Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2007
303-4
Gunter Narr Verlag Tübingen An International Journal of Semiotics KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica Volume 30 · No. Jul./ Dec. 2007 Page 177 - 356 3 / 4 KODIKAS/ CODE · Ars Semeiotica 30 : 3 - 4 (2007) 177 - 356 Themenheft / Special Issue Kartographie des Verhüllten Brückenschläge zwischen Natur- und Kulturwissenschaften Cartography of the Disguised Bridging Science and Humanities Herausgegeben von / edited by Dieter D. Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch 016808 KODIKAS Code 3-4 (2007): 093707 KODIKAS Code 1-2 (2007) 11.03.2008 11: 02 Uhr Seite 1 An International Journal of Semiotics KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica Editors: Achim Eschbach Ernest W. B. Hess-Lüttich Jürgen Trabant KODIKAS/ CODE · Ars Semeiotica publishes articles, reviews, discussions, information, etc. on and about semiotics. Particular emphasis will be given to papers promoting research and discussion of semiotic subjects within the framework of sociohistorical processes. The journal promotes the interdisciplinary research characteristic of semiotics. Languages of publication are English, French, and German. Manuscripts should be sent in duplicate to either of the following addresses: Prof. Dr. Achim Eschbach Prof. Dr. Dr. Ernest W. B. Hess-Lüttich Prof. Dr. Jürgen Trabant Universität GH Essen Universität Bern Freie Universität Berlin Kommunikationswissenschaft Institut für Germanistik Romanisches Seminar Universitätsstraße 12 Länggass-Strasse 49 Habelschwerdter Allee 45 45117 Essen 3000 Bern 9 14195 Berlin Deutschland Schweiz Deutschland Manuscripts should be written according to the INSTRUCTIONS FOR AUTHORS (to be sent upon request) or the specifications of A MANUAL OF STYLE. Books will be reviewed as circumstances permit. No publication can be returned. Gunter Narr Verlag · P.O. Box 25 67 · D-72015 Tübingen Internet: http: / / www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Literaturwissenschaft Peter V. Zima Theorie des Subjekts Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne XIV, 454 Seiten, 19,90/ SFr 33,80 ISBN 978-3-8252-2176-8 Unterschiedlichste kulturelle und soziale Phänomene wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit dem Hinweis auf die Krise bzw. den Zerfall des Subjekts in Spätmoderne und Nachmoderne erklärt. In seinem Buch gibt Peter V. Zima einen Überblick über die wichtigsten theoretischen Positionen zum Thema Subjektivität und Identität, die solchen Erklärungen zugrunde liegen. Die interdisziplinär angelegte Studie stellt die Begriffsbildung und den Diskussionsstand in Philosophie, Psychologie, Soziologie und Literaturwissenschaft ausführlich dar. Aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Subjektivitätsproblematik in Moderne und Postmoderne (von Descartes und Kant bis Adorno und Lyotard) geht im letzten Kapitel der Entwurf einer dialogischen Subjektivität hervor, die zur Grundlage einer dialogischen Theorie wird. A. Francke Verlag Tübingen und Basel Postfach 2560 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 979711 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de 2., durchgesehene Auflage 2007, 016808 KODIKAS Code 3-4 (2007): 093707 KODIKAS Code 1-2 (2007) 11.03.2008 11: 02 Uhr Seite 2 KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 30 (2007) No. 3-4 Themenheft / Special Issue Kartographie des Verhüllten Brückenschläge zwischen Natur- und Kulturwissenschaften Cartography of the Disguised Bridging Science and Humanities Herausgegeben von / edited by Dieter D. Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch Dieter D. Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch Kartographie des Verhüllten - eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 I Sprache und Literatur, Kunst und Alltag Dagmar Schmauks (Berlin) Eine Typologie des Ver- und Enthüllens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Wilhelm Trampe (Osnabrück) Naturmetaphern: Enthüllung und Verhüllung zugleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern/ Stellenbosch) & Djouroukoro Diallo (Bamako, Mali) Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung Zeichen des Grußes - besonders im malischen Bambara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern/ Stellenbosch) & Hans-Christian Leiggener (Biel/ Bienne) “Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa” Kartosemiotische Aspekte audiovisueller Dialektkartographie. Zum elektronischen Sprachatlas der deutschen Schweiz (aSDS) . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Gesine Lenore Schiewer (Bern) Bausteine zu einer Emotionssemiotik. Zur Sprache des Gefühlsausdrucks in Kommunikation und affective computing . . . . 235 Inhalt 178 Klaus H. Kiefer (München) “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” Semiotik und Dialektik der Ver-/ Enthüllung bei Schiller, Fontane und Picasso . . . . . 259 Vessela Posner (Berlin) Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 II Urbanistik und Archäologie, Geo- und Umweltwissenschaften Uwe Vogt (Birkenwerder) Enthüllende Methoden in der Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Dieter D. Genske (Zürich) & Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern/ Stellenbosch) Raum - Zeit - Schichten Der Spreebogen im Zeichen des Eulerschen Schnittprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Dieter D. Genske (Zürich) & Susanne Hauser (Berlin) All objects could become garbage: Waste disguising civilisation . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Franz Tessensohn (Hannover) Der “verhüllte” Untergrund in der Geologie: Beispiel Antarktis . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Gerhard Rießbeck (Bad Windsheim) Der Blick des Forschers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Adressen der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Publication Schedule and Subscription Information The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 108,- (special price for private persons 72,-) plus postage. Single copy (double issue) 58,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2008 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: NagelSatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0171-0834 Kartographie des Verhüllten - eine Einführung Dieter D. Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch Wrapped objects make curious - for the wrapped object itself, but also for the wrapping. For a gift both belong together, although the cover and the interior can be seen independently from each other. The contributions in this volume talk about the semiotic dimensions of the visualisation of the primarily non-visible. They show the ways of wrapping and un-wrapping by nature and in nature from the viewpoint of each discipline - linguistic, natural and environmental sciences, arts, archeology and geology - in a transdisciplinary discourse. To underline this purpose, the contributions are arranged two by two. Verhülltes weckt Neugierde - auf das Verhüllte, aber auch auf die Hülle. Wie bei einem Geschenk gehört beides zusammen, auch wenn Umhüllendes und Verhülltes jeweils unabhängig voneinander betrachtet werden kann. Die folgenden Beiträge thematisieren die semiotischen Dimensionen der Visualisierung des vordergründig Nicht-Sichtbaren. Die Ver- und Ent-Hüllung des von der Natur und in der Natur Verhüllten wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt. Die Annäherung an das Thema geschieht aus dem Selbstverständnis der jeweiligen Disziplin - den Sprach-, Natur- und Umweltwissenschaften, der Kunst, der Archäologie und der Geologie - im fachübergreifenden Diskurs. Dazu wurden die Beiträge paarweise angeordnet. 1 Das Ver- und Enthüllte an sich Was nicht unmittelbar zutage tritt, das Verhüllte und Verborgene, enthüllt sich uns nur durch die Deutung von Zeichen. Zum in den Kultur- und Naturwissenschaften gleichermaßen aktuellen Thema der Verhüllung und Enthüllung versammelt dieses Themenheft Beiträge von Geologen und Germanisten, Linguisten und Stadtplanern, Archäologen und Künstlern, die ihre fachübergreifende lingua franca in der Semiotik zu finden hoffen. Ein Teil der Beiträge ging aus Referaten eines Workshops im Rahmen des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik in Frankfurt/ Oder 2005 zum Thema “Kartographie des Verhüllten” hervor, der nun dem Heft den Titel gibt. D AGMAR S CHMAUKS von der Arbeitstelle für Semiotik an der TU Berlin zitiert Schiller, der vor frevelhafter Neugierde warnt. Gilt das in unserer heute so aufgeklärten, internetbasierten Welt immer noch? Oder hat das Ver- und Enthüllen gerade durch die Aufklärung einen neuen Stellenwert bekommen? Wilhelm Trampe verweist auf das seit Ende der 1980er Jahre etablierte kognitivistische Paradigma in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften und die damit insbesondere Metaphern zugemessene Schlüsselfunktion. Während Dagmar Schmauks Hüllen, Verhülltes und den Akt des Enthüllens vor allem am Beispiel von Alltagsphänomenen thematisiert, geht Wilhelm Trampe auf den Sinn “dahinter” ein - Metaphern bzw. metaphorische Konzepte haben eine Schlüsselrolle bei der Kon- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dieter Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch 180 Abb. 1a: Gott zögert noch, die Erde zu enthüllen (Schmauks) Abb. 1b: Naturmetaphern (Trampe) struktion von Wirklichkeit. Wir wollen uns ein Bild machen, und sei es ein übertragenes. Und wir wollen “unser” Bild verifizieren - durch Betasten, Beschnuppern, Schütteln und letztlich Enthüllen, Öffnen. Das sind Urbedürfnisse, die jedes Kleinkind hat und die auch dann noch in uns schlummern, wenn wir älter werden. Dagmar Schmauks greift dieses latente Urbedürfnis auf, wenn sie die beiden Pole der absichtlichen Enthüllung, nämlich die widerrechtliche und die als Ereignis inszenierte legale Enthüllung anspricht. Aber auch Metaphern verhüllen oder enthüllen. W ILHELM T RAMPE (Osnabrück) zeigt an mehreren Beispielen, daß Metaphern keine Abbilder der Wirklichkeit sind. Als Medium des menschlichen Selbst- und Naturverständnisses erweisen sich Metaphern vielmehr als Vehikel spezifischer Beziehungs- und Bedeutungsstiftung im Umgang mit Natur. Er unterscheidet bei den Naturmetaphern zwischen anthropozentrischer und bio- oder ökozentrischer Perspektive und sieht die nicht-anthropozentrische Metaphorik als einen wichtigen Schritt hin zur Etablierung eines nachhaltigen Naturschutzes, der diese Bezeichnung auch verdient. 2 Das Verhüllte im Fremden und im Vertrauten Fremdes ist uns a priori verhüllt. Wir “enthüllen” es, indem wir uns mit ihm vertraut machen. Dann ist es uns nicht mehr fremd, auch wenn wir es nicht unbedingt in unseren Kulturkreis assimilieren müssen. Auf Reisen kommen wir u.U. mit uns fremden Kulturen in Kontakt, und begegnen einander im Ritual des Grußes als universaler Ausdrucksform höflichen Verhaltens. Im engeren Bezirk der heimischen Umgebung gewinnt die lokale Identität ihren Ausdruck im Dialekt, dessen historische Entwicklungsschichten vielen Sprechern kaum mehr bewußt sind. E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH (Bern/ Stellenbosch) und D JOUROUKORO D IALLO (Bamako, Mali) resümieren in ihrem Beitrag die anthropologische, semiotische und linguistische Forschungstradition der kulturübergreifenden Erforschung höflichen Grußverhaltens, werfen einen kurzen Blick auf interkulturelle Unterschiede bei Ritualen des Grüßens und untersuchen exemplarisch Routinen des Grüßens im malischen Bambara als Objekt interdiszi- Kartographie des Verhüllten - eine Einführung 181 Abb. 2b: Bambara in Mali (Hess-Lüttich & Diallo) Abb. 2a: Die mehrsprachige Schweiz (Hess-Lüttich & Leiggener) plinärer Höflichkeitsforschung. In einem knappen Fazit versuchen sie zugleich eine begriffs- und problemsystematische Synopsis. E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH (Bern/ Stellenbosch) und H ANS C HRISTIAN L EIGGENER (Biel/ Bienne) berichten sodann über ein Projekt digitaler Dialektkartographie zur Integration von mehreren Typen dialektologischer Daten in verschiedenen Codes. Dabei legen sie besonderes Gewicht auf die kartosemiotischen Fragen und technischen Probleme angemessener Datenrepräsentation in multimedialen Umgebungen zur interaktiven Nutzung. 