor, Epoche oder Gattung unterschiedlich strukturiert (sowie nach einer gründlichen Analyse erschlossen und beschrieben) werden können. 14 Die erarbeitete Textweltstruktur ist eine abstrakte semantische Struktur narrativer Texte, die mit Hilfe des für die narrative/ literarische Analyse adaptierten Begriffs der ‘möglichen Welt’ beschrieben werden kann: Sie entspricht in etwa der Ebene der ‘Geschichte’ in der strukturalen Erzähltheorie. Narrative Texte können im allgemeinen als ein “Universum” einer bestimmten Menge von “möglichen Welten” betrachtet werden (vgl. Kahn 1973: 7). Eine ‘mögliche Welt’ läßt sich, ausgehend von modelltheoretischen Überlegungen, auffassen als “eine Menge von Sachverhalten, die logisch konsistent ist und in dem Sinn vollständig, dass für jede Tatsache in unserer Welt sie selbst oder ihre Negation in dieser Menge enthalten ist” (Kutschera 1976: 23), in literarischen Texten mit der Einschränkung jedoch, dass eine narrative ‘mögliche Welt’ in diesem Sinne nicht notwendig vollständig ist, sondern sie muß nur die im Universum des gegebenen Textes notwendigen Sachverhalte enthalten. 15 Weiterhin läßt sich eine gewisse “Inhomogenität” von solchen ‘möglichen Welten’ feststellen, indem ein literarischer (narrativer) Text in mehrere ‘mögliche Welten’/ ‘Weltsegmente’ gegliedert werden kann, die voneinander abweichende, gegebenenfalls sogar einander entgegengesetzte Aussagen enthalten können, die aber durch die makrostrukturelle Ordnung des gesamten Textes integriert werden können/ sollen (Doležel 1989: 234). Ontologisch gesehen sind die ‘möglichen Welten’ eines literarischen Textes keine “realen” Entitäten, sondern Ergebnisse einer (text)konstruierenden Tätigkeit (Doležel 1989: 235). Gegenüber der konkurrierenden Ansicht von David Lewis, die zu ontologischen Problemen führen kann 16 , behauptet die “konstruktivistische” Auffassung von Nicholas Rescher, dass ‘mögliche Welten’ nicht wirklich existierende Entitäten, sondern nur mentale Konstrukte sind (Rescher 1975: 169) 17 , und dass diese ‘möglichen Welten’ aus den Individuen und ihren Eigenschaften ausgehend schrittweise aufgebaut (=konstruiert) werden (Rescher 1975: 199f.). Eine ähnliche Auffassung vertritt Eco, der ‘mögliche Welten’ in Anlehnung an Rescher auf folgende Weise definiert: “Eine Welt als solche besteht aus einer Gesamtheit von Individuen, die mit Eigenschaften ausgestattet sind. Da einige dieser Eigenschaften oder Prädikate Handlungen sind, kann eine mögliche Welt auch als Ablauf von Ereignissen angesehen werden” (Eco 1990: 162ff.). 18 Die Individuen werden durch ihre Eigenschaften, bzw. durch die sie beschreibenden Aussagen bestimmt; die Menge der zu einem Individuum gehörenden Aussagen beschreibt seine ‘mögliche Welt’. Durch die Beziehungen der individuellen ‘möglichen Welten’ (z.B. Opposition, Dominanz, Zugänglichkeit) können auch die verschiedenen Ebenen der abstrakten semantischen Struktur literarischer narrativer Texte beschrieben sowie die Regeln des Aufbaus erzählter Textwelten angegeben werden. Als zur Textweltstruktur gehörend, aber auf einer anderen Ebene situiert kann die “Welt” des fiktiven Erzählers bzw. der fiktiven Erzählinstanz betrachtet werden (damit sind die verschiedenen Elemente und Verfahren der Ebene des narrativen Diskurses verbunden). 19 Der Aufbau literarischer narrativer Welten folgt bestimmten Regelmäßigkeiten, die aus dem Text selbst (und allein aus dem Text 20 ) erschlossen werden können. Wie schon erwähnt, Magdolna Orosz 24 sind erzählte mögliche Welten mentale Konstrukte und daher fiktional 21 sowie nicht im logischen Sinne vollständig, sondern, wie es auch aus Reschers Position folgt, sie enthalten nur die für die erzählte Geschichte notwendigen Aussagen, die die fiktive erzählte Welt “regulieren”. Es handelt sich um Regelmäßigkeiten, die die Auswahl bestimmter Elemente, Räume der fiktiven Geschichte, Ereignisse, mögliche Konflikte, Eigenschaften der Figuren, Motivationen, Intentionalität und narrative Modalitäten 22 sowie die durch die Kombination unterschiedlicher Momente erlaubten Verknüpfungen als eine Art “Makroeinschränkungen” 23 festlegen: “In der Epik wird die Beschränkung durch die zugrundeliegende Welt gegeben. Das ist keine Frage des Realismus (obwohl es sogar den Realismus erklärt): Man kann sich auch eine ganz irreale Welt errichten, in der die Esel fliegen und die Prinzessinnen durch einen Kuß geweckt werden, aber auch diese rein phantastische und ‘bloß mögliche’ Welt muß nach Regeln existieren, die vorher festgelegt worden sind […]. Wie es dann weitergeht, sagt uns die einmal geschaffene Welt” (Eco 1986: 33 und 36). Die Regeln schreiben vor, wie die erzählte Welt sein kann/ darf, um kohärent und konsistent zu sein: Wenn diese nicht respektiert werden, entsteht eine inkonsistente, disparate Welt, die nur dann erlaubt wäre, wenn die Disparatheit zu den Formationsregeln der Einrichtung der erzählten Welt gehört, wenn z.B. ambivalente, ironisch gefärbte, parodistische Welten entstehen sollten. 24 4. Narrative Transpositionen In den am Anfang meiner Ausführungen angegebenen Textbeispielen handelt es sich um die Diskussion von alternativen Einrichtungsmöglichkeiten erzählter Welten, die auf der selbstreflexiven Ebene thematisiert werden (und damit gehört die Selbstreflexion in diesen Fällen zur Präsentation der erzählten Welt). Es wird dadurch innerhalb narrativer Texte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die erzählte Welt unterschiedlich konstruiert werden kann und dass unterschiedliche Transpositionen hinsichtlich der konkreten Gestaltung denkbar sind: Wenn z.B. die Eigenschaften der Figuren verändert werden, können unterschiedliche Varianten eines Geschichtstyps oder eines Erzählmodells entstehen, wie das aus den Untersuchungen zum “romantischen”, “biedermeierlichen” oder “realistischen” Erzählen hervorgeht. 25 Auf diese Weise kann aus der Übertragung des Erzählmodells “Lebensgeschichte” in unterschiedlich aufgebaute erzählte Welten (z.B. durch die Darstellung einer Lebensphase oder des ganzen Lebens, eines Ausnahmeindividuums 26 oder eines oder mehreren Durchschnittindiviuums/ -individuen 27 ) und in unterschiedlich perspektivierte narrative Präsentationsweisen (fiktive literarische) Biographie oder Autobiographie, Bildungsgeschichte oder (durch Multiplizierung) gegebenenfalls Familiengeschichte resultieren. Im Folgenden sollten einige besondere Fälle untersucht werden, in denen solche Transpositionen innerhalb der erzählten Welt erfolgen, wodurch eigenartige narrative Texte zustandekommen, in denen jeweils andere Regelmäßigkeiten feststellbar sind, in denen aber die vor allem durch das Figurenpersonal erfolgenden Veränderungen im Erzähldiskurs mitreflektiert werden, wodurch auch Rückschlüsse auf die Alternativen narrativer Präsentation (und somit bestimmter stilistischer Phänomene) gezogen werden können. Es wurden hier bewußt nicht intermediale Transpositionen wie Verfilmung, visuelle Verarbeitung usw. gewählt, sondern solche, in denen die “Übertragungen” innerhalb des erzählten Textes erfolgen. Außer Acht gelassen werden auch solche Werke, deren verschiedene Fassungen Unterschiede in der Erzählstruktur aufweisen (wie z.B. Gottfried Kellers Der grüne Heinrich), weil die Transposition nicht innerhalb des gleichen Textes als Strukturierungsprinzip ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 25 funktioniert. Eine künftige erweiterte Untersuchung könnte natürlich historische und mediale Transpositionen ebenfalls erfassen. 4.1 Verwilderte Identitäten und ihre narrative Festlegung Der frühromantische Roman von Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter, entspricht in vielem der frühromantischen Konzeption des Romans, wie dies Friedrich Schlegel im Brief über den Roman nachdrücklich postuliert: der Roman als “ein romantisches Buch” (Schlegel 1967: 335) vertritt keine konkrete Gattung (dies würde ihrer Vereinseitigung gleichkommen), sondern ist jedes Werk, das “einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt” (Schlegel 1967: 333). Brentanos Roman behandelt den gewünschten “sentimentalen Stoff” durch die Darstellung der emotionalen Verwicklungen seiner Figuren und tut dies in einer “fantastischen”, d.h. die unterschiedlichsten Elemente zusammenführenden, aber ihre Disparatheit nicht versteckenden Form: Der Untertitel gibt nicht nur eine einfache Gattungsbezeichnung, nämlich “Roman” an, sondern kündigt diesen gleich als “verwilderten” (Ein verwilderter Roman) an. Er zerfällt in zwei unterschiedliche und in mancher Hinsicht einander entgegengesetzte Teile: Der erste Teil nimmt die Form eines Briefromans an, in dem mehrere Briefschreiber einander schreiben 28 , diese Briefe sind aber undatiert, und sie machen dadurch die Chronologie der Ereignisse unsicher. Im zweiten Teil geht es um eine Lebensgeschichte, um die vom “unberufenen Geschichtsschreiber” (Brentano 1963: 232) Maria zu schreibende Biographie, die die (Fortsetzung der) Lebensgeschichte von Godwi (und mit den Vorgeschichten und der Schilderung der Figurenvernetzungen eigentlich seine Familiengeschichte) enthalten sollte. Damit stehen die beiden Teile schon rein formal einander gegenüber: eine sich aus Briefen, d.h. aus unterschiedlichen Perspektiven herauskristallisierende Geschichte auf der einen Seite, durch einen Biographen, d.h. aus einer “einheitlichen” Perspektive zu schreibende Biographie auf der anderen. Der erste Teil bildet chronologisch eine Vorgeschichte zum zweiten und ist von der Vielfalt der Figuren sowie von ihren schwer festlegbaren Identitäten und ihren undurchschaubaren Beziehungen zueinander bestimmt. Der zweite Teil hingegen ist geleitet von einer Rekonstruktion der Ereignisse, ihrer Chronologie, der interpersonalen Beziehungen und der individuellen Identitäten der Figuren und wird - im Gegensatz zur (angeblich) spontanen Selbstäußerungen der Briefe - durch die Diskussion und die Reflexion dieser Beziehungen und Identitäten bestimmt: Während der erste Teil vom “Finden oder doch wenigstens […] Suchen seiner selbst” (Behler 1995: 574) handelt, beschreibt der zweite die Suche nach der narrativen Formgebung für die eben aus der reflektiven Diskussion hervorgehenden Identitäten bzw. für den dadurch entstehenden Roman. Trotz dieser Unterschiede und der sich daraus ergebenden formalen Disparatheit des Textes gibt es verbindende Momente, indem die Spontaneität der Briefe im ersten Teil durch eine bereits vorhandene und zugegebene ordnende Tätigkeit des Autors Maria unterlaufen wird: Mein lieber Maria, dies ist ein Briefwechsel zwischen sehr edlen und interessanten Menschen, er enthält auch einen Theil meiner Lebensgeschichte; […] Zu gleicher Zeit bitte ich [d.h. Karl Römer] Sie den Versuch zu machen, diese Briefe nach dem Faden, den ich Ihnen geben will, zu reihen, und hie und da zu ändern, damit mehr Einheit hinein kömmt. (Brentano 1963: 225) Magdolna Orosz 26 Auf der anderen Seite bestimmt den zweiten Teil auch der Versuch, die zu schreibende Biographie zu ordnen, die Verhältnisse zu durchschauen, den Faden zu finden, um damit aus dem Chaos “eine gebildete Wildniß” (Brentano 1963: 290) entstehen zu lassen, durchaus im Sinne der romantischen Ästhetik: “Nur diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann” (Schlegel 1967: 263), denn “[…] das Chaos muß in jeder Dichtung durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern” (Novalis 1969: 227). Das Chaos und seine Ordnung werden somit zur Konstruktionsregel des Textes, einerseits auf der thematischen Ebene, indem die Verwilderung, das Chaos der Gefühle, der Liebe, der Familienverhältnisse stark akzentuiert werden, durch ihre “Wildniß” sollte der Weg zur eigenen Identität führen. Andererseits ist diese Regel auch auf der Ebene des Erzählens zu beobachten, indem aus der formalen Verwilderung der disparaten Teile, Gattungen und Perspektiven ein geordnetes Werk/ Buch resultieren sollte. Diese Anstrengung bringt aber weitere Probleme mit sich: Der Autor Maria bespricht mit seiner Figur Godwi die Schwierigkeiten und die Möglichkeiten seiner erzählerischen Tätigkeit, indem die Figur seinem Erzähler behilflich sein will: “Ja, erwiderte er [Godwi], wir wollen den zweiten Band mit einander machen” (Brentano 1963: 306), und so liefert Godwi das zum Erzählen nötige Material (d.h. seine eigene [Familien]geschichte) mit seinen Ratschlägen zur Gestaltung: Er nahm mehrere Papiere aus dem Schreibpulte, und sagte: diese Papiere enthalten die Geschichte meines Vaters in Bruchstücken, wie auch die meiner Mutter, und das Meiste der Jugendgeschichte des Alten und Molly’s, von Cordelien nichts, auch von mir nichts; aus allem diesem nun müssen Sie ihren zweiten Band zusammenschreiben und mir vorlesen, von den Nebenpersonen des ersten Bandes dürfen Sie nicht viel sagen, weil sie bald abtraten. Das Uebrige meines Lebens, bis jetzt, will ich ihnen dann erzählen. […] Ich dankte ihm für seine Güte, und versprach ihm es so gut zu machen, als ich könnte; dann las er mir hintereinander die Aufsätze vor, und ich bildete daraus, was die Leser nun hören werden. (Brenano 1963: 308f.) 29 Auf diese Weise wird die Grenze zwischen Erzähler und Figur metaleptisch überschritten, ihre Rollen vermengen und vertauschen sich zeitweilig, und am Ende geht dieses Hin und Her sogar so weit, dass der Erzähler Maria stirbt 30 , sein Tod wird dann von seiner Figur Godwi berichtet. Die Probleme von Figur und Erzähler, Identität und Autorschaft werden mehrfach verschränkt und spielerisch durchkreuzt: Die Disparatheit 31 und die dagegen aufkommende kommentierende Ordnungssuche werden auf allen Ebenen zum bestimmenden (Stil-)Prinzip von Brentanos Roman. 4.2 Autobiographie versus Biographie und ihre parodistische Verschränkung In E.T.A. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern zerfällt der Text eingestandenermaßen in zwei Teile: in die Autobiographie des Katers und in die Biographie des Kapellmeisters Kreisler. Die zwei Teile sollen zwei unabhängige Geschichten erzählen, die miteinander nur durch das zufällige Zusammentreffen im Buch und als Buch in Berührung kommen. Sie sind einander entgegengesetzt durch ihre Gattung als Autobiographie und Biographie, sowie im Personal, indem hier die Tierwelt (Murrs Familie und Freunde) und die menschliche Welt einander gegenüberstehen, aber auch durch die Hauptfiguren, da auf der einen Seite der schriftstellernde dilettante Kater, auf der anderen der geniale Musiker im Zentrum der erzählten Ereignisse steht. Die Opposition der Linearität und der Nicht-Linearität der erzählten Geschichten stellt die beiden Teile auch einander gegenüber: ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 27 Murrs Lebensgeschichte wird in ihrem zeitlichen Nacheinander erzählt, wogegen die Chronologie von Kreislers Lebensgeschichte nicht rekonstruierbar ist, wie der fiktive Biograph die Unmöglichkeit der “schöne[n] chronologische[n] Ordnung” (Hoffmann 1992: 58), des zusammenhängenden Geschichtenerzählens beklagt. Die Chronologie wird hier tatsächlich “unordentlich”: Der erste Kreisler-Teil ist chronologisch gesehen der erste der Kreisler- Geschichte, der letzte der Kreisler-Teile geht dem ersten zeitlich eigentlich vor, und zwischen den so umgetauschten Teilen entspricht die Anordnung der einzelnen Teile auch nicht der zeitlichen Abfolge, ihre Rekonstruktion ist offenbar unmöglich. 32 Auf diese Weise stehen die Vollständigkeit bzw. der Fragment-Charakter des Erzählten ebenfalls in Opposition miteinander. Trotz aller Unterschiede gibt es Merkmale des Textes bzw. der Textteile, die die Gegensätze verbinden: Ob Autobiographie oder Biographe, in beiden Teilen geht es um ‘Lebensgeschichte’, und die Figuren von Murr und Kreisler versuchen beide, sich als Künstler zu behaupten, obwohl sie sehr unterschiedliche Konzeptionen von Kunst vertreten, indem der Kater als Vertreter des Epigonentums, Kreisler als Vertreter der “reinen”, romantischen und wahren Kunst erscheint, so dass ihre künstlerische “Programme” sich ironisch “kreuzen”: Murrs Werke sind realisiert und werden von der Figur als vollständig angesehen, wofür seine Autobiographie das beste Beispiel wäre: Es ist nehmlich wohl höchst merkwürdig und lehrreich, wenn ein großer Geist in einer Autobiographie über alles, was sich mit ihm in seiner Jugend begab, sollte es auch noch so unbedeutend scheinen, <sich> recht umständlich ausläßt. Kann aber auch wohl einem hohen Genius jemals unbedeutendes begegnen? (Hoffmann 1992: 38) 33 Die musikalischen Kompositionen von Kreisler existieren demgegenüber nur in seiner Vorstellung oder, da sie seine Ansprüche auf Vollständigkeit im Sinne des romantischen Kunstwerks nicht erfüllen, sie werden sogar vernichtet: Irgendwo heißt es vom Kapellmeister Johannes Kreisler, dass seine Freunde es nicht dahin hätten bringen können, dass er eine Komposition aufgeschrieben und sei dies wirklich einmal geschehen, so habe er doch das Werk, so viel Freude er auch über das Gelingen geäußert, gleich nachher ins Feuer geworfen. (Hoffmann 1992: 302) 34 Einige Momente der vielfältigen intertextuellen Bezugnahmen tragen auch zur Verbindung beider Teile bei. Es gibt aufeinander referierende Teile zwischen Murr- und Kreisler-Teilen: 35 Episoden und Situationen wie z.B. Murrs Errettung vor dem Tode, die zweimal erzählt wird, einerseits von Murr selbst, der den Vorgang beschreibt und zugleich einen prahlerischen Selbstkommentar hinzufügt: Aufs neue, aber sanfter als vorher, faßten mich zwei Hände und legten mich auf ein warmes weiches Lager. Immer besser und besser wurde mir zu Mute und ich begann mein inneres Wohlbehagen zu äußern, […]. So ging ich mit Riesenschritten vorwärts in der Bildung für die Welt. (Hoffmann 1992: 21) Andererseits - und dadurch entsteht das ironische Gegenstück zu Murrs Selbsteinschätzung - berichtet Meister Abraham Kreisler im Kreisler-Teil, einen jungen Kater gerettet und großgezogen zu haben, “[…] dem es nur noch an der höhern Bildung fehlt, […]” (Hoffmann 1992: 35). Wendungen kommen auch in den Murr- und Kreisler-Teilen vor, die auf andere Hoffmann-Texte verweisen: Murr erwähnt “das höhere Leben der Poesie”, das seine Werke “[…] in der Brust manches jungen geist- und gemütreichen Katers […] entzünden” (Hoffmann 1992: 38) und vollzieht damit eine Umkehrung der Inspiration von Anselmus bzw. Magdolna Orosz 28 durch die Transponierung in die Tierwelt ihre Parodie. Der schreibende Murr lernt auch u.a. von Knigge bzw. aus Büchern im allgemeinen und wird teilweise zu einem Widerpart der sowieso ironisch-parodistisch charakterisierten Figur des Lebensweisheit als Buchweisheit erfahrenden Tusmann in der Brautwahl; außerdem weisen die Titel seiner später geschriebenen Werke bzw. ihre Gattungswahl 36 auf gewisse modische Schreibkonventionen parodierend hin, und die Beschreibung der Qualitäten dieser Schriften läßt den Murr-Diskurs zur parodistischen Umkehrung romantischer Überschwenglichkeit werden: Genies werden den genialen Kater in seinen ersten Werken leicht erraten, und über die Tiefe, über die Fülle des Geistes, wie er zuerst aus unversiegbarer Quelle aussprudelte, erstaunen, ja ganz außer sich geraten. (Hoffmann 1992: 44) Der ganze Roman bildet einen exemplarischen Fall von auf sich selbst bezogener Intertextualität: Das Ineinander, d.h. Inter-Textualität von zwei Texten bildet das wichtigste Strukturprinzip des Werkes, es ist ein Palimpsest sowohl im konkreten als auch im übertragenen Sinne, denn Murr verwendet die Makulaturblätter der aus “Begier, wissenschaftliche[m] Heißhunger […] in kleine Stücke zerrissen[en]” (Hoffmann 1992: 40) Kreisler-Biographie zum Schreiben des eigenen Buches, aber auch der Biograph der Kreisler- Biographie arbeitet einer “Quelle”, d.h. einer anderen, nicht vollständigen Schrift nach 37 und bringt ein Palimpsest im übertragenen Sinne zustande. Es entsteht somit ein “Buch im Buch” 38 und durch den dekonstruktiven Umgang mit dem (Kunst)zitat zugleich auch die Dekonstruktion des “Buches im Buch” - Kater Murr wird dadurch zum “intertextuellen Buch an sich” und zum Beispiel für die Unmöglichkeit authentischen Künstlertums, autonomer Persönlichkeitsentfaltung und der zuverlässigen Rekonstruierbarkeit von (Lebens)geschichte. 4.3 Proliferierende Vaterfiguren: Familiengeschichte wird “Weltgeschichte” Die zwei romantischen Romane, die die Schwierigkeiten und die Hoffnungslosigkeit der (auto)biographischen Festhaltung von Lebensgeschichte artikulieren, folgen dem Konstruktionsprinzip der Verbindung disparater Teile. Der umfangreiche Familienroman von Péter Esterházy, Harmonia Caelestis, besteht ebenfalls aus zwei unterschiedlichen und divergierenden Teilen: Das erste Buch enthält 371 “Numerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy”, das zweite Buch wird als “Bekenntnisse einer Familie Esterházy” betitelt, es spielt damit verschiedene architextuelle Muster (große Bekentnisse der Weltliteratur) herein, die zugleich auch autobiographische Momente enthalten. Die numerierten Sätze des ersten Buches, die durch die Betonung ihres Satz-Charakters von vornherein eine gewisse Fragmentierung suggerieren, kreisen um “meinen Vater”, der aber eigentlich nicht eine einzige Figur ist, sondern die männlichen Mitglieder der jahrhundertealten Familie der Esterházys unter einem Namen vereinigend bezeichnet. Die Sätze springen in der Zeit und der Geschichte sowie zwischen den Personen herum, damit zerfällt dieser Teil formal in fragmentartige Abschnitte, wogegen die lineare Numerierung eine strenge Ordnung anzudeuten scheint und implizit an das “geordnete Chaos” romantischer Fragmentsammlungen hinweist. Der Gegensatz löst sich gerade durch die Bezeichnung “mein Vater/ Meinvater” auf: Sie umfaßt alle Figuren, die die lange Geschichte der Familie kennzeichneten, darunter “eine der vielseitigsten Persönlichkeiten der ungarischen Geschichte und Kultur des 17. Jahrhunderts” (Esterházy 2001: 8), sowie Heeresführer, Politiker, bis hin zu den näheren Familienmitgliedern (Vater, Großvater) des Erzählers. Die Figur des Vaters wird dadurch schillernd und nicht zu festigen: ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 29 Mein Vater, mal Erbe eines prächtigen Vermögens, mal bereits dessen Besitzer oder, scherzhaft gesagt, dessen Gefangener, und mal, ganz im Gegenteil, gegen die Verelendung kämpfend, mit der Ohnmacht des tief gefallenen Menschen. (Esterházy 2001: 292) Der Gegensatz von erlebtem Leben und der Fixierung der Lebensgeschichte artikuliert sich auch in den numerierten Sätzen, er impliziert die Rolle eines Erzählers, der die Aufzeichnung der Lebens- und Familiengeschichte und ihre aus den chronologisch zerfallenden Momenten erfolgende Ordnung auf sich nimmt, und der im zweiten Teil diese Funktion dann ausdrücklich reflektiert. Der gemeinsame Name vereinigt jedoch die unterschiedlichen Vaterfiguren, nivelliert sie auf eine eigenartige Weise, läßt sie auf einer symbolisch-metaphorischen Ebene ineinanderfließen und weist gleichzeitig auch auf die Fragwürdigkeit des individuellen Namens, der Namengebung hin: Hier folgt der Name meines Vaters! - Dieser Name steht für einen Traum; den ungarischen Traum vom verschwenderischen reichen Mann, dem mit beiden Händen im Geldbeutel wühlenden Herrn…, vom Patron, der die Geldscheine wie das Getreide einfährt und Gold und Silber scheffelt, eine Gestalt fast wie aus einem Volksmärchen. Der reiche Ungar… In der Phantasie der Ungarn bedeutete der Name meines Vaters all das, was das Leben schon auf Erden zum Himmelreich machen kann… (Esterházy 2001: 9) Die numerierten Sätze greifen Ereignisse, Momente, Gestalten nicht nur der Familiengeschichte der Esterházys, sondern - was ohne sie auch undenkbar ist - auch der ungarischen sowie europäischen Geschichte auf, im (in Kapitel und in numerierte Teilkapitel geteilten) zweiten Buch wird dann eine Art Familiengeschichte erzählt, in die die ältere Vergangenheit ab und zu hereinbricht, die aber vor allem auf das 20. Jahrhundert fokussiert wird, in dem die geschichtlichen Ereignisse, die verschiedene “Meinvater” mitunter aktiv mitgestaltet haben, hauptsächlich aus der persönlichen Perspektive des Erzählers oder zumindest von ihm vermittelt, teilweise kommentiert und reflektiert, und dadurch auch aus einer verfremdenden, ironischen Sicht gesehen werden, die die Absurdität des 20. Jahrhunderts, ihre vernichtenden Folgen für das Individuum, für die Familie und eigentlich das ganze Land andeutet. Die Familiengeschichte, die in diesem Buch, chronologisch und perspektivisch ebenfalls hin und her springend, erzählt wird, umfaßt die Generation des Großvaters, des Vaters und des Erzählers selbst, sie reicht vom Ersten Weltkrieg bis zur jüngsten Vergangenheit und erzählt den durch die geschichtlichen Ereignisse herbeigeführten “Verfall einer Familie (Esterházy)”, den Verfall der Formen und der Worte, den “Verfall aller Werte” - den Verlust der Vergangenheit, der Vergangenheit der Person, der Familie und des Landes, der erst recht den richtigen Verfall bedeutet: Der wahre Moment der Einsamkeit war nicht, als er auf dem Melonenfeld stand, ein Bauer unter Bauern, erschrockenen Blicks in die Kamera schauend, sondern dieser jetzige. Wie dem Land, so blieb auch ihm nichts anderes mehr als das Jetzt, und an diese Einsamkeit war er in keiner Weise gewöhnt, an diese historische Einsamkeit, die sich aber listigerweise auf seine Person bezog, der Herrgott hatte sie ihm auf den Leib geschneidert, und wenn er in diese Einsamkeit hineinblickte, in den Spiegel des alles aufzehrenden Jetzt, zeigte dieser Spiegel lediglich einen Mann um die Vierzig, einen geborenen Jemand, der nirgends war, nirgends angekommen war, den es gar nicht gibt, oder doch, aber wozu. (Esterházy 2001: 900) Der Erzähler schreibt im zweiten Buch mit der Heraufbeschwörung der ironisch gebrochenen Momente der historischen (Familien)geschichte gegen die Aufgabe und die Tilgung der Vergangenheit an, er schreibt gegen die (kollektive) Amnesie an, um zumindest durch Worte Magdolna Orosz 30 - deren Überfluß und Sinnlosigkeit am Ende doch alles überdeckt - das Gedächtnis und damit die Existenz zurückzuerobern, denn “Dasein heißt, sich eine Vergangenheit zu basteln” (Esterházy 2001: 467). Dieses “Basteln” gehört fest zum Text: Nicht nur die Vergangenheit muß aus den ins Gedächtnis zurückgeholten Elementen geschaffen werden, sondern auch die Person, das Individuum, das Ich, dessen Verlust Rechnung zu tragen ist, denn die in den von den ineinander übergehenden “Meinvater”-Figuren berichtenden Sätzen aufscheinenden konturlosen Gestalten sind doch Elemente des Puzzle-Spiels der zerfallenen Geschichte und des zerfallenen Individuums, und die Familiengeschichte erzählt ebenfalls das Zerbrechen der großformatigen Persönlichkeit, indem die Erzählerstimme, als “Teil der Strategie des unaufhörlichen Aufbauens und Abbauens, des Auftauchens und Verschwindens, der Konturierung und der Verflüssigung” (Thomka 2001: 114), selbst zum Repräsentanten der unmöglichen Fixierung wird. Die beiden Teile sind vielfach ineinandergeschachtelt, von der Wiederaufnahme und figuralen oder ereignishaften Verschiebung bestimmter Momente bis zur sprachlichen Formulierung oder intertextuellen Anlehnung, die in den beiden Teilen eventuell anderen Figuren oder Bezügen zugeordnet werden, baut sich der Text (der Roman) auf und dekonstruiert das Konstruktionsprinzip des Vergangenheitsschaffens, indem diese Vergangenheit gleich auch fiktionalisiert wird. 39 5. ‘Erzählstil’: Zum Nutzen und Nachteil eines Begriffs Die drei analysierten Texte sind beispielhaft: Ein früh- und ein spätromantischer Roman, die beide die romantische Dekonstruktion narrativer Erzählmuster verwirklichen und dadurch auf die Konstruktion von Erzählwelten als Resultat erzählerischer Überlegungen über die Wahl bestimmter Konstruktionsregeln und ihrer Folgen hinweisen, sowie ein postmoderner Roman, der seine Konstruktionsregeln ebenfalls offenlegt und das Erzählen als Vergangenheitskonstruktion durch die Sprache (Benennung, Fiktionalisierung, intertextuelle Bezugnahmen) in den Mittelpunkt stellt. In allen drei Werken wird die Disparatheit sozusagen zum wichtigsten Konstruktionsprinzip, das die unterschiedlichen Teile spiegelverkehrt aufeinander beziehen und miteinander verbinden läßt. In Brentanos Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter bestehen die Oppositionen der zwei Romanteile in der Wahl der Gattung (Brief[roman] vs. Biographie/ Familiengeschichte), in den Identitätsproblemen der Figuren (schwer festlegbare Identitäten vs. Festlegung[sversuch] der Identität), in der erzählten Geschichte ([familiäre] Vorgeschichte vs. Lebensgeschichte der Figur), im Erzähldiskurs (ohne Chronologie präsentiert vs. Rekonstruktion einer Chronologie sowie figurale Multiperspektivität vs. Erzählerperspektive). Verbindende Momente (in beiden Teilen auftretende Figuren, thematische Wiederholungen, sowie Eigenarten des Erzähldiskurses, d.h. die thematisierte ordnende Tätigkeit des Erzählers und die Reflexion der ersten Teils im zweiten) lassen die beiden Teile aufeinander beziehen und machen die ordnende Kommentierung des Briefromanteils durch den zweiten zum einigenden Konstruktionsprinzip des Romans. In Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern sind die Oppositionen in der Gattungswahl (Autobiographie vs. Biographie), im Handlungsraum der erzählten Welt (Tierwelt vs. menschliche Welt), in den Eigenschaften der Figuren (schriftstellernder dilettanter Kater vs. genialer Musiker), in der dargestellten Geschichte (Vollständigkeit vs. Fragmentierung der Lebenswege) und im Erzähldiskurs (Linearität vs. Nicht-Linearität) zu ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 31 entdecken. Zugleich aber sind die beiden Teile durch die verbindenden Momente, nämlich dass beide eine “Lebensgeschichte” erzählen, die Figuren mit der selben Problematik (Künstlertum, künstlerisches Schaffen) konfrontieren, zumindest teilweise identische Figuren und sich wiederholende Handlungsmomente motivisch auftreten lassen und von selbstreferierenden intertextuellen Bezugnahmen durchwoben sind, stark aufeinander bezogen. Das die zwei auseinanderfallenden Romanteile zusammenfügende Konstruktionsverfahren besteht in der kontrastierenden Verschränkung der erzählten Welten, die ihren parodistischen Charakter bedingt. In Péter Esterházys Harmonia caelestis streben die beiden Teile durch Oppositionen der Gattung ([scheinbar] unabhängige numerierte Sätze vs. in Kapitel/ Unterkapitel gegliederter Roman), der figuralen Besetzung (Meinvater/ mein Vater vs. individualisierte Vaterfiguren), der Zeitverhältnisse der erzählten Welt (nicht chronologisch vs. chronologisch, aber diskontinuierlich) und der erzählerischen Präsentation (vielfache Perspektivierungen vs. Ich- Erzähler) ebenfalls auseinander, sie werden jedoch durch Momente der erzählten Welt (Wiederholung von Väter/ Vater-Figuren, von historischen Ereignissen in beiden Teilen) und des Erzähldiskurses (das “Basteln” von Vergangenheit als Erzählerreflexion, intertextuellen Wiederholungen) durch das Konstruktionsverfahren der selbstreflexiven narrativen Fokussierung der auseinanderstrebenden figuralen Gegebenheiten des ersten Buches gleichermaßen miteinander verkettet. Die Analysen mögen gezeigt haben, dass die Verwendung des Begriffs ‘Stil’ bzw. ‘Erzählstil’ komplexe Erscheinungen ins Spiel bringt, die nicht leicht auf eine Formel zu bringen wären. Es handelt sich hier um eine Interdependenz der Einrichtung/ der Konstruktion der erzählten Welt und ihrer Präsentation im Erzähldiskurs, die durch sehr unterschiedliche Faktoren bestimmt wird, wobei der im eher traditionellen Sinne verstandene Erzählstil als Sprachstil ihre Komplexität allein nicht zu ergreifen vermag, sondern als Resultante des Zusammenspiels der genannten Faktoren zu betrachten wäre. Das könnte auch dazu führen, dass der Stilbegriff im Sinne von ‘Erzählstil’ entweder für sprachliche (Oberflächen)phänomene vorbehalten bleibt oder sogar verabschiedet wird, denn für die Beschreibung der Komplexität und vielfältiger Aufeinanderbezogenheit der Elemente und Ebenen von narrativen Texten bedarf es eines weit ausdifferenzierten und genau definierten Begriffs- und Analyseapparates, das begriffliche Unklarheiten und Ungeklärtheiten nicht erlaubt. Die literarhistorisch unterschiedlich situierten Beispieltexte zeigen einerseits, dass für eine generelle Problemerfassung des Stilbegriffes unterschiedliche Texte ohne Berücksichtigung ihrer historisch bedingten Differenzen herangezogen werden können, um die Brauchbarkeit narratologischer Begrifflichkeiten prüfen zu können. In einem weiteren Schritt (und stillschweigend habe ich es auch getan) sind die literarhistorisch-ästhetisch relevanten Divergenzen der Erzählmodelle zu berücksichtigen, was aber erst auf Grund erarbeiteter theoretischer Modelle (und zugleich als ihre funktionale Überprüfung) zu leisten wäre. Literaturangaben Primärtexte Brentano, Clemens 1963: Werke, Bd. 2: Godwi. Friedhelm Kemp (ed.). München: Hanser. Doderer, Heimito von 1994: Die Wasserfälle von Slunj, München: dtv. Esterházy, Péter 2001: Harmonia caelestis, aus dem Ungarischen von Terézia Mora, Berlin: Berlin Verlag. Magdolna Orosz 32 Fielding, Henry 1966: Die Geschichte des Tom Jones, deutsch von Roland U. und Annemarie Pestalozzi unter Benutzung der Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode aus den Jahren 1786 bis 1788, München: Carl Hanser. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 1985: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820, Hartmut Steinecke (ed.) unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, Frankfurt/ M: Deutscher Klassiker Verlag. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 1992: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 5: Lebens-Ansichten des Katers Murr. Werke 1820-1821, Hartmut Steinecke (ed.) unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Novalis (Friedrich von Hardenberg) 1969: Werke, kommentiert von Gerhard Schulz (ed.), München: C.H. Beck. Schlegel, Friedrich 1967: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Ernst Behler (ed.) unter Mitwirkung von Jean- Jacques Anstett und Hans Eichner, München u.a.: Schöningh. Thackeray, William M. 1975: Jahrmarkt der Eitelkeit oder Ein Roman ohne Held, aus dem Englischen von Theresia Mutzenbecher, München: dtv. Sekundärliteratur Allén, Sture (ed.) 1989: Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences. Proceedings of Nobel Symposium 65, Berlin, New York: Walter de Gruyter. Arnold, Heinz Ludwig / Detering, Heinrich (ed.) 1996: Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: dtv. Behler, Ernst 1995: “Nachwort”, in: Brentano, Clemens: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman, Ernst Behler (ed.), Stuttgart: Reclam: 571-591. Csúri, Károly (ed.) 1980: Literary Semantics and Possible World, Szeged: JATE (= Studia Poetica 2). Doležel, Lubomir 1989: “Possible Worlds and Literary Fictions”, in: Sture Allén (ed.): Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences. Proceedings of Nobel Symposium 65, Berlin, New York: de Gruyter: 221-242. Doležel, Lubomir 1998: Heterocosmica, Baltimore, London: John Hopkins University Press. Eco, Umberto 1986: Nachschrift zum “Namen der Rose”, München: dtv. Eco, Umberto 1990: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München: dtv. Eco, Umberto 1995: Six Walks in the Fictional Woods, Cambridge (Ma.), London: Harvard University Press. Eilert, Heide 1991: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900, Stuttgart: Franz Steiner. Fulda, Daniel 1996: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin, New York: de Gruyter. Kahn, Edward 1973: “Finite-state models of plot complexity”, in: Poetics 9 (1973): 5-20. Kanyó, Zoltán 1980: “Die Verwendung der Semiotik der “möglichen Welten” in der Analyse literarischer narrativer Texte”, in: Csúri, Károly (ed.): Literary Semantics and Possible Worlds, Szeged: JATE (=Studia Poetica 2): 23-31. Keil, Werner 1985: “Erzähltechnische Kunststücke in E.T.A. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr”, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 31: 40-52. Krah, Hans / Ort, Claus-Michael (ed.) 2002: Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten - realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch, Kiel: Ludwig. Kutschera, Franz von 1976: Einführung in die intensionale Semantik, Berlin, New York: de Gruyter. Lausberg, Heinrich 1990: Elemente der literarischen Rhetorik, Ismaning: Hueber. Lewis, David 1979: “Possible Worlds”, in: Loux, Michael J. (ed.): The Possible and the Actual. Readings in the Metaphysics of Modality, Ithaca-London: Cornell University Press: 182-189. Loux, Michael J. (ed.) 1979: The Possible and the Actual. Readings in the Metaphysics of Modality, Ithaca-London: Cornell University Press. Martinez, Matias / Scheffel, Michael 1999: Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck. Neumann, Michael 1991: Unterwegs zu den Inseln des Scheins. Kunstbegriff und literarische Form in der Romantik von Novalis bis Nietzsche, Frankfurt/ M.: Klostermann. Oehler, Klaus (ed.) 1984: Zeichen und Realität. Probleme der Semiotik, Tübingen: Stauffenburg Verlag. Orosz, Magdolna 1984: “Fiktionalität in literarischen narrativen Texten”, in: Klaus Oehler (ed.): Zeichen und Realität. Probleme der Semiotik, Bd. 1. Tübingen: Stauffenburg: 163-170. Orosz, Magdolna 1996: “Possible Worlds and Literary Analysis”, in: Interdisciplinary Journal for Germanic Linguistics and Semiotic Analysis, 1 (1996), 2: 265-282. Orosz, Magdolna 2001: Identität, Differenz, Ambivalenz. Erzählstrukturen und Erzählstrategien bei E.T.A. Hoffmann, Frankfurt/ M.: Peter Lang (= Budapester Studien zur Literaturwissenschaft, 1). ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 33 Pfister, Manfred (ed.) 1989: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, Passau: Rothe. Plett, Heinrich F. 1991: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg: Buske. Rescher, Nicholas 1975: A Theory of Possibility. A Constructivistic and Conceptualistic Account of Possible Individuals and Possible Worlds, Oxford: Basil Blackwell. Ronen, Ruth 1994: Possible Worlds in Literary Theory, Cambridge: Cambridge University Press. Ryan, Marie-Laure 1981: “The Pragmatics of Personal and Impersonal Fiction”, in: Poetics 10 (1981): 517-539. Ryan, Marie-Laure 1991: Possible worlds, artificial intelligence, and narrative theory, Bloomington: Indiana University Press. Michael Scheffel 1997: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen: Niemeyer (= Studien zur deutschen Literatur 145). Schneider, Jost 1998: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns. Erzählstil und Engagement in ‘Das dreißigste Jahr’, ‘Malina’ und ‘Simultan’, Bielefeld: Aisthesis. Spillner, Bernd 1996: “Stilistik”, in: Arnold/ Detering (ed.) 1996: 234-256. Strohschneider-Kohrs, Ingrid 2002: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen: Niemeyer. Szabó, Erzsébet 2003: “Ikerföldek, episztemikus világok, szövegvilágok: a referencia kauzális-történeti elméletének narratológiai vonatkozásai” [Zwillingsfelder, epistemische Welten, Textwelten: narratologische Bezüge der kausal-historischen Theorie der Referenz], in: Szabó, Erzsébet / Vecsey, Zoltán (Hg.): A jelentés dimenziói. Modális elméletek Kripke után [Dimensionen der Bedeutung. Modallogik nach Kripke], Szeged: JATE: 84-105. Szabó, Erzsébet / Vecsey, Zoltán (Hg.) 2003: A jelentés dimenziói. Modális elméletek Kripke után [Dimensionen der Bedeutung. Modallogik nach Kripke], Szeged: JATE. Szirák, Péter 2001: “Nyelv által lesz” [Durch Sprache entsteht] (Esterházy Péter: Harmonia caelestis), in: Alföld, 52 (2001): 1. Thomka, Beáta 2001: Beszél egy hang. Elbeszélõk, poétikák [Es spricht eine Stimme. Erzähler und Poetiken], Budapest: Kijárat Kiadó. Titzmann, Michael 1989: “Das Konzept der ‘Person’ und ihrer ‘Identität’ in der deutschen Literatur um 1900”, in: Pfister (ed.) 1989: 36-52. Titzmann, Michael 2000: “An den Grenzen des späten Realismus: C.F. Meyers »Die Versuchung des Pescara«. Mit einem Exkurs zum Begriff des ‘Realismus’”, in: Zeller, Rosmarie (ed.) 2000: 97-138. Titzmann, Michael (ed.) 2002a: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen: Niemeyer. Titzmann, Michael 2002b: “»Grenzziehung« vs. »Grenztilgung«. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme »Realismus« und »Frühe Moderne«”, in: Krah/ Ort (ed.) 2002: 181-209. White, Hayden 1990: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/ M: Fischer. Wünsch, Marianne 1989: “Wege der ‘Person’ und ihrer ‘Selbstfindung’ in der fantastischen Literatur nach 1900”, in: Pfister (ed.) 1989: 168-179. Wünsch, Marianne 2002: “Struktur der »dargestellten Welt« und narrativer Prozeß in erzählenden »Metatexten« des »Biedermeier«”, in: Titzmann (ed.) 2002a: 269-282. Zeller, Rosmarie (ed.) 2000: Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums (=Beihefte zum Euphorion 35). Heidelberg: C. Winter. Anmerkungen 1 Der Beitrag entstand im Rahmen des OTKA Förderungsprogramms T 047146 und ist eine erweiterte und überarbeitete Fassung meines Referates “Stil und/ als Einrichtung der erzählten Welt” am 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik im Juni 2005 in Frankfurt/ Oder. 2 Lausberg unterscheidet unter den “genera elocutionis” in Bezug auf den “ornatus” drei Stilebenen, das “genus humile”, das “genus medium” und das “genus sublime”, denen jeweils bestimmte Gattungen als Anwendungsbereiche entsprechen. 3 Viele stilistische und rhetorische Definitionsversuche sind m.E. durch eine gewisse Zirkularität und Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet (‘Stil’ selbst wird meistens indirekt durch verschiedene Stilebenen und Stilschichten umrissen, und normative Vorstellungen vom “angemessenen Stil” sind auch zahlreich anzufinden). Für eine kurze zusammenfassende Darstellung der Stil- und Stilistikkonzeptionen vgl. Spillner (1996: 241ff.). Da Magdolna Orosz 34 ich mich im weiteren auf Fragen der narrativen Gestaltung erzählter Welten konzentriere und den allgemeinen Stilbegriff nicht zu klären versuche, verzichte ich auf eine eingehende Diskussion der unterschiedlichen Begriffsverständnisse, wobei ich eher für eine Definition unter Berücksichtigung des Kommunikationsprozesses (für eine “integrative Stiltheorie”, vgl. Spillner (1996: 246)) votieren würde. 4 Da die folgenden Bezeichnungen (in literarischen Kritiken oder auch in Handbüchern und Lexika) ziemlich oft verwendet werden, verzichte ich hier auf eine detaillierte bibliographische Darstellung. 5 Kategorien der [narrativen] Komposition und des Stils werden in unterschiedlichen Analysen miteinander vermengt, vgl. z.B. Schneider (1998) für eine Verbindung von ‘Kompositionsverfahren’ und ‘Erzählstil’. 6 Hier werden “Erzählsituation oder Sprachstil” als Beispiele für Darstellungsverfahren des Erzählens (d.h. des Erzähldiskurses) als gleichrangige Kategorien erwähnt, obwohl m.E. der Sprachstil vielfältig durch Elemente und die Anordnung der ‘Geschichte’ bedingt wird. 7 Zur Kategorisierung der “Erzählerinterventionen” vgl. Orosz (1984), sowie Orosz (2001: 146-157). Demnach gibt es davon drei Typen, die eine scheinbare Referenzrelation (Wirklichkeitsrelation) etablierenden, die syntaktisch-semantischen Eigenschaften und Verhältnisse thematisierenden und die literarische Konventionen und die Schreibtätigkeit/ Autorschaft thematisierenden selbstreflexiven Erzählerinterventionen. Zum Thema ‘Selbstreflexivität’ vgl auch Scheffel (1997). 8 Der Erzähler hebt bestimmte Züge und Gattungen der romantischen Literatur hervor (‘abenteuerlich’, ‘spannend’, ‘dunkle Seite des Menschen hervorrufend’ usw.), so dass dadurch zugleich auch eine gewisse ironische Einstellung zur “Scheuerromantik” suggeriert wird. 9 Die Zuordnung der einzelnen Varianten ist aus dem Text offensichtlich, ich habe sie durch die Nummerierung nur zu veranschaulichen versucht. 10 Damit werden hier die Frage der Narrativität von Historiographie (vgl. dazu White (1990), sowie Fulda (1996)) und die Unterschiede von Geschichtsschreibung und literarischer Erzählung in der narrativen Präsentation angedeutet. 11 Ich teile diesbezüglich Ryans Meinung, die behauptet, “the concept of narrator is logically necessary of all fictions, but has no psychological foundation in the impersonal one”, vgl. Ryan (1981: 517). 12 Die Fragen der Verhältnisse zwischen Autor und fiktivem Erzähler, die Relativierung und die Verschiebung der Grenzen zwischen Autorschaft und Erzählertum sowie ihre Thematisierung werden hier, da sie nicht zum Kern meiner Ausführungen gehören, nicht weiter ausgeführt. 13 Es geht hier eigentlich um eine (Um)interpretation des Begriffs ‘Geschichte’ (‘story’) im Rahmen der möglichen Welt-Theorie, die zugleich auch die Kompatibilität dieser Begriffe beweist. 14 Bei E.T.A. Hoffmann kann z.B. eine eigenartige Variante der in verschiedenen erzähltheoretischen Überlegungen als allgemein und grundlegend angenommenen ‘elementaren narrativen Struktur’ (Gleichgewicht- Auflösung-Wiederherstellung) festgestellt werden. Das Schema wiederholt sich in den Texten von Hoffmann in einer zusammengesetzteren Form: die Anfangssituation läßt gleich eine grundsätzliche Gespaltenheit der erzählten Welt und der Figuren erkennen, die sich auf alle Elemente der Struktur erstreckt. Hoffmanns grundlegende Erzählstruktur besteht in der verschiedenartigen Ausgestaltung von Ambivalenzen, deren eine Variante in den Märchen und märchenhaften Geschichten, die andere in seinen anderen Erzähltexten wie Schauer- und Kriminalgeschichte, Künstlergeschichte usw. aufzufinden wäre (zu einer eingehenden Darstellung vgl. Orosz (2001)). 15 Vgl. darüber Kanyó (1980: 28) und Doležel (1989: 232). 16 Vgl. Lewis (1979). Ryan stellt darüber fest, “[t]hough it takes its point of departure in an intuitive view of possibility, Lewis’s account leads to a counterintuitive view of actuality” (Ryan 1991: 18). 17 Vgl. dazu auch Ryan (1991: 19f.). 18 Vgl. dazu auch noch Eco 1995: 75ff. Eine zusammenfassende Übersicht über die Anwendbarkeit und die Charakteristika von ‘möglichen Welten’ in der Literaturtheorie gibt Ronen (vgl. Ronen 1994), sowie (von Ronen unabhängig) Orosz 1996. 19 Auf die Frage der logiktheoretischen Hintergründe sowie der narratologischen Fragestellungen hinsichtlich einer solchen Betrachtungsweise soll hier nicht näher eingegangen werden. Für eine mögliche Variante der Behandlung des Erzähldiskurses im Rahmen einer modallogischen Konzeption vgl. Szabó (2003). Ansätze zur Einbeziehung der abstrakten Erzähler- und Leserposition in die mögliche-Welt-Struktur von Erzähltexten sind zu finden auch in Orosz 1984. Für eine detaillierte Analyse des Erzähldiskurses auf Grund der möglichen Welt- Konzeption, also für eine Erweiterung des Modells auch unter Einbeziehung von Diskursphänomenen und Intertextualität vgl. Orosz (2001). ‘Stil’ und/ als Einrichtung der erzählten Welt 35 20 Die intertextuellen Bezugnahmen sowie kulturelle Momente können natürlich außerhalb des Textes verweisen, in der Analyse werden aber eben ihre Funktionen in der Textstruktur untersucht und erschlossen. 21 Das schließt eine gewisse “Pseudorealität” von Fiktion bzw. fiktiven Figuren für den in die fiktive erzählte Welt “eingestiegenen” Erzähler aus, vgl. dazu Ryan (1991: 21ff.). 22 Vgl. dazu Doležel (1998: 113ff.). 23 “Such worlds [i.e. literary possible worlds] are sets of semantically diversified domains integrated into a structural whole by the formative macroconstraints” (Doležel 1989: 233f.). 24 Auf diese Weise ist die Ambivalenz eine strukturbestimmtende Eigenschaft der Textwelten E.T.A. Hoffmanns (vgl. dazu Orosz 2001). 25 Zu den Eigenarten des Erzählens bzw. der “dargestellten Welt” in unterschiedlichen Epochen der deutschen Literatur (und zugleich zum Definitionsversuch des ‘Epochenstils’ bzw. ‘Gattungsstils’) vgl. u.a. Titzmann (1989), (2000), (2002b) und Wünsch (1989), (2002). 26 In der Postulierung der Grundsätze der frühromantischen Ästhetik setzt Friedrich Schlegel eben das Ausnahmeindividuum als Zentrum des Romans: “Mancher der vortrefflichsten Romane ist ein Kompendium, eine Enzyclopädie des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums; […].” (Schlegel 1967: 156). 27 Zu den Veränderungen der goethezeitlichen ‘Initiationsgeschichte’/ Bildungsgeschichte im Biedermeier, wo eben die in den goethezeitlichen Texten postulierte/ angestrebte Autonomie der Person fragwürdig wird, vgl. Wünsch 2002: 271ff. Dass die Autonomie des Subjekts in der Goethezeit auch vielfach als gefährdet empfunden wurde, geht aus den unten zu analysierenden Romanen von Brentano und Hoffmann klar hervor, es wird aber in diesen Texten zumindest die Utopie einer solchen Autonomie artikuliert (vgl. dazu auch Orosz 2001: 218ff.). 28 Als berühmtes Beispiel dieser Form des “multipersonalen” Briefromans wäre Choderlos de Laclos’ Werk Les Liaisons dangereuses zu nennen. 29 Darauf folgt die “Geschichte der Mutter Godwi’s und ihrer Schwester” als “Zweyter Theil. Neunzehntes Kapitel”. 30 Das wäre durchaus ein romantischer “Tod des Autors”, der damit der romantischen Konzeption von Autorschaft als intellektueller Tätigkeit genialischen Individuums, des Garants des einmaligen Werks zuwiderläuft und zugleich ihre im Sinne der romantischen Ironie durchaus begründeten Aufhebung postuliert. 31 Dieser Zug wird bei Strohschneider-Kohrs besonders und eher im negativen Sinne hervorgehoben, indem “bei Brentano der enthusiastische Hochflug der Empfindsamkeit und der stimmungszerstörende Witz jeweils isoliert und verschärft gegeneinander gestellt [werden]. Gerade der Schluß, das Ende des ‘verwilderten Romans’ wird bei Brentano zu einer schrill nachwirkenden, fast zynisch negierenden Destruktion des ganzen Buches gewendet” (Strohschneider-Kohrs 2002: 342). 32 Die Klagen des Biographen weisen auch darauf hin, dass die Kreisler-Biographie schon vor ihrer “De(kon)struktion” nicht vollständig gewesen sein mag. Zugleich übt der Biographie-Erzähler auch eine ordnende Tätigkeit aus, indem er bestimmte geheime Zusammenhänge der Geschichte ahnen läßt, die er aber vor dem Leser sorgfältig versteckt, und auch nichts darüber verrät, ob er tatsächlich etwas weiß, was er nur nicht mitteilt, oder letzten Endes er selbst nichts darüber weiß, was er nur scheinbar geheimhält. 33 Die intertextuellen Bezugnahmen der Kater-Autobiographie lassen sie u.a. als eine Parodie auf Goethes Dichtung und Wahrheit erkennen, wodurch die Möglichkeit der Lebensgeschichte angezweifelt und ihre Authentizität vielfach als Selbstinszenierung demaskiert wird. 34 Die unmögliche Bestrebung realisiert sich für Kreisler erst im Traum (des Heiligentages in der Abtei Kanzheim), der die unbeendete, aber sich vervollständigende Partitur als Lösung, als Aufhebung des Gegensatzes zwischen Schaffensprozeß und Produkt des Schaffens suggeriert. 35 Neumann stellt diesbezüglich auch fest, “das Murr- und das Kreisler-Buch beziehen sich in vielfachen Spiegelungen aufeinander” (Neumann 1991: 283), und Keil weist auch einen gewissen “glatten Übergang” auf den “Nahtstellen zwischen Murr- und Kreislerepisoden” nach (Keil: 1985: 45 und 43). 36 Solche sind: ein “philosophisch sentimental didaktische[r] Roman”, “ein politisches Werk” und eine Tragödie, die “hätte […] unzähliche mal mit dem lärmendsten Beifall gegeben werden können” (Hoffmann 1992: 44). 37 Beim Erzählen einiger Episoden oder Details beruft sich der Biograph auf seine Quelle: “[…] der Hisporiograph des Irenäusschen Hauses, dem ich dies nachschreibe, behauptet, […]” (Hoffmann 1992: 49); die Tatsache des Nachschreibens wirft ebenfalls die Frage von Authentizität und Autorschaft auf, die von dieser Seite her auch problematisiert wird. Mit der Erwähnung von Historiographie (wenn auch eines fiktiven Fürstenhauses) wird auch die Frage der ‘Geschichte’ und ihrer Erzählbarkeit implizit hereingespielt. 38 Eilert betrachtet das “Buch im Buch” als einen Sonderfall des “Kunstzitats”, das wiederum eine besondere Form von Intertextualität bedeutet. Beim “Buch im Buch” geht es vor allem darum, dass “das fremde literarische Werk Magdolna Orosz 36 als real existierender Gegenstand eingeführt wird” (Eilert 1991: 30). Bei Murr handelt es sich eben darum, das “fremde literarische Werk als real existierende[n] Gegenstand” zu zerstören und als Gegenstand in seiner Materialität zu anderen Zwecken zu verwenden. 39 Auf diese Weise werden die verschiedenen Gattungskonventionen zwar hereingebracht, aber zugleich auch auf mehrfache Weise destabilisiert. Vgl. dazu Szirák (2001: 95). Elliptische Sätze Zur Funktion des Erzählstils als discours-Element in biographischen Erzählungen von Streeruwitz und Damm Daniela Langer Der vorliegende Aufsatz versteht unter Erzählstil in einer engen Definition den spezifischen Sprachstil einer Erzählung, der sich als Gesamtheit wiederkehrender und paradigmatischer Besonderheiten des sprachlichen Ausdrucks auf syntaktischer und textlinguistisch-semantischer Ebene bestimmen lässt. An den Fallbeispielen von Marlene Streeruwitz’ Roman Nachwelt. und Sigrid Damms Biographie Christiane und Goethe wird die Funktionalisierung des Erzählstils im Zusammenspiel mit den anderen discours-Elementen eines Erzähltexts und der Rahmung des Textes durch die Gattungserwartung diskutiert. Denn obgleich die Erzählstile beider Texte mit ihren parataktischen Reihungen einfacher und vielfach elliptischer Sätze große Ähnlichkeit aufweisen (und obgleich die Erzeugung von Unmittelbarkeit als kontextunabhängige Funktion der Ellipsen bestimmt werden kann), lässt sich der Wert eines bestimmten Erzählstils nur im Zusammenhang mit dem Gesamttext bestimmen: Im Falle von Nachwelt. verhindert der elliptische Stil den Entwurf einer geschlossenen und mit einem Wahrheitsanspruch auftretenden Lebensgeschichte; in Christiane und Goethe hingegen tragen die Ellipsen maßgeblich zur Konstitution der einen, ‘wahren’ Biographie bei. Von besonderer Bedeutung für die Funktion des Erzählstils erweist sich dabei die Wechselwirkung des Stils mit den discours-Elementen Modus und Stimme. The following article considers narrative style to be the specific speech-style of a narration, which is defined in its entirety by recurring paradigmatical particularities in the diction on both syntactical and semantical level. The function of the narrative style in its interrelation with the other constituents of the discours and the frame of the literary genre is discussed through the examples of Marlene Streeruwitz’s novel Nachwelt. and Sigrid Damm’s biography Christiane and Goethe. Although the narrative styles of both texts show similar paratactic series of plain and elliptic sentences (and although generally elliptic sentences tend to evoke a feeling of immediacy), the value of the narrative style can only be defined in the context: In the case of Nachwelt. the elliptic style prevents the development of a coherent and believable life-story; in the case of Christiane und Goethe it is the elliptic style itself that actually produces the big, ‘true’ biography. It is therefore concluded that the interrelation of style with the discourse elements of mode and voice has an extraordinary significance for the function of style. 1. Stil und Erzählstil Beschäftigt man sich mit “Stilfragen” 1 , so trifft man allerorten auf den geradezu topischen Verweis auf die Unabgeschlossenheit jeglicher Definitionsversuche, ja auf die Unmöglichkeit jeglicher Bestimmung des Terminus ‘Stil’. 2 Die Schwierigkeiten liegen nicht nur in der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Daniela Langer 38 Überlagerung produktionsästhetischer, normativer, deskriptiver und/ oder rezeptionsorientierter Ansätze zur Klärung des Begriffs, sie scheinen vielmehr grundsätzlicherer Art zu sein, wenn unter Stil - einigermaßen übereinstimmend - generell die Art und Weise einer (sprachlichen) Handlung verstanden wird, 3 ist hiermit doch naturgemäß ein recht weites Feld eröffnet. Zu den bekanntesten Stilkonzepten zählen dabei zwei, die beide unter eine strukturale Stilistik subsumiert werden: 4 einerseits der Ansatz, Stil als Wahl zwischen verschiedenen Alternativen zu sehen und so das Moment der Selektion in den Vordergrund zu stellen, andererseits der Versuch, Stil als Abweichung von einer Norm zu verstehen. Das Selektionspostulat und die Deviationsstilistik scheinen auf den ersten Blick sehr ähnliche Konzepte zu sein und werden im Handbuch der Semiotik miteinander verknüpft, wenn es heißt, “als gemeinsamer Nenner der meisten semiotischen Untersuchungen zum Stil [kann wohl] zweierlei festgehalten werden: (a) Stil hat mit dem Prinzip der Abweichung von einer wie auch immer zu bestimmenden Norm zu tun und (b) die Abweichung ist das Ergebnis einer Wahl zwischen verschiedenen Alternativen” (Nöth 2000: 398). Diese Zusammenführung bleibt allerdings in sich widersprüchlich, da sich die Frage stellt, in welchem Verhältnis die verschiedenen - also mehrere - Alternativen zu der einen Norm stehen, die im Falle des Abweichungskonzepts vorausgesetzt wird: Denn die Deviationsstilistik schreibt ein zweistelliges Verhältnis fest, sie baut ferner eine implizite Hierarchie zwischen den beiden Polen auf und belegt das von der Norm Abweichende automatisch mit dem Stigma des ‘Anderen’. Die Vorstellung von Stil als Wahl zwischen Alternativen hingegen verzichtet auf diese Zweistelligkeit und öffnet einen hierarchielosen Raum vieler verschiedener, nebeneinander angeordneter Möglichkeiten. Bei diesen Unterschieden sollte jedoch die Gemeinsamkeit beider Ansätze nicht aus dem Blick geraten: Stil erscheint in beiden Fällen als Differenz zu etwas - zu der vorausgesetzten Norm oder zu anderen, im besonderen Text gerade nicht realisierten, jedoch theoretisch auch möglichen Stilformen. Stil ist damit “ein relationales Phänomen: Verschiedenheit der Stile macht diese erst untereinander unterscheidbar” (Sandig 1995: 33). Und obgleich die Abweichungsstilistik aufgrund der Schwierigkeit, die zu Grunde gelegte Norm überhaupt zu bestimmen, 5 und der ideologischen Befrachtung eines solchen Ansatzes an Boden verloren zu haben und die Selektionsthese handlicher zu sein scheint, stellt sich auf pragmatischer Ebene die Frage, wie der Stil eines Textes überhaupt als solcher erkannt werden kann. Ist Stil etwas “Bemerkenswertes, Beobachtbares” (Sowinski 1999: 3) und zielt die Frage nach dem Stil “auf das je Eigenartige und Einmalige” eines Textes (Anderegg 1995: 121), so setzt die Wahrnehmung des Besonderen die Unterscheidung von etwas Allgemeinem voraus, was dem Konzept der Abweichung sehr nahe kommt. Nach Michael Riffaterre wird Stil als Kontrast eines Elements zu seinem Kontext erkennbar: “Der stilistische Kontext ist ein linguistisches pattern, das von einem unvorhersehbaren Element durchbrochen wird; der sich aus dieser Interferenz ergebende Kontrast ist der stilistische Stimulus” (1973: 53, Hervorhebung im Original). Der Begriff des Kontextes ersetzt hier den - problematischen - Begriff der Norm, die Vorstellung vom Stil als Abweichung bleibt gleichwohl bestehen: “Die Hypothese, dass der Kontext die Rolle der Norm spielt und der Stil durch eine Abweichung davon entsteht, ist fruchtbar” (ebd.: 51f.). Entscheidend ist hierbei die “Überraschung des Lesers” (ebd.: 54), die den Kontrast als Stimulus des Stils wahrnimmt. Es bleibt also zu fragen, ob das Moment der Abweichung nicht ein konstitutives Element des Vorgangs des Erkennens von Stil ist. Im Rahmen eines kommunikationstheoretischen Modells hieße dies - unabhängig von der Entstehung des Stils auf Seiten der Produktion, also des Autors -, dass die Vorstellung einer ‘Abweichung’ zumindest für die Elliptische Sätze 39 Seite der Rezeption bedeutsam ist und auch bei Stilanalysen eine zwar vielleicht unscharfe, dennoch aber relevante Größe bleibt. So hält auch Spillner als erklärter Gegner der Abweichungsstilistik fest: “Die Konzeption von Stil als Abweichung ist als heuristisches Mittel geeignet, nicht dagegen als Grundlage einer Stiltheorie” (Spillner 1974: 40). Gleichwohl muss hiermit nicht auch die Norm als Größe restituiert werden: Sinnvoller und heuristisch tragfähig scheint mir zu sein, Stil - auch auf produktionsästhetischer Seite - innerhalb eines Konzeptes der Selektion zu verstehen, wobei zumindest das Erkennen eines bestimmten Stils sich immer (und sei es implizit) im Modus des Vergleichs vollzieht. In der Rezeption (als Differenz, Abweichung, Besonderes) wahrgenommen werden kann allerdings nur, was im Text selbst als Charakteristikum gerade dieses Textes vorhanden ist - und auch hier lässt sich unter ‘Stil’ Verschiedenes verstehen. Im Sinne einer “Makrostilistik” literarischer Texte fasst Bernhard Sowinski auch Phänomene wie die Erzählsituation oder die Erzählperspektive unter den ‘Stil’ eines Textes (Sowinski 1999: 73-89) - Aspekte also, die in der Narratologie klassischerweise als discours-Elemente einer Erzählung behandelt werden. Insofern unter discours allerdings die Art und Weise der Darstellung verstanden wird (vgl. Todorov 1966), scheint es legitim zu sein, unter dem Stil, der ja ebenfalls die Art und Weise, das “Wie” eines Textes betrifft (Gauger 1992, 1995), all jene Strukturelemente eines Textes zu subsumieren, die seine Darstellung und damit die Erzählung als Erzählung betreffen, da jede Erzählung nur in einer spezifischen Darstellung des Erzählten überhaupt existiert. Deutlich dürfte hiermit allerdings auch werden, dass eine solche umfassende Bestimmung von ‘Stil’ (resp. Erzählstil) sich in nichts vom Gegenstandsfeld einer discours-orientierten Erzähltheorie, wie sie Gérard Genette entworfen hat, unterscheidet - der Mehrwert einer solchen Ausweitung des Begriff scheint mir also ausgesprochen zweifelhaft zu sein. In einem engeren Sinne, als “Mikrostilistik”, lässt sich unter Stil eine “Satzstilistik” verstehen (Sowinski 1999: 89-101), womit die Nähe der Stilistik zur Linguistik auch bei literaturwissenschaftlicher Relevanz der Kategorie deutlich wird. So bestimmt etwa Oliver Jahraus Stil in Sicht auf den literarischen Text als “wiederkehrendes Selektionsmuster”, das “insbesondere die Wortwahl, grammatische und vor allem syntaktische Prinzipien” betrifft (Jahraus 2004: 118). In diesem Sinne möchte ich das besondere, auffällige Strukturmuster einer bestimmten Schreibweise zunächst als ‘Sprachstil’ definieren, unter dem ich die Gesamtheit wiederkehrender und damit paradigmatischer Besonderheiten im sprachlichen Ausdruck eines Autors verstehe, die auf dem Prinzip der Selektion aufbauen und die in erster Linie die syntaktische, weiterhin jedoch die textlinguistische Ebene betreffen, womit auch Phänomene der Herstellung von semantischer Kohärenz und grammatischer Kohäsion eines Textes angesprochen sind. In Sicht auf die Selektion ist dabei natürlich anzumerken, dass die - vorausgesetzte - Wahl des Autors aus verschiedenen Möglichkeiten schon durch die Grammatik einer Sprache begrenzt ist, die Wahl des Stils steht also am Ende vorangegangener Restriktionen und Selektionen (vgl. Spillner 1974: 47). Weiterhin müssen historische Faktoren als stilbeeinflussende Größen beachtet werden; “gesellschaftliche Normen, sprachliche Regeln, stilistische Konventionen” (Spillner 1995: 68) sind historisch wandelbar. Hiermit ist jedoch noch nichts in Sicht auf die Stellung eines solchen Sprachstils im spezifischen Kontext eines Erzähltextes gesagt, denn sprachlicher Stil muss zunächst für jede Aussageart angenommen werden. 6 Will man unter ‘Erzählstil’ nicht - in m.E. unproduktiver Ausweitung des Begriffs - alle Aspekte verstehen, die eine Erzählung auf der Ebene des discours konstituieren, so bietet sich die Lösung an, den spezifischen Sprachstil eines Erzähltextes als ein den discours prägender Aspekt neben anderen zu behandeln: neben der Zeitstruktur, dem Modus und der Stimme (vgl. Genette 1998). In diesem Sinne lässt sich der Daniela Langer 40 Sprachstil einer Erzählung als Erzählstil fassen, anders gesagt: Ich verstehe unter dem Erzählstil einer Erzählung den spezifischen - wie oben definierten - Sprachstil eben eines Erzähl-Textes, den es bei einer Erzähltextanalyse neben der Zeitstruktur, dem Modus, der Stimme zu beachten gilt und der - was für die von Genette eingeführten Aspekte ja ebenfalls schon gilt - nicht unabhängig von diesen zu betrachten ist, sondern sich vielmehr in einem Wechselspiel mit den anderen Aspekten befindet. Was die Bestimmung des Erzählstils jedoch nicht nur terminologisch, sondern auch in der Analyse schwierig macht - und von den anderen Strukturelementen einer Erzählung unterscheidet -, ist die Tatsache, dass es sich beim Stil um eine ausgesprochen plurivariable Kategorie handelt: Als wiederkehrendes Strukturmuster des sprachlichen Ausdrucks besteht der Stil aus einer Fülle einzelner Konstituenten, die sich nur schwer in ein übersichtliches Set verschiedener Möglichkeiten gliedern lassen. Im Falle der Erzählsituation ist die Auswahl des Erzählforschers prinzipiell auf wenige Varianten beschränkt: Diese können in der Kombination ihrer einzelnen Elemente wie Fokussierung und Person ungewöhnlich sein, und natürlich gilt es auch hier, einen genauen Blick auf den Text zu unternehmen, kann doch etwa die Fokussierung im Verlauf des Textes wechseln und lässt sich auch die Erzählsituation immer noch im Zusammenspiel mit weiteren discours-Elementen des Textes präzisieren. Dennoch erlaubt eine relativ geringe Anzahl an Kategorien und ihre Kombination untereinander hier eine schnelle Charakterisierung der Sachlage im Text. 7 Dies ist im Falle des sprachlichen Stils als Gesamtheit von Syntaxbesonderheiten, signifikanter Bevorzugung bestimmter Wortarten, Möglichkeiten der Kohärenzherstellung und Textverknüpfung sowie dann auch noch der Semantik (im Falle einer in irgendeiner Hinsicht auffallenden Wortwahl) schon allein durch die Lexik und die Gesamtheit aller grammatischen Regeln einer Sprache kaum gegeben. 8 Zu beachten gilt es weiterhin, welche Funktion dem vorliegenden, bestimmten Stil zukommt. Denn die Frage nach dem “Wie” des Textes ist von der Frage “Wozu” kaum zu trennen (Sandig 1995: 28). Grundannahme der Auffassung vom Stil als Selektion ist zunächst, dass eine Aussage auf verschiedene Arten getätigt werden kann, wobei die Art und Weise des Aussagens allerdings ihrerseits auf die Aussage zurückwirkt. So wird auch der Gegenstand des Textes von seiner Darstellung affiziert, anders gesagt: Die Darstellung hat - und dies betrifft den Erzählstil gleichermaßen wie andere discours-Elemente - eine bestimmte Funktion. “Dasselbe Thema kann zu verschiedenen Zwecken in verschiedenen Stilen entfaltet werden” (Sandig 1995: 31). 9 Stil ist bedeutungstragend, ja bedeutungsgenerierend. Die Funktion eines Erzählstils lässt sich allerdings nur im Zusammenspiel des Stils mit Gattungs- und Genreerwartung, der historischen Verortung des Textes als zeit- und damit auch sprachgeschichtlicher Rahmung sowie nicht zuletzt mit allen anderen discours- Elementen des Einzeltextes bestimmen. Der gleiche sprachliche Stil kann - je nach Kontext und anderen intratextuellen Spezifika des Textes - eine unterschiedliche Wirkung entfalten, so dass man “von der Polyvalenz der stilistischen Merkmale ausgehen [sollte]” (Spillner 1995: 71, vgl. Spillner 1974: 72). Die tatsächliche Valenz eines bestimmten Erzählstils lässt sich also nur in einer Analyse ermitteln, die den relevanten Kontext und das intratextuelle Zusammenspiel des Erzählstils mit anderen discours-Elementen der Erzählung beachtet und nicht zuletzt auch die histoire in die Bestimmung der Funktion des Erzählstils einbezieht. Notwendig ist in Sicht auf den Erzählstil eines Textes also Interpretation - will man nicht Gefahr laufen, die spezifische Funktion eines sprachlichen Stils in einem Erzähltext allzu früh auf etwas festzulegen, was dem Text als Ganzem vielleicht nicht gerecht wird. Elliptische Sätze 41 Die hier in den Blick genommenen Fallbeispiele sind als Texte schon ihrer Gattungszugehörigkeit nach sehr unterschiedlich, drängen sich allerdings in Sicht auf ihre Themen und ihre Erzählstile einem Vergleich geradezu auf. Es handelt sich um Sigrid Damms Christiane und Goethe. Eine Recherche, eine Biographie aus dem Jahre 1998, und um Marlene Streeruwitz’ Nachwelt. Ein Reisebericht. Roman aus dem Jahre 1999, ein Text, der das Thema der Biographie fiktionsintern aufgreift. Beide Texte arbeiten mit einem ähnlichen Erzählstil - dem allerdings, so soll gezeigt werden, jeweils eine unterschiedliche Funktion zukommt. 