3 Das Verhüllte in der Interaktion Kommunikationspartner sind über Zeichen, Sprache und Emotionen in der Lage, die Emotionen ihres Gegenübers zu erkennen. Erst durch diesen ständigen wechselseitigen Lernprozeß Dieter Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch 182 Abb. 3a: Einige Emotikons (von oben nach unten: lächelnd = Ur-Emotikon, Smiley; Person mit wirrem Haar; Person mit lockigem Haar; Engel; Person mit Brille; traurig; weinend; unsicher; sehr traurig, sauer (nach Sanderson 1997); 3b unten: Pure Verzweiflung (Posner) ist das friedfertige Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft möglich. Insbesondere der Ausdruck von Gefühlen nimmt in der zwischenmenschlichen Interaktion eine zentrale Stellung ein, sei es durch kaum wahrnehmbare Veränderungen in Mimik oder Positur, durch explizit ausgedrückte Freude, Wut oder Trauer oder in einem unkontrollierten Gefühlsausbruch. Die Interpretation von Emotionen setzt im Rezipienten also immer einen Prozeß in Gang, um den Hintergrund der Emotion - das vordergründig Nicht-Sichtbare - zu entschlüsseln. G ESINE L ENORE S CHIEWER (Bern) gibt eine synoptische Darstellung der verschiedenen Dimensionen von verbalen und non-verbalen Emotionsbekundungen auf Seiten des Senders, ihrer Rezeption auf Seiten des Empfängers und der sich daraus entwickelnden Kommunikation. Um die Kommunikation nicht nur von Sprache, sondern auch von Emotionen zwischen Mensch und Maschine zu ermöglichen, wäre es also notwendig, Signale und Zeichen zu entwickeln, die von beiden gleichermaßen erkannt werden können. Das emotional “Verhüllte” in der Kommunikation kann so “transparent” werden. Mit Verhüllung und Enthüllung hat auch der Beitrag von K LAUS H. K IEFER (LMU München) zu tun. Schillers Lied von der Glocke, Fontanes L’Adultera und Picassos Demoiselles d’Avignon enthüllen den weiblichen Körper, partiell oder ganz, indem die beiden Schriftsteller, wohl aus Dezenzgründen, das Faktum selbst nicht benennen. Anlaß der Entblößung ist bei Schiller die Defloration einer Braut bzw. bei Fontane der Ehebruch einer jungen Frau. Der Leser kann den “unaussprechlichen” Sachverhalt nur über andere Zeichensysteme erschließen. In Kleidung, Interieurs etc. bilden sich der stumme Körper und seine verschwiegene Sexualität zeichenhaft ab. Picassos “Demoiselles” enthüllen weniger den weiblichen Körper - Entblößung gehört ohnehin zu ihrem Gewerbe -, vielmehr arbeitet sich ihr Körper (“kubistisch”) aus der Leinwand heraus, und die sexuelle Handlung wird in den Blick des Zuschauers verlagert, den die “primitivistische” Maskerade in seinem Begehren demaskiert. Geht es bei Gesine Lenore Schiewer um Sprache und bei Klaus H. Kiefer um Literatur, so konzentriert sich die Künstlerin V ESSELA P OSNER (Berlin) in ihrer Einlage auf die Emotionen, die beim Betrachten von (ästhetischen) Objekten entstehen. Diese “stumme” Interaktion spielt sich im Wesentlichen im Betrachter selbst ab. Entgegen der gelernten Situation, in Kartographie des Verhüllten - eine Einführung 183 Abb. 4a: Der Kreisgraben von Goseck (Vogt) einem Museum Kunstwerke nicht zu berühren, wird der Betrachter in der vorgestellten multimedialen Installation ausdrücklich dazu animiert, das Objekt zu berühren. Aus dem Inhalt der betrachteten und zu berührenden Objekte erwachsen allerdings Wahrnehmungskonflikte, die einen komplexen Erfahrungsprozeß in Gang setzen, der das ästhetisch Mitgeteilte unvergeßlich macht. 4 Das Verhüllte im Laufe der Zeit Eine Landschaft verändert sich im Laufe eines Jahres und im Verlaufe von Jahren bis Jahrtausenden. Diese Veränderungen sind im Untergrund konserviert und können rekonstruiert werden. Die Archäologie nutzt diese Informationen aus dem Boden zur Rekonstruktion eines Teils unserer Vergangenheit. U WE V OGT (Birkenwerder) stellt an drei Beispielen die Arbeitsweise der Archäologen vor - die Feldbegehung, geophysikalische Prospektionsmethoden und die Ausgrabung. Diese drei Schritte führen im Idealfall zur Enthüllung des Verborgenen und erlauben es, die nicht schriftlich überlieferte Geschichte zu erforschen. D IETER D. G ENSKE (ETH Zürich) und E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH (Bern/ Stellenbosch) beschreiben eine “Enthüllung” in mehreren Dimensionen am Beispiel des Spreebogens in Berlin, in dessen Untergrund eine bewegte Geschichte dokumentiert ist. In diesem begrenzten Raum untersuchen sie die zeitlich aufeinander folgenden Schichten im räumlichen Zusammenhang. Das Beispiel des Spreebogens zeigt, wie vielschichtig sich eine raum-zeitliche Spurensuche gestalten kann. 5 Das Verhüllte in der Naturwissenschaft Sozial- und Naturwissenschaftler, in diesem Fall Umwelt- und Geowissenschaftler, sind primär daran interessiert, ihren Forschungsgegenstand so weit zu “enthüllen”, daß sie ihn (besser) erkennen und ggf. verstehen können. Geowissenschaftler müssen dazu ihrem Forschungsobjekt möglichst nahe kommen und sich dabei manchmal stadtsoziologisch oder klimatisch ungünstigen Gegebenheiten stellen. Der Beitrag von D IETER D. G ENSKE (ETH Zürich) und S USANNE H AUSER (HdK Berlin) geht auf eine Internetvorlesung zurück, die für das Open Semiotics Resource Center (Toronto) als Online-Vorlesung entwickelt wurde. Er thematisiert Abfälle und Brachflächen in ihrer semiotischen Dimension und assoziiert sie mit der zivilisatorischen Maskierung, der Verschüttung und Verdeckung kulturhistorischer Schichten, die erst durch die Interpretation von Zeichen vergangener Nutzung und Benutzung sichtbar werden. Dieter Genske, Ernest W.B. Hess-Lüttich & Monika Huch 184 Abb. 4b: Die Schweizerische Botschaft in Berlin (Huch für Genske & Hess-Lüttich) Kartographie des Verhüllten - eine Einführung 185 Abb. 5b: Forscher im Eis (Rießbeck) Abb. 5a: Bohren unterm Eis (Tessensohn) Für F RANZ T ESSENSOHN (Hannover) ist das Forschungsobjekt die Antarktis, die heute von einem mehrere Kilometer dicken Eispanzer “verhüllt” wird. Geologen und Geophysiker haben verschiedene Methoden entwickelt, um ihr Objekt auch in dieser unwirtlichen Region so gut wie möglich zu enthüllen. Auch wenn dazu alle zur Verfügung stehenden technischen Mittel eingesetzt werden, ist es der Wissenschaftler vor Ort, einzeln und im Team, der die “Enthüllung” steuert, überwacht und selbst vornimmt. In seinem Kopf kristallisiert sich ein aus vielen Einzelinformationen zusammengesetztes Bild heraus, das so vollständig wie möglich sein soll. Und auch wenn die Antarktis zu 98% von Eis bedeckt ist, wird das Puzzle des Kontinents unter dem Eis mit jeder Geländesaison Stück für Stück weiter enthüllt. G ERHARD R IE ß BECK (Bad Windsheim) hat als Maler solch eine Forschungsfahrt ins Nordpolarmeer mitgemacht und seine Eindrücke in mehreren Bilderzyklen festgehalten. Gerade die aus klimatischen Gründen notwendige “Verhüllung” der Forscher macht diese Gestalten für den Maler zu vieldeutigen Protagonisten. Für ihn sind die Verhüllung der Landschaft mit Eis und die Vermummung der Forscher Schutzmechanismen, Schutz gegen Vereinnahmung und Manipulation, aber auch Schutz vor der “Enthüllung” - und repräsentiert damit gegenüber der Neugier des Forschers das ‘Andere’, das wieder verhüllende ‘Gegenüber’ von enthüllender Wissenschaft. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Fax (07071) 979711 · E-Mail: info@attempto-verlag.de Gertrud Maria Rösch (Hrsg.) Codes, Geheimtext und Verschlüsselung 2005, 226 Seiten, 12 Abb., 34,90/ SFr 60,40 ISBN 978-3-89308-368-8 Techniken der Codierung bzw. der Verschlüsselung gehören zu den unerläßlichen Voraussetzungen der digitalen Kommunikation. Die technische Entwicklung im 20. Jahrhundert hat dazu geführt, daß Kryptographie als eine Einzelerscheinung verhandelt wird, während es sich historisch gesehen um eine elaborierte und weitverzweigte gesellschaftlichte Praxis handelte, deren Hauptformen Steganographie und Kryptographie von der Kabbala inspiriert sind. Folglich ist es an der Zeit, diese beiden Praktiken im historischen Kontext zu untersuchen. Die Beiträge des Bandes stellen die verloren gegangenen Zusammenhänge wieder her, indem sie u.a. die unterschiedlichen Verfahren der Codierung im Kontext der Freimaurerei, der Geschichte der Genetik, in der internationalen Diplomatie oder in Zeiten der Zensur vor Augen stellen. Daraus ergibt sich sowohl eine Phänomenologie der Verwie auch der Entschlüsselung wie auch die Antwort auf die Frage, was eine Gesellschaft zu welchem Zeitpunkt zum Arkanwissen erklärt und als solches tradiert. Untrennbar verbunden ist mit der Kryptographie die literarische Verschlüsselung, die in der Diskussion um Martin Walsers ‚Tod eines Kritikers‘ vehement aktuell wurde. Daher äußern sich in dem Band abschließend fünf AutorInnen zu dem immer spannungsreichen Verhältnis von Fiktionalität und Faktizität. Kulturwissenschaft Eine Typologie des Ver- und Enthüllens Dagmar Schmauks (Berlin) A “typology of wrapping and unwrapping” is performed in three steps. (1) A spectrum of wrappings ranging from natural protection organs (like skin) to intentionally established barriers against perception (like paper or cloth) is determined. (2) Motives and methods for the purposeful wrapping by the acting person are examined. In turn, the confrontation with the hindering barrier leads to the desire to conquer it. (3) The main strategies to recognize the wrapping are presented, e.g. to open the wrapping, non-visual tests (to touch, to listen), X-ray of the wrapped objects. With this results a true “mapping of the wrapped” is done. In addition, varieties of purposeful wrapping are described. Zunächst wird eine Typologie von Hüllen erarbeitet, deren Bandbreite von natürlichen Schutzorganen bis zu absichtlich errichteten Barrieren der Wahrnehmung reicht. Abschnitt 3 untersucht die senderseitigen Motive und Methoden des absichtlichen Verhüllens. Umgekehrt löst die Konfrontation mit hinderlichen Barrieren oft den Wunsch nach ihrer Überwindung aus. Abschnitt 4 stellt die wichtigsten Strategien zum Erkennen des Verhüllten vor, nämlich das Öffnen der Hülle, nicht-visuelle Prüfverfahren (Betasten, Behorchen) sowie das Durchleuchten des verhüllten Objekts. Sobald dessen Ergebnisse fixiert werden, liegt eine “Kartierung des Verhüllten” im eigentlichen Sinne vor. Der abschließende Abschnitt 5 untersucht Varianten der absichtlichen Enthüllung. 1 Einleitung Jeder kennt vorübergehend verhüllte Artefakte vom liebevoll verpackten Geschenk bis zu Christos verhülltem Reichstag. Aber auch natürliche Hüllen verwehren den Blick auf Darunterliegendes, so ist unser Skelett von Fleisch verhüllt und das Relief der Antarktis von einer Eisdecke. Die Untersuchung konzentriert sich auf Fälle, in denen die zu überwindende Hülle materieller Art ist. Ausgeklammert bleiben also metaphorische Erweiterungen der Ausdrücke “Hülle” und “Enthüllung”, etwa - jemand hüllt sich in Schweigen, - die Psychoanalyse enthüllt unbewußte (nämlich verdrängte) Antriebe, - die Sprachanalyse macht verborgene Bedeutungen sichtbar und - journalistische Recherchen decken Korruptionsaffären auf. Voranzuschicken ist ferner, daß die absichtliche Enthüllung von etwas Verhülltem durchaus kontrovers bewertet wird. Schiller etwa warnt gleich mehrfach vor frevelhafter Neugierde. In seinem Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais kommt ein neugieriger Jüngling zu den Isis- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 188 Priestern, die ein verhülltes Bild der Wahrheit hüten. Trotz aller Warnungen lüftet er den Schleier, sieht die Wahrheit und geht daran zugrunde: Was er allda gesehen und erfahren, Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig War seines Lebens Heiterkeit dahin, Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe. In Schillers Ballade Der Taucher wirft ein König seinen goldenen Becher in die “heulende Tiefe” eines Meeresstrudels und provoziert seine Untertanen, ihn wieder herauszuholen. Ein Knappe besteht diese Probe mit äußerster Mühe und erzählt vom Grauen der Tiefe: […] Es freue sich, Wer da atmet im rosigten Licht! Da unten aber ist’s fürchterlich, Und der Mensch versuche die Götter nicht Und begehre nimmer und nimmer zu schauen, Was sie gnädig bedeckten mit Nacht und Grauen. Der König jedoch möchte mehr über die menschenferne Tiefsee erfahren, setzt seine Tochter als Preis aus und schleudert den Becher ein zweites Mal ins Meer. Der verliebte Jüngling wagt zwar wieder als Einziger den Tauchgang, bleibt aber verschollen. Auch der Mythos von Pandora plädiert für das Respektieren von Geheimnissen. Pandora wurde von den Göttern zu den Menschen geschickt, um diese für den Raub des Feuers zu strafen. Sie trägt eine versiegelte Büchse bei sich, die alle Krankheiten und Plagen der Menschheit enthält. Entgegen der göttlichen Warnungen öffnet sie neugierig die Büchse und die Plagen entweichen. Entsetzt versucht sie die Büchse wieder zu schließen, ist aber zu langsam - zurück bleibt nur die Hoffnung, die die Götter unter all die Übel gelegt hatten. 2 Arten von Hüllen Eine naheliegende erste Unterscheidung ist die von natürlichen und künstlichen Hüllen. Menschen haben als natürliche “Hülle” ihre Haut, im Tierreich finden wir vielgestaltige Varianten: trockene und schleimige Häute, seidiges und borstiges Fell, Schuppen und Federn, Panzer und Schalen. Bäume haben Borken oder Rinden, und Früchte werden von Schalen, Hülsen oder Schoten geschützt. Auch Organe und Zellen als kleinere Einheiten des Lebendigen sind von Häuten umhüllt. Die Häute von Lebewesen sind eigenständige Organe, die gegenläufige Aufgaben erfüllen: als Grenzorgane bilden sie eine (durchlässige) Barriere zwischen Lebewesen und Umwelt, als Kontaktorgane bewirken sie körperliche Nähe mit den beiden Polen Liebe und Kampf. Sie wachsen mit, heilen nach Verletzungen wieder, leisten einen Temperaturausgleich und schützen vor schädlichen Umwelteinflüssen. In der unbelebten Natur finden wir statt Häuten nur Schichten. Beim Schalenaufbau der Erde etwa folgt auf das flüssige Erdinnere die erstarrte Erdkruste, umhüllt von Atmosphäre und Ionosphäre. Viele Verhüllungen erfolgen durch künstliche Hüllen wie Kleidung oder Verpackungsfolien. Aber auch natürliche Hüllen verdecken oft etwas Darunterliegendes, so daß dessen Wahrnehmung nur durch besondere Methoden möglich ist (siehe Abschnitt 4). Beispiele sind - die Erdoberfläche wird von Sand (Wüste) oder Vegetation verhüllt - das Relief des Meeresbodens wird vom Wasser verhüllt Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 189 - das Relief der Antarktis wird von einer Eisdecke verhüllt - Bodenschätze werden durch darüber lagernde Schichten verhüllt - Tumore und andere pathologische Strukturen werden von Bindegewebe verhüllt Eine interessante Verschränkung natürlicher und künstlicher Hüllen sind historisch frühe Gefäße aus Fruchtschalen oder Tierschädeln. Hinzu kamen immer mehr künstliche Hüllen, die Objekte beim Transport schützen (Brillenetui, Plastiktüte) oder ihrer Aufbewahrung dienen (Schatulle, Kleiderschrank). Wenn man Wände als die “Häute von Häusern” bezeichnet, ist dies zunächst nur eine metaphorische Redeweise. Sie erhält jedoch reale Bedeutung, sobald eine bionisch inspirierte Architektur geschmeidige Hauswände schafft, die auch die Temperatur des Inneren regulieren. Ein semiotisch interessanter Sonderfall sind Kuttelwürste. Denn während andere “Hüllen” von Lebensmitteln entweder natürliche Hüllen sind (Orangenschalen), bei der Zubereitung von selbst entstehen (Brotkruste) oder vom Inhalt substantiell verschieden sind (künstliche Wursthaut), liegt hier ein “rekursiver Fall” vor: die Hülle der Kuttelwurst und ihr Inneres sind materialidentisch und nur strukturell verschieden (zusammenhängender vs. geschnittener Darm). 