2. Erzählstil und das biographische Thema der Fallbeispiele Auffällig in Christiane und Goethe ebenso wie in Nachwelt. ist ein parataktischer Stil mit kurzen Sätzen, die oftmals unter Auslassung des Subjekts und/ oder des Verbs als Ellipsen konstruiert sind. These ist zunächst, dass die Spezifik dieses Erzählstils in einem funktionalen Zusammenhang mit dem biographischen Thema der Texte steht: Die Biographie - die ‘tatsächliche Geschichte’, so, wie es wirklich war - bildet in beiden Texten die Folie, vor der das Erzählen sich konstituiert. Zugleich bleibt diese ‘wahre Geschichte’ jedoch in beiden Texten eine Leerstelle - und dies gilt letztlich auch (wenn auch auf andere Weise) für Christiane und Goethe, obgleich dieser Text als Biographie gerade auf die Rekonstruktion dieser ‘wahren Geschichte’ abzielt. In Nachwelt. reist die Wienerin Margarete Doblinger nach Kalifornien, um eine Recherche über das Leben der Bildhauerin Anna Mahler durchzuführen, der Tochter von Gustav Mahler und Alma Mahler-Werfel. Margarete führt einige Interviews mit Freunden von Anna Mahler, gibt das Vorhaben, eine Biographie Anna Mahlers zu verfassen, jedoch am Ende auf. Einer der im Text genannten Beweggründe hierfür ist der Unwillen Margaretes, Urteile über ein fremdes Leben zu fällen: Urteile. Diese Leben anderer ausdeuten. Wie war sie auf die Idee gekommen. So etwas machen zu wollen. Die Idee war auf einmal lächerlich. Das mußten andere machen. Andere, die sich sicherer waren. Sie konnte ja nicht einmal über ihr eigenes Leben Auskunft erteilen. (Streeruwitz 2003: 371) Als zweites Motiv für die Aufgabe des Vorhabens tritt im Roman die Unsicherheit Margaretes über die ‘Richtigkeit’ der geplanten Lebensbeschreibung: Sie würde diese Biografie nie schreiben. Konnte das nicht. Konnte die Frage, ob diese Frau geraucht hatte oder nicht. Sie konnte diese Frage nicht stellen. Und keine mehr. Konnte diese Erwartungen nicht erfüllen. Konnte diesem alten Mann da drinnen auf dem Bett nicht eine Liebe schreiben, wenn sie nicht wußte, was richtig war. Wer die richtige Anna Mahler. (Streeruwitz 2003: 370) Tatsächlich hat Marlene Streeruwitz Interviews mit Freunden von Anna Mahler geführt, die in den Roman Eingang gefunden haben, tatsächlich hatte sie zunächst vor, die Biographie Anna Mahlers zu schreiben (vgl. Streeruwitz 1999). Dass sie es nicht getan hat, sondern das Scheitern dieses Vorhabens in fiktionalem Rahmen erzählt, geschah laut Selbstaussage aus zwei Gründen, die auch im Buch genannt sind: weil historische Wahrheit über Urteile von Biografen nicht herstellbar ist beziehungsweise den autoritären Faktor einer Behauptung oder Urteils in sich tragen. Das ist schon von der Recherche her nicht zu machen: Die einen Leute erzählen, Daniela Langer 42 dass Anna Mahler Kettenraucherin war, die anderen behaupten, sie habe nie geraucht. Ausserhalb einer streng wissenschaftlichen Arbeit, bei der der Biograf die einzelnen Quellen ausweist und gegeneinander hält, ist Biografie eines dieser Genres, die die Lüge in der Literatur besonders heftig aufrecht erhalten, weswegen sie auch so ein Vergnügen sind und sich so gut verkaufen. Es macht die Welt wieder so einfach. Der andere Grund ist, dass alles, was mit der Shoa und Emigration zu tun hat, nicht erfunden werden darf. Dafür gibt es genug Zeugnisse. Für mich war es wichtig, dass das Undenkbare nicht über meine Phantasie zum Denk- und Lesbaren wird. (Streeruwitz 1999) Die Zwischenschaltung der fiktiven Figur Margarete lässt sich als formales Verfahren der Brechung lesen, um die Biographie Anna Mahlers ebenso wie die Erinnerungen ihrer Freunde - und damit auch die Shoa und die jüdische Emigration - sichtbar zu machen 10 , ohne sie mit dem Anspruch auf Vollständigkeit oder Wahrheit zu erzählen - was fast zwangsläufig zur Erfindung führen muss. Die (authentischen) Interviews werden im Text also angeführt - sie werden aber fiktionsintern nicht zur ‘tatsächlichen’, ‘wahren’ Lebensgeschichte von Anna Mahler zusammengefügt. Die Biographie wird so textintern als uneinholbar markiert, und sie wird in dem Roman - obgleich die Interviews punktuelle Sichtweisen auf Anna Mahlers Leben erlauben - als Gesamtbild dieses Lebens gerade nicht entworfen. Sigrid Damm macht mit ihrer “Recherche” Christiane und Goethe etwas vollkommen anderes, stellt dieses Buch doch eine Biographie von Christiane Vulpius dar, Goethes Geliebter und späterer Ehefrau, und wird auf diese Weise ein Gesamtbild Christianes durchaus entworfen. Wie es zu Beginn heißt, möchte Damm “eine[] Annäherung an die tatsächlichen Vorgänge, an das authentisch Überlieferte” vornehmen: “Durch die Recherche, die Rekonstruktion, die nüchterne Spurensuche in den Archiven” (Damm 1998: 11). Das Problem mangelnder Objektivität, das in Nachwelt. zum Scheitern der Biographie führt, scheint in Christiane und Goethe keines zu sein, soll doch die Annäherung “nicht im Sinne einer poetischen Erfindung, eines neu hinzugefügten Bildes” erfolgen (Damm 1998: 11), wie auch die “Nachbemerkung” verdeutlicht: “Ich verzichte auf Fiktionen, auf das Ausfüllen von Leerstellen durch erzählerische Phantasie. […] Ich vertraue ausschließlich dem Verbürgten, dem Dokument” (Damm 1998: 517). Dass ein solches Unternehmen vor der Paradoxie steht, seinen Gegenstand - das wirkliche Leben der Christiane Vulpius - streng genommen niemals einholen zu können, wird mit diesen Aussagen implizit deutlich: Einerseits stellt gerade dieses wirkliche Leben, die ‘Wahrheit’ als ein ‘So-wie-es-wirklich-war’, den Bezugspunkt des Buches dar, denn die Rede ist von den “tatsächlichen Vorgänge[n]”, vom “authentisch Überlieferte[n]” (Damm 1998: 11) - unter Verzicht auf “Fiktionen” und “erzählerische Phantasie” (ebd.: 517). Andererseits kann dies nur eine “Annäherung” sein, eine “Rekonstruktion” mittels einer “Spurensuche” (Damm 1998: 11), der Leerstellen inhärent sind: Die Differenz zwischen dem gelebten Leben und der Biographie ist also auch diesem Text eingeschrieben; die Unmöglichkeit, ein Gesamtbild dieses Lebens zu zeichnen, wird hier mitgedacht. Gleichwohl - und dies stellt den entscheidenden, auch gattungsgebundenen Unterschied zu Streeruwitz Nachwelt.-Projekt dar - wird die Annahme einer punktuell möglichen ‘Richtigkeit’ der Biographie damit nicht aufgegeben, im Gegenteil, denn das Authentische, Nicht-Fiktionale bleibt weiterhin Zielpunkt der Darstellung. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise diese Darstellung des Tatsächlichen im Text umgesetzt wird. Denn obgleich es sich um eine “nüchterne Spurensuche” (Damm 1998: 11, Hervorhebung D.L.) handelt, wird der Modus des Erzählens gewählt: “Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Monographie. Ich nähere mich meinem Thema erzählerisch” (Damm 1998: 517). Zu fragen Elliptische Sätze 43 ist nach den Implikationen der hier aufgestellten Opposition: Insofern Wissenschaftlichkeit allgemein dem Objektivitätskriterium unterliegt, würde dies bedeuten, dass der Modus des Erzählens als Gegenpol diesem nicht unterliege, was allerdings dem Programm einer Rekonstruktion des Faktualen auf den ersten Blick widerspricht. Zu fragen ist also gerade bei Damm nach den Spezifika des Erzählstils und seinen Implikationen bei der erzählerischen Darstellung eines möglichst authentisch rekonstruierten Lebens. Zwischen der erzählerischen Vorgehensweise einerseits und der abgelehnten erzählerischen Phantasie andererseits öffnet sich ein Bruch, und es gilt, diesem Bruch gerade in Sicht auf den Umgang mit Leerstellen nachzugehen. Gegenübergestellt werden also im Folgenden die Erzählstile eines Romans, der vom Projekt einer gescheiterten Biographie erzählt, und einer Biographie, die erzählerisch verfährt. Die sprachlichen Verfahrensweisen beider Texte zeigen ähnliche Grundzüge: Die Gänge und Plätze der Shopping mall waren überfüllt. Menschen gingen. Standen vor den Imbißständen an. Saßen essend an den Tischen gegenüber den Ständen. Gingen die Stiegen hinaus und hinunter. Fuhren auf den Rolltreppen. Strömten durch die Türen der großen Geschäfte. Schlenderten an den Auslagen der Boutiquen vorbei. […] Sie würde das später machen. Einkaufen. Die Geschenke. […] In einer Boutique im oberen Stock wurde nur Weißes verkauft. Weiße Kleider. Weiße Tischwäsche. Weiße Einrichtungsgegenstände. Weißes Geschirr. Alle Sorten von Weiß. Und viel weiße Spitze auf den Kleidern und Tischtüchern und Servietten und Polstern. Gegenüber Sportschuhe. Sie ging hinein. Sie fragte nach weißen Tennisschuhen. Der Mann schaute auf ihre Füße. Sie bräuchte ein Männermodell, sagte er. Sie sah den Mann an. (Streeruwitz 2003: 34f.) Diesem Abschnitt aus Nachwelt. sei ein Beispiel aus Christiane und Goethe gegenübergestellt: Ich lese Christianes Briefe. Erstaunlich sind sie, gestisch und genau. Detailfreudig. Eine Frau findet eine Sprache für ihren Körper, ihre Weiblichkeit, ihre Sexualität. Ungewöhnlich für ihre Zeit. Ebenso ungewöhnlich ist, wie sie Alltagsarbeit beschreibt. Eine Frau tritt mir entgegen, unablässig tätig, zwei Haushalte, ein Landgut, zwei Gärten, Krautland. Sie erledigt Erbschaftsangelegenheiten, bereitet den Erwerb von Land und Kaufabschlüsse vor, tätigt Geldgeschäfte. Sie kann einen Schlitten kutschieren. Geht allein auf Reisen, trägt zwei Pistolen bei sich. Sie ißt gern, trinkt gern, am liebsten Champagner. Sie tanzt ausgezeichnet, als Fünfundvierzigjährige nimmt sie noch bei einem Tanzmeister Unterricht. Sie liebt die Komödie, weniger das Lesen, das tut sie nur bei üblem Wetter oder aus langer Weile. Heiter ist sie, witzig, stets gutgelaunt. […] Eine Frau, die stets zuviel Arbeit hat. Die murrt, launisch ist. Stimmungen unterliegt. Depressionen hat. Verletzbar ist. Und einsam. Sehr einsam. Ihre schwere Krankheit in den letzten Lebensjahren. Ihr einsames Sterben, ihr früher Tod. (Damm 1998: 10f.) Die Gemeinsamkeiten des sprachlichen Ausdrucks liegen in der parataktischen Reihung von Sätzen, die nach erster Nennung oftmals auf das Subjekt verzichten, bei Streeruwitz etwa in der Abfolge “Menschen gingen.” und dann, unter Auslassung von “Menschen”: “Standen […]. Saßen […]. Gingen […]. Fuhren […]. Strömten […]. Schlenderten […].” Bei Damm: “Sie kann einen Schlitten kutschieren. Geht […], trägt […].” Streeruwitz schreibt durchgängig extrem kurze Sätze, verzichtet weitestgehend auf jegliche hypotaktischen Konstruktionen, die Anzahl der Kommata im Roman ist gering, und auch bloße Konjunktionen können den Status von Sätzen erhalten (“Und.”). In dieser Extremform wird die Ellipse bei Damm sowohl qualitativ als auch quantitativ nicht eingesetzt, in Christiane und Goethe finden sich durchaus längere, über zwei oder drei (selten mehr) Zeilen gehende Sätze mit leichteren Hypotaxen. Auch hier gibt es allerdings eine starke Tendenz dazu, die Sätze zu Daniela Langer 44 verkürzen und dann auch parataktisch zu reihen - wie am Schluss dieses Beispiels. Schon der Satz “Eine Frau, die stets zuviel Arbeit hat.” kommt ohne vollständigen Hauptsatz aus. Nachfolgend werden unter Weglassung des Subjekts Nebensätze gereiht, die jedoch bald das Relativpronomen (“Stimmungen unterliegt.”) und danach auch das Verb verlieren, bis Adjektive und Nominalphrasen übrig bleiben: “Sehr einsam. Ihre schwere Krankheit in den letzten Lebensjahren. Ihr einsames Sterben, ihr früher Tod.” Solche zu elliptischen Sätzen erhobene Aufzählungen lassen sich auch bei Streeruwitz finden: “Weiße Kleider. Weiße Tischwäsche. Weiße Einrichtungsgegenstände. Weißes Geschirr. Alle Sorten von Weiß.” Dass es sich in den angeführten Beispielen bei Christiane und Goethe um Gefühle und Zustände, bei Nachwelt. hingegen um Gegenstände handelt, verdankt sich zunächst nur den Beispielen: So kommen bei Damm auch Ellipsen vor, die Gegenstände ‘abbilden’, bei Streeruwitz wiederum finden sich auch Ellipsen, die Gedanken der Protagonistin zur Darstellung bringen. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen beiden Texten in dem Stellenwert und in der Funktion solcher Aufzählungen, die den hier aufscheinenden Gegensatz zwischen Gefühlen/ Zuständen in Christiane und Goethe und Gegenständen in Nachwelt. letztlich doch symptomatisch werden lassen, was in den folgenden Analysen entwickelt werden soll. 3. Marlene Streeruwitz: Nachwelt. Ein Reisebericht. Roman Was durch den sprachlichen Stil in Nachwelt. übrig bleibt, sind allein Eindrücke, entweder ein kurzes Aufblitzen äußerer Realitätsdetails wie im Falle des weißen Warenangebots oder aber Gedankenfetzen der Protagonistin als verkürzte Extremform erlebter Rede: “Sie würde das später machen. Einkaufen. Die Geschenke.” (Streeruwitz 2003: 35). Beides geht beständig ineinander über, die umgebende Außenwelt wird so in großen Teilen als Reflex im Bewusstsein Margaretes erkennbar. Der Text wird damit als (heterodiegetischer) stream of consciousness lesbar. Denn mit Ausnahme der Interviews als intradiegetisch-homodiegetische Texteinsprengsel bleibt die Erzählung durchgängig bei Margarete. Stellenweise wird Margarete in externer Fokussierung wie von einer Kamera begleitet, das Geschehen um sie herum neutral beschrieben: “Manon ging zum Auto hinaus. Sie stützte sich an den Wänden ab. Margarethe folgte ihr. Ging hinter ihr durch die nun dunklen Zimmer. Die schmalen Gänge.” (Streeruwitz 2003: 11). Eine solche externe Fokalisierung geht jedoch beständig in die Wiedergabe von Margaretes Gedanken über, so dass auch die Schilderung der äußeren Realität als Schilderung der von Margarete wahrgenommen Realität lesbar wird: Sie fuhr. Immer wieder sammelte sich Feuchtigkeit in winzigen Tropfen auf der Windschutzscheibe. Wenn sie die Scheibenwischer einschaltete, verschmierte sich die Scheibe. Luftfeuchtigkeit. Knapp vor dem Regen. Wie bei der Hinfahrt. Aber die Vorstellung des Gifts aus den Flugzeugen. Sie würde in die Garage fahren, und von dort an mußte sie sich nur noch im Haus bewegen. (Streeruwitz 2003: 14) Insgesamt dominiert damit deutlich eine interne Fokalisierung. Zugleich mischt sich die erzählte Gegenwart, der Aufenthalt Margaretes in Kalifornien, beständig mit Reflexionen über die Vergangenheit, über das eigene Leben in Wien oder aber über das Leben Anna Mahlers. So beginnt der folgende Abschnitt mit den Gedanken Margaretes über die Töchter der Familie Mahler und die junge Anna Mahler, wechselt dann aber unvermittelt zu der äußeren Situation über, in der Margarete sich befindet, während sie über Anna Mahler nachdenkt: Elliptische Sätze 45 Diese vielen Mädchen. Und alle Mahler heißen hatten müssen. Nur so viel wert. Wahrscheinlich. Und. Dieses kleine Mädchen in England. Sie war ja dann doppelt vertrieben gewesen. Aus Wien. Und aus dem Leben der Mutter. Und durch ein anderes Kind ersetzt worden. Sie lief bei Rot über die Straße. Riß die Glastür zur Shopping mall auf. Sie wollte sich so ein Elend nicht vorstellen müssen. Andere waren in dieser Zeit getrennt worden. Konnte man sich in einer solchen Zeit von jemandem trennen? Freiwillig? (Streeruwitz 2003: 34) An diesem Beispiel wird zugleich deutlich, wie die Gegenwart Margaretes in Kalifornien von der Vergangenheit bestimmt wird. Die Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinragt, ist hierbei sowohl Individualals auch Kollektivgeschichte, besteht aus Margaretes Lebensgeschichte und aus den Lebensgeschichten österreichischer Emigranten. Das “Private und Politische”, bei Streeruwitz generell “als untrennbar miteinander verbunden zu verstehen” (Hempel 2004: 48), werden als untrennbar gerade in der Verflechtung der verschiedenen Zeitebenen vorgeführt, “die alle simultan präsent und gleich wichtig sind” (ebd. 49). Ein geschlossener sinnhafter Diskurs (als ‘Vergangenheitsbewältigung’) wird durch den sprachlichen Stil allerdings verweigert. Nicht nur die Zeitstruktur, die also permanent von kurzen Analepsen durchsetzt ist, verhindert das Erzählen einer durchgängigen Geschichte. Es fehlen auf der Ebene des Erzählstils auch Anknüpfungspartikel, die einen kausalen oder temporalen Bezug zwischen den Sätzen herstellen würden. Tauchen sie doch einmal auf, so bilden sie selbst einen eigenen Satz, sind also vom Satz davor und dem danach abgeschnitten: Da war Anna 48 Jahre alt gewesen. Und mit Albrecht Joseph zusammen. Damals schon. 37 Jahre waren die beiden zusammengeblieben. Dann. Im Lebenslauf Anna Mahlers im Katalog zur Ausstellung ihres Werks in Salzburg 1988 war Albrecht Joseph nicht einmal erwähnt gewesen. (Streeruwitz 2003: 9) Der Bezug kann hier vom Leser zwar hergestellt werden, die einzelnen Sätze können hypothetisch zu einer hypotaktischen Konstruktion zusammengesetzt werden. Der Erzählstil jedoch verweigert einen solchen Bezug, indem er das Temporaladverb “Dann.” zu einer eigenen, geschlossenen Aussage erhebt, ohne den Bezugspunkt dieser temporalen Bestimmung anzuführen. Auch Konjunktionen wie das “Und.” im oben angeführten Zitat unterliegen dieser Verfahrensweise. Was an dieses ‘und’ angeschlossen ist, welcher Gedanke sich an den vorigen anknüpft, bleibt so eine Leerstelle - ist es wirklich der nachfolgende Satz, könnten es nicht auch andere Gedanken der Protagonistin sein? Streng genommen verweigert das “Und.” schon den Rückbezug zum vorigen Satz, da es als eigener Satz neu ansetzt. Es bildet also selbst eine Pause, einen Raum für unendlich viele mögliche ‘unds’, die hier ansetzen könnten, es bleibt in sich leer. Das “Und.” oder das “Dann.” bieten gleichermaßen die Möglichkeit, die jeweiligen Sätze davor und danach in eine Verbindung zu bringen, wie sie diese Verbindung durch ihren Satzcharakter verweigern. Zur Verweigerung eines geschlossenen Diskurses gehört auch, dass Nebensätze zu höheren Ehren kommen und an die Stelle von Hauptsätzen treten: “Und alle Mahler heißen hatten müssen.” (Streeruwitz 2003: 34), “Nur die Wolken vorne das Licht auffingen.” oder “Erst die Ankunft wieder Wirklichkeit sein würde.” (ebd.: 57). Man fragt sich unwillkürlich nach der Bedingung, die erfüllt sein muss, damit dies so ist, fragt nach dem übergeordneten Sachverhalt, von dem diese zur Eigenständigkeit gelangten Subordinationen abhängen - doch auch dies bleibt eine Leerstelle. Der Erzählstil von Marlene Streeruwitz arbeitet mit Brüchen, Pausen und Zwischenräumen. In ihren Tübinger Poetik-Vorlesungen heißt es: Daniela Langer 46 Ich habe durch die Notwendigkeit des Akts der Beschreibung eines Unsagbaren im Ausdruck zu Kunstmitteln wie Stille, Pause, dem Punkt als Würgemal und dem Zitat als Fluchtmittel gefunden, um damit dem Unsagbaren zur Erscheinung zu verhelfen. Und das Unsagbare zumindest in ein Beschreibbares zu zwingen. Die bedeutungsbildenden Möglichkeiten der Leere auszuschöpfen. (Streeruwitz 1997: 48) Diese Aussage steht im Kontext einer feministischen Ästhetik, die eine Loslösung vom männlichen Blick als “Blick Gottes” (Steeruwitz 1997: 20) und dem patriarchalischen (Sprach-)Diskurs propagiert (vgl. Kedveš 2004). Dass in ihren Prosatexten keine auktoriale Erzählsituation, kein absoluter Überblick über Diegese, Handlung, Figuren in Form einer Null-Fokalisierung als des “berühmte[n] ‘point of view Gottes’” (Genette 1998: 241) vorkommt, ist hier nur konsequent. Streeruwitz Sprache verweigert sich dem Objektiven, sucht vielmehr nach einem Ort des Subjektiven im Text, “an dem es nicht flüchtig sich verliert, aber auch nicht in das Objektive eingibt und damit Träger des Objektiven wird” (Streeruwitz 1998: 54). Der sprachliche Stil dient Streeruwitz als Mittel, die Suggestion ‘objektiver’ Vollständigkeit zu vermeiden: Der vollständige Satz ist eine Lüge. Im Entfremdeten kann nur Zerbrochenes der Versuch eines Ausdrucks sein. Das Ich des Aktivsatzes müßte leerelos über sich verfügen. Das Ich eines Passivsatzes müßte alle Tiefen kennen, in denen es getroffen werden könne. Mit dem Punkt kann der vollständige Satz verhindert werden. Der Punkt beendet den Versuch. Sätze sollen sich nicht formen. […] Im Stakkato des Gestammels. In den Pausen zwischen den Wortgruppen ist das Suchen zu finden. Nach sich. Nach Ausdruck. (Streeruwitz 1997: 76) Die Frage nach der Darstellbarkeit des ‘Seins’ wird Streeruwitz zu einem poetologischen Problem, da “das Sein im Schein der Sprache zu keiner Erscheinung kommen kann” (Streeruwitz 1997: 46f.). Obgleich Streeruwitz in ihrer Poetik (auch) eine feministische Ästhetik entwirft, die sich auf die Suche nach der Darstellbarkeit des Weiblichen jenseits des als patriarchalisch deklarierten, Vollständigkeit evozierenden Diskurses macht, lässt sich diese Poetik also grundsätzlich als eine Verweigerung der Illusion objektiver Vollständigkeit verstehen. Diese elementare Ebene wird in Nachwelt. explizit zum Thema, indem der Roman die Suche nach einer Biographie fiktionsintern verhandelt. Es lässt sich letztlich behaupten, dass Nachwelt. eine Steigerung der in Streeruwitz’ Prosatexten immer verhandelten Problematik weiblicher Lebensentwürfe und der Darstellbarkeit des Weiblichen darstellt, 11 weil diese (auch und wieder in Nachwelt. angesprochene) Thematik hier auf die grundsätzliche Frage nach der Darstellbarkeit des ‘Seins’ ausgeweitet wird. Womit Streeruwitz in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen ihre gesamte Prosa kennzeichnet, lässt sich dezidiert auf Nachwelt. übertragen: Ich suchte eine Möglichkeit, die nicht zu erzählende Geschichte, die Geschichte, die nicht erzählt werden kann, weil ihr keine Sprache zur Verfügung steht, jedenfalls keine verständliche, einzubauen und ihr damit zumindest Raum zu geben. […] Ich denke, daß der Punkt in der zerrissenen Sprache diesen Raum, diese Möglichkeit schafft. (Streeruwitz 1998: 55) Der fragmentarische Erzählstil verweigert die teleologische Sinnhaftigkeit einer Geschichte, und in Nachwelt. wird diese auch in den anderen Romanen von Streeruwitz inszenierte Unmöglichkeit einer geschlossenen Geschichte mit dem fiktionsinternen Thema der Biographie selbstreflexiv in den Text hineingeholt. Die kurzen, elliptischen Sätze evozieren - wenn sie die äußere Umgebung der Protagonistin betreffen - blitzartige Eindrücke von Realität, diese werden durch den beständigen Wechsel mit Gedankenfetzen der Protagonistin aller- Elliptische Sätze 47 dings eben als Eindrücke der Protagonistin, als subjektive Wahrnehmung von Realität lesbar, die weiterhin fragmentarisch erfolgen und eine absolute Verfügbarkeit über das Subjekt und die Welt somit negieren. In Sicht auf die Darstellung nicht Margaretes, sondern Anna Mahlers Geschichte lässt sich bemerken, dass derselbe Stil punktuell auch die intradiegetischen Interviews prägt. Es handelt sich hierbei zwar, wie Marlene Streeruwitz betont, um die unveränderte Niederschrift der authentischen, in Kalifornien geführten Gespräche: Die Berichte über Anna Mahler seien “eins zu eins in die fiktive Handlung eingelassen”, und auf die Nachfrage nach der Überarbeitung erklärt Streeruwitz: “Nein, das ist eins zu eins abgeschrieben beziehungsweise übersetzt, wobei dann verschiedene Arten von Deutsch auch nebeneinanderstehen” (Streeruwitz 1999). Die Punktsetzung unterliegt bei einer solchen Transkription von Tonbandaufnahmen in geschriebenen Text allerdings der Entscheidung derjenigen, die die Transkription vornimmt - und obgleich sich also in den Interviews als authentischen Dokumenten in größerem Maße hypotaktische Konstruktionen finden, als dies in der extradiegetischen Erzählung der Fall ist, und die Anzahl der Ellipsen hier geringer ist, besteht in den Interviewpassagen des Romans die Tendenz, den Aussagediskurs durch Punkte in einzelne Fragmente zu unterteilen und so dem Erzählstil des gesamten Romans anzugleichen: Ich habe in Berlin studiert. Ich war an der Hochschule. Die Hochschule hat da einmal einen Ball gegeben. Das war wahrscheinlich 1922, und da habe ich die Anna kennengelernt. Auf diesem Ball. Da war sie allein, denn zu dieser Zeit war sie ja schon geschieden von ihrem ersten Mann. Koller hat der, glaube ich, geheißen. Rupert Koller. Den habe ich gar nicht gekannt. (“Ernst Kreneks Geschichte”, Streeruwitz 2003: 265) Unterstützt wird diese Tendenz zur Fragmentarität durch die Auslassung der Fragen in den Interviews, deren Position lediglich durch Gedankenstriche markiert wird: Sie begann zu malen. Vom Malen kam sie zur Skulptur. - Sie hat bis zum Ende Klavier gespielt. Aber sie wollte nie, daß ihr jemand zuhört. - Musik. Da wäre sie in einen Konflikt mit ihrem Vater und ihrer Mutter gekommen. Sie mußte sich etwas suchen, was noch keiner getan hattte. - (“Manons Geschichte”, Streeruwitz 2003: 252) Auch wenn Streeruwitz in Achtung vor den Opfer der Shoa (vgl. Lorenz/ Kraft 2002) und unter Umgehung jeglicher “Phantasie” bei der Darstellung des “Undenkbare[n]” (Streeruwitz 1999) die Interviews nicht im eigentlichen Sinne bearbeitet, so zieht doch die Entscheidung für die Punktsetzung einerseits und die Auslassung der Fragen andererseits bestimmte Wirkungen bei der Präsentation der Interviews nach sich, deren Funktion sich im Kontext des gesamten - ansonsten fiktiven - Romans erhellt. Denn die Collagenhaftigkeit des Bildes von Anna Mahler, die sich durch die punktuelle Einfügung der Interviews in den Text - und damit die Trennung der einzelnen Interviews voneinander - ergibt, wird so schon innerhalb jedes einzelnen Interviews deutlich und ein geschlossener Diskurs auch in jedem einzelnen Interview verhindert. Konsequenterweise wird mit der fiktiven Figur Margaretes, die die Interviews führt und der als Biographin die Aufgabe der Zusammensetzung des Puzzles zukommt, die Verweigerung einer gottgleichen Über-Sicht textintern vorgeführt, so dass der Roman selbstreflexiv die Bedingungen einer Biographie - ex negativo - thematisiert. Denn zum Schreiben einer Biographie wäre es notwendig, einen objektiven Standpunkt einzunehmen, der Margarete allerdings fehlt: “Wie sollte sie Höhe gewinnen. Überblick. Wenn sie sich so in die Realitäten fallen ließ. Sich hineinziehen ließ.” (Streeruwitz 2003: 212) Weiterhin würde der Anspruch, Daniela Langer 48 ein fremdes Leben - gerade im Kontext der Shoa - zu beschreiben, eine ethische Grenzüberschreitung darstellen: “Augenblicke wie diesen. Wie könnte man das für jemand anderen beschreiben. Sich in das Elend des Lebens anderer hineindrängen” (Streeruwitz 2003: 264). Mit dem Terminus ‘Augenblicke wie diesen’ ist ein (unglücklicher) Moment in Margaretes Leben angesprochen, die Möglichkeit, Erfahrungen zu beschreiben, wird also allenfalls dem diese Erfahrungen machenden Subjekt zugesprochen. Auf den ersten Blick paradox scheint es dabei zu sein, dass diese Aussage selbst ja aus einer heterodiegetischen Erzählsituation heraus gesprochen ist: Es ist nicht Margarete, die hier einen Moment ihres eigenen Lebens erzählt. Zum einen allerdings ist Margarete - im Unterschied zu Anna Mahler, im Unterschied zu den Interviewten, die folgerichtig auch in Ich-Form sprechen - fiktiv. Zum anderen lässt sich die heterodiegetische Erzählsituation damit als eine Brechung verstehen, die die Problematik der Darstellbarkeit fremden Lebens formal wiederholt. Zu einer solchen formalen Wiederholung der fiktionsinternen Frage nach der Möglichkeit einer Biographie trägt weiterhin auch der Erzählstil bei: Ebenso wie der Zugriff Margaretes auf Anna Mahler nicht vollständig und ‘richtig’ sein kann, versagt der Erzählstil des Textes eine vollständige und ‘richtige’ Erzählung von Margaretes Aufenthalt in Kalifornien, von ihrem Leben, von ihrer Gedanken- und Erfahrungswelt, indem er immer wieder abbricht und durch die Ellipsen einerseits, das Verfahren einer parataktischen Reihung andererseits lediglich (kontingente) Eindrücke sammelt. Die aufblitzenden Realitätsdetails und die externen Passagen kontrastieren dabei die innere Verfasstheit Margaretes mit der sie umgebenden äußeren Welt, wobei gerade durch die punktuelle Unverbundenheit der äußeren Geschehnisse mit Margaretes Gedanken- und Gefühlswelt die Verlorenheit der Protagonistin in der Welt deutlich wird: “Sie überlegte, ob sie etwas für ihr Frühstück brauchte. Sie dachte, sie hätte alles. Sie ging zum Apartment. Der alte Mann schwamm im Pool. Er schwamm bedächtig. Hielt den Kopf steil aus dem Wasser” (Streeruwitz 2003: 209). Der Streeruwitzsche “Pointillismus”, so ein Ausdruck von Alexandra Kedveš, radikalisiert die Details der Realität so weit, dass “der Zusammenhang sich auflöst” (2004: 24). Die Unmöglichkeit, eine sinnhafte Geschichte zu erzählen, und das Wechselspiel zwischen Objektivität (des äußeren Lebens) und Subjektivität (der individuellen, aber kontingenten Wahrnehmung dieses Lebens als Erfahrungshorizont eines einzelnen Menschen) werden so auch auf der Ebene des Erzählstils umgesetzt. Die Realitätsdetails führen ferner zu einem szenischen Modus des Erzählens, dessen Anschein von Unmittelbarkeit allerdings durch die fast immer mittelbare, indirekte Wiedergabe von Figurenrede gebrochen wird: “Im Apartment rief sie Helmut an. Was denn los sei, fragte er. Warum sie nicht anriefe. Er habe sich Sorgen gemacht” (Streeruwitz 2003: 40). Auch hier also ein kontrastierendes Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, das die partiell erreichte Unmittelbarkeit in der Darstellung der Margarete umgebenden Welt durch die Mittelbarkeit in der Darstellung persönlicher Kontakte der Hauptfigur sofort wieder unterbricht. Eine direkte Figurenrede ist auf der extradiegetischen Ebene ausgesprochen selten, intradiegetisch lassen sich natürlich die Interviews als ‘direkte’ Rede der Interviewten verstehen. Die partielle Übernahme des auch die Rahmenerzählung prägenden, fragmentarischen Erzählstils lässt hier gleichwohl eine Distanz entstehen, da für diese Passagen letztlich dieselbe Vermittlungsinstanz wie für die Haupterzählung angenommen werden muss. Die Zeitstruktur schließlich verweigert ebenfalls die große, objektive, sinnhaft-teleologisch erzählte Geschichte, da die Erinnerungen an Anna Mahler, die Reflexionen über die Nazi-Vergangenheit Österreichs und den Holocaust immer nur bruchstückhaft im Bewusstsein Margaretes auftauchen oder aber in Form der Interviews collagenhaft über den Text verteilt sind, und da sich ferner Kollektiv- Elliptische Sätze 49 geschichte und Individualgeschichte sprunghaft abwechseln. So gehen Margaretes Gedanken über das Stofftier, das Albrecht Joseph, der Lebensgefährte Anna Mahlers, seit seinem fünften Lebensjahr besitzt und also bei der Vertreibung mitnehmen konnte, in Erinnerungen an Margaretes toten Bruder Werner über, bevor wieder der Holocaust in den Vordergrund ihrer Gedanken tritt: Hatte sie etwas, das sie seit dem fünften Lebensjahr besaß? Was hätte sie zum Mitnehmen gehabt? Damals. Ihr fiel nichts ein. Sie hatte immer alles weggeworfen. Auch vom kleinen Werner. Alles. Es hatte damals geheißen, es wäre besser, sich aller Erinnerungen zu entledigen. Und mit dem Leben weiterzumachen. Mit dem Leben weiterzumachen, hatte der Pfarrer gesagt. Zu ihrer Mutter. Danach. Aber hätte man etwas retten können. Überhaupt. Und dann. Als Opfer. War es nicht das Schwierigste zu begreifen, daß einem die Auslöschung gewollt worden war. (Streeruwitz 2003: 18) Der Titel “Nachwelt.” verdeutlicht, dass ein erfülltes Leben im Hier und Jetzt unter Vernachlässigung der Vergangenheit nicht möglich ist, dass die Gegenwart so zu einer ‘Nachwelt’ wird, die in der Vergangenheit wurzelt. Zugleich greift der Titel auch das Vorhaben einer Biographie auf, insofern eben die Nachwelt vom Leben Anna Mahlers Zeugnis haben soll. Möglich ist dies allerdings nur in Form von Spuren, in Form von Erinnerungen an Anna Mahler, womit ihr Leben eben nicht ‘direkt’ erzählt und im Erzählen vergegenwärtigt wird. Der fragmentarische, elliptische Erzählstil ist also im Zusammenspiel mit anderen discours-Elementen des Textes sowie ferner natürlich mit der histoire funktionalisiert: Besteht die histoire von Nachwelt. in der Suche nach der Biographie, so verdeutlicht der discours die Unmöglichkeit der Biographie als ‘wahre, wirkliche Geschichte’, wozu der Erzählstil maßgeblich beiträgt, insofern er die Erzählung ‘der einen’ und überhaupt einer (sukzessive sich entwickelnden, kausal verknüpften) Geschichte schon rein sprachlich verweigert. 4. Sigrid Damm: Christiane und Goethe. Eine Recherche Auch in der Biographie Christiane und Goethe kommt es zur parataktischen Reihung einfacher, kurzer, oft elliptischer Sätze, die Tätigkeiten, Gegenstände oder Abstrakta knapp benennen und so eine blitzartige Vorstellung evozieren - wobei Damm, im Gegensatz zu Streeruwitz, bei meist asyndetischen Reihungen auch mit Kommata arbeitet: Goethe allein ist Hausherr und Gastgeber im Haus am Frauenplan. Er empfängt die Besucher, führt das Gespräch, legt die Speisen vor, bestimmt die Atmosphäre. Christiane hat, sind Gäste im Haus, voll zu tun. Das Menü, kochen, anrichten, die Tafel schmükken, der richtige Wein. Dessert und Kaffee zur gewünschten Zeit. Gesellschaften von zehn und mehr Personen. Das Davor und Danach. Der Haus- und Küchenschatz richtet alles zur Zufriedenheit des Gastgebers. (Damm 1998: 189) 12 Das Genre der Biographie setzt einen Zugang zum wirklichen Leben der realen Person voraus. In welchem Maße die Möglichkeit, ein ‘Gesamtbild’ der Porträtierten zu entwerfen, in Christiane und Goethe relativiert wird, in welchem Maße andererseits das authentisch Verbürgte Zielpunkt der Darstellung bleibt, wurde oben schon herausgestellt. Die textinterne Genre-Reflexion und die damit auch aufgerufene Genre-Erwartung kontextualisieren den Erzählstil von Christiane und Goethe in anderer Weise, als es bei einem fiktionalen Roman der Fall ist. Schon die Erzählsituation ist eine wesentlich andere als in Nachwelt.: So steht zu Daniela Langer 50 Beginn des ersten Kapitels eine Reflexion über die Beweggründe und Zielsetzung des Unternehmens einer Biographie von Christiane Vulpius, die durch die Personalpronomina ‘meine’ und ‘mich’ auf die Ich-Erzählerin verweist: Der tiefe Widerspruch zwischen ihren Selbstzeugnissen und dem Urteil von Mit- und Nachwelt über sie. Meine Neugier ist wach. Für mich könnte der Reiz nur sein, ihrem Lebensweg nachzuspüren. Von ihr aus zu erzählen. Aber nicht im Sinne einer poetischen Erfindung, eines neu hinzugefügten Bildes, sondern einer Annäherung an die tatsächlichen Vorgänge, an das authentisch Überlieferte. Durch die Recherche, die Rekonstruktion, die nüchterne Spurensuche in den Archiven. (Damm 1998: 11) Dass ganz ähnliche, hiermit übereinstimmende Aussagen in der paratextuellen, per se der Autorin zuzuschreibenden “Nachbemerkung” stehen, verifiziert die naheliegende Annahme des Lesers, die Ich-Erzählerin sei Sigrid Damm. Obgleich für die implizite ‘Rahmung’ der Biographie - die Selbst-Explikation der Ich-Erzählerin - also eine homodiegetische (und in der Identität von Ich-Erzählerin und Autorin auch autodiegetische) Erzählsituation vorliegt, so lässt sich bezüglich der dann entworfenen Biographie Christianes festhalten, dass hier eine heterodiegetische Erzählsituation herrscht: Denn wenn Sigrid Damm und Christiane Vulpius auch rein formal in ‘derselben’ Welt leben - und zwar keiner fiktiv entworfenen, sondern unserer realen Welt -, so ist der zeitliche Abstand doch so groß, dass es letztlich zwei Welten sind. Damm hat zur Welt Christianes keinen direkten Zugang. Der unwiderbringliche zeitliche Abstand verhindert, dass die Biographin ihren (toten) Gegenstand direkt beobachten könnte, dies ist nur indirekt über Text- und Bilddokumente möglich, deren Authentizität gleichwohl durch die homodiegetische Ich-Erzählerin verbürgt wird. Verifikation und Distanz - so lassen sich die grundlegenden Parameter dieser biographischen Erzählsituation zunächst bestimmen. In welcher Weise geht nun die Erzählerin mit ihrem Gegenstand um, welche Funktion lässt sich dem Erzählstil zuordnen? Im Gegensatz zu Nachwelt. liegt in Christiane und Goethe keineswegs durchgehend ein parataktischer Stil vor. Kennzeichnendes Merkmal ist vielmehr, dass Passagen mit hypotaktisch konstruierten, komplexen Sätzen stellenweise durch einfache Sätze, auch durch elliptisch verkürzte Sätze unterbrochen werden, bevor am Ende in parataktisch gereihte Ellipsen übergegangen wird: 1995 geht die Nachricht durch die Zeitungen, daß die Stiftung Weimarer Klassik den Vulpius- Nachlaß ankauft. Der letzte Nachfahre der Vulpius-Familie, Melchior Vulpius, Schauspieler und Musikpädagoge, hat im Jahr 1990 seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Aufschlüsse über Christiane durch diesen Nachlaß? Im Thüringer Staatsarchiv existieren Akten über Christianes Vater, über ihren Bruder. Der Editor der Christiane-Briefe berichtet 1916 von drei Jahrgängen des Gothaischen Schreibkalenders, die seit Goethes Tod im vergilbten Papierumschlag in seinem Arbeitszimmer neben den Sedezbänden seiner Werkausgabe letzter Hand und dem Briefwechsel mit Schiller stehen und Tagebucheintragungen aus Christianes letztem Lebensjahr enthalten. Niemand hat die Spur verfolgt. Existiert das Tagebuch noch? Die Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv über Goethes Haushalt; Ausgabenbücher, Rechnungen, Belege. Sollten sich darin nicht Spuren von Christianes Alltag, den achtundzwanzig gemeinsam gelebten Jahren finden? Christiane vor ihrer Begegnung mit Goethe. Ihrem Lebensweg nachgehen. Ihrer Jugend. Kindheit. Herkunft. Ihren Vorfahren. (Damm 1998: 11) Als auffallend kann hier besonders die punktuelle Einfügung einfacher, kurzer und auch elliptischer Sätze sowie die parataktische Reihung von Ellipsen gelten, insofern gerade diese Elemente einen ‘normalen’, weder übernoch unterkomplex gebauten Satzstil unterbrechen. Obgleich das Zusammenspiel von hypotaktischen und einfachen Sätzen bei der Charakteri- Elliptische Sätze 51 sierung des Erzählstils in Christiane und Goethe nicht unterbewertet werden soll, ist es doch gerade die Funktion der kurzen, elliptischen, den Fluss erweiterter und komplexerer Konstruktionen unterbrechenden Sätze, die nachfolgend auf dem Prüfstand steht. In der gerade zitierten Passage, die sich direkt im Anschluss an die oben ebenfalls zitierte Zielsetzung der Biographie als nüchterne Spurensuche findet, wird die Distanz, die sich zwischen der Biographin und ihrem Gegenstand befindet, unterlaufen. So wird schon die Frage, ob anhand des Vulpius-Nachlasses Aufschlüsse über Christianes Leben möglich sind, in Form einer Ellipse vorgebracht: “Aufschlüsse über Christiane durch diesen Nachlaß? ” Zwar verdeutlicht der Kontext der Passage, dass die Ich-Erzählerin es ist, die diese Aufschlüsse sucht - die Auslassung des Subjekts überführt die Frage jedoch in eine allgemeingültige Form, so dass sich der Leser in die Fragestellung eingeschlossen fühlen kann. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Gebrauch des Personalpronomens ‘ich’ im Verlauf der Biographie stark zurücktritt. So wird zu Beginn des ersten Kapitels zwar deutlich, dass es die Ich-Erzählerin ist, die die überlieferten Dokumente in den Blick nimmt. Werden solche Dokumente allerdings später eingeführt, so erfolgt dies weitgehend neutral, ohne noch einen Verweis auf die Lektüresituation der Ich-Erzählerin Damm zu enthalten: “Ein Büchlein im Format 18,2 x 11,2 cm. Ein Pappeinband, mit braunem marmoriertem Papier bezogen, die Goldprägung darauf.” (Damm 1998: 58) - so wird ein Band mit Federzeichnungen des jungen Christian August Vulpius, Christianes Bruder, eingeführt. “Im Staatsarchiv sind die Cassa-Bücher, die Herzoglichen Schatullenrechnungen und die dazugehörigen Belegbücher aufbewahrt. Alles ist säuberlich aufgelistet.” (Damm 1998: 68) - so der Beginn der Einsicht in die Staatsausgaben des Weimarer Fürstenhofes, aus denen ein Bild des Lebens am Weimarer Musenhof gezeichnet wird. Der Effekt eines solches Zurücktretens der Ich-Erzählerin als Subjekt, das die Dokumente sichtet und auswertet, liegt in einer scheinbaren Objektivität, die das “authentisch Überlieferte” (Damm 1998: 11) ohne Zwischenschaltung einer vermittelnden Instanz augenscheinlich unmittelbar zur Darstellung bringt. Unmittelbarkeit lässt sich auch als Effekt der Einstreuung elliptischer Sätze in den Fluss des ‘normalen’ Erzählens benennen: “Die Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv über Goethes Haushalt; Ausgabenbücher, Rechnungen, Belege. Sollten sich darin nicht Spuren von Christianes Alltag, den achtundzwanzig gemeinsam gelebten Jahren finden? ” (Damm 1998: 11). Die Auflistung der Dokumente steht als Reihung (realer) Gegenstände zunächst für sich und fungiert als blitzartiges Aufscheinen der Realität. Diese Unmittelbarkeit bewirkt die Neugier des Lesers auf diese Dokumente; und die Ellipse lässt den nötigen (Frei-)Raum, eigene Vorstellungen an diese Zeugnisse anzuknüpfen, bevor die Schlussfolgerung der Erzählinstanz - wiederum unter Verzicht auf die Ich-Form - die Fragestellung, die sich an die Dokumente richtet, präzisiert. Unmittelbarkeit wird zuletzt durch die parataktische Reihung von elliptischen Sätzen erzeugt, die den Schlusspunkt einer solchen Passage bildet und eine Steigerung des Verfahrens darstellt: “Christiane vor ihrer Begegnung mit Goethe. Ihrem Lebensweg nachgehen. Ihrer Jugend. Kindheit. Herkunft. Ihren Vorfahren.” (Damm 1998: 11) Auch hier wird das Subjekt, das diese Rekonstruktion des Lebensweges unternimmt, ausgelassen: “Ihrem Lebensweg nachgehen” wird so nicht mehr nur als Projekt der Ich-Erzählerin kenntlich, sondern erhält einen allgemeingültigeren Anspruch - es ist das, was das Buch im Folgenden leistet. ‘Lebensweg’, ‘Jugend’, ‘Kindheit’, ‘Herkunft’, ‘Vorfahren’ sind nun die Lexeme, die die Eckpunkte des Folgenden abstecken und blitzartig Vorstellungen aufrufen, ohne jedoch schon mit Inhalten gefüllt zu sein. Auch dieses Verfahren weckt Neugier und umreißt Daniela Langer 52 zugleich eine Vorstellung dessen, was vom Folgenden zu erwarten ist: ein Gesamtbild Christianes zu bekommen, das von ihren Vorfahren und ihrer Herkunft aus über verschiedene Stationen ihren Lebensweg nachzeichnet. In der Spezifizierung, die im Laufe der Biographie dann folgt, nehmen Ellipsen nun oftmals die Funktion ein, Gegenstände oder Situationen unmittelbar zu benennen und die Welt, in der Christiane lebt, anschaulich zu machen: Zu vermuten ist, daß Christiane Vulpius gern in der Blumenwerkstatt gearbeitet hat. Das Zusammensein mit Gleichaltrigen. Mädchen aus den unterschiedlichsten Häusern. Der Austausch untereinander. Die Freude an dem mit eigenen Händen Geschaffenen. Zu Hause dagegen der entlassene Vater. Die kranke Stiefmutter. (Damm 1998: 80) Um die Funktion dieses Erzählstils noch näher zu bestimmen, ist eine Einbettung in den größeren Kontext des Erzählverfahrens von Sigrid Damm notwendig. Zunächst stellt die Ich- Erzählerin dezidiert heraus, dass es für Christianes Tätigkeit in einer Putzmacherinnenfabrik keinerlei Beweise gibt: Christiane Vulpius in der Bertuchschen Putzmacherinnen-Werkstatt. In allen biographischen Arbeiten wird dies als Fakt dargestellt. Ich versuche einen Nachweis darüber zu finden. […] Weder Listen noch Papiere zur Zinsanlegung, keinerlei Dokumente über die Arbeit der Mädchen existieren. Also gibt es auch keinen Beleg für Christiane Vulpius’ Arbeit dort. (Damm 1998: 75) Die Schlussfolgerung lautet: “Mit aller Wahrscheinlichkeit jedoch hat Christiane über mehrere Jahre in der Blumenwerkstatt gearbeitet” (ebd.). Wenn die Wahrscheinlichkeit auch groß ist, so wird hiermit dennoch herausgestellt, dass alles Folgende auf einer Annahme basiert. Deutlich wird dies auch in der Formulierung des obigen Zitats “Zu vermuten ist, daß Christiane Vulpius gern in der Blumenwerkstatt gearbeitet hat.” - wobei sich allerdings die Vermutung hier streng genommen nur auf das ‘gern’ bezieht: Trotz des relativierenden Gestus wird die Tätigkeit selbst schon als gegeben vorausgesetzt. Die nachfolgenden elliptischen Nominalphrasen-Sätze stellen teilweise Fakten dar, teilweise jedoch wiederum Vermutungen. Die Fakten sind die Tatsachen, dass der Vater entlassen und die Stiefmutter krank ist. Auch “Das Zusammensein mit Gleichaltrigen” ist einerseits Fakt: In der Fabrik haben Mädchen eines bestimmten Alters gearbeitet. Der Kontext jedoch schließt Christiane Vulpius in die Gruppe dieser Mädchen ein: Dies wird aller Wahrscheinlichkeit nach so gewesen sein und nun mittels dieser blitzartigen Nominalphrase als Vorstellung evoziert. “Der Austausch untereinander” sowie vor allem “Die Freude an dem mit eigenen Händen Geschaffenen” veranschaulichen, wiederum im Kontext auf Christiane bezogen, deren Situation in dieser Fabrik. Diese Nominalphrasen beschreiben allerdings nicht äußere Realitätsdetails, sondern eine Handlung (“Austausch”) und ein Gefühl (“Freude”). Die satzbildenden Nominalphrasen dienen bei Damm also zum einen dem bildhaften Entwurf der äußeren Lebenswelt Christiane Vulpius’, zum anderen jedoch auch der bildhaften Evokation ihrer Erfahrungen und Gefühle. Der Übergang von der imaginativen Veranschaulichung äußerer Realität zur Veranschaulichung von Christianes innerer Verfasstheit ist dabei oftmals fließend - wie auch der Übergang zwischen einer einführenden Relativierung der Authentizität des Folgenden zu einer Schilderung, die diese Relativierung zunehmend übergeht, fließend geschieht: Mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, daß Christiane zu den ersten zehn Mädchen gehörte, die für vier Tage in der Woche in der Werkstatt im neuen Haus am Baumgarten arbeiten. Elliptische Sätze 53 Bertuchs neues Haus, groß und hell, liegt inmitten eines schönen Gartens. Die Stube. Der Tisch, an dem die zehn Mädchen sitzen. Ein langer Arbeitstisch, überliefert Wieland. Auguste Slevoigt leitet die Mädchen an. Caroline Bertuch sieht ab und zu herein. Fleiß ist gefordert. Geschick. Sorgsamster Umgang mit dem Material. Wie der Bruder mit Feder, Pinsel und Farben umging, so kann Christiane jetzt mit Stoffen, Draht, Schere und Nadel umgehen. Seide, Plüsch, Leinwand, Samt, Taft. Die Struktur der Materialien. Glätte und Geschmeidigkeit. Leuchtende Farben. Auf dem Arbeitstisch Blumen und Zeichnungen von Blüten, Blattstielen, Knospen und Blumenblättern als Vorlagen. Die Mädchen aus begüterten Häusern, die ihre Stickrahmen verlassen haben, sind vorerst geschickter als die aus ärmeren Häusern, die, wie Christiane, von ihren Spinnrädern kommen. Ihr Ehrgeiz wird vermutlich wach. Blicke auf die Nachbarinnen. Wieder und wieder Versuche. Ausdauer. Wachsendes Geschick. Ungewohntes Glück, wenn eine der beiden Frauen eine gelungene Arbeit lobt. (Damm 1998: 76f.) Nun beschränken sich die kurzen, parataktisch gereihten, elliptischen Sätze bei Streeruwitz ebenfalls nicht nur auf die Wiedergabe äußerer Realitätseindrücke, sondern sie bilden ebenso eine Extremform der erlebten Rede, dienen also auch der Wiedergabe der Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonistin. Der Unterschied in der Funktion resultiert allerdings aus dem jeweiligen Zusammenspiel des Stils mit der Erzählperspektive und der Gattungszugehörigkeit des Textes: Handelt es sich bei Streeruwitz um eine heterodiegetische Erzählsituation mit interner Fokalisierung auf die fiktive Protagonistin, liegt die Perspektivierung des Erzählten damit von vornherein bei Margarete und stellt sich ferner dadurch, dass es sich um einen fiktionalen Roman handelt, auch die Frage nach der Legitimation dieser Perspektive nicht, so liegt die Sache bei Damm anders. Der Blick der Biographin auf die reale - und zeitlich weit entfernte - Person Christiane Vulpius ist von vornherein ein Blick von außen: Wird die Innenperspektive Christianes eingenommen, ist dies der Schritt über einen objektiven, im Rahmen einer faktualen Erzählung überhaupt realistisch möglichen Zugriff auf den Gegenstand der Biographie hinaus - ein Schritt, der in Form der verkürzten Nominalphrasen-Sätze unternommen wird. Ihnen kommt die Funktion zu, das faktual Nachweisbare auszumalen, Vorstellungen des Lebens von Christiane Vulpius hervorzurufen, die durch die bloße Wiedergabe authentischer Dokumente kaum aufzurufen wären. Die Verfahrensweise changiert dabei zwischen der schlichten Evokation von Christianes Gefühlswelt und deren Relativierung als Vermutung: “Ihr Ehrgeiz wird vermutlich wach. […] Ungewohntes Glück, wenn eine der beiden Frauen eine gelungene Arbeit lobt” (Damm 1998: 77, Hervorhebung D.L.). Zugleich vermeidet Damm es durch die elliptische Kürze, eine wirklich ausgeführte erlebte Rede zu inszenieren. Transportiert die Ellipse nun das Bewusstsein um die Grenzüberschreitung, die hier vorgenommen wird? Immerhin wird punktuell, aber wiederholt durch relativierende Partikel darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei dem anschaulich Dargestellten letztlich um Vermutungen handelt. Gerade die Ellipsen blenden eine solche Relativierung allerdings aus. Sie stellen ferner die zwar immer wiederkehrende, jedoch eben nur punktuell realisierte Zuspitzung eines Erzählprozesses dar, der im Ganzen von den authentischen Dokumenten zu deren Auswertung und Interpretation, von Wahrscheinlichkeiten und Vermutungen zum imaginativen Entwurf eines ‘So war es’ übergeht. Deutlich wurde dies schon am angeführten Beispiel, der wahrscheinlichen Arbeit Christianes in der Putzmacherinnenfabrik, deren Schilderung über die Wahrscheinlichkeit hinaus allerdings - gerade durch die Ellipsen - den Anschein des So-Seins, des Fakts erhält. Deutlich wird dies auch, wenn man den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten über einen größeren Textverlauf in den Blick nimmt, etwa im Falle von Christianes Anwesenheit bei der Enthauptung der Daniela Langer 54 Kindsmörderin Anna Catharina Höhn in Weimar. Zunächst heißt es: “Mitte April wird nur ein einziges Thema die Gespräche am langen Arbeitstisch beherrschen” (Damm 1998: 81). Es folgt die wahrscheinliche Annahme: “Gewiß wird Christiane Vulpius die Enthauptung der Kindsmörderin miterlebt haben” (ebd.). In der späteren Schilderung der öffentlichen Enthauptung steht dann aber in elliptischer Verkürzung: “Die achtzehnjährige Christiane Vulpius in der Zuschauermenge am Markt, am Rabenstein.” (Damm 1998: 92). Gerade die Ellipse macht diese Aussage zu einer Feststellung, führt zur Vorstellung von Christiane in dieser Situation - und übergeht dabei, dass dies keineswegs überliefert ist. Ähnlich verfährt der Text hinsichtlich des Ursprungs von Christianes Begeisterung für die Komödie. Zunächst wird mehrmals die Frage gestellt, ob Christianes Bruder sie in ihrer Jugend “vielleicht” oder auch “[v]ermutlich” mit in die Komödie genommen habe (Damm 1998: 99, 105, vgl. auch 62). Gegen Ende der Biographie heißt es dann allerdings schlicht: “Ihr Tagebuch bestätigt, daß ihr vom Bruder frühzeitig gewecktes Interesse für das Theater bis in ihr letztes Lebenshalbjahr anhält” (Damm 1998: 483). So werden nicht nur in einzelnen Episoden, sondern auch im Gesamtverlauf des Textes - und damit im Gesamtbild von Christiane Vulpius’ Leben - dezidierte Vermutungen nachfolgend unterlaufen und wird der Anschein eines ‘So war es’ erweckt. Ein ähnliches Verfahren betrifft die direkte Auswertung historischer Dokumente. Zwar werden die Schlussfolgerungen, die sich an bestimmte Textzeugnisse anschließen, deutlich als solche gekennzeichnet, ‘vermutlich’, ‘vielleicht’, ‘womöglich’ und ‘wahrscheinlich’ sind wiederkehrende Relativierungen der Biographie, und auch die Frageform hält das tatsächlich Geschehene in der Schwebe: Wird Goethe zuweilen zum ärmlichen Haushalt der drei Frauen [Christianes, ihrer Stiefschwester und ihrer Tante, D.L.] etwas beisteuern? Oder es wegen der Heimlichkeit vermeiden? Vermutlich letzteres. Erst 1789 finde ich bei den Belegzetteln in den Ausgabenbüchern mehrfach Rechnungen des Conditors Wilhelm Schwarz an den Herrn Geheimen Rath über Biscuit, süße Maronen, gebrannte Mandeln, Boutelgen Mallea und Confect (GSA 34 VIII, 3,6 und 3,9). Näschereien für Christiane? Die Heimlichkeit, die beide in eine Situation der Verstellung drängt. (Damm 1998: 117) Dennoch werden, auch über die Leerzeile des Abschnittswechsels hinaus, die an das Dokument geknüpfte Vermutung und die nachfolgende, elliptisch aufgerufene Vorstellung der Situation eines heimlichen Liebesverhältnisses in einen Zusammenhang gestellt. Die Heimlichkeit des Liebesverhältnisses wird so präzisiert, sie wird mit - möglichen - Bildern darüber gefüllt, in welchen Formen sich diese Heimlichkeit vollzog. Als erzählerisch (vgl. Damm 1998: 517) kann die Vorgehensweise Damms also in dreierlei Hinsicht spezifiziert werden: Zum einen schafft sie Zusammenhänge zwischen den angeführten Dokumenten als authentisch überliefertem Material der Biographie und dem letztlich nicht über solche Dokumente verifizierbaren, ‘tatsächlichen’ Leben Christianes - wobei einerseits oft genug selbstreflexiv darauf aufmerksam gemacht wird, dass diese Schlüsse auf das ‘wirkliche’ Leben Vermutungen bleiben müssen, andererseits allerdings solche Relativierungen in einzelnen Passagen oder im ganzen Textverlauf unterwandert werden. Zweitens ist die Vorgehensweise ‘erzählerisch’, insofern der Erzählstil die vergangene, nur über Textzeugnisse vermittelte Welt Christiane Vulpius’ mit aufblitzenden Realitätsdetails zu einer unmittelbar wirkenden Anschauung bringt, was die Distanz zum Gegenstand der Biographie verringert. Drittens und letztens wird dabei auch - wie eigentlich nur in fiktionalen Erzählungen möglich - ein Einblick in die Erfahrungs- und Gefühlswelt von Elliptische Sätze 55 Christiane gegeben. Dies geschieht teilweise direkt, wenn in den Ellipsen etwa von “Freude” oder “Glück” die Rede ist. Doch auch indirekt kann ein solcher Einblick erfolgen, wenn die Christiane Vulpius umgebende Welt und ihre äußere Situation geschildert werden, sich aber auf Christianes innere Verfasstheit beziehen lassen: Christianes Heimweg. Rollplatz, Kirchhofgasse, Totengasse. Das Licht der Rüböllaternen, das den Schnee mattweiß schimmern läßt. Zu Hause sind Vater, Tante und Schwester vielleicht schon zu Bett. Das spart Feuerholz und Licht. (Damm 1998: 97) Das relativierende ‘vielleicht’ kennzeichnet hier eine Vermutung: Doch ist es die der Autorin oder die von Christiane - in innerer Gedankenrede, die zwar nicht als solche markiert ist, durch das Präsens (“sind”) jedoch zumindest als Möglichkeit aufgerufen wird? Die schmucklose Schilderung des Winterheimgangs dient auch der Charakterisierung von Christianes innerer Situation als Mitglied einer sozial niedrig stehenden, ja armen Familie, sie dient als Hinweis auf ihre (implizit erschließbare) innere Verfassung. In der Wahl des auffälligen, mit Ellipsen arbeitenden Erzählstils verfährt Damm in ihrer Biographie also tatsächlich “erzählerisch” (Damm 1998: 517). Die im gleichen Zuge abgelehnte “poetische[] Erfindung” (Damm 1998: 11) und “erzählerische Phantasie” (ebd.: 517) finden allerdings durchaus ihren Platz, sind es doch gerade die Ellipsen, die über das verbürgte, authentische Material hinaus der Schilderung Anschaulichkeit verleihen und das Gerüst toter Dokumente mit Leben füllen - und dies betrifft nicht nur die äußere Realität, sondern auch die innere Gefühlswelt der ‘Protagonistin’: “Christianes Angst.” (Damm 1998: 130). Die Ellipsen tragen so zur Herstellung einer inneren Wahrscheinlichkeit der in Dokumenten nur äußerlich belegten Biographie bei. “Von ihr aus zu erzählen” (Damm 1998: 11) als Absicht der Darstellung scheint nur möglich zu sein, wenn eine Annäherung an Christianes Leben so weit gelungen ist, dass ihr Standpunkt und ihre Perspektive punktuell eingenommen werden können. Da der Blick einer Biographie aber grundsätzlich ein externer ist, rückt der die Distanz zum Gegenstand überspringende, unmittelbar wirkende elliptische Stil das Verfahren stellenweise auch in die Nähe eines sensationellen Erzählens: “Ihre schwere Krankheit in den letzten Lebensjahren. Ihr einsames Sterben, ihr früher Tod.” (Damm 1998: 11), “Die in Weimar Zurückgebliebene. Das große Haus am Frauenplan.” (ebd.: 171), “Christianes Septemberbriefe. Ihr schlechter Zustand. Goethes Angst.” (ebd.: 473f.) sind Beispiele für einen Schlagzeilen-Stil, der in der blitzlichtartigen Beleuchtung existentieller Situationen und Umstände den Raum für Projektionen offen hält und zugleich die spätere Ausfüllung dieser ‘Ankündigungen’ verheißt, also Spannung erzeugt. Wenn Damm in ihrer Nachbemerkung anmerkt, ihr Thema “Alltag und Alltagsbewältigung” sei ein “Gegenstand, der weder sensationell ist noch als besonders literaturwürdig gilt” (Damm 1998: 517), so hilft der Erzählstil des Buches über diese Schwierigkeit hinweg. 5. Zur Polyvalenz des Erzählstils - Nachwelt. und Christiane und Goethe Verweigert sich Streeruwitz dem Erzählen einer geschlossenen Geschichte und verweigert sich ihre Protagonistin dem Erzählen einer wahren Geschichte, so erzählt Damm letztlich eben doch die ‘wahre’ Geschichte von “Christiane”. Dabei nimmt der ähnliche, mit parataktischen Reihungen, einfachen Sätzen und Ellipsen arbeitende Erzählstil in beiden Texten eine unterschiedliche Funktion ein. Daniela Langer 56 Bei Streeruwitz öffnet die (auf der extradiegetischen Ebene) durchgängig zu findende parataktische Struktur mit extrem kurzen und elliptischen Sätzen Pausen und Zwischenräume, die Punkte markieren das Abbrechen von Aussagen, Zusammenhänge werden durch den elliptischen Satzgebrauch auch von Konjunktionen oder Adverbien verhindert. Im Zusammenspiel mit der Erzählsituation, dem Modus, der Zeitstruktur und den verschiedenen Erzählebenen (den eingebetteten Interviews) verweigert dieser Erzählstil einen geschlossenen Diskurs als Entwurf der einen - und ‘wahren’ - Geschichte, die so als uneinholbar markiert wird. Objektivität (im Sinne von ‘Richtigkeit’) in der Darstellung eines gelebten Lebens wird in Nachwelt. letztlich als eine Leerstelle fassbar, die durch die Ellipsen thematisiert, aber nicht gefüllt wird. Demgegenüber ließe sich Objektivität als ‘Richtigkeit’ im Falle von Christiane und Goethe zunächst als programmatischer Zielpunkt einer am authentischen Material orientierten Biographie benennen, die jegliche Erfindung vermeiden will. Unterlaufen wird dies jedoch schon durch die Kontrastierung von Wissenschaftlichkeit und Erzählen, wodurch dem Erzählen gegenüber der (objektiven) Vorgehensweise einer wissenschaftlichen Monographie ein Mehrwert zugesprochen wird. Dieser Mehrwert des Erzählens liegt einerseits in einer Auffüllung des kargen Gerüsts der Dokumente, insofern die objektiven Daten erzählerisch mit Details ausgeschmückt werden - und gerade die Ellipsen, die zwar nicht die durchgängige Sprachform von Christiane und Goethe bilden, jedoch als auffällige Besonderheit den Erzählstil prägen, dienen dabei der blitzartigen Veranschaulichung von ‘Realität’. Der Mehrwert liegt andererseits in einer Überschreitung des authentischen Materials, insofern die Ellipsen auch zur Veranschaulichung der subjektiven Gefühlswelt von Christiane Vulpius beitragen. Sie helfen ferner dabei, die Distanz zwischen der Biographin und ihrem Gegenstand punktuell zu verringern, sie suggerieren Unmittelbarkeit und blenden so die Vermitteltheit der biographischen Rekonstruktion zugunsten von Spannungserzeugung und Vereinnahmung des Lesers aus. Auch bei Streeruwitz trägt der elliptische Stil zur Erzeugung des Anscheins von Unmittelbarkeit bei. Als “Pointillismus” (Kedveš 2004: 24) ist dieses Verfahren allerdings so radikalisiert, dass die Zusammenhänge zwischen den Details sich auflösen, die einzelnen Elemente bezugslos werden, eine Verbindung zwischen der Protagonistin und der sie umgebenden Welt oft gerade nicht hergestellt werden kann. In dieser Radikalität dienen die Ellipsen also einem Verfremdungsverfahren, das die Distanz zum Erzählten wieder vergrößert. Überspitzt formuliert ließe sich behaupten: Der elliptische Erzählstil trägt im Falle von Nachwelt. zur Zersplitterung von Leben in Fragmente bei, in Christiane und Goethe hingegen hilft er, die Fragmente zu einem Leben zusammenzusetzen. Obgleich also ‘Unmittelbarkeit’ als ein relativ kontextunabhängiges Kennzeichen des elliptischen, parataktischen Erzählstils gelten kann, so lässt sich die Funktion dieses Erzählstils in Sicht auf den Gesamttext erst im Zusammenhang mit anderen Elementen bestimmen: Sie ist bedingt durch die Genrezugehörigkeit, weitere discours-Elemente und nicht zuletzt durch das Erzählte selbst. Als discours-Elemente, die in einem besonders engen Zusammenhang mit dem Erzählstil stehen und dessen Funktion beeinflussen, lassen sich vor allem ‘Fokalisierung’ und ‘Stimme’ nennen: Die verschiedenen Funktionen des Erzählstils beider analysierter Texte generieren sich wesentlich im Zusammenhang mit der je unterschiedlichen Erzählsituation, aus der heraus in einem bestimmten Stil erzählt wird. Auf narratologischer Ebene ließe sich diskutieren, inwiefern der Erzählstil der Kategorie ‘Stimme’ zugeordnet werden könnte. Klassischerweise werden unter ‘Stimme’ drei verschiedene Fragen unterschieden, die alle die Erzählinstanz eines Textes betreffen: die Fragen, Elliptische Sätze 57 wann ein Erzähler (im Verhältnis zur von ihm erzählten Geschichte) erzählt, von wo aus ein Erzähler erzählt (als Unterscheidung verschiedener Erzählebenen) und wer eigentlich erzählt (eine Figur, die der erzählten Welt angehört oder nicht; vgl. Genette 1998: 153). Laut Richard Aczel wird hierbei eine entscheidende Frage ausgelassen: “The question of how a narrator speaks does not appear, for this typology, to belong to the issue of voice” (Aczel 1998: 468). Die Relevanz dieser Frage gerade in Sicht auf die Kategorie ‘Stimme’ liegt allerdings auf der Hand, da zum einen die Identifikation verschiedener Sprechinstanzen im Text durchaus davon abhängen kann, zunächst verschiedene Sprechweisen zu unterscheiden - und umgekehrt verschiedene Sprechinstanzen (so in Nachwelt. die heterodiegetische ‘Haupt’-Erzählinstanz und die Interviewten) durch ihre ähnliche Sprechweise letztlich einer übergeordneten Vermittlungsinstanz zugeordnet werden können. 13 Zum anderen wird ein Konzept von ‘Stimme’ ohne Berücksichtigung qualitativer Faktoren dem Begriff ‘Stimme’ kaum gerecht (vgl. Aczel 1998: 468). Nun bietet sich der Erzählstil als Zusammenfassung solch qualitativer Faktoren von ‘Stimme’ geradezu an, da er ja die Art und Weise des Erzählens, das “Wie” eines Textes, bezeichnet. 14 Die systematische und heuristische Tragfähigkeit einer solchen Subsumierung des Erzählstils unter die Kategorie ‘Stimme’ müsste allerdings noch genauer untersucht werden. In Frage steht einerseits das Verhältnis des Erzählstils auch zur Kategorie ‘Modus’, unter der die Distanz und die Fokalisierung eines Erzähltextes gefasst werden. So betrifft der Anschein von Unmittelbarkeit, der durch die Ellipsen in beiden hier analysierten Texten erzeugt wird, die Frage nach der Distanz; und letztlich ist es das Zusammenspiel von ‘Fokalisierung’ und ‘Stimme’ in der Erzählsituation, das sich in den Analysen als relevantes Kriterium für die Bestimmung der Funktion des Erzählstils erwiesen hat. Zum anderen bekommt die Kategorie der ‘Stimme’, wenn sie um den Erzählstil erweitert würde, eine metaphorische Qualität, die dem Begriff zwar per se inhärent ist, im analytisch-funktionalen System nach Genette allerdings nicht primär vorgesehen ist (vgl. Blödorn/ Langer 2006). Jenseits solcher, zunächst nur Entwurf bleibender Überlegungen zu einer Eingliederung des Erzählstils in den von Genette errichteten Bau eines narratologischen Kategoriensystems sollte jedoch deutlich geworden sein, dass der Erzählstil eines Textes eine funktionale Komponente auf der Ebene des discours einer Erzählung bildet - eine Komponente, deren Funktion gerade im Wechselspiel mit den anderen Aspekten des discours, mit der histoire, dem Thema des Textes und seiner Gattungsbzw. Genrezugehörigkeit modelliert wird. 6. Literaturangaben Primärliteratur Damm, Sigrid 1998: Christiane und Goethe. Eine Recherche, Frankfurt am Main/ Leipzig: Insel. Streeruwitz, Marlene 2003: Nachwelt. Ein Reisebericht. Roman, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag (zuerst Fischer 1999). Sekundärliteratur Aczel, Richard 1998: “Hearing Voices in Narrative Texts”, in: New Literary History 29.3 (1998): 467-500. Anderegg, Johannes 1995: “Stil und Stilbegriff in der neueren Literaturwissenschaft”, in: Stickel (ed.) 1995 a: 115-127. Arnold, Heinz-Ludwig (ed.) 2004: Marlene Streeruwitz. Text + Kritik 164, Oktober 2004. Czapla, Ralf Georg 2003: “Stilistik”, in: Müller (ed.) 2003: 515-518. Blödorn, Andreas / Langer, Daniela (2006): “Implikationen eines metaphorischen Stimmenbegriffs: Derrida - Bachtin - Genette”, in: Blödorn/ Langer/ Scheffel (ed.) 2006: 53-82. Daniela Langer 58 Blödorn, Andreas / Langer, Daniela / Scheffel, Michael (ed.) 2006: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen (= Narratologia, Band X). Berlin, New York: de Gruyter 2006. Erzgräber, Willi / Gauger, Hans-Martin (ed.) 1992: Stilfragen, Tübingen: Gunter Narr (= ScriptOralia, Band 38). Gauger, Hans-Martin 1992: “Zur Frage des Stils”, in: Erzgräber/ Gauger (ed.) 1992: 9-27. Gauger, Hans-Martin 1995: “Was ist eigentlich Stil? ”, in: Stickel (ed.) 1995 a: 7-26. Genette, Gérard 1998: [1972/ 1983] Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort herausgegeben von Jochen Vogt, 2. Aufl., München. Greimas, Algirdas Julien / Courtés, Joseph 1979: Sémiotique: Dictionnaire raisonné de la théorie du langage. 2. vols. Paris: Hachette. Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, Karl Ludwig (ed.) 1986: Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gumbrecht, Hans Ulrich 2003: “Stil”, in: Müller (ed.) 2003: 509-513. Hempel, Nele 2004: “Die Vergangenheit als Gegenwart als Zukunft. Über Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung in Texten von Marlene Streeruwitz”, in: Arnold (ed.) 2004: 48-58. Jahraus, Oliver 2004: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen, Basel: A. Francke. Kedveš, Alexandra 2004: “‘Geheimnisvoll. Vorwurfsvoll. Aber zusammenhängend.’ Marlene Streeruwitz’ Romane, Frauengeschichten, Männersprache”, in: Arnold (ed.) 2004: 19-36. Lorenz, Dagmar / Kraft, Helga 2002: “Schriftsteller in der zweiten Republik Österreichs: Ein Interview mit Marlene Streeruwitz, 13. Dezember 2000”, in: The German Quarterly 75, Heft 3 (2002): 227-234. Martinez, Matias / Scheffel, Michael (ed.) 1999: Einführung in die Erzähltheorie, München. Müller, Hans-Dirk (ed.) 2003: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3: P-Z. Berlin, New York: de Gruyter. Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar: Metzler. Püschel, Ulrich 1995: “Stilpragmatik - vom praktischen Umgang mit Stil”, in: Stickel (ed.) 1995 a: 303-328. Riesel, Elise / Schendels, E. 1975: Deutsche Stilistik, Moskau. Riffaterre, Michael 1973: Strukturale Stilistik. Aus dem Französischen von Wilhelm Bolle. München: List (= List Taschenbücher der Wissenschaft. Linguistik, Band 1422). Sandig, Barbara 1995: “Tendenzen der linguistischen Stilforschung”, in: Stickel (ed.) 1995 a: 27-61. Sowinski, Bernhard 1999: Stilistik: Stiltheorien und Stilanalysen. 2., überarb. u. akt. Auflage, Stuttgart: Metzler (= Sammlung Metzler, Band 263). Spillner, Bernd 1974: Linguistik und Literaturwissenschaft. Stilforschung, Rhetorik, Textlinguistik, Stuttgart, Berlin u.a.: Kohlhammer. Spillner, Bernd 1995: “Stilsemiotik”, in: Stickel (ed.) 1995 a: 62-93. Stickel, Gerhard (ed.) 1995 a: Stilfragen, Berlin, New York: de Gruyter. Stickel, Gerhard 1995 b: “Vorwort”, in: Stickel (ed.) 1995 a: 1-2. Streeruwitz, Marlene 1997: Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Tübinger Poetikvorlesung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= edition suhrkamp 2013). Streeruwitz, Marlene 1998: Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= edition suhrkamp 2086). Streeruwitz, Marlene 1999: “Das Leben findet im Supermarkt statt” [Interview, geführt von Klaus Nüchtern], in: Freitag 42, 15. Oktober 1999, unter http: / / www.freitag.de/ 1999/ 42/ 99421701.htm, abgerufen am 27.01.2006. Todorov, Tzvetan 1966: “Les catégories du récit littéraire”, in: Communications 8 (1966): 125-151. Anmerkungen 1 So der Titel zweier Tagungsbände: Erzgräber/ Gauger (1992) und Stickel (1995 a). 2 Vgl. Stickel (1995 b: 1), der bezüglich der 30. Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache zum Thema Stil feststellte, dass “zum Tagungsende keine endgültige Stildefinition oder ein umfassender neuer Stilbegriff beschlossen und mitgenommen werden konnte”. Vgl. zur Unabgeschlossenheit der Definitionsversuche weiterhin Anderegg (1995) und Sandig (1995). Das Handbuch der Semiotik beginnt das Kapitel zur Stilistik mit einer Stellungnahme von Greimas und Courtés (1979: 318) zur Unmöglichkeit jeder Definition, benennt dann allerdings durchaus einen “gemeinsamen Nenner” semiotischer Stiluntersuchungen (Nöth 2000: 397ff.). Elliptische Sätze 59 3 Vgl. zum sprachlichen/ literarischen Stilbegriff Riesel/ Schendels (1975: 15), Sandig (1995: 28) und Anderegg (1995: 122). - Dass Stil in Erweiterung der ursprünglichen, an das Schreiben gebundenen Bedeutung (von lat. stilus = Schreibgriffel) auch nichtsprachlichen Handlungen oder Lebensformen zugesprochen wird, macht die Sache nicht gerade leichter. Vgl. den Stilbegriff bei Gumbrecht/ Pfeiffer (1986) oder den Beginn der Begriffsexplikation im Eintrag ‘Stil’ des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft: “Stil nennt man rekurrente Formen der Manifestation menschlichen Verhaltens im allgemeinen.” (Gumbrecht 2003: 509). 4 So Sowinski (1999: 34ff.) und Czapla (2003: 517). 5 Die umfassendste Kritik an der Deviationsstilistik stammt von Spillner (vgl. 1974: 31-40), der auf die Gefahr des Zirkelschlusses in der Bestimmung von Norm und Abweichung hinweist. Da “beim Aufstellen der Norm des Sprachsystems stilistisch abweichende sprachliche Erscheinungen wegen mangelnder Systemrichtigkeit nicht mit berücksichtigt” werden, erscheinen diese dann zwangsläufig als normwidrig und abweichend (ebd.: 36). 6 Eine umfassende Übersicht über verschiedene Gesichtspunkte, die Stil perspektivieren und so als Kontext angesprochen werden können, bietet Sandig (1995). 7 Unter Absehung der narrativen Ebene, die die Unterscheidung von Rahmen- und Binnenerzählung betrifft, und der Zeit der Narration (die meist als ‘später’ zu charakterisieren ist), sind dies zunächst nur sechs, insofern eine homo- oder heterodiegetische Erzählinstanz (Ebene der ‘Person’) je mit drei verschiedenen Fokussierungsmöglichkeiten (Nullfokussierung, intern oder extern) kombiniert werden kann (vgl. Genette 1998: 273 oder Martinez/ Scheffel 1999: 94). 8 Vgl. die umfassende Liste der unter ‘Mikrostilistik’ zu beachtenden Komponenten bei Sowinski (1999: 89-101), zu denen dann noch verschiedene rhetorische Figuren, Stilmittel des Wortschatzes, Interpunktion und Typografie, lexikalische Stilmittel und Bildlichkeit treten (ebd.: 102-134). 9 Somit ist auch dem Eintrag ‘Stil’ im Reallexikon punktuell zu widersprechen, wenn es heißt: “Die darin [im Stil, D.L.] jeweils zur Erscheinung kommende Form ist kontingent, d. h. man unterstellt gemeinhin, dass die mit dieser Form verbundene Intention oder Funktion auch durch andere Formen verwirklicht werden könnte” (Gumbrecht 2003: 509). Dies scheint man m. E. keineswegs gemeinhin zu unterstellen, gerade im Gegenteil - zumindest in der Stilforschung. 10 Vgl. Streeruwitz im Interview mit Lorenz/ Kraft (2002: 228): “[…] über Shoa muss gesprochen werden, aber es müssen auch formale Mittel verwendet werden, um Erinnerungen besprechbar zu machen, ohne sie sofort wieder in die Wirklichkeit zu reißen. Übrigens vor allem aus Gründen der Achtung für die Opfer. Ich denke, Tabusituationen haben mit Schweigen nichts zu tun, ein Tabu ist ja bekannt, aber es wird nicht benannt. Genau darum geht es in diesem Fall. Es sollen nicht Leerstellen entstehen, sondern es können sogar überfüllte Stellen, dichte Stellen im Informationsnetz entstehen, die mit Achtung umgangen werden, aber trotzdem sichtbar bleiben. Dafür hat die Kunst Mittel entwickelt, unsichtbare Dinge sichtbar zu machen.” 11 Vgl. hierzu Kedveš 2004, die feststellt: “Die heterogene Textur von ‘Nachwelt.’ leistet mehr Verkehrungen von Dominanz- und Unterdrückungsdiskursen als die anderen Texte, verklammert sie inniger” (ebd.: 30). 12 Kursive Hervorhebungen in Zitaten aus Christiane und Goethe stehen im Original, sie kennzeichnen Zitate aus zeitgenössischen Dokumenten. 13 Womit die schwierige Frage nach einer noch über der eigentlichen (hier also extradiegetisch-heterodiegetischen) Erzählinstanz stehenden Organisationsinstanz angesprochen ist, die nicht mit dem Autor gleichgesetzt werden muss und unter dem Begriff ‘impliziter Autor’ diskutiert wird - ein Problem, das an dieser Stelle allerdings nicht verhandelt werden soll. 14 Aczel selbst führt verschiedene Konstituenten des “how” an (Tonfall, Idiomatik, Diktion, Register und Stil), weist dem Stil dabei aber eine besondere Relevanz zu: Vgl. Aczel (1998: 472). M. E. lassen sich Tonfall (ein sehr unscharfer Begriff), Idiomatik, Diktion und Register allerdings alle schon unter dem Begriff ‘Stil’ subsumieren, betreffen sie doch letztlich ebenfalls Fragen der Syntax und Lexik. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Die Dichter haben gelernt, ihre Träume in fiktionalen Texten niederzuschreiben. Wir haben gelernt, diese zu lesen, sie im Allgemeinen „richtig“ zu lesen. Was in der vorliegenden Arbeit theoretisch dargestellt wird, ist im Grunde eine alltägliche, nicht auf die Lektüre literarischer Texte beschränkte Fähigkeit, nämlich „Wahres“ von „Fiktivem“ oder „Fiktionalem“ unterscheiden zu können. In der modernen, durch die Neuen Medien geprägten Gesellschaft mit ihrer behaupteten „Derealisierung des Realen“ (Merten) mag dies schwieriger geworden sein, aber dennoch unterscheiden wir ziemlich sicher zwischen „fiktionalen“ und „nicht-fiktionalen“ Gegebenheiten, auch wenn wir uns nicht immer auf eindeutige Fiktionalitätssignale verlassen können. In dieser Studie wird daher eine text- und kognitionslinguistisch fundierte Theorie vorgestellt, die Fiktionalität als etwas nicht der Textur selbst Anhaftendes, sondern als eine vom Rezipienten einer Äußerung pragmatisch zugeschriebene Eigenschaf t betrachtet. Georg Weidacher Fiktionale Texte - Fiktive Welten Fiktionalität aus textlinguistischer Sicht Europäische Studien zur Textlinguistik, Band 3 2007, 168 Seiten, €[D] 39,90/ SFR 63,00 ISBN 978-3-8233-6254-8 Evidenz und evidentia Die Suche nach einem dokumentarischen Stil in Adam Olearius’ Beschreibung der muscowitischen und persischen Reyse (1656) Wolfgang Struck In einer Mischung aus nüchterner Beobachtung, kritischer Reflexion, religiöser Erbauung und abenteuernder Phantasie steht die von Adam Olearius 1656 publizierte Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen vnd persischen Reyse an der Schwelle moderner Wissensproduktion. Ihre Vielstimmigkeit, zu der sehr wesentlich auch eine Reihe in die Reiseerzählung integrierter Gedichte Paul Flemings zählt, ist dabei einerseits als Teil der rhetorischen elocutia der diskursiven Textproduktion zu- und damit der ‘stoffgenerierenden’ Erfahrung nachgeordnet, kann aber andererseits auch als Suche nach einem Erzählstil gewertet werden, der seine Legitimation und sein Ziel sowohl in der evidentia - als einer rhetorisch erzeugten ‘als ob’-Gegenwärtigkeit - findet, als auch in einer Augenzeugenschaft des Reisenden und der Evidenz seiner Beobachtungen. Der Raum für dieses Wechselspiel wird erzeugt durch ein digressives, anekdotisches Erzählen. In a mixture of sober observation, critical inquiry, religious devotion and adventurous fantasy, Adam Olearius’ 1656 published Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen vnd persischen Reyse verges on the process of modern science. Integrating various forms and modes of representation, not at least a sample of poems by Paul Fleming, it is in search for a narrative style wich is legitimized by and aimed at the rethoric figure of evidentia as well as the evidence created by the eye-witness. The room for this interplay is opened up by digressive anecdotes rather than by straightforward narration. Die 1656 erschienene Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reyse von Adam Olearius ist nicht nur der Bericht über eine der bemerkenswertesten Fernreisen, die im 17. Jahrhundert von Deutschland aus unternommen wurden, sie ist auch eines der repräsentativsten Bücher des deutschen Barock. Auf 800 großformatigen, mit vielen Kupferstichen reich illustrierten Seiten unternimmt Olearius, Mathematiker, Astronom und Bibliothekar am Hof von Schleswig-Holstein-Gottorf und Sekretär der von diesem Hof organisierten Gesandtschaft, die von 1633 bis 1639 von Schleswig-Holstein über Moskau an den Hof von Isfahan führte, einen Balanceakt zwischen einer prachtvollen Selbstinszenierung, einer realistischen, vielerlei Probleme und Widerstände einschließenden Wegbeschreibung und einer Enzyklopädie tradierten und neu gewonnenen Wissens über die bereisten Länder. Eine Reihe poetischer Texte, unter ihnen mehrere Gedichte des ebenfalls zur Gesandtschaft gehörenden Paul Fleming, erweitert das Spektrum der Darstellungsformen und unterstreicht den Anspruch eines umfassenden Repräsentationsprogramms, das in eindrucksvoller Weise Möglichkeiten und Grenzen barocker Repräsentationskunst demonstriert. 1 K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Wolfgang Struck 62 Das Gerüst dieses Programms bildet eine Narration, die im Wesentlichen der Chronologie des Reiseverlaufs folgt. Ihre Bedeutung unterstreicht nicht zuletzt die Umarbeitung, die Olearius vornimmt, als er den erstmals 1647 unter dem Titel Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Rejse […] erschienenen Bericht 1656 erneut herausgibt. Die gegenüber der Erstausgabe erweiterten landeskundlichen Informationen werden jetzt in zwei eigenen, systematisch-deskriptiv gehaltenen Kapiteln zusammengefaßt, die eigentliche Reise dagegen in einer stringenteren Erzählung in vier Abschnitten präsentiert. Auch hier jedoch vermischen sich erzählende, poetische und deskriptive Passagen, so dass die narrative Stringenz in mehr oder weniger ausführlichen Digressionen immer wieder unterlaufen wird. In einer genaueren Bestimmung dieses Verhältnisses von narratio und digressio sehe ich den Beitrag, den eine Lektüre der Vermehrten Newen Beschreibung für die Diskussion um Erzählstile leisten kann. Zunächst lassen sich narrative Ökonomie und ein durch Digression bestimmtes Erzählen einander gegenüberstellen. Was Olearius’ Text interessant macht, ist jedoch in erster Linie, wie das Wechselverhältnis dieser beiden Stile des Erzählens sowohl auf der Makroals auch der Mikroebene der narrativen Organisation für den spezifischen referenziellen Anspruch des Reiseberichts konstitutiv wird. Das Begriffspaar narratio und digressio, das ich für eine Differenzierung grundlegender Modelle des Erzählens vorschlagen möchte, reformuliert und durchkreuzt zugleich das Wechselverhältnis von erfahrenen und dargestellten Wirklichkeiten; ein Verhältnis, das zentral ist für den dokumentarischen Anspruch eines Textes, der seine Legitimation und sein Ziel nicht in der evidentia - als einer rhetorisch erzeugten ‘als ob’-Gegenwärtigkeit - findet, sondern in einer Augenzeugenschaft des Reisenden und der Evidenz seiner Beobachtungen. Olearius selbst thematisiert die Verbindung von digressio und Evidenz, als er eine der in der Tat erklärungsbedürftigsten Digressionen seines Textes dem ‘günstigen Leser’ nahezubringen versucht, nämlich die Einfügung eines Kapitels über die Bewohner Grönlands in den Bericht der Rußland-Reise: Weil ich / günstiger Leser / im vorigen Capitel der Grünländer gedacht / an welchen ich in vielen dingen eine gleichheit mit den Samojeden / und andern Tartern / so vns auff der Reise vorkommen / auch sonst merckwürdige Sachen befunden / als achte ichs nicht gar unbequem zu seyn / allhier eine digression, oder von vnser Reise einen kleinen aufftritt zu nehmen / vnd die Grünländischen Völker in etwas zu betrachten / zumahl weil ich sie selbst gesehen / reden gehöret / vnd mich ihrer Beschaffenheit etlicher massen erkundiget (Olearius 1656: 163) Über den Vergleich spielt Olearius hier Wissen herein, das er als Augenzeuge bestätigen kann (er kann sich auf eine Begegnung mit grönländischen Inuit beziehen, die sich in Schleswig aufgehalten haben), und das auf die Völker vorausdeutet, die ihm in seinem Reisebericht die größten Darstellungsschwierigkeiten bereiten werden: die einen schwer zu repräsentierenden Zwischenbereich zwischen den etablierten Reichen der Russen und Perser einnehmenden Tataren. In diesem Versuch, die Beurteilungskriterien für das Fremde aus eigenem, selbsterworbenem Wissen zu gewinnen, bestätigt sich die grundsätzliche Bedeutung, die Olearius der eigenen Erfahrung zuschreibt. Bereits in der “Vorrede an den günstigen Leser” stellt er ein Paradigma (oder gar Pathos) der Augenzeugenschaft auf, das ihm auch die hinreichende Sicherheit gibt, vom Urteil etablierter literarisch-geographischer Autoritäten abzuweichen und sowohl den “alten” als auch den “newen Scribenten” offen zu widersprechen: Was ich gleichwohl selbst mit meinen Füssen betreten / mit meinen Augen gesehen (welches ob es von andern auch allezeit geschehen / ich sehr in zweiffel ziehe) und also ein anders Evidenz und evidentia 63 erfahren / schewe ich mich nicht zu schreiben / zumahl / weil noch viel lebendige Zeugen / welche mit vns gewesen / vnd vieler Sachen mit wissend / verhanden seynd. (Olearius 1656: Vorrede, o.S.) Allerdings ist das gerade in dem Fall, den Olearius hier als Beispiel für die Überlegenheit des Augenzeugen anführt, eine etwas prekäre Behauptung. Es geht nämlich um seine Korrektur von Form und Lage des Kaspischen Meeres, dessen Längsachse er im Gegensatz zur bisherigen Lehrmeinung (und in Übereinstimmung mit der heutigen Geographie) von Norden nach Süden statt von Osten nach Westen verlaufen läßt, also um etwas, das er gerade nicht mit seinen “Augen gesehen”, sondern nur aus Messungen - eigenen ebenso wie denen persischer und arabischer Seefahrer und Kartographen - erschlossen haben kann. Schon in der Vorrede öffnet sich ein Widerspruch zwischen dem Pathos der Augenzeugenschaft und der Notwendigkeit, auf andere Wissensbestände zu rekurrieren. Die Notwendigkeit, diesen Widerspruch auszuhalten, hat auch etwas mit einer stilistischen Vorentscheidung zu tun, die Olearius auf der gleichen Seite seiner Vorrede programmatisch vertritt, und die ihn zwingen wird, sowohl von der Stringenz seiner Narration als auch vom Paradigma der Augenzeugenzeugenschaft abzuweichen: Es gehöret zwar ein außführlicher Bericht von den Ländern / der Völker Leben und Sitten / Polizeywesen und Religion nicht eigentlich zu einer Reyse Beschreibung. Weil ich aber sehe / dass es andere vor mir mit dabey gezogen / ich auch nicht rathsam funde / darvon ein absonderlich Buch zu schreiben / und also das Hodæporicum sterile und dem Leser / welcher mehr zu wissen begehret / als wie wir von einen Dorff und Stadt zur andern gereiset / unangenehm zu machen / habe ich solches auch mit vermischen wollen. (Olearius 1656: Vorrede, o.S.) Das Argument, mit dem Olearius hier die Umarbeitungen gegenüber der Erstausgabe von 1647 begründet, scheint zwar zunächst stilistische Kriterien auszuklammern, zumindest soweit sie auf einer sprachlichen Ebene liegen. Wenn Olearius mit “Hodæporicum” für seinen deutschsprachigen Text eine Gattungsbezeichnung wählt, die vorwiegend, aber durchaus nicht ausschließlich, im Rahmen lateinsch-humanistischer Reisedichtung gebräuchlich ist, dann spielt er die Differenz zwischen Volkssprache und Latein herunter. Und auch die poetische Dimension ist hier nicht betroffen: als Hodoeporicon können sowohl Versals auch Prosadichtungen bezeichnet werden, und bei Olearius existiert beides nebeneinander, wenn er in seinen Prosa-Bericht eine ganze Reihe von Gedichten integriert, darunter auch zwei längere Texte von Paul Fleming, die für sich selbst als Hodoeporicon gelten können. Was der Sterilität entgegenwirken soll, ist demgegenüber zunächst eine inhaltliche Erweiterung, die der Erzählung, “als wie wir von einen Dorff und Stadt zur andern gereiset”, einen “ausführliche[n] Bericht von den Ländern / der Völker Leben und Sitten / Polizeywesen und Religion” “vermischen” soll. Allerdings betrifft diese ‘Vermischung’ auch den narrativen Stil der Erzählung, jenseits sprachlicher und poetischer Kriterien. Steril erscheint hier eine narrative Ökonomie, in der der mehr oder weniger gradlinige Fortgang der Reise in die Linearität einer finalisierten Narration übersetzt würde. Entgegengesetzt wird dem ein Prinzip der Digression, der Vermischung von Erzählung und Bericht, Chronologie und Achronie, aber auch Dokumentation und Fiktion (eine Differenz, die ebenfalls für das Genre des Hodoeporicon nicht entscheidend ist) 2 . Indem Olearius’ Erzählung vom Reiseweg des Verfassers abweicht, kommen Materialien ins Spiel, deren Evidenz, im Sinne eines durch Autopsie gesicherten Wissens, gerade nicht gegeben ist. Um diese Lücke zu schließen, greift Olearius auf anderweitig verbürgtes Wissen zurück, er scheut sich dabei aber auch nicht, anekdotische und legendhafte Überlieferungen aufzugreifen und so statt einer Geschichte Wolfgang Struck 64 eine Vielzahl von Geschichten zu präsentieren. Geschichten, die von Ereignissen berichten, die Olearius nicht ‘mit eigenen Augen gesehen’ hat, und die in Gegenden führen, die er nicht ‘mit eigenen Füßen betreten’ hat. Und er wählt dafür Präsentationsformen, die sowohl die eigene Imaginationskraft als auch die seiner Rezipienten involvieren. Illustrieren möchte ich das mit einer digressiven Episode aus dem zehnten Kapitel des zweiten Buches, das von der Reise von der Ostseeküste bis Moskau durch Livland und Rußland handelt. Eigentlich soll dieses Kapitel nach einem historisch-ethnologischen Exkurs “Von den Undeutschen oder alten Lieffländischen Einwohnern” (Olearius 1656: 105ff.) nun “wiederumb zu unser Reise” zurückführen. Aber auch hier präsentiert Olearius in erster Linie landeskundliches Wissen, in anekdotischer Form und in Illustrationen zugespitzt. So berichtet er etwa von den Gefahren, die in der Weite der livländisch-russischen Natur von Raubtieren ausgehen. Eigene Erfahrungen kann Olearius hier, anders als im Falle eines Skorpion-Stichs, den er in Persien erleiden wird, nicht vorweisen. Aber die Reise gibt doch den Anlaß und den Ausgangspunkt für die Darstellung. Anfang März 1636, als die Reisenden für einige Zeit in der Stadt Narva festliegen, hören sie von einer Attacke durch einen besonders aggressiven, möglicherweise tollwütigen Wolf, die sich zwei Jahre zuvor ereignet hatte: Im Jahr 1634. den 24. Jenner / ist anderthalb Meilen von der Narva / ein kleiner ohne zweiffel wütender Wolff 12. Russische Bauren / so mit Heu beladenen Schlitten hinter einander hergefahren / begegnet / Dieser hat sich alsbald an den ersten gemachet / ist an ihm hinauff sprungen / hat ihn bey der Kehlen gefasset / und niedergerissen / imgleichen auch den andern. Dem dritten hat er das Fell über den Kopff gezogen / dem vierdten Nase und Backen abgerissen / den fünfften und sechsten auch sehr beschädiget (Olearius 1656: 117f.). Dass Zeit und Ort dieser “grawsamen Geschicht” (relativ) genau benannt werden können, hebt das von Olearius nicht selbst erlebte Geschehen von der Legendenhaftigkeit oraler Tradierung (die bei Olearius immer wieder im Verdacht des Abergläubischen steht) ab und verankert es als einmaliges Ereignis in der sinnlich erfahrbaren Welt. Olearius läßt es dabei aber nicht bewenden, sondern er fügt noch zwei ‘Evidenzen’ an, für die er tatsächlich selbst als Augenzeuge fungieren kann: “Der Balck von diesem Wolffe”, der schließlich überwältigt und getötet werden konnte, “wurde außgestopffet / den Gesandten gezeiget / und wegen der grawsamen Geschicht von denen zur Narve zum Gedächtniß auffgehoben” (Olearius 1656: 118). Ein noch bedeutenderer Zeuge tritt in Gestalt eines der Opfer selbst auf, das die Gottorfer noch vor seinem bald darauf eintretenden Tod (infolge einer verspäteten Tollwut- Infektion? ) “besehen” können: Einen von den beschädigten Russen habe ich mit unserm Doctor zur Narve besuchet und besehen / war im Gesichte und Kopff so jämmerlich zugerichtet / gleich als er nach damahligem Abrisse allhier im Kupfer gesetzt wird. Dieser ist neben den andern allen Beschädigten wütend gestorben (Olearius 1656: 118) Erst hier, in der Begegnung mit dem “beschädigten Russen”, ist Olearius’ Bericht wieder in der Gegenwart seiner Reise und seiner eigenen Erfahrung angelangt, von der er mit der zwei Jahre zurückliegenden “grawsamen Geschicht” abgewichen war. Der besuchte Zeuge wird dabei jedoch ausdrücklich nicht als Quelle der Erzählung benannt; die Gottorfer haben ihn “besehen” und ‘abgerissen’, aber offenbar nicht sprechen können. Das Ergebnis dieser Autopsie findet dann als Kupferstich den Weg in die Vermehrte Newe Beschreibung, so unmittelbar ‘nach dem Leben’, wie es barocker Medientechnik möglich ist, und in der physiologischen Korrektheit zusätzlich belaubigt durch die Anwesenheit des “Doctor” (vgl. Abb. 1). Evidenz und evidentia 65 Abb. 1 Die Sorgfalt, mit der Olearius hier seine Beweismittel präsentiert, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen dem “beschädigten Russen” und der “grawsamen Geschicht” eine Lücke klafft, die das im Stil eines forensisches Dokuments Vorder- und Rückansicht nebeneinander vor neutralem Hintergrund präsentierende Porträt gerade nicht schließen kann. Denn der Ursprung der Verwundung ist den Wunden nicht abzulesen; der geöffnete Kopf gibt den Blick auf die Erfahrung, die darin gespeichert ist, gerade nicht frei. Immerhin sind auch ganz andere Formen der Grausamkeit denkbar, die zu vergleichbaren Beschädigungen führen können; so hat Olearius nur ein Kapitel zuvor ausführlich - und mit einer Abbildung, die an Drastik denen über die Raubtierattacken durchaus nahekommt - über die grausamen körperlichen Strafen berichtet, denen sich die Lettische Bevölkerung unter deutscher Regentschaft im Baltikum unterworfen sieht (Olearius 1656: 105ff.; Abb. 108). Daher bleibt das Porträt des “beschädigten Russen” auch nicht für sich stehen, sondern es bildet nur einen Teil des Bildarrangements, mit dem die ‘grawsame Geschicht’ illustriert wird. Es nimmt den linken unteren Teil des gesamten Stichs ein und wirkt, als sei es wie ein Blatt Papier, dessen eine Ecke zum Betrachter hin hochgebogen ist, vor (bzw. über) eine zweite Abbildung gelegt, die es zu etwa einem Drittel verbirgt. Auf dieser zweiten, ‘hinteren’ Abbildung ist die Wolfsattacke selbst zu sehen. Beide Bilder stehen in einem deutlich akzentuierten stilistischen Kontrast zueinander. Das Porträt erscheint als Zeichnung, als seines lebensweltlichen Raums und seiner Materialität beraubtes Abbild, begrenzt durch die Wolfgang Struck 66 Fläche des Papiers. Nur dieses Papier selbst erscheint, im Gegensatz zur Flächigkeit des Abgebildeten, durch seine hervorgehobene Textur als materielles und, durch die aufgebogene Ecke, sogar als dreidimensionales Objekt. Auf dem dahinter-/ darunterliegenden Bild dagegen ist keine Trägerschicht, kein Medium zu sehen. Dafür ist die dargestellte Welt hier dreidimensional, ein in die Tiefe der Landschaft und des Himmels geöffneter Natur-Raum ohne erkennbare Begrenzung (auch ‘hinter’ dem Porträt-Blatt setzt er sich fort), und ohne Lücken, in denen sich das (Papier-) Medium selbst manifestieren könnte. Statt dessen ist es angefüllt mit realistisch wirkenden Objekten: Menschen, Tiere, mit Heu beladene Schlitten, Bäume, ein Gebirge im Hintergrund, Wolken am Himmel. Natürlicher erscheint dieses Bild auch in seiner Beziehung zur Zeit. Während das Porträt ein atemporales - und damit künstliches - Tableau erzeugt, indem es dasselbe Objekt, den einen Kopf, zweimal, von vorne und von hinten, auf der selben Fläche abbildet, zerlegt das dahinter befindliche Szenarium die verschiedenen Aspekte des Grauens in eine narrative Folge, die dadurch in einem Bildraum zusammengefaßt werden kann, dass sich die Darstellung die Serialität der Ereignisse zunutze macht: Es sind drei Bauern zu sehen, von denen der Wolf einen bereits gerissen und offenbar tot liegengelassen hat, einen anderen, dessen verzweifelte Gegenwehr zu erlahmen scheint, hält er gerade an der Kehle gepackt, während ein dritter sich mit entsetztem Gesicht zur Flucht wendet. Im Unterschied zum ‘vorderen’ Bild geht es hier also nicht um eine Ergänzung, eine visuelle Bestätigung des Berichteten, sondern es wird selbst eine Geschichte erzählt. So könnte es sich zugetragen haben, aber dass es wirklich so war, wird durch den ‘Zeugen’, den ‘beschädigten Russen’, eben nicht bestätigt. Die ‘grawsame Geschicht’ füllt eine Leerstelle nicht nur in der Narration, sondern auch in der Evidenz der Augenzeugenschaft. Diese kann nur das ‘vordere’ Bild beanspruchen, für das Olearius behaupten (und auch noch durch den Doktor bezeugen lassen) kann, den ‘beschädigten Russen’ gleichzeitg ‘besehen’ und ‘abgerissen’ zu haben. Konstruiert wird so eine metonymische Verkettung von Zeugen(schaften), ein medial vermitteltes indexikalisches Zeichen. Bis zum ‘hinteren’ Bild reicht diese Kette jedoch nicht. Während das erste, ‘vordere’, Bild Evidenz beansprucht, dabei aber eine eher karge, den Sinn des Gezeigten verbergende Wirklichkeit zeigt, bedient sich das zweite, ‘hintere’ Bild der Imaginations- und Illusionskraft - innerhalb der dargestellten Situation ist schwerlich ein Beobachter denkbar, der das Geschehen hätte “besehen” und ‘abreißen’ können -, um dem Betrachter ein dynamisches, lebendiges (soweit man das über ein so todesgesättigtes Motiv sagen kann) Geschehen ‘vor Augen zu stellen’. Anders gesagt, es bedient sich der enargetischen Figur der evidentia. Bezogen auf die Gesamtkomposition der Vermehrten Newen Beschreibung ist dabei zu bedenken, dass sich die hier im Text und auch in der Illustration narrativ ausgebreitete ‘grawsame Geschicht’ tatsächlich einem Stillstand verdankt, einem Stillstand der Reise selbst, der erst die Möglichkeit der Recherche eröffnet, und einem Stillstand der Reiseerzählung, die hier eine digressive Abschweifung in die Vergangenheit und in die fremde Lebenswelt ermöglicht. Olearius hätte hier also ein Beispiel geliefert für die Erweiterung des ‘sterilen’ Bericht-Stils - um den Preis einer Darstellung, die ihre eigene Erfahrungsgrundlage zu verlieren droht. Die Illustration geht dabei aber in zwei Aspekten über das hinaus, was auch im Text gesagt wird, und schafft einen Erfahrungsraum anderer Art. Zum einen bleibt sie nicht bei der anekdotischen Geschichte stehen, sondern sie fügt diese in einen metaphysischen Rahmen ein. Der untere Bildrand, soweit er nicht vom Porträt verdeckt wird, ist angefüllt mit nackten Felsen, und daraus erhebt sich, das Bild am rechten Evidenz und evidentia 67 Rand rahmenartig abschließend, ein abgestorbener, blätterloser Baum. Der Tod, der durch den Wolf in Welt der Bauern getragen wird, ist dort also immer schon präsent, repräsentiert durch Objekte, die, an prominenter Stelle im Vordergrund, dem sich scheinbar ins Endlose verlierenden Naturraum eine Grenze setzen, eine räumliche Grenze, die zugleich eine der Zeit ist: jede irdische Geschichte findet ein Ende, das durch den Tod gesetzt ist. Dieser Rahmen gibt zugleich dem restlichen Bild das Darstellungsprinzip vor, denn die reich belaubten Bäume des Mittelgrundes (die zudem eher zu einer anmutigen Gartenanlage passen als zu einem ‘wilden’ Wald) gehören natürlich nicht in die realistische Darstellung einer russischen Winterlandschaft (“24. Jenner”! ), sondern, als Kontrast zum unbelaubten Todesbaum, in die memento mori-Allegorie. Zum anderen verbindet die Illustration die beiden Darstellungsstile miteinander: hinter der kargen Evidenz des nach der Wirklichkeit ‘abgerissenen’ Porträts ver-/ entbirgt sich eine Fülle der Sinnlichkeit und des Sinns. Man kann sich das vordere Blatt als Buchseite vorstellen, die umgeschlagen wird, um - partiell - den Blick auf das Dahinterliegende freizugeben. Was aber kommt dabei zum Vorschein? Eine weitere Buchseite? Die Wirklichkeit? Oder eine andere, ‘tiefere’ Form der Wahrheit? Dass das keine Gegensätze sein müssen, besagt einer der berühmetesten topoi des Barock, der die Welt als das Buch Gottes beschreibt. Olearius selbst hat das an anderer Stelle formuliert, in der Einleitung eines Katalogs für die “Gottorffische Kunst-Kammern”, in der auch eine Fülle von ‘Mitbringseln’ der “Muscowitischen und Persischen Reyse” Aufnahme fand (unter anderem der in Öl konservierte Skorpion, dessen Stich Olearius ein eigenes Evidenz-Erlebnis von den Gefahren der fremden Natur verdankte): Dann er [GOTT der Herr] uns neben seinem geoffenbarten Worte das grosse Wunderbuch der Welt mit den zwey grossen Blättern nemlich Himmel und Erden vorgeschrieben / dass wir darinne studiren / und dadurch etwas grössers erkennen lernen sollen / nemblich / ihn den Schöpfer selbst / seine Majestät und Allmacht. (Olearius 1674: Vorrede, o.S.) Dass es schwierig sein mag, Majestät und Allmacht des Schöpfers ohne weiteres mit dem “beschädigten Russen” und der durch ihn bezeugten “grawsamen Geschicht” zusammenzubringen, ist dabei weniger bedeutsam als die Versicherung, dass sich die göttliche Offenbarung nicht nur auf die Schrift bezieht, sondern auch auf das “Wunderbuch der Welt”, das heißt, dass sie dessen grundsätzliche Lesbarkeit impliziert. Das ändert jedoch nichts an dem prekären (Realitäts-) Status jener Wirklichkeit, die die nur über eine enargetische Rhetorik zu erschließende ‘grawsame Geschicht’ eröffnet. Für ihren Wahrheitsgehalt kann weder der namentlich benennbare, glaubwürdige Zeuge (Olearius selbst, unterstützt durch den “Doctor”) in Anspruch genommen werden, noch ist er allgemein und prinzipiell überall und immer überprüfbar, wie der “Wunderbau des Himmels”, dessen mathematisch rekonstruierbare Ordnung Olearius das Beispiel für die geoffenbarte Wahrheit der Natur bietet. Voraussetzung für ein ‘Studium’ im ‘Wunderbuch der Welt’ ist, dass wir diese Welt “nicht nur mit leiblichen / sondern auch mit gesunden Vernunffts-Augen anschauen und betrachten” (Olearius 1674, Vorrede: o.S.). Was dann von der ‘grawsamen Geschicht’ bleibt, ist jedoch allein die allgemeine Wahrheit des memento mori - eine Erkenntnis, für die man in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges kaum bis nach Rußland hätte reisen müssen. Das ‘Wunderbuch der Welt’ ist offenbar zu groß für das, wovon Olearius berichten möchte, so wie sein eigener Skizzenblock, in dem er das ‘mit leiblichen Augen’ Gesehene ‘abgerissen’ hat, zu klein ist. Man muß nur die Seite der Vermehrten Newen Beschreibung, auf der sich die beschriebene (Doppel-) Illustration befindet, tatsächlich umblättern, dann stößt man auf eine weitere Wolfgang Struck 68 Abb. 2 Illustration, die vor allem den prekären Status eines Berichterstatters ‘vor Augen stellt’, der von etwas zeugen möchte, das weder mit “leiblichen” noch mit “Vernuffts-Augen” zu sehen ist (vgl. Abb. 2). Von seiner Narration her gesehen überläßt sich Olearius hier noch etwas weiter dem digressiven Sog der oral histories und führt eine ganze Reihe von Anekdoten an, die von weniger grausamen als kuriosen - und häufig versöhnlich endenden - Begegnungen mit Bären berichten - bis er sich schließlich selbst das Wort entzieht: Noch viel andere und seltsamere Historien die sich dero örter mit den Bären begeben / wurden uns erzehlet / Wie nemblich ein Baar bey Riga ein Weib in seiner Hölen bey 14. Tagen gehalten / Item wenn sie geschossen / wie sie die Jäger ertapt und tractiret, und wie die wunderlich von ihnen loß gekommen / und dergleichen. Welches / weil es dem Leser / sonderlich denen / so von dergleichen nie gehöret / möchte ungläublich vorkommen / habe ichs in Schriften nicht mit mehren gedencken wollen. (Olearius 1656: XXX) Weder die narrative Stringenz des eigentlichen Reiseberichts setzt hier dem abschweifenden Erzählen eine Grenze, noch die - nicht vollständig gesicherte - Evidenz, sondern die Glaubwürdigkeit für die Rezipienten, die gekoppelt ist an deren Erfahrungsraum, das heißt an ihre Fähigkeit und Bereitwilligkeit, sich der evidentia zu überlassen, sich das Geschehen ‘vor Augen stellen’ zu lassen. Allerdings ist diese Grenze durchlässig. Nicht nur teilt Olearius Schrift ja einiges von dem mit, was er eigentlich auslassen will, auch scheint er hier verschiedene Medien gegeneinander auszuspielen. Dass er “in Schriften” nicht mehr mitteilen will, kann man natürlich zunächst selbstreferentiell auf die vorliegende Schrift, die Vermehrte Evidenz und evidentia 69 Newe Beschreibung beziehen, man kann es aber darüberhinaus auch in Kontrast zum ‘Erzählen’ und ‘Hören’ setzen, zu einer Mündlichkeit also, der offenbar eine höhere Evidenz zugetraut wird - schließlich stellt sich das Glaubwürdigkeitsproblem nicht für die, denen man “erzehlet” hat, sondern nur für die, “so von dergleichen nie gehöret” haben. Vor allem aber kann man das Schreiben in Kontrast setzen zu der Illustration, die dem Betrachter sinnlich ‘vor Augen stellt’, was dem Leser “ungläublich” vorkommen mag. Die Illustration vereinigt mehrere der Erzählungen, im Vordergrund etwa einen Bären, der eine Leiche fortträgt. Von Friedhofsplünderungen handeln zwei Anekdoten, wobei die eine wiederum genaue Orts- und Zeitangaben machen kann, die andere dagegen belegt ist durch eine Augenzeugin, die Olearius zwar nicht persönlich gesprochen, deren guten Leumund er aber bezeugt gefunden hat: Es hat sich vor wenig Jahren zu getragen / dass eine fürnehme desselben Orts wol bekandte Fraw / als sie gereiset / einen Bären angetroffen / welcher eine Leiche in Armen getragen / und das Leichentuch hinter sich her schleppen gehabt / als ihr Pferd vor dem Schlitten diß Spectakkel ansichtig worden / hat es geschnaubet und gewütet / ist mit dem Schlitten außgerissen / und die Fraw nicht ohngefähr über Stock und Stein geführet. (Olearius 1656: XXX) Kein allzu sicherer Beobachtungsposten also, und so zeigt auch die Abbildung den Schlitten rechts im Hintergrund, vom Geschehen abgewandt und gerade im Begriff, den Bildraum zu verlassen. Der zweite Bär, der einen noch lebenden Menschen nach links fortträgt, könnte ebenfalls auf zwei verschiedene Geschichten verweisen, eine von einem Bauern, der durch den heroischen Einsatz seines kleinen Hundes gerettet worden ist (zu sehen am rechten Fuß des Bären), oder auch auf die von einem Bären in seine Höhle entführte Frau. Was aber in keiner der Erzählungen vorkommt, ist der Mensch, der sich auf dem Baum am linken Bildrand befindet. Auffällig ist vor allem die Bewegung, mit der er eine Hand in Richtung der Bären ausstreckt; aber was diese Geste bezweckt, ist ebenso unklar wie die Funktion und Position der Figur überhaupt gegenüber der Diegese. Hat sie sich auf den Baum geflüchtet und versucht nun (vergeblich), dem/ der Entführten ebenfalls nach oben zu helfen? Oder handelt es sich um eine zeigende Geste, einen Hinweis? Wenn ja, für wen - für eine weitere (nicht sichtbare) Person innerhalb der Diegese oder für einen Betrachter des Bildes? Die Haltung der Hand erinnert durchaus an die Geste, mit der ein Schauspieler aus der Rolle und an die Rampe der Bühne tritt, um auf das Bühnen-Tableau zu weisen - in sehr viel zurückhaltenderer, angedeuteter Form findet sie sich auch auf dem Frontispiz der Vermehrten Newen Beschreibung, wo ein russischer und ein persischer Edelmann zwischen sich den Raum öffnen, den Olearius’ Text beschreibt. Signifikant ist weiterhin, dass der Ast, auf den sich das Standbein dieser zwischen Teilnahme und Beobachtung changierenden Figur stützt und der selbst wie ein Pfeil auf die Hand gerichtet ist, abgestorben ist. Es liegt nahe, das wiederum als memento mori zu interpretieren: Der Ast, auf den wir Menschen uns gerettet zu haben glauben, ist immer schon brüchig (und nebenbei: Bären können klettern! ). Diese Interpretation könnte den Bogen zum ungläubigen Leser schlagen und ihm helfen, sich die Bärenhöhle vor Augen zu stellen, sie könnte also der evidentia dienen. Zugleich relativiert sie aber die Evidenz, indem sie die Position des gesicherten Beobachters in Frage stellt. Entweder es droht der Absturz in die Welt der “grawsamen Geschicht”, der Verlust also der gesicherten Beobachterposition, oder diese Geschichte droht sich aufzulösen im großen Wunderbuch der Welt. Mit dem Mann auf dem toten Ast führt Olearius eine Figur ein, deren Status als Beteiligter einerseits und als Zuschauer, Zeuge und Berichterstatter andererseits in keiner Weise klar definiert ist, die aber Wolfgang Struck 70 tatsächlich letztlich alles zugleich sein müßte, um etwas sehen und zeigen zu können, was sich jenseits des Gesichtskreises der “leiblichen” wie der “Vernunfft-Augen” abspielt - eben die spezifische, zwischen Individualität und Allgemeinheit schwankende Wirklichkeit einer grawsamen Geschicht. Den Digressionen läßt sich also eine doppelte Funktion zuschreiben: Sie überführen die auf die individuelle Perspektive des Reisenden beschränkte Erzählung in ein Tableau, sie füllen aber dieses Tableau zugleich wiederum mit Geschichten an, die sich einer vorschnellen Integration in ein prästabiliertes, universelles Wissen entziehen. In dieser Ansammlung heterogener, und keineswegs durch Evidenz gesicherter Daten, sehe ich, stärker als in dem oft für seine Modernität in Anspruch genommenem Beharren auf Augenzeugenschaft, die Originalität von Olearius’ Reisebericht. Die - fremde - Individualität der einzelnen Geschichte ist das Problem, vor das sich Olearius gestellt sieht. Wie sehr er dabei auf die digressio setzt, um ein neues, schwer zu handhabendes Wissen in den Bericht einfließen zu lassen, zeigen die vielen Anekdoten, die vor allem den Persien-Teil des Buches bestimmen. Auch dass insbesondere die islamischen Legenden aus christlicher Perspektive pflichtschuldig als “treffliche alberne Fabeln vnd Handgreiffliche Lügen” (Olearius 1656: 679) abqualifiziert werden, hat Olearius nicht daran gehindert, sie zu jeder sich bietenden Gelegenheit in seinen Bericht aufzunehmen - und das durchaus nicht allein aus protoethnologischem Interesse. Sie stellen nicht nur ein Verfahren dar, den Fluß der Erzählung zu unterbrechen, sondern sie unterlaufen auch die Einheitlichkeit und Souveränität der Erzähler- Perspektive und markieren damit häufig Momente, die im Tableau christlich-abendländischen Wissens nur schwer unterzubringen sind. Aber auch in scheinbar näherliegenden Bereichen dienen digressive Verfahren dazu, problematisches Wissen in den Text zu integrieren. Das möchte ich zeigen an einer ganz anders gearteten ‘grawsamen Geschicht’, die Olearius sehr viel unmittelbarer betrifft. Das sechste Kapitel des zweiten Buches überläßt Olearius vollständig einem fremden Text, nämlich Paul Flemings Carmen Auff Oleariens Rede über deroselben erlittenen Schiffbruche auff Hochland / im Novemb. des 1635. Jahres (Olearius 1656: 81-85). Es handelt sich um ein mit 144 Alexandriner-Versen ziemlich langes, erzählendes Gedicht über eine gefährliche Schiffahrt auf der Ostsee, die für einen Teil der Gesandtschaft die zweite Phase des Unternehmens einleitete. Narrativ gesehen handelt es sich hier wiederum um eine Digression, denn die hier verarbeiteten Ereignisse hat Olearius selbst bereits in den vorangehenden Kapiteln recht ausführlich geschildert. Und im Unterschied zu Fleming kann er sich dabei wiederum auf Augenzeugenschaft berufen, denn er hat, neben den Gesandten selbst, tatsächlich an der Fahrt teilgenommen, während Fleming zu dem zahlenmäßig größeren Teil der Gesandtschaft gehörte, der nach Abschluß der ersten Etappe in Reval geblieben war. Es liegt also nahe, dass es vor allem die poetisch-stilistische Kompetenz - des Dichters Fleming - ist, die Olearius veranlaßt hat, dem eigenen, nüchternen Augenzeugenbericht eine nur auf ‘Hörensagen’ beruhende Verdoppelung an die Seite zu stellen. Tatsächlich verlagert sich mit Flemings Darstellung das Gewicht von der Evidenz auf die evidentia, und das Gedicht bietet dazu ein breites Arsenal poetischer Formen, allegorischer Verdichtungen einzelner Geschehensmomente sowie die narrative Verdichtung in einer spannungsakzentuierenden Dramaturgie auf. Am signifikantesten ist jedoch ein virtuoses Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen, das die reale Differenz von Augen- und Ohrenzeuge kompliziert und unterläuft. Der ‘in medias res’-Anfang bietet ein Musterbeispiel für die in bereits in antiken Rhetoriken empfohlenen Strategien der evidentia, des affektbetonenden Vor-Augen-Stellens: Evidenz und evidentia 71 Mich dünckt, ich höre noch den Zorn der tollen Wellen / Den Grimm der wilden Fluth / dass mir die Ohren gellen. Mir ist, als seh’ ich noch die angereyhte Noth Die Augenblicklich euch gesampten schwur den Todt / In einer langen Quael / durch zweymal sieben Tage. Hilff Gott, was führtet ihr allda für eine Klage! Was vor ein Angstgeschrey! Noch war bei aller Pein Die härtste, dass ihr noch im Leben mußtet seyn. (V. 1-8) Indem hier die Unmittelbarkeit von Sinneswahrnehmungen angesprochen, oder genauer gesagt, überwältigende optische und akustische Reize aufgerufen werden, die einem fast Hören und Sehen vergehen lassen, werden die Rezipienten emotional in das Geschehen involviert; ein Effekt, der dadurch verstärkt wird, dass der expositionslose Beginn sie in eine ähnliche Orientierungslosigkeit stürzt, wie sie die Seefahrer in der nicht enden wollenden Sturmnacht empfunden haben müssen. Der Text macht also gleichzeitig das, wovon er berichtet: er schafft Orientierungslosigkeit, die im weiteren Verlauf ausgiebig als die entscheidende Wirkung des Sturms auf die Gemüter geschildert werden wird. Das betrifft tendentiell auch die etwas unklare Perspektive des Berichtenden: Scheint in den ersten Versen ein Beteiligter in erinnernder Vergegenwärtigung zu sprechen, so nimmt der Wechsel zur zweiten Person Plural im vierten Vers eine Distanzierung vor. Eine Anomalie, auf die ich zurückkommen werde. Mit dem Todeswunsch bricht die Schilderung zunächst ab, und es folgt ein sachlicherer Rückblick, eine nachgeholte Exposition, die einerseits Ort und Zeit konkretisiert, andererseits aber bereits einen übergeordneten, providentiellen Rahmen aufrichtet, in den das Geschehen gestellt wird. Der Bawer hatte schon das WinterFeld bestellet / Der Gärtner für den Frost nach Notdurfft Holz gefället. Die Sonne die verließ nun gleich den Scorpion / Das unglückhaffte Thier. Der abgewandte Mon Zog seine Hörner ein / wie furchtsam anzusehen / Was bey der bösen Nacht euch würde bald geschehen. Der Tag war ohne Tag. Die Nacht war mehr als Nacht / Als die kein edler Stern durchaus nicht liechte macht. Neptun kan keinem gut für seinen Schaden sagen / Der sich in seiner Fluht auff späten Herbst wil wagen. Er selbst ist nicht sein Herr / wenn Eolus sich regt / Und ihm der Wellen Schaum in seine Haare schlägt. Es war zur Abfahrt schon für euch ein böses Zeichen / Zwey Schiffe kunten sich zu weichen nicht vergleichen. (V. 9-22) Im raschen Wechsel über mehrere Isotopieebenen und unterschiedlicher Arten von (Vor-) Zeichen entsteht hier ein Raum düsterer Assoziationen und Vorbedeutungen. Die ‘späte’ Jahreszeit, wo sich die Natur in sich selbst zurückzieht, mit ihr alle den natürlichen Rhythmen folgenden Menschen Schutz und Sicherheit suchen, läßt es nicht nur rein pragmatisch gefährlich erscheinen, sich auf See zu begeben (wegen der Herbststürme), sondern es scheint auch im Widerspruch zur Weltordnung zu stehen und so eine Versuchung des Schicksals darzustellen. Dem entspricht eine negative astrologische Konstellation aus Skorpion und sich verbergendem Mon(d), und schließlich das Unglück bei der Ausfahrt aus dem Hafen, das Wolfgang Struck 72 noch als zeichenhaftes Mißgeschick gedeutet werden kann, aber zugleich den Anfang einer ganzen Kette sich graduell steigernder Katastrophen darstellt. Vom zeichenhaft vergegenwärtigenden memento mori zum real präsenten Tod ist es also nur ein gradueller Übergang. Schließlich ist das Schiff da angelangt, wo das Gedicht begonnen hatte: So trieb das krancke Schiff mit Tieffen gantz beschlossen / Mit Wassern unterschwemmt / mit Wellen übergossen / Des Wetters leichter Ball. Der Grund war unbekandt. […] Es war in aller Pein Nur diß der ärgste Tod / nicht stracks tod können seyn. (V. 49-51; V. 59f.) Hier bricht die Schilderung vom Leid der Seefahrer erneut ab, und der Fokus der Erzählung springt wieder von der 2. zur 1. Person, diesmal aber im Plural: “Wir / die wir unser Heyl noch ferner mit euch wagen / Was traff auch uns für Angst. Was führten wir für Klagen” (V. 61f.). “Wir”, das sind die in Reval zurückgebliebenen Mitglieder der Gesandtschaft, die das immer länger ausbleibende des Schiff in wachsender Sorge erwarten, dabei von einer Vielzahl sich widersprechender Gerüchte verwirrt und beunruhigt werden, bis auch hier ein Grad der Orientierungslosigkeit erreicht ist, der fast dem der Seefahrer entspricht. Damit bricht der Erzählfluß erneut ab, und es verlagert sich wiederum der Fokus. Aus neutraler Perspektive wird eine einsame Insel geschildert: “Es liegt ein hohes Land in Amfitritens Armen / die manches Schiffes sich hier pfleget zu erbarmen” (V. 85f.). ‘Erbarmen’ ist nicht nur das erste versöhnliche, beruhigende Wort im ganzen Gedicht, das eine Wendung des Schicksals andeutet, es wird auch gestützt durch eine ruhige, gelassene Schilderung, die sich Zeit läßt für die Insel, den Fels in der Brandung, der schließlich die Schiffbrüchigen aufnehmen, und, auch wenn sich einen Moment lang der Eindruck aufdrängt, der Ort sei vielleicht gar nicht von dieser Welt, wieder dem Leben zurückgibt. So kann dieser vierte Abschnitt mit der freudigen Vereinigung in Reval enden. Ein letzter Abschnitt nimmt schließlich den providentiellen Argumentationsstrang wieder auf, nun aber unter umgekehrten Vorzeichen: Wer sich solchen Gefahren ausgesetzt und sie glücklich gemeistert hat, darf sich sowohl auf seine eigene Leistungsfähigkeit als auch auf das Wohlwollen Gottes verlassen, oder anders gesagt: Wer sich selbst nicht verloren gibt und auf Gottes Hilfe vertraut, der muß auch vor bösen Zeichen nicht verzweifeln, und das gibt Vertrauen auf die Zukunft: “Das wolgefaste Werk wird bald vollführet seyn”. Das ‘bald’ verweist auf eine neue Raum-Zeit-Konstellation, den Ort des Schreibens: “Hier / da die Wolge sich in so viel Ströhme reist / / Und in die Casper See mit vollen Krügen geust” (V. 135f.). So weit ist man im Oktober 1636 gekommen, nämlich, wie die Unterschrift präzisiert, nach Astrachan, am Anfang des Wolga-Deltas. Begonnen allerdings hatte der Schlußteil mit noch einem weiteren ‘Hier und Jetzt’ und einer anderen Quelle der Rede: Dieß hat mein thewrer Freund mit alles ausgestanden. Dieß alles gibt er hier zu lesen allen Landen / Sein wahrer Zeuge selbst. Hörts / wers nicht lesen kan. Schaw / Teutsche Christenheit / das wird für dich gethan (V. 125-128) Der Hinweis auf die “Teutsche Christenheit” knüpft an ein Abschiedsgedicht an, das Fleming vor der Abreise 1633 in Hamburg hatte drucken lassen, und in dem er die Hoffnung formuliert, der Kontakt mit Persien können zu einem Ende des deutschen Konfessionskrieges Evidenz und evidentia 73 beitragen, da er die Aufmerksamkeit auf den wahren Feind, das osmanische Reich lenken würde. Er schlägt also den Bogen zum Beginn und unterstellten Sinn der Reise (übrigens ohne dass das etwas mit den wahren Zielen der Gesandtschaft zu tun hätte). Weniger klar ist aber das Vorangehende: der “thewre” Freund läßt Olearius assoziieren, aber was heißt, er gibt zu lesen, und wo ist hier? - Die erste Fassung seines Reiseberichts hat Olearius erst 1647 veröffentlicht, zu einem Zeitpunkt, an dem Fleming längst nicht mehr am Leben war. Zuvor hat Olearius nur eine Rede über den Schiffbruch gehalten, adressiert allein an die Zuhörer auf dem Wolgaschiff. Eben darauf bezieht sich auch der Titel des Gedichts: “Auff Oleariens Rede über deroselben erlittenen Schiffbruche auff Hochland / im Novemb. des 1635. Jahres”. Erst das Gedicht selbst stellt die erste Verschriftlichung des Ereignisses dar; heraus- (und damit zu lesen) gegeben wiederum von Olearius. 3 Sowohl Reden und Schreiben, als auch Ort, Zeit, Subjekt und Objekt dieses Redens und Schreibens sind also auf mehrfache Weise ineinander verschachtelt; und genau das sagt ja auch der Text: “Hörts, wers nicht lesen kann. Schau […]”. ‘Sehen - Hören - Lesen’ gehen in einem gleitenden Prozeß ineinander über, sind ebenso austauschbar wie ihre Subjekte und Objekte, ihre Produzenten und Rezipienten. Nicht nur dem Titel zufolge ist Flemings Carmen eben kein Gedicht über einen Schiffbruch, sondern ein Gedicht über eine Rede, genauer: über die vergegenwärtigende Kraft der Rede. Damit erweist sich auch der scheinbare Perspektivwechsel der ersten Verse als genau kalkuliert: Stimuliert durch die Worte des Redners, hört und sieht das “Ich” tatsächlich - “Mich dünkt ich höre noch […]”. Zwischen die beiden raum-zeitlich bestimmten Ereignisse, die Schiffahrt auf der Ostsee im November 1635 und die Aufzeichnung des Carmen am 3. Oktober 1636 in Astrachan, tritt also ein dritter, durch Olearius’ Rede markierter Raum-Zeit-Punkt. Dass sie zum eigentlichen Gegenstand lyrisch-panegyrischer Vergegenwärtigung wird, gibt einen Hinweis auf ihre Bedeutung im System höfischer Repräsentation. Gehalten am 31., oder wie Olearius ausdrücklich schreibt: am “letzten Julij” 1636 (Olearius 1656: 340), markiert die Rede das Ende einer nun schon drei Jahre währenden Vorbereitungsphase und zugleich den Aufbruch in ein neues, für alle Teilnehmer weitgehend unbekanntes Territorium. Einen Tag zuvor hatte man in Nisen (Nischni-Nowgorod) das eigens für die Gesandtschaft neu gebaute Schiff “Friedrich” bezogen und war zur Fahrt wolgaabwärts aufgebrochen, in ein Territorium, von dem selbst in Rußland sehr unterschiedliche Informationen kursierten. Es gab keine Karten (die erste verläßliche Darstellung vom Unterlauf der Wolga bis zum Kaspischen Meer wird Olearius selbst zeichnen), der russische Lotse war zum letzten Mal vor zehn Jahren auf dem Fluß gefahren, und allerorten war man nachdrücklich vor den Kosacken und tatarischen Völkern gewarnt worden, die sich der zaristischen Herrschaft nicht fügten, von denen man folglich auch nicht annehmen konnte, dass sie dem vom Zaren ausgestellten “Paß” viel Beachtung schenken würden. An diesem letzten Juli nun kehren auch die aus Nisen mitgereisten Bekannten, die der Gesandtschaft noch einen Tag Geleit gegeben hatten, zurück. Man ist also unter sich, und gleichzeit erstmal vollständig vereinigt. Nach der ersten Moskau- Reise war nur ein Teil der Gesandtschaft nach Schleswig zurückgekehrt und war dann, in veränderter Zusammensetzung, auf der katastrophalen Seereise zum zweiten Mal nach Rußland gegangen. Eine zweite Abteilung war währenddessen in Reval einquartiert worden, eine dritte schließlich nach Nisen vorausgegangen, um hier den Schiffbau zu organisieren. Diese Wiedervereinigung mit diesem ‘Baukommando’ war - wie bereits zuvor die der ersten beiden Abteilungen - keineswegs harmonisch abgelaufen: Zunächst habe man, so vermerkt Olearius ohne nähere Details, einen Streit beilegen müssen, “so die Völcker in wärender Zeit des Schiffbawes vnter sich gehabt” (Olearius 1656: 339), dann wurden mehrere Fälle von Wolfgang Struck 74 Korruption aufgedeckt, in die einheimische Handwerker und holsteinische Schiffbauer verwickelt waren, eben jene Schiffer, die nun die seemännische Besatzung des Schiffes bilden, auf deren Fähigkeiten man also angewiese war, die man demzufolge auch nicht allzu nachdrücklich bestrafen konnte. Auch der Beginn der Wolgafahrt selbst war nicht gerade vielversprechend: Am ersten Tag war man bereits nach zwei Werst (knapp zwei Kilometern) auf eine Sandbank aufgelaufen, von der man das Schiff erst “mit grosser Arbeit / bey 4. Stunden” wieder befreien konnte (Olearius 1656: 339); am nächsten Tag mußte man dann nach nur einem Werst wegen starken Regens und sturmartigem Gegenwind vor Anker gehen. Drei Kilometer in zwei Tagen - angesichts von 650 Kilometern, die man noch vor sich sah, stimmt das nicht gerade optimistisch. Das also ist die Situation, in der Olearius seine Rede hält. Allhier wurde auff dem Schiffe die obgedachte Rede / oder Deutsche Oration über vnsere auff der Ost=See außgestandene Gefahr / vnd an Hochland erlittenen Schiffbruch / gehalten / vnd Gott für die gnädige errettung gedancket; Auch das Volk zu fernern in dergleichen vnd andern Fällen / die sich bey vorstehender langwiriger gefährlichen Reise begeben möchten / fest Vertrawen auff Gott / vnd Hertzhafftigkeit angefrischet. Nach gehaltenem Gottesdienste vnd fröliche Music namen vnsere Geleitsleute vnd guten Freunde von vns Abscheid / vnd führen wieder zu rücke. (340f.) Ausdrücklich erscheint die Rede hier als Teil eines gemeinschaftlichen Zeremoniells. Inhaltlich dürfte sie eine ähnliche Botschaft übermittelt haben wie auch Flemings Carmen: schon einmal schienen die Zeichen nicht gut zu stehen, aber aufgrund der constantia, dem heroischen Mut, hat sich doch noch alles zum Guten gewendet. Aber über diese konkrete Exempel-Auslegung hinaus stiftet sie überhaupt erst Gemeinschaft, indem sie durch ihre Vergegenwärtigungsleistung alle teilhaben läßt an einer Erfahrung, die nur einige gemacht haben - allerdins die an der Spitze der internen Hierarchie stehenden. So stellt es Flemings Gedicht dar, das von hier den Bogen zum Gottorfer Hof schlägt: Das edle Holstein lacht, dass diß sein großes Werk so weit nun ist gebracht. Was Kaisern ward versagt, was Päbsten abgeschlagen, was Königen verwehrt, steht uns nun frei zu wagen. Auf, Nordwind, lege dich in unser’ Segel ein, das wolgefaßte Werk wird bald volführet sein! (V. 139-144) “Das edle Holstein lacht”: Das kann sich beziehen sich auf die Feiernden auf dem Schiff “Friedrich” ebenso wie auf dessen Namenspatron, Herzog Friedrich III. Nicht nur dieser Name stellt eine Verbindung zum Hof her, sondern die ganze Gesandtschaft ist organisiert als (verkleinertes) Abbild eines absolutistischen Fürstenhofes. In einem eigenen Kapitel und mit einer vergrößerten Drucktype (wie sie sonst nur gelegentlich den Gedichten zukommt) präsentiert der Reisebericht die vom Herzog erlassene “HoffOrdnung”, die die Gesandten ausdrücklich an die Stelle des Herzogs selbst setzt und ansonsten jedem weiteren Teilnehmer seinen Platz in einer vielfach gestuften Hierarchie zuweist, vom Marschall über den Geheimrat und Sekretarius, den Stallmeister, den Cammerherrn, Leibmedikus, weitere Hof- und Kammerherrn, Hofjunker, Truchsesse, Kammer- und sonstige Pagen bis zu den “Völkern”. Die meisten dieser Titel benennen oder beinhalten keine konkreten Funktionen und haben wenig mit dem zu tun, was ihre Träger tatsächlich zu tun hatten. Ihre Funktion ist es, eine Hierarchie zu stiften, die ein Abbild der Ordnung des Hofes selbst darstellt. Das ist auch der Evidenz und evidentia 75 Grund für die Größe der Gesandtschaft, die über 100 Personen umfaßte, wozu noch nach Bedarf einheimische Schutztruppen und Dienstboten angeworben wurden. Die wenigsten ihrer Angehörigen hatten mit der eigentlichen diplomatischen Mission zu tun, nicht einmal der Geheimrat und Sekretär Oliarius, immerhin in der Hierarchie an vierter Stelle, war bei den entscheidenden Verhandlungen dabei, und er scheint überhaupt nur sehr vage in die politisch-ökonomischen Pläne eingeweiht gewesen zu sein. Fleming war das gar nicht. Ihre vorrangige Funktion besteht darin, zu repräsentieren, nämlich einen Mikrokosmos zu bilden, ein deutsches Fürstentum im Kleinen. So reist also tatsächlich Holstein nach Persien. Das spiegelt auch Olearius’ gebräuchlichste Bezeichnung für diesen Kosmos: er spricht von Comitat, was im klassischen Latein eine Reisegesellschaft bezeichnet, später aber mehr die Bedeutung von ‘Hofstaat’ oder einfach ‘Hof’ annimmt. Die Gesandtschaft ist tatsächlich beides: ein Hof (oder zumindest dessen verkleinertes Abbild) auf Reisen. Innerhalb dieses Kosmos kommt Ereignissen wie Olearius’ Rede oder den Gedichten Flemings nicht nur eine referenzielle Funktion zu, also aufzuzeichnen, was geschehen ist, sondern auch eine performative, fast rituelle Funktion der Gemeinschaftsbildung. Sie demonstrieren damit aber auch dass eine solche Funktion nötig war, das heißt, sie zeugen von den Spannungen innerhalb des Comitats. Der zentrale Antagonismus ist der Gesandtschaft dabei bereits an ihrer Spitze implementiert. Sie wird nämlich von zwei Gesandten geführt, ohne dass deren Hierarchie und spezifische Kompetenzen geklärt wären - für das Abbild eines absolutistischen Hofs eine durchaus nicht selbstverständliche Konstellation. Politisch, aber auch symbolisch, war sie nicht umgehbar, da der Hamburger Kaufmann Brüggemann, der eigentliche Initiator und ökonomische Kopf des Unternehmens, nicht nur für den Gottorfer Hof, sondern für die höfische Welt überhaupt ein Außenseiter war, dem man daher einen Repräsenten dieser Welt an die Seite stellte, den Juristen Crusius (eigentlich Kruse), in Gottorf eine Art Hofjustiziar und damit kalkulierbarer Bestandteil der Hierarchie. Zugleich hatte man mit dieser Konstellation jedoch einen - wiederum symbolischen und politischen - Konfliktherd geschaffen, an dessen Repräsentation sich Olearius’ Reisebericht abarbeitet. Unter anderm geschieht das mit der Aufnahme von Flemings Carmen, das mehr von dieser Realität enthält, als es auf den ersten Blick scheint. So schafft das Wechselspiel von Neptun, dem Gott des Meeres, und Eolus, dem Gott des Windes, in dem Fleming den unglücklichen Beginn der Reise allegoriesiert, nicht nur einen allgemein mythologischen Rahmen, sondern es identifiziert die beiden Götter als zwei antagonistische Kräfte. 4 Eben ein solcher Antagonismus hatte nach Olearius - ‘sachlicher’ - Darstellung das erste Unglück noch im Hafen von Travemünde ausgelöst, nämlich eine unerwartete und auch für erfahrene Schiffer überraschende Gegenbewegung von ablandigem Wind und in den Hafen drückender Meeresströmung. Das mythologische Bild erweist sich also einerseits als tendenziell realistische Überformung nautischer Realität, es erhöht aber zugleich die Zeichenhaftigkeit des Naturgeschehens. Eine stärkere Ungenauigkeit nimmt Fleming in seiner Darstellung des eigentlichen Unglücks in Kauf: “Zwey Schiffe kunten sich zu weichen nicht vergleichen”. Bei Olearius ist von insgesamt drei Schiffen die Rede, wobei aber nur eins in Bewegung ist, also aktiv zur Kollision beiträgt, nämlich das der Gesandtschaft. Flemings Formulierung dagegen, die den Eindruck erweckt, es würden zwei in Fahrt befindliche, und obendrein zu selbst handelnden Subjekten anthropomorphisierte Schiffe kollidieren, läßt sich sehr viel besser auf den Antagonismus der Gesandten - und der durch sie repräsentierten Fraktionen der Gesandtschaft - beziehen. Von einem der beiden wird Olearius gegen Ende seines Berichts (die nautische Metaphorik aufnehmend) sagen, dass Wolfgang Struck 76 Abb. 3 “ihm doch der compas sehr verrücket wurde” (Olearius 1656: 763). Das toposartige Aufrufen von Naturkräften und mythologischen Mächten läßt es also durchaus zu, hinter der geschickten Variation solcher Topiken einen sehr realen Konflikt auszumachen. Auch Olearius präsentiert ein solches (poetisch-emblematisches) Bild, das durch eine eigene Illustration unterstützt wird (vgl. Abb. 3). Die auf die Insel geretteten Schiffbrüchigen hatten sich jeweils unter Führung eines der Gesandten auf zwei kleine Fischerboote verteilt und zum Festland übersetzen lassen. Erst dabei war es, laut Olearius, zur gefährlichsten Situation der ganzen Fahrt gekommen. Ein wie aus dem Nichts auftauchender Wirbelsturm hatte in dreimaligem Anlauf das offene Boot, auf dem sich Brüggemann und Olearius befanden, nahezu zum Kentern gebracht, danach plagte noch ein heftiger Hagelschauer die Besatzung. Währenddessen fuhr das zweite, eigentlich gebrechlichere Boot mit Crusius an Bord wenige hundert Meter entfernt bei mildem Wind und Sonnenschein friedlich dem Ziel entgegen. Dass Fleming sich dieses sinnträchtige Naturereignis - wenn es denn eins war - hat entgehen lassen, kann man wohl vor allem damit erklären, dass es zu eindeutig war, jedenfalls 1636, als Brüggemann noch unbestrittener und auch von Crusius nicht wirksam ausbalancierter Leiter des Unternehmens war. Als Olearius ein Jahrzehnt später seinen Reisebericht veröffentlicht, hat sich das geändert. Brüggemann ist inzwischen als Verantwortlicher für ein ebenso klägliches wie kostspieliges Debakel, in dem das Holsteiner Abenteuer sein Ende gefunden hatte, vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Die retrospektive Bestätigung dieses fürstlichen Urteils kann also nunmehr gar nicht deutlich genug ausfallen. Olearius bedient sich dazu einer zunehmenden Dämonisierung des ‘aus dem Kompaß laufenden’ Kaufmanns. Damit aber hat er ein fast zu nahe- Evidenz und evidentia 77 liegendes Schema gefunden, sich des schwer greifbaren Außenseiters zu entledigen, der es an die Spitze des comitat geschafft hatte, aus Gründen, die Olearius nicht recht einsehbar waren. Indem er aber - mit Hilfe von Flemings Carmen - noch einmal hinter den letzten Stand zurückgeht, wird auch die fatale Finalität dieser Geschichte in Frage gestellt. Literaturangaben Primärliteratur Fleming, Paul 1646: Teütsche Poemata, hg. v. Adam Olearius, Lübeck: Jauch. Olearius, Adam 1647: Offt begehrte Beschreibung der Newen Orientalischen Rejse / So durch Gelegenheit einer Holsteinischen Legation an den König in Persien geschehen […], Schleswig: zur Glocken. Olearius, Adam 1656/ 1971: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandtschaft an den Russischen Zaar vnd König in Persien geschehen […] Welche Zum andern mahl heraus gibt Adam Olearius Ascanius, der Fürstlichen Regierenden Herrschafft zu Schleßwig Holstein Bibliothecarius vnd HoffMathematicus, Schleswig: Holwein 1656 [Reprint: Tübingen: Niemeyer 1971, Dieter Lohmeier (ed.)]. Olearius, Adam 1666: Gottorffische Kunst-Cammer / Worinnen Allerhand ungemeine Sachen / So theils die Natur / theils künstliche Hände hervor gebracht und bereitet. Vor diesem Aus allen vier Theilen der Welt zusammen getragen. Jetzo beschrieben / Durch Adam Olearium, Bibliothecarium und Antiquarium auff der Fürstl. Residentz Gottorff, Schleswig: Holwein 1666. Olearius, Adam 1674: Gottorffische / Kunst-Kammern / Worinnen / Allerhand ungemeine Sachen / So / theils die Natur / theils künstliche Hände / hervorgebracht und bereitet / Vor diesem / Aus allen vier Theilen der Welt / zusammen getragen / Und / Vor einigen / Jahren beschrieben / Auch mitbehörigen / Kupfern gezieret / Durch / Adam Olearium, Weil Bibliothecarium / und Antiquarium auf der kurfürstl. / Residenz Gottorf / Anjetzo aber übersehen und zum / andern mal gedruckt / Auff Gottfried Schulzens Kosten, [Schleswig] 1674. Sekundärliteratur Brancaforte, Elio Christoph 2004: Visions of Persia. Mapping the Travels of Adam Olearius, Boston/ Ms.: Harvard University Press. Kemper, Hans-Georg 2000: “Denkt, dass in der Barbarei / Alles nicht barbarisch sei! ” Zur ‘Muscowitischen vnd persischen Reise’ von Adam Olearius und Paul Fleming, in: Ertzdorff, Xenja von (ed.): Beschreibung der Welt, Amsterdam/ Atlanta: rodopi (= Chloe. Beihefte zum Daphnis, 31): 315-344. Lohmeier, Dieter 1971: “Nachwort”, in: Adam Olearius: Vermehrte newe Beschreibung der muscowitischen vnd persischen Reyse, Dieter Lohmeier (ed.) [Nachdr. d. Ausg. Schleswig 1656], Tübingen: Niemeyer. Strack, Thomas 1994: Exotische Erfahrung und Intersubjektivität. Reiseberichte im 17. und 18. Jahrhundert. Genregeschichtliche Untersuchung zu Adam Olearius - Hans Egede - Gerog Forster, Paderborn: Igel. Herrmann Wiegand: “Hodoeporicon”, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin u.a.: de Gruyter 2000. Anmerkungen 1 Zur allgemeinen Charakteristik und zum historischen Hintergrund von Olearius’ Reisebericht vgl. das Nachwort von Dieter Lohmeier in Olearius (1971) sowie Strack (1994); zu den Gedichten Paul Flemings außerdem: Kemper (2000). Eine grundlegende Studie zu den Illustrationen bietet Brancaforte (2004). 2 Vgl. Wiegand (2000). 3 Vgl. Fleming (1646). 4 Vgl. zu Eolus und Neptun auch das Sonett “Wie Eol, was / Neptun? […]”, Olearius (1656: 365). Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Dieser Band ist der zehnte in der Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg hervorgegangen ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, französischen, englischen und amerikanischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 19. bis hin zum 20. Jahrhundert. Die Heterogenität der Autoren und Werke ist gewollt, ermöglicht sie doch den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg. Dabei finden auch Beispiele der Populärliteratur Berücksichtigung und sind immer wieder auch neueste Texte vertreten, für die ein kanonischer Status nicht ohne weiteres beansprucht werden kann, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um die kulturelle Bedeutung von Literatur beitragen können. Auch in einer Zeit verschärfter Kanondebatten und des Aufstiegs anderer Medien stellt sich die Frage nach der ästhetischen, historischen und gesellschaftlichen Relevanz von Texten, die ganz offensichtlich kulturprägende Wirkungen entfalten und der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Hans Vilmar Geppert / Hubert Zapf (Hg.) Große Werke der Literatur X 2007, 255 Seiten €[D] 39,90/ Sfr 63,00 ISBN 978-3-7720-8240-5 Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten: Versuch einer historischen Rekonstruktion 1 Madleen Podewski Trivialliteratur, so eine verbreitete Ansicht der Forschung, repetiert seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert ein nur begrenztes Spektrum an Schemata und Formen, um damit beim Leser immer wieder dieselben Effekte zu erzeugen. Mit ihr hat sich, so scheint es, ein Literaturkomplex etabliert, der gegenüber literaturgeschichtlichen und anderweitigen Entwicklungen indifferent geblieben ist und dabei einen schnell identifizierbaren Erzählstil ausgebildet hat. Am Beispiel von Hans von Kahlenbergs Roman Ahasvera, der 1910 von Verlust und Wiedergewinn jüdischer Identität erzählt, sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie der Trivialliteratur ihr historischer Index zurückgewonnen werden kann, indem sie komplex in einem ausdifferenzierten Gesellschafts- und Literatursystem vernetzt wird. Konsequenz ist eine (begrenzte) Pluralisierung historisch positionierter trivialer Erzählstile. If one agrees with mainstream research, popular literature, from its beginning in the 18th century, repeats a very limited spectrum of patterns and forms, producing every time the same reader-effects. At first sight one observes a literary genre indifferent to the trends of literary history or other developments, with a typical style of narrating, quickly and easily identified. This paper makes some suggestions as to how popular literature could be re-embedded in historical contexts by connecting it up to complexly differentiated social and literary systems. The paper will use the example of Hans von Kahlenberg’s novel Ahasvera, which tells the story of Jewish identity lost and than regained. From this examination results a (limited) pluralization of historically marked popular styles of narrating. 