3 Motive und Methoden des Verhüllens Die komplementären Verben “verhüllen” und “enthüllen” bezeichnen das absichtliche Errichten bzw. Überwinden von Wahrnehmungsbarrieren. “Verhüllen” ist darum abzugrenzen von verwandten Verben wie “verdecken” und “abdecken”, die Handlungen mit anderer Zielsetzung beschreiben. So ist es nicht notwendigerweise beabsichtigt, daß ein herumliegendes Buch ein anderes verdeckt, und reine Schutzmaßnahmen wie das Abdecken von Teppichen beim Tapezieren machen diese nur als Nebeneffekt “unsichtbar”. Weitere Schutzhüllen sind Pflaster und Verbände, Panzer und Rüstungen. Typische Verhüllungen sind demgegenüber alle Kleidungsstücke, die Berührungen und Blicke verhindern. Multifunktionalität ist jeweils der Normalfall, denn Kleidung hat viele weitere Aufgaben: sie schützt gegen Kälte oder Hitze, sie schmückt und kodiert manchmal den sozialen Rang. 3.1 Hüllen als Wahrnehmungsbarrieren Die Wahrnehmung von Objekten kann durch Barrieren be- oder verhindert werden (vgl. Schmauks 1998 und 2002: 14ff). Kultursemiotisch besonders interessant sind künstliche Barrieren, weil hier gegenläufige Interessen dazu motivieren, sie zu errichten oder zu überwinden. Zahlreiche Barrieren schützen Territorien vor unerwünschten Einflüssen: Fensterläden vereiteln neugierige Einblicke, Wohnungstüren verhindern unerwünschten Zutritt, und hinreichend massive Wände schützen vor Lärmbelästigung. Umgekehrt wollen manche Personen solche Barrieren gezielt überwinden: sie bohren Löcher in die Fensterläden, um andere zu beobachten, brechen Türen auf, um sie zu bestehlen, und belauschen sie mit Hörhilfen durch die Wände hindurch. Der Zusammenstoß gegensätzlicher Interessen führt oft zu einer “Rüstungsspirale”, in der beide Seiten immer ausgefeiltere Strategien und Geräte einsetzen. Die einzelnen Sinnesmodalitäten können in unterschiedlichem Ausmaß ausgeblendet werden. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf Tasten und Sehen, die beim Ver- und Dagmar Schmauks 190 Enthüllen am wichtigsten sind. Nicht eigens behandelt werden die Materialeigenschaften der Hülle. So versteht es sich von selbst, daß nur geschmeidige Folien sich zum flächendeckenden Umhüllen unregelmäßig geformter Objekte eignen. 3.2 Tastbarrieren Durchsichtige Folien über Fleisch und empfindlichen Früchten verhindern eine haptische Prüfung der Ware, gestatten aber eine visuelle Prüfung zumindest der “Schauseite” (zur Terminologie: “haptisch” bezeichnet nur die Eindrücke des aktiven Ertastens, der Oberbegriff “taktil” hingegen alle Eindrücke des Hautsinns, also auch solche beim passiven Berührtwerden). Ihr Motiv sind gestiegene Hygieneanforderungen, die das früher und in anderen Kulturkreisen übliche Betasten von Lebensmitteln verpönt machten, wie das abwertende Verb “betatschen” klarstellt. Ohne haptische Prüfung der Konsistenz und Frische von Lebensmitteln stellt der Kunde jedoch oft erst zu Hause fest, daß das Bratenstück sehnig ist oder die Gurke bereits faule Stellen hat. Wie stark unser Bedürfnis nach Tasteindrücken ist, belegen die Bestrebungen der Informatik, den Tastsinn durch spezielle Geräte (Datenhandschuh, Datenanzug) in die Mensch-Maschine-Interaktion und in die multimodale Telekommunikation (Schlagwort “Cybersex”) einzubeziehen. Wenn unempfindliche aber sehr kleine Objekte wie die Aufsätze von Bohrmaschinen in Blisterpackungen eingeschweißt werden, soll dies vor allem den Ladendiebstahl erschweren. Glasvitrinen in Kirchen und Museen erlauben ein Betrachten der enthaltenen Objekte und schützen diese zugleich vor (profaner) Berührung und Beschädigung, sowie vor Einstauben und Verwitterung. 3.3 Sichtbarrieren Im umgekehrten Fall ist die Hülle für das alltägliche Sehvermögen undurchsichtig, erlaubt aber eventuell ein Betasten des Inhalts. “Verhüllt” ist also nicht synonym mit “unsichtbar”, denn es ist nicht alles Verhüllte unsichtbar (etwa folienumhüllte Lebensmittel, vgl. Abschnitt 3.2) und umgekehrt nicht alles Unsichtbare verhüllt. So sind Spuren von abgewaschenem Blut an einem Tatort nicht verhüllt, werden aber erst durch Kontakt mit bestimmten Chemikalien sichtbar gemacht. Verhüllt werden vor allem folgende Objekttypen: - der menschliche Körper, insbesondere das Gesicht, - private Räume, Orte und Nachrichten sowie - Kunstwerke und sakrale Objekte zu besonderen Gelegenheiten. Das primäre Objekt aller Verhüllungsstrategien ist der menschliche Körper. Jede Kultur und jede Epoche legt fest, welche Körperteile (ständig oder in besonderen Kontexten) sichtbar sein dürfen und welche fremden Blicken entzogen werden sollen oder müssen. Diese Regulierung von Sichtbarkeit erfolgt meist in geschlechtsspezifischer Weise (vgl. Duerr 1988-1997, vor allem den ersten Band “Nacktheit und Scham”). Wenn man nackte Personen überrascht, bedecken sie tabuisierte Körperteile mit den Händen - man denke an die typische Geste der Venus pudica. In multikulturellen Gesellschaften gibt es zahlreiche hochspezialisierte Kleidungsstücke von “züchtig verhüllend” bis “aufreizend”. An einem Pol liegt etwa der Tschador, am anderen die Vielfalt verlockender Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 191 Dessous. Adjektive wie “blickdicht” vs. “transparent” beschreiben jedoch nur einen Aspekt der Sichtbarriere. Hinzu kommt die “Figurbetontheit”, denn eine zwar blickdichte aber eng anliegende Hülle (etwa aus Plastik oder Gummi) läßt sich gezielt als Blickfang einsetzen. Ferner werden die statischen Aspekte von Kleidung natürlich immer durch Umgangsweisen modifiziert. Gerade wegen des Kontrastes gehören “keusche Gewänder” wie das Nonnenhabit und die Krankenschwestern-Uniform oft zum Rollenspiel-Fundus von Prostituierten. Enthüllungstabus bzgl. bestimmter Körperteile gelten analog auch für deren Abbildungen. Da sie “private parts” verhüllen und von einem nachgeschalteten Zensor stammen, haben die sprichwörtlichen Feigenblätter christlich entschärfter Gemälde dieselbe Funktion wie die schwarzen Balken auf Filmplakaten der 1960er Jahre. Sogar das Bett als intimer Ort bedarf im bürgerlichen Kontext einer Verhüllung, wobei der Terminus “Tagesdecke” auch sprachlich die Phantasie ihres Betrachters von der Nacht weglenkt. Viele Tiere entgehen ihren Feinden aufgrund ihrer Tarnfärbung. Daß entsprechende Wünsche auch beim Menschen vorhanden sind, belegen die vielen Märchen über Tarnkappen und über Zaubertränke, die unsichtbar machen. Eine bescheidene Realisierung ist die militärische Tarnkleidung, deren (durch den Jaguar inspiriertes) Fleckenmuster mit dem Hintergrund verschwimmt. Diese Kleidung soll also nicht bestimmte peinliche Körperteile, sondern das Vorhandensein der ganzen Person verbergen. Das Gesicht ist ein besonders informativer Zeichenkomplex und wird deswegen häufig ganz oder teilweise bedeckt. Weil die Gesichtszüge eine Identifikation der Person erlauben, tragen sowohl Karnevalsteilnehmer (vgl. Abschnitt 5.2) als auch Geiselnehmer eine Maske. Im Mittelalter mußten verurteilte Personen sog. “Schandmasken” tragen, deren Gestaltung auf das begangene Delikt hinwies. Wer sich etwa durch Trunksucht und Zotenreißen “wie ein Schwein” benommen hatte, wurde mit einer Schweinemaske an den Pranger gestellt. In anderen Situationen soll die Mimik ausgeblendet werden, weil sie die Stimmung verrät. Wer Trauer im wörtlichen Sinn “verschleiern” will, “verhüllt sein Haupt”. Eine besonders rätselhafte Gesichtsverhüllung beschreibt Hawthorne (1836) in seiner Erzählung “Des Pfarrers schwarzer Schleier”. Ohne erkennbaren Anlaß und ohne Begründung verhüllt der Titelheld eines Tages sein Gesicht mit einem schwarzen Tuch, wird in Zukunft von allen Menschen gemieden und nimmt den Schleier und dessen Geheimnis mit ins Grab. Auch der Gesichtsausdruck einer Theatermaske kann betont “nichtssagend” oder stark konventionalisiert sein (Komödie, Tragödie). Auch hochwertige Puppen und Plüschtiere haben eine betont neutrale Mimik, damit das Kind seine augenblickliche Stimmung in sie hineinprojizieren kann. Das Auge kann (im Unterschied vor allem zum Ohr) bei seiner Wahrnehmungstätigkeit beobachtet werden und informiert über die Aufmerksamkeit, Anteilnahme usw. des Sehenden. Eine verspiegelte Sonnenbrille, die das Blickverhalten verdeckt, bewirkt daher eine asymmetrische Gesprächssituation, die den meisten Menschen unbehaglich ist. Der menschliche Körper bleibt auch nach dem Tod ein Objekt, dessen Betrachtung kulturell reglementiert wird. Eine Aufbahrung findet nur an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten statt, und vor dem Begräbnis wird der Leichnam durch ein Leintuch oder durch einen Sarg fremden Blicken entzogen. Ein ganz anderes Motiv zum Verhüllen von Körperteilen ist die Vermeidung von Ablenkung. So werden bei einer Operation nicht betroffene Körperteile verdeckt, damit sich der Chirurg besser konzentrieren kann. Auch private Räume als nächstgrößere “Körperhülle” werden vor fremden Blicken geschützt. Mauern und Jalousien schirmen Einblicke vollständig ab, Wandschirme machen Dagmar Schmauks 192 zumindest eine Zimmerecke zum Privatraum. Auch hier gibt es wieder asymmetrische Sichtverhältnisse, denn Einwegscheiben und spezielle Vorhänge erlauben zwar einen Blick nach draußen, aber keinen von außen hinein. In allen Fällen geht es darum, den Unterschied von Innen und Außen zu zelebrieren und um das scheinbar paradoxe Ziel, Abgeschlossenheit zur Schau zu stellen. Manche Sichtbarrieren sind offensichtlich wie Briefumschläge, raffiniertere Varianten hingegen sind gar nicht als solche erkennbar (ähnlich wie Tarnkleidung, s.o.). Scheinbare Vorgartensteine verstecken den Ersatzschlüssel, scheinbare Buchrücken die Hausbar. Tarnschuber verwandeln pornographische Bücher in unbedenkliche, wobei möglichst langweilige Titel sicherstellen, daß niemand darin schmökert. Das Militär beschäftigt Camouflage-Fachleute, die Bunker wie Erdhügel und Hangars wie Scheunen aussehen lassen. Es überrascht nicht, daß ganz ähnliche Tarnungen auch in virtuellen Welten vorkommen. Wer während seiner Arbeitszeit in peinlichen Regionen des Internets surft, kann beim Auftauchen eines Vorgesetzten durch nur einen Tastendruck den aktuellen Bildschirminhalt durch einen arbeitsbezogenen “überlagern” (wobei die suggerierte räumliche Schichtung natürlich nur eine Metapher ist). Ein weiterer Typ von Sichtbarrieren wird in den Kontexten von Kunst und Ritual eingesetzt. So werden Denkmale und andere Kunstwerke gegenüber “vorzeitigen” Blicken abgeschirmt, bleiben also während ihrer Herstellung verhüllt. Diese Vorgehensweise steigert die Neugier auf die feierliche Enthüllung des fertigen Werkes (siehe Abschnitt 5.2). Ferner ähnelt das Enthüllen eines Kunstwerks der letzten Phase einer Geburt, bei der etwas Neues “augenblicklich” sichtbar wird. Ganz ähnlich kann man Objekte, die man ständig sieht, zeitweise verhüllen und damit die bereits “automatisch” gewordene Wahrnehmung unterlaufen. Hierher gehört die jährliche Kreuzverhüllung in der Karwoche als “Fasten der Augen” ebenso wie Christos Verhüllter Reichstag (Berlin 1995). Als letztes Beispiel sei die Kunstlegende vom Wettstreit zwischen zwei antiken Malern erwähnt (Möller 2000: 173). Zeuxis hatte Weintrauben so täuschend echt gemalt, daß Vögel an ihnen pickten. Das Bild von Parrhasios hingegen schien von einem leinenen Vorhang verhüllt zu sein - doch dann erwies sich auch dieser als “nur gemalt” und Parrhasios hatte gewonnen. 4 Strategien zum Erkennen des Verhüllten Dieser Abschnitt stellt die Methoden vor, mit denen man Barrieren zu überwinden trachtet, um das von ihnen Verhüllte zu erkennen, nämlich das Öffnen der Hülle (4.1), nicht-visuelle Prüfverfahren (4.2) sowie das Durchleuchten des Objekts (4.3). Dem absichtlichen Enthüllen ist der anschließende Abschnitt 5 gewidmet. 4.1 Das Öffnen der Hülle Die radikalste Strategie zum Erkennen des Verhüllten ist das Öffnen der Hülle, das nicht immer möglich und nicht immer reversibel ist. Irreversibel ist etwa das Abtragen von Schichten - beim Ausgraben archäologischen Fundstätten und bei anatomischen Sektionen kann der ursprüngliche Zustand niemals wiederhergestellt werden. Die in Abschnitt 2 skizzierten Häute von Tieren verhalten sich je nach Tierart bei Eingriffen ins Körperinnere ganz unterschiedlich. Während Hummer und Muscheln sterben, Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 193 wenn man ihre Hülle (also das Außenskelett) öffnet, haben Säugetiere eine geschmeidige Haut, die nach Verletzungen oder chirurgischen Eingriffen wieder heilt. Es bleiben allerdings Narben, die das Geöffnet-Worden-Sein dokumentieren. Das Abziehen der gesamten Haut ist natürlich tödlich; diese “Schindung” wurde früher als besonders qualvolle Tötungsart verwendet. In einer antiken Legende wird der Quelldämon Marsyas von Apoll geschunden, weil er diesen herausgefordert hat, im Christentum erleidet der Heilige Bartholomäus dasselbe Schicksal. Wenn Artefakte eigens als Barrieren geschaffen wurden, hinterläßt ihr unbefugtes Öffnen und Wiederverschließen in der Regel Spuren, die ihren Besitzer über diese Territorialverletzung informieren. Beispiele sind Klebstoffspuren auf Briefumschlägen oder Kratzspuren an Türschlössern. Ein Grenzfall sind unauffällige voyeuristische Einblicke durch partielle Überwindung der Barriere (Loch in Jalousie) oder indirekte Methoden (mit Spiegeln unter Frauenröcke spähen). Das reversible und spurenlose Öffnen von Objekten setzt eine “eingebaute” Möglichkeit zum Öffnen voraus. Beispiele sind Transportcontainer (Koffer, Taschen), Aufbewahrungscontainer (Schränke, Schubladen) und Kleidungsstücke (Knöpfe, Reißverschlüsse). 4.2 Nicht-visuelle Prüfverfahren Bei undurchsichtigen Hüllen liegt es nahe, zum Erkennen des Inhalts andere Sinnesmodalitäten als das Sehen einzusetzen. Das Belecken scheidet aus, denn es informiert eher über die Hülle als über den Inhalt und gilt darüber hinaus als unhygienisch. Das Beschnuppern verhüllter Objekte ist zwar nicht tabuisiert, aber nur selten zielführend. Nur selbst duftende Objekte wie Seifenstücke oder Früchte können durch ihre Verpackung hindurch erkannt werden. Wesentlich aussagekräftiger sind die im folgenden skizzierten haptischen und akustischen Prüfverfahren. 