1. Historische Komplexität ‘trivialer’ 2 Erzählstile - methodische Vorbemerkungen Trivial-, Unterhaltungs-, Populär- oder Massenliteratur ist, so scheint es, leicht zu identifizieren: Sie erzählt ihre immer gleichen Geschichten auf eine typische und dabei wiederum immer gleiche Art und Weise. Die germanistische Forschung hat - neben Formeln, Schemata und Genres, die die Strukturen der histoire bestimmen (z.B. Zimmermann 1982, Skreb/ Baur 1984, zuletzt Nottelmann 2002) - solche Erzählverfahren auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Analyseverfahren als typisch triviale Erzählstile zu charakterisieren versucht: etwa als Dominanz von Auktorialität und Deskriptivität (Dumont 1986: 1918), als Adjektivredundanz (Waldmann 1977: 29), als Kumulation bestimmter Wortarten (Waldmann 1977: 30) oder als Verknappung der Syntax (Geyer-Ryan 1983: 191). 3 All diese Versuche sind umstritten geblieben, sowohl was einzelne Aspekte betrifft (etwa Donalies 1995) als auch grundsätzlich die Suche nach textspezifischen Kriterien überhaupt (etwa Barsch 1991). Eine der Alternativen zu solchen textbasierten Klassifikationen, die zum Teil auch normativ K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Madleen Podewski 80 ästhetisch werten, stützt sich auf sozialhistorische Kontexte: Definitionen hängen von den “dominierenden Geschmacksträger[n]” (Kreuzer 1967: 185) oder von (historisch variablen) Rezipientenurteilen ab, für die sich dann die empirische Leserforschung interessiert (Barsch 1991). Andererseits plausibilisiert ein Großteil der Trivialliteraturforschung Erzählverfahren im direkten Rekurs auf ihre Wirkungen beim Rezipienten: Schematisierung, Figurengestaltung oder Adjektivwahl sind auf Bedürfnisse von Massenleserschaften ausgerichtet - auf leichte Erfassbarkeit, Unterhaltung, Bestätigung eigener Norm- und Wertvorstellungen oder auf die Kompensation verschiedenster Defizite. Solche Funktionszusammenhänge gelten dabei für Zeiträume ausgesprochen langer Dauer, in den meisten Fällen vom Beginn der Entstehung eines eigenständigen Unterhaltungsliteratursektors im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein: So geht es in einer jüngeren Einführung in die Textsorte etwa um die […] Erarbeitung der für die vorwiegend um Unterhaltungseffekte bemühten Texte typischen Kommunikationsstrategien und ihres zu beobachtenden Zusammenspiels in einem die Tiefenstruktur der Trivial- und Unterhaltungsliteratur bildenden Mechanismus, der seine Gültigkeit in allen ihren Genres und durch historische Veränderungen hindurch nie verliert. (Nusser 2000: 16). Eine solche Perspektive hat missliche Konsequenzen: Ganz ähnlich wie bei den älteren ästhetisch normativen Klassifikationen zeichnet sich hier - trotz der Berücksichtigung pragmatischer Kommunikationszusammenhänge - eine individual- und sozialpsychologisch fundierte Substantialisierung der Kriterien ab, die eine historische Binnendifferenzierung ‘trivialer’ Erzählverfahren erschwert: ‘Trivialliteratur’ erzählt immer wieder das Gleiche auf immer die gleiche Weise, um seit gut 250 Jahren immer gleiche Leserbedürfnisse zu erfüllen. Im Folgenden sollen Vorschläge unterbreitet werden, wie der ‘Trivialliteratur’ ihr historischer Index zurückgewonnen werden kann. Unabhängig von vermuteten Wirkungseffekten geht es dabei um die Organisationslogik der Texte und ihre Positionierung in einem konkreten literarischen Feld und damit um die Beobachtung der sich aus ihrer spezifischen Textualität ergebenden Funktion und Position im Literatursystem einer historischen Konstellation. Erst von hier aus könnte ein historisches Korpus ‘Trivialliteratur’ gebildet werden, das sich wegen spezifischer Textbzw. Erzähleigenschaften von gleichzeitig präsenten anderen Textkorpora unterscheidet. Dafür sollen einige der Prämissen geltend gemacht werden, die im Umkreis des Projekts einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte der Literatur (Ort 1992), und zwar mit Bezug auf eine Formgeschichte entwickelt worden sind. Sie laufen bekanntermaßen darauf hinaus, das historische Apriori literarischer Texte nicht als kausalen Einfluss- oder Widerspiegelungseffekt zu fassen, sondern in der Organisationslogik der Texte selbst aufzusuchen. Ins Zentrum rückt dabei “die Untersuchung des historischen Ortes […], an dem die Äußerungen in ihrer Figuration entstehen […], gekoppelt mit den Voraussetzungen (etwa medialer Art), die diese Form der Äußerung möglich gemacht haben” (Fohrmann 2000: 112, Hervorhebung im Original). Vor diesem Hintergrund hat man das Konzept einer “Komplexität als historischer Textur” entwickelt (Frank/ Scherer 2007), in dem das Problemsyndrom ‘Literatur und Wissen’ unmittelbar verknüpft ist mit literatursysteminternen Faktoren, wo Literatur also einerseits nicht als bloßes Dokument außerliterarischer Wissensmengen, andererseits aber auch nicht als wissenslose ästhetische Form aufgefaßt wird. Konsequenz einer solchen Perspektive sind konstellative Lektüren, in denen Literatur in einem historischen Feld einer multifaktoriell ausgerichteten Beobachtung unterzogen wird. Das Komplexitätskonzept ist dabei systemtheoretisch inspiriert: “Die komplexe literarische Form - autonom und struktu- Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 81 rell gekoppelt an das Gesamt ihrer Umwelten - reagiert auf den Differenzierungsstand dieser Umwelten ebenso wie der Formgeschichte selbst” (Frank/ Scherer 2006). Komplexität ist auf diese Weise nicht ausschließlich an literarische Formen der Selbstreferenz, an Artistik, Hermetik oder innovative Strukturen gebunden. Für die hier zu unternehmende literarhistorische Positionierung von ‘Trivialliteratur’ ist dieser Ansatz nun aus mehreren Gründen interessant: Zunächst betreibt dieser Literaturkomplex für einen Großteil der Forschung offensichtliche und rigide Komplexitätsreduktion. Mehr oder weniger explizierte Bezugsgröße ist dabei eine komplexe moderne Welt, der sich ‘triviale’ Texte gewissermaßen nicht stellen, sondern die sie auf ihre einfachen Erzählmuster reduzieren - ein Befund, an den seit den siebziger Jahren forciert auch ideologiekritische Einschätzungen gekoppelt werden (etwa Bürger 1973). Literarische (hier: reduzierte) Komplexität ist dabei relational im nachträglich-reaktiven Bezug auf ein soziales “Außen” bestimmt, in der Manier einer reduktiven Sozialgeschichte der Literatur also. Im Gegensatz dazu ließe sich das Frank/ Scherersche Komplexitätsmodell dahingehend ausformulieren, dass literarische Texte prinzipiell historisch komplex sind, wenn sie in historisch komplexen, funktional ausdifferenzierten Gesellschafts- und Literatursystemen entstehen. Sie sind immer eingespannt in ein Netz ausdifferenzierter Literatur- und anderer Systeme - auch in den als realitätsfern kritisierten Traum- und Scheinwelten der ‘Trivialliteratur’, deren Anschlussverweigerungen (wenn sich denn solche bei genauerer Lektüre herausstellen) als spezifische Offerte in einem spezifischen historischen Kontext zu analysieren sind. ,Trivialliteratur’ auf diese Weise als historisch komplexe Textgruppe zu betrachten, bedeutet nicht, ihr in rehabilitierender Absicht Bedeutungsfülle oder Modernität dort nachzuweisen, wo sie bisher übersehen wurde - obwohl sich auch das in Einzelfällen durchaus lohnen kann, wie etwa Nottelmann für Vicki Baums Romane gezeigt hat (Nottelmann 2002). Hier soll es um etwas anderes gehen: Das positionslogisch akzentuierte Komplexitätskonzept interessiert sich nicht für den Grad (mehr oder weniger komplex), sondern für die Art und Weise der Involviertheit von Texten in historische Konstellationen. Das Spektrum, das hier etwa von formalen Innovationen und Traditionalismen über thematische Integration von Wissensbeständen bis hin zu diversen Anschlussverweigerungen möglich ist, könnte dann die Basis liefern für die Unterscheidung zwischen verschiedenen Literaturen und damit auch für eine textfundierte Charakteristik von ‘trivialer’ Literatur. 2. Zum Beispiel: Hans von Kahlenberg, Ahasvera (1910) Im Folgenden soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie sich ‘triviale’ Erzählverfahren als solche historischen Formen beschreiben lassen, und zwar an Hans von Kahlenbergs (d.i. Helene Keßler) 1910 erschienenem deutsch-jüdischen Roman Ahasvera. Er wird in den meisten der wichtigen deutsch-jüdischen Zeitschriften angezeigt und sehr positiv besprochen; die Figuren werden etwa in Ost und West als “Destillate und Kulminationen des jüdischen Volkes” gelobt (pa. 1911: 1104). Der Text zirkuliert damit einerseits in einem Segment der deutsch-jüdischen Literatur, das funktional auf bestimmte Bedürfnisse seiner Leserschaft ausgerichtet ist und das mit Zeitschriften und Leihbibliotheken als bevorzugter Ort für ‘Trivialliteratur’ gilt. Andererseits lässt sich am Roman ein deskriptiv-veräußerlichter Erzählstil beobachten, der der Forschung als typisch ‘trivial’ und damit als eine der erzählerischen Invarianten dieses Literaturkomplexes gilt. 4 Zudem lässt sich eine gewisse Schematizität vermuten, so dass der Text vorläufig als ‘trivial’ angenommen werden kann. 5 Madleen Podewski 82 Erzählt wird die Geschichte einer Mischehe zwischen dem verarmten preußischen Adligen Philipp von Rechtern und der reichen jüdischen Erbin Adeline Goldstein, aus der zwei Söhne hervorgehen, die die Differenz des Elternpaares nicht tilgen, sondern verstärkend reproduzieren: der Erstgeborene Ulrich entwickelt sich zu einem typischen Adligen mit Herrenambitionen, sein Bruder Wolfgang dagegen zeigt alle Merkmale, die der Text mit dem ‘Jüdischen’ korreliert: Nachdenklichkeit, Weichheit, Unruhe und Müdigkeit, schließlich wird er wegen einer antimilitaristischen Schrift zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und deshalb von Vater und Bruder aus der Familie verstoßen. Seine Mutter aber verlässt am Ende des Romans ihren Mann, um sich zu ihrem Sohn und damit auch zu ihrem Volk zu bekennen. Gegen diesen Selbstfindungsprozess ist die Verfallsgeschichte der adeligen Geschlechter gesetzt: Philipp wird zum physisch derangierten Trinker und Ehebrecher, seine gleichfalls adelige Geliebte verliert Hof und Vermögen und wird zur liebes- und lebensfeindlichen Zynikerin. Mit Mischehe und Rekonversion verhandelt der Text zentrale Probleme, die die zeitgenössischen Debatten um die jüdische Differenz und deren Ort sowohl innerhalb der jüdischen als auch innerhalb der nicht-jüdischen Gesellschaft bestimmen. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein, weil die Erzählstrategien des Romans in diesem Kontext eine spezifische Funktion übernehmen. Zunächst aber ist zu klären, mit welchem Set an erzählerischen Mitteln sich der Text zwischen einer Doppelbeanspruchung bewegt: einerseits jüdische Identität mobil bis zur Taufe zu konzipieren, sie aber gleichzeitig und andererseits für eine Rückkehr identifizierbar zu halten. Zunächst geschieht das im Rahmen des Figurenarsenals und der Figurengestaltung. Die Konstellation der beiden aus der deutsch-jüdischen Ehe hervorgegangenen gegensätzlichen Söhne zeigt, dass die Unterschiede der Eltern nicht in den Nachkommenschaften verwischt oder hybridisiert werden, sondern sich statt dessen sogar verstärken. Die Mischehe wird damit nicht zum Ort der Verschmelzung, sondern zum Generator von Differenz. Ihr entspricht im Text ein zweiteiliges Raster, mit dem zwischen einem ‘jüdischen’ und einem ‘adeligen’ Figurentypus unterschieden wird. Dieses Raster konstituiert sich hauptsächlich in den Beschreibungen physiognomischer oder sonstiger körperlicher Merkmale. Sie werden zu einem Teil auktorial geliefert: So zeigt gleich zu Anfang des Textes Graf Philipp von Rechtern mit seiner “scharfgeschnittenen Adlernase zu hellem Blond des Schnurrbarts und Haares” die “unverkennbare und sehr reine Bildungsform des norddeutschen Aristokraten” (Kahlenberg 1910: 5), Adeline Goldstein dagegen ist “sehr brünett”, zart und dunkel, ihre “einzige Schönheit waren die großen, sanften und traurigen, braunen Augen” (Kahlenberg 1910: 6). Der erste gemeinsame Sohn aus dieser Ehe ist “schön, blond und schlank wie ein junger Gott”, er ist der “deutsche Idealjüngling, blauäugig, blond und hochgewachsen, tadellos von Leib” (Kahlenberg 1910: 232), Wolfgang dagegen ist das “Judenkind” mit dem dunklen Haar und den dunklen Augen der Mutter, muss Beinschienen tragen, ist nur klein und kümmerlich gewachsen und leidet zudem unter einer Verkrümmung der Wirbelsäule (Kahlenberg 1910: 152). Zum anderen Teil werden die Konzepte ‘deutsch-adeliger’ und ‘jüdischer’ Körpermerkmale auch von den Figuren selbst bestätigt, etwa wenn Wolfgang die Differenzen zwischen sich selbst und seinem Bruder markiert: “Ich weiß, daß sie [die Juden, M.P.] häßlich und arm sind, sie haben keine blonden Haare und blauen Augen wie Utz, so gerade können sie nicht gehen und sind nicht so stark” (Kahlenberg 1910: 167f.). Von der Gegenseite greift Laura von Rechtern, eine Kusine Philipps, diese Korrelation gleichfalls auf: “Sie sah alt und spitz unter ihnen [den Mitgliedern der adeligen Familie Philipps, M.P.] aus, die große Nase trat dann in auffälliger Weise hervor. ‘Mein Gott, wie sie jüdisch aussieht! ’ dachte Laura Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 83 Rechtern” (Kahlenberg 1910: 55). Das duale Körperschema wird in zahlreichen Dialogpassagen um kulturelle Semantiken erweitert. So mehrfach zwischen Adeline und Philipp, die die Differenzen zwischen Adel und Judentum auszuloten versuchen, oder zwischen Adeline und Laura von Rechtern. Die ältlich aussehende Jüdin mit der spitzen langen Nase und die walkürenhaft deutsche blonde Jungfrau messen den Gegensatz zwischen christlich-adeliger, traditionsbewusster Sesshaftigkeit und jüdischer Ruhelosigkeit an einer Stelle etwa folgendermaßen aus: “Warum drängen sie sich überhaupt hier bei uns ein, wo wir sie nicht wollen? Sie haben unsere Äcker nicht bebaut, unsere Bäume nicht gepflanzt, unsere Schlachten nicht geschlagen! […] Selbst ruhelos und landflüchtig, machen sie uns alle zu Wandernden, Irrenden und Obdachlosen. Es ist ein verfluchtes Volk. Überall hin tragen sie ihren Fluch.” Adeline hatte sich müde in den hohen, harten Lehnstuhl zurückgesetzt. “Es ist so, wie du sagst,” antwortete sie matt. “Wir sind verflucht. Wir schleppen einen Fluch mit und bringen Fluch. Was für ein Fluch ist es? Welcher Schuld gilt er? ” (Kahlenberg 1910: 60f.) Wahre jüdische Identität lässt sich in diesem Text jedenfalls an den Körpern erkennen, darüber sind sich auch die erzählten Figuren einig. Sie ist dabei nicht an die Herkunft, sondern - wie Wolfgang und am Ende auch Adeline zeigen - an das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Schicksalsgemeinschaft gebunden. Juden, die diese Bindung aufgegeben haben, zeigen deshalb auch nicht die einschlägigen physiognomischen Merkmale. Das gilt etwa für Adelines Bruder Robert, der als Berliner Lebemann mit durchweg aristokratischen Ambitionen und Manieren solcher Verteilungslogik des Textes entsprechend blond und blauäugig ist. Flankiert wird diese optische Identifizierbarkeit von verschiedenen Versuchen der wechselseitigen Annäherung bis hin zur Differenztilgung. Das geschieht in den zahlreichen Dialogpassagen, die den Text hauptsächlich strukturieren. So etwa in Wolfgangs Rede auf einer Antisemitenversammlung, in der er von seinen Zuhörern fordert, sich der “jüdischen Art” zum eigenen Vorteil anzugleichen: “Wenn die Juden heut im wirtschaftlichen Kampf die Erfolgreicheren sind, wer hindert Sie, es ihnen gleichzutun? ” (Kahlenberg 1910: 266f.) Laura von Rechtern betont in manchen Passagen die Gemeinschaft mit Adeline: “Du gehörst ja zu uns jetzt. Du bist eine Christin” (Kahlenberg 1910: 61); Adeline äußert sich ähnlich: “Du bist eine Frau wie ich und ein Mensch wie ich” (Kahlenberg 1910: 201); Philipp vergleicht Adeline am Ende mit seiner Mutter, ebenso wie die alte Zofe: “Sie sind eine Heilige! Eine heilige Frau wie meine Gräfin! ” (Kahlenberg 1910: 307) Solche Konvergenzen deuten allerdings nicht auf einen kontinuierlichen, von aufklärenden Gesprächen getragenen Annäherungsprozess, sie gelten nur punktuell und verweisen vor allem für die adelig-christliche Seite auf Unsicherheiten im Umgang mit der jüdischen Differenz, die teils in der Religion, teils in physisch-charakterlichen Eigenschaften gesehen wird und insofern im Text manchmal tilgbar, manchmal unhintergehbar erscheint. Die Hauptfigur Adeline verlässt nach Taufe und christlicher Ehe ihren Herkunftsraum. Im christlich-adeligen Kontext auf Nadlitz wird sie - trotz weitestgehender Anpassung an Äußerlichkeiten und Lebensgewohnheiten - nicht heimisch, und ihre Position auf dem Rittergut bleibt für sie selbst durchweg fraglich: Adeline saß wie eine Fremde zwischen den Verwandten, und es handelte sich doch um ihres Sohnes, des Erben, Besitz! War wirklich diese Heimat ein so kostbarer Besitz? […] War sie als Herrin und Mutter in Nadlitz jetzt eine Berechtigte geworden? (Kahlenberg 1910: 116f.) Dieses Fremdheitsgefühl ist aber nicht die Folge der Grenzüberschreitung, es gilt auch für ihr Verhältnis zum Elternhaus, und gegen Ende des Romans bezeichnet sie sich selbst als Madleen Podewski 84 heimatlos. Solche Ortlosigkeit ist im kulturellen Wissen der Zeit - und nicht nur in antisemitischen Diskursen - als typisch jüdische Disposition konnotiert. Der Text greift dieses Konzept auf und bestätigt es einerseits in zahlreichen Figurenreden, andererseits im Titel und im Handlungsverlauf: Am Ende bekennt sich Adeline zu ihrem “Stamm” und zu “Ahasvers Weg”. 6 Diese Korrelation von grundsätzlicher Heimatlosigkeit und jüdischer Identität erlaubt es, die Grenzüberschreitung zum Christentum nicht als prinzipiellen Bruch, sondern als Station einer Rekonversionsgeschichte zu konzipieren: Das Verlassen des Judentums führt bei Adeline wieder zum Judentum zurück, weil der Impuls dazu - neben der Ruhelosigkeit die vielfach betonte “Müdigkeit” - selbst schon ‘jüdisch’ ist. Adeline ist aber nicht nur als Grenzüberschreitungsfigur, sondern in einem noch weiter gehenden Sinne als Krisenfigur entworfen. In einem Ensemble, in dem jede Figur eindeutig eine bestimmte ideologische Position vertritt - etwa Anti- oder Philosemitismus, Rassenbiologie, Vitalismus, Feminismus, christlich-adeliger Traditionalismus, Religiosität - ist sie die einzige, die zweifelt. Das zeigt sich daran, dass sie die durchweg assertorischen Sätze ihrer zahlreichen Gesprächspartner geradezu repetitiv in Frage stellt. Das gilt nicht nur mit Bezug auf die Auseinandersetzungen um Christentum und Adel, sondern ebenso für Bereiche, mit denen der Text zeitgenössische Debatten über soziale und kulturelle Phänomene aufgreift: etwa für frauenemanzipatorische Positionen, über die sie mit ihrer feministisch engagierten Schwester Hertha diskutiert oder für ihre Gespräche mit Daisy von Hohenlaun, einer amerikanischen Jüdin, die in der europäischen Tradition des Adels eine amüsante ästhetische Attrappe sieht und zugleich nach ekstatischen, lebensideologisch inspirierten Formen von Authentizität sucht. Der Zweifel scheint sich dabei nicht nur selektiv auf einzelne Ideologien, sondern auf Positioniertheit überhaupt zu richten und für Adeline in eine grundsätzliche Positionslosigkeit zu führen. Gleichwohl ist Adeline aber auch die einzige Figur, die eine vom Text positiv gewertete Entwicklung zeigt - sie bekennt sich am Ende zu ihrer jüdischen Identität. Diese letztendliche Integration, der Übergang von Zweifel und Distanz zu Gewissheit, ist aber nicht über eine ausgearbeitete Figurenpsychologie motiviert. Statt dessen lassen sich Regularitäten in der Verteilung von Formen der Figurenrede und der Fokalisierung beobachten. Die oben erwähnten Debatten um zeitgenössische Wissenskomplexe sind durchweg in direkter Figurenrede gestaltet, ebenso die zahlreichen Gespräche zwischen dem ‘christlich-adeligen’ und dem ‘jüdischen’ Teil der Familie von Rechtern, in denen einerseits Distanzen ausgemessen, andererseits Annäherungen versucht werden. In diesem Rahmen sind Adelines Zweifel als mündliche Rede konzipiert - was die Positionen ihrer Gesprächspartner betrifft, bevorzugt, was sie selbst betrifft, ausschließlich. So etwa in einer Passage, in der sich Adelines Unsicherheit durch Provokation Lauras am deutlichsten zu erkennen gibt: “‘Und du? Wer bist du überhaupt? ’ ‘Ich versuche es zu erfahren’, sagte Adeline demütig. ‘Ich mag falsch gehen, ich gehe! ’” (Kahlenberg 1910: 121) Diese Dominanz des Dialogischen wird bei Adeline mit Gedankenrede und personaler Perspektivierung durch Innensichten ergänzt. Hier wird allerdings ausnahmslos ein Differenzbewusstsein markiert, das auf die jüdische Identität verweist, zu der sie sich erst am Ende des Romans dezidiert und explizit bekennt. Das gilt zum Beispiel für die Verwunderung über Philipps Lebensauffassungen, die bei ihr “Müdigkeit” hervorrufen - eine Disposition, deren Affinität zu jüdischer Identität sich im Verlauf des Textes herausstellt: “Wie er mit der Vergangenheit zusammenhängt, dachte Adeline. […] Dieser Umstand erregte ihr Staunen, ließ sie die eigene Müdigkeit doppelt spüren” (Kahlenberg 1910: 43). Oder es zeigt sich im massiven Fremdheitsgefühl ihrem ersten Sohn Ulrich gegenüber: “Adeline beobachtete Ulrichs kalte, gesellige Offenheit, die Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 85 ihr fremd und abstoßend blieb. Was von ihr wohnte in ihm? Welchem Urgrund entsproßte solche Art? ” (Kahlenberg 1910: 211) 3.1 ‘Trivialer’ discours: Deskriptivität und Äußerlichkeit Will man einen Begriff der Trivialliteraturforschung hier noch einmal aufgreifen, so zeigt der Roman sehr deutlich eine Tendenz zur “Veräußerlichung”: In der Figurengestaltung dominiert eine Deskriptivität, die sich auf körperlich-physiognomische Merkmale konzentriert und dabei ein duales Beschreibungsraster entwickelt, das unverkennbar zeitgenössische Klischeevorstellungen von blonden Christen und dunkeläugigen Juden aufgreift. Die Handlung verläuft fast ausschließlich über die Wiedergabe direkter Reden, auf Motivationen durch Figurenpsychologie wird weitestgehend verzichtet. Diese “Veräußerlichungs”-Verfahren sind aber textintern funktionalisiert, wie die deutlichen Verteilungsregeln zeigen: was die Figurengestaltung betrifft, in einer Korrelation von Physis und mental-ideologischem Habitus, was die Figurenperspektiven betrifft, in einer Korrelation von Krisenartikulation mit Wiedergabe direkter Rede und Innensichten mit Bestätigungsfiguren. Diese Art der Funktionalisierung lässt sich problemgeschichtlich positionieren und zwar mit Bezug auf die bereits angedeuteten Identitätskrisen des deutschen Judentums (1). Die discours-Verfahren als solche besetzen wiederum eine spezifische Position innerhalb der Formoptionen im literarischen Feld um 1910, der mit der gängigen Entgegensetzung von ‘trivial’ und ‘nicht trivial’ nicht beizukommen ist (2). 3.1.1 Positionsebene I: deutsch-jüdische Identitätskrisen um 1900 Ein Großteil der deutschen Juden ist im Kaiserreich säkularisiert und assimiliert - der Prozess der Emanzipation, der mit dem Ausgang aus dem Ghetto im 18. Jahrhundert begonnen hatte, scheint abgeschlossen. An seinem Ende taucht nun aber auch die Möglichkeit eines gänzlichen Verschwindens des Judentums auf, wie sie etwa Arthur Ruppin in seiner sozialwissenschaftlichen Studie Die Juden der Gegenwart 1904 mit statistischem Belegmaterial erhärtet (Ruppin 1904). Diese Diagnose trifft die weit verbreitete Verunsicherung über Wesen und Zukunft des Judentums im Kern. Vielfältige Versuche zu einer Neuorientierung sind die Folge, und weil die bisher bewährte Konfessionalisierung und Privatisierung des Judentums aus verschiedenen Gründen an Überzeugungskraft verloren haben, sucht man nach anderen Wegen, jüdische Identität zu begründen oder erkennbar zu halten - ohne dabei die Errungenschaften von Emanzipation und Modernisierung aufgeben zu wollen. Sie reichen - wie die Beiträge in der für diese Problematik exemplarischen Kunstwart-Debatte zeigen könnten 7 - von der Forderung nach konsequentem Aufgehen in der deutschen Gesellschaft über das forcierte Bedürfnis nach Selbstorganisation, in dessen Zuge zahlreiche jüdische Vereine und Assoziationen auf allen sozialen Ebenen entstehen (aufgeführt bei Lowenstein 1997), die die jüdisch-jiddische Geschichte und Kultur neu belebende Jüdische Renaissance bis hin zum Zionismus, der die selbstbewusste Separation der jüdischen von der deutschen Kultur und schließlich die Schaffung eines eigenen Staates fordert. Diese Strategien werden zusätzlich durchkreuzt von religiös motivierten Richtungsdebatten und stehen unter dem Einfluss zeitgenössischer Wissensbestände aus Psychiatrie, Psychologie, Medizin, Ethnologie und Soziologie. Entscheidend ist dabei, dass jüdische Identität inzwischen nicht mehr ausschließlich auf die Religion bezogen ist, sondern auf alternative Trägerschaften verteilt werden kann: auf Madleen Podewski 86 Schicksalsgemeinschaften und auf ein kollektives Gedächtnis, das sich nicht nur am religiösen Festkreis orientiert, auf ethische, völkerpsychologisch plausibilisierte Dispositionen, die sich in Kunststilen oder Schreibarten niederschlagen, auf die Rasse, die Verhaltensweisen determiniert oder auf das Blut, mit dem man zum Glied verzweigter Ahnenreihen wird. Der Umgang mit der ‘jüdischen Differenz’ ist im Kaiserreich ein generelles Problem, und wie in der antisemitischen Fraktion etwa Adolf Bartels’ detektivische Bemühungen um die Entlarvung des jüdischen Charakters jüdischer Literatur zeigen (zum Beispiel in Bartels 1903), handelt es sich hier vor allem um eine Unterscheidungskrise: Jüdische Identität ist um 1900 nicht mehr (immer) äußerlich sichtbar, Juden sind weder für Juden noch für Nichtjuden auf den ersten Blick zu erkennen. Und die Juden selbst wissen in den diffusen Zwischenzonen der Assimilation nicht mehr, welche ihrer Lebensgewohnheiten und Charaktereigenschaften noch jüdisch sind. Vor diesem Hintergrund ist in Ahasvera die Konzentration auf Körpermerkmale eine erzählerische Möglichkeit, Differenzen wahrnehmbar zu halten - und zwar bei Adeline und den beiden Söhnen auch unter den Bedingungen der größten denkbaren Grenzüberschreitung. Weil der Text diese Sichtbarkeit mit mentalen Dispositionen korreliert, wird die biologische Herkunft als Marker jüdischer Identität auf der Ebene der Wahrnehmung irrelevant: Nur wer sich jüdisch fühlt, sieht auch jüdisch aus. Maskierungen und Demaskierungen - wie sie etwa für Adelines Bruder Robert denkbar wären - sind in dieser Verteilungslogik des Textes überflüssig. Vermieden werden dabei zudem hybride Figuren: In den Nachkommenschaften der Mischehe mischt sich nichts, statt dessen stimmen bei den beiden gegensätzlichen Brüdern Geist und Körper perfekt zusammen, so dass die Doppeldeutigkeit ihrer Herkunft - daran ändert auch Erziehung nichts - für den Text vollständig getilgt und in zwei Eindeutigkeiten überführt ist. Die Dialoglastigkeit des Romans sorgt dafür, dass auch die entsprechenden Krisenphänomene im Bereich des Wahrnehmbaren verbleiben. Über das “jüdische Problem” werden ausschließlich Gespräche geführt; besonders für Adeline gilt, dass über Irritationen, kritische Zustände und Infragestellungen geredet und nicht gedacht wird. Als kriseninduziertes Phänomen verbleibt die “jüdische Frage” innerhalb der erzählten Welt und auf diese Weise im Bereich des für die Figuren Hörbaren und so gesprächsweise Verhandelbaren, weil sie als solche eindeutig präsentiert und nicht noch durch verborgene Innenzonen der Figuren potenziert oder veruneindeutigt werden. Die beschriebenen discours-Verfahren generieren damit Unterscheidbarkeiten, die der literarisch-erzählerischen Bewältigung der skizzierten akuten Problemkomplexe dienen. 3.1.2 Positionsebene II: Formgeschichte Die beschriebenen discours-Wahlen von Ahasvera sind aber auch formgeschichtlich zu positionieren, und zwar zunächst vor dem Hintergrund der sich konstituierenden literarischen Moderne, die in die gravierenden Veränderungen in Gesellschafts- und Wissenssystemen mit Inhalts- und vor allem Forminnovationen involviert ist, sich dabei mehr oder weniger entschieden von den realistischen Erzählformen des 19. Jahrhunderts abgrenzt und statt dessen auf amimetische Konstruktion bis hin zu den Wortzertrümmerungen der Avantgarden umstellt. Die allgemeinen Wahrnehmungs- und Sichtbarkeitskrisen führen dabei unter anderem in Schreibverfahren, die der Sprache neue, am Bild orientierte Anschauungsbzw. Evidenzqualitäten verschaffen wollen (vgl. dazu Frank 2002 und Pfotenhauer 2005). Ahasvera arbeitet sich, wie gezeigt wurde, an ganz ähnlich gelagerten Problembeständen ab. Vor dem Hintergrund der um 1910 möglich gewordenen Optionen im Symbolsystem ‘Literatur’ Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 87 erzählt der Roman sie aber auf konservative, weil noch realismusaffine Weise: unter Invisibilisierung des Erzählens, in kausal-linearer Motivation der Ereignisse mit einem sinnstiftenden Ende, weitgehend ohne Mehrfachperspektivierungen, ohne modernisierte Figurenpsychologie und mit bestimmten Selektionen der erzählten Welt (Großstadt und soziales Elend etwa sind nur in den Dialogen, nicht als textinterne Realität präsent, die Handlung spielt sich fast ausschließlich auf dem Rittergut oder in geschlossenen Privaträumen ab). Ein solcher realismusaffiner Erzählkonservativsmus ist um 1910 allerdings kein Spezifikum ‘trivialer’ Literatur, wie etwa schon ein nur oberflächlicher Blick in die renommiertesten zeitgenössischen Literatur- und Kulturzeitschriften zeigen könnte. 8 Zudem ist in den Konversationsromanen etwa des späten Fontane oder Schnitzlers Dialoglastigkeit markantes Erzählverfahren eines modernisierten Realismus, der seinen Erzählstatus mehr und mehr zu invisibilisieren sucht und (Wissens-)Perspektiven entlang seinen Gesprächsteilnehmern pluralisiert. Im heterogenen literarischen Feld, das sich Anfang des 20. Jahrhunderts ausbildet und in dem historische Moderne und entstehende Avantgarden nur einen relativ kleinen Teil besetzen, ist er offensichtlich in verschiedenen Segmenten des literarischen Feldes erfolgreich und vor allem noch immer wertbesetzt. Solche Verteilungen lassen sich mit zweistelligen Rastern wie ‘trivial’/ ‘nicht-trivial’ allerdings nicht angemessen beobachten. Adäquatere Differenzierungen ließen sich hier zum Beispiel im Rekurs auf die Literatur druckende Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft gewinnen, also in Orientierung an jeweils aktuellen Gliederungen von Distributionsprozessen. Das beschriebene Erzählverfahren von Ahasvera könnte seine historischen Konturen von dort aus unter der Perspektive von Teilhabe an und Differenz zu den zeitgenössisch relevanten Erzählprogrammen gewinnen. 3.2 ‘Triviale’ histoire: Erzählschemata Nun sind nicht nur die discours-Verfahren in Ahasvera auf Unterscheidbarkeit ausgerichtet, mit der Rekonversion wird auch auf der Ebene der histoire vom Rückgewinn einer Unterscheidung erzählt. Solche Rückkehrer-Geschichten sind innerhalb der Literatur, die - bevorzugt im Kontext der deutsch-jüdischen Zeitschriften - den Fortbestand des Judentums unter den Bedingungen weitestgehender Assimilation erzählerisch zu bewältigen sucht, ein weit verbreitetes Erzählschema. Auch solche Konventionalisierungen sind historisch zu positionieren. Die Genres und Formeln, die die Trivialliteraturforschung für schematisiertes Erzählen in Anschlag bringt, dürften dafür allerdings nur sehr bedingt geeignet sein. Sie sind, wie das oben angeführte Zitat aus Nusser (2000) deutlich zeigt, in manchen Fällen nahezu archetypisch konzipiert. Historische Veränderungen können hier ebenso wie synchrone Differenzen nur als Variation ein und desselben Grundmusters erfasst werden. Ein solches Schematismuskonzept trägt zudem - weil als exklusive Eigenschaft von ‘Trivialliteratur’ konzipiert - latent substantialistische Züge. Die Reichweite von Schemata ist aber grundsätzlich ebenenabhängig. Für die Beschreibung eines historisch bedingten Konventionalisierungsgrades eines Erzählmusters wird man sich zweckmäßigerweise auf einer Ebene mittlerer Abstraktion bewegen müssen, mit der nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Differenzen zwischen Textkorpora erfasst werden können und wo es dann möglich wird, den Geltungsbereich eines nunmehr stärker konkretisierten Erzählschemas quantitativ zu eruieren. 9 Wenn hier Ereignisstrukturen, Figuren- und Raumsemantiken sowie Figurenkonstellationen stärker ausdifferenziert sind, ließe sich auch klären, in welche Zirkulationsprozesse - etwa zwischen deutsch-jüdischen und liberal-demokratischen Zeitschriften- Madleen Podewski 88 romanen (vgl. dazu Podewski 2006b) - solche Erzählmuster im zeitgenössischen literarischen Feld involviert sind, von dem aus sie wiederum historische Konturen gewinnen. 3. Zusammenfassung: ‘Triviale’ Erzählstile als alternative historische Komplexitäten Ein Literaturkomplex ‘Trivialliteratur’ kann, so lässt sich zusammenfassen, textbasiert beschrieben werden, wenn die von der Forschung immer wieder herausgestellten typischen Merkmale - Nutzung bestimmter konventioneller Erzählverfahren und Schematisierung - innerhalb des Literatursystems einer historischen Konstellation positioniert werden. 10 Das ist (nicht nur) um 1900 ein breit ausdifferenziertes literarisches Feld, in dem avantgardistische, modernistische, populäre und konservative Literaturströmungen koexistieren. Deshalb ist ‘Trivialliteratur’ hier auch nicht oppositiv oder graduell ausschließlich von ‘nicht trivialer’ Literatur abzugrenzen, sondern innerhalb dieses Nebeneinanders zu profilieren, so dass immer auch Zirkulationsprozesse zwischen verschiedenen Literatursegmenten in den Blick kommen können. Eine solche Positionierung führt auf ihre historische Komplexität. Die Differenz zu avancierten Texten ist damit nicht getilgt; ‘Trivialliteratur’ ist unter der hier entwickelten Perspektive weder genauso komplex noch weniger komplex als die ästhetische Avantgarde, sie ist anders komplex. Wenn, wie Frank und Scherer gezeigt haben, die Kleine Prosa der Synthetischen Moderne unter dem Zeichen epistemischer Umbrüche und der Unerzählbarkeit der modernen Welt extrem verdichtete Texturen produziert, die dann gattungs-, publikations-, medien-, wahrnehmungs- und wissensgeschichtlich und gendertheoretisch positioniert werden (Frank/ Scherer 2007), dann erweisen sich diese Texte - ganz ähnlich wie in der Frühen Moderne und in den Avantgarden - hauptsächlich über formale Umstellungen in allgemeine Modernisierungsentwicklungen innerhalb und außerhalb des Literatursystems involviert. Solche Verquickungen sind aber auch mit mimetisch-realistischen Erzählverfahren möglich, wie das in Ahasvera ausgiebig geschieht, wenn dort neben der “jüdischen Frage” Debatten über den ästhetischen Wert moderner Kunst, über lebensphilosophische Ideologien, über die Ambivalenzen der Großstadtmetropole Berlin, über die Frauen- und die soziale Frage geführt werden - gleichfalls im oben beschriebenen dramatischen Modus. Eine komplexe ‘Moderne’ ist also auch in diesem Text durchaus präsent, nur eben anders: in einer konservativen Form, die um 1910 noch weithin geschätzt wird, und in einer konventionalisierten Form, mit der dieses Erzählverfahren als gemeinsames Merkmal einer größeren Gruppe von Texten erkennbar wird, eine Eigenschaft, die für die Kleine Prosa oder sonstige avanciertere Texte wohl so nicht gelten dürfte. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Rede von einem ‘trivialen Erzählstil’ noch einmal präzisieren. Angesichts der methodischen Schwierigkeiten, den Stilbegriff semiotisch zu fundieren - die sich noch vervielfältigen, wenn es um so komplexe Phänomene wie Erzählverfahren geht -, kann hier wohl nur mit einem pragmatisierten Stilbegriff gearbeitet werden, mit dem der text(korpus-)interne Gebrauch bestimmter Formenrepertoires beobachtet wird. Für den Roman Ahasvera wurde gezeigt, dass bestimmte discours-Wahlen - dramatischer Modus und Deskriptivität - einerseits textintern für eine Krisenbewältigungsgeschichte funktionalisiert und andererseits als Erzählverfahren im zeitgenössischen Literatursystem positioniert sind: Komplementär etwa zu den literarisierten Unterscheidungs- und Wahrnehmungskrisen in den Texten der Frühen Moderne hält es an Distinktionen fest, steht Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 89 formgeschichtlich aber auch noch im Bezug zu verschiedenen ‘realistisch’ erzählenden Literaturen. Wie stark dieses Erzählverfahren im Rahmen von Erzählschemata konventionalisiert ist, ob hier möglicherweise schon von einem Kode gesprochen werden kann, mit dem ein bestimmtes Formenrepertoire regelhaft an eine bestimmte histoire gebunden ist, ist allererst an einem genügend umfangreichen Textkorpus zu eruieren. Vermuten lässt sich aber, dass dieser Gebrauch stärker konventionalisiert ist als außerhalb des Sektors ‘Trivialliteratur’. Er wird also für mehr als nur einen Text, aber er wird - im Gegensatz zu den gängigen Thesen der Trivialliteraturforschung - nicht für alle ‘trivialen’ Texte aller Zeiten gelten. Die Rede vom “trivialen Erzählstil” ist deshalb, mitsamt den systematischen Voraussetzungen, auf denen sie ruht, für solche Beobachtungen zu unspezifisch. Auszugehen wäre statt dessen von ‘trivialen’ Erzählstilen: ‘Trivialliteratur’ erzählt nicht immer wieder das Gleiche, sondern begrenzt verschiedene Geschichten auf begrenzt verschiedene Weise. 4. Literaturangaben Primärliteratur A[venarius, Ferdinand]: “Aussprachen mit Juden”, in: Der Kunstwart 25, 22 (1912): 225-236. Bartels, Adolf 1903: Kritiker und Kritikaster. Pro domo et pro arte. Mit einem Anhange: Das Judentum in der deutschen Literatur, Leipzig: Avenarius. Goldstein, Moritz 1912: “Deutsch-jüdischer Parnaß”, in: Der Kunstwart 25, 11 (1912): 281-294. Kahlenberg, Hans von 1910: Ahasvera. Roman, Berlin: A. Weichert. Loewenberg, Jakob 1912: “Sprechsaal. Aussprache zur Judenfrage”, in: Der Kunstwart 25, 22 (1912): 245-249. pa. 1911: “Literarische Rundschau”, in: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum 11 (1911): 1104-1108. Ruppin, Arthur 1904: Die Juden der Gegenwart, Berlin: Jüdischer Verlag. Sekundärliteratur Althaus, Thomas u.a. (eds.) 2007: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen: Niemeyer. Barsch, Achim 1991: “‘Populäre Literatur’ als Forschungsproblem einer empirischen Literaturwissenschaft”, in: Wirkendes Wort 41 (1991): 101-119. Bürger, Christa 1973: Textanalyse als Ideologiekritik. Zur Rezeption zeitgenössischer Unterhaltungsliteratur, Frankfurt am Main: Athenäum. Danneberg, Lutz / Vollhardt, Friedrich (eds.) 1992: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der “Theoriedebatte”, Stuttgart: Metzler. Donalies, Elke 1995: “‘… Durchbebt und wie im Rausche emporgehoben von einem Glück, dem keins in der Welt an schmerzlicher Süßigkeit zu vergleichen’. Gibt es eine trivialromanspezifische Sprache? ”, in: Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation 23, 4 (1995): 316-337. Dumont, Altrud 1986: “Bewertung von Literatur - Ermittlung von Trivialität. Ein analysemethodischer Diskussionsbeitrag zum Umgang mit unterhaltenden Prosatexten der Zeit um 1815”, in: Weimarer Beiträge 32/ 11 (1986): 1908-1924. Ernst, Petra u.a. (eds.) 2006: Konzeptionen des Jüdischen - Kollektive Entwürfe im Wandel (im Ersch.). Fohrmann, Jürgen (2000): “Das Versprechen der Sozialgeschichte (der Literatur)”, in: Huber, Lauer (eds.) 2000: 105-112. Fetzer, Günther / Schönert, Jörg 1977: “Zur Trivialliteraturforschung 1964-1976”, in: IASL 2 (1977): 1-39. Frank, Gustav 2002: “Probleme der Sichtbarkeit. Die visuelle Kultur des 19. Jahrhunderts und Okkult-Fantastisches in Literatur und Film um 1910: Afgrunden (Gad/ Nielsen), Die Versuchung der stillen Veronika (Musil), Der Student von Prag (Rye/ Ewers/ Wegener/ Seeber)”, in: recherches germaniques 1 (2002): 59-101. Frank, Gustav / Scherer, Stefan 2006: “Komplexer Realismus in der Synthetischen Moderne: Hermann Broch - Rudolf Borchardt”, in: Kyora, Neuhaus (eds.) 2006: 111-122. Madleen Podewski 90 Frank, Gustav / Scherer, Stefan 2007: “‘Stoffe sehr verschiedener Art … im Spiel … in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen.’ Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne”, in: Althaus u.a. 2007: 253-279. Geyer-Ryan, Helga 1983: Der andere Roman. Versuch über die verdrängte Ästhetik des Populären, Wilhelmshaven: Heinrichshofen. Huber, Martin / Lauer, Gerhard (eds.) 2000: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen: Niemeyer. Kreuzer, Helmut 1967: “Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung”, in: DVjs 41 (1967): 173-191. Kyora, Sabine / Neuhaus, Stefan (eds.) 2006: Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik, Würzburg: Königshausen und Neumann (= Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft, 5). Lowenstein, Steven M. 1997: “Die Gemeinde”, in: Lowenstein u.a. (eds.) 1997: 123-150. Lowenstein, Steven M. u.a. (eds.) 1997: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Band III: Umstrittene Integration 1871-1918, München: C.H. Beck. Meyer, Friederike 1989: “Zur Relation juristischer und moralischer Deutungsmuster von Kriminalität in den Kriminalgeschichten der Gartenlaube 1855 bis 1870”, in: IASL 12 (1989): 156-189. Mittelmann, Hanni: “Die Assimilationskontroverse im Spiegel der jüdischen Literaturdebatte am Anfang des 20. Jahrhunderts”, in: Röll, Bayerdörfer (eds.) 1986: 150-161. Nottelmann, Nicole 2002: Strategien des Erfolgs. Narratologische Analysen exemplarischer Romane Vicki Baums, Würzburg: Königshausen & Neumann. Nusser, Peter 2000: Unterhaltung und Aufklärung. Studien zu Theorie, Geschichte und Didaktik der populären Lesestoffe, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang. Ort, Claus-Michael 1992: “Vom Text zum Wissen. Die literarische Konstruktion sozio-kulturellen Wissens als Gegenstand einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte der Literatur”, in: Danneberg, Vollhardt (eds.) 1992: 409-441. Pfotenhauer, Helmut / Riedel, Wolfgang / Schneider, Sabine (eds.) 2005: Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, Würzburg: Königshausen & Neumann. Podewski, Madleen 2006 a: “Trivialer Erzählstil und historische Bedeutung(en): Versuch einer Beschreibung anhand Hans von Kahlenbergs Roman Ahasvera (1910)”, in: Tagungsband des Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik 2005 (im Ersch.). Podewski, Madleen 2006 b: “Zirkulation und Grenzen: Zur Positionierung deutsch-jüdischer Zeitschriftenliteratur im literarischen Feld um 1900”, in: Ernst u.a. (eds.) 2006 (im Ersch.). Röll, Walter und Hans-Peter Bayerdörfer (eds.) 1986: Auseinandersetzung um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur - die Assimilationskontroverse. Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Tübingen: Max Niemeyer. Scherer, Stefan / Gustav Frank 2006: “Komplexer Realismus in der Synthetischen Moderne: Hermann Broch - Rudolf Borchardt”, in: Kyora/ Neuhaus (eds.) 2006: 111-122. Scherer, Stefan / Gustav Frank 2007: ‘Stoffe sehr verschiedener Art … im Spiel … in eine neue, sprunghafte Beziehung zueinander setzen.’ Komplexität als historische Textur in Kleiner Prosa der Synthetischen Moderne”, in: Althaus u.a. 2007: 253-279. Schulte-Sasse, Jochen 1972: Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. Studien zur Geschichte des modernen Kitschbegriffs, München: Fink. Seybold, Annette 1986: Erzählliteratur in der sozialdemokratischen und der konservativen Presse 1892-1914. Eine Untersuchung zur These der Verbürgerlichung der Sozialdemokratie anhand eines Vergleichs der Familienzeitschriften ‘Die Neue Welt’ und ‘Die Gartenlaube’, Universität Frankfurt: Diss. masch.. Skreb, Zdenko / Baur, Uwe (eds.)1984: Erzählgattungen der Trivialliteratur, Innsbruck: Institut für Germanistik. Teuscher, Gerhard 1999: Perry Rhodan, Jerry Cotton und Johannes Mario Simmel. Eine Darstellung zu Theorie, Geschichte und Vertretern der Trivialliteratur, Stuttgart: ibidem. Waldmann, Günter 1977: Theorie und Didaktik der Trivialliteratur. Modellanalysen - Didaktikdiskussion - Literarische Wertung, München: Fink. Zimmermann, Hans Dieter 1982: Trivialliteratur? Schema-Literatur! Entstehung, Formen, Bewertung, Stuttgart: Kohlhammer. Triviale Erzählstile als alternative Komplexitäten 91 Anmerkungen 1 Der Aufsatz ist die Ausarbeitung einer Kurzfassung, die im Tagungsband des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik 2005 erscheint, weshalb sich Überschneidungen nicht immer ganz vermeiden ließen (Podewski 2006 a). Er ist außerdem im Rahmen eines Forschungsprojekts zur deutschjüdischen Zeitschriftenliteratur im Kaiserreich entstanden, das vom Berliner Programm zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre gefördert wird, dem an dieser Stelle für die Unterstützung gedankt sei. 2 Der Begriff ‘Trivialliteratur’ ist - wie seine Komplemente Unterhaltungs-, Populär- oder Massenliteratur - nach wie vor umstritten und nicht distinkt bestimmt. Gleichwohl soll er hier weiterhin verwendet werden, mit den einfachen Anführungszeichen sei aber auf den Konstruktcharakter verwiesen. 3 Die Beispiele sind einigermaßen willkürlich gewählt, differenziertere Forschungsberichte finden sich etwa bei Fetzer/ Schönert (1977), Dumont (1986) und jüngst wieder bei Teuscher (1999). 4 Zum Beispiel sieht Dumont (1986: 1918) in der “Deskription als Grundmethode” eine Form typisch trivialen Erzählens, dem “schöpferisch formierende Bestrebungen” mangeln. - Für Geyer-Ryan (1983: 198) verweist die stark dialogisierte Narration zeitgenössischer Heftchenromane auf die einfach rezipierbare Konkretheit, die alle trivialliterarischen Texte prägt. 5 Die Vorläufigkeit der Zuordnung ergibt sich aus der methodisch problematischen Übernahme von Bestimmungskriterien der Trivialliteraturforschung. Denn in letzter Konsequenz führt die vorgeschlagene Historisierung literarischer Texte zu grundsätzlich anderen, weil historisch kontingenten Rasterungen eines literarischen Feldes. Werden hier die Schematizität und Deskriptivität des Romans positionsbzw. differenzlogisch bestimmt, so sind sie nicht mehr als historische Variante einer trivialliterarischen Grundstruktur zu fassen, sondern als emergente und historisch einmalige Textverfahren. Die trotzdem beibehaltene Orientierung an solchen Grundstrukturen ist deshalb nur eine Hilfskonstruktion für einen ersten Zugriff dort, wo die Forschung bisher noch kaum Wege gebahnt hat. 6 Die letzten Sätze des Romans lauten: “‘Ich bin daheim. Und deinen Weg, wohin er führt, gehe ich.’ ‘Aber der nimmt nie ein Ende und führt über jedes Ziel wieder hinaus,’ erklärte er froh. ‘Kennst du den Weg, den unser Stamm geht? Ahasver geht ihn.’ ‘Nimm mich mit dir - auf Ahasvers Weg’” (Kahlenberg 1910: 310). 7 Die Debatte wurde ausgelöst von Moritz Goldsteins im März 1912 in Ferdinand Avenarius’ Zeitschrift Der Kunstwart abgedrucktem Essay Deutsch-jüdischer Parnaß. Goldstein selbst etwa sieht als einzigen Weg aus der “Halbheit, aus dem Zwitterwesen” der deutschen Juden den “Sprung in die hebräische Literatur”, der seiner Generation allerdings nicht mehr möglich sein wird (Goldstein 1912: 290). Den Gegenpol bildet die (gesperrt gedruckte) Ansicht, “Wir sind Deutsche, und wir wollen es bleiben” (Loewenberg 1912: 248). Insgesamt wird auch hier deutlich, dass - ob nun von jüdischer, philo- oder antisemitischer Seite - die “Herstellung klarer Zustände” Hauptanliegen der Argumentation ist (Avenarius 1912: 232, Hervorhebung im Original). - Vgl. zur Debatte insgesamt auch Mittelmann (1986). 8 In der Neuen Rundschau etwa werden neben der naturalistischen Avantgarde in den neunziger Jahren und nach 1900 neben Rilke, Schnitzler oder Mallarme auch Wassermann, Hesse und die Ahasvera-Autorin Helene Keßler gedruckt. 9 Problembezogene Regularitäten wurden etwa für den Kriminalroman (Meyer 1989) oder für eine Reihe von Romanen aus der Gartenlaube und der sozialdemokratischen Neuen Welt (Seybold 1986) erstellt. 10 Über die Publikations- und anderweitigen Distributionsorte dieser Literatur ist damit noch nichts gesagt. Der größte Teil wird sicherlich über massenmediale Institutionen wie etwa Familienzeitschriften, Leihbibliotheken oder den Kolportagebuchhandel zirkulieren. Ein solcher Zusammenhang zwischen Textform und Distributionsmedien, der u.a. zur Begriffsbildung ‘Populäre Lesestoffe’ geführt hat, ist aber nicht substantiell, sondern in bestimmten historischen Literatursystemen nur hochgradig wahrscheinlich. - Zur Doppelbedeutung von ‘Populären Lesestoffen’ als Textsorte und Publikationstyp vgl. Barsch (1991). Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Traditionelle Märchen oder »Volksmärchen« erfreuen sich großer Beliebtheit. Man findet sie im Comic, im Film, in Fantasy- und Trivialliteratur und auch in der Werbung. Die seit den Brüdern Grimm greifbare Märchenforschung untersucht die Herkunft des internationalen Märchenschatzes und geht dabei Fragen nach wie: Warum gibt es so viele gleiche Märchen überall auf der Welt? oder: Welchen Anteil haben Erzählerpersönlichkeiten bei der Überlieferung von Märchen? Das vorliegende Studienbuch bündelt die wichtigsten Forschungsgebiete und Erkenntnisse der Märchenforschung und bietet so eine übersichtliche Einführung in diese Teildisziplin der Erzählforschung. Aufgaben am Ende jedes Kapitels helfen, das Gelernte zu rekapitulieren, und geben weiter führende Anregungen für Unterricht und Selbststudium. Kathrin Pöge-Alder Märchenforschung Theorien, Methoden, Interpretationen narr studienbücher 2007, 267 Seiten, €[D] 19,90/ SFR 33,80 ISBN 978-3-8233-6252-4 “Music makes the world go sound” Die Adaption popmusikalischer Verfahren in der neueren deutschen Popliteratur am Beispiel von Andreas Neumeisters Gut laut (1998/ 2001) Ingo Irsigler Mit Andreas Neumeisters Gut laut wird unter sprachanalytischer Perspektivierung ein Text der so genannten Popliteratur in den Fokus der Analyse gestellt, der in seiner Konstruktions- und Erzählweise versucht, die sampling-Technik der elektronischen Musik zu adaptieren. Anhand der Einzeltextanalyse wird gezeigt, dass diese Adaption popmusikalisch konnotierter Formen einen popspezifischen Sprachkode produziert, der sich als funktional für das im Text etablierte Geschichtsbild sowie die Personenkonstruktion erweist. Die Ergebnisse der Textanalyse werden darüber hinaus in den Kontext der Diskussion um die deutsche Popliteratur der 90er Jahre gestellt. Dabei wird insbesondere vorgeführt, dass die in einigen Texten der Popliteratur manifeste spezifische Funktionalisierung popkulturell kodierter Erzählweisen im Allgemeinen sowie die sprachlichen Repräsentationsformen als wesentliche Teilstrukturen der discours- Ebene im Besonderen eine Binnendifferenzierung des Gegenstandsfeldes ‘Popliteratur’ nahe legt. My linguistic analysis of Andreas Neumeister’s Gut laut shows that Neumeister adapts the sampling technique familiar from the field of electronic music for a literary narration. He therefore produces a pop-specific language kode with pop-musical connotations that is utilized in the narration and the constellation of protagonists. I am then presenting the findings of my analysis in the context of German pop literature of the 1990s. Because of the use of pop culturespecific narration techniques on the level of discours, I then identify the linguistic representations as a major characteristic of pop literature. Building on those findings, I am attempting a more refined definition of the literary category of pop literature. 1. Betrachtet man das vielfältige Spektrum an literarischen Texten, das seit Beginn der 1990er Jahre in den Feuilletons unter dem Begriff ‘Popliteratur’ verhandelt wurde, so müsste die Definition für Popliteratur “pop is everything” (Diel 2000: 5) lauten. Kaum ein anderer Begriff wurde im Literaturbetrieb der 90er Jahre derartig strapaziert und gleichsam zum Aushängeschild einer jungen deutschen Literatengeneration erhoben, die scheinbar losgelöst vom literarischen Erbe der Nachkriegszeit ihre eigenen generationenspezifischen Themen und Schreibweisen etablierte. Das Phänomen ‘Popliteratur’ avancierte - nicht zuletzt aufgrund der medialen Resonanz im Feuilleton - schon bald zur erfolgreichen Vermarktungs- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ingo Irsigler 94 strategie einer jungen Schriftstellergeneration und bildet seitdem eine feste (kommerzielle) Größe im literarischen Feld der Gegenwartsliteratur. An der Positionierung und Etablierung dieser literarischen Strömung waren Medien, Autoren sowie deren Verlage gleichermaßen beteiligt: Die mediale Inszenierung von Pop- Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexa Hennig von Lange oder Florian Illies, deren Kultstatus sie zeitweise nicht nur zu Lieblingen des Feuilletons, sondern sogar kurzfristig zum ‘Stamminventar’ der Late-Night-Talk-Shows werden ließ, 1 wurde von den Verlagen massiv genutzt, um ihre Autoren im popkulturellen Buchmarktsegment zu positionieren. 2 Die Grenze zwischen Produkt, Medien-Image der Autoren und Vermarktung löste sich dabei vielfach auf, so dass die Popliteratur innerhalb der Gegenwartskultur ein mediales, von den literarischen Instanzen gelenktes Phänomen darstellt, das diejenigen Romane und Erzählungen beschreibt, die im literarischen Feld als Popliteratur positioniert wurden. 3 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive evoziert das mediale Phänomen ‘Popliteratur’ unweigerlich die Frage nach einer semantischen Begriffsbestimmung, die jenseits des bloß Populären oder kommerziell Erfolgreichen die wesentlichen Merkmale einer popliterarischen Ästhetik definiert. Die Problematik einer solchen Begriffsbestimmung scheint dabei gerade in der spezifischen Korrelation der ‘Textperformance’ mit der inhaltlich-formalen Substanz popliterarischer Texte zu liegen. “Denn im Grunde”, charakterisiert Marcel Diel im Artikel Näherungsweise Pop deren Spezifik, “haben wir es […] mit zwei Phänomen zu tun: zum einen dem Gegenstand der Betrachtung an sich, dem nackten Text; zum anderen seiner kaum von ihm trennbaren Performance, Vermarktung, dem Event Pop” (Diel 2000: 5). Diese Unterscheidung zwischen Textinhalt und Verpackung eröffnet für die wissenschaftliche Debatte zwei zentrale Fragestellungen: So gilt es 1. zu klären, inwieweit sich der Text selbst - beispielsweise mittels seiner paratextuellen Rahmung - als Poptext inszeniert und damit bereits mit Blick auf eine etwaige Käuferschicht auf seine Rezeption Einfluss nimmt 4 und 2. welche gemeinsamen thematischen und formal-ästhetischen Merkmale sich aus den Texten der so genannten Popliteratur abstrahieren lassen, die für die Popliteratur insgesamt als spezifisch zu werten sind und aus denen sich dann eine sinnvolle wissenschaftliche Begriffsdefinition ableiten ließe. 5 Gerade die inhaltlich-formale Bestimmung der Popliteratur erweist sich jedoch aufgrund der Heterogenität der in der wissenschaftlichen Diskussion als Popliteratur verhandelten Texte als äußerst problematisch. Welche Gemeinsamkeiten lassen sich etwa zwischen Benjamin Leberts Debütroman Crazy und Rainald Goetz’ Erzählung Rave rekonstruieren? Was verbindet Alexa Hennig von Langes Roman Relax mit Florian Illies Generation Golf? Lässt sich der Episodenroman Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot überhaupt sinnvoll der Popliteratur zuordnen? 6 Die bisherigen Forschungsergebnisse erlauben nur eine Definition des “kleinsten gemeinsamen Nenner[s] […]: Formale Eingängigkeit, d.h. die Verwendung von einfachen Prosa- und Lyrikformen, von Umgangs- oder Szenesprache; inhaltlich ein affirmatives, also bejahendes Verhältnis zur zunehmend medial geprägten Alltagswelt jugendlicher und jung gebliebener Menschen” sowie die Verwendung “realistische[r] Darstellungsmodi” bei einer gleichzeitig “medial gebrochene[n]” Wirklichkeitsdarstellung werden als die wesentlichen Momente popliterarischer Texte verstanden (Frank 2003: 6f.). Dass derart unscharfe Kriterien die Popliteratur der 90er Jahre nicht hinreichend definieren und von anderen literarischen Strömungen abgrenzen können, dürfte unmittelbar einsichtig sein. Als ein vielversprechendes und weitgehend konsensfähiges Kriterium kann immerhin die thematische und formale Orientierung an den zeitgenössischen, popkulturell geprägten Massenmedien im Allgemeinen und der Popmusik im Besonderen “Music makes the world go sound” 95 gelten, die gerade in den Erzählungen und Romanen der 90er Jahre in zweifacher Hinsicht eine zentrale Stellung einnimmt. Erstens zeigt sich beispielsweise in der Literatur von Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre (Soloalbum), Alexa Hennig von Lange (Relax) oder Rainald Goetz (Rave) eine thematische Dominanz von popmusikalischen Diskursen insofern, als Sozialisation und Lebensstile in hohem Maße vom musikalischen Konsumverhalten der Protagonisten geprägt werden. So geht man davon aus, daß in die Texte der sogenannten Popliteratur grundsätzlich immer die Popkultur, insbesondere die durch die elektronischen Massenmedien vermittelte Musikkultur, als allgegenwärtiger Sozialisationshintergrund der Figuren wie Autoren eingeht. Die Massenmedien und vor allem die musikalischen Unterhaltungsforen, wie Raves, Musikjournalistik, VIVA und MTV, werden so zu konstitutiven Elementen des Erzählens. (Jung 2002 b: 32) Die Massenmedien als wesentliches Referenzsystem bilden jedoch nicht nur einen entscheidenden thematischen Kern des Erzählens, sondern schaffen zweitens “die Möglichkeiten für neue Experimente mit Schreibweisen, die offen für die Erfahrungen sind, die andere Medien bieten” (Höfler 2001: 250). Dass derartige experimentelle Schreibversuche zumindest von einigen Autoren intendiert werden, lässt sich beispielhaft an Thomas Meinecke zeigen, der als ästhetisches Konstruktionsprinzip seiner Texte eine ‘Methode Pop’ zu Grunde legt, die im Wesentlichen darauf abziele, “so zu schreiben wie Pop ist. Wie […] Pop […] funktioniert” (Schumacher 2000: 19). Diese poetologische Vorgabe scheint aber nicht nur Thomas Meineckes Diskursroman Hellblau, sondern auch Rainald Goetz’ Erzählung Rave sowie Andreas Neumeisters Gut laut insofern einzulösen, als diese Texte formal-ästhetische Verfahrensweisen präsentieren, die sich deutlich an der sampling-Technik der elektronischen Musik orientieren und damit versuchen, einen spezifischen Musikstil literarisch zu adaptieren. 7 Das intermediale Formexperiment des samplings prägt - so lautet die Ausgangsthese der folgenden Ausführungen - nicht nur die Konstruktionsweise und die Erzählstruktur dieser Texte, sondern manifestiert sich darüber hinaus in einem charakteristischen, popspezifischen Sprachstil, der in der folgenden Analyse exemplarisch anhand von Andreas Neumeisters Roman Gut laut (1998) 8 näher bestimmt werden soll. Die in der Literaturwissenschaft problematische Kategorie ‘Stil’ 9 wird dabei gemäß ihrer linguistischen Bedeutung als Kategorie der Sprachebene verstanden, als spezifische Selektions-, Kombinations- und Präsentationsform des Sprechers aus den Möglichkeiten eines Sprachsystems. 10 Der Stil eines literarischen Textes definiert sich aufgrund dieser Prämisse über die manifeste Wahl der Sprecher- oder Erzählerinstanz aus verschiedenen ihm prinzipiell zur Verfügung stehenden Alternativen. Die Problematik der textanalytischen Bestimmung des im Text manifesten Stils liegt nun gerade darin, dass die potentiellen Varianten, also die alternativen Wahlmöglichkeiten nicht repräsentiert sind. Insofern können stilistische Phänomene insbesondere dann sinnvoll identifiziert werden, wenn Eigenarten der sprachlichen Gestaltung redundant sind, d.h. sich beständig wiederholen, so dass sie im Kommunikationsprozess vom Rezipienten als abweichend wahrgenommen werden. Gerade popliterarische Texte weisen auf der Textoberfläche häufig sprachliche Merkmale auf, die als alternative Wahl insofern identifizierbar sind, als sie ein System redundanter semantischer oder syntaktischer Präferenzmuster bilden, die - zumindest in quantitativer Hinsicht - vom ‘normalen Sprechen’ signifikant abweichen. Die linguistische Stilanalyse von Andreas Neumeisters Gut laut zielt mit Blick auf eine genauere Bestimmung der literarischen Strömung ‘Popliteratur’ insgesamt auf zweierlei ab: Erstens soll in der folgenden Einzeltextanalyse die Spezifik einer am sampling orientierten Redeweise bestimmt werden, um insgesamt die Frage zu beantworten, ob die Adaption Ingo Irsigler 96 popmusikalisch konnotierter Formen einen charakteristischen, popspezifischen ‘Sprachkode’ produziert, der dann zumindest ein Kriterium für eine sinnvolle Definition und Klassifikation von Popliteratur bilden würde. Zweitens wird zu klären sein, inwiefern die in Neumeisters Text manifeste Selektion aus dem Sprachsystem sowie deren charakteristische Präsentationsform zur Sinnkonstitution des Gesamttextes beiträgt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere nach der spezifischen Funktion des Sprachkodes für das Erzählen und die erzählte Welt insgesamt zu fragen sein, um damit die Bedeutung der Analysekategorie ‘Sprachstil’ als ein wesentliches discours- Element des Textes herauszustellen. Damit könnte sich die linguistische Stilanalyse gerade mit Blick auf diejenigen Texte der Popliteratur, die Verfahren der Popmusik auf eine spezifische Form des Sprechens übertragen, als äußerst produktives Beschreibungsinstrument erweisen, da markante stilistische Unterschiede zu anderen Texten der so genannten Popliteratur zu einer Konkretisierung der literaturwissenschaftlichen Kategorie ‘Popliteratur’ beitragen könnten. Um den Zusammenhang zwischen Sprachstil und Gesamtkonstruktion des Textes deutlich zu machen, soll Neumeisters Gut laut zunächst in seiner grundlegenden, am sampling orientierten Konzeption vorgestellt werden. 2. In Andreas Neumeisters Gut laut wird aus der Ich-Perspektive eines musikbesessenen ‘Kettenhörers’ unter biografischem Blickwinkel “die Geschichte der Popmusikszene seit 1972 nach - oder besser: auf[ge]zeichnet” (Höfler 2001: 254). Eine Handlung, wie die Gattungsbezeichnung ‘Roman’ im Untertitel der Erstausgabe erwarten lässt, gibt es dabei allerdings nicht. 11 Der Text besteht im Wesentlichen aus kurzen Textsequenzen, die die Themen Popgeschichte, Stadtarchitektur, Biografie und die bevorstehende Jahrtausendwende miteinander korrelieren und ineinander verschachteln. Die einzelnen Diskurse werden vom Standpunkt der unmittelbaren Gegenwart Münchens aus reflektiert, von hier aus driftet der Sprecher in die Vergangenheit: Er kombiniert biografisches Material mit Historischem, zitiert popmusikalische Versatzstücke wie Namen, Titel oder Liedzeilen aus 30 Jahren Popgeschichte, um dann erneut in die Jetztzeit zurückzukehren. So werden einzelne Reflexionsstränge zunächst etabliert, nach kurzer Zeit unterbrochen, um dann an späterer Stelle wieder aufgenommen zu werden. Diese thematisch-diskursive Segmentierung des Textes wird durch eine Vielzahl graphologischer Besonderheiten, die die Oberflächenstruktur des Textes bestimmen, angezeigt: Die Textsequenzen werden stetig durch einmontierte, partiell durch Fettdruck exponierte Lexeme, Lexemlisten, syntaktische Einheiten, die teilweise monoton über eine ganze Seite wiederholt werden, oder Leerseiten voneinander getrennt. Diese spezifische Verfahrensweise der Textkonstruktion lässt sich durch den Schlusssatz des Ich- Erzählers “Cd is aus Kassette läuft noch” (Neumeister 2001: 189) sowie durch die graphischen Paratextelemente als Imitation einer Tonbandaufnahme identifizieren, in der die einzelnen Textsegmente gewissermaßen die Tracks einer Mix-Kassette bilden, die insgesamt einen “180seitigen Endlostrack” (Höfler 2001: 255) produzieren. 12 Die Leerzeilen und Leerseiten verweisen dementsprechend auf akustische Leerstellen, die auf der Textebene den folgenden Themenwechsel graphisch markieren. Dieses Verfahren des tapings oder Mixens wird textintern durch die Erzählinstanz thematisiert: “Music makes the world go sound” 97 Kassettenaufnehmen […] ist wie Kreuzworträtsellösen, nur tausendmal toller. Im Idealfall geht am Schluß alles auf. (Roman sagt: Am tollsten ist, wenn die Kassette voll ist und endlich auch das letzte Stück ganz logisch zu allen anderen paßt). (Neumeister 2001: 31) Der Vergleich zwischen dem Kompilieren einer Kassette und dem Lösen eines Kreuzworträtsels suggeriert eine Similarität zwischen musikalischen und textlichen Verfahrensweisen. Zielt das Taping durch die Kombination von einzelnen, unterschiedlichen Musiktiteln letztlich auf die Herstellung eines stimmigen Ganzen ab, so entsteht auch beim Lösen von Kreuzworträtseln durch die spezifische Anordnung semantisch verschiedener Lexeme schließlich ein zumindest optisch logischer Zusammenhang. Und auch der “Endlostrack” des Erzählers soll - wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird - trotz der inkohärenten Erzählweise letztlich ein kohärentes Ganzes bilden, in das die zunächst in temporaler und kausaler Hinsicht heterogenen Diskurse und Reflexionen des Erzählers schließlich in einen stimmigen Ich- und Weltentwurf zusammengeführt werden. 