4.2.1 Das Betasten des verhüllten Objekts Eine wichtige Strategie zum Erkennen des Verhüllten sind haptische Prüfprozeduren ohne Fixierung des Resultats. Wenn man dabei entsprechend behutsam vorgeht, schaden sie weder dem verhüllten Objekt noch seiner Hülle. Das Tasten durch Barrieren hindurch ist somit ein Analogon der visuellen Transparenz. Tabuisiert ist jedoch das nicht-einverständliche Betasten anderer Körper durch die Kleidung hindurch. Wie beim Enthüllen (Abschnitt 5) gibt es auch hier die komplexe Strategie, ein absichtliches Betasten als versehentlich hinzustellen. So kommt es im Gedränge der U-Bahn vor, daß (Männer! -)Hände dort auf Forschungsreise gehen, wo sie aus Sicht sozialer Normen nichts zu suchen haben. Ein weiteres Beispiel aus dem Alltag ist das Befingern verpackter Geschenke bereits vor der Bescherung. Wesentlich systematischer ist die Selbst- oder Fremduntersuchung bei der Krebsvorsorge, um hautnahe Tumore etwa in Brust oder Hoden zu entdecken. Erst wenn hierbei Verdachtsmomente auftreten, ordnet der Arzt eine Durchleuchtung der betreffenden Körperteile an (vgl. Abschnitt 4.3). Einige frühere Theorien zum Erkenntnispotential des Betastens werden heute nicht mehr akzeptiert. So nahm die Phrenologie (etwa Franz Josef Gall, 1758-1828) an, daß die verschiedenen “Seelenvermögen” wie Elternliebe und Gottesfurcht in verschiedenen Teilen des Gehirns lokalisiert sind, deren Größe sich durch Betasten der äußeren Schädelhöcker feststellen läßt. Weitaus nüchterner setzt die heutige Wissenschaft kognitive Funktionen wie Dagmar Schmauks 194 Sprachverstehen oder Gedächtnis mit bestimmten Gehirnarealen in Beziehung, wohingegen die Vorstellung einer Beziehung zwischen Schädelhöckern und Charaktereigenschaften ganz aufgegeben wurde (nur der Volksmund spricht noch von einem “musikalischen Hinterkopf”). 4.2.2 Das Behorchen des verhüllten Objekts Auch das Gehör trägt entscheidend dazu bei, nicht sichtbare Objekte zu erkunden - insbesondere, wenn diese von sich aus Geräusche erzeugen wie ein aufgezogener Wecker oder ein lebendes Tier. “Stumme” Objekte versuchen wir zu erkennen, indem wir das sie umhüllende Paket vorsichtig schütteln. Eine ähnliche Methode ist das Erzeugen und Ausnutzen von Reflexionsschall. In der Dunkelheit gewinnen wir Information über die Größe und Struktur von Innenräumen durch den Widerhall nach einem Schnalzen oder Händeklatschen, wobei Blinde bei dieser Aufgabe weitaus geübter sind als Sehende. In der Medizin ergänzt das Horchen ins Körperinnere den Sicht- und Tastbefund; auch der Laie hört etwa den Herzschlag eines Fötus mit “bloßem Ohr”. Die Wahrnehmung solcher Schallphänomene wurde wesentlich verfeinert, seit Théophile Laennec 1819 erstmals ein Hörrohr (Stethoskop) einsetzte. Thomas Mann stellt in seinem Roman Der Zauberberg einprägsam dar, wie Hofrat Behrens den Brustkorb seiner tuberkulösen Patienten von vorne und hinten systematisch beklopft (sog. “Auskultation”), um anhand dumpferer Geräusche alte Vernarbungen und frische feuchte Stellen der Lunge zu entdecken (Mann 1967: 188ff). Die Lokalisierung wird noch genauer, wenn die Patienten vertieft atmen oder absichtlich husten. 4.3 Das Durchleuchten des verhüllten Objekts Auch das Durchleuchten eines verhüllten Objekts erlaubt dessen zerstörungsfreie Prüfung. Heute steht eine breite Palette von Methoden zur Verfügung (4.3.1). Sobald deren Ergebnisse fixiert werden, liegt eine “Kartierung des Verhüllten” im eigentlichen Sinne vor (4.3.2). 4.3.1 Methoden des Durchleuchtens Die einfachste visuelle Methode ist das einmalige Durchleuchten des Objekts ohne Fixierung des Resultats. Das bekannteste Beispiel sind die bildgebenden Verfahren in der Medizin, die heute alle Körperstrukturen erfassen. In der Diagnostik besteht ihr Ziel darin, Fremdkörper, Verletzungen und Tumore zu entdecken, in der medizinischen Grundlagenforschung sollen sie das Wissen über Struktur und Funktion des Körpers erweitern. Jahrtausendelang war der ärztliche Blick auf die Oberfläche des Körpers und seine Ausscheidungen beschränkt. Erst allmählich entstand durch die Beobachtung großer Verletzungen und durch Analogieschlüsse bei Tierschlachtungen ein Wissen über den inneren Aufbau des Körpers, das ab der Renaissance durch systematische Sektionen erweitert wurde. Diese setzen ein Krankheitskonzept voraus, das die Ursache der Krankheit im Körper lokalisiert. Ferner darf das Zerschneiden der Leiche nicht tabuisiert sein. Der Blick ins Innere des lebenden Menschen wurde erst möglich, als Konrad Röntgen 1895 eine neue Strahlenart entdeckte. Sie wurde später nach ihm benannt (“Röntgenstrahlen”), ferner ist “röntgen” eines der wenigen eponymischen Verben des Deutschen (siehe Moskopp 1995). Diese Einblicksmöglichkeit ist “nicht-invasiv”, erfordert also keine Öffnung des Körpers durch Stiche oder Schnitte. Folglich bleiben auch keine Narben zurück. Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 195 Allerdings stellte man später fest, daß zu häufige Röntgenaufnahmen bzw. zu hohe Strahlendosen schädlich sind. Im Hinblick auf “Enthüllung” allgemein ist interessant, daß schon bald nach Entdeckung der Röntgenstrahlen zahlreiche Werbeanzeigen für “Röntgenbrillen” auftauchten, die versprachen, daß man (Mann) durch die Kleidung (von Frauen) sehen könne. Mit ähnlicher Absicht zeigt eine humoristische Postkarte vom Beginn des 20. Jahrhunderts ein “Strandidyll à la Röntgen”, auf dem alle Kleidungsstücke durchscheinend sind, so daß die Körper mit den Knochen sichtbar werden. Hinzuzufügen ist, daß diese Darstellung selbst wieder euphemistisch ist, denn der voyeuristische Blick will keineswegs das (wenig verlockende und auch für Laien kaum geschlechtsspezifische) Skelett sehen, sondern das sonst von Kleidern verhüllte nackte Fleisch. In seinem Roman Der Zauberberg formuliert Thomas Mann den Gedanken, daß Röntgenaufnahmen die Verwesung vorwegnehmen, also einen Blick in die eigene posthume Zukunft erlauben. Im Kapitel “Mein Gott, ich sehe” legte Hans Castorp seine Hand auf den Leuchtschirm des Röntgenapparates und “sah, was […] eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist […]: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichts, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu milchigem Nebel gelöst, […] und zum ersten Mal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde” (Mann 1967: 232f). Im 20. Jahrhundert sind zahlreiche weitere bildgebende Verfahren wie Ultraschall, Computertomographie und Kernspintomographie hinzugekommen. Während beim klassischen Röntgen der Körper nur in einer Ebene durchleuchtet wird, bilden diese Verfahren den Körper “schichtweise” ab. Die so entstandenen Bilder werden von einem Computer zu einem (virtuell dreidimensionalen) Bild zusammengesetzt. Der Arzt kann sich dann die erfaßten Körperteile aus beliebigen Blickwinkeln zeigen lassen und den aktuellen Befund mit früheren Schichtbildern vergleichen. Alle diese Methoden sind zerstörungsfrei, sie lassen also das betreffende Organ ebenso wie seine Deckschichten unbeschädigt. Auch außerhalb medizinischer Kontexte werden Objekte mit denselben Methoden durchleuchtet. In den 1950er Jahre standen in US-amerikanischen Schuhgeschäften einfache Röntgenapparate, die zeigen sollten, ob ein Schuh groß genug ist. Hühnereier werden durchleuchtet, um die Höhe der Luftkammer zu prüfen, die das Alter des Eis angibt. Ferner dürfen keine Blutgerinnsel oder andere Einlagerungen sichtbar sein. Zum Schutz vor Terroranschlägen durch Bomben usw. wird Fluggepäck standardmäßig und Postgut im Verdachtsfall durchleuchtet. Das ständige Durchleuchten von Objekten ist des hohen Aufwands wegen ungebräuchlich. In einem eher metaphorischen Sinn zählt hierher ein spezifisch christliches Kindheitstrauma, nämlich der Blick des allsehenden Gottes, der auch die Bettdecke durchdringt: Ein Auge gibt’s, das alles sieht, auch was in finst’rer Nacht geschieht! 4.3.2 Die “Kartierung des Verhüllten” Sobald die Resultate einer haptischen, akustischen oder visuellen Erkundung fixiert werden, liegt eine “Kartierung des Verhüllten” im engeren Sinne vor. So entstehen bei allen in Abschnitt 4.3.1 genannten bildgebenden Verfahren der Medizin Aufnahmen, die den Befund dokumentieren und den Krankenakten beigefügt werden. Dagmar Schmauks 196 Eine der wichtigsten praktischen Aufgaben der Geologie ist die Enthüllung des Untergrundes, um das Relief unter Wüsten und Eisdecken sowie den Meeresboden kartierbar zu machen. Hinzu kommt das Aufspüren der Lagerstätten von Bodenschätzen und das Erhellen von tieferliegenden Strukturen, um Erdbeben besser vorhersagen zu können. Wo Bohrungen unmöglich sind, werden die Schichten mit Radar, künstlichen Erdbebenwellen (Seismik) usw. “durchleuchtet” (siehe den Beitrag von Tessensohn). Die Kartierung von Höhlen ist ähnlich anspruchsvoll, da ihre dreidimensionale Struktur durch Quer- und Längsschnitte nur unzureichend darstellbar ist. Zahlreiche Wissenschaften untersuchen Strukturen, die von Menschen erzeugt wurden und einander in Art eines Palimpsests überlagern. Erst moderne Aufnahmeverfahren haben es möglich gemacht, solche zeitlichen Schichtungen zu erkunden, ohne die Schichten selbst zu zerstören. Die Archäologie etwa setzt zahlreiche Verfahren ein, um Fundstätten zerstörungsfrei zu “enthüllen” (siehe den Beitrag von Vogt). Luftaufnahmen bei Schräglicht machen den Verlauf alter Wege erkennbar, während Gruben und Mauerreste sich abzeichnen, weil auf ihnen das Getreide besser bzw. schlechter wächst (Luftbildarchäologie). Metalldetektoren erlauben (leider auch Raubgräbern) das Aufspüren von Metallgegenständen. Messungen des geomagnetischen Feldes entdecken verfüllte Gräben, Mauern und andere Artefakte. Ganz ähnlich werden Entwurfskizzen unter Gemälden sowie sich überlagernde Graffiti dokumentiert. 5 Die Enthüllung des Verhüllten Im Unterschied zum Öffnen der Hülle (Abschnitt 4.1) bleibt bei der Enthüllung die Hülle unbeschädigt, sie wird lediglich abgenommen. Ferner benötigt man keine speziellen Geräte wie beim Durchleuchten (vgl. Abschnitt 4.3). Die Varianten des Enthüllens lassen sich anhand der Kriterien “absichtlich” und “legal” klassifizieren, wobei die Beteiligten bzgl. der Zuschreibung dieser Kriterien gegenläufiger Meinung sein können. Semiotisch am wenigsten ergiebig sind zufällige Enthüllungen, wie sie im Hinblick auf Kleidung öfters geschehen. Wenn etwa jemand seinen Hut verliert, kann die Ursache ein Windstoß sein (also eine “täterlose” Enthüllung), der Besitzer des Hutes selbst (der unachtsam unter einem Balken durchging) oder eine ungeschickte andere Person. Da solche Enthüllungen nicht absichtlich geschehen, kann auf sie das Kriterium “legal” nicht angewendet werden (man kann dem Enthüllenden höchstens Fahrlässigkeit vorwerfen). Raffinierter ist eine als zufällig inszenierte absichtliche Enthüllung, die physikalische Rahmenbedingungen für eigene Zwecke ausnutzt. So kennt jeder die berühmte Szene aus dem Film “Das verflixte siebte Jahr”, in der Marilyn Monroe auf den Lüftungsschacht der New Yorker U-Bahn tritt, dessen Abluft ihr weißes Kleid hochweht und ihre Schenkel entblößt. Während hier jemand selbst seinen eigenen Körper enthüllt und so tut, als sei dies ein Zufall, arbeiten Voyeure absichtlich mit gegenläufigen Strategien - so konnte in vergangenen Tagen ein Herr einer Dame aus der Kutsche helfen, dabei “versehentlich” deren Rock hochstreifen und darunteräugen. - Die folgenden Abschnitte beschreiben die beiden Pole der absichtlichen Enthüllung, nämlich die widerrechtliche Enthüllung (5.1) und die als Ereignis inszenierte legale Enthüllung (5.2). Eine Typologie des Ver- und Enthüllens 197 5.1 Die widerrechtliche Enthüllung Die widerrechtliche Enthüllung eines (meist weiblichen! ) Körpers als Auftakt einer Verführung ist ein beliebtes Bildmotiv. So lüpfen bereits auf antiken Gemmen Satyre das Gewand einer schlafenden Nymphe; ein Beispiel aus neuerer Zeit ist Antoine Watteaus Gemälde Satyr und schlafende Nymphe (um 1715). Neben dieser verstohlenen Augenlust gibt es auch aggressivere Formen von Voyeurismus, die darauf abzielen, die (teilweise) enthüllte Person nicht nur körperlich, sondern auch sozial “bloßzustellen”. Gruppen von Jungen machen sich gern im Schwimmbad einen Spaß daraus, bei gleichaltrigen Mädchen den Verschluß des Bikini-Oberteils zu öffnen. Solche Angriffe sind umso schwerwiegender, je stärker die Enthüllung des betreffenden Körperteils tabuisiert ist. Dieser Aspekt entscheidet darüber, ob das Abreißen eines Kopftuchs nur ein dummer Scherz oder eine ernsthafte Ehrverletzung ist. Besonders peinlich sind Enthüllungen, wenn sie einen “Makel” des Betreffenden öffentlich machen, wie es beim Herunterreißen einer Perücke geschieht. 5.2 Die als Ereignis inszenierte Enthüllung Da Kleidung das Paradebeispiel absichtlicher Verhüllung ist (vgl. Abschnitt 3.3.), motiviert sie auch zu zahlreichen Varianten der Enthüllung. Vor allem ist die absichtliche Enthüllung des (eigenen und anderen) Körpers ein integraler Bestandteil des menschlichen Sexualverhaltens. Entsprechende Redensarten sind meist geschlechtsspezifisch, so bezeichnet “die Hüllen fallen lassen” in der Regel die Handlung einer Frau, die “Einblicke gewährt”, während “den Schleier lüften” die Handlung eines Mannes beschreibt, der sich (mit Einverständnis der Frau) Einblicke verschafft. Weil das vorangehende Verhüllen dazu dient, die Lust auf das Enthüllen zu steigern, kann Reik (1983: 296) - in Anlehnung an eine Passage aus Schillers Glocke - desillusionierend feststellen: Man muß das große Verdienst anerkennen, das sich Kultur und Religion um die Steigerung der Sexualbefriedigung erworben haben, indem sie sie zur Sünde gemacht haben. Mit dem Gürtel, mit dem Schleier würde der holde Wahn entzweireißen. Deshalb sind Gürtel und Schleier eminent erwogene Mittel. Folglich geht es auch beim Striptease um ein langsames Auskosten des Enthüllens - der Reiz der Show wäre sofort dahin, wenn die Stripperin bereits nackt auf die Bühne springen würde. Wenn am Ende des Faschings um Mitternacht der Aschermittwoch beginnt, muß die Verkleidung durch eine “Ent-Larvung” im wörtlichen Sinn enden. Da vor allem das Gesicht die Person identifiziert, fällt hier nur die Maske. Das Enthüllen von Denkmalen, Skulpturen, Wandgemälden usw. wird in komplexe Rituale eingebettet, die die Feierlichkeit des Augenblicks steigern. Vertreter der Öffentlichkeit würdigen das Werk, eventuell äußert sich auch der Künstler selbst. Falls ein Bauwerk eingeweiht werden soll, das für eine vorherige Verhüllung zu groß ist, wird stellvertretend eine Stiftertafel o.