13 In der spezifischen Verknüpfung der zeitlich auseinander liegenden biografischen, kulturellen oder historischen Begebenheiten, erweist sich als zweites popmusikalisches Verfahren, dasjenige des samplings als ein bestimmendes Moment der Textkonstruktion. Der Erzähler in Neumeisters Text fungiert gewissermaßen als Disk-Jockey, denn wie der DJ Tonquellen aus verschiedenen musikalischen Epochen kombiniert, verwendet der “Text- Jockey” (Höfler: 255) in Neumeisters Gut laut kulturelle oder biografische Versatzstücke der Vergangenheit und führt sie in der Gegenwart zusammen. “Plattenauflegen”, so reflektiert der Ich-Erzähler, “ist wie Kassettenaufnehmen, nur hundertmal toller” (Neumeister 2001: 31) und begründet zugleich den entscheidenden Vorteil des Plattenauflegens gegenüber der bloßen Tonbandaufnahme damit, dass verschiedenartiges Material durch den DJ selektiert und gleichzeitig präsentiert werden kann. “Country und Techno gleichzeitig denken. Country und Techno gleichzeitig lieben. […]. Das Johnny Cash Sample auf dem Bionaut-Mix macht seine Sache wirklich gut” (ebd.). Gerade die Möglichkeit der gleichzeitigen Präsentation musikalischer Vergangenheitselemente und populärer Gegenwartsmusik führt im Ergebnis zu einer qualitativ neuen Musik. Das Auflegen von Musik impliziere, so der Ich-Erzähler, immer auch das “[N]eu [E]rfinden” im “[A]uflegen” (ebd.: 11). Genau dieses Verfahren überträgt Neumeisters “Text-Jockey” auf seine eigene Erzählweise, indem er selektiv Versatzstücke verschiedener Zeitebenen in die Gegenwart integriert. Heute kommt mir das Wort Mjunik so unverbraucht vor. Goldrichtig, zum goldrichtigen Zeitpunkt, die erste Hitzewelle des Jahres: heftiger Adrenalinstoß in Richtung helles Grün: Giorgio Moroder’s Sound of Munich Giorgio Moroder’s Early Techno Sound of Munich Giorgio Moroder’s Donna Summer Sound of Munich Giorgio Moroder’s Pre-Techno Disco Sound of Munich Giorgio Moroder’s Late-Seventies Plastic Sound of Munich Vibrationssüchtiges Verlangen nach immer lauterer Musik. Abwechslungssüchtiges Verlangen nach immer wieder neuer Musik. (ebd.) Ausgangspunkt dieser Textpassage bildet die Beschreibung der gegenwärtigen Musikszene Münchens, in die der Erzähler dann mit dem Sample “Giorgio Moroder’s Sound of Munich”, den Sound der späten 70er Jahre in die musikalische Gegenwart einarbeitet. Durch dieses Verfahren, Musikstile aus unterschiedlichen Dekaden zu zitieren und unmittelbar miteinander zu kombinieren, konzipiert sich der Ich-Erzähler als Pop-Chronist, der - wie er geradezu selbstreflexiv sein eigenes Verfahren der Textproduktion thematisiert - Ingo Irsigler 98 jede[n] Musikstil, jede Spielart eines Musikstils […] in aller Welt einzeln auf seine Brauchbarkeit hin überprüft. Mit größtem Geschick, ich meine, mit größter Zielstrebigkeit wird von den Musikbesessenen in aller Welt versucht, das jeweils beste eines Musikstils herauszudestillieren, als Grundlage für die eigene Musik direkt zu samplen, als hoffentlich cleveres Zitat in die eigene Musik einzubauen oder zum festen Bestandteil des eigenen DJ-Repertoirs zu machen, […] zu einem Teil des persönlichen Musikkosmos zu machen. (ebd.: 14) Diesen “persönlichen Musikkosmos” präsentiert der Erzähler dem Leser, indem er beständig Songlisten, Liedfragmente, Künstlerzitate oder Klangbeschreibungen in den Text hinein sampelt. Das Verfahren des samplings beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf die Popgeschichte, sondern wird darüber hinaus auch auf andere kulturgeschichtliche Bereiche angewendet. Es erweist sich dabei als strukturell analoges Verfahren, das ausschließlich in der formalen Präsentation variiert wird. Denn während der Erzähler wie beispielsweise im obigen Textzitat mit dem akustisch absenten “Sound of Munich” und damit gleichsam mit der rein virtuellen, “im Kopf gespeicherte[n] Musik” (ebd.: 126) arbeitet, so werden gesellschaftspolitische Bereiche über absente Bilder, die graphisch durch Bildunterschriften repräsentiert werden, in die Sprechgegenwart hineingesampelt. Abb.: Mit Bekanntwerden der Kommune kamen immer häufiger Journalisten oder Redakteure, um über sie zu berichten Abb.: Monika war sehr hübsch und bedeutete eine Attraktion für die Gruppe […] Abb.: Fotoshooting für den Stern Abb.: Uschi und Rainer in der K1 Abb.: Öffentliche Anleitung zum Joint-Drehen Abb.: Die Bombe (ebd.: 46ff.) Die Abbildungen sind “die im Kopf gespeicherten Bilder, die in den Kopf eingescannten Bilder” (ebd.: 126), die als “Bilder aus längst vergangenen Epochen” (ebd.: 132) ständig reproduzierbar und in der Gegenwart als kulturelle Versatzstücke aufgerufen werden können. 14 Die Auflistung solcher mental gespeicherten Bilder zeigt kulturhistorische Zusammenhänge nur noch fragmentarisch, jedoch werden in der Präsentationsform wichtige Entwicklungstendenzen implizit deutlich. So zeigt sich in der Folge der soeben genannten Bildunterschriften die zunehmende Kommerzialisierung der Kommune 1 sowie die aus der 68er Bewegung entstehende Militarisierung hin zur RAF, die als Sample schließlich gut 100 Seiten später nur noch stroboskopförmig in musikalischem Zusammenhang aufblitzt: “RAF für Rote Armee Fraktion / die härteste Band von allen” (ebd.: 175). Elemente der Kulturgeschichte werden auf diese Weise im Stile des Disk-Jockeys als “clevere Zitate” zum festen Bestandteil des eigenen “Text-Jockey”-Repertoires, die beliebig kontextualisiert werden können. Das Diktum von der “Popgeschichte als scheinbar totale[r] Verfügbarkeit” (ebd.: 103), aus der der Erzähler einzelne Bestandteile isoliert und in neue Kontexte stellt, wird damit als gültig für den gesamten Geschichtsprozess behauptet. Dadurch wird eine Geschichtskonzeption erkennbar, die historische Partikel aus ihren ursprünglichen Bedeutungszusammenhängen herauslöst und in einen zeitlosen ‘Jetztzeitmix’ integriert. Die sampling-Technik wird dabei insgesamt für eine Geschichtsauffassung funktionalisiert, die unmittelbar mit der bevorstehende Jahrtausendwende zusammenhängt: Es ist eine einzige gewaltige Inventur, in der wir uns befinden, […] in die wir kurz so kurz vor der Zeitmauer zwangsläufig hineingeraten mußten, ein Speicherwahnsinn, in den auch jede “Music makes the world go sound” 99 andere Generation in der gleichen Situation, mit den gleichen technischen Möglichkeiten zwangsläufig hineingeraten wäre. (ebd.: 14) Der Erzähler fungiert in seinem Selbstverständnis als Kulturarchäologe 15 , der im Vorfeld der Jahrtausendwende das gesamte zivilisatorische Material auf seine Tauglichkeit hin überprüft: Längst einem gnadenlosen Speicher- und Aufnahmewahnsinn verfallen, gibt es keinen Weg mehr zurück, die Zeit des gnadenlosen Ausschlachtens […] hat gerade erst richtig begonnen, die Neunziger und mit ihnen alle anderen Jahrzehnte des gerade vergehenden Jahrhunderts ausschlachten, das 20. Jahrhundert und mit ihm alle anderen Jahrhunderte des gerade vergehenden Jahrtausends ausschlachten […], alles auf seine Tauglichkeit hin überprüfen […] wir können uns nicht mit allem belasten […] sichten, alles sichten (ebd.: 176) Die “gewaltige Inventur” zielt letztlich darauf ab, das Brauchbare des “Errungenschaftsjahrhundert[s]” (ebd.) ins neue Jahrtausend hinüber zur retten, während der “Katastrophendreck” (ebd.) beständiger Kriege schlichtweg aus dem Kulturrepertoire aussortiert werden soll: [M]ein Gedächtnis ist ein Sieb / wie hat dieser Dschungelkrieg, wie hat dieser Krieg mit den vielen Hubschraubern gleich wieder geheißen? […] Man kann sich nicht alles merken, irgendwie muss man ja auswählen. Das Gedächtnis als Sieb. (ebd.: 130) Durch das Sammeln, die Selektion und das anschließende Speichern von Informationen wird insgesamt ein Kulturrepertoire erstellt, das in der Gegenwart ständig verfügbar gehalten wird. Dadurch etabliert der Text ein Zeitkonzept, das im Wesentlichen darauf abzielt, die alte Zeitrechnung aufeinander folgender Zeitabschnitte aufzuheben. “Die alte Zeitrechnung ist unterbrochen, […] wir […] erklären die christliche Zeitrechnung bis auf weiteres für ausgesetzt” (ebd.: 15). Das neue Zeitkonzept präsentiert sich als eine endlose Jetztzeit, in der die positiven Errungenschaften der Vergangenheit in der Gegenwart synchronisiert werden. Dadurch soll insgesamt eine neue Welt entstehen, deren Neuentwurf bereits zu Beginn mit geradezu biblischen Worten proklamiert wird: “Am Anfang war die Ultrawelt” (ebd.: 7), und diese Ultrawelt versteht sich im Wesentlichen als eine akustische Erlebniswelt. “Am meisten freue ich mich auf die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts: alles wird anders klingen, was nicht jetzt schon anders klingt” (ebd.: 13). Das Jahr 2000 wird zur ‘Schallgrenze’ erklärt, die die Neuerschaffung der Welt gewissermaßen einläutet. 16 Gut laut präsentiert demnach eine discours-Struktur, die die Konstruktionsweise elektronischer Musik strukturell zu adaptieren versucht, indem Versatzstücke unterschiedlicher Zeitebenen miteinander kombiniert werden. Die sampling-Technik beruht dabei auf den Prinzipien der Synchronisation einerseits und dem Neu-Erfinden durch Kombination andererseits. Sie zeigt sich insofern als funktional für die histoire-Ebene, als sie die Kulturtechnik des neuen Jahrtausends bildet, mittels derer insgesamt ein ‘gesampelter’ Neuentwurf von Welt konstruiert wird, in dem die historischen Epochen zu Gunsten einer geschichtslosen Gegenwart aufgehoben sind. 3. Die Technik des samplings bestimmt jedoch nicht ausschließlich die Makrostruktur des Textes, sondern prägt außerdem die spezifische Redeweise des Erzählers. Das signifikanteste Merkmal der Sprachebene ist die monotone Aneinanderreihung syntaktischer Einheiten, die den Erzählduktus des Textes weitgehend bestimmen. Ingo Irsigler 100 Dabei wird zunächst ein syntaktisches Schema etabliert, das dann im Folgenden unter Beibehaltung der prinzipiellen syntaktischen Struktur variiert wird: Drogensüchtiges Verlangen nach Musik, drogensüchtiges Verlangen nach immer mehr, drogensüchtiges Verlangen nach immer mehr toller Musik, tollwütiges Verlangen nach nicht endender Musik. (ebd.: 10) Das Paradigma “Drogensüchtiges Verlangen nach Musik” bildet innerhalb des Textsegments das erste syntaktische Schema, das direkt im Anschluss durch ein zweites Schema monotoner Fragen abgelöst wird: “Ist es der Geruch von Rauch? Ist es dieser Lagerfeuer- und Matratzengeruch? […] Wann war die Ölkrise, wann war das Sonntagsfahrverbot? ” (ebd.) Dann folgt das dritte Schema: “Am Anfang war der Strom. Am Anfang war das Leben in Höhlen” (ebd.), das mit dem Lexem der Höhle ein semantisches Element aus dem Frageschema aufnimmt. Danach wird ein viertes Schema etabliert, das jeweils mit der syntaktischen Einheit “Bin ich froh” (ebd.: 11) eingeleitet wird, um im Anschluss wieder zum ersten Schema zurückzukehren (“Seltsamkeitssüchtiges Verlangen nach Bernds und Christos’ größenwahnsinniger Musik” (ebd.)). Im Anschluss wird dann erneut das “Bin ich froh”- Schema weitergeführt. Derartige monotone Aneinanderreihungen bilden innerhalb des Erzählens das übergeordnete syntaktische Präferenzmuster und prägen über weite Strecken den Sprachstil des Erzählers. Die sprachliche Norm, die dieser spezifischen Sprachpraxis zu Grunde liegt, lässt sich innerhalb des Textes sowohl aus der Gesamtkonstruktion als auch aus dem dominanten Musikdiskurs als sprachliche Simulation elektronischer Musik identifizieren, dessen leitendes Formprinzip gerade auf der Aneinanderreihung monotoner Beats beruht. Die Variationen innerhalb der einzelnen Grundmuster basieren auf einem Prinzip der Wortbildung, das wiederum deutliche Merkmale des samplings erkennen lässt. Erstellt man beispielsweise eine Liste der im ersten Schema manifesten Variationen, so erhält man eine paradigmatische Reihe der folgenden Komposita und ihrer Flexionsendungen: Drogen-süchtig -es toll-wütig-es Seltsamkeits-süchtig - es Vibrations-süchtig -es Abwechslungs-süchtig -es Die Komposita basieren jeweils auf dem Adjektiv ‘süchtig’ und der Flexionsendung, die aus der spezifischen Stellung in der syntaktischen Einheit resultiert. Das Prinzip der Wortbildung besteht nun darin, das Substantiv des Kompositums beliebig zu substituieren, um dadurch unter anderem auch solche Lexeme zu bilden, die in der Normalsprache nicht vorkommen (z.B. “Seltsamkeitssüchtig”). Neben dem Prinzip grammatikalischer bestimmt ferner die phonetische Äquivalenz die Produktion von Lexemen. So wird beispielsweise das Lexem “drogensüchtiges” durch “tollwütiges” ersetzt, das sich aufgrund seiner Lautstruktur in die paradigmatische Reihe eingliedern lässt. 17 Auf diese Weise wird eine Vielzahl von Lexemen gebildet, die dann wiederum in andere syntaktische Strukturen eingesetzt bzw. eben ‘hinein gesampelt’ werden können. “Tanz- und Bewegungswütige”, heißt es an anderer Stelle, “treffen auf Tanz- und Bewegungssüchtige, treffen auf Tanz- und Bewegungsbesessene” (ebd.: 79). Das Prinzip, nach dem sich solche paradigmatischen Reihen generieren lassen, lässt sich nicht nur textlinguistisch rekonstruieren, sondern wird im Text auch deutlich markiert: Immer wieder können nämlich Textpassagen ausfindig gemacht werden, in denen Komposita in ihre einzelnen Komponen- “Music makes the world go sound” 101 ten zerlegt werden. “Die Nacht, der Flug, das Verbot”, wird beispielsweise eine narrative Sequenz eingeleitet, in der dann eine Vielzahl von Lexemen in den Text eingestreut werden, die alle den Bestandteil ‘Flug’ enthalten: “Flughafen”, “Flugzeug”, “Einflugschneise” oder “Flugbewegung” (ebd.: 16). Dieses Verfahren führt mitunter zu skurrilen Wortreihen. So wird beispielsweise aus dem Lexem “Reichsautobahnbrücke” zunächst “Kraftwerks Autobahn”, danach “Bundesautobahnraststätten” und schließlich “Reichsautobahnraststätten” gebildet (ebd.: 121). Das Sprachsystem wird auf diese Art und Weise als reicher Fundus für Sprachexperimente nutzbar gemacht, das Sprachsampling führt in Analogie zum musikalischen Verfahren zum ‘Neu-Erfinden’ der Sprache beim Sprechen. Neben dem Prinzip des Neu-Erfindens wird auch das Prinzip der Synchronisation, das als wesentliches Konstruktionsmoment der Textstruktur bestimmt werden konnte, sprachlich zum Ausdruck gebracht. In der bereits zitierten Textstelle Giorgio Moroder’s Sound of Munich Giorgio Moroder’s Early Techno Sound of Munich Giorgio Moroder’s Donna Summer Sound of Munich Giorgio Moroder’s Pre-Techno Disco Sound of Munich Giorgio Moroder’s Late-Seventies Plastic Sound of Munich (ebd.: 11) zeigt sich das Verfahren der “cultural archeology”, d.h. der Eingliederung von selektivem Vergangenheitsmaterial in die Gegenwart, auch auf syntaktischer Ebene. Die syntaktische Einheit besteht in ihrem Kern aus der Wendung “Giorgio Moroder’s Sound of Munich”, die im Anschluss stetig um einen weiteren Bestandteil variiert wird. In der spezifischen Präsentationsform des Auflistens wird nun zum einen das Immer-Lauter-Werden, das im Anschluss vom Sprecher explizit thematisiert wird (“Vibrationssüchtiges Verlangen nach immer lauter werdender Musik”), durch die sich beständig steigernde Extension des Paradigmas im Schriftbild graphisch markiert. 18 Daneben ist diese Präsentationsform auch insofern bedeutsam, als sie wiederum eine Reihe paradigmatischer Alternativen herausbildet. Die einzelnen Variationen der Ausgangsstruktur werden dabei zunächst in einer vertikalen Struktur angeordnet, die dann einige Seiten später in die syntagmatische Reihe “Giorgio Moroder’s Late Seventies Pre-Techno Donna Summer Disco Sound of Mjunik” (ebd.: 14) überführt wird. Die grundlegende syntaktische Ausgangsstruktur wird dabei zwar beibehalten, jedoch wird diese durch einzelne, selektive Bestandteile der vertikalen Reihe erweitert. Dadurch wird zum einen die temporale Synchronisation der Soundmodifikationen in der Gegenwart syntaktisch markiert, zum anderen entsteht durch die spezifische Kombination wiederum etwas sprachlich ‘Neues’. Neukombination und Synchronisation auf der Grundlage eines prinzipiell monotonen Sprachrhythmus’, der aus einer Aneinanderreihung analoger syntaktischer Einheiten resultiert, sind damit die Hauptmerkmale des Sprachstils von Neumeisters Erzähler. Der Text kreiert über das sampling einen Sprachstil, der auf der discours-Ebene dasjenige ausdrückt, was auf der histoire-Ebene verhandelt wird: Die gesampelte Sprache korrespondiert mit einem gesampelten Weltentwurf, dessen Zentrum der musikalische Kosmos des Erzählers bildet. Die sprachliche Präsentation verhält sich dabei homolog zur strukturellen Anlage des Gesamttextes, denn genauso wie die thematischen Textelemente mittels der sampling- Technik miteinander verknüpft werden, geht der Erzähler mit dem Sprachmaterial um: Er sammelt, selektiert und kombiniert sprachliche Elemente und fügt sie in feste syntaktische Strukturen ein. Ingo Irsigler 102 Dass diese Erzählweise keine artifizielle Technik im Sinne einer innovativen künstlerischen Position repräsentiert, zeigt sich bereits markant am Erzählrahmen, denn sowohl die grundlegende Konstruktionsweise als auch die Redeweise des Sprechers sind in den fiktionalen Rahmen der Tonbandaufnahme integriert, verweisen also insgesamt auf eine als ‘authentisch’ ausgewiesene Sprechsituation. 19 Darüber hinaus deuten Selbstaussagen des Sprechers darauf hin, dass die sampling-Technik dessen kognitive Struktur prägt, eine Denkstruktur, die deutliche Züge eines maschinellen Computerdenkens trägt: “[M]ein Gedächtnis ist ein Sieb” (ebd.: 130), “speichern oder zwischenspeichern, zwischenspeichern oder Papierkorb? Im Kopf eingescannte Bilder zum Beispiel” (ebd.: 133), “die im Kopf gesamplete Musik […] die im Kopf gespeicherten Bilder zum Beispiel” (ebd.: 126), oder aber die Vermutung des Ich-Erzählers, dass sein Denken “möglicherweise […] längst synchronisiert” sei, dies alles sind Aussagen, die von der Annäherung kognitiver Prozesse an ein “Maschinendenken” zeugen, das auf den hierarchisierten Schritten der Selektion, dem Speichern und der anschließenden Synchronisation von Informationen basiert. Dass diese kognitive Struktur auch den spezifischen Sprachstil des Erzählers prägt, zeigt sich markant an dem maschinellen Prozess der Zerschlagung von Komposita, die jeweils mit der sprachlichen Wendung “Menschmaschine sagt: ” eingeleitet wird: “Menschmaschine sagt: das Hoch, der Druck, die Zone / Menschmaschine sagt: das Wasser, der Schutz, die Polizei” (ebd.: 106). Durch die explizite Kennzeichnung des Fragmentarisierens der Sprache als verbale Ausdrucksform der “Menschmaschine” wird zugleich ein personales Konzept proklamiert, das auf einer grundlegenden Synthese aus Mensch und Maschine basiert und das dem kulturgeschichtlichen Neuanfang ein neues Menschenbild zur Seite stellt. 20 Das sampling bildet demnach insgesamt die kognitive Struktur des Erzählers ab, die deshalb auch dessen Erzählen und damit die discours-Struktur insgesamt maßgebend prägt. Der Sprachstil ist - und dies hat die Analyse deutlich gezeigt - Teil einer discours-Struktur, die sich insgesamt nur vom Paradigma der sampling-Technik aus erschließen lässt. Er lässt sich insofern als popmusikalisch kodiert charakterisieren, als er die wesentlichen Strukturprinzipien elektronischer Musik sprachlich zu adaptieren versucht. Das in der Analyse rekonstruierte Sprachsampling ist dabei der verbale Ausdruck eines spezifischen Personenkonzepts, das in der gesampelten Sprache insgesamt ein neues Denken für das neue Jahrtausend verbalisiert. Der Sprachstil des Erzählers beschreibt demnach eine für den Text wesentliche Teilstruktur der discours-Ebene, die eine signifikante Homologie zu der ihr übergeordneten Gesamtstruktur aufweist - eine Gesamtstruktur, die einen an popmusikalischen Verfahren orientierten ‘Erzählstil’ sichtbar werden lässt, der sich insbesondere als funktional für die im Text etablierte Geschichts- und Personenkonstruktion erweist. Die Analyse von Neumeisters Erzähltext markiert damit deutlich eine grundlegende Problematik des Stilbegriffs: Je weiter man ihn fasst, um das Erzählen in seiner Gesamtheit zu charakterisieren, desto mehr nähert er sich dem discours-Begriff an. Begrenzt man ihn stattdessen auf die Sprachanalyse, so kann er als ein discours-Element insofern sinnvoll von anderen discours-Elementen getrennt werden, als er ausschließlich eine spezifische Sprachbenutzung beschreibt, mittels derer die prinzipielle Erzählweise näher charakterisiert werden kann. “Music makes the world go sound” 103 4. Anhand von Neumeisters Gut laut ließ sich beispielhaft demonstrieren, dass der Sprachstil ein innovatives Moment der Erzählweise darstellt, die sich signifikant an populären Musikstilen orientiert. Über diesen Einzelfall hinaus scheint die Sprachstilanalyse für den wissenschaftlichen Umgang mit Popliteratur insgesamt äußerst produktiv zu sein, wie der Blick auf andere popliterarische Texte zeigt. Besonders markant kann dies an Rainald Goetz’ Erzählung Rave demonstriert werden, in deren Zentrum nämlich die selbstreflexive Fragestellung steht, wie denn “ein Text klingen” müsse, “der von unserem Leben handelt” (Goetz 1998: 32) - einem Leben, das im Wesentlichen über die unmittelbare Teilhabe an der audio-visuellen Erlebniswelt der Ravekultur definiert wird. Goetz’ Erzähler stellt sich diesem Problem: “Ich hatte eine Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen müßte. […] Man dürfte diese Texte nicht nur rein vom Sinn her nehmen” (ebd.: 32f.) - und genau diese Auflösung des Sinns in reinen Sound prägt insbesondere in denjenigen Textpassagen den Sprachstil des Erzählens, in denen das unmittelbare situative Erleben dargestellt werden soll. 21 So präsentiert sich Rave als “disparate, inkomplette” Aneinanderreihung scheinbar “zusammenhanglose[r] Sequenzen” und “Moment-Protokolle”, deren sprachlicher Stil als “Äquivalent zur Syntax der Musikmaschine” erscheint, “die auch keinen Sinn im hermeneutischen Verständnis hervorbringt. Es geht im Grunde um den ‘Bum-bum-bum des Beats’ [Rainald Goetz, I.I.]” (Höfler 2001: 264f.) und damit - wie der Erzähler erläutert - um den experimentellen Versuch, “die Sprache von ihrer Mitteilungsabsicht” zu befreien, “[d]aß die Schrift nur noch ein autistisches, reines, von der Zeit selbst diktiertes Gekritzel wäre, Atem. Jenseits des Todes” (Goetz 1998: 262). Dass das Sprachexperiment einer vom semantischen Gehalt befreiten Sprachpraxis, die einzig und allein einen spezifischen Sound produziert, letztlich scheitert, räumt der Erzähler im Anschluss an die gerade zitierte Textpassage selbstkritisch ein: “Aber auf dessen Eintreten muß sie dann warten, um Text zu werden. Schade ist das” (ebd.). Noch deutlich artikuliert sich der defizitäre Status der Sprache als Repräsentationsform des unmittelbar Erlebten in der folgenden Textpassage: Es war die Ohne-Worte-Zeit, wo wir uns in allen möglichen Situationen immer nur so komisch anschauten mit großen Augen, den Kopf schüttelten und fast nichts mehr sagen konnten, außer: ohne Wortepfbrutal der Wahnsinnohne Worte, echt Das war sozusagen unser Glücksgedicht. (Goetz 1998: 253) Das “Glücksgedicht” muss, da es keinen erkennbaren Sinn mehr produziert, direkt im Anschluss vom Erzähler erläutert, also mit Sinn aufgefüllt werden: “Gemeint war damit ein Erstaunen, eine Bewunderung für das Überwältigende, Umwerfende […]” (ebd.). Obgleich der Text damit radikal vorführt, dass die auf der histoire-Ebene beschriebene Erlebniswelt letztlich jenseits der sprachlichen Artikulierbarkeit liegt, zeigt sich der Erzähler trotz allem bemüht, sich der von ihm beschriebenen Realität über die discours-Struktur des Textes anzunähern. Sowohl in Goetz’ Erzählung Rave als auch in Neumeisters Gut laut erweisen sich die verwendeten Sprachformen als funktional für eine Erzählweise, die versucht, popkulturell Ingo Irsigler 104 geprägte Erlebniswelten mittels popkulturell kodierter Darstellungsformen zu beschreiben. Diese Erzählweise - so konnte durch die Stilanalyse gezeigt werden - lässt sich als narratives Verfahren näher bestimmen, das kulturelle Realität in einzelnen Fragmente auflöst und die daraus gefertigten, subjektiv adaptierten kulturellen Versatzstücke für ein spezifisches Identitätskonzept der Erzählerfiguren funktionalisiert. Der Sprachstil erweist sich insofern als konstitutiver Bestandteil dieser Erzählweise, als sich das Subjekt gerade mittels Sprache seine eigene kulturelle Umwelt konstruiert. Die Texte der Autoren Neumeister und Goetz grenzen sich gerade in dieser spezifischen Form des Erzählens vom Gros derjenigen Autoren ab, die hauptsächlich wegen ihrer Themen und der performanceartigen Selbstinszenierung unter dem Label ‘Pop-Literatur’ firmieren und die die öffentliche Diskussion über die Strömung bisher dominierten. Als paradigmatischer Fall kann der Erfolgsautor Benjamin von Stuckrad-Barre gelten, der in seinem Debütroman Soloalbum im feuilletonistischen Plauderton eine gängige Adoleszenz-Geschichte erzählt. Zur Popliteratur wird diese Geschichte ausschließlich durch die Relevanz der Popmusik als identitätsstiftendes Konsumgut, mittels dessen eine Abgrenzung des ‘Ichs’ vom ‘Anderen’ erfolgt. 22 Popmusik ist in Barres Roman primär Ausdruck einer oberflächlichen Selbstinszenierung des Protagonisten, erweist sich jedoch für die Form des Erzählens insgesamt als unfunktional. Aus narratologischer Sicht präsentiert sich folglich in den Texten von Goetz und Neumeister eine innovative ‘Sonderform’ der Popliteratur, die deutliche Differenzen zu Autoren wie Stuckrad-Barre, Florian Illies oder Alexa Hennig von Lange erkennen lässt. 23 Aus dieser prinzipiellen Heterogenität der unter dem Label ‘Popliteratur’ verhandelten Texte ergibt sich insgesamt die Notwendigkeit einer Differenzierung des Gegenstandsfeldes, für die die Stilanalyse immerhin ein verlässliches Analyseinstrument bereitstellt. 5. Literaturangaben Primärliteratur Goetz, Rainald 1998: Rave. Erzählung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hennig von Lange, Alexa 1999: Relax. Roman, Reinbek bei Hamburg: Rogner & Bernhard. Illies, Florian 2000: Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin: Argon. Meinecke, Thomas 2001: Hellblau. Roman, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Neumeister, Andreas 1998: Gut laut. Roman, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Neumeister, Andreas 2001: Gut laut. Version 2.0, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Von Stuckrad-Barre, Benjamin 1999: Soloalbum. Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Sekundärliteratur Anderegg, Johannes 1995: “Stil und Stilbegriff in der neueren Literaturwissenschaft”, in: Stickel (ed.) 1995: 115-127. Baßler, Moritz 2002: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: C.H. Beck. Diel, Marcel 2000: “Näherungsweise Pop”, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur 1 (2000): 3-7. Frank, Dirk (ed.) 2003: Arbeitstexte für den Unterricht. Popliteratur, Stuttgart: Reclam. Freund, Wieland / Freund, Winfried (ed.) 2001: Der deutsche Roman der Gegenwart, München: Fink. Höfler, Günther A. 2001: “Sampling - das Pop-Paradigma in der Literatur als Epochenphänomen”, in: Jacobsen (ed.) 2001: 249-267. Jacobsen, Dietmar (ed.) 2001: Kontinuität und Wandel, Apokalyptik und Prophetie. Literatur an Jahrhundertschwellen. Berlin/ Frankfurt am Main/ New York: Lang. “Music makes the world go sound” 105 Jung, Thomas (ed.) 2002 a: Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, Frankfurt am Main: Peter Lang (= Osloer Beiträge zur Germanistik, 32). Jung, Thomas 2002 b: “Vom Pop international zur Tristesse Royal. Die Popliteratur, der Kommerz und die postmoderne Beliebigkeit”, in: Jung (ed.) 2002 a: 29-54. Oswald, Georg 2001: “Wann ist Literatur Pop? Eine empirische Antwort”, in: Freund/ Freund (ed.) 2001: 29-43. Sandig, Barbara 1995: “Tendenzen der linguistischen Stilforschung”, in: Stickel (ed.) 1995: 27-61. Schärf, Christian 2001: Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz: Roman und Film - zu einer intermedialen Poetik der modernen Literatur, Stuttgart: Steiner. Schuhmacher, Eckhard 2000 a: “Pop, Literatur. Ein Interview mit Thomas Meinecke”, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur 1 (2000): 19-20. Schuhmacher, Eckhard 2003 b: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Spillner, Bernd 1995: “Stilsemiotik”, in: Stickel (ed.) 1995: 62-93. Stickel, Gerhard (ed.) 1995: Stilfragen. Berlin/ New York: de Gruyter. Anmerkungen 1 Insbesondere die Harald Schmidt Show bildete ein Forum für die jungen ‘Pop-Autoren’. So zählte Benjamin von Stuckrad-Barre Ende der 90er Jahre nicht nur zu den regelmäßigen Talk-Gästen der Show, sondern darüber hinaus wurde sein Text Klaus Peymann kauft sich keine Hose, geht aber mit essen in der Harald Schmidt Show uraufgeführt. Gerade Ende der 90er Jahre wurden junge, populäre Autoren wie Florian Illies, Vladimir Kaminer, Karen Duve, Julia Franck oder Alexa Hennig von Lange (die es im Zeitraum von 1998 bis 2004 auf insgesamt immerhin acht Auftritte brachte) in die Show eingeladen, während die Auftritte arrivierter deutscher Autoren singuläre Ausnahmen bildeten. Im Falle von Benjamin von Stuckrad-Barre setzte der Verlag das hohe symbolische Kapital, das mit dem medialen Image des Entertainers Harald Schmidt verbunden ist, zur Vermarktung des Buches ein. Neben den obligatorischen Zitaten aus prestigeträchtigen Rezensionsorganen wie dem Spiegel oder dem Stern wird als Autorität für die Qualität des Buches eben auch Harald Schmidt mit der Aufforderung “Jugend der Welt - kauf dieses Buch und lies es! ” auf der Buchrückseite zitiert. 2 Der Rowohlt Taschenbuch Verlag bewirbt beispielsweise auch den vierten Roman ihrer Autorin Alexa Hennig von Lange (Woher ich komme, 2002) mit einem Zitat aus der Wochenzeitung Die Zeit, die Hennig von Lange in Bezug auf ihr literarisches Debüt Relax als “Antwort der Literatur auf die Spice Girls” bezeichnete. Obgleich der Roman Woher ich komme in konventioneller Weise die Kindheitserfahrungen einer 30-jährigen Frau thematisiert, sich also weder thematisch noch formal-ästhetisch der Popliteratur zurechnen lässt, wird die Autorin dennoch entsprechend ihres Medienimages weiterhin als ‘Pop-Autorin’ vermarktet. 3 Thomas Jung fasst diese Entwicklung seit Mitte der 90er prägnant zusammen, wenn er konstatiert: “Dem deutschen Literaturbetrieb ist es gelungen, mit seiner neuen, Jugendlichkeit und Erfolg evozierenden Autorengeneration, mit einer konsequenten Marketingstrategie sowie einem nachziehenden Feuilleton […] eine neue Literatur zu etablieren” (Jung 2002 b: 34). 4 Gerade die Zielgruppenspezifik der Popliteratur bildete sich in der wissenschaftlichen Diskussion als ein wesentliches Merkmal popliterarischer Texte heraus (vgl. Jung 2002 b: 47ff.), die unter dem Gesichtspunkt einer für Popliteratur insgesamt spezifischen Form der literarischen Kommunikation noch weiter konkretisiert werden müsste. 5 Obgleich sich eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten unter produktionsästhetischer Perspektive dem Begriff genähert haben, gibt es bisher noch keine übereinstimmende Position, wie denn die wesentlichen Merkmale einer popliterarischen Ästhetik zu bestimmen seien, geschweige denn, welche Texte aufgrund welcher Kriterien nun genau unter dem Label ‘Popliteratur’ rubriziert werden sollen. Den Versuch, die deutsche ‘Popliteratur’ der 90er insgesamt zu charakterisieren, unternehmen u.a. Thomas Jung (Jung 2002 b: 29-53), der ‘Popliteratur’ unter rezeptions- und produktionsästhetischen Gesichtspunkten als Genre bestimmt, Moritz Baßler (Baßler 2002), der in seiner Studie zum Pop-Roman insbesondere das ästhetisch-thematische Verfahren der kulturellen Archivierung in den Blick nimmt, sowie Georg M. Oswalds, der die neuere deutsche Popliteratur als literarische Strömung kennzeichnet, die “versucht, aktuelle kulturelle Entwicklungen in sich aufzunehmen” (Oswald 2001: 29-43, hier: 43). Ingo Irsigler 106 6 Vgl. Baßler 2002: 80ff. Baßler zielt in seiner Analyse zum Pop-Roman insbesondere auf die vom Film entlehnte Erzählweise des Romans ab. “Das dort angewandte Verfahren ist nun allerdings, zumindest in seiner 90er Jahre Variante, nicht literarischer, sondern filmischer Herkunft” (ebd.: 81). Ob die Adaption filmischer Verfahren als hinreichendes Kriterium ausreicht, um den Roman sinnvoll der Popliteratur zuzuordnen, erscheint insofern fraglich, als filmisches Erzählen bereits in der Literatur der Frühen Moderne als Erzähltechnik verwendet wurde. Beispielhaft sei hierbei an Alfred Döblins Großstadtroman Berlin Alexanderplatz (1929) verwiesen. (vgl. Schärf 2001). 7 Vgl. Höfler 2001: 249-267. 8 Andreas Neumeisters Gut laut wurde im Jahre 1998 beim Suhrkamp Verlag erstveröffentlicht (Neumeister 1998). Im Folgenden beziehe ich mich auf die zweite Ausgabe aus dem Jahre 2001, die gegenüber der Erstausgabe nur in einigen wenigen Textpassagen leicht modifiziert wurde (Neumeister 2001). 9 Einen ersten Überblick zur Stiltheorie in der Literaturwissenschaft liefert Johannes Anderegg in seinem Aufsatz Stil und Stilbegriff in der neueren Literaturwissenschaft (Anderegg 1995: 115-127). 10 Vgl. u.a. die Definition Bernd Spillners, der den Begriff ‘Stil’ als “das Resultat aus der Auswahl des Sprechers/ Schreibers aus den konkurrierenden Möglichkeiten des Sprachsystems und der Rekonstruierung durch den textrezipierenden Hörer/ Leser” definiert (Spillner 1995: 69). Einen Überblick zu den wesentlichen Tendenzen der linguistischen Stilforschung gibt u.a. Barbara Sandig (Sandig 1995: 27-61). 11 Günther A. Höfler folgert daraus, dass “Neumeisters Text […] im Untertitel fälschlich” als Roman bezeichnet werde, da er versuche, “narrative Sequenzen” gerade zu vermeiden (Höfler 2001: 254). 12 Dem Text vor und nachgestellt sind graphische Elemente, die in Form und Gestaltung an eine Kassettenhülle erinnern. Der Prozess des “hometaping[s]” wird im Text dann auch selbstreflexiv thematisiert: “Kassetteninhalt festlegen / Kassettenhüllen entwerfen / Kassettentitel erfinden” (Neumeister 2001: 29). Vgl. außerdem Baßler 2002: 150f. 13 Dies rechtfertigt dann auch entgegen der Argumentation Günther Höflers die Gattungsangabe ‘Roman’ im Untertitel der Erstausgabe, lässt sich aus dem Text doch insgesamt ein subjektiv vermittelter, auf Totalität abzielender Weltentwurf rekonstruieren. 14 Die absenten Bilder und Klänge indizieren ein virtuell erfassbares Ganzes, das im Text lediglich als textuelles Fragment repräsentiert wird. In diesem Verfahren entwickelt der Text insofern eine für Popliteratur charakteristische Zielgruppenspezifik, als diese Textfragmente nur von denjenigen Lesern referentialisiert werden können, die über ein entsprechendes kulturelles Wissen verfügen. 15 Der Erzähler bezeichnet sein Verfahren der Archivierung selbst als “Cultural archeology” (Neumeister 2001: 30). Moritz Baßler stellt dieses Verfahren ins Zentrum seiner Analyse Der deutsche Pop-Roman. Vgl. hierbei insbesondere die Bemerkungen Baßlers zu Neumeisters Gut laut (Basler 2002: 148-151). 16 Der Text inszeniert die bevorstehende Jahrtausendwende als einen historisch-kulturellen Nullpunkt. Gut laut unterscheidet sich hierin signifikant von anderen popliterarischen Erzähltexten der 90er Jahre. Während die Mehrzahl der Texte einen Ist-Zustand beschreiben, der sich als grundlegend statisch erweist, verweist die markante Datumsgrenze 2000 gerade auf eine radikale Transformation des Status Quo im neuen Jahrtausend. 17 Neben der äquivalenten Lautstruktur lässt sich darüber hinaus eine semantische Similarität der Lexeme “tollwütig” und “drogensüchtig” nachweisen, verweisen doch beide auf einen psychischen Kontrollverlust der Person. 18 So lässt sich anhand der Textstelle exemplarisch belegen, dass auch die Spezifik der graphischen Repräsentation des Textes insofern bedeutsam ist, als sie versucht, Eigenschaften eines akustischen “Gegenstandes, sekundär typographisch expressiv” abzubilden (Spillner 1995: 78). 19 Das Konzept der Tonbandaufnahme indiziert insofern eine authentische Sprechsituation, als das Sprechen im Verlauf der Aufnahme als prinzipiell unreflektierter Redefluss der Sprecherinstanz ausgewiesen wird. 20 Das Konzept der “Menschmaschine” referiert auf das Album Die Mensch Maschine (1978) der Deutschrockband Kraftwerk, die ihr künstlerisches Schaffen nach eigenen Angaben in die Tradition des deutschen Futurismus des frühen 20. Jahrhunderts gestellt haben. Als prägender Einfluss für das künstlerische Konzept des Albums ist hierbei Fritz Langs Klassiker M ETROPOLIS (1926) zu nennen, dessen Film titelgebend für einen Song des Albums war. Wurde die ‘Menschmaschine’ in Fritz Langs Film allerdings negativ semantisiert, indem die maschinelle Reproduktion des Menschen für manipulative Zwecke missbraucht worden ist, so wird sie bei Kraftwerk als positiver Fortschritt bewertet: Ziel des Maschinenmenschen ist es, die eigene Person zu doppeln, um die prinzipielle Möglichkeit zu eröffnen, an mehreren Orten gleichzeitig zu sein. So wurde das Album Die Mensch Maschine mithilfe angefertigter Roboter-Doubletten der Künstler an zwei Orten gleichzeitig vorgestellt. Dass sich der Erzähler in Gut laut an diesem Konzept der ‘Menschmaschine’ orientiert, zeigt der explizite “Music makes the world go sound” 107 Verweis auf die Band Kraftwerk (vgl. Neumeister 2001: 135) sowie die spezifische Funktionalisierung des Konzeptes für ein “multiple[s]” Personenkonzept, das auf das “strategische Ausbauen von Persönlichkeitsteilen” abzielt (ebd.: 138). 21 Eckhard Schumacher stellt zu Recht fest, dass es dem Erzähler in Rave nicht darum geht, “den Sound der Musik maßstabsgetreu auf den Text zu übertragen”, sondern dass er vielmehr versuche, sich dem Sound der “Geschichten aus dem Nachtleben” anzunähern, um damit das Erleben unmittelbar darzustellen (Schumacher 2003: 150). 22 Mit der Popband Oasis wird beispielsweise eine elitäre ‘Geschmacksnorm’ gebildet, mittels derer sich der Erzähler vom Konsumverhalten seiner Umwelt abgrenzt. 23 In ähnlicher Weise wie die Texte Stuckrad-Barres verhandeln auch Florian Illies’ Generation Golf oder Alexa Hennig von Langes Relax popkulturelle Diskurse und Themen, transportieren diese jedoch ebenfalls nicht über popspezifische Formen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Textkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz in der modernen Kommunikations- und Wissensgesellschaft. Man braucht sie, um Texte verstehen, schreiben und anhand von Texten lernen zu können. Das gilt für den Wissenserwerb in der Schule und im Studium, aber auch für die Auseinandersetzung mit Texten in Beruf oder Wissenschaft. In diesem Band sind Beiträge versammelt, welche die Zusammenhänge von Textkompetenz, Sprachlernen und Unterricht aus der Perspektive der Linguistik, der Kognitionswissenschaften, der Literalitätsforschung und der Didaktik beleuchten. Mit Beiträgen von: Piotr Dobrowolski · Hans Drumbl · Christian Fandrych · Helmuth Feilke · Antonie Hornung · Peter Klotz · Hans-Jürgen Krumm · Claudio Nodari · Hanspeter Ortner · Annemarie Peltzer-Karpf · Daniel Perrin / Eva-Maria Jakobs · Christoph Sauer · Maximilian Scherner · Sabine Schmölzer-Eibinger · Ingo Thonhauser · Georg Weidacher Sabine Schmölzer-Eibinger / Georg Weidacher (Hg.) Textkompetenz Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung Europäische Studien zur Textlinguistik, Band 4 2007, 320 Seiten, €[D] 49,00/ Sfr 77,50 ISBN 978-3-8233-6360-6 Short Cuts - Great Stories Sinnvermittlung in filmischem Erzählen in der Literatur und literarischem Erzählen im Film Martin Nies Der Artikel analysiert Funktionen fremdmedialer Erzähltechniken in Literatur und Film am Beispiel von Short Cuts - also der alternierenden Montage fragmentierter Erzählsegmente unterschiedlicher Handlungsstränge - einerseits und ‘episierendem’ Erzählen durch eine extradiegetische Instanz andererseits. In beiden Fällen ist das Problem der Kohärenz und des Sinnzusammenhanges des Erzählten zentral für die Beschaffenheit der textuellen Weltkonstrukte. Ist der Sinnzusammenhang bei der Vermittlung der Geschichte durch eine manifeste Erzählinstanz dem Erzählen inhärent, suggerieren Short Cuts gerade die Negation eines übergeordneten Zusammenhalts. Die vergleichende Analyse von Short-Cuts-Narrationen seit dem 18. Jahrhundert offenbart jedoch subtile Kohärenzstiftungsstrategien in den Texten und zeigt, dass ein Stilphänomen im Wandel der Literaturbzw. Filmsysteme unterschiedliche Bedeutungen transportieren kann. This article analyses functions of foreign media based narrative techniques in literature and film. Examples of this are on the one hand “short cuts” - this means an alternating montage of fragmented narrative segments of different strands of action - and “epic tales” told by an extradiegetic narrator on the other hand. In both cases the problem of coherence is central to the composition of the textual world. Whereas coherence is inherent in the narration when a manifest narrator tells a story, short cuts suggest the negation of a superordinate coherence. But in fact a comparative analysis of Short-Cuts-stories since the 18th century has shown that there are subtle strategies of bringing about coherence in the texts. Moreover it has become obvious that a style phenomenon can convey different meanings throughout the change of the literature and film systems. Bestimmte Erzählverfahren, die in der Literatur als außergewöhnlich und experimentell erscheinen, können als eher filmtypisch gelten, die narrativen Strukturen einiger Filme referieren dagegen deutlich auf traditionelle literarische bzw. orale Erzählmuster. In beiden Fällen funktionalisiert das jeweilige Medium signifikant Eigenheiten eines fremden Ausgangsmediums, die dort mediale Konstituenten oder konventionalisiert sind und daher als repräsentativ für dieses angesehen werden können, im Zielmedium aber eine zeichenhafte Überstrukturiertheit auf der Ebene des discours bewirken. Sie entsprechen dann nicht mehr einem innerhalb einer gewissen Variationsbreite anzusiedelnden Normalfall der medialen Präsentation einer Geschichte durch den discours, sondern stellen eine fremdreferenzielle Abweichung dar, die die histoire dominiert und zu einem wesentlichen Bedeutungsträger des literarischen bzw. filmischen Textes wird. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Martin Nies 110 Abgesehen von der Explikation der Besonderheit, des Experimentellen und des Bruchs mit medialen Konventionen, den diese Erzählweisen evozieren, stellt sich die Frage, welche Funktionen sie darüber hinaus im Bedeutungssystem des jeweiligen Textes erfüllen. 1 Die ersten beiden Funktionen lassen sich mit Metafiktionalität und mediale Selbstreflexion bezeichnen: Wenn ein ‘fremder’ Erzählmodus die Geschichte dominiert, wird sie metafiktional gebrochen, verweist selbstreflexiv auf ihre eigene Medialität und ihren Konstruktionscharakter. Eine wesentlichere Funktion dieser Überstrukturierung der histoire durch den discours besteht aber in den darin innewohnenden impliziten Aussagen über ‘Realität’, die ‘Welt’ und über ‘Geschichte’, denn der Modus des jeweils fremden Erzählens bedingt einige fundamentale Voraussetzungen der intratextuellen Realitäts- und Weltkonstrukte. 1. ‘Filmisches’ Erzählen in Literatur und Film: Short Cuts Eine offensichtlich dem Filmischen angenäherte Erzählweise in der Literatur ist die Fragmentierung der Narration durch Short Cuts. Die Bezeichnung dieser spezifischen Art der Strukturierung der histoire durch den discours ist dem programmatischen Titel des gleichnamigen Films von Robert Altman (USA 1993) entlehnt und lässt sich auf die Gesamtheit der literarischen und filmischen Texte übertragen, die sie verwenden. Am Beispiel des Altman-Filmes können aber zunächst einige grundsätzliche Merkmale von Short Cuts skizziert werden. 1.1 Robert Altmans Film S HORT C UTS und Short Cuts im Film Der Film S HORT CUTS kompiliert verschiedene Kurzgeschichten Raymond Carvers als sich parallel nebeneinander entwickelnde Handlungsstränge, die dann sukzessive miteinander verknüpft werden. Es handelt sich also weder um von vornherein eine kohärente Geschichte im Sinne einer Abfolge kausal relationierter Handlungselemente, noch um jeweils in sich abgeschlossene kontinuierlich und sukzessive chronologisch erzählte Handlungseinheiten wie in Episodenfilmen. Während diese in der Regel Variationen über ein Thema (z.B. Taxifahren bei Nacht in Jim Jarmuschs N IGHT ON E ARTH , USA 1991) oder ausgewählte episodische Einblicke in eine kohärente Geschichte darbieten (z.B. einer Person, eines Gegenstandes oder in H OTEL A DLON , Josef von Baky, BRD 1955, beides korreliert als die subjektive Erinnerung eines Ich-Erzählers an bestimmte Ereignisse in der Geschichte des Hotels) fragmentiert die Short-Cuts-Erzählung verschiedene, von einander unabhängige Geschichten bzw. Handlungsstränge in kurze Segmente, die alternierend montiert und an bestimmten Knotenpunkten des Geschehens temporär zusammengeführt werden und sodann weiteres Geschehen kausal motivieren, um eine Handlungskohärenz erst sukzessive entstehen lassen. Die Short-Cuts-Narration kann also nicht von dem erzählten Geschehen unabhängig als reine discours-Strategie betrachtet werden, da sie sich auch durch eine multifokale Geschehenspluralität auf der Ebene der histoire definiert. Damit konstituiert sie von vornherein einen bestimmten Typus von dargestellter Welt: So verweisen die fragmentierten Handlungsstränge prinzipiell auf ein Geschichtsbild, das nicht eine Geschichte präsupponiert, sondern das Nebeneinander vieler individueller Parallelgeschichten. Die Kohärenz einer Gesamthandlung resultiert dann aus Begegnungen der Protagonisten verschiedener Teilerzählungen, d.h. eine gemeinsame Voraussetzung aller Erzählstränge ist ferner eine übergeordnete Kohärenz des Raumes, innerhalb dessen sich die Figuren begegnen können: Das in S HORT C UTS präsentierte Geschehen ist in einem Vorort von Los Angeles situiert und wenn Short Cuts - Great Stories 111 der Abspann die Liste der Darsteller nach der Zugehörigkeit der Figuren zu einem bestimmten Handlungsstrang strukturiert und dieser einen Flurplan des Vorortes unterlegt, suggeriert der Film, dass es ebenso viele parallele Geschichten von den Einwohnern zu erzählen gäbe, wie Grundstücke in der Karte verzeichnet sind. Zu Filmbeginn werden in S HORT C UTS die verschiedenen Stränge und ihr zugehöriges Personal eingeführt, wobei die einzelnen Segmente unter dem gemeinsamen Paradigma ‘Kommen’ und ‘Gehen’ als eine Handlungssequenz inhaltlich zusammengefasst werden können (11: 15). Entsprechend dominieren in der Darstellung Türen, die geöffnet oder geschlossen werden und es finden die ersten Figurenbegegnungen statt. Die Perspektive bleibt hier signifikant auf den Räumen und damit vorausweisend für den Gesamtfilm, bis ein Schnitt einen neuen Raum mit Figuren in einer Ankunfts- oder Absentierungsbewegung präsentiert. Aus derartigen Parallelmontagen unter einem thematischen Paradigma, aus den kausalen Verknüpfungen des Geschehens an bestimmten Knotenpunkten, der grundsätzlichen Raumkohärenz und aus der narrativen Umklammerung der dargestellten Welt auf der Ebene der Ereignisstruktur durch zwei den Gesamtstatus des Raumes und seine Gesellschaft betreffende ‘Naturereignisse’, 2 die in alle Geschichten hineinwirken, ergibt sich wiederum eine übergeordnete Geschichte, nicht der Figuren, sondern des Ortes: (1.) In dem Vorort herrscht eine Ungeziefer-Plage, deren flächendeckende Bekämpfung mit Pestiziden die Bewohner um ihre eigene Vergiftung fürchten lässt. Der Raum ist in der Ausgangssituation also als ein Raum der Heimsuchung und Kontamination durch ‘Schädlinge’ semantisiert, die aber die Normalität der alltäglichen Abläufe nicht beeinträchtigt. Erst die routinierten öffentlichen Gegenmaßnahmen erzeugen eine latente Bedrohung für den gesamten Raum und seine Bewohnbarkeit. Semantisch ist der Raum damit von vornherein als ‘außerhalb der Ordnung geraten’ definiert. (2.) Ein leichtes Erdbeben erschüttert vorübergehend das alltägliche Gleichmaß ohne unmittelbare Schäden zu verursachen. Parallel zu diesem ‘Naturereignis im Zivilisationsraum’ verübt in einem Moment des Kontrollverlustes einer der Protagonisten einen Mord, der unentdeckt und unsanktioniert bleibt, weil man die Tote für das zufällige Opfer eines Erdbebens hält, wie sie in der Region häufig vorkommen und damit dort zum Bereich normaler Erfahrung gehören. Der Mord als das eigentliche Ereignis im Sinne einer hochrangigen Normverletzung wird somit durch die Ordnung des Raumes selbst kaschiert. Diese Ordnung wird allerdings erst aus einer Übersicht über das ganze Geschehen und seine Verknüpfungen sichtbar, über die die implizite Erzählinstanz des Films verfügt, die der Rezipient im Rezeptionsprozess des Filmes sukzessive erlangt und die die Flurkarte des Vorortes im Abspann als abstrakter synchronisierender Plan der gesamten dargestellten Welt semiotisiert. Die Short-Cuts-Erzähltechnik beruht nun ‘formal’ auf zwei wesentlichen Konstituenten der Filmsprache, erstens Schnitt und zweitens Montage, wobei die Fragmentierung des Geschehens und neue Kohärenzstiftung durch die Montage nicht camoufliert ist, um den Erzählakt zu verschleiern, sondern eben als Zeichen und dominantes Strukturprinzip des discours fungiert, das den Erzählvorgang hervorhebt. Daher markieren harte Schnitte in Korrelation mit Raum-, Perspektivwechseln und Wechsel der Handlungsträger deutlich die jeweiligen Segmente. Das heißt, die Short Cuts stellen die Funktionsweise von Film, dessen spezifische Sprache und Syntagmatik zeichenhaft heraus. Als eine filmische Erzählweise - eine Bedeutung tragende Strukturierung und Präsentation von Elementen der histoire auf der Ebene des discours - treten Short Cuts schon 1925 in D IE FREUDLOSE G ASSE (Georg Wilhelm Pabst, D) und 1930 in M ENSCHEN AM S ONNTAG (Robert Siodmak, Billy Wilder, Edgar G. Ulmer, D), als ein international rekurrentes dis- Martin Nies 112 cours-Phänomen aber erst seit den 1990er Jahren auf, z.B. in S MOKE (S MOKE - R AUCHER UNTER SICH , Wayne Wang, USA 1995), S T . P AULI -N ACHT (Sönke Wortmann, D 1999), S ÅNGER FRÅN ANDRA VÅNINGEN (S ONGS FROM THE SECOND F LOOR , Roy Andersson, N/ S/ DK 2000), H UNDSTAGE (Ulrich Seidl, A 2001) und L OVE ACTUALLY (T ATSÄCHLICH …L IEBE , Richard Curtis, GB 2003). Modellbildend hat aber neben Altmans Film vor allem Quentin Tarantinos P ULP F ICTION (USA 1994) gewirkt, der auch die chronologische Abfolge der Segmente auflöst. 1.2 Short Cuts in der Literatur Die Literatur hat dagegen seit der Frühen Moderne immer wieder mit Short Cuts experimentiert; hinlänglich bekannte Beispiele sind Dos Passos’ Manhattan Transfer (1925), Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Vicky Baums Menschen im Hotel (beide 1929), Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951) und Der Tod in Rom (1954) sowie Alfred Anderschs Die Rote (1960). Ein Beispiel aus der skandinavischen Literatur stellt Edvard Hoems Kjærleikens ferjereiser (1975, dt. Fährfahrten der Liebe) dar, eines aus der deutschen Popliteratur der neunziger Jahre Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997). Zwar ist die Erzähltechnik in diesen literarischen Texten offenbar vom Filmischen beeinflusst und referiert vor allem auf dieses Medium, dennoch treten Short Cuts keineswegs erst mit der Erfindung der Filmmontage in die Literatur ein. Es handelt sich also dabei zwar nicht um eine genuin filmische Erzählweise, aber doch um eine, die nach der Entstehung des Mediums die konstitutiven Merkmale der Filmsprache semiotisiert und funktionalisiert. Eine vorfilmische Funktionalisierung der Montage kurzer Szenen, die unterschiedliche Handlungen verschiedener Protagonisten zum Gegenstand haben, findet sich etwa in der gattungsselbstreferenziellen Komödie Die Soldaten (1776) von Jakob Michael Reinhold Lenz. 3 Das Drama weist zwei differente Handlungsstränge auf, denen jeweils auch nach ihrem Stand unterschiedenes Personal zugeordnet ist, die unterschiedlich lokalisiert, in kurze einzelne Szenen fragmentiert und alternierend montiert sind. Die Handlung motiviert sich aus genau den Szenen, in denen Grenzüberschreitungen von Figuren in den jeweils anderen Strang und somit zwischen den Ständen stattfinden. Einige Szenen des vierten Aktes, die in verschiedenen Räumen spielen und daher einen jeweils neuen Bühnenaufbau erfordern, sind so kurz, dass sie den Anweisungen entsprechend zeitgenössisch kaum realisierbar waren und noch bei den Möglichkeiten gegenwärtiger Bühnentechnik in der Inszenierung einigen Aufwand erfordern: Vierte Szene In Armentieres. Desportes (im Prison, hastig auf- und abgehend, einen Brief in der Hand). Wenn sie mir hierher kommt, ist mein ganzes Glück verdorben - zu Schand und Spott bei allen Kameraden. (Setzt sich und schreibt.) - Mein Vater darf sie auch nicht sehen - Fünfte Szene In Lille. Weseners Haus. Der alte Wesener. Ein Bedienter der Gräfin. Wesener. Marie fortgelaufen -! Ich bin des Todes. (Läuft heraus. Der Bediente folgt ihm.) Short Cuts - Great Stories 113 Sechste Szene Marys Wohnung. Mary. Stolzius, der ganz bleich und verwildert dasteht. Mary. So laßt uns ihr nachsetzen zum tausend Element. Ich bin schuld an allem. Gleich lauf hin und bring Pferde her. Stolzius. Wenn man nur wissen könnte, wohin - Mary. Nach Armentieres. Wo kann sie anders hin sein. (Beide ab.) Siebente Szene Weseners Haus. Frau Wesener und Charlotte in Kappen. Wesener kommt wieder. Wesener. Es ist alles umsonst. Sie ist nirgends ausfindig zu machen. (Schlägt in die Hände.) Gott! - wer weiß, wo sie sich ertränkt hat! Charlotte. Wer weiß aber noch, Papa - Wesener. Nichts. Die Boten der Gräfin sind wiedergekommen, und es ist noch keine halbe Stunde, daß man sie vermißt hat. Zu jedem Tor ist einer herausgeritten, und sie kann doch nicht aus der Welt sein in so kurzer Zeit. Achte Szene In Philippeville. Desportes’ Jäger (einen Brief von seinem Herrn in der Hand). Oh! da kommt mir ja ein schönes Stück Wildpret recht ins Garn hereingelaufen. sie hat meinem Herrn geschrieben, sie würde grad’ nach Philippeville zu ihm kommen, (sieht in den Brief) zu Fuß - o, das arme Kind - ich will dich erfrischen. (Lenz 1993: 46ff.) Hier ist die Raumkohärenz in der jeweiligen Szene noch gewahrt, die Bühnenanweisung der ersten Szene des dritten Aktes verlangt jedoch sogar einen vollständigen Wechsel des Schauplatzes von einem Außenin einen Innenraum innerhalb der Szene: “Der Schauplatz [draußen vor “des Juden Haus”, M.N.] verwandelt sich in das Zimmer des Juden” (Lenz 1993: 27), d.h. es ist an dieser Stelle kein Vorhang mit Pause für einen Bühnenumbau vorgesehen, sondern dieser hätte in der Inszenierung coram publico zu erfolgen und würde damit die mimetische Illusion destruieren und die Theatralität des präsentierten Geschehens offenbaren. Die Funktion dieser Szenen bei Lenz besteht demnach in der Abweichung und zwar als einem signifikanten Bruch mit der aristotelischen Normpoetik. 4 Um das Postulat der Einheit des Ortes zu desavouieren, löst der Text die Einheit der Handlung in verschiedene Stränge auf und markiert in der ersten Szene des dritten Aktes in einer Mise en abyme die Auflösung statischer Raumkohärenz. ‘Short Cuts’ werden also schon in diesem frühen literarischen Beispiel als ein radikaler Bruch mit den Regeln des eigenen Mediums, der in der eigentlichen Unaufführbarkeit des Dramas deutlich akzentuiert ist, funktionalisiert und stellen damit in besonderer Weise die Literarizität des Textes heraus. So wird die aristotelische Mimesis-Konzeption von einem Stück auf der Ebene des discours unterlaufen, das auf der Ebene der histoire eine wirklichkeitsbezogene Zurschaustellung sozialer Missstände zum Gegenstand hat und damit gerade in hohem Maße realitätskompatibel sein will. Die Differenzierung zweier Handlungsstränge ist allerdings Teil dieses Realitätsentwurfes, denn sie manifestiert intratextuell das ständische Weltmodell. Wenn die dargestellten sozialen Missstände aus den Begegnungen von Figuren, die ihrem Stand entsprechend den unterschied- Martin Nies 114 lichen Strängen angehören, resultieren, wird deutlich, dass die Separation auf der Ebene des discours noch mehr ist als ein darstellerisches Mittel mit dem Zweck, mediale Konventionen zu brechen. Sie repräsentiert die Ordnung der Gesellschaft insgesamt als eine statische, in der Grenzüberschreitungen zwischen den Handlungssträngen und damit zwischen den Ständen als eine Bedrohung der Weltordnung semantisiert sind. Die Short Cuts konsolidieren durch die offensichtliche Fragmentierung des unterschiedlichen Geschehens dieses Weltmodell zusätzlich, denn hier wird die Separation in differente Handlungseinheiten als zentrales Strukturmerkmal evident. Der von ihnen erzeugte Bruch mit den Normen zeitgenössischer Dramen lässt sich dagegen nicht auf die Haltung des Textes gegenüber der präsentierten Weltordnung übertragen: Er ist lediglich gattungsbezogen. Das vorfilmische Beispiel des Lenz-Textes macht aber deutlich, dass die Präsentation eines erzählten Geschehens in Short Cuts überhaupt nur medienspezifisch als Bruch interpretiert werden kann, denn z.B. eine filmische Inszenierung der bei einer Bühnenpräsentation so außergewöhnlich erscheinenden zitierten Szenen, wäre dort konventionell und unauffällig, d.h. die poetologische Komponente in der Semantik des Textes könnte der Film nur in einem Aufführungsmitschnitt semiotisieren, der die räumlichen Gesetzmäßigkeiten der Bühne mit thematisiert. 1.3 ‘Formale’ und ‘inhaltliche’ Konstituierung der Segmente Als eine discours-Technik beruhen die Short Cuts mit Schnitt und Montage wesentlich auf syntaktischen Prinzipien der Bedeutungskonstituierung. Die Segmentation der einzelnen Handlungsstränge in Teil-Einheiten geht mit der Kombination von Einheiten anderer Handlungsstränge einher, wobei die Übergänge unterschiedlich gestaltet sein können. Insbesondere in Koeppens Der Tod in Rom und Hoems Kjærleikens ferjereiser lassen sich verschiedene Typen unterscheiden, die deutlich die filmischen Repertoires zitieren. So finden sich harte Schnitte, formal markiert durch Absätze sowie durch das vorhergehende Segment abschließende Satzzeichen. Eine auffälligere Erscheinung sind weiche Schnitte, markiert durch einen Zeilensprung, aber ohne trennendes Satzzeichen: Machtlos war er [Judejahn, M.N.] gegen den Trieb, aber mächtig trieb es ihn zu den Mächtigen, denen er dienen wollte, um im Haus der Macht zu sitzen, teilzuhaben an der Macht und selber mächtig zu werden zufrieden schlummerte Friedrich Wilhelm Pfaffrath mit seiner Frau Anna auf der Reise noch einmal im Ehebett, wenn auch nicht in Umarmung vereint. (Koeppen 1975: 87) Außerdem weist der Koeppen-Text Übergänge auf, die wie filmische Überblendungen funktionieren, z.B. dann, wenn der Beginn eines neuen Segments Wortmaterial des vorausgehenden aufgreift: […] aber sie [Eva, M.N.] schlief fest, traumlos, törichten offenen Mundes, ein wenig röchelnd, ein wenig nach der Haut der aufgekochten Milch riechend, die schlafende zürnende Norne nächtlichen Nachdenkens nächtlichem Nachdenken anheimgegeben, nur von seinem Schnarchen bewegt, schlief Dietrich Wilhelm Pfaffrath im weicheren Bett des Hotels. (Koeppen 1975: 86) Inhaltlich konstitutiv für das von den ‘Schnitten’ begrenzte Segment ist, dass darin jeweils nur eine bestimmte Figur als Reflektorfigur fungiert. Allerdings finden sich auch Fokussierungen einer Figur, die die Grenze zwischen zwei Segmenten überschreiten und auf diese Weise eine Wahrnehmungskontinuität erzeugen. Dies betrifft aber nur die Figur des Sieg- Short Cuts - Great Stories 115 fried, die ohnehin eine Sonderstellung im Text einnimmt, denn während die Erzählinstanz insgesamt zu personalem Erzählen tendiert, tritt Siegfried in einigen Segmenten als Ich- Erzähler hervor. Das folgende Zitat macht deutlich, dass hier der weiche Schnitt einen Wechsel der Erzählinstanz signalisiert, nicht aber der fokussierten Figur und des Bewusstseins, durch das die dargestellte Welt wahrgenommen wird: Er [Siegfried, M.N.] möchte nicht sterben. Er möchte nicht zu Hause sterben. Möchte er hier begraben werden? Am Brunnen steht sein Hotel. Schmal und schief spiegelt sich die alte Fassade im Wasser. Siegfried tritt ein. Er geht durch den Windfang. Allein der alte Mann hinter dem Windfang fror. Er fror an seinem Pult vor dem Schlüsselbrett im zugigen Treppenhaus […] Manchmal unterhielten wir uns, und jetzt als ich heimkam, empfing er mich eifrig. (Koeppen 1975: 62) Erst nach einigen Zeilen der Beschreibung des alten Mannes wird deutlich, dass Siegfried hier nicht nur Wahrnehmungsinstanz, sondern auch der Sprecher ist. Von diesem besonderen Fall, dessen Funktion unten noch zu erläutern ist, abgesehen, gilt aber, dass jeder Schnitt einen Perspektiv- und Fokuswechsel einleitet, so dass die Short Cuts in der Regel mit multiperspektivischer Wahrnehmung von Geschehen und Raum einhergehen. Die einzelnen Segmente stellen demnach perspektivisch und inhaltlich an je verschiedene Handlungsträger gebundene Geschehenseinheiten dar. Diese können von unterschiedlicher Dauer sein, sich ganz oder teilweise zeitlich parallel, temporal diskontinuierlich oder achronologisch zu einander verhalten und können potenziell mehrere Binnensegmente umfassen. Die Unterscheidung der Short Cuts im Sinne von Syntagmen der Narration beruht also zuerst auf einem Kriterium der Einheit des je dargestellten Gegenstandes bzw. Perspektivträgers und damit der histoire. Sie entsprechen nicht per se filmsyntaktischen Einheiten auf der discours-Ebene wie ‘Einstellung’, ‘Szene’ und ‘Sequenz’, können aber durch diese grammatisch realisiert sein. Es ließe sich eine detaillierte Analyse der Zitation filmischer Syntax in literarischen Short-Cuts-Narrationen etwa nach der Systematisierung und Präzisierung der “Großen Syntagmatik” von Metz (1972) durch Möller-Naß (1986) anschließen, mittels derer die Binnensegmente und die Montagearten klassifiziert werden könnten, hier soll der Hinweis genügen, dass die übergeordneten Short-Cuts-Einheiten weder mit dem dort definierten alternierten noch dem deskriptiven Syntagma hinreichend bezeichnet werden können, obwohl die Segmente wie im ersten Fall alternieren und wie im zweiten Fall eine Raumkohärenz etablieren. Bei einem alternierten Syntagma wechseln sich zwar wie in der filmischen Verfolgungsjagd Schauplätze und Personen der Erzählung ab, aber diese stehen in einem kausal-logischem Zusammenhang, was bei den Short Cuts gerade nicht der Fall ist - zumindest bis zu dem Zeitpunkt der Vernetzung der Handlungsstränge. Innerhalb des deskriptiven Syntagmas sind die einzelnen ‘Szenen’ beliebig austauschbar, die Short Cuts dagegen sind narrativ und erfordern auch inhärent Sukzession. Mittels der Multiperspektivität erzielt die Short-Cuts-Narration keineswegs ein beliebiges Nebeneinander lediglich fragmentierter und alternierend angeordneter Episoden. Im Gegenteil lenkt dieses Erzählkonstrukt nur die Aufmerksamkeit auf eine höhere Ebene, die sich aus der Syntagmatik der einzelnen Segmente ergibt, denn die Montage kann als Verfahren der Kombination autonomer paradigmatischer Einstellungen zusätzliche Bedeutungen generieren, indem z.B. kausale, assoziative, Kontinuitäts-Zusammenhänge usw. zwischen den einzelnen Segmenten hergestellt werden. Weitere Möglichkeiten der Kohärenzstiftung und deren Konsequenzen für die Weltmodelle der Texte lassen sich in einem intermedialen Vergleich systematisieren. Martin Nies 116 1.4 Implizites Weltmodell Die Wahl von Short Cuts für die narrative Präsentation des Geschehens in der dargestellten Welt ist Teil des Weltentwurfes eines filmischen oder literarischen Textes. Durch die Fragmentierung und alternierende Parallelmontage von Geschehenseinheiten etabliert der Text eine Erzählhaltung, die wesentliche Aussagen über die Welt und über Geschichte impliziert. Diese sind jedoch ambivalent: Einerseits bezeichnet Fragmentierung eine Brechung von Einheit, Kontinuität und Zusammenhang. In der Kombination mit multiperspektivischem Erzählen ergibt sich so ein postmodernistisches Geschichtsbild von nicht einer Menschheitsgeschichte, sondern von der Parallelität einer Vielzahl gleichzeitiger differenter Geschichten, die entweder völlig unterschiedliche Ereignisse in den Mittelpunkt stellen oder auf unterschiedlichen subjektivierten Perspektiven ein- und desselben Ereignisses beruhen, das dann etwa in jeweils anderen subjektiven Zusammenhängen verschiedene Relevanz und Bedeutung hat. Diese Kompatibilität mit postmodernistischen Weltmodellen mag auch der Grund für die häufige Aktualisierung von Short-Cuts-Narrationen im internationalen Film seit 1990 sein. 5 Andererseits lassen sich die fragmentierten Geschehenssegmente den einzelnen Handlungssträngen zuordnen, in denen wenigstens die jeweiligen Figuren, die als Handlungsund/ oder Perspektivträger fungieren, einen Zusammenhang stiften. Selbst wenn wie im Fall von P ULP F ICTION die logisch-chronologische Ereignisfolge durch den discours umgestellt ist, sind die verschiedenen Geschichten und ihre Zusammenhänge in diesem Sinne handlungslogisch rekonstruierbar. Dennoch bedeuten Short Cuts mehr als ein postmodernistisch doppelbödiges Spiel mit der Erzählweise, indem sie neue Kohärenzen auf anderen Ebenen und übergeordnete Zusammenhänge konstruieren. Hierin manifestiert sich nun ein Widerspruch zu postmodernistischer Ästhetik, weil den Segmenten damit - wenn schon kein metaphysischer - so doch ein übergeordneter gemeinsamer Sinn eingeschrieben wird. So unterscheidet Petersen modernistische von postmodernistischen Texten gerade durch die Tendenz der ersteren, “heterogenisierenden Verfahren stets solche der formalen Reintegration und Homogenisierung” entgegen zu stellen (2003: 301). 6 Exemplarisch verhandelt wird diese Ambivalenz der Erzähltechnik in Koeppens Romantitel Tauben im Gras und dessen textinhärenter Interpretation durch eine der Figuren: Wie Tauben im Gras, sagte Edwin, die Stein zitierend, und so war doch etwas von ihr Geschriebenes bei ihm haftengeblieben, doch dachte er weniger an Tauben im Gras als an Tauben auf dem Markusplatz in Venedig, wie Tauben im Gras betrachteten gewisse Zivilisationsgeister die Menschen, indem sie sich bemühten, das Sinnlose und scheinbar Zufällige der menschlichen Existenz bloßzustellen, den Menschen frei von Gott zu schildern, um ihn dann frei im Nichts flattern zu lassen, sinnlos, wertlos, frei und von den Schlingen bedroht, dem Metzger preisgegeben, aber stolz auf die eingebildete, zu nichts als Elend führende Freiheit von Gott und göttlicher Herkunft. Und dabei, sagte Edwin, kenne doch schon jede Taube ihren Schlag und sei jeder Vogel in Gottes Hand. Die Priester spitzten die Ohren. Bearbeitete Edwin ihren Acker? War er nichts als ein Laienprediger? (Koeppen 1980: 198) Einerseits lässt sich der Titel Tauben im Gras als existenzialistisch ideologisierte Metaphorisierung der im Text dargestellten Figuren deuten und die Wahl der Short-Cuts-Technik in Korrelation mit Multiperspektivität unterstützt die Vorstellung von den Menschen als mit eingeschränkter Sichtweise herumirrenden “Tauben”, die wechselnd in den Blick genommen werden und sich hier und dort zufällig begegnen, aber wie sinnlos ‘in die Welt geworfen’ erscheinen. Die Auslegung dieser Metapher liegt hier bei einer Figur des Textes, die zum Short Cuts - Great Stories 117 einen deren existenzialistischen Bedeutungsgehalt relativiert, indem sie als Bemühung “gewisse[r] Zivilisationsgeister” ausgewiesen und zugleich durch die Assoziation der wimmelnden Taubenplage Venedigs profaniert wird. Entscheidender aber ist der Umgang des Textes mit der Entgegnung des Interpreten, dass letztlich “Gottes Hand” die Geschicke lenke, scheinbarer Sinnlosigkeit und Zufälligkeit also dennoch ein verborgener metaphysischer Sinn zu Grunde liegt. Denn die anschließende Fokussierung der Priester, deren Deklassierung des Sprechers als “Laienprediger” sowie ein unmittelbar anschließender Vergleich mit einer nationalsozialistischen Rede durch eine andere Figur relativieren wiederum die Gültigkeit von Edwins Aussagen. Die syntagmatische Kontrastierung unterschiedlicher Figurenperspektiven und -meinungen lässt die Frage nach Sinn oder Zufälligkeit von Dasein und Geschichte weiterhin unbeantwortet, aber implizit setzt der Text das entscheidende Zeichen durch den Titel, der jenseits textinhärenter perspektivierter Auslegungen dominant eine Rezeption des Erzählten im Sinne der ursprünglichen Aussage Gertrude Steins nahe legt. Andererseits ist Edwins Rede der Anlass, bei dem fast alle Figuren zusammenfinden, sich die Wege zumindest temporär kreuzen und damit ein Zentrum konstituieren. Stellen aber Redeinhalt und die unterschiedlichen Figurenmeinungen darüber auch das ‘Sinnzentrum’ des Textes dar, so signalisiert dies nur, dass die Unentschiedenheit in der Sinnfrage den Kern der Bedeutung und das zentrale Problem darstellt. Dennoch konstruiert der Text in der Erzählhaltung eine quasi-göttliche Perspektive, die das “Gras” zu überblicken vermag und beansprucht in dem Titel “Tauben im Gras” eine existenzialistische Deutungshoheit für die dargestellte Welt und die Figuren. Für das Weltmodell des jeweiligen Textes ist es demnach von entscheidender Bedeutung, ob und wie er die Fragmentierung durch Short Cuts auf einer höheren Ebene des discours oder im erzählten Geschehen relativiert bzw. auflöst. Die potenziellen Varianten von Kohärenzstiftung sind allerdings nicht spezifisch für die Short-Cuts-Erzählung; sie finden sich auch in episodischem Erzählen, das sukzessive aufeinander folgende und in sich abgeschlossene Handlungseinheiten präsentiert, wie sich an einigen filmischen Beispielen illustrieren lässt: Bereits erwähnt wurden N IGHT ON E ARTH und H OTEL A DLON . Ersterer führt Variationen über ein gemeinsames Thema vor, wobei der Film das Geschehen, das an verschiedenen Orten lokalisiert ist, zusätzlich in einen temporalen Kontext stellt, während zweiterer die Episoden unter der ‘Sichtweise’ einer sich erinnernden Ich-Erzählerfigur, worin die Geschichte des Ortes bis zu seiner Zerstörung im Krieg mit der persönlichen Geschichte des Erzählers verwoben sind, subsumiert. In C AT ’ S E YE (K ATZEN -A UGE , Lewis Teague, USA 1985) verbinden sich die einzelnen, thematisch unterschiedlichen Geschichten durch eine identische Wahrnehmungsinstanz - eine Katze fungiert hier als Perspektivträger. I N JENEN T AGEN (Helmut Käutner, BRD 1947), T HE Y ELLOW R OLLS R OYCE (D ER GELBE R OLLS R OYCE , Anthony Asquith, GB 1964), L E FAVORIS DE LA LUNE (D IE G ÜNSTLINGE DES M ON - DES , Otar Iosseliani, F/ I 1984) oder D E JURK (D AS GEHEIMNISVOLLE K LEID , Alex van Warmerdam, NL 1996) erzählen dagegen die Geschichte einer Sache und ihrer wechselnden Besitzer, wobei der Besitz des Objektes jeweils mit entscheidenden Transformationen im Leben der Protagonisten in einem Zusammenhang steht. Die Texte, die ihre Geschichten durch Short Cuts vermitteln, funktionalisieren die gleichen Kohärenz stiftenden Mittel wie episodische Texte, um letztlich einen Zusammenhang des Erzählten zu reetablieren: eine übergeordnete Erzähl- oder Wahrnehmungsinstanz auf der discours-Ebene, ein in mehreren Episoden oder Handlungssträngen auftretendes Objekt oder eine Figur der dargestellten Welt auf der Ebene der histoire, die Fokussierung auf einen Raum, auf einen bestimmten Zeitabschnitt an einem Ort, oder etwa die alternieren- Martin Nies 118 de Präsentation zeitlich paralleler Ereignisse an verschiedenen Orten. Im Unterschied zu diesen ist aber wie schon in den Beispielen Die Soldaten und Tauben im Gras in allen berücksichtigten filmischen und literarischen Short-Cuts-Erzählungen die Begegnung einzelner Protagonisten aus den verschiedenen Handlungssträngen als Mittel der Kohärenzstiftung rekurrent. Am Beispiel der Reihe L ADYLAND (D 2006), die typische Muster episodischen Erzählens in das Format der TV-Comedy überträgt, lässt sich der Unterschied zwischen den episodischen und Short-Cuts-Erzählformen hinsichtlich der Kohärenz der einzelnen Segmente durch Begegnungen verschiedener Handlungsträger extrapolieren. Präsentiert werden einzelne, in sich abgeschlossene Geschichten über verschiedene Frauenfiguren, allesamt dargestellt von Anke Engelke, die außerdem extradiegetisch als wertende und kommentierende Rahmenerzählerin fungiert und sich direkt an die Zuschauer wendet. Eine Kohärenz der Episoden ergibt sich abgesehen von der Präsentation durch die übergeordnete Erzählinstanz und die Identität der Darstellerin auch in zweierlei Hinsicht durch den Raum: Zum einen tragen sich alle Geschichten in einer durch den Titel der Reihe als “Ladyland” definierten dargestellten Welt zu, d.h. expliziter Gegenstand der Darstellung sind Frauen, und - so impliziert der Titel - ihre spezifische Welt und Weltsicht. Zweitens fungieren in der ersten Folge ein Hotel, in der zweiten eine Tankstelle als räumlicher Rahmen, von dem aus alle Episoden ihren Ausgang nehmen. 7 Diese sind wiederum als Räume des Alltags konzipiert und analog zu S HORT C UTS verdeutlicht diesmal in der Anfangssequenz die Vergrößerung eines räumlichen Details aus einer Übersicht heraus (die Kamera zoomt wie in dem Wissenschaftsfilm P OWERS OF T EN (H OCH Z EHN , Charles & Ray Eames, USA 1977) in rasantem Tempo aus dem Weltall auf die Erde, auf eine Stadt und den in der jeweiligen Folge fokussierten Raum) die Beliebigkeit der Auswahl (suggeriert wird eine Autofokussierung durch einen Satelliten, wobei die über allem stehende und dessen Metaperspektive teilende Erzählinstanz die Zufälligkeit der in den Fokus geratenen Objekte explizit hervorhebt). Entscheidend ist, dass Engelkes Figuren an den narrativen Gelenkstellen zwischen den Episoden auf der discours-Ebene sich in der Hotellobby bzw. dem Tankstellenshop zwar begegnen, aber nicht interagieren; es handelt sich also nicht um Knotenpunkte des Geschehens. Vielmehr passieren die Handlungsträger einander und werden dann von der Erzählinstanz einzeln fokussiert bis deren ‘Geschichte’, die in der Regel einen Erkenntnisund/ oder Transformationsprozess der Figuren zum Gegenstand hat, abgeschlossen ist. Gegen Ende der Folge führt die Erzählerin mit dem Kommentar, “Denken sie daran: Das Ende einer Geschichte ist der Anfang einer neuen”, dann aber ein Alternativgeschehen vor, das zeigt, was sich hätte ereignen können, wenn die Handlungsstränge der Figuren sich gekreuzt hätten und wie sich aus derartigen Knotenpunkten des Geschehens ein fatales, für die Figuren tödliches ‘Gesamtgeschehen’ entwickelt hätte (Folge 1) bzw. der weitere Geschehensverlauf signifikant nun als offen präsentiert wird (Folge 2). In diesen Fällen beginnt eine andere, eine neue gemeinsame Geschichte der Akteure. Wenn nun die Short-Cuts-Erzählung zunächst nebeneinander agierende Figuren an bestimmten Knotenpunkten oder Kreuzungen aufeinander treffen, interagieren lässt und sich daraus das gesamte weitere Geschehen motiviert, dann wird vormals Getrenntes zusammengeführt und die Lebensläufe verbinden sich temporär, so dass sich aus einer übergeordneten Perspektive eine Vernetzung der separaten Einheiten ergibt: Erklärtes Ziel dieser Montage ist eine filmische Multiperspektivität, die sich bemüht paralleles und synchrones Geschehen auf verschiedene, mit bestimmten Akteuren besetzte Erzählstränge zu verteilen, die sich einem Liniennetz vergleichbar, gelegentlich treffen und sich teilweise überschneiden und überlagern, - eine zeitweise Kongruenz -, sich dann wieder verlieren und Short Cuts - Great Stories 119 voneinander entfernen, aber stets in einem virtuos aufgebauten und inszenierten erzähltechnischen Koordinatensystem verbleiben, also kein unkontrolliertes Eigenleben führen, und so zu einer einzigartigen poetischen Textur verwoben werden. (Buchholz 1982: 159) Was Buchholz in Bezug auf Tauben im Gras und Tod in Rom Wesentliches bemerkt, ist eine verallgemeinerbare Tendenz der Short-Cuts-Narrationen zu eben dieser Zusammenführung der Figuren in einem Modell der zufälligen Begegnung, 8 aus dem sich in der Vernetzung sukzessive eine Geschichte im Sinne einer rekonstruierbaren chronologisch-logischen Folge von Ereignissen ergibt. Diese Begegnungen bzw. Vernetzungen können allerdings durch die Texte unterschiedlich bewertet sein. Bei Lenz erhalten sie den Status illegitimer, normverletzender Grenzüberschreitungen, die die Ordnung der dargestellten Welt bedrohen und durch das Geschehen narrativ sanktioniert werden, wenn die Mesalliance zum Tod des adligen Verführers und zum Fall der Bürgerlichen zur Soldatenhure in den Augen der Öffentlichkeit führt. Auch die Filme S HORT C UTS , P ULP F ICTION , S T . P AULI -N ACHT und H UNDSTAGE sowie die erste Folge von L ADYLAND lassen aus den Begegnungen der Figuren unterschiedlicher Handlungsstränge vorwiegend Tod und Verderben resultieren, während L OVE A CTUALLY die fragmentierte Welt in einem unten noch zu beschreibenden Gegenmodell synthetisiert. 1.5 Raumkohärenz und -konzeption Eine weitgehende Raumkohärenz auf der Ebene der histoire ist eine Voraussetzung des Begegnungsmodells. Nur indem sich die Figuren in einem Raum begegnen können, können die verschiedenen Stränge an bestimmten Punkten miteinander verknüpft werden. Häufig sind die Raumkonzeptionen in den Texten statisch, d.h. der Raum bleibt im Unterschied zu den sich entwickelnden Figuren auffällig konstant; Metaereignisse, bei denen sich die Ordnung des Raumes selbst ändert, kommen in den Beispieltexten nicht vor. Auch wenn sich der Schauplatz in Die Soldaten wandelt, ist die Ordnung der dargestellten Welt davon unberührt. In Koeppens Tauben im Gras wird die Stadt als Teil eines sich im Prozess der Veränderung befindlichen Deutschland “an der Nahtstelle, an der Bruchstelle” beschrieben (Koeppen 1980: 210), aber das Geschehen ist in einer Situation vorübergehender Konstanz situiert, die Anfang und Ende des Textes umklammernd als eine “Atempause auf einem Schlachtfeld” (ebd.: 9) und “Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld” (ebd.: 210) bezeichnet ist. Die Nachkriegsgegenwart ist also lediglich als ein Zwischenzustand in einem noch immer im Krieg befindlichen Land semantisiert. In der Semantisierung Roms in Der Tod in Rom sind zwar die historischen Bezüge zentral, doch die Einleitungen zu den beiden Kapiteln des Textes verdeutlichen, dass, wenn auch die Glaubenssysteme und Vorstellungen von der Welt dem Wandel unterliegen (antike Mythologie vs. Christentum vs. neues Heidentum), davon unberührt immer noch dieselbe Sonne über der ewigen Stadt leuchtet (vgl. Koeppen 1975: 91). D.h., dass ‘aus höherer Warte’ der fundamentale Wechsel philosophisch-religiöser Denksysteme in der Welt keine Bedeutung hat, zumal das die erzählte Gegenwart bestimmende vergangene NS-Regime und der Krieg deren Relevanz grundsätzlich in Frage stellen. Auch in Altmans S HORT C UTS ist die in der Ausgangssituation des Geschehens herrschende Plage in der Endsituation nicht getilgt und das Erdbeben bleibt letztlich folgenlos, denn das Opfer ist diesem nur irrtümlich zugeschrieben. Veränderungen vollziehen sich also Martin Nies 120 nur an den Figuren und diese stehen oftmals in direktem Zusammenhang mit ihrem Verhältnis zum Raum: Die Zugehörigkeit einer Figur zu einem Raum, der Neueintritt in den Raum, das Verbleiben darin, das Verlassen oder die Tilgung aus dem Raum, die Raumerfahrung der Protagonisten sowie die Bewegungen der Figuren durch den Raum hindurch und ihre Begegnungen sind die Paradigmen, innerhalb derer Handlung sich semantisch konstituiert. Der Handlungsraum ist signifikant entweder einer, der sich durch Gewöhnlich- und Alltäglichkeit (die Fähr-Orte in Manhattan Transfer und Fährfahrten der Liebe sowie das Hotel in Menschen im Hotel als Durchgangsräume und Räume temporärer Begegnungen, der Vorort in S HORT C UTS als ‘Schlafstadt’) oder durch seine Besonderheit bzw. Außerordentlichkeit auszeichnet (Rom als caput mundi und Stadt vergangener europäischer Kultur in Der Tod in Rom, Venedig in Ein paar Leute suchen das Glück). Im ersten Fall semantisiert der Raum ereignislose Normalität und Durchschnittlichkeit, die durch zufällige Figuren- und Geschehenskonstellationen vorübergehend - denn die Ordnung ändert sich eben nicht grundsätzlich - ereignishaft gestört wird, im zweiten Fall ist die Besonderheit der Handlungsräume in Weltkonstrukten funktionalisiert, die ‘Normalität’ als ein grundsätzliches Problem darstellen (die sinnentleerten Welten der Nachkriegszeit bzw. der entideologisierten Gesellschaft der Nachwendezeit): Rom etwa fungiert hier als Repräsentanz der Welt, Venedig dagegen als Kontrapunkt der Welt. Alfred Anderschs Die Rote funktionalisiert in der Erstfassung von 1960 beide konkurrierenden Raumkonzeptionen. Der Text expliziert die Opposition von einerseits einem außerordentlichen Kunst-Raum ‘Venedig’ und andererseits einem Raum der Normalität und der Arbeit ‘Maestre’. Die Abwendung der Protagonistin von Venedig hin zu dessen der Welt zugewandtem industriellen Vorraum markiert ihre Entscheidung für ein ‘realistisches’ Lebensmodell. Dass diese Raumsemantik zentral für die Textbedeutung ist, wird deutlich, wenn Andersch in der Neufassung von 1972 eben das letzte Kapitel mit der Ansiedelung und Arbeitsaufnahme der Protagonistin in Maestre tilgt und den Text stattdessen mit einem Segment über den Fischer Pierro draußen auf der Lagune ‘offen’ abschließt. 1.6 Kohärenzstiftung durch die Erzählinstanz Die mit den Short Cuts korrelierte Multiperspektivität subjektiviert zunächst das Erzählte auf der Figurenebene. Andererseits experimentieren Tauben im Gras, Der Tod in Rom, Fährfahrten der Liebe und Ein paar Leute suchen das Glück aber nicht nur mit dem Wechsel von Figurenperspektiven, sondern auch mit den Erzählinstanzen, und es fragt sich in diesen Fällen, ob nicht doch ein übergeordneter Sprecher des Gesamttextes sich manifestiert, der aus den Fragmenten subjektiver Welterfahrung eine kohärente Geschichte konstruiert und damit auch der vermeintlichen Zufälligkeit der Begegnungen von Figuren einen Sinn einschreibt - ein Sprecher also, dem die Diegese als Produkt eines bedeutungstragenden Äußerungsaktes zugeschrieben werden muss, nicht eine Instanz wie etwa das literaturwissenschaftliche Hilfskonstrukt des ‘impliziten Autors’, der durch das Arrangement des Gesamttextes immer Sinn und Kohärenz produziert, auch wenn dieses das Fehlen von Sinn und Zusammenhang bedeutet. Für Tod in Rom ist schon früher Siegfried auch als Erzähler des Gesamttextes konstatiert worden, 9 da die personalen und die Ich-Erzählsegmente ähnliche stilistische Merkmale im Sprachmaterial aufweisen und auch in den personal erzählten Segmenten unterschwellige Wertungen der fokussierten Figuren transportiert werden, die denen Siegfrieds entsprechen Short Cuts - Great Stories 121 könnten. Außerdem ließe sich die folgende Stelle, die sich auf die Engel der Engelsbrücke bezieht, als Selbstoffenbarung eines Autor-Ichs lesen, dessen Fantasie das Erzählte kreiert: “Ich war es, der den Himmel mit Engeln und Göttern bevölkerte; der Himmel war von Engeln und Göttern freundlich bewohnt, weil ich es wollte, weil es mir Spaß machte, weil ich es mir vorstellte” (Koeppen 1975: 121). Noch deutlicher wird diese Passage: Wie fern waren sie einander, die hier zu dritt die Nacht erlebten. Siegfried sah Adolf und Laura an. Aber sah er sie? Projizierte er nicht nur sich auf die Gestalten seiner Gefährten? Sie waren Gedanken von ihm, und er freute sich, daß er sie dachte. Es waren freundliche Gedanken. Und sie, sahen sie sich? (Koeppen 1975: 173) Nimmt man die Siegfried-Figur auch als übergeordneten Sprecher des Gesamttextes an, lassen sich also die multiperspektivischen Short Cuts einer “monologische[n] Perspektive” und einer kohärenten Sprechsituation subsumieren (Hielscher 1988 a: 145), dann ist die gesamte dargestellte Welt geistiges Produkt einer “gleichbleibenden Erzählerimago” und der Text etabliert damit einen “gemeinsamen Sinnhorizont” (ebd.: 131 bzw. 133). Zentral für seine Bedeutung ist aber, dass er den Rezipienten über die Existenz dieses Siegfried-Schöpfers einer textinhärenten kohärenten Erzählung ebenso im Unklaren lässt wie die Figuren der dargestellten Welten bei Koeppen auch über die göttliche Existenz verunsichert sind. In der erzählstrategischen Ambiguität hinsichtlich des Problems einer ungesicherten Narratoridentität als Ausdruck einer fundamentalen Verunsicherung über den Sinn des Ganzen manifestiert sich die eigentliche Textaussage. In Edvard Hoems Kjærleikens ferjereiser sind die übergeordnete Erzählhaltung und das Problem der Übersicht und des Zusammenhanges dagegen expliziter Erzählgegenstand: Das Erzählte wird eingangs als Fiktion einer Autorfigur ausgegeben, die in der norwegischen Hauptstadt ‘realistische’ Fragmente aus dem Alltagsleben einiger Figuren ‘erdichtet’, die in einem kleinen Fähr-Ort im Fjordland lokalisiert sind. Autorfigur und Schreibprozess werden wiederum von einer konventionellen auktorialen Erzählinstanz erzählt. Zum Ende des Textes verlässt der fiktive Autor aber seinen Schreibtisch und fährt in den Ort, in dem das intradiegetisch als fiktional gesetzte Geschehen spielt und wo ihm die Figuren seiner Erzählung begegnen. D.h. die Figuren lösen sich - einem Klischee der Literaturproduktion entsprechend - von ihrem Schöpfer. Ihre Existenz, das Geschehen und der Raum werden damit in der Fiktion authentifiziert. Hier findet nicht eine Metalepse einer Erzählerfigur in die Ebene der dargestellten Welt statt, sondern die Metalepse einer ganzen fiktiven Welt in die Ebene intradiegetischer Realität. 10 Diese wiederum kann nun unschwer als künstlerisches Produkt des auktorialen Erzählers zweiter Stufe identifiziert werden, der sich aber zuletzt in Äußerungen wie “der dies schreibt” als identisch mit dem Ich-Erzähler erster Stufe erweist (Hoem 1987: 225). Auf dem Gipfel dieses selbstreferenziellen Spiels verbindet sich zum Textende der Überblick des mit dem Flugzeug wieder zurück nach Oslo reisenden Autor-Ichs über die dargestellte, von ihm erschaffene Welt mit einer Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit: Er schwebt über dem zerrissenen Küstenstreifen und sieht zwischen den anderen Holmen und Inseln, ein kleines Stück Land im Meer, nicht mehr als anderthalb Kilometer lang, voller windzerzauster Baumkrüppel und einen kleinen Weg, der gleichsam mit einer Handbewegung hingeworfen ist. - Es ist nicht wahr, denkt er, daß die Kunst ein Spiegel ist, die Kunst ist eine Art, eine Kugel zu halten, eine Kugel aus Glas, in die ich blicke, sie ist gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit und zuoberst fliegt ein weißes Flugzeug, darunter sehe ich die Küstenlandschaft mit Eikøy und Landøy und Vindøy, Martin Nies 122 und wenn ich mit dem Auge ganz nah dran gehe, kann ich die Fähre am Kai von Ramsvik sehen, ich weiß, daß auf der anderen Seite des Sundes Skogmann wohnt. Dort auf dem Weg geht ein Schatten, vielleicht ein Mensch. Vielleicht Mette Nilsen, die von Haus zu Haus geht (225f.) Der Autor-Erzähler schaut von Außen auf das eigene Weltkonstrukt und ist zugleich Teil desselben. Demgegenüber haben seine Figuren eine Eigenständigkeit erlangt, die am deutlichsten in der Ungewissheit über deren Tun zum Ausdruck kommt. Kjærleikens ferjereiser weitet das Begegnungsmodell auf den intradiegetischen Schöpfer aus, der seinen Figuren begegnet und expliziert die Bedeutung der “Begegnung” als Sinn stiftende und verbindende Struktur, wenn er zuletzt eine der Figuren von Haus zu Haus gehen lässt. 1.7 Profanierung des Short-Cuts-Modells Aus der Manifestation oder Negation eines übergeordneten Sinnzusammenhangs in den Texten Koeppens resultieren unterschiedliche Konstrukte der dargestellten Nachkriegs-Welt. So wie textinhärent existenzialistische vs. religiöse bzw. mythische Weltmodelle diskursiv gegeneinander verhandelt werden, würde die Annahme oder Verwerfung einer sinnstiftenden Instanz über der dargestellten Welt modellhaft die eine oder andere Variante bestätigen. Aber die Texte entziehen sich in diesem Punkt signifikant einer Vereindeutigung. Werden die Short Cuts und in Verbindung damit die Multiperspektivität, das Begegnungsmodell und die Ambiguität hinsichtlich eines übergeordneten Zusammenhanges hier funktionalisiert, um die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der Welt zu problematisieren, aber nicht zu entscheiden, haben die gleichen Textphänomene bei Hoem vor allem die Funktion, metafiktional und selbstreflexiv das Verhältnis künstlerischer Weltkonstrukte zur extratextuellen Wirklichkeit zu thematisieren. Auch dieser Text löst die Ambiguität hinsichtlich dessen, was intradiegetisch als ‘real’ oder ‘fiktional’ gesetzt ist, nicht auf. In Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot wird nun das Short- Cuts-Modell, als das die Korrelation der Textphänomene Short Cuts, Multiperspektivität und Begegnungsmodell auf discours- und histoire-Ebene bezeichnet werden soll, wieder auf die Semiotisierung menschlicher Entfremdung und Vereinzelung reduziert. Das dargestellte Geschehen umfasst den Zeitraum eines Jahres zwischen zwei Geburtstagen der Figur Vera - mit ihrer einsamen Selbstgratulation beginnt und endet der Text. Abgesehen von dieser Exponierung in Ausgangs- und Schlusssituation des Erzählten ist sie gegenüber den anderen Figuren nicht besonders hervorgehoben. Mehrere Figuren treten außerdem das eine Mal als Ich-Erzähler auf, um dann wieder selbst Gegenstand der Erzählung einer auktorialen Erzählinstanz zu werden, die zum Textende hin den Leser in den Äußerungsakt einbezieht und in der beschriebenen Situation des Sterbens einer Figur den Wissenshorizont des Lesers teilt: Aber auch starb. Einen Tag später. In der Mittagssonne. Ohne viel Aufhebens. Die Tiere warteten nicht, bis der letzte Atemzug getan war, legten bereits die ersten Fliegen ihre Brut in die aufgerissenen Augen. Nagte ein Tier an den gut erhaltenen Genitalien, hackten Vögel sich zielstrebig durch die lederne Haut. Gerne hätten wir gewusst, ob Paul diese Schmerzen spürte, ob er noch angewidert sein konnte, voll Ekel sein konnte. Ob er in diesem Moment zutiefst gedemütigt war. Leider werden wir darüber nicht mehr viel erfahren. (Berg 1997: 168f.) Impliziert die Ich-Erzählsituation gewissermaßen eine autobiografische Intention, einen literarischen Äußerungsakt und die auktoriale Erzählsituation eine übergeordnete Sprech- Short Cuts - Great Stories 123 situation außerhalb der dargestellten Welt, so negiert der Text durch keiner erkennbaren Regel folgende Erzählerwechsel eine Kohärenz auf der Ebene des Erzählens. Nur in den Überschriften, wie “Ruth ißt was” (Berg 1997: 86) oder “Nora läuft so rum” (ebd.: 129), die die einzelnen Short Cuts deutlich von einander trennen, manifestiert sich eine Instanz, die die vielstimmigen Erzählakte beiordnet und bezeichnet. Weiche Schnitte oder Überblendungen finden sich hier nicht, dagegen wird das Separierende signifikant betont, wenn ausschließlich harte Schnitte in Kombination mit Seitenumbruch und Überschrift die Segmente markieren. Zwar kreuzen sich auch bei Berg die Wege der Figuren und es werden teilweise temporäre Beziehungen geknüpft, aber das weitere Geschehen führt entweder zur Trennung oder wie schon in der oben zitierten Passage zum Tod der Protagonisten: Acht von Zehn sterben, die meisten von ihnen ähnlich drastisch wie die Figur in dem zitierten Beispiel. Die Raumkohärenz ist in dem Text aufgegeben; die meisten Figuren verlassen auf der Suche nach dem Glück die nicht näher definierte heimatliche Stadt. Der Bruch mit der Raumkohärenz ist durch die Vielzahl der thematisierten Räume (ein Meer, Spanien, Marrakesch, Kalifornien, die Wüste, Hongkong, Venedig) deutlich markiert und bezeichnet die Ziellosigkeit, Desorientierung und Suche der Protagonisten. Umso mehr fällt ins Gewicht, dass das Modell der zufälligen Begegnungen von Figuren, die hier demselben Herkunftsraum zugeordnet sind, auch außerhalb dessen realisiert ist - doch bedeutet der Text durch die erzählten Tode und Beziehungskatastrophen, dass ein Miteinander nicht lebbar ist, auch wenn man sich in der Fremde trifft. Der von den Koeppen-Texten problematisierte existenzialistische Weltentwurf ist bei Berg status quo - das Räsonnieren über metaphysische Sinnkonstrukte hat sich hier erübrigt - und das selbstreflexive Spiel mit Literarizität bei Hoem profaniert Ein paar Leute suchen das Glück schon vor dem Erzählbeginn, wenn die Autorin mit Danksagung und Kaufappell den Warencharakter des Buches betont: “Danke. Mit jedem gekauften Buch finanzieren Sie einen weiteren Stein meines künftigen Tessiner Hauses. Empfehlen Sie dieses Buch gerne Ihrem großen Bekanntenkreis oder Ihren Eltern” (Berg 1997: 5). Eine nebenstehende Abbildung von Spaten, Spitzhacke, Buch und der Schriftzug “Berg Werk” sowie das darunter positionierte Herz können auch den Textinhalt emblematisch repräsentieren: Er gibt nicht vor, Ausdruck einer ‘höheren Instanz’ zu sein und enthält als Produkt schriftstellerischer ‘Arbeit’ Text-Bruchstücke über eine Sinnstiftung durch Liebe, die aber als Mittel zwischenmenschlicher Bindung versagt. Dennoch macht das Textende, formuliert von der überlebenden Protagonistin, ein resignatives und profanes Sinnangebot für das ‘kleine Glück’: “Worum es geht, ist doch einfach nur, etwas zu lieben. Und wenn es Milchkaffee und Zigaretten sind. Es ist egal, was einer liebt” (Berg 1997: 180). Bezeichnenderweise bezieht sich dieses Sinngebot für die in Ein paar Leute suchen das Glück dargestellte Single-Gesellschaft eben nicht auf die zwischenmenschliche Liebe zu anderen Subjekten, sondern auf den Genuss von Objekten. Außerdem - und gemäß dem von den Popliteraten der 1990er Jahre propagierten Konzept vom Buch als Ware - verweist der Kaufappell der Autorin auf den eigentlichen Sinn des Buches: seinen kommerziellen Erlös. 1.8 Reetablierung eines transzendentalen Signifikats In L OVE A CTUALLY aus dem Jahr 2003 wird das Short-Cuts-Modell in einen Gegenentwurf zu seinen bisher aufgezeigten Funktionen umsemantisiert. Thema des Films sind die ver- Martin Nies 124 schieden gearteten Liebesbeziehungen zwischen den Figuren der dargestellten Welt, ihre Eheschließungen, Ehebrüche, Beziehungskrisen, Trennungen usw. Die Handlung umfasst die Adventszeit bis einschließlich Weihnachten und die vergehende Zeit wird in Einblendungen eines Countdowns der noch verbleibenden Adventswochen bis zum ‘Fest der Liebe’ angezeigt. Der erste der Handlungsstränge thematisiert zu Filmbeginn die Neuaufnahme des Hits Love is all around aus dem Soundtrack des Filmes F OUR W EDDINGS AND A F UNERAL (V IER H OCHZEITEN UND EIN T ODESFALL , Mike Newell, GB 1994; auch hier ist Liebe, wie der Titel signalisiert, das dominante Prinzip). Wenn der gealterte, nunmehr gefällige Popsongs covernde, ehemalige Rockstar in seiner Weihnachtsversion ‘Love’ durch ‘Christmas’ ersetzen soll, aber beim Einspielen immer wieder die Signifikanten vertauscht, wird deutlich, dass auch die mit ‘Christmas’ gemeinte Bedeutung ‘Love’ ist. So wie der Song zum Hit und Comeback des Sängers, wird “Love is all around” darüber hinaus zur zentralen Botschaft und zum expliziten Sinnangebot von L OVE A CTUALLY . Wo bei Berg Liebe auf Unpersönliches reduziert ist und das Short-Cuts-Modell die Fragmentierung der Welt und Separation der Figuren manifestiert, etabliert der Film ein transzendentales Signifikat ‘Liebe’, auf das sich alle Textebenen beziehen. Entsprechend werden zu Weihnachten alle Handlungsstränge mit einer Ausnahme an einem zentralen Ort zusammengeführt: in einem Flughafenterminal bei der Ankunft der Reisenden, die anlässlich des Festes ihre Angehörigen treffen. Verlassen bei Berg die Figuren ihre Heimat, weil sie ‘Glück’ dort nicht finden, so inszeniert der Film eine glückliche Heimkehr in intakte Beziehungen, die alle Altersklassen umfassen, sogar rassische und soziale Grenzen überwinden und zum ‘staatstragenden Prinzip’ werden, wenn sich Figuren verschiedener Hautfarben umarmen und der Premierminister nach einer Dienstreise die proletarische Geliebte begrüßt und das Verhältnis damit öffentlich statuiert. Die oben erwähnte Ausnahme weitet stellvertretend dieses Zusammenfinden in Liebe gewissermaßen weltumspannend noch auf ‘das Fremde’ aus: Einer der Protagonisten hatte sich während eines Südfrankreich-Aufenthaltes in seine portugiesische Haushälterin verliebt, ohne sich mit ihr sprachlich verständigen zu können und macht ihr nun in Portugal einen Heiratsantrag, nachdem inzwischen beide die Sprache des anderen zu sprechen gelernt haben. Trennendes wird hier synthetisiert und in der Schlusseinstellung expliziert der Film die Liebe als einendes Prinzip, das das Fragmentarische auf einer höheren Ebene einem Sinn subsumiert: Von der Fokussierung einzelner sich umarmender Paare oder Familien bei der Flughafenankunft ausgehend fragmentiert sich das Bild sukzessive zu einem Splitscreen mit sich immer weiter vermehrenden Einzeleinstellungen von Liebenden, der die sonst in Short Cuts syntagmatisch montierten Geschehenssegmente synchronisiert, bis zuletzt ein aufleuchtendes Herz sichtbar wird, das synekdochisch für das ganze Bild die zentralen Fragmente umschließt (vgl. Abb. 1). Noch das Design der DVD-Kopie des Films ist diesem sinnstiftenden Prinzip untergeordnet: Auf dem Datenträger ist ein gebrochenes und mehrfach fragmentiertes Herz zu sehen, das die Affektlage der Protagonisten in den einzelnen Handlungssträngen in einer gemeinsamen vorfilmischen Ausgangssituation ‘Liebesunglück’ bezeichnen kann. Wenn dann in der Schlusssituation unter dem einenden Paradigma ‘Liebesglück’ die vielfältigen Konflikte beigelegt sind und das Herz ‘als Ganzes erstrahlt’, wird deutlich, dass die Verpackung des Produktes Film - das Cover zeigt die Verpackung eines Weihnachtsgeschenks -, der Medienträger und der Filminhalt eine Glück versprechende Sinneinheit bilden. Der im Soundtrack dem Filmende unterlegte Beach Boys-Song God only knows mit dem Refrain “God only knows what I feel without you” etabliert dann en passant ‘Gott’ als oberste sinnstiftende und Short Cuts - Great Stories 125 Abb. 1 allwissende Entität und verweist noch einmal auf die in den Wiedersehensszenen glücklich überwundene Defizienzerfahrung der Trennung. Der Film - und nicht die Literatur - überwindet in der Synchronisierung der Segmente durch den Splitscreen die hier negativen Implikationen, die einer fragmentarischen Erzählweise inhärent sind, die das Medium selbst geprägt hat. Medial bedingt ist diese Überwindung aber nur dem Film visuell möglich, denn die syntagmatische literarische Narration kann Gleichzeitigkeit von separaten Geschehens-Einheiten nicht paradigmatisch, sondern nur sukzessive oder summarischberichtend darstellen, nicht aber als Fragment und Einheit zugleich: Die Splitscreen-Präsentation von parallelen Geschehenseinheiten, wie sie durch P ILLOW T ALK (B ETTGEFLÜSTER , Michael Gordon, USA 1959), T HE T HOMAS C ROWN A FFAIR (T HOMAS C ROWN IST NICHT ZU FASSEN , Norman Jewison, USA 1967) und W OODSTOCK - T HREE D AYS OF L OVE AND M USIC (Michael Wadleigh, USA 1969) ‘stilbildend’ wurde, wäre literarisch nur noch als ein tabellarisches Nebeneinander von Geschehenseinheiten realisierbar, das zwar gleichzeitige Geschehensabläufe - wiederum visuell - signalisierte ‘ sich aber dennoch nur sukzessive und nicht synchron rezipieren ließe. 2. Literarisches Erzählen im Film Aus dem Unterschied zwischen einerseits filmtypisch multiperspektivischem Erzählen und andererseits monoperspektiviertem Erzählen lässt sich eine zweite Art des Medienwechsels narrativer Strukturen ableiten, 11 der des Erzählens nach literarischem Vorbild im Film. Fungiert die Kamera als Erzählinstanz, kann sie Wahrnehmungsstandpunkte beliebig wechseln, um die Sichtweise verschiedener Figuren, Geschehen an verschiedenen Orten oder gleichzeitiges Geschehen wiederzugeben - z.B. in Verfolgungsjagden mit Schnitt und Gegenschnitt auf Verfolgten und Verfolger. Reduziert der Film aber seine Mittel auf die Wiedergabe nur einer an eine Figur gebundenen Perspektive, wie im Fall der subjektiven Kamera, die teilweise in der Anfangssequenz von D ARK P ASSAGE (D AS UNBEKANNTE G ESICHT / D IE SCHWARZE N ATTER , Delmer Daves, USA 1947) oder gänzlich in der Binnenerzählung von T HE L ADY IN THE L AKE (D IE D AME IM S EE , Robert Montgomery USA 1947) realisiert ist, schafft er eine Ich-Erzählsituation, in der die Distanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich aufgehoben ist. Mit der Konstruktion einer Erzählinstanz, die sich als Person manifestiert, erzeugt der Film aber eine literaturtypische Erzählweise - insbesondere, wenn dieser Erzähler auf der extradiegetischen Ebene angesiedelt und die Diegese damit expliziter Gegenstand einer sprachlichen Erzählung ist, die Visualisierung des erzählten Geschehens also illustrierenden oder konterkarierenden Charakter hat. Eine extradiegetische Ebene kann der Film auf zweierlei Weise etablieren: durch einen Erzähler aus dem Off oder durch eine Rahmengeschichte, die sich zur Binnengeschichte als extradiegetisch verhält. Abgesehen davon, dass der Film über mehrere Kodes verfügt, um eine Geschichte zu präsentieren, ist ein wesentlicher Unterschied literarischen und filmischen Martin Nies 126 Erzählens derjenige zwischen einerseits dem expliziten diegetischen Erzählen einer personifizierten narrativen Instanz und andererseits einem scheinbar erzählerlosen mimetisch-szenischen Darstellen. Literatur agiert filmisch, wo sie fragmentierend filmische Syntax zitiert, mit Worten ‘zeigt’, Perspektiven wechselt und den Erzählvorgang wie in einer personalen Erzählsituation camoufliert. 12 Entsprechend bezeichnet Fritz Raddatz die Sprech- und Wahrnehmungsinstanz in Tod in Rom etwa als “Kamera-Auge” (1983: 220). 13 Filme dagegen, die explizit die Erzählung eines personifizierten Erzählers konstruieren und z.B. aus dem Off sprachlich erzählen, funktionalisieren die Konstituenten literarischer bzw. mündlicher Narration. Der Sinn einer derartigen zusätzlichen Vermittlungsebene besteht zum einen darin, die spezifische Relation der Erzählinstanz zum Erzählten zu verhandeln, zum anderen wiederum in der Eröffnung metafiktionaler intermedialer Diskurse. 2.1 Relation Erzähler - Erzähltes Eine Rahmenerzählung im Film kann die Funktion haben, die Außerordentlichkeit des Erzählten als einer ‘großen’ und besonderen Geschichte herauszustellen. Francois Truffauts L A F EMME D ’ À C ÔTÉ (D IE F RAU NEBENAN , F 1981) macht z.B. eine Nebenfigur der Binnengeschichte in einer Rahmengeschichte zur Erzählerin. Zunächst ist fraglich, warum gerade diese die außergewöhnliche Liebesgeschichte erzählt und sie über entsprechende intime Kenntnisse verfügen sollte. Es gibt jedoch Andeutungen im Film, die ihr eine ebenfalls hoch bewertete Liebe in der Vergangenheit zuschreiben; d.h. die Gemeinsamkeit der Erfahrung einer herausragenden amour passion verbindet Erzählerin und Erzählgegenstand und legitimiert deren Erzählkompetenz. T HE B IG L EBOWSKI (Ethan & Joel Coen, USA 1999) führt zu Filmbeginn einen alten Cowboy als Erzähler ein, der seinen Bericht mit der expliziten Betonung einleitet, das zu Erzählende sei so außergewöhnlich, dass er nichts Neues mehr erleben müsse und nun ohne das Gefühl sterben könne, etwas verpasst zu haben (vgl. 01: 20). In W E W ERE S OLDIERS (W IR WAREN H ELDEN , Randall Wallace, USA 2001) hat der Erzählakt die Funktion einer Geschichtskorrektur bzw. das Ziel, das öffentliche Bild des amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg zu korrigieren und stellt damit eine nachträgliche Legitimation dieses Krieges dar. Dass der Film eine Rahmenerzählung aufweist, die den Literarisierungsprozess des dargestellten Geschehens in Vietnam zum Gegenstand hat, wird zu Filmbeginn durch eine Erzählerstimme aus dem Off angedeutet, die die Authentizität des erzählten Geschehens konstatiert: “Diese Geschichte hat sich im November 1965 tatsächlich zugetragen” (00: 34). Die personale Zuordnung des Erzählaktes findet allerdings erst zum Ende des Filmes statt, wenn der Autor an der Schreibmaschine beim Abschluss der Geschichte gezeigt wird und sich als der Kriegsfotograf Joe aus der Vietnam-Handlung identifizieren lässt. Als Schriftsteller befolgt er eine Forderung seines Vorgesetzten: “Sagen sie der Welt, was diese Männer hier geleistet haben, sagen sie ihr, wie meine Männer starben” (107: 21). Mit der literarischen Verschriftung der Ereignisse in der Rahmengeschichte und der filmischen Erzählung erfüllt sich dieser Auftrag in zweierlei Weise. In der Binnengeschichte schildert W E W ERE S OLDIERS die Entwicklung des Kriegsberichterstatters von einem Fotografen, der mittels der Fotografie “den Menschen zuhause helfen [will], ihn [den Krieg, M.N.] zu verstehen” (73: 13), zu einem Soldaten, der die Kamera gegen das Gewehr eintauscht, und schließlich zu einem Erzähler von amerikanischem Heldentum. Ein zentrales Thema des Films ist demzufolge der Umgang mit ‘Realität’ und das Problem der Vermittlung von ‘Realität’. Die Abwendung von der dokumentarischen Fotografie hin zur Erzählung Short Cuts - Great Stories 127 muss erfolgen, weil das Foto als ‘Momentaufnahme’ nicht den situativen Kontext des Abgebildeten zu vermitteln vermag, während der Erzählakt in der Präsentation einer ‘Geschichte’ Zusammenhänge herstellt, so die Motive einer dokumentierten Handlung erläutern und damit erst eigentlich “Verstehen” ermöglichen kann. Bevor er die Geschichte erzählen darf, muss aber der Kriegsberichterstatter die Neutralität des Beobachters aufgeben und handelnd in das ‘reale’ Kriegsgeschehen initiiert werden: [Ein feindlicher Schuss schmettert dem Fotografen Joe die Kamera aus der Hand.] Sgt.-Major Plumley: “Du kriegst keine Bilder, wenn du da unten liegst, Sunny.” [Plumley drückt ihm ein Gewehr in die Hand.] Joe: “Sir, ich bin aber kein Soldat.” Plumley: “Sunny, hier und jetzt musst du einer sein.” (80: 35) Die Involvierung des Beobachters in das Kriegsgeschehen bedeutet zum einen authentisches Erleben des zu beschreibenden Gegenstandes, was ihn erst als Erzähler legitimiert, 14 zum anderen aber auch, dass er selbst als Soldat für die amerikanische Seite Partei ergreift, sich mit den anderen Soldaten zu einer Kampf- und Leidensgemeinschaft verbündet (“We were soldiers”), und damit gewährleistet ist, dass er die ‘richtige’ Geschichte erzählt. Die filmische Erzählung postuliert nun implizit einen noch höheren Grad an Authentizität in der Vermittlung von der Wirklichkeit des Krieges gegenüber den anderen verhandelten Medien, da sie literarisches ‘Sagen’ und fotografisches ‘Zeigen’ miteinander kombiniert und das später literarisierte Geschehen in actu als intradiegetisch ‘wahr’ präsentiert. 15 Eine andere Funktion extradiegetischen Erzählens, die nicht Nähe zwischen Erzähler und Erzählgegenstand, sondern Distanz vermittelt, besteht darin, das erzählte Geschehen zu ironisieren bzw. umgekehrt kann das visuell präsentierte Geschehen das Erzählen konterkarieren und damit die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz unterwandern. In diesem Fall stehen die auditiv und visuell vermittelten Informationen in einem Widerspruch zueinander und betonen den Erzählvorgang vor allem als einen Akt der Selbstäußerung einer Erzählerperson. Die Ironisierung des Erzählten durch eine auktoriale extradiegetische Erzählinstanz findet sich etwa in C ANNERY R OW (D IE S TRASSE DER Ö LSARDINEN , David S. Ward, USA 1982), einem Film, der zwei Erzählungen von John Steinbeck kompiliert. Woody Allens L OVE AND D EATH (D IE LETZTE N ACHT DES B ORIS G RUSCHENKO , USA 1975) dagegen weist im Off eine Ich-Erzählsituation auf, die die Darstellung der eigenen Person beschönigt: präsentiert sich das erzählende Ich als ein Kriegsheld, wird die Figur der dargestellten Welt als Feigling und Kriegsdienstverweigerer vorgeführt, wobei in der Regel die Erzählung mit Worten als die falsche oder verfälschende erscheint, das visualisierte Geschehen dagegen als ‘authentisch’, d.h. die filmeigentliche (‘objektive’) Präsentation erweist sich als die ‘richtige’, wohingegen die (‘subjektive’) sprachliche als ‘falsch’ entlarvt ist. 2.2 Intermediale Spiele: Filmische Literaturkonstruktionen In T HE L ADY IN THE L AKE werden die literarischen Referenzen explizit herausgestellt. Zu Beginn richtet sich der Protagonist und Ich-Erzähler Philip Marlowe in einer Rahmengeschichte direkt an den Zuschauer und erläutert, dass er neben seinem Beruf als Privatdetektiv eine Detektivgeschichte verfasst hat, die ein Verlag für Groschenromane - “Spezialisten für Blutrünstigkeit” - publiziert (2: 08). Durch diese literarische Nebentätigkeit ergibt sich ein neuer Auftrag, von dem Marlowe zu erzählen beabsichtigt und zwar sukzessive, chronologisch und aus seiner subjektiven Sichtweise mit dem Wissensstand, der jeweils der Situation Martin Nies 128 entspricht: “Sie sehen diesen Fall, wie ich ihn sah, treffen dieselben Menschen, finden dieselben Spuren und lösen ihn vielleicht sogar noch vor mir - aber vielleicht auch nicht” (3: 13). Gegen Ende des Films, noch innerhalb der Binnengeschichte, kündigt Marlowe dann einem Polizisten, der fragt, ob er “die ganze Story” kenne, an, diese nicht zu erzählen, sondern sie aufzuschreiben und ihm einen Durchschlag zukommen zu lassen (97: 10). Auf mehreren Ebenen leugnet der Film spielerisch seine eigene Medialität. Von Erzählen, Schreiben, Literatur ist die Rede: Mündlich erzählen lässt sich die Geschichte nicht, angemessen kann sie intradiegetisch nur in literarischer Form vermittelt werden - entweder wegen ihrer Komplexität, wegen des besonderen Eindrucks, den sie hinterlassen hat, oder weil auch sie nur als eine ‘Schundgeschichte’ für einen Groschenroman eignet. Dennoch suggeriert die Rahmengeschichte eine mündliche Sprechsituation mit direkter Rezipientenansprache. In der Folge wird das Geschehen aber dann dem Adressaten filmisch präsentiert, mit den Augen des Ermittlers gezeigt und auf extradiegetisches Erzählen verzichtet. D.h. letztlich wird diese besondere Geschichte als nur filmisch vermittelbar erwiesen und damit das eigene Medium gegenüber den anderen aufgewertet. Grenzfälle solch selbstreferenzieller metafiktionaler medialer Spiele stellen diejenigen Filme dar, die selbst vorgeben, Literatur zu sein, bzw. bei denen die vorausgesetzte Rezeptionssituation als eine literarische konstruiert wird. Wenn z.B. W HAT ’ S U P D OC ? (I S ’ WAS D OC ? , Peter Bogdanovich, USA 1972) die Credits zu Filmbeginn auf den Seiten eines Buches mit dem Titel “Warner Bros. Pictures” präsentiert, umgeblättert von einer Hand, die sich anhand des getragenen Schmucks als die einer intradiegetischen Figur identifizieren lässt, und das dargestellte Geschehen beginnt, indem von einer Buchillustration einer Reisetasche mit der Unterschrift “Once upon a time, there was a plaid overnight case…” in das entsprechende filmische Bild überblendet wird (2: 40), dann suggeriert der Film ein ‘Eintauchen’ in Literatur, ohne dass allerdings eine weitere bedeutungstragende Funktion dieses intermedialen Spiels erkennbar wäre. Veit Harlans I MMENSEE - E IN DEUTSCHES V OLKSLIED (D 1943) nutzt dagegen eine im Vorspann gezeigte Buchtitelseite, die den Film eindeutig als Literaturverfilmung nach der gleichnamigen Novelle Theodor Storms explizieren soll, zur Autorisierung der im Sinne der NS-Ideologie gedeuteten und umkonstruierten Geschichte, die zugleich durch den Untertitel “Ein deutsches Volkslied” als ein allgemeines, durch Storm und Harlan lediglich medialisiertes ‘Volksgut’ ausgewiesen ist. 16 T HE R OYAL T ENENBAUMS (Wes Anderson, USA 2001) dagegen zeigt zu Beginn ein Buch desselben Titels, das aus einer Bibliothek entliehen (0: 11), dann von einem impliziten Leser rezipiert wird und dessen einzelne Kapitel nach der Einblendung der entsprechenden Buchseite des Kapitelbeginns sukzessive filmisch präsentiert werden (vgl. Abb. 2). Außerdem weist der Film innerhalb der szenisch präsentierten Kapitel im Off eine extradiegetische auktoriale Erzählinstanz auf. Neben dem Spiel mit Fiktionalität und Gattungsreferenzen auf die Familienchronik, hat diese ‘Literarisierung’ der erzählten Geschichte wiederum die Funktion, die Besonderheit des filmischen Erzählgegenstandes und seine ‘epische Größe’ herauszustellen. Wenn die Chronik der Familie einer öffentlichen Bibliothek entliehen wird, handelt es sich dabei ohnehin um ‘institutionalisierte Geschichte’, die dem öffentlichen Gedächtnis eingeschrieben ist. Der Film stellt die Repräsentation des Rezeptionsprozesses eines anonymen Lesers dar, von dem nur die Hände zu sehen sind, wenn er das Buch auf die Bibliothekstheke legt und die filmische Präsentation der Geschichte entspricht damit seiner Imagination - dem ‘inneren Film’ vor dem geistigen Auge - während der Lektüre, wohingegen die auktoriale Erzählinstanz aus dem Off der Erzähler des Buches, der Chronist, ist, der sich im Bewusstsein dieses Lesers als Stimme materialisiert. Short Cuts - Great Stories 129 Abb. 2 Eine Reihe von Filmen semiotisiert im Unterschied dazu eine dargestellte Binnenhandlung als Repräsentation bzw. Produkt eines intradiegetischen Schreibprozesses und behauptet damit die metadiegetisch dargestellte Wirklichkeit als eine literarische im Entstehen. S TAND BY ME (S TAND BY ME - D AS G EHEIMNIS EINES S OMMERS , Rob Reiner, USA 1986) etwa präsentiert eine Rahmengeschichte, in der eine Autorfigur die Erinnerungen an ein besonderes Erlebnis und erste Verlusterfahrungen in der Transitionsphase von der Kindheit zur Jugend verschriftet. Die Binnengeschichte entspricht der Visualisierung des Erinnerungs- und Verschriftungsprozesses. Sie endet mit dem Abschluss des Buches und der Hinwendung des Autors zum Spiel mit den eigenen Kindern in der intradiegetischen ‘Realität’. Den individuellen Erinnerungen an den letzten Sommer der Kindheit ist demnach in der Rahmengeschichte ein Ende mit einem ‘überindividuellen’ Sinnangebot angehängt, das über eine nostalgisierende auf eine pädagogische Auseinandersetzung mit ‘Kindheit’ hinausweist, deren positive und negative Erfahrungen als ‘wertvoll’ für den Individuationsprozess gesetzt sind: Die Rückbesinnung auf das Kindsein definiert die eigene Vaterschaft und führt zur spielerischen Annäherung der Generationen. Auch P AN (Henning Carlsen, N 1995) repräsentiert die filmisch dargestellte Welt als einen Erinnerungsbzw. Imaginationsraum eines Autor-Ichs. Hier wird aber deutlich, dass der Schreibprozess eine therapeutische Funktion für die Autor-Figur hat, die rückblickend Erlebtes ästhetisiert bzw. sich eine ‘Wirklichkeit’ schreibend erst konstruiert, der ‘Realitätsgehalt’ des Erzählten also ein Problem darstellt. Das erlebende Ich bzw. erzählte Ich wird als ein Selbstentwurf des erzählenden Ich als ‘Pan’ und damit als ein mythisierender Sinnstiftungsversuch des eigenen Lebens entlarvt und die filmische Metadiegese damit zu einem ‘Hirngespinst’ eines pathologisierten Subjektes. Die Psychologie des Autor-Ich ist damit eigentlicher Erzählgegenstand. P ROSPERO ’ S B OOKS (P ROSPEROS B ÜCHER , GB/ F/ NL 1991) von Peter Greenaway repräsentiert den Schreib- und Rezeptionsprozess zugleich. Die filmische Figur des Prospero fungiert hier als Autor-Schöpfer, Interpret und Figur des Stückes The Tempest in einer Person, zu Filmbeginn außerdem als Sprecher aller anderen Figuren und im Laufe des Geschehens als ein von dem Schauspieler John Gielgud dargestellter Charakter in einem Schauspiel sowie als Figuration William Shakespeares. 17 Textrezeption, Textkreation und intradiegetisch ‘reale’ Weltkonstruktion lassen sich hier nicht mehr differenzieren - die Realität entsteht aus einem Schreibprozess, der integrativer Teil dieser Realität ist und die sich zugleich selbstreflexiv als Theaterinszenierung nach einem literarischen Text filmisch präsentiert. 3. Short Cuts vs. Great Story Die Funktionen der Short Cuts in Film und Literatur einerseits und extradiegetischer Erzählinstanzen im Film andererseits bestehen neben der Evokation metafiktionaler und selbstreflexiver Diskurse vor allem in der Fragmentierung bzw. Episierung der erzählten Geschichte(n). D.h. die hier aufgezeigten Erzählstrategien ‘filmischen’ Erzählens in der Litera- Martin Nies 130 tur und ‘literarischen’ Erzählens im Film sind auf den ersten Blick Ausdruck oppositioneller Welt- und Geschichtsmodelle: Heben Short Cuts scheinbar das zusammenhanglose Nebeneinander verschiedener Geschichten hervor, negieren übergeordnete sinnstiftende Instanzen und proklamieren eine bruchstückhafte Welt, so manifestieren extradiegetische Erzählinstanzen eine Kohärenz des Erzählten, erzeugen also einen ausdrücklichen Sinnzusammenhang. Dieser kann in der Rückschau eines Ich-Erzählers auf in der Vergangenheit Erlebtes ein autobiografischer sein (S TAND BY ME , L OVE AND D EATH , P AN ), dann ist das Erzählte auch Ausdruck retrospektiver Selbst- und Lebensentwürfe und damit einer textimmanenten Psychologisierung des Erzählten, oder ein biografischer, der die Besonderheit des Lebenslaufes einer oder mehrerer fremder Personen zum Gegenstand hat (T HE R OYAL T ENEN - BAUMS ). Ein analytischer Sinnzusammenhang ergibt sich in der Darstellung der sukzessiven detektivischen Rekonstruktion und Aufklärung rätselhafter Vorgänge in T HE L ADY IN THE L AKE : Hier ist die Kohärenz zwar eine zunächst verborgene, aber da deren Entdeckung Haupterzählgegenstand ist, manifestiert sie sich zum Ende umso deutlicher, womit durch die Tötung des Verbrechers auch noch die Wiederherstellung der Ordnung der dargestellten Welt einhergeht. Unter einer bestimmten historisch-politischen Weltsicht auf den Vietnamkrieg subsumiert W E W ERE S OLDIERS die dargestellten amerikanischen Soldaten und den Erzähler, mit dem Ziel, die öffentliche Wahrnehmung des thematisierten Kriegsereignisses zu korrigieren; der hier etablierte Sinnzusammenhang ist entsprechend ein ideologischer. Darüber hinaus betonen die extradiegetischen Erzählinstanzen in den Filmbeispielen allesamt die Besonderheit der von ihnen erzählten Geschichte: Sie episieren das Erzählte zu einer außerordentlichen, ‘großen Geschichte’, deren Relevanz den Erzählakt erst legitimiert. Dem entgegen erzeugen Short Cuts zunächst den Eindruck von der Beiläufigkeit des Erzählten, als eines zufälligen Geschehens, das vorübergehend in den Fokus gerät. Der Flurplan im Abspann von S HORT C UTS suggeriert die Beliebigkeit der gezeigten Weltausschnitte - ebenso gut hätten Lebensabschnitte anderer Vorortbewohner in den Blick genommen werden können. In der Genese des Short-Cuts-Modells lassen sich unterschiedliche paradigmatische Funktionen der Short Cuts feststellen. Zunächst bezeichnet die fragmentarische Erzählweise soziale Grenzen in der dargestellten Welt: zwischen Adel und Bürgertum in Die Soldaten, zwischen Arm und Reich in D IE FREUDLOSE G ASSE . Bei Koeppen fungiert sie in den 1950er Nachkriegsjahren als Darstellungsmittel konkurrierender philosophischer Weltentwürfe, bei Hoem im Rahmen eines poetologisch-ästhetischen Metadiskurses über das Verhältnis von Literatur und Realität, in Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot wiederum als Semiotisierung unüberwindbarer emotionaler und sozialer Klüfte in einer von Vereinsamung geprägten Singlegesellschaft und in L OVE ACTUALLY als deren Überwindung unter dem einenden Prinzip ‘Liebe’. Wie die Analyse der Beispiele zeigte, neigen aber die meisten Texte, die das Short-Cuts-Modell aktualisieren, dazu, einen übergeordneten Sinnzusammenhang durch verschiedene Methoden der Kohärenzstiftung zu etablieren, der über die Geschehensmotivierung aus den Begegnungen der Figuren hinausgeht. Auf diese Weise ergibt sich - auch als Rekonstruktionsleistung des Rezipienten - wiederum der epische Zusammenhang einer großen Geschichte nun etwa eines Raumes (S HORT C UTS ), einer temporalen Einheit (M ENSCHEN AM S ONNTAG ) oder eines anthropologisierten Affektes bzw. eines ultimativen Wertes, der die als Defizienz erfahrene Separation überwindet, die die Short Cuts ‘bedeuten’ (L OVE ACTUALLY ). Short Cuts - Great Stories 131 Die analysierten fremdreferenziellen discours-Phänomene wurden bisher mit Begriffen wie ‘Erzählstruktur’, ‘Erzähltechnik’ und ‘Erzählweise’ beschrieben, die alle Strukturen des Erzählens umfassen können. Fraglich ist, inwieweit diese in einem terminologisch engeren Sinne je einen spezifisch filmischen bzw. literarischen Erzählstil konturieren. ‘Erzählstil’ bezeichnet eine Korrelation struktureller Merkmale auf der Ebene des discours, die sprachlich-formale Abweichungen von den jeweils medial ‘normalen’ Erzählweisen funktionalisiert, um bestimmte Textbedeutungen zu generieren. 18 D.h. in Abgrenzung zu den vorher genannten Termini handelt es sich um spezifische Formen der Rede auf der lexikalischen und/ oder grammatischen Ebene. Normales Erzählen - also hinsichtlich der Wahl der Mittel zur diskursiven Vermittlung der Geschichte konventionelles und ‘unauffälliges’ Erzählen - wäre noch genauer zu bestimmen, hier muss lediglich pragmatisch ein solcher Normalfall des Erzählens angenommen werden, von dem ex negativo die fremdreferenziellen discours-Mittel als abweichend aufgefasst werden können und empirisch auch aufgefasst werden. Dieser ist historisch variabel und unterliegt dem Wandel der Literatursysteme. 19 Zwar beruhen sowohl die Short-Cuts-Narration in der Literatur als auch die extradiegetischen Erzählsituationen im Film auf der Wahl abweichender gegenüber den jeweils medial ‘normalen’ Erzählweisen. Allerdings ist die Adaption typisch literarischer Sprechbzw. Erzählsituationen und Perspektiven im Film kein stilistisches Phänomen, da es sich dabei nicht um eine Struktur der Rede selbst, sondern um die Konstituierung einer weiteren Vermittlungsebene der Geschichte neben der Kamerahandlung und der dargestellten Handlung vor der Kamera handelt. Die Segmentierung der Narration in Short Cuts stellt dagegen eine Abweichung auf der grammatisch-syntaktischen Ebene des Erzählvorganges dar und manifestiert sich literarisch insbesondere in der sprachlichen Gestaltung der Übergänge zwischen den Segmenten wie bei Koeppen und Hoem als ein eigener Erzählstil, der immer Separation, das Nebeneinander eigenständiger Einheiten semantisiert. Der Grad der Separation ist dabei mittels der sprachlichen Gestaltung der Schnitte als jeweils ‘weicher’ oder ‘harter’ Schnitt skaliert. Von diesem Short-Cuts-Stil wurde das Short-Cuts-Erzählmodell als eine discours und histoire übergreifende Struktur unterschieden, die sowohl die stilistischen Besonderheiten der Rede als auch die implizit oder explizit übergeordnete Erzählsituation, die Multiperspektivität in der Erzählerperspektive und das Modell der Begegnung der Handlungsträger sowie die Geschehensmotivation aus den daraus resultierenden Vernetzungen des Geschehens umfasst. Das Short-Cuts-Modell ist per se nicht mit einer bestimmten inhaltlichen Bedeutung verknüpft, seine Semantik ist kontextuell gebunden an die histoire des jeweiligen Textkonstruktes, aber es tendiert zur Tilgung von Separation: wenigstens durch die Existenz der übergeordneten Sprech- und Wahrnehmungsinstanz, die die Diegese überblickt, die Handlungsträger bzw. Geschehenseinheiten wechselnd fokussiert und die Übergänge in der Rede gestaltet, bis hin zur inhaltlichen Verknüpfung der Segmente durch Parallelisierungen und Korrelationen von Figuren und Handlung im Begegnungsmodell. Sowohl der Short-Cuts-Stil als auch das Short-Cuts-Modell sind nunmehr konventionalisierte Erzählweisen und im kulturellen Wissen als textuelles Formenrepertoire abgespeichert. Die Häufigkeit ihres Auftretens im Film der neunziger Jahre bis in die Gegenwart ist der Dominanz postmodernistischer Ästhetik als einem Oberflächenphänomen geschuldet - zu einem postmodernistischen ‘Bedeutungssystem’ steht aber das Short-Cuts-Modell nicht nur in einem Widerspruch, sondern widerlegt es. Denn in den entsprechenden Filmen wird signifikant sukzessive Kohärenz etabliert. Auch und insbesondere P ULP F ICTION , der wohl populärste Film dieser Dekade, fordert etwa die Rekonstruktion der logisch-chronologischen Martin Nies 132 Ereignisfolge im Rezeptionsprozess, ohne das Bemühen um Wiederherstellung des ‘richtigen’ Zusammenhanges zu enttäuschen: Alle Brüche, die sich durch die Verwendung des Short-Cuts-Stils und die Umstellung der Chronologie auf der Ebene des discours ergeben, lassen sich widerspruchsfrei tilgen und die Handlungselemente sich zu einer konventionellen Pulp-Fiction-Geschichte zusammenfügen. Der Short-Cuts-Stil, der ein zusammenhangloses Nebeneinander ‘bedeutet’, wird durch die Auflösung in einem Short-Cuts-Modell und durch die in der Rekonstruktion offen gelegte ‘eigentliche’ Kohärenz der erzählten Geschichte seiner Bedeutung enthoben. D.h., dass ein ‘Stilmittel’ in der Oberflächenstruktur des sprachlich-syntaktischen Ausdrucks funktionalisiert wird, um deiktisch auf die Tiefenstruktur des Textes und deren ihm antonymische Bedeutung zu verweisen, aber auch auf die Notwendigkeit des analytisch-interpretatorischen Aktes, der die Voraussetzung des Erkennens sehr wohl gegebener Zusammenhänge ist. Denn die als ‘postmodernistisch’ apostrophierten Filme der neunziger Jahre tendieren keineswegs wie etwa die Romane Wolfgang Koeppens hinsichtlich der Sinnfrage zu einer Offenheit der Bedeutung - was eine notwendige Voraussetzung wäre, um von Postmodernismus in Texten überhaupt sprechen zu können -, 20 sondern, indem sie in den erzählten Geschichten Zusammenhang explizit konstruieren, tendieren sie zur Vereindeutigung und Sinnstiftung - ein Verfahren, das sich L OVE A CTUAL - LY am deutlichsten zu Nutze macht bis hin zum Re-Etablieren eines transzendentalen Signifikats im erzählten Geschehen und in einer nur einem visuellen Medium möglichen Inszenierungsweise, wenn das Split-Screen-Herz, das die Vereinigung aller separaten Einheiten unter einem zentralen Sinnangebot bezeichnet, die Leinwand bzw. den Bildschirm illuminiert. Beide Erzählweisen - sowohl die Short-Cuts-Erzählung als auch die Funktionalisierung fremdmedialen (literarischen) Erzählens in Filmen wie T HE L ADY IN THE L AKE , P ROSPERO ’ S B OOKS oder T HE R OYAL T ENENBAUMS verweisen nicht nur selbstreflexiv auf die eigene Medialität, sondern letztlich auf die grundsätzliche Medialität von ‘Geschichte’ und damit auf deren Status als narratives Konstrukt. Beide Varianten neigen schließlich im Auflösen des Fragmentarischen im Epischen zum Erzählen einer großen überindividuellen Geschichte, die die vielen kleinen Geschichten umfasst. 4. Literaturangaben Filmverzeichnis T HE B IG L EBOWSKI , Ethan & Joel Coen, USA 1999 C ANNERY R OW (D IE S TRASSE DER Ö LSARDINEN ), David S. Ward, USA 1982 C AT ’ S E YE (K ATZEN -A UGE ), Lewis Teague, USA 1985 D ARK P ASSAGE (D AS UNBEKANNTE G ESICHT / D IE SCHWARZE N ATTER ), Delmer Daves, USA 1947 L E FAVORIS DE LA LUNE (D IE G ÜNSTLINGE DES M ONDES ), Otar Iosseliani, F/ I 1984 L A F EMME D ’ À C ÔTÉ (D IE F RAU NEBENAN ), Francois Truffaut, F 1981 F OUR W EDDINGS AND A F UNERAL (V IER H OCHZEITEN UND EIN T ODESFALL ), Mike Newell, GB 1994 D IE F REUDLOSE G ASSE , Georg Wilhelm Pabst, D 1925 T HE G REEN B ERETS (D IE GRÜNEN T EUFEL ), Ray Kellog / John Wayne, USA 1968 H OTEL A DLON , Josef von Baky, BRD 1955 I MMENSEE - E IN DEUTSCHES V OLKSLIED , Veit Harlan, D 1943 I N JENEN T AGEN , Helmut Käutner, BRD 1947 D E JURK (D AS GEHEIMNISVOLLE K LEID , Alex van Warmerdam, NL 1996) T HE L ADY IN THE L AKE (D IE D AME IM S EE ), Robert Montgomery, USA 1947 L ADYLAND , TV-Reihe, D 2006 L OVE A CTUALLY (T ATSÄCHLICH …L IEBE ), Richard Curtis, GB 2003 Short Cuts - Great Stories 133 L OVE AND D EATH (D IE LETZTE N ACHT DES B ORIS G RUSCHENKO ), Woody Allen, USA 1975 M ENSCHEN AM S ONNTAG , Robert Siodmak, Billy Wilder, Edgar G. Ulmer, D 1929 N IGHT ON E ARTH , Jim Jarmusch, USA 1991 P AN , Henning Carlsen, N 1995 P OWERS OF T EN (H OCH Z EHN ), Charles & Ray Eames, USA 1977 P ILLOW T ALK (B ETTGEFLÜSTER ), Michael Gordon, USA 1959 P ROSPERO ’ S B OOKS (P ROSPEROS B ÜCHER ) Peter Greenaway, GB/ F/ NL 1991 P ULP F ICTION , Quentin Tarantino, USA 1994 T HE R OYAL T ENENBAUMS , Wes Anderson, USA 2001 S HORT C UTS , Robert Altman, USA 1993 S MOKE (S MOKE - R AUCHER UNTER SICH ) Wayne Wang, USA 1995 S T . P AULI -N ACHT , Sönke Wortmann, D 1999 T HE T HOMAS C ROWN A FFAIR (T HOMAS C ROWN IST NICHT ZU FASSEN ), Norman Jewison, USA 1967 W E W ERE S OLDIERS (W IR WAREN H ELDEN ), Randall Wallace, USA 2001 W HAT ’ S UP D OC ? (I S ’ WAS D OC ? ), Peter Bogdanovich, USA 1972 W OODSTOCK - T HREE D AYS OF L OVE AND M USIC , Michael Wadleigh, USA 1969 T HE Y ELLOW R OLLS R OYCE (D ER GELBE R OLLS R OYCE ), Anthony Asquith, GB 1964 Primärliteratur Andersch, Alfred 1972: Die Rote, Zürich: Diogenes. Baum, Vicky 2005: Menschen im Hotel, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Berg, Sibylle 1997: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot, Leipzig: Reclam. Hoem, Edvard 1987: Fährfahrten der Liebe, Aus dem Norw. von Ebba D. Drolshagen. Mönkeberg: Butt. Koeppen, Wolfgang 1975: Der Tod in Rom, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Koeppen, Wolfgang 1980: Tauben im Gras, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lenz, Jakob Michael Reinhold 1987: Briefe und Werke in drei Bänden (hrsg. von Sigrid Damm), München und Wien: Hanser. Lenz, Jakob Michael Reinhold 1993: Die Soldaten, Stuttgart: Reclam (RUB; 5899). Sekundärliteratur Buchholz, Hartmut 1982: Eine eigene Wahrheit: Über Wolfgang Koeppens Romantrilogie “Tauben im Gras”, “Das Treibhaus” und “Der Tod in Rom”, Frankfurt am Main, Bern: Lang (= Europäische Hochschulschriften; Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, 497). Decker, Jan-Oliver / Olaf Schwarz / Marianne Wünsch 1999: “Von der Novelle zum Film: Theodor Storms ‘Immensee’ (1860) und Veit Harlans Film ‘Immensee: Ein deutsches Volkslied’ (1943), in: Hans Krah (ed.): Geschichte(n): NS-Film - NS-Spuren heute. Kiel: Ludwig (= LIMES - KIEL, 1). Friedrich, Hans-Edwin 1993: “Kreuzritter an Kreuzungen: Entsemantisierte Metaphorik als artistisches Verfahren in Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras: Reaktion auf den Wertezerfall nach 1945”, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur (IASL) 1993, 18: 1, 86-122. Genette, Gérard 1994: Die Erzählung, Aus dem Franz. Von Andreas Knop, München: Fink. Hielscher, Martin 1988 a: Zitierte Moderne: Poetische Erfahrung und Reflexion in Wolfgang Koeppens Nachkriegsromanen und in “Jugend”, Heidelberg: Winter. Hielscher, Martin 1988 b: Wolfgang Koeppen, München 1988 (= Becksche Reihe 609, Autorenbücher). Lotman, Jurij M. 1972: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink (= UTB, 103). Krah, Hans 1997: “Media shift and intertextual reference”, in: Winfried Nöth (ed.), Semiotics of the Media. State of Art, Projects and Perspectives, Berlin, New York: Mouton de Gruyter. Metz, Christian 1972: Semiologie des Films, Übers. v. Renate Koch, München: Fink. Möller-Naß, Karl-Dietmar 1986: Filmsprache: Eine kritische Theoriegeschichte, Münster: MAkS. Nies, Martin 2005 a: “‘Strawberry Fields - Cranberry Sauce’: Das Spiel mit Zeichen aus der Popkunstwelt der Beatles in Hendrik Handloegtens Film P AUL IS DEAD ”, in: Thomas Barth, Christan Betzer u.a. (eds.): Mediale Spielräume: Dokumentation des 17. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, Universität Hamburg 2004, Marburg: Schüren, 67-76. Martin Nies 134 Nies, Martin 2005 b: “‘Die innere Sicherheit’: Gattungsselbstreflexion und Gesellschaftskritik in der Komödie Die Soldaten von J.M.R. Lenz”, in: Zeitschrift für Semiotik: Selbstreferenz und literarische Gattung, 23-44. Nies, Martin 2006 a: “‘Death in the Making’: Reflexionen über Journalismus und Fotografie im Kriegsberichterstatterfilm der 1980er und -90er Jahre”, in: Stephan Jaeger / Christer Petersen (eds.): Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien, Bd. 2: Ideologisierung und Entideologisierung, Kiel: Ludwig, 59-91. Nies, Martin 2006 b: “‘Stimme’ und ‘Identität’: Das Verschwinden der Geschichte in Knut Hamsuns Pan, Johannes V. Jensens Skovene, Joseph Conrads Heart of Darkness und Robert Müllers Tropen”, in: Andreas Blödorn / Daniela Langer / Michael Scheffel (eds.): Stimme(n) im Text: Narratologische Positionsbestimmungen, New York: de Gruyter (= Narratologia, X): 267-295. Petersen, Christer 2001: Jenseits der Ordnung: Das Spielfilmwerk Peter Greenaways - Strukturen und Kontexte, Kiel: Ludwig. Petersen, Christer 2003: Der postmoderne Text: Rekonstruktion einer zeitgenössischen Ästhetik am Beispiel von Thomas Pynchon, Peter Greenaway und Paul Wühr, Kiel: Ludwig. Petersen, Christer 2004: “Der unbekannte Feind: Vietnam im filmischen Diskurs”, in: Ders. (ed.): Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Bd. I: Nordamerika und Europa, Kiel: Ludwig, 194-230. Raddatz, Fritz J. 1983: Die Nachgeborenen: Leseerfahrungen mit zeitgenössischer Literatur, Frankfurt/ Main: Fischer. Stanzel, Franz K. 1989 4 : Theorie des Erzählens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (= UTB, 904). Anmerkungen 1 Der hier zu Grunde gelegte medienunabhängige Textbegriff im Sinne eines kohärenten Systems bedeutungstragender Zeichen, gleich ob sprachlich-graphemischer oder -phonemischer, ob akustischer oder ikonografischer Art, schließt sowohl Literatur, Film als auch etwa Musik ein. 2 Zum Begriff des ‘Ereignisses’ vgl. Lotman (1972: 330ff.) 3 Zum Gattungsdiskurs in Die Soldaten vgl. Nies (2005 b). 4 Vgl. die Polemik von Lenz in der poetologischen Schrift “Anmerkungen übers Theater” gegen die “so erschröckliche jämmerlichberühmte Bulle von den drei Einheiten” (Lenz 1987: II 654). 5 Eine Rekonstruktion ‘postmodernistischer Ästhetik’ aus konstitutiven Merkmalen in Literatur und Film findet sich bei Petersen (2003). 6 Zu Strategien der Kohärenzstiftung in einem gemeinhin als ‘postmodernistisch’ rezipierten Filmbeispiel vgl. den Aufsatz von Jan-Oliver Decker in diesem Band. 7 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurden lediglich die ersten beiden Folgen der Reihe gesendet, aber aus der Ankündigung des Senders SAT.1 wird das Konzept deutlich: “Die “LADYLAND”-Kurzgeschichten sind Geschichten aus dem Leben: überraschend, spannend, zum Schmunzeln, haarsträubend, verrückt und manchmal auch tragikomisch. Eben (fast) so, wie sie jeden Tag irgendwo auf der Welt passieren könnten. Die drei Kurzgeschichten haben in jeder “LADYLAND”-Folge immer einen gemeinsamen Ausgangpunkt, der sich wie ein roter Faden durch die Handlungen zieht: in einer Hotellobby, an einer Tankstelle oder z.B. in einem Bürogebäude - dort treffen verschiedene Personen (jeweils verkörpert von Anke Engelke) aufeinander, laufen sich zufällig über den Weg, ohne zu ahnen, was für eine Geschichte der andere hat und wie schicksalhaft ihre zufälligen Begegnungen sein können. Sie geraten in ungewöhnliche, emotionale, witzige und skurrile Situationen, die nicht selten ihr Leben auf den Kopf stellen. Die Zuschauer begleiten die jeweiligen Figuren dann in ihre ganz speziellen Geschichten.” 8 Für z.B. die Erzähl- und Handlungsstruktur in Tauben in Gras hat Friedrich (1993) die besondere Relevanz des Begegnungsmodells herausgearbeitet. 9 Vgl. Hielscher (1988 a: 130f. und 144f.) sowie (1988 b: 98f.). 10 Die Begriffe “Diegese” (= dargestellte Welt der Erzählung), “intradiegetisch” und “extradiegetisch” (= innerhalb bzw. außerhalb der dargestellten Welt) folgen der Terminologie von Gérard Genette (1994). Als “Metalepse” bezeichnet Genette den “Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen” (1994: 167). Gemeint sind alle Grenzüberschreitungen eines Erzählers oder Adressaten in die dargestellte Welt der Erzählung, von Figuren der intradiegetisch dargestellten Welt in die metadiegetische Ebene einer Binnenerzählung sowie Grenzüberschreitungen diegetischer Figuren in die jeweils übergeordnete Ebene des Erzählers (vgl. ebd. 168). Genette spricht diesen ‘eigentlich unmöglichen’ Wechseln von Seins- oder Kommunikationsebenen eine “bizarre Short Cuts - Great Stories 135 Wirkung” zu (ebd.). Zwar scheint es wenig ungewöhnlich, wenn etwa eine Figur intradiegetisch Gegenstand einer narrativen Kommunikationssituation zwischen zwei Figuren ist. Wird aber eine Binnenerzählung als ‘fiktiv’ gekennzeichnet und eine ihr zugehörige, fiktionale Figur tritt in der übergeordneten (fiktiven) Realität der dargestellten Welt als handelnde Person auf oder tritt - wie bei Hoem - ein Erzähler in seine als fiktiv gekennzeichnete erzählte Welt hinein, erzeugt der Text eine fundamentale Verunsicherung über den Gehalt des Erzählten und den Status der dargestellten Welt. Zu metaleptischen Erzählexperimenten in internationalen Texten der Frühen Moderne und deren Konsequenzen für den intradiegetischen Realitätsgehalt des Erzählten vgl. Nies (2006 b). 11 Zum Problem des ‘Media shift’ vgl. Krah (1997) und exemplarisch zum Medienwechsel von einem Pop-Song zu einem narrativen Modell im Film Nies (2005 a). 