ä. enthüllt. Die Rituale des Geschenke-Überreichens belegen, wie sehr Ver- und Enthüllen kulturspezifisch organisiert sind. In Europa packt man Geschenke im Beisein des Schenkenden aus, damit dieser sieht, wie sehr man sich daran freut. Dies bringt natürlich die Gefahr mit sich, daß der Beschenkte das Geschenk so scheußlich oder peinlich findet, daß er nicht spontan Begeisterung heucheln kann und ihm “die Gesichtszüge entgleisen”. Japaner umgehen dieses Problem durch ein abweichendes Ritual: sie enthüllen das Geschenk erst nach Weggehen Dagmar Schmauks 198 ihres Gastes, damit bei einem erkennbaren Mißgriff keiner der Beteiligten das Gesicht verliert. Literatur Duerr, Hans Peter 1988-1997: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 4 Bände. Band 1: Nacktheit und Scham. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Hawthorne, Nathaniel 1836: The Minister’s Black Veil. Deutsch: Des Pfarrers schwarzer Schleier. In: N. Hawthorne: Erzählungen. München: Winkler (1977): 245-262 Mann, Thomas 1967: Der Zauberberg. Frankfurt a.M.: Fischer Möller, Hans-Georg 2000: “Verführte Vögel, verschwundene Maler und vernichtetes Fett: Über Kunstlegenden und Zeichenparadigmen in China und Europa”. Zeitschrift für Semiotik 22 (2000): 171-182 Moskopp, Dag 1995: “‘Ich röntge, du röntgst, …’. Eine vergleichende Untersuchung eponymischer Verben anläßlich des 100. Jahrestages der Entdeckung der Röntgenstrahlen”. Radiologe 35 (1995): 367-372 Reik, Theodor 1925: Der unbekannte Mörder. Psychoanalytische Studien. Frankfurt a.M.: Fischer (1983) Schmauks, Dagmar 1998: Barrieren und ihre Überwindung. Zur semiotischen Struktur der Fortbewegung. Memo Nr. 17, FR Philosophie, SFB 378, Universität Saarbrücken Schmauks, Dagmar 2002: Orientierung im Raum. Zeichen für die Fortbewegung. Tübingen: Stauffenburg Naturmetaphern: Enthüllung und Verhüllung zugleich Wilhelm Trampe (Osnabrück) It is the relevance of speech which is specific for the relation between humans and their environment. The individual does not face nature suddenly but via signs. Since the 1980th the traditional meaning of metaphors was complimented by the “cognitive turn” and the use of metaphors got a broader sense. Each metaphor not only creates a certain (new) arrangement of things and position of the very person in different “worlds”, it also, too, represents the unseen, willingly or not. Metaphors serve as paradigms of our understanding of nature. Das Spezifische an der Mensch-Umwelt-Beziehung ist die Relevanz von Sprache. Der Mensch tritt der Natur nicht unvermittelt gegenüber, sondern vermittelt durch Zeichen. Seit den 1980er Jahren erfuhr der traditionelle Metapherngebrauch deutlich weiterreichende Funktionen. Jede Metapher schafft nicht nur eine gewisse (neue) Ordnung der Dinge und Situierung der eigenen Person in verschiedenen “Welten”, sie repräsentiert auch immer das, was man nicht sieht bzw. nicht sehen will. Metaphern können als Paradigmen unseres Naturverständnisses aufgefasst werden. Mensch und Umwelt Ökologische Systeme existieren durch den permanenten Austausch von Materie, Energie und Information zwischen Organismen und deren Umwelt. Die Ökosysteme, in denen der Mensch lebt und die er wie keine andere Spezies beeinflusst und verändert, können als anthropogene Ökosysteme betrachtet werden. Das Spezifische an der Mensch-Umwelt- Beziehung ist die Relevanz von Sprache. D.h., der Mensch tritt der Natur nicht unvermittelt gegenüber, sondern vermittelt durch Zeichen. Die Sprache ist es bzw. die Sprachen sind es, die ihm seine eigenen kulturellen Welten schaffen lässt bzw. lassen. Seit der Etablierung des kognitivistischen Paradigmas in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts wird besonders den Metaphern eine Schlüsselfunktion bei den Prozessen der Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache zugemessen. Dieses war nicht immer so. Metaphern in der philosophisch-philologischen Tradition In der philosophisch-philologischen Tradition wurden Metaphern lange Zeit als bloße rhetorische bzw. stilistisch-poetische Mittel gesehen, um etwas bildhaft bzw. bildlich darzustellen. Aus dieser Tradition heraus wird der Metapher sowohl Lob als auch Tadel gezollt: Während innerhalb der griechischen und römischen Antike (Aristoteles, Cicero, Quintilian), der Renaissance (Vico) und des Barock (Tesauro, Gracián) der Metapher vornehmlich K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Wilhelm Trampe 200 positive Funktionen zugesprochen wurden wie des etwas Vor-die-Augen-Führens, des Neuerkennen-Könnens und Ähnlichkeiten-sehen-Könnens findet sich in der Tradition der Aufklärung (Hobbes, Locke) eine Kritik des Gebrauchs von Metaphern, die in einen scharfen Gegensatz zu einem vernunftorientierten Sprachgebrauch gebracht werden, da sie Uneindeutigkeit, Verführung, Betrug und Täuschung ermöglichen. “Moderne” Metaphern Den primär auf die Betrachtung der poetischen Imagination und rhetorischen Geste ausgerichteten Auffassungen, die ich die traditionellen nennen will, steht nun durch die sog. ‘Kognitive Wende’ eine Auffassung gegenüber, die dem Metaphergebrauch deutlich weiterreichende Funktionen zuweist. Diese Vorstellung, die ich im Folgenden als die moderne bezeichne, geht davon aus, dass Metaphern konstitutiv sind für das Selbstverständnis des Menschen, das Verständnis der Mitmenschen als auch der sozialen, kulturellen und natürlichen Mitwelten. 1 Damit besitzen sie auch eine entsprechende Indikatorqualität. Prominenteste Vertreter dieser modernen Sichtweise sind die Amerikaner Lakoff und Johnson, die ihre Theorie, dass Metaphern unsere kognitiven Konzepte von Innenwelt und Außenwelt bestimmen, ausführlich in ihrem erstmals im Jahre 1980 erschienenen Werk ‘Metaphors We Live By’ darstellten. Obwohl als Wegbereiter dieser kognitiven Metaphern-Theorie insbesondere die Überlegungen von Trier und Weinrich zu nennen gewesen wären, fehlt eine Aufarbeitung dieser Ansätze bei Lakoff und Johnson. Ähnlich wie Trier/ Weinrich gehen Lakoff/ Johnson davon aus, dass es einen bildspendenden Bereich gibt, aus dem die Metapher stammt, und einen bildempfangenden Bereich, auf den die Metapher übertragen wird - Lakoff und Johnson sprechen von der ‘resource domain’ und der ‘target domain’. Nach dieser Auffassung hat jede Metapher ihren Sitz im Leben. Metaphern perspektivieren unser Erleben, unsere Erfahrung und unsere Erkenntnis. Aus der Bedeutung der Funktion in ihren jeweiligen Wirkungsfeldern schöpfen sie ihre Wirkungskraft. Lakoff und Johnson gehen sogar so weit zu behaupten, dass die Wirklichkeit selbst durch Metaphern bzw. metaphorische Konzepte bestimmt werde, da sie integraler Bestandteil der alltäglichen Sprache seien. Da Metaphern von Kultur zu Kultur unterschiedlich seien, seien es auch die entsprechenden Wirklichkeiten: “Jede Kultur muss eine mehr oder weniger effiziente Methode haben, wie die Menschen mit ihrer Umwelt umgehen können, um sich ihr sowohl anpassen als auch sie verändern zu können.” (Lakoff and Johnson 1999: 169) Auch wenn hier nicht die Meinung vertreten wird, dass menschliche Wahrnehmung und Kommunikation von Metaphern bzw. metaphorischen Konzepten vollständig determiniert sei, kann die kognitivistische Auffassung insofern vertreten werden, dass Metaphern bzw. metaphorischen Konzepten eine Schlüsselrolle bei der Konstruktion von Wirklichkeit zugebilligt wird. 2 Metaphern als “blinde Flecken” Auf ein wesentliches Element der Theorie von Lakoff und Johnson beziehe ich mich hier jedoch explitzit; darauf verweist bereits der Titel des Beitrags - Verhüllendes und Enthüllendes zugleich. Jede Metapher schafft nicht nur eine gewisse (neue) Ordnung der Dinge und Situierung der eigenen Person in verschiedenen ‘Welten’; sie repräsentiert auch immer das, was man nicht sieht bzw. sehen will. Zu dem ‘Sichtbar-Machen an’ gehört also immer auch Naturmetaphern: Enthüllung und Verhüllung zugleich 201 das ‘Verdecken durch’ bzw. das ‘Ausblenden’. Metaphern provozieren geradezu ‘blinde Flecken’ in unserer Wahrnehmung. Metaphern ermöglichen und behindern bestimmte Sichtweisen und Umgangsformen mit Sachverhalten, indem sie gleichzeitig etwas sichtbar machen - also einerseits uns bestimmte Aspekte vor Augen führen - und andererseits etwas verhüllen - bestimmte Gesichtspunkte ausblenden. Oftmals offenbart sich in der gleichzeitigen Verhüllung und Enthüllung so etwas wie ein Gestaltwandel - vergleichbar mit Springbildern aus der Gestaltpsychologie. So ist es z.B. für das Naturverständnis grundlegend, ob ich zur Beschreibung von Natur die Metapher von einem Organismus oder von einem gigantischen Uhrwerk benutze. Welche Gefahren mit dominanten metaphorischen Konzepten verbunden sein können, brachte Wittgenstein in der bereits oben genannten Tradition der Aufklärung in seinen Philosophischen Untersuchungen zum Ausdruck, wenn er beispielsweise schreibt: “Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.” (PU, 115). Damit verweist Wittgenstein auf Metaphern, die uns zu Gefangenen oder zu Komplizen einer bestimmten Lebensform machen können. Wittgenstein, für den die Vorstellung von Sprache als Lebensform innerhalb seiner Spätphilosophie als Schlüsselbegriff bezeichnet werden kann, benutzt zur Kennzeichnung der ideologischen Basis der Lebensformen den Begriff des “Weltbildes” (ÜG, 94). Innerhalb sprachlicher Lebensform entstehen somit zwangsläufig Weltbilder, die Naturbilder enthalten. Jede natürliche Sprache enthält also bestimmte Naturzustände und -bilder, die sich durch ihre metaphorischen Zugänge enthüllen. Metaphern als “Vehikel” Metaphern sind keine Abbilder der Wirklichkeit. Metaphern als Medium des menschlichen Selbst- und Naturverständnisses erweisen sich als Vehikel spezifischer Beziehungs- und Bedeutungsstiftung im Umgang mit Natur. Anthropogene ökologische Systeme werden also auf informationeller Ebene maßgeblich durch metaphorische Konzepte geprägt. Ein zerstörerischer Umgang mit der Natur zeigte sich in dem Phänomen, das hinlänglich als ökologische Krise bezeichnet wird. Diese wurde bislang primär als eine Krise des materiellen und energetischen Naturverhältnisses betrachtet. Dass die ökologische Krise auch - und vielleicht sogar primär - als eine Krise unserer informationellen Systeme bzw. Kommunikationssysteme gesehen werden kann, wurde erst vor einigen Jahren innerhalb der sog. ‘Umweltwissenschaften’ erkannt, insbesondere als es um Untersuchungen zum sog. ‘Umweltbewusstsein’ ging. Allerdings nehmen ‘Umweltwissenschaften’ wie auch Humanökologie derzeit die Erkenntnisse der ökologischen Linguistik, die sich intensiv mit der Erforschung der sprachlichen Naturverhältnisse beschäftigt, nur beiläufig oder gar nicht zur Kenntnis (Trampe 2002b). Wenn die ökologische Krise auch - oder vielleicht sogar primär - als Kommunikationskrise im Umgang mit Natur gesehen werden kann, und davon werde ich im Folgenden ausgehen, so kommt dem metaphorischen Zugang zur Natur eine Schlüsselrolle zu. Wenn ich von Naturmetaphern spreche, so werden damit nicht nur metaphorische Konzepte zur Definition des Begriffs “Natur” angesprochen, sondern alle metaphorischen Bezüge im Umgang mit Natur i.w.S. Mit “Natur” soll all das gemeint sein, was unabhängig vom willentlichen Wirken des Menschen existiert oder so gedacht werden kann. 3 Welche Natur-Beziehungen und -Bedeutungen sind es nun, die in unseren derzeitigen Sprachgebrauch durch Metaphern enthüllt bzw. verhüllt werden? Wilhelm Trampe 202 Metaphern der Anthropomorphisierung und Utilitarisierung von Natur Naturgeschehen wird und Verhaltensweisen anderer Lebewesen werden nach menschlichen Maßstäben bezeichnet und kategorisiert. Der Nutzen ist entscheidend für die Bezeichnung und enthüllt Informationen über die Brauchbarkeit für den Menschen. Beispiele: Raubvogel, Raubtier, Pelztier, Fleischrasse, Fleischtier, Honigbiene, Milchkuh, Grüngürtel, der tropische Regenwald als grüne Lunge, Vorfluter, Ödland, die Erde als Warenhaus Wer sich die Metapher vom Ödland zu eigen macht, dem kann es passieren, dass er überrascht wird von der natürlichen Vielfalt, die sich auf einem solchen als öde klassifizierten Gebiet seinem aufmerksamen Blick offenbart. Enthüllt wird die Bewertung der ökonomischen Brauchbarkeit, verhüllt die Vielfalt und der Selbstwert der Organismen, Pflanzen und Landschaft. Metaphern der Objektivierung von Natur Natur wird sprachlich zum leblosen Etwas, das behandelt werden kann wie Sachen und Maschinen. Beispiele: das System der Natur als Maschine, Entwässerungsobjekt, Erneuerung des Grünstreifens, Auswechselung von Bäumen, Austausch von Grünzeug, Flächenstilllegung, Straßenbegleitgrün, Landschaftsverbrauch, Verschleiß von Landschaft, Fluss-, Gewässer- und Geländekorrektur, Nutzungsdauer von Tieren, sauberer Rasen, Pferdematerial, Empfängermaterial. Verhüllt wird dagegen ein Naturzugang, der getragen ist von einer Achtung vor der Natur, die jeden Organismus als teleologisches Zentrum von Leben auffasst. Ein noch radikalerer Entwicklungsschritt in Richtung Objektivierung zeigt sich in einer Technokratisierung von Natur. Metaphern der Technokratisierung von Natur Natur wird vom Standpunkt der Technik, der Verwaltung und des Funktionierens der Abläufe bezogen auf den Menschen betrachtet; die “Beherrschung” der