12 Die missverständlich bezeichnete ‘personale Erzählsituation’ nach Stanzel (1989) kennzeichnet bekanntlich gerade das Fehlen einer sich z.B. in Wertungen und Kommentaren als ‘Person’ manifestierenden Erzählinstanz; es handelt sich dabei um ein scheinbar ‘erzählerloses Erzählen’. 13 Dass diese ihrerseits metaphorische Bezeichnung von Phänomenen, die verschiedenen discours-Ebenen zuzuordnen sind (vgl. Genette 1994: “Wer spricht? ” - “Wer nimmt wahr? ”), nicht nur unpräzise, sondern auch unzutreffend ist, wenn man Siegfried als übergeordnete Erzählinstanz annimmt, bzw. dass die oben angesprochene Ambiguität des Textes damit überhaupt nicht erfasst ist, sei dahingestellt; hier geht es um eine literarische Oberflächenstruktur, die sich filmischen Strukturen weitgehend anzunähern versucht. 14 Die Geschichte von der Überzeugung eines Berichterstatters und seiner Anerkennung der moralischen Notwendigkeit des Krieges von Seiten der USA auf Grund eigener Anschauung und Einmischung verweist auf den US- Propagandafilm T HE G REEN B ERETS (D IE GRÜNEN T EUFEL , Ray Kellog / John Wayne, USA 1968). Vgl. zu diesem Film Petersen (2004: 204ff.). 15 Zur Stellung von W E W ERE S OLDIERS innerhalb des Genres des Kriegsberichterstatterfilms und den darin geführten medialen Diskursen vgl. Nies (2006 a). 16 Vgl. dazu Decker/ Schwarz/ Wünsch (1999). 17 Vgl. dazu Petersen (2001: 95ff.). 18 Weiterführende Definitionen und systematisierende Überlegungen zum Problem des ‘Stilbegriffs’ siehe in diesem Band. 19 Dies zeigt etwa die auffällige Häufigkeit von Rahmen- und Binnenerzählungen im Literatursystem des Realismus, die dort konstitutiver Teil des spezifisch ‘realistischen’ Realitätsmodells sind und die im Literatursystem der Frühen Moderne im Zusammenhang mit nun dominant psychologischem Erzählen von anderen Phänomenen auf der discours-Ebene paradigmatisch abgelöst werden: Z.B. durch eine Tendenz zu Ich-Erzählsituationen und personalem Erzählen gegenüber auktorialem Erzählen, durch die häufige Verwendung erlebter Rede in der Wiedergabe von Figurenrede oder die Vermittlung von Bewusstseinsinhalten von Reflektorfiguren in Form eines stream of conciousness. 20 Vgl. Petersen (2003: 301). Stilbildung und visuelle Kodierung im Film Am Beispiel der deutschen Edgar Wallace-Filme der 1960er Jahre und ihrer Parodie in D ER W IXXER Andreas Blödorn Regarding the analysis of style in film, the German Edgar Wallace series seems to provide a perfect example: With their stereotypical plots and recurrent motifs, the individual films of the series achieve a high grade of recognition. Referring to both the filmic discours and the histoire, narrative style can be defined as recurrent and media-related model of selection. According to this concept, the semiotic criteria of style as ‘choice’ and ‘deviance’ are no longer relating to a generalized norm, but emerge as factors conditional on the context of narrating. Based on a comparative analysis of D ER H EXER (1964) and D ER W IXXER (2004), ‘style’ is proposed finally not only as a rhetoric elaboration of narration in film, but as integral part of its signification process. Mit ihren stereotypen Handlungsmustern und motivischen Rekurrenzen scheint die deutsche Edgar Wallace-Filmserie zahlreiche Ansatzpunkte für eine filmische Stilanalyse zu bieten. Zur Wiedererkennbarkeit der Filme tragen jedoch neben dem filmischen discours auch Stereotype auf der histoire-Ebene der erzählten Geschichten bei. Der Beitrag versucht, in der funktionalen Rückbindung des Erzählens auf die erzählten Geschichten ‘Erzählstil’ als rekurrentes, mediengebundenes Selektionsmuster zu fassen. Die semiotischen Stilkriterien von ‘Wahl’ und ‘Abweichung’ werden dabei nicht auf eine verallgemeinerbare Norm bezogen, sondern treten als kontextuelle Faktoren hervor. In einer vergleichenden Stilanalyse von D ER H EXER (1964) und D ER W IXXER (2004) wird untersucht, inwiefern ‘Stil’ nicht bloße rhetorische Ausschmückung filmischer Narration, sondern integraler Bestandteil von deren Bedeutungskonstitution ist. 1. Stil und Wiedererkennbarkeit Die zwischen 1959 und 1972 erschienenen Edgar Wallace-Filme stellen ein prägnantes Beispiel für die Etablierung filmischen Stils dar. Zu dieser längsten deutschen Kinofilmserie, die die Rialto Film von 1959 bis 1972 für den Constantin Film-Verleih produzierte, werden im engeren Sinne 32 ‘echte’ Edgar Wallace-Filme gerechnet, daneben entstanden jedoch eine Reihe weiterer Produktionen ähnlicher Machart (vgl. dazu Kramp 2005). Einen hohen Wiedererkennungswert besitzen diese Filme aufgrund vielfacher Effekte: nur minimale Variation einer gleich bleibenden Erzählstruktur, Erzeugung einer britisch anmutenden Atmosphäre wohligen Grusels, Verknüpfung der Kriminalmit einer Liebesgeschichte, typisierte Situierung in Zeit und Raum (der aus der Vergangenheit in die Gegenwart überkommenen englischen Adelswelt), stereotype Figuration und stets nur leicht variierte Rollenbesetzung mit bekannten Schauspielern, dazu eine leicht durchschaubare (auch visuelle) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Andreas Blödorn 138 Zweiteilung der dargestellten Welt in ‘gut’ (hell) vs. ‘böse’ (dunkel). Die ‘Wiedererkennbarkeit’ umfasst folglich sowohl zeichenhafte Elemente auf der Ebene des Dargestellten (histoire) als auch der Darstellung (discours). Versucht man nun, den Stil der Filme zu erfassen, so stellt sich zum einen die Frage, aus welchen Elementen sich ‘Stil’ konstituiert, und daraus folgend zum anderen, wie sich der Stil eines Films bzw. einer Serie zur jeweils erzählten Gesamtgeschichte verhält. Dieses zweifache Definitionsproblem tritt in dem Moment umso deutlicher hervor, in dem ein weiterer Film fremdreferentiell Bezug nimmt auf einen kulturell bereits etablierten Stil und diesen damit als ‘Stil’ markiert: Das Beispiel der Wallace-Parodie D ER W IXXER (D 2004) rekurriert auf die deutschen Edgar Wallace-Verfilmungen der 1960er Jahre, und zwar sowohl thematisch als auch ‘stilistisch’. In der übersteigerten, parodierenden Imitation dieser Filme zeigt sich, dass der Stil eines Texts/ Films mehr umfasst als seine rhetorische Ausschmückung, da ein Stil zugleich an eine spezifische Funktion innerhalb des Films gebunden ist. Zu fragen ist daher einerseits nach der Funktion eines Stils in seinem primären, andererseits nach der in seinem sekundären, intertextuell aktualisierten Kontext. Die Umfunktionalisierung stilistischer Elemente verweist damit auf die für die Herausbildung von ‘Stil’ notwendige Rückbindung an die jeweilige Narration, d.h. die funktionale Bindung stilistischen ‘Ausdrucks’ an den jeweiligen ‘Inhalt’. So wird an D ER W IXXER deutlich, dass es einen ‘klassischen’, wiedererkennbaren Wallace-Stil gibt, und darüber hinaus, dass dieser Stil zwar einerseits sowohl Elemente auf der Ebene des discours als auch Elemente auf der Ebene der histoire umfasst, dass er andererseits jedoch als intertextuelles Zitat seine Funktion als Stil verliert. Ich möchte nachfolgend die Herausbildung des spezifischen Wallace-Stils in den 1960er Jahren betrachten und dabei, von den visuellen filmischen Kodes ausgehend, das Verhältnis von erzählter bzw. gezeigter Geschichte zum Zeigeakt auf der discours-Ebene analysieren, bevor ich im Anschluss der Frage nach der Funktionalisierung des Stils in D ER W IXXER nachgehe. In einem ersten Schritt sollen dazu auf der Grundlage eines semiotischen Stilbegriffs Aspekte einer filmischen Stilanalyse aufgezeigt werden. 2. Zum Problem eines semiotischen resp. strukturalen Stilbegriffs Der Stilbegriff zählt noch immer zu den umstrittensten und unschärfsten Kategorien literarischer und filmischer Textanalyse, und auch aus semiotischer Sicht erscheint der Stil als Analysekategorie für die Literatur- und Filmwissenschaft nach wie vor problematisch. Noch immer gilt, dass es “schwierig, wenn nicht sogar unmöglich [ist], eine semiotische Definition von Stil zu geben” (Greimas/ Courtés 1979: 318). Ursächlich für diese Definitionsschwierigkeiten wird vor allem die Tatsache, dass Signifikat und Signifikant stilistischer Textphänomene sowie die allgemeinen Zeichenrelationen hinsichtlich eines Stils nicht allgemeingültig festlegbar, sondern in verschiedener Hinsicht nur relational und relativ erkennbar sind: als “Kontrast” (Sowinski 1999: 36f.) in Abhängigkeit von den jeweiligen inner- und außertextlichen, von den kulturellen und historischen Kontexten (Riffaterre 1973: 124f.). Daraus folgt des Weiteren, dass sich Stil nur als funktionale Größe in Relation zum jeweiligen Bedeutungszusammenhang eines Textes feststellen lässt. Im Versuch, dennoch einen semiotischen Stilbegriff zu finden, kann Stil daher nur als operationale, nicht aber als absolute theoretische Größe gefasst werden. Dies spiegelt sich auch in den beiden Kriterien, die Winfried Nöths Handbuch der Semiotik als Gemeinsamkeit semiotischer Stilbegriffe festhält: 1. “Stil hat mit dem Prinzip der Abweichung von einer […] Norm zu tun”, 2. “die Abweichung ist das Stilbildung und visuelle Kodierung im Film 139 Ergebnis einer Wahl zwischen verschiedenen Alternativen” (Nöth 2000: 398). Die Konzeption von “Stil als Wahl und Abweichung” (Nöth 2000: 398) bezeichnet diesem Ansatz nach einerseits das Verhältnis der textlichen Oberflächenebene zu einem vorauszusetzenden außerbzw. vortextlichen Kode (aus dem eine neben anderen alternativen Möglichkeiten, jedoch im Rahmen verschiedener “Selektionsrestriktionen” (Sowinski 1999: 36) ausgewählt wurde), andererseits das Verhältnis zu einer Norm (von der abgewichen wird). Insbesondere die Schwierigkeit der Bestimmbarkeit dieser Norm erweist sich dabei als subjektiver Unsicherheitsfaktor, da jede Norm nur implizit aus einem Text rekonstruierbar ist und da die Rekonstruktion einer “stilistisch nicht markierten Nullebene der Sprache” (Nöth 2000: 398) überdies Gefahr läuft, die zu erkennenden Abweichungen beim Erstellen der Norm zirkulär wieder vorauszusetzen (vgl. Spillner 1974: 36). Auch ein Rückzug auf die Grammatik (als Sprachnorm) kann in dieser Hinsicht nur unvollständiger Ersatz bleiben, da nicht jede grammatische Normverletzung zugleich als stilistisches Textphänomen fungieren muss. Insbesondere aber die zentralen Einwände gegen einen semiotischen resp. strukturalen, auf dem Kriterium der Normabweichung beruhenden Stilbegriff, wie sie etwa von Spillner 1974 formuliert wurden, konnten bislang nicht entkräftet werden (Spillner 1974: 39f.; Sowinski 1999: 39). So scheint weder der Begriff der ‘Norm’ noch der der ‘Abweichung’ exakt definierbar. Auch die negative Definition dessen, was Stil ausmache, erscheint kaum befriedigend, und die Tatsache, dass (zumindest der Theorie nach) der Begriff der Normabweichung auch Texte ohne Stil (d.h. ohne Normabweichung) voraussetzt, legt eine Problematik offen, die Stil als nicht von einzelnen Phänomenen her positiv beschreibbare, sondern als nur subjektiv wahrnehmbare und subjektiv erscheinende Größe von Texten zu erklären vermag. Nicht zuletzt scheint sich das subjektive Potential einer textgenerierenden Instanz, die ihren ‘Stil’ als eine “expressive, affektive oder ästhetische Hervorhebung” (Riffaterre 1959: 155) dem Informationswert einer sprachlichen Struktur hinzufügt, nur im Bereich des Konnotativen verorten zu lassen, da auch der in gängigen literaturwissenschaftlichen Stildefinitionen genannte Faktor der Rekurrenz (Jahraus 2004: 117f.) 1 keinen quantifizierbaren Absolutheitswert besitzt, Stil somit nicht ‘messbar’ ist. Michael Riffaterre sieht eine Lösung des Problems einzig im Verzicht auf einen absoluten Stilbegriff. In seiner Strukturalen Stilistik nimmt er den Kontext, vor dem ein Stil erst wahrnehmbar wird, in den Blick - und damit auch die selbstreferentielle Seite einer textinternen Selbstthematisierung von Stil: “Die stilistische Funktion”, so Riffaterre, “zeigt sich also an den Faktoren des Verschlüsselungsprozesses, die die Begrenzung der Wahrnehmungsfreiheit während der Entschlüsselung (und des Spielraums beim Vortrag eines literarischen Werkes) bewirken” (Riffaterre 1973: 127). ‘Abweichungen’ lassen sich für ihn daher als Stilmerkmale immer nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext bestimmen (Riffaterre 1973: 124f.). Die Leistungsfähigkeit des Stilbegriffs hängt damit jedoch zunächst davon ab, wie sich der textinterne Kontext zu den Abweichungen und damit wie sich Stil zum allgemeineren und umfassenderen discours-Begriff (als Summe aller Gestaltungs- und Präsentationselemente für die Ereignisfolge eines Textes) verhält. Dieser Frage möchte ich am Beispiel des Mediums Film nachgehen. 3. Stil im Film Innerhalb der deutschsprachigen Film- und Fernsehwissenschaft spielt der Stilbegriff nur eine untergeordnete Rolle. 2 An Stelle von “Stil” betrachtet die Filmwissenschaft im Film auftretende “Codes”, die Film als je spezifische Kombination verschiedener Zeichensysteme Andreas Blödorn 140 kennzeichnen (vgl. etwa Kuchenbuch 2005: 92f.). Einzig Hickethier verweist auf eine zunehmende Reaktivierung des Stilbegriffs im Zusammenhang mit “epochen- und autorenspezifischen Erzähl- und Darstellungsweisen”, deutlich etwa am Beispiel des expressionistischen Films (vgl. Hickethier 2001: 159f.). Mit dem Stilbegriff werde nach Hickethier eine “filmästhetische Konstellation”, ein wiederkehrendes “Set von Mustern auf […] allen Ebenen der Filmgestaltung” beschreibbar (Hickethier 2001: 160). Diese stilistischen Gestaltungsmittel gelte es jedoch stets in Beziehung zu setzen “mit den Funktionen, die sie für das Dargestellte haben” (Hickethier 2001: 160). Neuere Untersuchungen versuchen Stil darüber hinaus als prozessuales Verfahren zu betrachten hinsichtlich der “Wirkungen der Kameraarbeit im filmischen Text”, so dass Stil als “kalkulierte[r] Zusammenhang des Ausdrucks und der Form” verstehbar wird (Prümm 1999: 17f.). Im Unterschied zu diesen wenig konkreten Stilkonzepten spielt die Kategorie “style” in der angloamerikanischen Filmwissenschaft eine nicht unbedeutende Rolle bei der Filmanalyse. Bordwell und Thompson, die dem Filmstil das längste Kapitel ihrer Film-Einführung widmen, definieren Stil als ein ‘formales System’, das die Bereiche “Mise-enscene”, “Cinematography” (kinematographische Gestaltung), “Editing” (Montage) und “Sound” umfasst (Bordwell/ Thompson 2001: 327f.). Konkreter definiert Bordwell ‘Stil’ als System spezieller Filmtechniken: “‘style’ simply names the film’s systematic use of cinematic devices. Style is thus wholly ingredient to the medium” (Bordwell 1985: 50). Filmstil wird bei Bordwell folgerichtig als “audiovisuelle Formierung” beschreibbar (vgl. dazu auch Röwekamp 2003: 168), die innerhalb der filmischen Narration mit dem syuzhet und der fabula interagiert: “In the fiction film, narration is the process whereby the film’s syuzhet and style interact in the course of cueing and channeling the spectator’s construction of the fabula”(Bordwell 1985: 53). Während “syuzhet” hier den medienunabhängigen, dramaturgischen Aspekt bezeichnet, umfasst “style” den medienabhängigen technischen Aspekt. Nach Bordwell wäre filmischer Stil folglich anzusehen als Funktionalisierung technischer Mittel innerhalb der filmischen Narration. Dass letzten Endes jedoch auch ein solcher Stilbegriff unzureichend ist, um die alltagssprachlich mit ‘Stil’ bezeichneten Phänomene zu erfassen, kritisiert Burkhard Röwekamp mit dem Hinweis auf die unbeantworteten “Fragen nach der Möglichkeit, wiederkehrende Erzählstrukturen oder thematische Schwerpunktbildungen mit dem Stilbegriff zu erfassen” (Röwekamp 2003: 168). Am Beispiel von D ER H EXER sollen nachfolgend die Möglichkeiten einer solchen funktionalen Zusammensicht von histoire- und discours-Elementen für den Stilbegriff untersucht werden. Zu fragen ist, ob ‘Stil’ dann als rekurrentes, mediengebundenes und funktional auf die erzählte Gesamtgeschichte bezogenes Selektionsmuster beschreibbar wird. 4. D ER H EXER und die Herausbildung eines deutschen Edgar Wallace-Stils Die ab 1959 nach Stoffen des britischen Kriminalautors Edgar Wallace entstandene deutsche Kinofilmserie gehört zu den wenigen ins kulturelle Gedächtnis eingegangenen filmischen Erfolgen einer deutschen Pop-Kultur. Man verbindet mit ihr stereotype Motive und Handlungselemente um exzentrische englische Adlige und Verbrecher der Londoner Unterwelt, man denkt an düstere, nebelumwobene Landsitze, an Verfolgungen im nächtlichen Schlosspark und an technische Tricks des schnellen Auf- und Abtauchens. Diese abrufbaren Stereotype verdecken jedoch, dass die einzelnen Filme der Serie kein durchgehender Stil im Sinne eines reinen ‘Ausdrucksstils’ verbindet, handelt es sich bei den bekannten Stereotypen doch Stilbildung und visuelle Kodierung im Film 141 Abb. 1: Einbruchsdiebstahl der Taucher in D ER F ROSCH MIT DER M ASKE (1959) überwiegend um Rekurrenzen auf der Ebene der histoire, die zum Wiedererkennungswert der erzählten Geschichten beitragen. Einzelne Versatzstücke der Handlung wie beispielsweise Verfolgungsjagden, Vorgänge des Maskierens und Demaskierens, des schnellen Verschwindens und des plötzlichen Erscheinens (mittels Fall- und Geheimtüren) oder der Einsatz moderner Kommunikations- und Überwachungstechniken kennzeichnen die Filme als Kriminalgeschichten, die den Fokus auf moralisierende Kampfhandlungen zwischen ‘gut’ und ‘böse’ legen. Zu diesen Handlungselementen treten Figurenstereotypen, in denen sich Rollenklischees und eine gleich bleibende Starbesetzung vermengen (dauerhaft bzw. wiederholt eingesetzte Schauspieler der Serie sind u.a. Heinz Drache, Joachim Fuchsberger, Siegfried Schürenberg, Eddi Arent, Klaus Kinski). Zu den Rekurrenzen auf der discours-Ebene der Filme gehört zunächst die genretypische Handlungsstruktur, die Anordnung der erzählten Ereignisse nach dem klassischen Krimimuster des Whodunit: Der initialen Darstellung des Mordfalles folgt die Detektionsgeschichte, in deren Verlauf die Vorgeschichte des Mordes aufgeklärt wird und an deren Ende die Auflösung der Täterfrage steht (zur Systematisierung der diskursiven Strukturen von Kriminalgeschichten vgl. Marsch 1983: 94f.), wobei der Fokus hier jedoch weniger auf einer vergangenheitsbezogenen Rekonstruktion des Tathergangs liegt, als vielmehr auf der in die Zukunft gerichteten Festnahme des Täters. So kombiniert D ER H EXER u.a. Handlungselemente der Detektivgeschichte, des Polizeifilms, des Thrillers und des Horrorfilms (vgl. dazu Seeßlen 1999: 406f.). Auf der Ebene der Kamerahandlung folgt dabei insbesondere die Darstellung der Ermordung einem stereotypen kameraperspektivischen Muster: Aus der Beobachterperspektive des unbeteiligten Zuschauers, der eine sich öffnende Tür, dann sich herannahende Schritte aus der Aufsicht beobachtet, wird in die Perspektive des Mordenden gewechselt, der aus der leichten Aufsicht auf sein Opfer herabblickt, um schließlich wieder aus der Beobachterperspektive das Opfer zu zeigen. Damit einhergehend wird das wiederholte Motiv des Auftauchens ins Bild übersetzt; es verkörpert auf der discours-Ebene (der Kamerahandlung), was auf der histoire (der Handlung vor der Kamera) erzählt wird: Aus der Aufsicht wird in die Normalsicht übergewechselt, in der Regel mittels eines die Bewegung des Auftauchens imitierenden Vertikalschwenks von unten nach oben. Dieses im ersten Film der Serie, D ER F ROSCH MIT DER M ASKE (BRD/ DK 1959, R: Harald Reinl) eingeführte ‘Frosch’bzw. Taucher-Motiv wird paradigmatisch für die semantische Struktur der Serie insgesamt: auftauchende Verbrecher mit Froschmasken und in Taucheranzügen (Abb. 1), U- Boot-Kapseln mit ‘Froschaugen’ (Abb. 2) und andere Variationen des Motivs deuten zeichenhaft das Auftauchen von Gefahr aus der Unterwelt an. An das bedrohliche Auftauchen gekoppelt ist das Gegenmotiv des schnellen Abtauchens und Verschwindens, das in den Filmen eines der größten Hindernisse für eine erfolgreiche Ermittlungstätigkeit von Scotland Yard darstellt. An der Art und Weise der rekurrenten stereotypen Muster wird deutlich, Andreas Blödorn 142 Abb. 2: Motiv des auf- und abtauchenden U-Bootes in D ER H EXER (1964) dass sich der Stil der Serie nur aus der Zusammensicht von discours-Elementen und der Konstruktion der histoire betrachten lässt: Stilprägend für die (Chrono-)Logik der erzählten Geschichte sowie für ihre filmische Präsentation wird eine semantische Struktur von ‘Bedrohung’ vs. ‘Beruhigung’, ein synkopisch gesteigerter Wechsel von Spannungsaufbau und Phasen der ‘Entspannung’ (vgl. Grob 1993: 218). Die übergeordnete Erzählstruktur der Filme lässt sich daher als Überführung von ‘Bedrohung’ in ‘Beruhigung’ charakterisieren: zum einen in verbrechensbezogener Hinsicht auf der Ebene der Wiederherstellung gesellschaftlicher, rechtlicher und moralischer Ordnung, zum anderen, wie zu zeigen sein wird, in erotischer Hinsicht auf der Ebene der Privathandlung um die männliche Hauptfigur der Ermittlung. Wie sich diese übergeordnete Struktur in den Wallace-Filmen stilprägend auswirkt, möchte ich nachfolgend am Beispiel von D ER H EXER näher betrachten, der 1964 als 17. Film der Reihe entstand. D ER H EXER erzählt die Geschichte, die sich an die Ermordung Gwenda Miltons anschließt. Dieser Mordfall wird katalytisch für den Kampf des Verbrechersyndikats um den Rechtsanwalt Messer (der den Mord in Auftrag gab und der einen Mädchenhandel im Untergrund betreibt) gegen den “Hexer” Arthur Milton, den Bruder Gwenda Miltons, der ihren Tod nun rächen will. Scotland Yard muss daher nicht nur den Mörder Gwenda Miltons finden, sondern gleichzeitig den Hexer fassen, der dem Yard zuvorkommen will. Die Geschichte impliziert eine raumsemantische, vertikal ausgerichtete Aufteilung der dargestellten Welt in eine obere, äußere und sichtbare Welt einer am Adel ausgerichteten und als moralisch ‘gut’ ausgewiesenen Gesellschaft und in eine verborgene untere, ‘innere’ und unsichtbare (Unter-)Welt des ‘Bösen’, in der Gewalt, Kriminalität und Unmoral dominieren. Der Ort, an dem beide Teilwelten aufeinander treffen und der zeichenhaft für die dargestellte Gesellschaft insgesamt steht, ist das Mädchenpensionat, das auf der Oberfläche als “Verein zum Schutze alleinstehender Mädchen” die ‘Unschuld’ sowie das moralisch ‘Gute’, als Ort des in der Tiefe des Unter- und Kellergeschosses organisierten Mädchenhandels jedoch das verdeckte moralisch ‘Böse’ repräsentiert. Kriminalität dringt, so das metaphorische Modell dieser Raumsemantik, aus der bedrohlichen Unterwelt an die Oberfläche der nur scheinbar geordneten Gesellschaft. Die Unterwelt ist dabei häufig als Unterwasser-Welt gestaltet, aus der Froschmänner oder U-Boote auf- und abtauchen, um Verbrechen zu begehen bzw. um diese zu verschleiern. Diese narrative Makrostruktur des bedrohlichen Auf- und Abtauchens von (in der Vorgeschichte der Vergangenheit begründeter) Kriminalität vs. ihrer gegenwärtigen Verfolgung, Bekämpfung und Tilgung durch die Organe einer moralisch ‘guten’ Gesellschaft prägt die gesamte Wallace-Serie. Wie in D ER H EXER , so wird das Aufbzw. das komplementäre Abtauchen in eine labyrinthisch unüberschaubare Unterwelt in der Folge immer wieder variiert, etwa durch Falltüren, Kanalisationsschächte oder andere geheime Verbindungen zwischen ‘oben’ und ‘unten’. Aus der Unterwelt tauchen zugleich die Zeichen krimineller Handlungen auf, so v.a. die Leichen der Mordopfer, die an die Oberfläche gespült werden und als Störungen zeichenhaft auf die gesellschaftliche Ordnung zurückverweisen, Stilbildung und visuelle Kodierung im Film 143 Abb. 3: Unterirdisches Labyrinth: Paradigma ‘Unsicherheit’ deren Störung es nachfolgend durch Überführung und Bestrafung der Täter wiederherzustellen gilt (vgl. dazu Linder/ Ort 1999, 26f.). Der Moral von ‘gut’ vs. ‘böse’ hinsichtlich krimineller Aktivitäten korrespondiert nun jedoch eine zweite Handlungsebene, die in den Wallace-Filmen mit der gesellschaftlichen Ebene korreliert ist: die private Ebene um den männlichen Ermittler (in D ER H EXER : Inspektor Higgins, gespielt von Joachim Fuchsberger). Dessen erotisches Leben ist latent bedroht durch weibliche Verführungen. Diese ironisch gebrochene erotische Handlungsebene ist derselben Struktur wie auch die Kriminalhandlung unterworfen, der Struktur von Bedrohung (durch weibliche Verführung, v.a. durch die Sekretärin am Arbeitsplatz) vs. Beruhigung (durch die finale Einwilligung in eine Heirat der Freundin/ Verlobten, in D ER H EXER : Elise Penton, gespielt von Sophie Hardy). Verknüpft werden private und gesellschaftlichberufliche Ebene dabei nicht nur logisch-kausal (so kann das Verbrechen erst nach der Abwehr sexueller Bedrohung gelöst werden), sondern auch hinsichtlich ihrer visuellen Kodierung. ‘Bedrohung’ wird dabei visualisiert durch die Maskierung/ Verschleierung der Täter, durch die Unübersichtlichkeit und die Beschleunigung von Situationen sowie durch Schauermotive (dunkle Nacht, Kellergewölbe und Verliese, Nebel, Schreie, Schatten usw.), während ‘Beruhigung’ visualisiert wird durch brave, biedere und Ihre Pflicht erfüllende Beamte, die mit individuellen Charakterzügen ausgestattet sind (deren Identität somit zumindest partiell offengelegt wird) und durch übersichtliche, ruhige und klare Situationen (bei Tageslicht, in hochgelegenen Räumen bzw. an der Oberfläche oder im Freien). Der Stil der Wallace-Filme bildet sich somit auf der Ebene visueller Kodierung durch eine funktional gebundene Strukturierung des discours im Verhältnis zur histoire heraus, und zwar als beständiger Wechsel von bedrohlichen und humoristisch entspannenden Sequenzen. Diese werden filmisch inszeniert mit Hilfe von vier visuellen Relationen: oben vs. unten (auf der vertikalen Bildachse), hell vs. dunkel, ruhig vs. unruhig (resp. diagonal/ vertikaler Bildaufbau vs. horizontale Bildordnung) und scharf vs. unscharf. Auf der Ebene der Mise-en-scène werden Momente der Bedrohung und der Spannung signalisiert durch expressive Gruseleffekte, in denen starke Hell-Dunkel-Kontraste und dunkle Schatten sowie generell low key-Beleuchtung bzw. single source lighting eingesetzt werden (Abb. 3). Ein unruhiger Aufbau, kurze Einstellungen und bisweilen unscharfe Bilder vermitteln dann Desorientierung und Unordnung: Diagonale und vertikale Achse dominieren das Bild, wenn Täter aus dem Untergrund auf- oder in ihn abtauchen oder wenn erotische Spannung den Inspektor von seiner Ermittlungstätigkeit abhält. Häufig wird Untersicht eingesetzt, um die Szenerie bedrohlich wirken zu lassen; bedrohliche Details werden außerdem in Nah- und Großaufnahme fokussiert (z.B. sich bewegende Türklinken, näherkommende Schritte). Es dominiert der offene point of view, so dass einzelne Sequenzen nicht in sich beruhigend abgeschlossen werden, sondern der Fortgang der Handlung offen und durch diese Form der Montage etwas ‘Unerzähltes’, eine Leerstelle bestehen bleibt. So wird als Moment der Spannungssteigerung häufig der Gegenschuss verweigert und entweder gezeigt, wer beobachtet oder Andreas Blödorn 144 Abb. 4: Das Liebespaar als Garant privater ‘Sicherheit’ was beobachtet wird. Kennzeichnend für Situationen der Bedrohung ist somit eine Limitierung des Blicks und eine begrenzte Wahrnehmung. Im Gegensatz dazu stehen Situationen der Beruhigung, in denen Entspannung durch Komik sowie durch die Übersichtlichkeit der Bilder hergestellt wird, um die Restituierung gesellschaftlicher Ordnung zu suggerieren. Diese ‘beruhigenden Sequenzen’ arbeiten daher auch mit gegensätzlichen Mitteln: Ordnung und Orientierung wird durch ruhige, übersichtlich aufgebaute helle und klare, d.h. scharfe Bilder vermittelt, die aus Normalsicht gefilmt sind (Abb. 4). Kennzeichnend ist die horizontale Bildaufteilung, die insbesondere in Sequenzen der Privathandlung Verwendung findet, in denen der Inspektor und seine Verlobte als Liebespaar präsentiert werden. Natürliches Licht und high key- Ausleuchtung lassen diese Orte ‘sicher’ erscheinen. Diese Sequenzen sind stets in sich abgeschlossen, sie werden eingeleitet durch establishing shots, in denen die ganze Raumsituation überblicksartig mittels halbnaher bzw. halbtotaler Einstellungen dargeboten wird. Hinsichtlich der Montage werden hier außerdem der geschlossene point of view, der keine offenen ‘Fragen’ hinterlässt, sowie längere Einstellungen bevorzugt, nicht selten aufgelöst in Ironie und Situationskomik. Der moralische Gegensatz von ‘gut’ vs. ‘böse’ lässt sich mit gegensätzlichen Modellierungen auf der Ebene der Mise-en-scène fassen als Gegensatz von hellem ‘Oben’ und ‘Innen’ vs. dunklem ‘Unten’ bzw. ‘Außen’. Zudem wird diese moralische Weltordnung temporalisiert: Das ‘Böse’ hat seine Wurzeln stets in einer verdrängten Vergangenheit, die sich nun in Form krimineller Handlungen in der Gegenwart Bahn bricht. Insofern erweist sich die ‘gute’ Gegenwartsgesellschaft, wie sie in den Wallace-Filmen präsentiert wird, als nur scheinbar gut. Doch die Schablonenhaftigkeit dieser polaren Schwarzweiß-Ordnung wird im Mittelteil des Films, der Ermittlungsphase, vorübergehend aufgebrochen und weitgehend durch eine Mischform ersetzt, bei der eine latente Bedrohung spürbar wird, die das kriminalistische Rätselspiel durch eine Strategie der Verunsicherung aufrechterhält. So wird die Allgegenwart des ‘Bösen’ durch vielfältige Überwachungs- und Beobachtungstechniken kameraperspektivisch inszeniert. In Mischräumen an der Grenze zwischen oben und unten, etwa dem Mädchenpensionat oben mit seinen geheimen Gängen und Falltüren zum Kellergewölbe, deutet beispielsweise leichte Untersicht bei heller Ausleuchtung auf kriminelle Aktivitäten in der ‘Tiefe’ hin. So werden außerdem die Ermittlungen auf der Ebene der Privathandlung durch erotische Verführungsversuche kurzzeitig gestört; vertikale Kamerabewegungen deuten dann auch in sicheren Räumlichkeiten bzw. bei Tageslicht auf das Auftauchen von ‘Gefahr’ hin: Der Vertikalschwenk von den Beinen der ‘gefährlichen’ Frau aufwärts führt diese Momente erotischer Gefährdung ein. Das rekurrente Selektionsmuster, durch das der Stil des Gesamtfilms beschreibbar wird, besteht folglich im Wechsel von humoristisch ‘entspannter’ und ‘beruhigender’ Ordnungswiederherstellung auf der einen Seite und gegenläufiger, sich steigernden Bedrohungsmomenten auf der anderen Seite, wobei sich beide Momente in der Kopplung von privater und gesellschaftlicher Ebene immer wieder gegenseitig durchdringen. ‘Typisch’ wird dieser Stilbildung und visuelle Kodierung im Film 145 Stil jedoch erst im Moment seiner Serialisierung, d.h. in seiner Verfestigung vom Individualstil (eines einzelnen Films, z.B. in D ER H EXER ) zu einem Kode (verstanden als “Zuordnungs- “ bzw. “Übertragungsvorschrift”, die den individuellen Stil auf ein einzeltextübergreifendes Muster beziehbar macht, vgl. Nöth 2000: 216f.). Deutlich wird dies am Beispiel der Refunktionalisierbarkeit des Wallace-‘Stils’ als eines Kodes, auf den sich ein Film wie D ER W IXXER funktional beziehen kann. Bevor nachfolgend der Aspekt der Zitierbarkeit und Funktionalisierbarkeit von ‘Stil’ betrachtet werden soll, seien noch einmal die Spezifika des Wallace- Stils im Hinblick auf die erzählten Geschichten rekapituliert. Zu unterscheiden ist Stil zunächst vom discours-Begriff, da Stil nicht die Menge aller discours-Elemente umfasst, sondern lediglich diejenigen, die sich als medienspezifische von den nicht-medienspezifischen discours-Elementen abheben. Am Beispiel der Wallace- Filmserie ließe sich so etwa unterscheiden zwischen der diskursiven, aber nicht stilbildenden Präsentation der histoire einerseits (z.B. der spezifischen Organisation der erzählten Kriminalgeschichten, ihrer zeitlichen Anordnung von Fall, Vorgeschichte und Detektion auf der Ebene des discours) und dem ‘typischen’, medienspezifischen Erzählstil der Serie, z.B. dem visuellen Wechsel von hell/ dunkel, Untersicht/ Normalsicht, Unübersichtlichkeit/ Übersichtlichkeit, kurze Einstellungsdauer/ lange Einstellungsdauer. Während die medienunspezifischen narrativen Muster des discours auch in anderen, stilistisch gleichwohl abweichenden Kriminalfilmen vorkommen können, kennzeichnet sich der ‘Wallace-Stil’ der Filme durch die spezifische (audio-)visuelle Kombination einzelner stilistischer Merkmale auf der Ebene der Kamerahandlung, der Montage und der Mise-en-scène zu einem Muster, das funktional rückgebunden ist an die erzählte Geschichte. Der stete Wechsel von spannenden Grusel- und entspannenden Komiksequenzen, dem auf der Ebene der histoire das Nebeneinander zweier Geschichten entspricht (einer Kriminal- und einer Liebesgeschichte), gestaltet sich so filmtechnisch als Wechsel zwischen Kameraperspektiven, Mise-en-scène und Mise-en-cadre. Stilbildend wird eine solche funktionale Rückbindung diskursiver Gestaltung in dem Moment, wo sie als ‘wiederkehrendes Selektionsmuster’ auch auf andere narrative Sequenzen angewendet wird, das Muster also innerhalb der Sukzession wiederholt paradigmatische und syntagmatische Achse - allerdings variierend - verknüpft. Das Moment der aktualisierenden Variation des stilistischen Musters lässt sich dabei nicht nur als Modell der ‘frustierten Erwartung’ beschreiben, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext zu denken ist (Riffaterre 1973: 127), sondern lenkt die Aufmerksamkeit zugleich überhaupt erst auf die “Form der Nachricht” (Riffaterre 1973: 127) und führt damit zur Verfestigung des Stils. Augenfälligstes Beispiel für ein solches Stilprinzip der Wallace-Serie ist die rekurrente Struktur des bedrohlichen ‘Auftauchens’: Wird das ‘Frosch’-Motiv durch einen Vertikalschwenk der Kamera (von unten nach oben) begleitet, so wird dieser Schwenk in der Folge auch auf das ‘Auftauchen’ anderer Bedrohungen übertragen (etwa auf sexuelle ‘Bedrohungen’, Konkurrenzkämpfe usw.). So wird sowohl die Selektion (Paradigma: Elemente der Bedrohung), als auch die Kombination der narrativen Elemente (ihrer Inszenierung und Verknüpfung) durch das visuelle Strukturmuster ‘Auftauchen’ bestimmt. Aus dem einzelnen discours-Element an sich (dem Vertikalschwenk) ließe sich kein spezifischer Stil ableiten, sondern es handelte sich um eine Struktur, die auch in beliebigen anderen filmischen Kontexten eingesetzt werden könnte. Erst in der Kombination aller Stil-Elemente und aus ihrer Rückbindung an die erzählte Geschichte, aus dem Kontext des Films heraus wird diese Struktur als Stilelement wahrnehmbar. Die Schwierigkeit der Definition eines allgemeingültigen Stilbegriffes lässt sich vor diesem Hintergrund besser verstehen, sind doch filmischer Text und Kontext relational aufeinander bezogen: 3 “Nur diese Veränderlichkeit kann erklären, warum das gleiche Andreas Blödorn 146 linguistische Faktum seine stilistische Wirkung in Funktion seiner Stellung erhält, verändert oder verliert (und auch, warum eine Abweichung gegenüber der Norm nicht notwendigerweise mit dem Stil zusammenfällt)” (Riffaterre 1973: 127). Dass sich hieraus freilich noch keinesfalls eine allgemeine positive Stildefinition ableiten lässt, sei dabei explizit eingeräumt; filmischer Stil lässt sich nur individuell und in Relation zum spezifischen Kontext (und eben nicht im Verhältnis zu einer verallgemeinerbaren Norm) bestimmen. 5. “Warum ist denn das hier eigentlich so grau in grau? ” Das Spiel mit ‘Stil’ in D ER W IXXER Unübersehbar bezieht sich die Filmsatire D ER W IXXER auf parodierende, travestierende und persiflierende Weise auf die deutschen Edgar Wallace-Filme, 4 was bereits paratextuell durch den Filmtitel und dessen graphische Gestaltung indiziert wird, wenn “D ER W IXXER ” im Stil von “D ER H EXER ” erscheint. Grundfigur stilistischer Bezugnahme stellt die Kombination von Imitation bzw. nachahmender Transformation des Wallace-Stils und seiner Überbietung, seiner funktionellen Verkehrung hinsichtlich der erzählten Geschichte dar. So wird etwa das visuelle Muster des Beobachtet-Werdens verkehrt, indem nun nicht wie z.B. in D ER H EXER Verdächtige, sondern die Ermittler beobachtet werden, und zwar durch einen der gesuchten Kriminellen. Erzählt wird in D ER W IXXER die Geschichte zweier sich bekämpfender krimineller Parteien, wobei vielfältige Motive aus D ER H EXER aufgegriffen werden. In der Londoner Unterwelt versucht der Wixxer absolute Herrschaft zu erlangen, indem er die Verbrecher des National Syndicate of Notorious Criminals (als “N.S.Y.N.C” zugleich als reine ‘boygroup’ ausgewiesen) erpresst und sie schließlich der Reihe nach ermordet. Sein jüngstes Opfer ist der ‘Mönch mit der Peitsche’, der in dem Moment vom Wixxer ermordet wird, als er das ostdeutsche Touristenehepaar Dubinsky im nächtlichen Schlosspark von Blackwhite Castle angreift. Der Schlossherr, der Earl of Cockwood, gleichzeitig Chef des Unterwelt-Syndikats N.S.Y.N.C, betreibt dort nach außen hin eine Mops-Zucht, veranstaltet im Kellerverlies jedoch brutale Castings, bei denen er Girls Groups zusammenstellt, um sie dann ins Ausland zu exportieren. Dem Mädchenhandel kommen die Ermittler des New Scotland Yard (Inspektor Very Long und Chief-Inspektor Even Longer) nur zufällig auf die Spur, als sie in Blackwhite Castle nach Hinweisen auf den toten Mönch und das gleichzeitige Verschwinden von Doris Dubinsky suchen. Am Ende enttarnt das Ermittler-Duo die Maskerade des Wixxers, hinter der sich der tot geglaubte frühere Partner des Chefinspektors, Rather Short, verbirgt, der nach dem von ihm selbst vertuschten Tod des Wixxers in dessen Rolle geschlüpft war. Die dominante Struktur des discours liegt in der funktionalen Bezugnahme auf den Stil der Wallace-Filme der 1960er Jahre, ebenso wie andererseits das Handlungsmuster der Wallace-Serie auf der Ebene der histoire imitiert wird. Insbesondere D ER H EXER wird als Bezugsfolie erkennbar: Dem initialen Mordfall folgt die Ermittlung, während der ein Mädchenhändlerring aufgespürt wird. Diesem kommt jedoch nicht nur (New) Scotland Yard in die Quere, sondern auch der selbsternannte ‘Richter’ der Unterwelt (hier: der Wixxer). Schließlich wird der Mädchenhändlerring ausgehoben, während der mächtige, maskierte Richter der Unterwelt entkommt. Neben der erzählten Geschichte und ihrer Präsentation als Kriminalgeschichte gibt es aber auch intertextuelle und stilistische Anleihen bei den Wallace- Filmen - doch ohne dass diese stilprägend für den Film D ER W IXXER werden, da sie nicht Stilbildung und visuelle Kodierung im Film 147 Abb. 5: Persiflage auf die Wallace-Filmtitel innerhalb eines übergeordneten, strukturbildenden semantischen Wechsels von spannender Bedrohung vs. entspannender Beruhigung funktional sind. Die Atmosphäre des nächtlichen, nebligen Schlossparks von Blackwhite Castle mit dem Schlossteich und seinen quakenden Fröschen bleibt so beispielsweise als zitiertes Einzelmotiv stehen, das nicht in eine Bedrohungssituation eingebunden, sondern unmittelbar in eine Situation selbstreflexiver Persiflage aufgelöst wird, wenn vor dem verirrten ostdeutschen Touristenehepaar Dubinsky plötzlich der Mönch mit der Peitsche auftaucht: Dieter Dubinsky (stellt sich vor): “Guten Abend, Dubinsky.” Doris Dubinsky: “Das ist der schwarze Abt, du Idiot.” (Der Mönch schüttelt den Kopf.) Dieter Dubinsky: “Nicht? Dann sind Sie die seltsame Gräfin? ” (Der Mönch zeigt auf seine Peitsche.) Dieter Dubinsky: “Der Peitschen-August mit der Zippelmütze? ” (Der Mönch schwenkt seine Peitsche und ritzt Dieter Dubinsky damit seinen Namen in die Brust.) Doris Dubinsky (entziffert den Schriftzug): “Der - Mönch - mit - der - Peitsche. Der Mönch mit der Peitsche, da hätt’ mer aber auch drauf kommen können, Dieter! ” Dieter Dubinsky: “Manchmal ist man aber auch wie vernagelt.” (In dem Moment holt der Mönch zum Angriff aus, wird aber von einem vorbeifahrenden Bus überfahren.) Dieter Dubinsky: “Und schwupp, weg war er.” (0: 02: 59-0: 03: 41) Außer intertextuellen Referenzen auf die Filme der Wallace-Serie finden sich in D ER W IX - XER jedoch auch zahlreiche intertextuelle Verweise und Bezugnahmen auf Elemente der jüngeren Film-, Musik- und Medienkulturgeschichte. So werden Filmtitel als Schriftzüge im Bild zitiert (“T ITANIC ”, daneben “D ER F ROSCH MIT DER M ASKE ”, “D ER SCHWARZE A BT ”, “D ER M ÖNCH MIT DER P EITSCHE ”) travestiert (als “D IE B ANDE DES S CHRECKENS ” sind im Bild die “Wildecker Herzbuben” zu sehen) oder persifliert (“D ER B LÖDE B OGENSCHÜTZE ”, “D ER F ISCH MIT DER S ENSE ” oder “D ER A RSCH MIT DEN O HREN ”, Abb. 5). Mise-en-scène und Mise-en-cadre verschiedener Filme werden in einzelnen Einstellungen zitiert (u.a. T RIUMPH DES W ILLENS , D AS S CHWEIGEN DER L ÄMMER , M ATRIX , T HE B LAIR W ITCH P RO - JECT , E.T., vgl. Abb. 6), ganze Filmsequenzen werden parodiert (die erste Verhörsequenz Dr. Lecters im Gefängnis aus D AS S CHWEIGEN DER L ÄMMER , 1: 04: 06-1: 06: 11) ebenso wie das Filmgenre des Western parodiert wird (1: 08: 49-1: 09: 17). Die Summe der Referenzen weist als diskursive Hauptstrategie die Frage nach der Wiedererkennbarkeit aus und macht den Film zum Rätselspiel mit filmischen (Bild-)Zitaten. Das dadurch markierte, vielfach überdeterminierte Verfahren zitierender Imitation löst Bildzitate immer wieder in Formen parodistischer Bezugnahme auf (z.B. in dem Moment, als die THE BLAIR WITCH PRO- JECT entliehene kameraperspektivische Bedrohungssituation in der travestierenden Konfrontation mit einem “süße[n]” Mops endet und von der Andreas Blödorn 148 Abb. 6: Filmzitat E.T. Abb. 7: Serialisierung und Differenz: Selbstreferenz in D ER W IXXER Untersicht in die Aufsicht gewechselt wird, 0: 02: 13). Der Stil von D ER W IXXER lässt sich folglich mittels der zentralen Struktur der ‘pervertierenden Imitation’ beschreiben, die der Imitation (als transformierender Nachahmung) die Verkehrung/ Pervertierung/ Radikalisierung von Motiven, thematischen Bezugnahmen oder Handlungsstrukturen folgen lässt. Stil- Referenzen auf die Wallace-Filme werden daher in D ER W IXXER funktionalisiert, um einen spezifischen Verstehensrahmen zu etablieren: Das Whodunit-Muster in seiner spezifischen Wallace-Ausprägung der 1960er Jahre stellt die Ausgangsbasis für eine neue Geschichte dar, die auf diesen Kode referiert, ihn aber nur als Kontrast einsetzt, um einen neuen Stil der ‘pervertierenden Imitation’ zu etablieren. Das Spiel mit dem Wallace-Stil wird darüber hinaus im Film selbst als Spiel thematisiert: Auf einem Gemälde Sir Johns, das Chief Inspector Even Longer in dessen Büro betrachtet, ist zu sehen, wie Sir John sich beim Malen eines Gemäldes malt, das der Chief Inspector gleichzeitig von der Seite betrachtet (Abb. 7). Die Repräsentation der Situation vor der Leinwand auf der Leinwand erweist sich als selbstreferentielle Ineinanderstaffelung auf fünf Ebenen: Sir John malt, wie er malt, dass er malt, dass er malt, dass er malt. Indem jedoch die Situation auf dem Gemälde durch die Kadrierung des Filmbildes ein weiteres Mal inszeniert wird, wird neben dem Thema ‘Serialisierung’ zugleich die fortgesetzte ontologische Differenz markiert zwischen Bild und Betrachter sowie zwischen originalem Urbild und seiner Kopie. Der Film zeigt also insgesamt, so wird nahegelegt, wie gezeigt wird, dass gezeigt wird, dass gezeigt wird, wie gezeigt wird, dass gezeigt wird. D ER W IXXER thematisiert damit nicht nur, dass er die Serie der Wallace-Filme integral fortsetzt, zugleich aber nie Teil dieser Serie sein kann, weil er sich zu ihr wie die Kopie zu einem Original verhält. Der Film zeigt vielmehr auch, dass der Vorgang stilistischer Imitation die Bezugnahme auf einen bekannten Kode voraussetzt. Mit der Selbstthematisierung von Serialität verweist D ER W IXXER jedoch auch darauf, dass innerhalb der Wallace-Serie bereits eine stark ausgeprägte intertextuelle Referenz auf vorausgegangene Wallace-Filme vorliegt. Der dabei außerdem zunehmende intraserielle Wandel der Serie in den 1960er Jahren liegt in der partiellen Durchbrechung von und im Spiel mit jenen Erzähl- und Stilmustern, die zuvor etabliert wurden. Vor allem aber ist bereits die Wallace-Serie durch eine Tendenz der Radikalisierung gekennzeichnet, die ich am Beispiel von D ER B UCKLIGE VON S OHO (BRD 1966) kurz skizzieren möchte. In diesem ersten Farbfilm der Serie lässt sich eine Radikalisierung auf zwei Ebenen feststellen: auf der Stilbildung und visuelle Kodierung im Film 149 Abb. 8: Sexualisierung männlicher Gewalt in D ER B UCK - LIGE VON S OHO (1966) Ebene einer leitmotivischen Sexualmetaphorik, die den Film durchzieht, und auf der Ebene der Gewaltdarstellung. Sexuelle Motive und Gewaltdarstellungen nehmen dabei nicht nur quantitativ zu, sondern erfahren auch eine qualitative Steigerung, die sich insbesondere in der drastischen Korrelation beider zeigt: der Sexualisierung von Gewalt. Betrachtet man den intraseriellen Wandel innerhalb der Wallace-Serie in den 60er Jahren, so fällt auf, dass zugunsten des Unterhaltungs- und Sensationswertes der Filme besonders jene Momente ausgebaut und radikalisiert wurden, die schon von Beginn an den Spannungsbogen steuerten: der Tempowechsel zwischen ruhigen Sequenzen und dynamischer Beschleunigung durch action- Elemente, die sexuellen Verwicklungen, die es in eine glücklich endende Liebesgeschichte zu überführen gilt sowie die komischen Elemente. Diese Tendenzen gingen immer weiter zulasten der Glaubwürdigkeit der erzählten Geschichten und endeten letztlich in abstrusen Storys, die weniger wichtig waren als das selbstreferentielle Spiel mit Anspielungen auf andere Filme der Serie und als das Spiel mit der Durchbrechung von Rollenklischees und Zuschauererwartung. So wurde etwa die stereotype Besetzung der Rollen durch einen gleichbleibenden Kern an Schauspielern gelegentlich durchbrochen, so dass die Spannung auch auf der Frage beruhte, wer die Seiten von ‘gut’ und ‘böse’ gewechselt hatte (z.B. Eddi Arent in D ER B UCKLIGE VON S OHO ). Bereits die Eröffnungssequenz mit dem initialen Mord inszeniert die Kombination von Sexualität und Kriminalität in dramatischer Übersteigerung: eine leichtbekleidete Frau flieht in Panik vor ihrem buckligen Mörder, der sie dennoch erwischt und vor dem an die Szene heranspringenden Auge der Kamera frontal erwürgt. Die erzählte Geschichte nimmt Handlungsmotive aus D ER H EXER wieder auf, auch hier geht es um hinter der Oberfläche eines ehrbaren Pensionats organisierten Mädchenhandel im Keller eines Schlosses. Sexuelle Anspielungen häufen sich: auf lesbische Neigungen der Aufseherin, die ihre Schützlinge auspeitscht, auf den Inspektor, der als Hausfrau verkleidet seinen Chef in der Waschküche empfängt, während der sich an der Wäsche seines Inspektors vergreift, und auf die sexuelle und sadistische Komponente männlicher Gewalt an Frauen (Abb. 8). Die Sexualisierung von Gewalt übersteigert jedoch lediglich, was von Beginn an den Stil der Wallace-Serie prägte, und so greift daher D ER W IXXER nicht nur den zum Kode verfestigten historischen Wallace-Stil auf, sondern zugleich dessen auf dem Prinzip der Radikalisierung und Pervertierung beruhende intraserielle Wandlung. Mit seiner Zweiteilung der Diegese in eine Schwarzweiß-Welt (die Gegend um Blackwhite Castle) und eine Farbwelt (der Rest der dargestellten Welt) fiktionalisiert er nicht zuletzt jene Schnittstelle, die D ER B UCKLIGE VON S OHO in der Wallace-Serie markiert. Die am Beispiel des ersten Wallace- Farbfilms beobachteten Tendenzen einer Radikalisierung von Gewalt und einer Sexualisierung der Handlung werden in D ER W IXXER noch einmal zu einer Persiflage übersteigert. So Andreas Blödorn 150 ‘rettet’ Chief Inspector Even Longer nach der Explosion eines Fabrikgebäudes nur noch die verkohlte Leiche seines Partners Rather Short, die er bis zum Zerfall der Überreste zu reanimieren versucht. Und der Earl of Cockwood enttarnt sich schließlich als Transvestit, der in Frauenkleidern mordet. Das Stilprinzip der pervertierenden Imitation ist somit in D ER W IXXER funktional auf den stilistischen Kode der Wallace-Serie bezogen, indem es nicht nur deren Struktur und Stilprinzip parodierend offenlegt, sondern zugleich den Akt der Stilbildung innerhalb des intraseriellen Wandels reflektiert. 6. Fazit Versteht man Stil als rekurrentes, mediengebundenes Selektions-Muster, so wird in der grundlegenden semantischen Struktur von ‘Bedrohung vs. Beruhigung’ am Beispiel von D ER H EXER ein Stilprinzip erkennbar, das die Wallace-Filme der 60er Jahre prägt. Die medienspezifische ‘audiovisuelle Formierung’, die als ‘Wallace-Stil’ wahrnehmbar wird, beruht auf dem Modell der ‘frustrierten Erwartung’: Phasen der Spannungssteigerung enden immer wieder jäh in grotesker Situationskomik, wobei das anfangs gesetzte und dann kameraperspektivisch häufig variierte Mord-Muster des bedrohlichen ‘Auftauchens’ aus dem Hinterhalt/ Untergrund nur selten wieder in einem Mord endet (und dann nur das als unmoralisch und ‘böse’ gesetzte Filmpersonal dezimiert). In variierenden Einzelfallkonstellationen wird die Fallhöhe und das Umschlagen von akuter ‘Bedrohung’ in komisch-groteske ‘Beruhigung’ filmisch immer wieder vorgeführt (z.B. wenn sich eine Todesdrohung als Fernsehdialog herausstellt). Durch die stilprägende Struktur des Wechsels und durch die Überführung von Spannung in Entspannung wird damit zugleich das happy ending der einzelnen Filme vorweggenommen: Die simple Schwarzweißwelt der Wallace-Serie endet stets mit der Wiederherstellung der Ordnung auf beiden Ebenen, der verbrechensbezogenen wie der privaten. Das moralisch ‘Böse’ in Form gesellschaftlicher und sexueller Bedrohungen ist am Ende getilgt. Funktional auf die narrative Struktur der histoire bezogen, wird der Wallace-Stil auf der Ebene visueller Kodierung dabei als Wechsel zwischen zwei diskursiv aufeinander bezogenen Darstellungsmodi beschreibbar, deren übergeordnete ‘Aufklärung’ der dargestellten Verwicklungen in der Herstellung von Übersichtlichkeit, ‘heller’ Klarheit und Ordnung liegt. Dem entspricht auf der Ebene der Kriminalgeschichte die finale Entschleierung und Demaskierung des Täters (bzw. der Täter). Das spezifische Selektionsmuster als ‘stilistisches System’ des Films lässt sich mit Bordwell als funktionale Kombination technischer Mittel analysieren. Die Anordnung dieser discours-Elemente aber ist weniger als Abweichung von einer allgemeinen filmischen Norm erkennbar (etwa einer angenommenen Nullebene filmischen ‘Zeigens’, das sich der Normalsicht, mittlerer Ausleuchtung und mittlerer Distanz zum Dargestellten bediente), als vielmehr aufgrund kontextuell erkennbarer Bezogenheit auf die histoire - erkennbar mithin durch die Herstellung von Bedeutung durch (kontextuelle) Differenz. Der Zeichenprozess selbst wird daher in der Wahrnehmung von ‘Stil’ wahrnehmbar: das stilistische Muster der Selektion erzeugt Bedeutung, indem es sekundäre semiotische Bedeutung auf innerhalb der syntagmatischen Narration neue Einstellungen und Sequenzen (und deren primäre Bedeutung) überträgt. Als in diesem Sinne prozessuales Verfahren reflektiert sich Stil bereits innerhalb der Wallace-Serie selbst, wie am Beispiel des selbstreferentiellen Spiels mit der funktionalen Umkehrung von ‘gut’ vs. ‘böse’ sowie in der Radikalisierung der Sexualitäts- und der Gewaltdarstellung in D ER B UCKLIGE VON S OHO deutlich wurde. Stilbildung und visuelle Kodierung im Film 151 Als Prinzip der pervertierenden Imitation wird der intraserielle Wandel der gesamten Wallace-Serie schließlich zum intertextuellen Stilprinzip von D ER W IXXER , der unterschiedliche Ausprägungen der Serie in seiner Narration vereint: die frühe Phase ‘expressiver’ Schwarzweißfilme sowie die Tendenz zur Radikalisierung in der Farbfilmzeit. Die Refunktionalisierung einzelner stilistischer Elemente jedoch ist hier in einen anderen Funktionszusammenhang eingebettet: Das kriminalistische Rätselspiel gilt nicht primär der Tätersuche, sondern der Suche nach filmgeschichtlichen Motiven und anderen Anspielungen auf die jüngere deutsche Politik sowie auf die Medien- und Kulturgeschichte. Als Metanarration reflektiert D ER W IXXER damit zugleich nicht nur, wie sich ‘Stil’ im Film herausbildet, sondern auch, dass stilistische Muster im Film nur in ihrer spezifischen narrativen Funktion für die erzählte Geschichte überhaupt als distinkter ‘Stil’ erkannt werden können. 7. Literaturangaben Filmverzeichnis D ER B UCKLIGE VON S OHO , Alfred Vohrer, BRD 1966 D ER F ROSCH MIR DER MASKE , Harald Reinl, BRD/ DK 1959 D ER H EXER , Alfred Vohrer, BRD 1964 D ER W IXXER , Tobi Baumann, D 2004 Sekundärliteratur Beicken, Peter 2004: Wie interpretiert man einen Film? , Stuttgart: Reclam. Bordwell, David 1985: Narration in the fiction film, Madison/ Wisconsin: The University of Wisconsin Press. Bordwell, David / Thompson, Kristin 2001: Film Art. An Introduction, 6. Aufl. N.Y. u.a.: University of Wisconsin. Borstnar, Nils / Pabst, Eckhard / Wulff, Hans Jürgen 2002: Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz: UVK. Faulstich, Werner 2002: Grundkurs Filmanalyse, München: Wilhelm Fink. Genette, Gérard 1993: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Greimas, A.J. / Courtés, J. 1979: Sémiotique: Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Bd. 1, Paris: Hachette [hier zitiert in der Übersetzung nach Nöth 2000: 397]. Grob, Norbert: “Film der Sechziger Jahre: Abschied von den Eltern”, in: Jacobsen/ Kaes/ Prinzler (Hrsg.) 1993: 211-48 Hickethier, Knut 2001: Film- und Fernsehanalyse, 3. Aufl. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Jacobsen, Wolfgang / Kaes, Anton / Prinzler, Hans Helmut (Hrsg.) 1993: Geschichte des deutschen Films, Stuttgart/ Weimar: Metzler. Jahraus, Oliver 2004: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen/ Basel: A. Francke. Korte, Helmut 2001: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch, 2. Aufl. Berlin: Erich Schmidt. Kramp, Joachim 2005: Hallo! Hier spricht Edgar Wallace. Die Geschichte der Kriminalfilmserie von 1959 bis 1972, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf. Kuchenbuch, Thomas 2005: Filmanalyse. Theorien - Methoden - Kritik, 2. Aufl. Wien u.a.: Böhlau. Kühnel, Jürgen 2004: Einführung in die Filmanalyse, 2. Bde., Siegen: universi. Linder, Joachim / Ort, Claus-Michael (Hrsg.) 1999: Verbrechen - Justiz - Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen: Niemeyer. Linder, Joachim / Ort, Claus-Michael 1999: “Zur sozialen Konstruktion der Übertretung und zu ihren Repräsentationen im 20. Jahrhundert”, in: Linder/ Ort (Hrsg.) 1999: 3-80 Marsch, Edgar 1983: Die Kriminalerzählung: Theorie, Geschichte, Analyse, 2. Aufl. München: Winkler. Mikos, Lothar 2003: Film- und Fernsehanalyse, Konstanz: UVK. Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, 2. Aufl. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Prümm, Karl / Bierhoff, Silke / Körnich, Matthias (Hrsg.) 1999: Kamerastile im aktuellen Film, Marburg: Schüren. Andreas Blödorn 152 Prümm, Karl 1999: “Stilbildende Aspekte der Kameraarbeit. Umrisse einer fotografischen Filmanalyse”, in: Prümm/ Bierhoff/ Körnich (Hrsg.) 1999: 15-50 Riffaterre, Michael 1959: “Criteria for style analysis”, in: Word 15 (1959): 154-74 Riffaterre, Michael 1973: Strukturale Stilistik, München: List. Röwekamp, Burkhard 2003: Vom film noir zur méthode noire. Die Evolution filmischer Schwarzmalerei, Marburg: Schüren. Seeßlen, Georg 1999: Copland. Geschichte und Mythologie des Polizeifilms, Marburg: Schüren. Sowinski, Bernhard 1999: Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen, 2. überarbeitete und aktualisierte Aufl. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Spillner, B. 1974: Linguistik und Literaturwissenschaft. Stilforschung, Rhetorik, Textlinguistik, Stuttgart: Kohlhammer. Anmerkungen 1 Jahraus etwa definiert Stil als “wiederkehrendes Selektionsmuster”, bezogen auf Selektionsmöglichkeiten “in der materiellen Konstitution eines Gegenstandes oder in bestimmten Handlungsfolgen”, vgl. Jahraus (2004: 117f.). 2 So wird die Kategorie ‘Stil’ auch in keiner der nachfolgend aufgeführten und verbreiteten aktuellen Einführungen in die Filmbzw. Fernsehanalyse relevant: Beicken (2004), Borstnar/ Pabst/ Wulff (2002), Faulstich (2002), Korte (2001), Kuchenbuch (2005), Kühnel (2004), Mikos (2003). 3 “Dieser Kontextbegriff”, so Riffaterre, “hat gegenüber der Norm den Vorteil, automatisch zugehörig zu sein; er variiert für jede Stilwirkung” (Riffaterre 1973: 127). 4 Ich gebrauche “Parodie” im traditionellen Sinn als Oberbegriff für verschiedene Formen satirischer Bezugnahme und verwende damit die gebräuchliche Terminologie, gegen die Genette in Palimpseste anzuarbeiten versucht hat, vgl. Genette (1993: 39ff.). Sein Vorschlag einer Neugliederung scheint mir für die Textbzw. Filmanalyse kaum sinnvoll, da zum einen die Formen parodistischer Bezugnahme im Text bzw. Film ineinander übergehen, und da zum anderen Art der Bezugnahme und Funktion eben gerade nicht voneinander trennbar sind (dagegen Genette 1993: 40f.). Innovativer Stil - konservative Ideologie Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘Postmoderne’ am Beispiel von Michel Gondrys E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND Jan-Oliver Decker Michel Gondry erzählt mit dem Film E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (V ERGISS - MEINNICHT , USA 2004) eine Geschichte, in der ein Wert universeller, natürlicher Liebe mit dem Wert des Sich-selbst-Erzählens verbunden wird. Beide Werte stiften die Identität der Person und stehen damit in Opposition zu den filmischen Erzählverfahren an der Textoberfläche (Intertextualität, narrative Kurzschlüsse, mise-en-abyme-Strukturen), die massiv die Textoberfläche, aber nicht den Sinn der erzählten Geschichte dekonstruieren. V ERGISSMEINNICHT repräsentiert damit das Phänomen eines Textes in einem ‘postmodernen Stil’, stellt aber strukturell keinen postmodernen Text dar. Ausgehend von diesem Befund wird abschließend eine Definition von Stil zur Diskussion gestellt, die auf der Kombination der beiden Kodebegriffe i) Kode als Zuordnungsvorschrift zwischen Ausdruck und Inhalt und ii) Kode als Zuordnungsvorschrift zwischen zwei Zeichenrepertoires beruht. With E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (USA 2004) director Michel Gondry tells a story, in which the value of a universal and natural love is related to the value of narrating oneself. Both values constitute the identity of the person and stand in opposition to the style of narration in this movie, which is applied on the surface of the text (intertextuality, narrative metalepsis, mise-en-abyme-structures). This style of narration deconstructs the surface of the text, while the deeper significance of the text maintains. According to that fact, E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND represents a special phenomenon: Although it features a typical ‘postmodern style’, it is - from a structural point of view - not a postmodern text. Starting from this observation, this article advances a definition of style, which is based on a combination of both terms and defintions of ‘code’: i) code understood as a rule of assignment between expression and content; ii) code understood as a rule of assignment between two different repertoires of signs. 1. Narrativität vs. Selbstreflexivität in Gondrys Musikvideos Der französische Regisseur Michel Gondry inszeniert seit Ende der 80er Jahre zunächst vor allem Musikvideos für Stars wie Björk, Kylie Minogue, die Rolling Stones und andere. Sein Werk als Musikvideoregisseur zeichnet sich dabei besonders dadurch aus, dass er mit Selbstreflexivität, Zirkularität und Serialität auf der Oberflächenebene spielt. Narrative Strukturen sind in den Videos Gondrys dabei in der Regel nur als achronologisch präsentierte Fragmente rekonstruierbar. So ist im Video S UGAR W ATER der Band Cibo Matto der Bildschirm durch Split-Screen- Verfahren in zwei Hälften geteilt. In der einen Bildhälfte verläuft das Geschehen um eine K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen Jan-Oliver Decker 154 junge Frau linear chronologisch vorwärts; in der anderen Bildhälfte dagegen um eine zweite junge Frau chronologisch rückwärts. Obwohl nun die beiden Bildhälften chronologisch entgegengesetzt verlaufen, stellt die Bildmitte eine Art Spiegelachse dar: Was im rechten Teil des Bildschirms geschieht, geschieht analog auch im linken. In der Mitte des Videos treffen nun die vorwärts und die rückwärts laufende Zeitlinie in einem Unfallgeschehen zusammen, um ab diesen Zeitpunkt die chronologische Richtung jeweils umzukehren: Das Syntagma, das im Split-Screen vorher chronologisch vorwärts lief, läuft ab jetzt chronologisch rückwärts und vice versa. 1 Damit wird ein chronologischer Kreislauf impliziert, der in unendlicher Wiederholung das immer gleiche Geschehen selbstreflexiv in einer prinzipiell endlosen Tautologie perpetuiert. Das Video konzipiert eine Art Zeitschleife um den zentralen Unfall, bei der durch die Schuld der einen Frau die andere Frau zu Tode kommt. Das Video S UGAR W ATER verdeutlicht damit in besonderem Maße die Opposition von Selbstreflexivität und Narrativität: Entweder ein Syntagma ist narrativ, das heißt, es wird zwischen einer Ausgangssituation (a: Beide Frauen leben) und einer Endsituation (b: Eine Frau ist tot) durch eine Transformation (T: Die eine Frau verursacht einen Unfall und damit den Tod der anderen Frau) unterschieden (a vs. b), oder aber ein Syntagma ist selbstreflexiv und damit nicht narrativ, das heißt, ein Geschehen vermittelt nicht zwischen zwei unterschiedenen Zuständen in einer Ausgangs- und Endsituation, sondern wiederholt sich unendlich und verweist auf das immergleiche Geschehen (T = T: Die eine Frau wird durch die Schuld der anderen Frau getötet, die eine Frau wird durch die Schuld der anderen Frau getötet usw.) Das grundsätzliche Thema von Gondrys Videoclip-Schaffen, das sich hier ablesen lässt, ist das Austarieren von Narrativität und selbstreflexiver Tautologie durch das Prinzip der Potenzierung, 2 also der gestuften Wiederholung in Form der Multiplikation von Bildern und Motiven sowohl im Filmbild selbst als auch durch die Wiederholung von Einstellungsfolgen. Eindrucksvoll wird dies auch in Gondrys Video zu C OME I NTO M Y W ORLD von Kylie Minogue auf den Punkt gebracht: In einer einzigen Einstellung schreitet Kylie Minogue immer wieder einen räumlichen Kreislauf ab, wobei mit Beginn des neuen Kreislaufs Varianten des immergleichen Verhaltens von Kylie Minogue in alle simultan wieder ablaufenden vorherigen Kreisläufe einkopiert werden. Am Ende tanzen sechs immer gleiche und in Variation immer gleich handelnde Kylies durch eine eigene, ganz spezielle, mediale und tautologische, außerzeitliche Welt. Gondry hat durch das ständige formale Experimentieren mit Serialität, Zirkularität und Selbstbezüglichgkeit schnell einen Kultstatus als “postmoderner” Videokünstler erreicht. Gondry wird mittlerweile als “Auteur” der Musikvideoszene vermarktet, dessen Videoclip- Schaffen im Jahr 2003 in der DVD-Reihe D IRECTOR ’ S S ERIES als Sammlung erschienen ist. Seinem typischen Erzählstil der Musikvideos ist Gondry auch als Filmregisseur in seiner ersten großen Hollywood-Spielfilm-Produktion für “Focus Films” treu geblieben. In dem 2004 von Gondry gedrehten Film E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (V ERGISS - MEINNICHT ) zeichnet sich die Oberflächenebene durch eine massive Durchbrechung klassischer Erzählverfahren des konventionellen narrative-hollywood-styles 3 aus: 1. Der Film enthält mehrere, ineinander verschachtelte Erzählebenen, deren Grenzen immer wieder von Figuren überschritten werden. Der Film macht also seine Gemachtheit als mediales Artefakt transparent und verweist selbstreflexiv auf sich als audiovisuelles Medium. 2. Der Film konzipiert Figuren, die sich innerhalb der Diegese bewusst sind, dass sie sich nur in einer aus virtuellen Bildern konstruierten Welt befinden. 3. Der Film problematisiert generell die Konstitution der Identität der Person durch die Vorgänge des Erinnerns und Erzählens, die Innovativer Stil - konservative Ideologie 155 innerhalb der Diegese als medialisiert gekennzeichnet werden. Damit legt der Film eine Konzeption der Person und ihrer Identität nahe, die nur aus medialen Versatzstücken und damit aus vorkodierten Zeichenkomplexen besteht. 4. Zusätzlich werden intertextuelle Verweise auf Personen der Literatur- und Geistesgeschichte wie Alexander Pope und Nietzsche, aber auch auf die Populärkultur eingestreut. Selbstreflexivität, Intertextualität, die Thematisierung der Medialität des Bildes und die Konstitution und Dekonstruktion personaler Identität durch Erinnern und Erzählen legen nahe, dass es sich bei V ERGISSMEINNICHT um einen typisch postmodernen Film handelt. 4 Dementsprechend hatte der Film auch nicht nur bei einem jungen, intellektuellen Großstadtpublikum Erfolg, sondern wurde außerdem im Februar 2005 mit einem Oscar für das beste Originaldrehbuch von Charlie Kaufman ausgezeichnet. Mit V ERGISSMEINNICHT scheint Gondry der Sprung vom Videoclip-Regisseur in die junge Regiegeneration Hollywoods gelungen zu sein. In den folgenden Ausführungen möchte ich nun skizzieren, dass V ERGISSMEINNICHT jedoch nur den Anschein eines postmodernen Textes auf der Oberfläche seines discours erzeugt. Dem Film fehlen nämlich zwei entscheidende Kennzeichen, die strukturell einen postmodernen Text auszeichnen: 5 1. Dem Film fehlt die grundsätzliche Bedeutungsoffenheit eines postmodernen Textes. 2. Damit verbunden fehlt dem Film die Konzeption eines postmodernen Zeichenbegriffes, bei dem die Zeichen nur auf sich selbst als gemachte Zeichen verweisen, zwischen denen eindeutige Bedeutungen fluktuieren, ständig verschoben werden und auf diese Weise den Text als rein mediales Artefakt ohne originären Ursprung und individuelle Bedeutung konzipieren. Wesentliches Kennzeichen eines postmodernen Textes ist die Dekonstruktion von Sinn und die Bedeutung, dass es keinen definitiven Sinn in den im Text arrangierten Zeichen gibt. Im Gegensatz zu diesen strukturellen Merkmalen eines postmodernen Textes vermittelt der Film aber eine eindeutige Botschaft: Gerade hinter und jenseits aller Medialität von Erinnerung und ihrer selbstreflexiven Vergegenwärtigung propagiert der Film die eine, außerzeitliche und universell gültige Liebe zu dem einen optimalen Partner als Identität der Person. Meine These ist also, dass der Film V ERGISSMEINNICHT eine Art postmodernen Epochenstil wie ein Kleid an der Oberfläche vorführt, der Körper und die Substanz des Films aber konventionelle und konservative Werte und Normen konzipiert. Der Film wäre damit strukturell in keiner Weise postmodern. Demzufolge will ich im Folgenden zunächst die histoire, die erzählte Geschichte, von V ERGISSMEINNICHT rekonstruieren und die vom Film vermittelten, eindeutigen, ideologisch konservativen und nicht nur aus der trivialen Film- und Literaturgeschichte altbekannten Werte und Normen in den Bereichen der Person und der Liebeskonzeption darstellen. In einem nächsten Schritt wird dann ausgeführt, wie der discours, die Textoberfläche, mit Hilfe selbstreflexiver Strategien den Eindruck einer prinzipiellen Medialität von Identität und Person und damit den Anschein der Bedeutungsoffenheit und Relativität der im Filmbild vermittelten Bedeutungen aufbaut. Die Ausführungen zum discours sollen dazu dienen, Überlegungen zu einem rein an der Oberfläche vorhandenen postmodernen Epochenstil und seiner kulturellen Funktion anzuschließen. Abschließend wird eine Definition von ‘Stil’ vorgeschlagen, die auf dem semiotischen Kodebegriff beruht. Jan-Oliver Decker 156 2. Handlungsabriss Der Film V ERGISSMEINNICHT spielt in New York und erzählt die Liebesgeschichte von Joel Barish (Jim Carrey) und Clementine Kruczynski (Kate Winslet). Beide sind absolut gegensätzliche Charaktere: Joel ist introvertiert, schüchtern, äußerlich unauffällig und Tagebuchschreiber. Die Buchhändlerin Clementine ist dagegen extrovertiert, impulsiv und äußerlich bunt und exaltiert. Beide sind seit zwei Jahren ein Paar und haben sich im Badeort Montauk auf Long Island kennen und lieben gelernt. Im Laufe der Beziehung kommt es zu den üblichen Routineerscheinungen in Beziehungen, die dazu führen, dass sich die Leidenschaft zwischen beiden abschleift. Schließlich führt die Gegensätzlichkeit der Charaktere ungefähr eine Woche vor dem Valentinstag 2004 zu einem beleidigenden Streit. Es kommt zum Ende der Beziehung. Clementine verlässt Joel und lässt ihn durch Dr. Howard Merzwiak, Gründer und Betreiber der Firma Lacuna Inc., per maschineller Gehirnmanipulation aus ihrem Gedächtnis löschen. Einer von Merzwiaks Mitarbeitern, der junge Patrick (Elijah Wood), verliebt sich beim Löschvorgang in Clementine und beide gehen eine Affäre ein, ohne dass Clementine weiß, wer Patrick ist, noch dass er bei der Löschung von Joel aus ihrem Gedächtnis dabei war. Joel leidet in der Folge nicht nur unter der Trennung, sondern vor allem auch darunter, dass Clementine ihn aus ihrem Gedächtnis ausradiert hat und er deshalb die Beziehung nicht mehr retten kann. Joel beschließt nun, Clementine ebenfalls von Dr. Merzwiaks Firma am 13. Februar 2004, einen Tag vor dem Valentinstag, aus seinem Gehirn löschen zu lassen. Während des Löschvorgangs besinnt sich Joel jedoch und will Clementine im Gedächtnis behalten. Innerlich versucht er sich gegen die Löschung zu stemmen und seine Erinnerungen an Clementine unter anderen Erinnerungen zu verstecken. Auch bei Clementine ist die Gedächtnislöschung nicht ohne Folgen geblieben. Sie reist, ohne zu wissen warum, in der gleichen Nacht mit Patrick an die Orte ihrer gemeinsamen Vergangenheit mit Joel, findet jedoch dort nicht den erhofften Frieden. Patricks Versuche mit Hilfe der bei Lacuna kartierten Erinnerungen von Joel Clementine fester an sich zu binden, scheitern zunehmend. Beide reisen zurück nach New York. Clementine fühlt, dass sie sich als Person mit einer konturierten Identität auflöst. Währenddessen kommt es zu Komplikationen beim Löschvorgang von Clementine aus Joels Gedächtnis, weil Joel sich innerlich gegen die Auslöschung Clementines aus seiner Erinnerung wehrt. 6 Der Techniker Stan und die Empfangsdame von Lacuna Inc. Mary müssen Dr. Merzwiak zu Hilfe holen. Merzwiak gelingt schließlich die komplette Löschung Clementines aus Joels Gedächtnis. Kurz bevor die Löschung komplett ist, hat Joel jedoch eine innere Verbindung zu Clementine. Joel und Clementine beschließen, einen neuen Schluss ihres ersten Kennenlernens zu imaginieren und sich nach der Löschung von Clementine aus Joels Gedächtnis in Montauk wieder zu treffen. Unmittelbar nach dem Löschvorgang bei Joel gesteht die Sprechstundenhilfe Mary Dr. Merzwiak ihre Liebe. Im Verlauf dieses Liebesgeständnisses kommt heraus, dass der verheiratete Merzwiak mit seiner Sprechstundenhilfe Mary schon mal ein Verhältnis gehabt hat und Mary selbst dem Löschverfahren unterzogen worden ist. Am nächsten Tag, dem Valentinstag 2004, verlässt Mary Lacuna Inc. und schickt den Patienten von Dr. Merzwiak aus ethischen Gründen ihre Akten, damit diese um die verlorenen Teile ihrer Person wissen. 7 Am Morgen des Valentinstages will Joel wie gewöhnlich mit dem Zug zur Arbeit fahren, folgt jedoch einem inneren, unbewussten Impuls und fährt an den Strand von Montauk, an dem er und Clementine sich vor zwei Jahren kennen gelernt haben. Am Strand von Montauk Innovativer Stil - konservative Ideologie 157 Abb. 1 trifft Joel Clementine, beide lernen sich wieder kennen, als ob es das erste Mal ist, und verlieben sich wieder ineinander. Obwohl beide schließlich durch Marys Indiskretion ihre Akten bekommen und erfahren, wie verächtlich sie am Ende ihrer ersten Beziehung übereinander gedacht haben, beschließen sie einen Neuanfang. Am Ende des Films wird also der Ausgangszustand, die Beziehung von Joel und Clementine, wieder hergestellt. Die Löschung der Erinnerung an den jeweils anderen erweist sich zwar als faktisch, die Liebe zwischen Joel und Clementine ist jedoch unauslöschbar. 3. Semantische Räume und Leitdifferenzen Aus diesem Handlungsabriss wird deutlich, dass die entscheidende Leitdifferenz des Films diejenige zwischen Person vs. Umwelt und damit grundsätzlich zwischen innen vs. außen, zwischen personenintern vs. personenextern ist. Der Film inszeniert dabei Joels Inneres als filmisch vermittelten Erinnerungsraum, in dem sich Joel bewegt und zugleich seine Erinnerung durchlebt und diese auch reflektieren kann. Damit ergeben sich für die Person folgende Bedeutungsräume (vgl. Abb. 1): Einem Inneren der Person steht ein Äußeres, eine Umwelt, gegenüber. Die maschinelle, technisch apparative Gehirnmanipulation stellt nun einen Angriff der Außenwelt auf das Innere der Person dar, den die Person zunächst erfolglos abzuwehren versucht. Gerade im Gegensatz zum körperlich physikalischen, technisch apparativen Verfahren der Erinnerungslöschung erweist sich jedoch ein Teil des Inneren der Person, nämlich die Liebe Joels und Clementines, als resistent gegen den Löschvorgang (vgl. Abb. 2). Da diese Liebe damit in Opposition zur technisch-apparativen Gedächtnislöschung steht, bekommt die Liebe zwischen Joel und Clementine das Kennzeichen, natürlich zu sein. Auch wenn die Erinnerung im Film mit dem Gehirn ein biologisch-materielles Substrat hat und außerdem die Gehirnstrukturen die Erinnerungsstrukturen der Person direkt beeinflussen, gilt dies eben nicht für die Liebe. Liebe basiert im Film gerade nicht auf einer biologischen, körperlich-materiellen Grundlage, denn sonst könnte sie den technologisch grundierten Löschvorgang nicht überstehen. Liebe erweist sich in V ERGISSMEINNICHT damit als im wörtlichen Sinne metaphysische, universelle Größe in der Person. Die Liebe zwischen Joel und Clementine ist der unangreifbare Kern ihrer Person. Dass dies nicht nur für Joel und Clementine gilt, zeigt sich beispielhaft an der Parallelhandlung um Dr. Merzwiak und seine Sprechstundenhilfe Mary. Auch wenn die Liebesbeziehung zwischen beiden aus Marys Gedächtnis getilgt worden ist, verliebt sie sich, ähnlich wie im Falle Joels und Clementines, erneut in Merzwiak. Darüber hinaus wird die vom Film als metaphysisch konzipierte Liebe als natürliche Größe durch die im Film abgebildeten topographischen Räume semantisiert, indem die Opposition Technologie der Gedächtnislöschung vs. natürliche Liebe mit der Opposition Stadt vs. Land korreliert ist (vgl. Abb. 3): In der Stadt lassen die New Yorker sich das Ge- Jan-Oliver Decker 158 Abb. 2 Abb. 3 dächtnis zum Teil immer wieder und aus nichtigen Anlässen löschen (z.B. dreimal in einem Monat oder weil der Hund verstorben ist). In der Stadt gelingt Patrick die Aufnahme einer Beziehung zu Clementine, indem er sie ohne ihr Wissen mit der Hilfe von Joels Erinnerungen manipuliert. Dagegen ist die Beziehung zwischen Joel und Clementine mit Naturräumen wie dem Strand von Montauk und dem Charles-River bei Boston verbunden. Der Film baut diese Opposition von Stadt/ Technologie vs. Land/ natürliche Liebe in seinem Verlauf aus: Weil Liebe eine natürliche, unangreifbare Größe in der Person ist, scheitert Patrick am Charles-River, als er versucht, in der Maske aus Joels geraubter Identität Clementine enger an sich zu binden. Und als Clementine, nachdem sie mit Patrick am Charles-River war, nach der Gedächtnistilgung erneut mit Joel an den Innovativer Stil - konservative Ideologie 159 Charles-River fährt, stellt sich zwischen beiden der alte Zauber und die alte Magie ihrer Liebe erneut ein. Auch dass Joel droht, in der Stadt von einem LKW überfahren zu werden, was der Film ständig wiederholt, ist in diesem Kontext zu situieren: In der Stadt droht der technisch-maschinelle Angriff auf die Person, der ihr Leben und somit ihre personelle Integrität bedroht. Liebe ist aber nicht nur eine natürliche, sondern eine auch im spirituellen Sinne metaphysische, magische Größe: Während sich Joel Clementine aus seiner Erinnerung entfernen lässt, fühlt Clementine eine Auflösung ihrer Person. Der Film argumentiert hier implizit, dass der endgültige Verlust der Liebe von Joel und Clementine aus beider Gedächtnis die Integrität Clementines noch weiter auflöst, obwohl ihre Erinnerung an Joel schon komplett eliminiert ist. Wenn sich auch Joel nicht mehr an ihre Liebe erinnert, dann, so die Logik des Films, schreitet der Identitätsverlust Clementines voran und relativiert und desavouiert damit auch die durch Manipulation entstandene, neue Liebesbeziehung zu Patrick. Außerdem entsteht im Umfeld dieser drohenden Auflösung Clementines eine innere Verbindung zwischen ihm und Clementine in Joels Inneren. Als Joel beginnt, sich gegen die Löschung seiner Liebe zu Clementine zu wehren, kann Clementine im Rahmen dieser inneren Verbindung zwischen beiden als eigenständige Person agieren und Joel Ratschläge und Tipps geben, wie er ihre endgültige Löschung verhindern kann. Schließlich kann Clementine in Folge dieser mentalen Verbindung Joel in seinem Inneren trotz der Unausweichlichkeit der Gedächtnistilgung zuflüstern, dass sich beide am Strand von Montauk suchen und wieder finden sollen. Tatsächlich treffen sich beide dann unmittelbar am nächsten Tag wieder, am Valentinstag als Tag des Gedenkens an den Liebespartner, und nehmen ihre Beziehung als zunächst ungewussten Neuanfang auf, der im Ergebnis Joel und Clementine dann aber nur als Erneuerung der alten Beziehung bewusst (gemacht) wird. Gerade durch diese metaphysische, spirituelle Verbindung zwischen Joel und Clementine wird deutlich, dass die Liebe zum Partner als unangreifbarer und natürlicher, emotionaler Kern der Person hermetisch von den Einflüssen einer materiell determinierten, großstädtischen und medizinisch-technologisch höchst modernen Welt abgegrenzt wird. Im Endeffekt erzählt uns der Film V ERGISSMEINNICHT also zunächst die Geschichte einer Entdifferenzierung (vgl. Abb. 4). Die Grenze zwischen der Person und der Umwelt ist durchlässig in Richtung der Person geworden. Die Umwelt kann in die Person technologisch eingreifen. Person und Welt lassen sich nicht mehr klar voneinander abgrenzen, die Person wird entdifferenziert. Dieser Prozess der Entdifferenzierung der Person wird dabei auf der Ebene der Handlungsmotivation der Figuren oppositionell und konträr mit einem Wunsch nach Selbstbehauptung und Autonomie verbunden. Weil Clementine ihre Autonomie als Person behalten will und weil die Beziehung beide unglücklich gemacht hat, trennen sie sich und berufen sich auf sich selbst. Beide lassen die Erinnerung an die Beziehung löschen, damit die Erinnerung an den jeweils anderen die Person nicht dominiert und ihr weiteres Leiden verursacht. Zunächst erzählt der Film also die Geschichte einer Emanzipation der Liebespartner voneinander. Zuerst behaupten Joel und Clementine einen Anspruch und einen Wunsch auf Autonomie. Dieser Autonomiewunsch erweist sich im Verlauf der Handlung aber als fataler Fehler, weil gerade durch die maschinelle Gedächtnistilgung die Grenze zwischen der Person und ihrer Umwelt aufgelöst und die Person damit amorph wird. Durch den Wunsch nach Emanzipation voneinander verlieren die Liebespartner ihre Identität und damit jedwede Möglichkeit einer unabhängigen, autonomen Verwirklichung. Im Ergebnis erweist sich schließlich, dass gar nicht ein autonomes Ich und Selbst, sondern die Liebe zum jeweils Anderen das eigentliche Selbst und der Kern der Person ist. Jan-Oliver Decker 160 Abb. 4 Im Film hat die Person kein anderes Selbst als ihre Liebe und den Wunsch nach einem gemeinsamen, geteilten Leben mit dem Anderen. Damit führt uns der Film den Prozess einer gesteigerten Differenzierung von Person und Umwelt vor (vgl. Abb.4): Die Grenze zwischen Person und Umwelt ist zwar auf der Grundlage des Gehirns materiell-biologisch durchlässig, aber das eigentliche Selbst der Person, die Liebe, ist unangreifbar in der Person als metaphysische und natürliche Größe von der Umwelt hermetisch abgeriegelt. In der Ausgangssituation erscheint uns die Beziehung zwischen Joel und Clementine noch als brüchig. Während des Löschvorgangs erscheint die Grenze zwischen Person und Umwelt aufgehoben. Am Ende ist jedoch weder die Grenze zwischen dem eigentlichen Kern der Person und ihrer Umwelt, noch die versuchte Grenzziehung zwischen den Liebespartnern Joel und Clementine sowie ihrer Umwelt eine durchlässige, sondern eine um das Liebespaar scharf gezogene und abgeriegelte Grenze. Der Film führt uns also nicht die Geschichte einer Entdifferenzierung, sondern vielmehr die Geschichte einer verschärften Differenzierung vor, bei der zum Beispiel aus US-amerikanischen Familienserien altbekannte Muster und Modelle von Liebe und Person und der Liebe zu dem einen optimalen Partner als Identität der Person wieder aufgebrüht werden. 8 Wie konservativ die Liebeskonzeption des Filmes ist, soll noch anhand zweier kleiner Details aus der histoire untermauert werden: 1. Der Streit zwischen Joel und Clementine, der zum Ende der Beziehung führt, beruht darauf, dass Clementine sich ein Baby wünscht, Joel sie aber aufgrund ihres extrovertierten Charakters nicht für eine gute Mutter hält. Oberflächlich wird hier die Gegensätzlichkeit der Protagonisten inszeniert. Unterschwellig vermittelt Innovativer Stil - konservative Ideologie 161 der Film aber auf der Folie seiner Liebes- und Personenkonzeption, dass Clementine sich von Joel trennt, weil er den natürlichen, metaphysischen und unangreifbaren Charakter der Liebe zwischen beiden leugnet und mit dem Kind die natürliche Folge einer natürlichen Liebesbeziehung abwehrt. 2. Am Ende, als Joel und Clementine erkennen, dass sie sich gegen die Löschung der Erinnerung nicht stemmen können, beschließen sie, die letzte Erinnerung, die noch verblieben ist, gemeinsam zu genießen. Beide verzichten auf ihre Erinnerung. Diese Bereitschaft zum Opfern der Liebe und damit (in der Logik des Films) zum Selbstopfer geht mit einem unerschütterlichen Vertrauen und Glauben einher, dass beide trotz fehlender Erinnerung sich am Ende doch als Paar wieder finden werden und die Liebe durch die Gedächtnistilgung unangreifbar ist. Der Glaube an die metaphysische Qualität der Liebe wird dabei zur Vorbedingung, dass die Liebe zwischen Joel und Clementine metaphysisch ist, wie das Ende des Films dann auch evident vorführt. Am Ende des Films wird also die Beziehung aus der Ausgangssituation des Films nicht einfach nur wieder hergestellt, sondern auf einer höheren Ebene zirkulär wieder hergestellt. Die Krise der Beziehung ermöglicht ein Wachsen der Beziehung; die Beziehung wird am Ende auf eine höhere Seinsstufe transzendiert. 4. Erzählverfahren: sekundäre Semiotisierung der histoire durch den discours Diesem letztlich einfachen narrativen Verlaufsschema und diesen konservativen Werten und Normen im Bereich der Liebeskonzeption und der Person in der histoire des Films steht die Präsentation dieser Geschichte durch den discours diametral gegenüber. So konservativ sich die histoire des Films herausstellt, so innovativ sind im Gegensatz dazu die Erzählverfahren, die diese Geschichte vorführen. Der discours des Films wird prinzipiell durch drei Merkmale gekennzeichnet: 1. Die histoire wird fragmentarisiert. 2. Die histoire-Fragmente werden achronologisch miteinander kombiniert. 3. Dabei werden histoire-Fragmente auf die Art und Weise miteinander kombiniert, dass motivisch similare Fragmente entweder i) chronologisch gegenläufige Handlungen miteinander unmittelbar kontrastieren 9 oder aber ii) Symmetrien zwischen unterschiedlichen Zeitabschnitten hergestellt werden. Daraus ergibt sich auf der Oberfläche des discours das Prinzip der motivischen Wiederholung oder Spiegelung 10 , das sekundär die histoire-Fragmente miteinander verbindet. Unabhängig von der Präsentation der histoire durch den verfremdenden und dekonstruierenden discours ist die histoire eindeutig rekonstruierbar. Jedes Filmstück hat eine primäre Bedeutung auf der Ebene der erzählten Geschichte, die unabhängig von ihrer sekundären Präsentation auf der Textoberfläche rekonstruierbar ist. Das heißt, dass zusätzlich zur primären Ebene der histoire im Film auf der Ebene der Textoberfläche eine zweite, sekundäre Ordnung vorliegt, die den Prinzipien der Fragmentierung, Wiederholung, der Serialisierung und der Spiegelung verpflichtet ist. Neben einem primären referenziellen Bezug der Filmbilder auf die histoire schaffen die Präsentationsstrategien des discours eine sekundäre Semiotisierung der Filmbilder, die eine ganz eigene Ordnung über der primär referenziellen Bedeutung der Einstellungsfolgen aufbaut. 11 Im Ergebnis bedeutet das, dass die Gliederung des Filmmaterials auf der Ebene des discours einer zweiten Gliederung in Form eines rekonstruierbaren Kodes vorliegt. Jan-Oliver Decker 162 Abb. 5 5. Narrative Grenzüberschreitung: Metalepsen als Strukturmerkmal des discours Wesentlich wird diese sekundäre Semiotisierung im discours dabei durch die Erzählsituation und die Verschachtelung der Erzählebenen des Films geschaffen (vgl. Abb. 5). Der Film beginnt nach der Löschung von Joels Gedächtnis am Valentinstag nur mit einem Titel der Produktionsfirma “Focus Films”. Nach diesem Produktionstitel wird gezeigt, wie Joel, anstatt mit dem Zug zur Arbeit zu fahren, im letzten Moment in den Zug nach Montauk springt und dort Clementine das zweite Mal kennen lernt. Der Zuschauer erfährt zu diesem Zeitpunkt im filmischen Syntagma jedoch nicht, dass der Film fast von seinem Ende her, also proleptisch 12 , beginnt. Der Film beginnt auf der visuellen Ebene konsequent mit einem externen Point-of-view, der auditiv mit einem subjektiven Voice-over von Joels innerer Stimme unterlegt ist. Als Erzählinstanz erster Stufe behauptet der Film zu Beginn also zunächst die Kombination einer Opposition: In der Genetteschen Terminologie haben wir im fiktionsinternen Kommunikationssystem auf der Erzählebene erster Stufe visuell eine unbestimmte extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz, die auditiv mit Joels Stimme als extradiegetisch-homodiegetischer Erzählinstanz verbunden wird. 13 Nachdem Joel und Clementine zum Ende des ersten Segments nicht nur am Valentinstag in Montauk waren, sondern auch die Nacht zum nächsten Tag auf dem zugefrorenen Charles-River zugebracht haben, erfolgt eine Abblende. Nach der folgenden Aufblende springt der Film im nächsten Segment analeptisch 14 zunächst unmittelbar in das Geschehen nach der Trennung von Joel und Clementine. Joel fährt heulend mit dem Wagen durch die Stadt. Dazu werden jetzt erstmals alle wichtigen, Innovativer Stil - konservative Ideologie 163 bisher fehlenden Credits wie Schauspielernamen, Regisseur und Filmtitel eingeblendet. V ERGISSMEINNICHT entwickelt damit folgende Grobgliederung: 1. Der Film entwirft eine Rahmen- und eine Binnengeschichte, die jeweils als separate Filme gekennzeichnet werden. 2. Der Rahmen erweist sich als Prolepse, die Binnengeschichte gegenläufig als Analepse. Damit bleibt auf der Ebene der Grobgliederung des Films unentscheidbar, wann denn der eigentliche Erzählzeitpunkt angesiedelt ist, von welchem Zeitpunkt also Analepse und Prolepse als Fixpunkt zu bestimmen sind. 3. Darüber hinaus liegt nach Genette zwischen Rahmen und Binnengeschichte eine narrative Metalepse vor, 15 denn der eröffnende Rahmen präsentiert nur einen Ausschnitt aus dem Ende, das chronologisch der Binnengeschichte nachgeordnet ist. Außerdem wird die Binnengeschichte im Gegensatz zum Rahmen durch die eigentlichen Filmcredits eingeleitet. Die Binnengeschichte wird damit als höherrangige Erzählebene formal und inhaltlich als Erklärung des Rahmens sowieso als hierarchisch höchste Erzählebene gegenüber dem einleitenden Rahmen aufgewertet. Innerhalb der Binnengeschichte wird nun eine weitere Verschachtelung der Erzählebenen ineinander vorgeführt. Die Binnengeschichte präsentiert sich aus einem auditiv und visuell externen Point-of-view. Die Binnengeschichte schafft zunächst die Fiktion, von einer unbestimmten und personell unbesetzten, heterodiegetischen Erzählinstanz präsentiert zu werden. Innerhalb der nächsten Sequenzen lassen sich jedoch einige merkwürdige Anzeichen beobachten: Scheint es zunächst noch so, als würde der Film simultan zum gegenwärtigen Geschehen zwischendurch Joels Erinnerungen an Vergangenes aus seiner nachgeordneten, subjektiven Perspektive präsentieren, kommt in diesem Segment schließlich heraus, dass sich fast die ganze Binnengeschichte, die nach den Hauptcredits beginnt, ausschließlich in Joels Kopf abspielt. Joel ist damit auf einer dritten Erzählebene in diesem Segment nach Genette ein autodiegtischer 16 Erzähler, ein Erzähler, der seine eigene Geschichte erzählt. Ab dieser Stelle im filmischen Syntagma weiß der Zuschauer also, dass er Joels Geschichte mit Clementine folgt, wie sie in Joels Kopf abgespeichert ist. Was zunächst als unmittelbare Handlung erschien, ist also selbst schon Erinnerung, die durch den Löschvorgang ausgelöst wird. 17 Aus dem zunächst der Binnengeschichte zugewiesenen, visuell und auditiv externen Point-of-view zeigt uns der Film allein und ausschließlich die Techniker, die Joels Gedächtnis tilgen und die um sie herum ablaufenden Handlungen in Joels Zimmer. Damit erweist sich an dieser Stelle der Zeitpunkt des Löschvorgangs als der eigentliche Erzählzeitpunkt des Gesamtfilms, von dem aus die histoire des Films zu rekonstruieren ist. Der Film baut die Fiktion auf, dass der Zuschauer die Binnengeschichte simultan zum Löschvorgang betrachtet. Dieser Löschvorgang endet schließlich mit einer Abblende, um dann den Rahmen wieder aufzunehmen. Zunächst wird am Ende des Films gerafft der Anfang des Films, das erste Segment, zusammengeschnitten. Hier fehlt jetzt auditiv das subjektive Voice-over Joels. Das letzte Segment der Grobgliederung wird von einer extradiegetischen-heterodiegetischen Erzählinstanz präsentiert. 6. Technologische Manipulation vs. natürliche Liebe als Ursache von Metalepsen Innerhalb des Löschvorgangs in der Binnengeschichte kommt es nun zu einer erneuten Verschachtelung der Erzählebenen: Vermischt werden hier 1. die autodiegetische Erzählebene (Joel als Erzähler des eigenen Löschvorgangs) und 2. eine übergeordnete, personell unbestimmte Erzählebene. So inszeniert der Film den Moment, in dem Joel sich der Jan-Oliver Decker 164 Löschung seines Gedächtnisses bewusst wird, als Metalepse zwischen ihm als erinnerter Figur in seinem Kopf auf der einen Seite und der Erzählung seiner Gedächtnislöschung durch die Maschine auf der anderen Seite. Zu sehen ist zunächst, wie in Joels Erinnerung Joel und Clementine auf dem Sofa sitzen und beim Fernsehen essen. Joel nimmt nun aus seiner subjektiven Perspektive als zugleich erinnernde und erinnerte Figur wahr, wie Patrick bei diesem Erinnerungs- und Löschvorgang in Joels Küche geht. Das kann Joel jedoch gar nicht sehen, da Joel sich als erinnerte Figur in seinem eigenen Kopf befindet und nichts von der gleichzeitig um ihn herum stattfinden Gedächtnislöschung mitbekommen kann. Der von Joel erinnerte Joel geht nun in die Küche und sucht nach Patrick, den er aber nicht findet. Als er zurückkehrt hört er aus der Richtung seines erinnerten Schreibtischstuhls den Techniker Stan, der mit Patrick redet. Gleichzeitig steht Joel in seiner Erinnerung in seinem Kopf hinter dem Fernseher, in den er und Clementine vorher geschaut haben. Auf dem Fernsehschirm ist aber kein Fernsehbild zu sehen, sondern Clementine, die essend auf dem Sofa sitzt. Kurz darauf ist dann im Fernseher, hinter dem Joel steht schließlich nicht mehr Clementine, sondern derjenige Blick auf Joel zu sehen, der eigentlich vom Fernseher verstellt wird. Während Joels Kopf oberhalb des Fernsehers zu sehen ist, setzt das Fernsehbild den fehlenden und sich simultan mit Joels Kopf bewegenden Torso des von ihm selbst erinnerten Joels fort. Es kommt in dieser Sequenz also zu zwei miteinander kombinierten Metalepsen: 1. Es liegt eine Metalepse zwischen der von Joel erinnerten Geschichte (autodiegetische Vergangenheit) und der Geschichte vor, in die eingebettet er diese Geschichte erinnert (die Binnengeschichte des Löschvorganges). Es handelt sich, aus Joels subjektiver Perspektive, die uns die Filmbilder zeigen, um eine Metalepse auf einer höheren Erzählebene. Die Metalepse erfolgt zwischen der hierarchisch übergeordneten Erzählebene der Binnengeschichte und der hierarchisch nachgelagerten Erzählebene in Joels Kopf. Die Grenze zwischen der Erzählebene in Joels Kopf und zwischen der Erzählebene außerhalb seines Kopfes wird überschritten. Joel nimmt die Techniker wahr, die gerade dabei sind, sein Gehirn zu manipulieren. 2. Gleichzeitig liegt zusätzlich eine zweite Metalepse zwischen der von Joel erinnerten Geschichte und der potenziell auf dem Fernseher in diese Erinnerungsgeschichte eingebetteten Geschichte vor. Als Erzählinstanz ist der Fernseher in Joels Erinnerung eine hierarchisch nachgeordnete Erzählinstanz. Die Grenze zwischen der Welt, in der Joel sich in seinem Kopf befindet, und der Welt im Fernseher in dieser Welt wird überschritten. Joel und mit ihm der Zuschauer begreifen nun ab diesem Moment im Verlauf der Binnengeschichte, dass Joel sich in seinem Kopf befindet und dass er nur eine Figur ist, die virtuell durch sein nurmehr in der Erinnerung erzähltes Leben mit Clementine läuft und das Durchleben der Erinnerung ein Merkmal des Löschvorganges der Erinnerung ist. Als Joel beim Durchleben einer erotischen Erinnerung mit Clementine schließlich begreift, dass er sie wirklich liebt und dass ihre gemeinsame Intimität den Kern seiner Person ausmacht, versucht er sich gegen das Löschverfahren zu wenden. Im Zuge dieses mentalen Widerstandes gegen den Löschvorgang hat dabei die folgende Erinnerung eine zentrale Funktion im Filmganzen. Bei dieser Erinnerung liegen Joel und Clementine während einer erotischen Interaktion unter einer Decke und sind von der Außenwelt vollständig abgeschirmt. Der Point-of-view semantisiert durch das Schuss-Gegenschuss-Verfahren, dass alle Einstellungen wechselseitig subjektive Perspektiven von Joel beziehungsweise Clementine sind. In dieser Sequenz wird durch die Abschottung von jeglicher Außenwelt (den vollständig subjektiven Point-of-view und verbal durch das wechselseitige Liebesgeständnis und Clementines Bitte an Joel, sie Innovativer Stil - konservative Ideologie 165 niemals zu verlassen) deutlich akzentuiert, dass der Kern der Person sowohl für Joel als auch für Clementine jeweils die Liebe zum anderen Partner ist. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Sequenz, dass Clementine Joel von ihrer Identität als Kind erzählt und sich damit ihm gegenüber öffnet und Einblick in ihre Person gewährt. Diesen verbal gegebenen Einblick in Clementines Persönlichkeit setzt der Film aber auch visuell um. Zuerst wird eine Fotografie der 8-jährigen Clementine in Ganzgroßaufnahme eingeschnitten, während sie deiktischdemonstrativ Joel dieses Bild annonciert: “Da! Da bin ich acht Jahre alt.” Der Zuschauer sieht also mit den Augen Joels auf dieses Kinderfoto von Clementine. Unmittelbar darauf folgt als weiteres Insert die Detailaufnahme aus dem Gesicht einer Baby-Puppe, über die Clementine spricht. Die Puppe hatte in ihrer Kindheit die Rolle einer Stellvertreterin ihrer Person, auf die sie alle Eigenschaften projiziert hat, die sie an sich selbst nicht mochte. Die Puppe als Abbild der Person und fast magisches Artefakt der Projektion negativ bewerteter Persönlichkeitsmerkmale kann nun eigentlich nur Clementine sehen. Es handelt sich um eine ihrer ganz individuellen Erinnerungen. Durch das Einschneiden der Detailaufnahme des Puppengesichtes in den ansonsten subjektiven Point-of-view zwischen Joel und Clementine baut diese Sequenz dabei aber die Bedeutung auf, dass nicht nur der Filmzuschauer eine Kindheitserinnerung im Kopf von Clementine unmittelbar anschauen kann, sondern dass Joel, in dessen Kopf die Erinnerung an diese erotische Situation mit Clementine unter der Decke angesiedelt ist, ebenfalls damals und jetzt im Moment des Erinnerns an diese vergangene Situation unmittelbar und direkt wörtlich einen Einblick in Clementines ganz individuelle und subjektive Erinnerung hat. Der Zuschauer sieht durch die Montage plötzlich, wie Joel sich in Clementines Erinnerung bewegt und mit ihren Augen auf ihre Vergangenheit als Kind und auf ihre Puppe sieht. Damit liegt eine neue, entscheidende Art der Metalepse vor, denn Joel kann sich als unmittelbar Erblickender innerhalb der von Clementine abhängigen Erzählung ihrer Kindheit bewegen. Joel sieht direkt in seiner erinnerten Erinnerung in die Erinnerung der Erzählinstanz Clementine und damit in eine von ihr abhängige, nachgeordnete Erzählebene. Genau diesen Einblick Joels in das Innere der Liebespartnerin baut der Film dann im weiteren Verlauf als mentale (Liebes-)Verbindung zwischen Joel und Clementine aus. Joels innere Clementine emanzipiert sich in seiner Erinnerung schließlich zu einer selbständig agierenden Person in seinem Inneren. Gerade hier an dieser Stelle macht der Film durch die Verschachtelung der Erzählebenen deutlich, dass die Liebe von Joel und Clementine als universelle Konstante außerhalb des maschinell manipulierbaren Gedächtnisses behauptet wird. Der Film unterscheidet also innerhalb des gleichen narrativen Verfahrens - nämlich dem narrativen Kurzschluss zwischen der Ebene, auf der erzählt wird, und der Ebene, von der erzählt wird - zwei grundsätzlich differente Formen der Metalepse in der Diegese: Die maschinell durch die Gehirnmanipulation erfolgenden Metalepsen verdeutlichen den Löschvorgang der Erinnerung an die geliebte Person. Dagegen verdeutlicht die nicht maschinell, sondern in der Liebessituation als natürlich bewertete Metalepse zwischen Joel und Clementine unter der Decke die ultimative Verschmelzung der beiden Liebespartner zu einer Person, bei der der Liebespartner und damit die Liebe zum Liebespartner der jeweilige Kern der Person ist, der sich nicht aus der Person tilgen lässt. Man kann in der Logik des Films zwar die Erinnerung an die geliebte Person technologisch löschen, nicht jedoch die Liebe zur geliebten Person, die natürlicherweise zu einer Verschmelzung beider Identitäten führt und durch die Metalepse bei der Erinnerungssituation unter der Decke abgebildet wird. Der Emanzipationsprozess Clementines in Joels Innerem wird dann im Film abgeschlossen, als Joel sich an ihren gemeinsamen Aufenthalt am Charles-River erinnert. Ab jetzt Jan-Oliver Decker 166 agiert Clementine mit Joel und schlägt vor, die Erinnerung an sie in anderen Erinnerungen, vornehmlich aus der Kindheit, zu verstecken. Dadurch wird - und das ist ganz entscheidend - die Intimität zwischen beiden erhöht: Joel, der Clementine nie etwas aus seinem Leben erzählt hat, lässt sie jetzt in Ecken seiner Person blicken, die sie bisher nicht kannte. Diese Öffnung Joels ist es dann schließlich, die fast am Ende des Films in der allerersten Erinnerung an Clementine dazu führt, dass er sich für sie entscheidet und sie sich für ihn und dass sich am Ende der Beziehung und des Löschvorganges das Paar erneut konstituiert. Erzählen und vor allem das Sich-selbst-Erzählen und das ‘Sich-dem-Partner-als-Teil-desselbst-Erzählen’ ist also im Film die wichtigste Tätigkeit überhaupt. Gleichgültig also, wie die Erzählebenen formal hierarchisiert sind: die subjektive Erzählposition Joels ist semantisch die wichtigste, auch wenn sie formal nicht die hierarchisch höchstrangige ist, da die ständigen narrativen Kurzschlüsse ja gerade die Möglichkeit einer eindeutigen Hierarchisierung der Erzählebenen formal aufheben. Joel, der immer nur auf sich selbst bezogen ist, ist damit durch das sich Sich-selbst-Erzählen die Verkörperung von Selbstreflexivität und Selbstbezüglichkeit par excellence. Joel, die Verkörperung der Selbstreflexivität und Selbstreferenzialität, wird damit im Film zum ultimativen, verkörperten Prinzip des Sich-selbst-Bespiegelns, das wiederum seinerseits die formalen Spiegelungen der einzelnen Fragmente untereinander widerspiegelt. Nur nebenbei sei angemerkt, dass in Kombination mit der Liebeskonzeption im Film damit eine eigentlich zirkuläre und paradoxe Situation innerhalb der vom Film konstruierten Selbstreferenzialität erreicht wird: Das eigene Selbst ist nur die Wiederspiegelung des geliebten Partners; das Ich ist ausschließlich der Spiegel des/ der Anderen, dessen/ derer man sich selbst potenziell unendlich selbst vergewissert, um sich als Ich und Selbst immer wieder prozessual zu konstituieren. Der Film V ERGISSMEINNICHT erzeugt also auf der Ebene der Präsentationsstrategien die Bedeutung, dass die Widerspiegelung des eigenen Selbst bis ins Unendliche potenziert und fortgetrieben wird. Damit lässt sich aus den bisherigen Ausführungen folgern, dass der Film ein Spiel mit den Grenzen der Erzählebenen treibt und ein System von Erzählebenen entwirft, um diese zu überschreiten und zu dekonstruieren. Sinn dieser Überschreitung und Dekonstruktion der Erzählebenen ist dabei vor allem, das Erzählen als die entscheidende Tätigkeit zu idealisieren, die die Person und ihren Sinn überhaupt konstituiert. Alle Formen medialer Selbstbezüglichkeit im Film sind damit nichts weiter als die Variation und Illustration dieser sich ihrer selbst vergewissernden Funktion des Erzählens. 18 Wenn Joel 1. zugleich in einem erinnerten Fernsehbild als abgebildete Person und in seiner Erinnerung als agierende Person ist, wenn Joel 2. sich als Kinozuschauer in einer Erinnerung selbst bei der Flucht mit Clementine durch seine Erinnerungen wahrnimmt, wie dies ja auch die Kinozuschauer im Sessel vor der Leinwand beim Anschauen des Filmes tun, und wenn 3. beim Anlegen der mentalen Karte von Joels Erinnerungen in der Arztpraxis diese Erinnerungen durch einen Monitor auf eine Leinwand projiziert werden, dann wird zwar die Mittelbarkeit der vorgeführten Bilder als mediale und eben erzählte Bilder exzessiv immer wieder betont, eine grundsätzliche Bedeutungsoffenheit und Reflexion über das Medium Film selbst als eine Sinnerzeugungsmaschine, die der Film V ERGISSMEINNICHT ohne Zweifel ist, aber geradezu verschleiert. Gerade die Fülle der narrativen Kurzschlüsse und die Dekonstruktion und Fragmentierung der histoire erzeugen also nicht per se eine Dekonstruktion von Sinn und eine prinzipielle Bedeutungsoffenheit in einem filmischen Text. Vielmehr werden hier die herkömmlichen Verfahren der Sinndekonstruktion durch Fragmentierung, Metalepsen und mise-en-abyme- Strukturen dazu genutzt, den Wert universeller Liebe zu einer anderen Person als Stiften von Identität als Wert massiv zu idealisieren. Innovativer Stil - konservative Ideologie 167 7. Zur Konturierung eines Epochenstils der ‘Postmoderne’ Aus den Ausführungen zu discours und histoire des Films sollte hervorgegangen sein, dass V ERGISSMEINNICHT eine grundsätzliche Differenz zwischen seiner Oberfläche und seiner Tiefenstruktur entfaltet. Einerseits erscheint der Film auf der Textoberfläche formal offen, aufgebrochen, fragmentiert und überstrukturiert, andererseits ist jedoch die eindeutige Funktion dieser nur oberflächlich bedeutungsöffnenden, dekonstruierenden Erzählweise in der Tiefenstruktur des Textes, die Liebe von Joel und Clementine als universelle und natürliche Konstituente der Identität der Person als genau die eine eindeutige Bedeutung des Filmes aufzubauen. Damit lässt sich festhalten, dass in V ERGISSMEINNICHT eine fundamentale Differenz und semantische Grenze zwischen der Ebene des Erzählens und der Ebene des Erzählten vom Film etabliert wird. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Intertextualität des Films nur als eine sekundäre Semiotisierung und Aufgarnierung der oberflächlichen Bedeutungsoffenheit als einer bloßen Präsentationsstrategie genau dieser einen Liebesgeschichte von Joel und Clementine. Das Nietzsche-Zitat der Sprechstundenhilfe Mary aus Jenseits von Gut und Böse (1886), dass die Vergessenden selig seien, wird durch die histoire widerlegt. Das Zitat von Alexander Pope, dem der Film seinen englischen Originaltitel E TERNAL S UNSHINE OF THE SPOTLESS MIND aus dem Gedicht Eloisa to Abelard (1717) verdankt, wird dagegen konkretisert: Der ewige Sonnenschein der makellosen, unbefleckten Erinnerung ist in der Logik des Filmes die Liebe zwischen Joel und Clementine, die wie die Liebe von Heloise und Abelard eine große und universelle Liebe ist. Gleichzeitig impliziert der Film recht deutlich durch das literarisch und damit medial vorkodierte Zitat als Titel des Gesamtfilms den Anspruch, in einer Traditionslinie kulturell hochbewerteter Texte zu stehen und eine aktuelle Kodierung einer fast mythisch anmutenden universellen Wahrheit darzustellen. Doch die Intertextualität des Films integriert nicht nur die Hochkultur. Der Name Clementine, der mit dem populären amerikanischen Volkslied Oh my Darling verknüpft wird, erweist sich als sprechender Name: Hier im Volkslied wie dort im Film hat das Sprecher-Ich seine Clementine zwar verloren, aber mit ihrer Schwester im Lied wie mit der von ihren negativen Beziehungserfahrungen befreiten Clementine im Film einen fast identischen Ersatz bekommen. Auf der Oberfläche weist sich V ERGISSMEINNICHT also durch folgende sekundäre Semiotisierungen aus: 1. Intertextualität, 2. formale Dekonstruktion der Erzählebenen und damit formal Verschiebung von einer sinnstiftenden Erzählautorität auf eine andere, ohne diese durch narrative Metalepsen absolut bestimmen und hierarchisieren zu können, 3. Fragmentarisierung, 4. Wiederholung und 5. potenziell unendliche Spiegelung der universellen Wahrheit der histoire, dass Liebe den Kern der Identität der Person ausmacht, innerhalb des discours. Diese fünf Prinzipien, die der Film geballt und massiv die ganze Zeit auf sich selbst anwendet, mögen zwar oberflächlich zunächst hinderlich dabei erscheinen, die Tiefenstruktur des Textes zu rekonstruieren. Auf den zweiten Blick wird jedoch klar, dass diese aufeinander gehäuften, projizierten und potenzierten Überstrukturierungen der Textoberfläche funktional in die ideologisch konservative und vor allem eindeutige Sinnproduktion der Liebesgeschichte eingebunden sind. Gerade die Massierung und Potenzierung dieser formalen Verfahren gilt nun aber immer wieder als Ausweis eines postmodernen Textes, doch kristallisiert sich in der Forschung langsam heraus, dass ein postmoderner Text bevorzugt solche Verfahren einsetzt, um Jan-Oliver Decker 168 funktional eine eindeutige Sinnzuweisung zu unterbinden und Sinn immanent im Text konsequent zu verschieben und dadurch Sinn überhaupt zu dekonstruieren. 19 Als Beispiel eines solchen postmodernen Textes sei von mir nur Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe (1977) angeführt, dessen Hauptteil sich exemplarisch jedes definiten Sinnes entzieht, außer eben dem, keinen definiten Sinn zu erzeugen. Im Vorwort zu den Fragmenten einer Sprache der Liebe entwirft Barthes programmatisch seinen Text als bedeutungsoffenen Text, der immer wieder nur auf sich verweist und die Person des Liebenden als einer in sich geschlossenen und gefestigte Person dekonstruiert. Dabei wendet sich das Vorwort explizit gegen die traditionellen Liebesgeschichten, wie eine solche eben auch V ERGISSMEINNICHT konstruiert. Im zweiten Kapitel des Vorwortes (“Ordnung”) heißt es in der deutschen Übersetzung: Der Liebende spricht in Satzbündeln faßt diese Sätze aber nicht auf einer höheren Ebene zusammen, zu einem Werk; es ist ein horizontaler Diskurs, kein Heil, kein Roman (aber viel Romanhaftes). Jede Liebesepisode kann freilich mit Sinn ausgestattet sein: er entsteht, entwickelt und vergeht, er folgt einem Weg der immer im Sinne einer Kausalität oder Finalität zu deuten, im Notfall sogar moralisch zu bewerten ist […]. Eben das ist die Liebesgeschichte, wie sie dem großen narrativen Anderen, der öffentlichen Meinung unterworfen ist, die jede exzessive Kraft entwertet […] die Liebesgeschichte (das “Abenteuer”) ist der Zoll, den der Liebende der Welt zu entrichten hat, um sich wieder mit ihr zu versöhnen. Ganz anders der Diskurs, das Selbstgespräch, das a parte, das diese Geschichte begleitet, ohne sie je zu kennen. Es ist das eigentliche Prinzip dieses Diskurses (und des ihn präsentierenden Textes), daß seine Figuren sich nicht miteinander abfinden können: sich nicht einordnen, einen Weg bahnen, auf ein gemeinsames Ziel hinstreben […]. (Barthes 1988: 20f., Hervorhebungen im Original) Roland Barthes’ semantisch und formal offenen, postmodernen Fragmenten einer Sprache der Liebe, welche die personale Einheit relativieren, steht die nur formal aus Fragmenten aufgebaute Liebesgeschichte in V ERGISSMEINNICHT gegenüber, die die personale Einheit konstituiert. Daraus lässt sich folgern: 1. Die Potenzierung der Spiegelungen, intertextuellen Verweise, Selbstreferenzialitäten und Selbstreflexivitäten und das Aufbrechen der Ordnung der Erzählebenen durch Metalepsen bedingt nicht per se eine Offenheit des Sinns. 2. Die massive Überstrukturierung des discours suggeriert eine Offenheit, wo nichts anderes als eine eindeutig rekonstruierbare Tiefenstruktur ist. 3. Die Potenzierung der Spiegelungen, intertextuellen Verweise, Selbstreferenzialitäten und Selbstreflexivitäten und das Aufbrechen der Ordnung der Erzählebenen durch Metalepsen sind Phänomene einer sekundären Semiotisierung und damit einer Wahl aus formalen Alternativen und somit Stilphänomene. 20 4. Diese Geschichte des Films V ERGISSMEINNICHT hätte man auch anders erzählen können. Die Oberflächenphänomene suggerieren eine Zuordnung des Films zum Korpus postmoderner Texte, doch diese oberflächliche Zuordnung rechtfertigt der Film nicht auf der Ebene seiner Tiefenstruktur. Ähnlich ist die Entkoppelung von postmoderner Form und struktureller Zugehörigkeit zur Postmoderne, die ich versucht habe an V ERGISSMEINNICHT herauszuarbeiten, schon im Bereich der Gewaltdarstellung in den ebenfalls vorschnell als postmodern etikettierten Filmen David Lynchs aufgedeckt worden, wo ein innovativer discours konservative, patriarchale Sozialnormen verschleiert. 21 Der Einzelfall V ERGISSMEINNICHT scheint damit generalisierbar zu sein. Auch andere Filme und vermutlich auch literarische Texte weisen eine sekundäre Überstrukturierung auf, die im kulturellen Wissen als postmodern bezeichnet wird, ohne dass diese Texte strukturell Merkmale der Postmoderne aufweisen. 22 In solchen Fällen Innovativer Stil - konservative Ideologie 169 sollte künftig von Texten in einem postmodernen Stil oder einer postmodernen Manier, nicht jedoch von postmodernen Texten gesprochen werden. Hypothetisch kann man fragen, ob die Strategien des Films V ERGISSMEINNICHT , nämlich im kulturellen Wissen als postmodern geltende Strukturen dazu zu benutzen, wieder eine eindeutige Bedeutungsstruktur aufzubauen, auch in einem aktuellen größeren Textkorpus gefunden werden. 23 Möglicherweise könnte man auf der Grundlage eines größeren Textkorpus die These aufstellen, dass mit solchen Filmen wie V ERGISSMEINNICHT Versuche vorliegen, mit Hilfe der Formen der Postmoderne die Postmoderne als Epoche zu überwinden und wieder eindeutige Geschichten zu erzählen. Funktion einer nur stilistischen Postmoderne könnte sein, die im Denken des 20. Jahrhunderts nicht mehr mögliche Letztbegründung von Werten und Normen durch eine nur oberflächliche Bedeutungsrelativität zu umgehen, sozusagen unter der Hand aber wieder zu einem neuen Modell erzählter Geschichten zu gelangen. Möglicherweise gehört aber ein Film wie V ERGISSMEINNICHT auch zu (literarischen und filmischen) Texten einer Epoche der ‘Spätmoderne’, die die Postmoderne eben nur stilistisch, nicht aber strukturell in sich integriert und damit hinter der Postmoderne systemisch zurückbleibt, aber noch nach Einsetzen der Postmoderne und zeitgleich mit postmodernen Texten produziert wird. 8. Skizze einer semiotischen Fundierung des Begriffes ‘Stil’ in Literatur und Film Stil erscheint mir nach meinen Ausführungen zu V ERGISSMEINNICHT als ein manifestes Oberflächenphänomen, welches auf einer sekundären Wahl beruht. In diesem Zusammenhang scheint V ERGISSMEINNICHT ein besonders deutlicher Fall einer solchen sekundären Wahl zu sein, weil Selbstreferenzialität ebenso wie Fremdreferenzialität als Verweisen auf textextern konkret identifizierbare Texte und Kontexte aus semiotischer Sicht immer nur Ergebnis einer sekundären Semiotisierung sein können. 24 In einem intensional zu weiten Sinne könnte man Stil am Beispiel von V ERGISSMEIN - NICHT als die zusätzliche Überstrukturierung einer Botschaft verstehen, wie sie auch schon Jakobson in seinem berühmten Gesetz als Projektion des Paradigmas auf das Syntagma für die poetische Funktion der Sprache formuliert hat. 25 Stil wäre in dieser zu weiten Sichtweise dann identisch mit der poetischen Funktion von Sprache, mit der Ausrichtung der Nachricht auf sich selbst als künstlerisch verfertigt. Was jedoch die poetische Funktion der Sprache vom Stil als Form der Überstrukturierung unterscheidet, ist, dass Stil nicht grundsätzlich auf Selbstreferenzialität beruht und Stilphänomene nicht zwingend auf der Basis der manifesten Textkonstrukte die Aufmerksamkeit auf sich als künstlerisch gemacht lenken. Es sind ja im Gegensatz zum postmodernen Stil des Films V ERGISSMEINNICHT auch Stile denkbar, die in keiner Weise Selbstreferenzialität als Stilphänomen nutzen. Ich möchte trotzdem auf der Grundlage meiner Ausführungen zum Film V ERGISSMEINNICHT im Folgenden vorschlagen, den Stilbegriff auf der Grundlage des Kodebegriffes semiotisch neu zu definieren. Die Semiotik unterscheidet laut Nöth (2000: 216-226, bes. 217) zwei unterschiedliche Kodebegriffe: 1. Kode als Synonym für Zeichensystem, bei dem durch konventionelle Regeln Ausdrücke und Inhalte einander zugeordnet werden. 2. Kode als Zuordnungsvorschrift zwischen zwei Zeichenrepertoires A und B zum Beispiel bei kryptographischen Kodes. Zur Diskussion stellen möchte ich den Vorschlag, ‘Stil’ als Kombination beider Kodedefinitionen zu bestimmen (vgl. Abb. 6). In Texten, filmischen und literarischen, werden nach Jurij M. Lotman (1993 4 : 38-43) primäre Zeichensysteme (Sprache, Filmbilder etc.), also primäre Kodes, miteinander Jan-Oliver Decker 170 Abb. 6 kombiniert. Auf diese Weise kodieren künstlerische Texte sekundär je ganz eigene Bedeutungen und entwerfen nur in ihnen gültige Welten. Literarische und filmische Texte sind nach Lotman (1993 4 : 39) sekundäre semiotische Systeme. 26 In dieser Bestimmung des künstlerischen Textes als eines sekundären semiotischen Systems liegt schon inbegriffen, dass jeder Text je eigene Kodes bei der Textbedeutung entwickelt und damit ganz eigene Bedeutungen produziert, die so zunächst nur ihm zukommen. Solche individuellen Bedeutungsstrukturen konkreter Texte möchte ich als (sekundär erzeugte) primäre Textbedeutungen bezeichnen. Eine bestimmte Ausdrucksebene auf der Textoberfläche wird dabei in jedem sekundären semiotischen System durch in der Tiefenstruktur des jeweiligen Textes individuell rekonstruierbaren Kodes mit den primären Textbedeutungen verknüpft. Eine bestimmte Inhaltsseite ist durch diese Kodes in der Tiefenstruktur in jedem Text zunächst einmal nur in ihm mit einer bestimmten Ausdrucksseite verbunden. Zusätzlich und sekundär können weitere Kodes rein auf der Textoberfläche angesiedelt sein. Im Falle von V ERGISSMEINNICHT sind diese weiteren Kodes auf der Textoberfläche die narrativen Metalepsen und die mit ihnen verbundenen Prinzipien der Fragmentierung, der Intertetxtualität und der Spiegelung. Als rein formale Prinzipien sind diese sekundären Kodes, die allein die Oberflächeneben des Textes strukturieren, nicht mit einer konkreten Bedeutung verknüpft. Wie ausgeführt wurde, implizieren Intertextualität, Metalepsen und mise-en-abyme-Strukturen eben nicht per se die und eine prinzipielle Verweigerung von eindeutiger Bedeutung. Als singuläres Zeichenrepertoire haben diese Phänomene auf der discours-Oberfläche eines Textes zunächst einmal keine festgelegte Bedeutung. Diese erlangen die formalen, sekundären Zeichenrepertoires erst dadurch, dass sie an die Kodes der primären Textbedeutungen in einem konkreten Text angekoppelt werden. Wie an V ERGISS - Innovativer Stil - konservative Ideologie 171 MEINNICHT hervorgehoben wurde, sind es ja gerade die formalen Prinzipien an der Textoberfläche, die mit den primären Textbedeutungen interagieren. Das Besondere an V ERGISSMEIN - NICHT ist nun, dass gerade die Selbstreflexivität auf der Textoberfläche im Zusammenspiel mit den durch die histoire vermittelten Bedeutungen textuell manifest impliziert, dass auch ein anderes, alternatives Zeichenrepertoire an der Textoberfläche diese Textbedeutungen hätte ausdrücken können. Damit ein rein oberflächliches Zeichenrepertoire Bedeutung bekommt, muss es also im kulturellen Wissen mit mindestens einem anderen Zeichenrepertoire verknüpft sein, in welches man es übersetzen kann. Man hätte bei dieser Defintion des Stils also die konkrete Wahl, zwischen potenziell verschiedenen Zeichenrepertoires an der Textoberfläche zu interpretieren. Diese alternativen Zeichenrepertoires, die an der Textoberfläche durch die Kodes aufmontiert werden, die die primären Textbedeutungen in einem konkreten Text individuell regulieren, müssen im kulturellen Gedächtnis als Zeichenrepertoires konventionalisiert sein. ‘Stil’ ist in meinem Definitionsversuch damit die potenzielle Varianz zwischen mindestens zwei Zeichenrepertoires an der Textoberfläche, die mit einem primären Kode der Textbedeutung als Basis verknüpft sind. Dieser auf der Kombination beider Kodebegriffe fundierte Definitionsversuch des ‘Stils’ harmoniert im Übrigen auch mit der Definition wie sie Nöth (2000: 396-399, bes. 398) als Wahl zwischen Alternativen umreißt, die auf der Abweichung von einer Norm begründet ist. Die Norm würde in meiner auf dem Kodebegriff begründeten Stildefinition durch die textimmanent manifesten, rekonstruierbaren Kodes der individuellen Bedeutungsproduktion gesetzt werden, die mit einem im kulturellen Wissen konventionalisierten, zusätzlichen Zeichenrepertoire verknüpft wären. Diese in den manifesten Textstrukturen begründete Definition von Stil griffe meines Erachtens auch bei der Ausweitung auf ein beliebiges Textkorpus. Auch aus einem beliebig erweiterbaren Korpus ließen sich rekonstruierbare, primäre Kodes der Textbedeutungen herausarbeiten, 27 die eine normative Grundlage dafür bilden, mit welchen zusätzlichen Zeichenrepertoires die Texte in diesem Korpus verknüpft sind. Der hier untersuchte Fall V ERGISSMEINNICHT zeigt damit meines Erachtens, dass die analytische Entkoppelung des Stilbegriffes von erzählten Welten und die Verwendung von ‘Stil’ als eines rein deskriptiven Inventars zur discours-Beschreibung zumindest fragwürdig ist. Zwar scheinen Oberflächenebene und Tiefenstruktur in V ERGISSMEINNICHT zueinander in Opposition zu stehen. Wie ich aber mit meinen Ausführungen hoffe gezeigt zu haben, sind discours und histoire im Film eben nicht voneinander entkoppelt, sondern konstituieren zusammen die Bedeutung des Filmes, dass 1. die universelle Liebe als natürlicher Kern der Person und 2. der Prozess des Erzählens und vor allem des sich Sich-selbst-Erzählens die zentralen Konstituenten der Identität der Person in V ERGISSMEINNICHT sind. Gerade V ER - GISSMEINNICHT demonstriert nach meiner Ansicht, dass eine literatur- und medienwissenschaftliche Stilanalyse in aller erster Linie versuchen sollte, Stilphänomene und Epochenzuordnungen funktional an Textbedeutungen festzumachen und erst dann kulturelle Kontexte an Film und Literatur heranzutragen und nicht umgekehrt. Inwiefern eine Ausweitung der Stilanalyse weg von der linguistisch-sprachlichen Ebene auf andere Ebenen des Textes und darüber hinaus auf Kontexte von Texten tragfähig ist, sollte nach meinen Ausführungen zumindest problematisch erscheinen. Ob ein solch umfassender Stilbegriff noch der Norm einer literatur- und medienwissenschaftlich trennscharfen Kategorie entspricht, bleibt zu diskutieren. Jan-Oliver Decker 172 9. Literaturangaben audiovisuelle Medien S UGAR W ATER (USA 1996, Michel Gondry), Musikvideo für Cibo Matto C OME I NTO M Y W ORLD (USA 2002, Michel Gondry), Musikvideo für Kylie Minogue E TERNAL S UNSHINE OF THE S POTLESS M IND (Vergissmeinnicht, USA 2004, Michel Gondry) Primärliteratur Barthes, Roland 1988 [zuerst 1977]: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sekundärliteratur Bisanz, Adam J. 1976: “Linearität vs. Simultaneität im narrativen Raum-Zeit-Gefüge. Ein methodisches Problem und die medialen Grenzen der modernen Erzählstruktur”, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 4, Erzählforschung 1 (1976): 185-223. Blödorn, Andreas / Langer, Daniela / Scheffel, Michael (ed.) 2006: Stimme(n) im Text, Berlin/ New York: de Gruyter (= Narratologia, X). Bordwell, David / Staiger, Janet / Thompson, Kristin 1985: The Classical Hollywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960, New York: Columbia University Press. Christen, Thomas 1994: “‘Who’s in charge here? ’ Die Thematisierung des Erzählens im Film”, in: Film und Kritik, Heft 2 (1994): 39-53. Decker, Jan-Oliver 2005: “Selbstreflexion literarischen Wandels. Zu Heines Nordsee-Zyklen im Buch der Lieder (1844)”, in: Krah 2005a: 45-64. Decker, Jan-Oliver 2006a: “Stimmenvielfalt, Referenzialisierung und Metanarrativität in Hermann Hesses Der Steppenwolf (1927)”, in: Blödorn/ Langer/ Scheffel (ed.) 2006: 233-265. Decker, Jan-Oliver 2006b: “Patrick Süskind Das Parfum”, in: Jürgensen (ed.) 2006: 286-316. Fricke, Harald 2003: “Potenzierung”, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/ New York: Walter de Gruyter: 144-147. Genette, Gérard 1998²: Die Erzählung, München: W. Fink (= UTB 8083). Grimm, Petra 1998: “Erzählstrategien der Gewalt und Sieg der Konvention”, in: Pabst 1998: 113-122. Gumbrecht, Hans-Ulrich 2003: “Postmoderne”, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/ New York: Walter de Gruyter: 136-140. Jakobson, Roman 2005 [zuerst 1971]: Poetik: ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt am Main: Suhrkamp (= stw 262). Jürgensen, Christoph (ed.) 2006: Die Lieblingsbücher der Deutschen, Kiel: Ludwig. Krah, Hans 1997: “Media Shift and Intertextual Reference”, in: Nöth 1997: 347-362. Krah, Hans 2005a (ed.): Zeitschrift für Semiotik: “Selbstreferenz und literarische Gattung”, Heft 1-2 (2005). Krah, Hans 2005b: “Einführung”, in: Krah 2005a: 3-21. Kirchmann, Kay 1994: “Zwischen Selbstreflexivität und Selbstreferentialität. Überlegungen zur Ästhetik des Selbstbezüglichen als filmischer Modernität”, in: Film und Kritik, Heft 2 (1994): 23-38. Lotman, Jurij M. 1993 4 [zuerst 1972]: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink (= UTB 103). Matías Martínez / Michael Scheffel 1999: Einführung in die Erzähltheorie, München: C.H. Beck. Nöth, Winfried (ed.) 1997: Semiotics of the Media. State of the Art, Projects and Perspectives, Berlin/ New York: Mouton de Gruyter. Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, Stuttgart: J.B. Metzler. Pabst, Eckhard (ed.) 1998: “A Strange World”. Das Universum des David Lynch, Kiel: Ludwig. Derselbe 2005: “Gore Verbinskis T HE R ING (USA 2002)” Vortrag am 13.12.2005 an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel. In: http: / / www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/ veranstaltungen/ ringvorlesungen/ filmklassiker.asp (letzter Zugriff: 26.7.2006). Petersen, Christer 2003: Der postmoderne Text. Rekonstruktion einer zeitgenössischen Ästhetik am Beispiel Thomas Pynchon, Peter Greenaway und Paul Wühr, Kiel: Ludwig. Posner, Roland / Robering, Klaus / Sebeok, Thomas A. (ed.) 2003: Semiotik/ Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 13.3., Berlin/ New York: Walter de Gruyter. Innovativer Stil - konservative Ideologie 173 Titzmann, Michael 1989: “Kulturelles Wissen - Diskurs - Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung”, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 99 (1989): 47-61. Titzmann, Michael (ed.) 1991a: Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen: Niemeyer (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 33). Titzmann, Michael 1991b: “Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft”, in: Titzmann 1991a: 395-438. Titzmann, Michael (2003): “Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft”, in: Posner/ Robering/ Sebeok (ed.) 2003: 3028-3103. Wünsch, Marianne / Decker, Jan-Oliver / Krah, Hans (1996): Das Wertesystem der Familienserien im Fernsehen, Kiel: Malik. Anmerkungen 1 Zusätzlich haben beide Syntagmen auch immer wieder Kontakt zueinander, indem z.B. ein Brief von einer Frau aus einem Syntagma in das andere übergeben wird oder eine Katze von einem Syntagma in das andere läuft. 2 Vgl. zum Lemma ‘Potenzierung’ als semiotisch definierter Wiederholungsbeziehung Fricke (2003). 3 Vgl. Bordwell/ Staiger/ Thompson (1985). 4 Einen guten Überblick über das, was in der denkgeschichtlichen Tradition unter dem Lemma ‘Postmoderne’ zu verstehen ist, liefert Gumbrecht (2003). Gumbrechts Definition kann als Quelle für das heutige, allgemeine, lexikonfähige, kulturelle Wissen über die Postmoderne gelten. Neben anderen Kennzeichen der Postmoderne ist hier vor allem das nach Gumbrecht auf Lyotard und Baudrillard zurückgeführte Aufheben eines fest gefügten Sinnes durch Durchbrechen der konventionellen Erzählformen, Intertextualität und Selbstbespiegelung für mich im Folgenden von Bedeutung. Vgl. zum Begriff des ‘kulturellen Wissen’ Titzmann (1989). 5 Vgl. zur Präzisierung der Postmoderne als strukturelles Phänomen Petersen (2003: bes. 301-316), dem ich hier folge. Petersen (2003) differenziert vier Kennzeichen der Postmoderne im kulturellen Wissen (Offenheit, Immanenz, Selbstreflexivität und Intertextualität) und kommt durch Analyse dieser Signa in modernen und postmodernen literarischen Texten zu dem Ergebnis, dass das Vorhandensein der vier Kennzeichen allein nicht genügt, um einen postmodernen Text formal von einem modernen Text zu unterscheiden. Wesentlich für einen postmodernen Text sind nach Petersen (2003) das Verweigern eindeutiger Bedeutungsproduktion und eine umfassende Sinndekonstruktion durch die Textstrukturen. 6 Zumindest motivgeschichtlich referiert E TERNAL S UNSHINE intertextuell hier auf Paul Verhoevens T OTAL R ECALL (USA 1990) mit Arnold Schwarzenegger als Doug Quaid. In der Diegese von T OTAL R ECALL ist es im Jahre 2084 üblich, sich unliebsame Erinnerungen durch die Firma “Recall Inc.” komplett austauschen zu lassen. Auch wenn die Plotstrukturen beider Filme völlig unterschiedlich sind, verbindet sie außerdem, dass sowohl E TERNAL S UNSHINE als auch T OTAL R ECALL ins Zentrum des Filmes die Suche ihrer männlichen Protagonisten nach ihrer Identität und dem Kern ihrer Person stellen. In beiden Filmen erweist sich schließlich auch, dass sich das als wahr gesetzte Ich, der eigentliche Personenkern, gegen alle maschinellen Manipulationen als resistent erweist und die eigene Vergangenheit und damit die Identität durch Erinnerung der maschinellen Fremdbestimmung von außen trotzen kann. 7 Hier lässt sich die nächste prominente intertextuelle Referenz von E TERNAL S UNSHINE auf einen populären Kinofilm festhalten, die zumindest als Allusion im Film implementiert ist. Die Rede ist von der französischen Sozialkomödie L A VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE (D AS L EBEN IST EIN LANGER RUHIGER F LUSS , Étienne Chatiliez, F 1987). Hier informiert die von Cathérine Hiegel gespielte Krankenschwester Josette aus Wut über ihren Chef Dr. Mavial, den von Daniel Gélin gespielten Arzt eines Provinzkrankenhauses, zwei Familien darüber, dass sie vor 12 Jahren zwei Säuglinge aus den unterschiedlichen Schichten Bildungsbürgertum und Proletariat kurz nach der Geburt vertauscht hat. Der Plot von D AS L EBEN … benutzt dieses Initialereignis, um zu verhandeln, ob genetische Veranlagung oder soziales Umfeld für die Prägung eines Menschen verantwortlich sind. Auch wenn die Plotstrukturen von E TERNAL S UNSHINE und D AS L EBEN … also keine größeren Gemeinsamkeiten aufweisen, referiert die Geschichte von Mary und Dr. Merzwiak jedoch implizit motivisch auf die von Josette und Dr. Mavial: Beide Ärzte sind nicht bereit für die Sprechstundenhilfe/ Krankenschwester, mit der sie eine Affäre gehabt haben, ihre Frauen zu verlassen (beziehungsweise im Falle von Mavial nach dem Tod seiner Frau Josette zu heiraten und seine verstorbene Ehefrau mental zu verlassen) und lösen damit die Enthüllungen der verlassenen Geliebten aus. Anhand der beiden motivgeschichtlichen Referenzen des Films E TERNAL Jan-Oliver Decker 174 S UNSHINE OF THE SPOTLESS MIND , beziehungsweise der Möglichkeit, die Plotstrukturen des Filmes in zwei Handlungssträngen auf T OTAL R ECALL und L A VIE EST UN LONG FLEUVE TRANQUILLE zu referenzialisieren, lässt sich ein spielerisches intertextuelles Prinzip des Filmes V ERGISSMEINNICHT erkennen. 8 Vgl. exemplarisch für deutsche und US-amerikanische Familienserien Wünsch/ Decker/ Krah (1996). 9 So verläuft eine Erinnerung während ihres Löschvorgang zwar linear in die Zukunft, mit dem Fortschreiten von Erinnerung und Löschvorgang werden aber sukzessive einzelne Elemente der Erinnerung aus dem Filmbild getilgt, bis die Erinnerung gänzlich gelöscht ist. 10 Ich benutze den Begriff ‘Spiegelung’ im Sinne von Fricke (2003) als Form der Potenzierung, das heißt der Reproduktion von Zeichen eines Textes auf einer anderen Zeichenebene des Textes. Christen (1994) weist allgemein nach, dass Selbstreflexivität und Spiegelung dominant ein Thema im europäischen (bes. französischen) Film der 60er Jahre darstellen. Die im Jahre 2004 von Gondry genutzten Verfahren sind also im Kino schon seit 40 Jahren bekannt. Kirchmanns (1994) Entkoppelung der Selbstreflexivität von den konkreten Filmstrukturen und sein Versuch, Selbstreflexivität im Film intentional als Reflexion über die Ästhetik der Moderne in Filmen zu definieren, halte ich aus semiotischer Sicht für unbrauchbar. 11 Vgl. zur Rolle solch sekundärer Semiotisierungen für intertextuelle Bildreferenzen Krah (1997). 12 Vgl. zum Begriff ‘Prolepse’ für eine Anachronie, bei der ein künftiges Ereignis vorwegnehemend erzählt wird, Martínez/ Scheffel (1999: 191), der wohl derzeit populärsten Vermittlung von Genette (1998 2 ). 13 Vgl. zum Begriff der ‘Erzählinstanz erster Stufe’ Genette (1998 2 : 249f.) und im Weiteren zu den Begriffen ‘extradiegetisch’ (für eine Erzählinstanz erster Stufe), ‘intradiegetisch’ (für eine Erzählinstanz zweiter Stufe), ‘heterodiegetisch’ (eine am erzählten Geschehen unbeteiligte Erzählinstanz) und ‘homodiegetisch’ (eine am erzählten Geschehen beteiligte Erzählinstanz) Martínez/ Scheffel (1999: 75-84). Vgl. zur Modifikation dieser Genetteschen Kategorien auch Decker (2006a). 14 Vgl. zum Begriff ‘Analepse’ für eine Anachronie, bei der ein früheres Ereignis nachreichend erzählt wird, Martínez/ Scheffel (1999: 186). 15 Vgl. zum Begriff ‘Metalepse’ Genette (19982: 167ff.) u. Martínez/ Scheffel (1999: 79, 100). Mit dem Begriff ‘Metalepse’ bezeichnet man im Genetteschen Sinne die Grenzüberschreitung zwischen Erzählen und Erzähltem. Bei einem solchen narrativen Kurzschluss wird die Grenze zwischen der Welt, in der erzählt wird, und der Welt, von der erzählt wird, aufgehoben. 16 Vgl. zum Begriff ‘autodiegetisch’ für eine Erzähler erster Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt, Martínez/ Scheffel (1999: 82) 17 Der Film folgt nämlich im Wesentlichen der Logik des Löschvorgangs, wie sie der Film entwickelt. Die Löschung Clementines und aller mit ihr verbundenen Ereignisse und Erinnerungen schreitet nämlich zeitlich rückwärts: Zuerst werden die zeitlich letzten Erinnerungen gelöscht, zuletzt die zeitlich ersten Erinnerungen. 18 Vgl. einführend zum Problem der Selbstreferenzialität, Selbstbezüglichkeit und Selbstreferenz und ihrer Funktionalisierung für eine in Texten manifest, implizite ästhetische Programmatik in den Künsten Krah (2005). Hier zeigt sich, dass Selbstreferenzialität in künstlerischen Texten oft für die Konzeption einer impliziten poetologischen Ebene genutzt wird. Vgl. zur Funktionalisierung von Selbstreferenzialität für die textuell manifeste, poetologische Reflexion der goethezeitlichen Gattung ‘Zyklus’ im Besonderen und ‘Lyrik’ im Allgemeinen sowie zur Thematisierung literarischen Wandels auch Decker (2005) am Beispiel von Heinrich Heines Nordsee-Zyklen im Buch der Lieder. 19 Vgl. allgemein zur Postmoderne Petersen (2003), vgl. speziell für das Erzählen als solches und die intermediale Verflechtung des literarischen und filmischen Erzählens Bisanz (1976). 20 Vgl. zur semiotischen Definition von ‘Stil’ Nöth (2000: 394-399). 21 Vgl. für die Filme David Lynchs Grimm (1998). 22 Vgl. im Bereich der Literatur auch die Bewertung von Süskinds Das Parfum als postmodern in Gumbrecht (2003: 140) und dagegen in Decker (2006b) den Nachweis der fehlenden strukturellen Merkmale der Postmoderne im Roman. 23 Im Verdacht habe ich die Horrorfilme seit Wes Cravens stilbildendem S CREAM (USA 1996), die das Horrorfilmgenre massiv durch Selbstreflexivität erneuert haben, aber ähnlich wie V ERGISSMEINNICHT eindeutige Botschaften vermitteln. Vgl. exemplarisch zu Gore Verbinskis T HE R ING (USA 2002) einen Vortrag von Eckhard Pabst am 13.12.2005 zum modernen Horrorfilm unter http: / / www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/ veranstaltungen/ ringvorlesungen/ filmklassiker.asp. 24 Vgl. Krah (1997), der semiotisch im Rahmen intertextueller Beziehungen fundiert, dass Referenzialisierungen auf textexternes kulturelles Wissen immer nur durch eine sekundäre Semiotisierung manifester Textdaten erfolgen können. Innovativer Stil - konservative Ideologie 175 25 Vgl. Jakobson (2005: 153). 26 Vgl. die Reformulierung Lotmans durch Titzmann (2003). 27 Vgl. Titzmanns (1991a) Definition von ‘Literatursystemen’, das heißt von quantitativ dominanten Strukturinvarianten eines Textkorpus in einer Kultur, als Grundlage einer textsemiotischen Literaturgeschichtsschreibung. Verzeichnis der Autoren Dr. Andreas Blödorn Bergische Universität Wuppertal Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften Allgemeine Literaturwissenschaft Gaußstraße 20 D-42097 Wuppertal bloedorn@uni-wuppertal.de Prof. Dr. Jan-Oliver Decker Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien Leibnizstraße 8 D-24118 Kiel jdecker@litwiss-ndl.uni-kiel.de Ingo Irsigler, M.A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien Leibnizstraße 8 D-24118 Kiel iirsigler@ndl-medien.uni-kiel.de Dr. Daniela Langer Universität Göttingen Seminar für deutsche Philologie Käte-Hamburger-Weg 3 D-37073 Göttingen Daniela.Langer@phil.uni-goettingen.de Dr. Martin Nies Universität Passau Neuere deutsche Literaturwissenschaft Innstraße 25 D-94032 Passau martin.nies@gmx.net Prof. Dr. Magdolna Orosz Eötvös-Loránd-Universität Lehrstuhl für deutschsprachige Literatur am Institut für Germanistik Ajtósi Dürer sor 19-21 H-1146 Budapest magdolna_orosz@web.de Dr. Madleen Podewski Universität Wuppertal Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften Germanistik: Neuere deutsche Literaturgeschichte Gaußstraße 20 D-42097 Wuppertal podewski@uni-wuppertal.de Prof. Dr. Wolfgang Struck Universität Erfurt Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft Nordhäuser Straße 63 (M1 / 508) D-99089 Erfurt wolfgang.struck@uni-erfurt.de K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 1-2 Gunter Narr Verlag Tübingen