Natur ergibt sich aus der Überzeugung von der Überlegenheit des Menschen gegenüber anderen Lebewesen, damit verbunden ist eine emotionale Distanzierung. Beispiele: die Erde als Raumschiff, Umweltmanagement, Ökosystemmanagement, Umweltverträglichkeitsprüfung, Ökosystemreparatur, Tierproduktion (Maisproduktion, Ferkelproduktionsanlage), Wachstumsstabilisatoren, Grünordnungsplan. Das Verhüllende an dieser Metaphorik ist die Einsicht von der letztendlich Nicht-Beherrschbarkeit von Natur, das Enthüllende die Hybris des Menschen. Die Metapher von der Produktion ist, ökologisch gesehen, irreführend, denn im Naturhaushalt bleibt der Mensch lediglich Konsument; diese bescheidene Rolle kann er nur durch sprachliche Fiktion überwinden. Naturmetaphern: Enthüllung und Verhüllung zugleich 203 Metaphern der Tabuisierung Alles, was mit anthropogenen Naturzerstörungen und Tötungen von Pflanzen und Tieren zusammenhängt, wird metaphorisch verhüllt, ausgeblendet. Beispiele: Artenrückgang, das Eingehen von Tierbeständen, das Verschwinden der Arten, Unkrautbehandlung, Pflanzenschutz, Ackerfreihaltung, Präventivspritzung von Ackerflächen, Landschaftsverbrauch, Umweltverschmutzung. Wer lediglich die Umwelt als verschmutzt sieht, wird sich des Verhüllten nicht auf den ersten Blick bewusst werden. Dem Enthüllten ist das Verhüllte entgegenzustellen: Umwelt als Mitwelt, deren Teil wir sind, und die Bedrohung durch die Gefährdung der Lebensgrundlagen, die die Schmutz-Metapher verhüllt. Eine Enthüllung der Tabus beispielsweise durch eine differenzierte Darstellung der Zerstörungspotentiale und die Herausstellung des Agens würde das Ausmaß der ökologischen Krise erst in das Bewusstsein bringen, statt dessen greifen Techniken der Verschleierung, Euphemisierung und Verdrängung. Die Perspektive bestimmt die Metapher Die hier vorgestellte Auflistung ist sicherlich ergänzungsfähig. Einige Beispiele lassen sich durchaus verschiedenen Klassen zuordnen. Hier ging es lediglich darum, einen ersten Versuch zur Klassifizierung der metaphorischen Zugänge im Sprachgebrauch zur Perspektivierung unseres sprachlichen Naturverhältnisses vorzustellen. Auffällig ist, dass bildspendende Bereiche für Naturmetaphern häufig Technik und Ökonomie sind. Die Beispiele lassen - um mit Lakoff und Johnson zu sprechen - auf entsprechende Netze semantisch verwandter Konzepte schließen. Metaphern können als Paradigmen unseres Naturverständnisses aufgefasst werden. Paradigmatische Naturzugänge können metaphorisch wiederum als ‘ideologische Landschaften’ bezeichnet werden. Der Beispielkatalog und die vier aufgezeigten Tendenzen zeigen, wie es uns gelingt, durch Metaphern eine durchgehend anthropozentrische Perspektive und damit ein anthropozentrisches Welt- und Leitbild zu konstruieren. Innerhalb anthropozentrischer metaphorischer Konzepte wird Natur degradiert zu einem Objekt, das der Mensch technisch und ökonomisch zur Verfügung hat - ein Objekt, das nur einen Wert besitzt in Bezug auf menschliche Werte. So spricht beispielsweise Goatly (2001) - in Anspielung auf den Titel des Buches von Lakoff und Johnson - bei der Bewertung der Gefahren durch einen entsprechenden Metapherngebrauch von ‘metaphors we die by’, wenn diese nicht durch Alternativen korrigiert werden können. Im Gegensatz dazu betont eine bio- oder ökozentrische Perspektive den Subjektcharakter von Natur und die Natureingebundenheit des Menschen (vgl. dazu Trampe 2002a). Dem Menschen werden hier grundsätzlich nicht mehr Rechte eingeräumt als anderen Spezies; auch von einer Überlegenheit des Menschen gegenüber den anderen Lebewesen kann - evolutionsökologisch gesehen - nicht mehr die Rede sein. Damit verbunden ist auch eine Haltung der Achtung vor der Natur, wie sie sich beispielsweise bei einigen sog. ‘Naturvölkern’ finden lässt. Anthropozentrische Metaphorik verwenden heißt, Natur in ihrem Eigenwert nicht zur Sprache kommen zu lassen und damit die ökologische Krise zu manifestieren und die Überlebensbedingungen der Vielfalt der Kreaturen auf diesem Planeten zu verschlechtern. Wilhelm Trampe 204 Die Entwicklung und Verwendung einer nicht-anthropozentrischen Metaphorik stellt aus einer ökozentrischen Perspektive einen wichtigen Schritt im Hinblick auf die Etablierung eines nachhaltigen Naturschutzes dar, der diese Bezeichnung auch verdient. Erste Ansätze einer alternativen Metaphorik zeigen sich in einem spielerisch-satirischen Gebrauch von Metaphern in Abgrenzung von einer anthropozentrischen Metaphorik, indem beispielsweise statt von einer Hühnerproduktionsanlage von einem Hühner-KZ oder einer Hühner-Fabrik oder statt von Intensivlandbau von einer Agrarsteppe gesprochen wird. Wie eine nicht anthropozentrische Metaphorik aussehen könnte, muss die Zukunft zeigen. Hier ist die sprachliche Kreativität der Sprecher-Hörer-Individuen gefragt, wenn Natur in ihrem Selbstwert zur Sprache kommen soll. Literatur Bertau, M.-C. 1996: Sprachspiel Metapher. Denkweisen und kommunikative Funktion einer rhetorischen Figur, Opladen Goatly, A. 2001: “Green Grammar and Grammatical Metaphor, or Language and Myth of Power, or Metaphors We Die By”, in: Fill, A. und P. Mühlhäusler (eds.): The Ecolinguistics Reader. Language, Ecology and Environment, London/ New York, S. 203-225 Harré, R., J. Brockmeier and P. Mühlhäusler 1999: Greenspeak. A Study of Environmental Discourse, Thousand Oaks, London, New Delhi Lakoff, J. and M. Johnson 1980: Metaphors We Live By, Chicago (dt.: Leben in Metaphern, Heidelberg 1999) Meisner, M.S. 1995: “Metaphors of Nature. Old Vinegar in New Bottles? ”, in: Trumpeter 12.1 (1995): 11-18 Trampe, W. 2002 a: “Gibt es einen biozentrischen Sprachgebrauch? ”, in: Rapp, R. (ed.): Sprachwissenschaft auf dem Weg in das dritte Jahrtausend, Bd. 2: Sprache, Computer, Gesellschaft, Frankfurt a.M., Berlin u.a., 529-537 Trampe, W. 2002 b: “Ökologische Linguistik und Humanökologie”, in: Fill, A. / H. Penz, W. Trampe (eds.): Colourful Green Ideas, Bern, Berlin u.a., 89-102 Trampe, W. (ed.) (in Vorb.): Metapher und Ökologie - Metaphor and Ecology, Münster-Hamburg-Berlin-London Wittgenstein, L. 1984: Werkausgabe, Bd. 1: Philosophische Untersuchungen, Bd. 8: Über Gewissheit, Frankfurt a.M. Anmerkungen 1 Innerhalb einer Typologie der Metapherntheorien wären neben den derzeit einflussreichsten Kognitionstheorien als weitere Theorien beispielsweise die Vergleichstheorie, Substitutionstheorie und Interaktionstheorie der Metapher zu nennen, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann (s. dazu z.B. Bertau 1996). 2 Kritisch angemerkt sei an dieser Stelle auch, dass Lakoff und Johnson in ihrer Theorie keinen Weg von der Sprache oder den Begriffen zurück zu den Erfahrungsstrukturen aufzeigen. Eine ökolinguistische Theorie der Metapher, die an dieser Stelle nicht dargestellt werden kann, geht von einer dynamischen Interpendenz aus (Trampe ed., [in Vorb.]). 3 Nach Harré, Brockmeier und Mühlhäusler (1999: 93ff.) lassen sich historisch mindestens drei paradigmatische Naturmetaphern unterscheiden: Natur als Buch, das von Gott geschrieben wurde (Mittelalter); Natur als menschlicher Körper/ Organismus (Renaissance) und Natur als Maschine (Aufklärung bis heute). Meisner (1995: 12) spricht zusätzlich von Natur als etwas Wunderbarem. Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung Zeichen des Grußes - besonders im malischen Bambara Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern/ Stellenbosch) & Djouroukoro Diallo (Bamako) 1 Zur Anthropologie des Grüßens 2 Zur Semiotik des Grüßens 3 Zur Linguistik des Grüßens 4 Grußverhalten im interkulturellen Vergleich 5 Grüßen im malischen Bambara 6 Gruß als Ritual 7 Literatur The paper gives a short résumé of the anthropological, semiotic, and linguistic tradition of investigations into the analysis of greeting rituals across cultures, looks at some intercultural differences and takes greeting routines in Bambara (Mali) as an example for interdisciplinary politeness research. The closing statement includes a systematic synopsis of the terms and problems discussed. Der Beitrag resümiert die anthropologische, semiotische und linguistische Forschungstradition der kulturübergreifenden Erforschung höflichen Grußverhaltens, wirft einen kurzen Blick auf interkulturelle Unterschiede bei Ritualen des Grüßens und nimmt exemplarisch Routinen des Grüßens im malischen Bambara als Objekt interdisziplinärer Höflichkeitsforschung. In einem knappen Fazit wird zugleich eine begriffs- und problemsystematische Synopsis versucht. 1 Zur Anthropologie des Grüßens Fremdheit wird durch Höflichkeit kaschiert, Unfreundlichkeit verhüllt durch freundliche Miene, Verlegenheit durch Lächeln, Feindschaft durch Förmlichkeit. Der Gruß oder das Grüßen gehört, in seinen sprachlichen wie nicht-sprachlichen Erscheinungsformen, zu den Universalien höflichen Verhaltens, so wie die Höflichkeit zur Normalität des menschlichen Umgangs miteinander gehört. “Man kann eigentlich gar nicht anders als (mehr oder weniger) höflich grüßen, wenn man überhaupt grüßt”, meinte Harald Weinrich (1986: 10) noch in seiner Antwort auf die - im Anklang an das geflügelte Wort aus Goethes Faust formulierte - rhetorische Frage: “Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist? ” (Weinrich 1986: 5). Angesichts der auf manchen Fremden eher rauh wirkenden Grußrituale unter heutigen Jugendlichen (mit oder ohne “Migrationshintergrund”) mag man unsicher werden, ob das heute (2007) noch so gilt. Aber sie mögen noch so ‘cool’ inszeniert sein, Zeichen der Höflichkeit sind sie dennoch, selbst da, wo sie der vorsichtigen Camouflage dienen von Haß und Konkurrenz. Tatsächlich gibt es offenbar - außer vielleicht in totalen Institutionen, in K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 206 Foltersituationen, zwischen manchen Wissenschaftlern usw. - keinen ganz höflichkeitsfreien Gesprächsraum. In der Höflichkeit, dessen vorzüglichster Ausdruck das Grüßen ist, zeige sich, so der Anthropologe Hellmuth Plessner (1981: 106), das “Unnachahmliche des Menschen”, und es ist daher nur folgerichtig, wenn wir an den Beginn unserer Überlegungen einige Anmerkungen zur Anthropologie des Grüßens stellen. Im Rahmen der “universalen Grammatik menschlichen Sozialverhaltens” 1 hat sich das Grüßen in vielen kulturspezifischen Varianten ausgeprägt. Ihnen liegen aus anthropologischer bzw. humanethologischer Sicht, sozusagen ‘tiefenstrukturell’, jedoch nur wenige Verhaltensmuster zugrunde. Diese lassen sich in einem ersten Schritt nach verschiedenen Dimensionen zeichenhafter Ausdrucksmodalitäten ordnen, also danach, ob sie durch die Körperbewegung als ganze, durch Mimik oder Gestik, Blickverhalten und Sprache zum Ausdruck gebracht und vom Adressaten als Gruß-Zeichen wahrgenommen werden. So unterscheidet Irenäus Eibl-Eibesfeld (1968: 737) schon früh zunächst zwischen Kontaktgruß und Distanzgruß, also dem Gruß mit oder ohne körperlichem Kontakt. Die Zuwendung der geöffneten Handinnenfläche mit ausgestrecktem Arm, ursprünglich aus einer Abwehrgeste erwachsen (an die das ‘HALT’-Zeichen des Verkehrspolizisten noch erinnert), signalisiert Waffenlosigkeit, also Friedfertigkeit, Gefahrlosigkeit, Freundlichkeit. Diese Geste, die Eibl-Eibesfeld bei den Papuas und den Schaupen, bei den Karamojo oder den Turkana aufgenommen hat, ist in ihrer Variante mit angewinkeltem Arm auch im europäisch-okzidentalen Kulturkreis gebräuchlich. Zeichen des Grußes mittels Körperbewegung sind auch die historischen Formen des Fußfalls, des Kniefalls und der Kniebeugung (wie im Hofknicks oder im Kratzfuß), aber auch in den kulturspezifisch sehr unterschiedlich ausgeprägten Konventionen der Verbeugung, die z.B. in Japan mit nuancierter Bedeutungsvariation lebendig geblieben ist. In Deutschland ist die Verbeugung in der ausgebildeten Form des ‘Dieners’ heute in der Regel auf ein knappes Kopfnicken reduziert. Ein anderes Beispiel visueller Kontaktanbahnung ist der Augengruß, universal verbreitet, doch kultur- und situationsabhängig höchst differenziert ausgeprägt. 2 Seine soziale Bedeutung erhält er durch die Koordination mehrerer relevanter Segmente zur typischen Verhaltenssequenz: Herstellung des Blickkontaktes, “mutuelle Fokussierung” (wie die Anthropologen volkstümlich gerne sagen), kurze Anhebung des Kopfes und, für etwa eine Drittelsekunde, der Brauen, gegebenenfalls Lächeln, Kopfnicken. In Europa, in Japan und den USA wird der Augengruß eher vermieden, es sei denn, er wird unter Fremden gebraucht, um sexuelles Interesse zu signalisieren, was freilich nicht immer ganz risikofrei ist. Solchen und ähnlichen Formen des Distanzgrußes stehen die des Kontaktgrußes gegenüber, dessen taktile Varianten als Händedruck, Handauflegen, Tätscheln, Streicheln, Kraulen, Umarmen, Wangenberührung, Kuß usw. oder Kombinationen solcher Varianten verbreitet sind. Seltenere Varianten sind z.B. der Nasengruß, der Tränengruß (s.u. Anm. 11) oder das Einreiberitual der australischen Gidjingali-Männer, die sich gegenseitig ihren Achselschweiß auf den Körper reiben. Das im Schweiß enthaltene Androstenol, so der anthropologische Befund, wirkt hier als olfaktorisches Zeichen und Signal der Steigerung der Kontaktbereitschaft. Solche Grußrituale sind durch eine Fülle kultur- und konstellationsspezifischer Regeln und Tabus gekennzeichnet, die das Geschlecht und die tangierten Körperzonen der Partner betreffen, ihre Verwandtschafts- oder Freundschaftsbeziehung, den Öffentlichkeits- und Formalitätsgrad der Situation usw. Dabei sind oft interessante Korrespondenzen in der Struktur zu beobachten. Bei den Waika, einem Indianerstamm im Amazonasgebiet, wird der Gast im vollen Kriegsornat Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 207 begrüßt, wozu ein Kind einen Palmwedel schwenkt (Eibl-Eibesfeld 1984: 611ff.). Dieselbe Koinzidenz von imponierender Selbstdarstellung und zugleich ‘entwaffnender’ Submissionskundgabe bei unseren Staatsempfängen, bei denen der Gast in Ehrenuniform oder ordensgeschmückt mit Salutschüssen empfangen wird und er von Kindern oder jungen Mädchen Blumen überreicht bekommt. Diese Balance von Dominanz- und Submissionssignalen ist natürlich ebenfalls von der Beziehungsdefinition abhängig, vom sozialen Rang der Partner und deren wechselseitiger Einschätzung. In Japan spiegelt sie sich etwa in Art und Anzahl der Verbeugungen wider, aber auch in den verbalen Handlungen, die sie begleiten. Die Begrüßungsworte, “the grooming talk”, wie Desmond Morris die verbale Komponente des Grußverhaltens nennt, dienen ebenfalls der subtilen Balance von Prestige und Bescheidung, von Selbstbewußtsein und Ehrerbietung, von Dominanz und Submission. Ausdruck der Funktion des Grußes, die Situation zu befrieden, eine Bindung herzustellen, ohne dabei ‘das Gesicht zu verlieren’, ist beispielsweise die Begleitung des (ursprünglich kräftemessenden) Händedrucks durch freundliche Worte oder den Austausch von guten Wünschen (als symbolischer Form des wechselseitigen Beschenkens), Wünschen etwa zum ‘guten Tag’ oder zum Frieden wie in Israel (shalom chaverim) und seinen arabischen Nachbarn, meist in der typischen, reziprok-obligaten Sequenzstruktur des Gesprächsschrittpaares - Salem aleikum! ‘Friede sei mit Dir’ Aleikum salem! ‘Mit Dir sei Friede’ Matulit? ‘Wie geht’s’ El cheròs ‘Es geht gut’ -, Gesprächsschrittpaare, wie sie die empirische Dialogforschung mittlerweile (auch in der transkulturellen Begegnung) präzis beschrieben hat (zum Sprachenpaar Deutsch/ Arabisch s. z.B. Bouchara 2002). Die interdisziplinäre Kooperation zwischen Dialoglinguistik und Humanethologie bzw. Kulturanthropologie wäre in diesem thematischen Sektor deshalb so wünschenswert, weil einerseits Linguisten oft allzu unbekümmert, ja reduktionistisch als universelle Struktur beschreiben, was sich empirisch als kulturspezifisch ungeheuer variantenreich erweist, und weil andererseits die Fülle empirischer Beobachtungen manchem Anthropologen oft den Blick für die ihnen gemeinsamen semiotischen Strukturen verstellt. In der Sozialanthropologie versucht vor allem Edmund Leach diese Brücke zu schlagen, indem er insbesondere die Konkomitanz sprachlichen und nichtsprachlichen Verhaltens in der alltäglich-direkten Interaktion ins Auge faßt und zugleich deren spezifische Unterschiede hervorhebt 3 : […] Non-speech ‘languages’ are both simpler and more complex than ‘normal’ spoken or written language. They are simpler because the syntactic rules are fewer in number and more explicit - the difference between right and wrong non-verbal behaviour is more clear-cut than the difference between right and wrong speech forms - but they are more complex because nonspeech is a multichannel system. Diese Multimodalität direkter Interaktion ist linguistisch allein nicht angemessen zu beschreiben. 4 Dazu müssen semiotische Instrumentarien hinzugezogen werden, auch um das Verhältnis von zeichenhaftem Verhalten und nicht-zeichenhaftem Verhalten, von Kommunikation und Interaktion, sprachlicher und außersprachlicher Verständigung begrifflich präziser als in der Anthropologie und Humanethologie bislang geschehen klären zu können. 2 Zur Semiotik des Grüßens Was immer Paul Watzlawick (1974) mit seinem berühmten “1. metakommunikativen Axiom” gemeint haben mag: nicht jedes Verhalten ist Kommunikation, Botschaft, Mit- Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 208 teilung, Zeichen, Signal; nicht jede Kommunikation ist Interaktion, nicht jede Interaktion Kommunikation. Zunächst gilt es zu unterscheiden zwischen einem Verhalten ohne Zeichenfunktion und einem Verhalten mit Zeichenfunktion (cf. Posner 1985: 235-271). Erst wenn z.B. ein physiologisch bedingter Lidschlag von jemandem wahrgenommen wird und diesen zu einem Schluß veranlaßt - etwa der Art: “die Person blinzelt, weil sie geblendet wird” -, wird er zum Zeichen, genauer zum Anzeichen, das aber nur dann ein kommunikatives Zeichen ist, wenn zugleich deutlich wird, daß es mit der Intention produziert wurde, einer anderen Person eine Botschaft mitzuteilen - etwa der Art: “ich zeige Dir durch das Blinzeln an, daß mich das Licht blendet.” Kommunikation, im strengeren Sinne des Begriffs, bedarf zu ihrem Gelingen also sowohl der Intention des Senders, den Adressaten durch sein Verhalten zu bewegen, einen bestimmten Schluß zu ziehen, als auch der Erkenntnis dieser Intention durch den Empfänger. Demgegenüber bezeichnet der Begriff der ‘Interaktion’ in seinem allgemeinen Sinne zunächst nur die Wechselwirkung zwischen kontingent agierenden Personen (cf. Scherer 1984 a: 14). Mit Hilfe einer solchermaßen präzisierten Begriffssystematik lassen sich die Phänomene matrizenförmig sortieren: danach ist also das alltägliche verbale Grußverhalten sowohl kommunikativ als auch interaktiv; das grußbegleitende Kopfnicken ist nicht-verbal, kommunikativ und interaktiv; das grußvorbereitende gegenseitige Anblicken ist nicht-verbal, nicht-kommunikativ, aber interaktiv; das einseitige Anblicken eines Vorübergehenden bei einer Unterhaltung auf der Straße ist nicht-verbal, nicht-kommunikativ, nicht-interaktiv; das Kopfnicken des Showmasters im Rahmen einer verbalen Begrüßung der Fernsehzuschauer ist nicht-verbal, kommunikativ, aber nicht-interaktiv usw. Auch das kulturspezifisch unterschiedliche Territorialverhalten kann beim Gruß wichtige Zeichenfunktionen übernehmen. Der Abstand zwischen den Gesprächspartnern ist ein hochsensibler kommunikativer Indikator, der im Rahmen der Proxemik systematisch erforscht wird, also der Lehre von der Bedeutung räumlicher Relationen. 5 Nach Albert Scheflen wird dieser Indikator (oder auch dieses Index-Zeichen) bestimmt durch die Variablen “ethnische Herkunft, Grad der Vertrautheit, bisherige Beziehung, Vorhaben, dinglichräumliche Umstände, Ausmaß des Engagements [Goffman], Grad der Offenheit bzw. Verschlossenheit, Kulturzugehörigkeit und Vorstellungen über die Natur der Zusammenkunft”. 6 Dabei kann es schon bei der flüchtigen Passage, beim sog. ‘Territorialdurchgang’, zu interkulturellen Mißverständnissen kommen, weil die Phasen des Aufblickens zur Situationswahrnehmung und -bewertung, das Anlegen der Arme an den Körper und der Territorialdurchgang selbst mit gesenktem Blick minimal, aber kommunikativ relevant variieren. Angehörige mediterraner Kulturen blicken längere Zeit auf und halten den Blick Sekundenbruchteile länger fest. Dies veranlaßt Angehörige einer anderen Kultur, etwa der US-amerikanischen, bereits zum Grüßen. Schwarze Amerikaner und Puertorikaner, auch Japaner, vermeiden zunächst den Blickkontakt aus Höflichkeit, was auf Europäer oder weiße Mittelschichtamerikaner provozierend, nicht achtend, herablassend wirken kann. Oder im Falle des Japaners, der den Territorialdurchgang durch knapp angedeutete rituelle Verbeugungen gleichsam entschuldigt (verbal u.U. begleitet von einem gemurmelten súmimasén oder shizodee-shimashtà), was von Europäern dann oft schon als Grußeinleitung interpretiert wird. So können Mißverständnisse bereits vor dem Gesprächsbeginn entstehen. Sein Rahmen wird in der Regel durch den Gruß konstituiert und definiert. Der gestischkinemische Variationsreichtum ist groß. Die Wahl der Form des Körperkontaktes wie Händeschütteln, Umarmung, Kuß usw. hängt von der Definition der Beziehung, von der seit Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 209 dem letzten Treffen verstrichenen Zeit, aber auch von kulturellen Konventionen ab. Daß den Briten das dauernde ‘shake-hands’ der Deutschen amüsiert, daß der zweimalige Wangenkuß unter Deutschen (bzw. dreimalige unter Schweizern) gleichsam ein französisches kinemisches Zitat bestimmter sozialer Gruppen ist, ist uns im zusammenwachsenden Europa inzwischen vertraut. Aber auch eine gemeinsame Sprache wie in den USA verführt nur zu einer trügerischen Sicherheit über die Einheit des Völkergemischs und das Medium seiner Verständigung. Viele interethnische Spannungen sind nicht zuletzt auch auf Mißverständnisse im nicht-verbalen Bereich zurückzuführen, auf Diskrepanzen in der Art, Frequenz, Dauer, Richtung des Blickkontaktes, auf kulturspezifische Regeln der fixierten oder tabuierten Körperpartien, auf die sich der Blick richtet oder die er übersieht oder übersehen sollte, auf unterschiedliche Vorstellungen von der Wahl des angemessenen Körperabstandes, etwa wenn Farbige, Franzosen, Hispano-Amerikaner oder osteuropäische Juden für ihre Gestikulation mehr Raum beanspruchen als Briten oder Schweden, die dann typischerweise automatisch zurückweichen - wie jener nordamerikanische Gesandte, der beim Empfang in der südamerikanischen Botschaft im Gespräch mit seinem latinisch-temparamentvolleren Partner zurückwich, bis er rücklings über die Brüstung der Residenzterrasse in den Garten stürzte. Solche multimodalen Verhaltenssequenzen, gerade in Situationen interkultureller Verständigung, können m.E. methodisch sinnvoll nicht anders als dialogtheoretisch fundiert erforscht werden. 7 Klaus Scherer hat dazu ein Klassifikationsschema entwickelt, mittels dessen solche Zeichenensembles und ihr Austausch als dialogische Prozesse beschrieben werden können (Scherer 1984 b: 25-32). Dieses semiotisch instrumentierte Schema krankt freilich wie ähnliche Ansätze von Ekman & Friesen, Kendon, Poyatos u.a. 8 daran, daß sie trotz subtiler Beobachtungen zum Gesamt des in Grußsequenzen involvierten Zeichenensembles dem verbalen Anteil, also der Sprache, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenken. So heißt es bei Adam Kendon (1980: 35) lapidar: In the salutational exchange two individuals address to each other, either simultaneously or in a tandem, a distinctive unit of communicatively specialized behaviour […] the units [of which …] are drawn from a large, but nontheless restricted, class of items [… it] includes such utterances as “hi”, “How d’you do”, “nice to see you”, it includes various kinds of waves, certain kinds of smile; it includes the embrace, the kiss, the handshake, the bow. Im trimodalen Dreiklang von Sprache, Prosodie und Gestik ist der verbale Code bei Fernando Poyatos gar nur einer von 16 möglichen interaktiv relevanten Bezügen und wird entsprechend allgemein abgehandelt. 9 Diese Lücke muß gezielt durch empirisch-vergleichende Studien linguistischer Provenienz gefüllt werden. 3 Zur Linguistik des Grüßens Wenn Höflichkeit und Grußverhalten so universell und kommunikativ bedeutsam sind und in vielen humanwissenschaftlichen Disziplinen eine solche Beachtung gefunden haben, dann erst recht, sollte man meinen, in der Sprachwissenschaft, weil die Sprache ja das wichtigste Medium dafür ist. Man würde also erwarten, daß wenn man etwa eine Grammatik des Deutschen konsultiert, als Ausländer zum Beispiel oder linguistischer Laie, dort umfassend darüber informiert würde, welche sprachlichen Mittel das Deutsche bereitstellt, Höflichkeit auszudrücken oder Grüße zu entbieten. Harald Weinrich ging der Frage seinerzeit auf den Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 210 Grund und hat in ca. einem Dutzend verschiedener Grammatiken unter dem Stichwort ‘Höflichkeit’ nachgeschlagen. Vergeblich. Die Register kennen kein Stichwort dieser Art. Vielleicht liegt es am Wort, dachte er, und suchte unter ‘Gruß’. Da war erst recht kein Hinweis zu finden. Seine Diagnose trifft auch heute noch weitgehend zu: “Daß die Deutschen sich überhaupt begrüßen, kann [ein] Ausländer aus deutschen Grammatiken nur mit einigen Schwierigkeiten entnehmen” (Weinrich 1986: 12). Im Rahmen der linguistischen Forschung ist das Grüßen bislang allenfalls im Bereich der Dialog- oder Gesprächsanalyse, und dort insbesondere unter dem Aspekt ritualisierter Gesprächseinleitung und sprachlicher Höflichkeitsformen, behandelt worden. Gruß und Abschied bilden nach Goffman ‘rituelle Klammern’ um einen durch gemeinsame Aktivität gekennzeichneten Handlungsraum. Zunächst einmal - und dialoganalytisch betrachtet - ist der Gruß, um noch einmal Weinrich zu zitieren, nichts anderes als eine “Erklärung grundsätzlicher Gesprächsbereitschaft” (Weinrich 1986: 10 f.): Er wird daher auch in der Regel in identischer oder nahezu identischer Form erwidert, denn die Gesprächsbereitschaft muß ja auf beiden Seiten bestehen, wenn sie Chancen haben soll, wirksam zu werden. Es ist nicht unbedingt erforderlich, daß sich an den Gruß und an die mit ihm erklärte Gesprächsbereitschaft tatsächlich ein Gespräch anschließt. Wenn es aber zustande kommt und nach einiger Zeit zu Ende geht, so wird es wieder mit einem [Abschieds]Gruß beendet, der über das Gesprächsende hinaus und wiederum reziprok die beiderseitig weiterbestehende Gesprächsbereitschaft zu erkennen gibt. So ist im Prinzip jedes Gespräch durch eine einleitende und eine ausleitende Grußformel markiert und in einen Höflichkeitsrahmen eingebettet. Es gilt als schwerer Verstoß gegen die Höflichkeit, auf ein Grußverhalten ganz zu verzichten oder einen gebotenen Gruß nicht zu erwidern. Denn mit dieser Unhöflichkeit verweigert man dem anderen die Rolle eines möglichen Gesprächspartners. Die konventionell geregelten Ausdrucksformen dieser hochgradig ritualisierten Gesprächsphasen sind (neben den schon angesprochenen non-verbalen Codes) im verbalen Bereich vor allem Kontaktwörter wie ‘Hallo’ usw., Anredeformen, Grußwörter. Die interne Handlungsstruktur von Begrüßungen ist relativ rigide geregelt, wobei die Auswahl der Elemente und ihre syntaktische Verknüpfung freilich sozial und kulturell, situativ und redekonstellativ variiert. Japaner z.B. betreten nie einen Raum ohne das obligatorische shizodê-shimashtà - etwa: ‘Ich habe eine Grobheit begangen’. Man muß die rituelle Funktion, also den Formelcharakter dieses Grußwortes kennen, um nicht etwa begütigend zu dementieren (“aber nicht doch”) oder verdutzt zurückzufragen (“och wieso denn? ”). Reziprozität des Gebrauchs von Anredeformen (cf. Zimmermann 1990) etwa indiziert ein höfliches bis freundschaftliches Verhältnis von Gleichrangigen, Nichtreziprozität eine Asymmetrie der Konstellation, wobei der inferiore Partner mit der Anrede beginnt und sie ausführlicher gestaltet. Die Frage nach dem Befinden kann je nach Konstellation als illokutionärer Akt, als Grußfloskel und Aufforderungssignal zur Komplettierung des Gesprächsschrittpaares mit identischer Folgehandlung oder als Kontaktwort ohne Zwang zu verbindlichem Folgehandeln aufgefaßt werden. Die jeweils angemessene Interpretation setzt eine “cultural fluency” voraus, wie Poyatos (1984) sagt, sonst kann es zu Mißverständnissen und widersprüchlichen Erwartungen kommen. Die charakteristische Sequenzstruktur von Begrüßungen ist bisher meist - in der Nachfolge Schegloffs vor allem (cf. Schegloff 1979) - am Beispiel von Telefon-Gesprächen untersucht worden, bei denen die Folge von Initiation und Reaktion, Identifikation und Gegenidentifikation der eigentlichen Gruß-/ Gegengruß-Sequenz vorausgeht. Wir wollen auf diese Untersuchungen hier nicht eingehen, weil sie inzwischen ein eigenes und sehr dynamisches Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 211 Forschungsfeld etabliert haben (cf. Luke & Pavlidou eds. 2002; Höflich & Gebhardt eds. 2005). Ein anderer Strang einschlägiger Untersuchungen ist historisch orientiert und knüpft z.T. an die eingangs erwähnten ethologischen Forschungen an. Sie interessieren sich für den Wandel der Grußformen in phylogenetischer Perspektive: wie aus Unterwerfungsgesten Achtungsbeweise werden, aus Friedenssignalen Freundschaftsbeweise, aus dem Abnehmen des Helms im Mittelalter das Hutlüften in der Neuzeit, aus dem Niederwerfen zu Boden, aus Kniefall und Verbeugung das heutige Kopfnicken. Mit der gesellschaftlichen Differenzierung ging dabei eine Differenzierung des Grußverhaltens einher, das zu regelrechten Grußzeremonien expandiert werden konnte. Sie fanden ihre Entsprechung in dem z.T. extrem ausgeweiteten Floskelapparat in den offiziellen Briefen im 17. und 18. Jahrhundert. Dieser Entwicklung entspricht in Deutschland die Geschichte der Anredeformen (cf. Butt 1968; Besch 2 1998): bis ins 9. Jahrhundert wurde, grob gesagt, allgemein geduzt, danach wurde die zweite Person Plural gegenüber Fremden und Ranghöheren gebräuchlich. Zu dieser Zeit gewann die Anredeform Symbolfunktion für den sozialen Rang. Im 15. Jahrhundert kommen zu den pronominalen Formen nominale, wie die Titel, hinzu. Im 17. Jahrhundert werden die Anredeformen Herr bzw. Frau als epitheta ornantia eingeführt und die pronominale Form der dritten Person Singular (er/ sie). Das Duzen wird unüblich und die zweite Person Plural wird altmodisch. Ende des 17. Jahrhunderts wird die 3. Person Singular in den Plural gesetzt und verbreitet sich rasch in der Form des Siezens, da jetzt die 3. Person Singular als despektierlich, als herablassend, als unhöflich empfunden wird. In funktionaler Perspektive schließlich, und drittens, kann das Grußverhalten auch die Standes- oder Gruppenzugehörigkeit definieren: man denke an die speziellen Grußformeln der Bergleute, Fischer und Jäger (“Glück auf! ”, “Petri Heil! ” und “Weidmanns Dank! ”), an die geheimgehaltenen Initiationsgrüße der Logen und Geheimbünde, an die klassen- und berufsspezifischen, alters- und geschlechtsspezifischen Grußformen (“Hi! ”, “Ciao! ” von Jugendlichen, “Cheerio”, “Cheers” von Männern in England, wo übrigens auch die Mitglieder der jeweiligen ‘Labour Unions’ ihre eigenen Grußformen verwandten, um sich ihrer Identität zu versichern). Mutuelle Definitionsleistungen wie in Fragen nach der Identität gehören zu den (z.B. von Iwar Werlen 1984: 241) so genannten “riskanten Formen” der Interaktion. Aber das Risiko kann durch eine Reihe von Kriterien benannt und, im Glücksfalle, gebannt, d.h. systematisch und interkulturell reflektiert werden. So hat z.B. Laver (1981: 289-318) für das Englische ein Schema von zwölf Kriterien entwickelt, die als Entscheidungshilfen für die Wahl korrekter Anredeformen bei der Begrüßung dienen können. Dazu gehören Bekanntschafts- und Verwandtschaftsgrad, Generationsverhältnis und Institutionalisiertheit in bestimmter Folge und deren Entsprechungen in der Wahl des sprachlichen Registers. Jede Sprache und Gesellschaft verfügt über solche mehr oder weniger reich strukturierte Register von verbalen, para- und non-verbalen Mitteln, mit deren Hilfe Sprecher ihre Verständigung initiieren, Kommunikationsverhältnisse etablieren und Rollenzuweisungen vornehmen. Während die Funktionen, die die Wahl von Gruß-Registern bestimmen, sich meist aus sozio-kulturellen Regeln ableiten lassen, unterliegen die Mittel zur Realisierung einer Auswahl häufig sprachspezifischen Restriktionen. So wird das Grußverhalten im Deutschen fundamental vom pronominalen Bereich geprägt, während es im Englischen wegen mangelnder und im Japanischen trotz großer morphologischer Differenzierungsmöglichkeiten eher im nominalen Bereich seinen sprachlichen Ausdruck findet. Pronominales Basisverhalten kann im Englischen kaum etwas ausdrücken, im Japanischen jedoch für Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 212 Formalität, im Deutschen für Status oder Solidarität entscheidende Hinweise geben. Die Möglichkeit der morphologischen Markierung von Pronomina im Japanischen wird zu einem subtilen System der differenzierenden Definition von Kommunikationsverhältnissen genutzt (cf. Kohz 1982: 76ff.). 4 Grußverhalten im interkulturellen Vergleich Diesem reich ausgebauten System steht in anderen Kulturen manchmal ein (u.U. vermeintlich) weniger ausgebautes System der Höflichkeitsformen gegenüber. Diese Asymmetrie kann zu Problemen führen: z.B. beklagte ein japanischer Kollege die Grobheit eines arabischen Gaststudenten, weil ihm nicht bewußt war, daß es - zumindest nach den Beobachtungen der Arabistin und Afrikanistin Friederike Braun (1984 a) - im Arabischen weniger Höflichkeitsformen gebe. Sie behauptet, durch den Gebrauch einer höflichen Anrede glaube sich der Araber selbst zu erniedrigen. 10 Das non-verbale Grußverhalten unterscheidet sich dagegen unstreitig vom europäischen. Gleichgeschlechtliche Freunde begrüßen einander mit Küssen auf beide Wangen und Umarmung, gegengeschlechtliche und entfernte Bekannte durch Händedruck in Verbindung mit einer knappen Grußformel, im jordanischen Arabisch etwa: ja hala ja hala/ halbi: k (Braun 1984 a: 225). Umgekehrt werden die Sympathie signalisierenden Floskeln im amerikanischen Grußverhalten von vielen Deutschen, bei denen diese offenbar spärlicher ausgeprägt sind, als oberflächlich und gar von Heuchelei nicht weit entfernt empfunden (cf. Kotthoff 1988: 8ff.). In den ehemaligen Kolonien in Afrika ist z.T. ein sonderbares Gemisch einheimischer und übernommener Grußformen entstanden. Das Tigrinya im nördlichen Äthiopien etwa vereint, wiederum nach Friederike Braun (1984b; cf. id. 1988), bei den Tageszeit-Grüßen das amharische sala: m, das kolonial-italienische ciao oder addio und das heute nahezu gemeineuropäische hallo. Überdies unterscheidet sich das Grußverhalten zwischen den einzelnen Religionsgemeinschaften. Anders als bei den Christen sind bei den Moslems und Amharen noch die älteren devoten non-verbalen Formen der Begrüßung von Ranghöheren in einer komplexen Bewegungsfolge zu beobachten: Zu-Boden-Fallen, Küssen des Bodens, Küssen der Füße, schließlich der Hände des Ranghöheren. Diese Bewegungsfolge kann bis zu dreimal wiederholt werden. Demgegenüber erscheint das uns vordergründig vertrautere Grußverhalten in den USA z.B. eher schlicht. Dabei ist es aber am besten untersucht in all seinen Nuancen. Kendon & Ferber (1973) haben Hunderte von Grußsituationen beobachtet und die dabei involvierten Bewegungsabfolgen detailliert beschrieben, bevor man zu dem schmucklosen Hi oder Hallo und How are you kommt oder zu jenem Geräusch, das einem etwa im Supermarkt gelegentlich als How’r’y’doin’ begegnet 11 : das Zurückwerfen des Kopfes, das Heben der Brauen, das Wegblicken bei der Annäherung, die Armbewegungen und sog. selbstbezogenen ‘Pflegehandlungen’, also z.B. das Zupfen an der Manschette, der Griff ans Ohrläppchen oder den Nasenflügel, das Glattstreichen des Haares. Solche selbstbezogenen ‘Pflegehandlungen’, wie sie die Sozialpsychologen in liebevoller Anschaulichkeit nennen, sind in vielen Kulturen in das Grußverhalten inkorporiert. Bei den Ainu in Nord-Japan streichen sich die Männer über den Bart, die Frauen durch’s Haar, in Tibet kratzen sich Rangniedrigere nach vorn gebeugt den Hinterkopf. Kendon & Ferber beschreiben noch ein paar weitere Phasen, ehe sie zur eigentlichen verbalen Phase kommen, dem “adjacency pair” der Formeln, also der Sequenz rituell verket- Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 213 teter Gesprächsschritte, bei deren Austausch man sich gegebenenfalls auch die Hand geben kann. Das Händeschütteln allein ist Gegenstand einer genauen Studie von Hall & Hall (1983: 249-262), in der sie es als Emblem beschreiben, das sich historisch entwickelt hat und kulturell variiert. Im antiken Griechenland wird es als Zeichen der Freundlichkeit verwandt, im mittelalterlichen Zentraleuropa ist es ein Zeichen der unbewaffneten Hand und also des Vertrauens zwischen den Rittern. In Nigeria greift man nach dem Daumen und schnalzt dann mit den Fingern gegen die Hand des anderen. In den USA gibt es, wie aufmerksame Fernsehzuschauer in den en gros eingekauften Krimi-Serien beobachten können, unter den Farbigen eine ähnliche subkulturelle Variante mit verhakten Daumen, die mittlerweile auch unter deutschen Jugendlichen gern gebraucht wird. Die Varianten können also auch Zeichen subkultureller Differenzierung und bewußter Abgrenzung von anderen Gruppen sein. So haben diverse Geheimbünde, Sekten, Bruderschaften, Gewerkschaften usw. Varianten des Händeschüttelns entwickelt, die sie geheimhalten und die zur Identifikation von Gruppenmitgliedern dienen (Hall & Hall 1983: 251). Dies gilt erst recht für die Varianten, die in Jahrhunderten von den Mossi in Obervolta, dem heutigen Burkina Faso (s.u.), entwickelt wurden. 12 Sie dienen auch dazu, Statusunterschiede deutlich zu machen. Der Rangniedrigere ergreift die Hand des Ranghöheren mehrfach und beginnt mit den Grußformeln. Der Ranghöhere bleibt passiv, sein Händedruck ist schwach. Bei großen Statusunterschieden können die Grußhandlungen recht komplizierte Strukturen annehmen. Das kann bis zu dem als ‘Mossi-Gruß’ berühmt gewordenen “poussipoussi” gehen, mit dem der König von den Häuptlingen begrüßt wurde, indem sie Kopfbedeckung, Waffen und Schuhe ablegen, sich niederlassen und dabei die Hände kreisförmig aneinander reiben, sich dann nach vorn verbeugen und mit gebeugten Armen und ausgestreckten Daumen zwölf mal mit den Fäusten auf den Boden klopfen. Dann reiben sie noch einmal mit den Handflächen aneinander, erheben sich und treten zurück. Wer gegen die komplizierten Regeln dieser traditionellen Etikette verstieß, mußte gewärtigen, im mildesten Falle ausgepeitscht zu werden. Gleichrangige und befreundete Mossi verbringen viel Zeit mit Händeschütteln, das oft wiederholt wird. Interessant ist dabei das Fehlen der Distanzgrußphase. Das bei uns übliche Winken von weitem würde als beleidigende Überheblichkeit gewertet. Aber dem Fremden werden Fehler leichter verziehen, man rechnet mit seiner Unkenntnis, eine Unterstellung, für die zumindest ihre hohe Wahrscheinlichkeit spricht. 5 Grüßen im malischen Bambara Bambara, oder auch Bamanankan, eine vor allem in Mali, aber auch in Burkina Faso und an der Elfenbeinküste verbreitete Mande-Sprache (der Niger-Kongo-Sprachfamilie), zählt nach aktueller Auskunft der Wikipedia-Enzyklopädie gemeinsam “mit Dioula und Malinke zum Dialektkontinuum […] des Mandekan, welches von ca. 30 Millionen Menschen in zehn Ländern Westafrikas in unterschiedlichem Maße verstanden und gesprochen wird.” 13 Es ist damit eine regionale lingua franca, mit der man sich nicht nur in Mali, sondern auch in weiten Teilen von Burkina Faso, an der Elfenbeinküste, in der östlichen Landeshälfte Guineas, im Ostsenegal sowie in bestimmten Regionen von Sierra Leone, Liberia, Guinea Bissau, Gambia und Mauretanien verständigen kann. Alle regionalen Varianten finden in der (ursprünglich schriftlosen) Manding-Kultur ihr gemeinsames Dach, die diese westafrikanischen Regionen jahrhundertelang unter den Ghana-, Mali- und Songoi-Reichen vereint hat. Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 214 Daher war lange strittig, inwieweit das Variantenkontinuum überhaupt als einheitliche langue identifiziert werden könne (Galtier 1978: 37): Si l’ensemble des linguistes est bien d’accord sur l’inventaire des parleurs constitutifs du mandingue […], le débat reste ouvert sur ce que constitue ce mandingue: une langue ou un ensemble des langues. Ce débat dépend essentiellement de la définition apportée au mot langue. Im Zuge der Islamisierung wurde die Manding-Kultur stark vom Arabischen beeinflußt, was sich bis heute im Wortschatz niederschlägt, während das Schriftsystem sich des lateinischen Alphabets (mit zahlreichen Sonderzeichen zur Kennzeichnung phonetischer Eigenschaften) bedient (sigini). Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf die malische Variante. Auch in der Bambara-Sprachgemeinschaft ist das Grüßen Ausdruck höflicher Begegnung, was sich z.B. niederschlägt in der semantisch engen Verknüpfung von bm. fooli mit bô_a (entspricht etwa ‘grüßen’ vs. ‘Respekt erweisen’) oder in der malischen Redensart fooli ye mogo ya ye (dt. ungefähr: ‘Grüßen ist die Menschheit’, was Höflichkeit impliziert). Im Gruße Respekt zu erweisen, ist für eine Sprachgemeinschaft kennzeichnend, die geprägt ist durch das, was die Franzosen ‘la gérontocracie’ nennen. In dieselbe Richtung zielt die kaum in westeuropäische Sprachen übersetzbare Redensart: den misen ni tå kå koo ko numa be mogo koroba dege noni (dt. ungefähr: ‘Ein Kind mit sauberen Händen kann Milch für die Älteren kochen’, was in etwa bedeutet, daß ein wohlerzogenes Kind viel von alten Leuten lernen könne). Die Extension der Grußphase ist dabei in der Manding-Kultur nicht nur vom Bekanntschaftsgrad der Gesprächspartner abhängig, sondern auch von ihrer sozialen Position im komplexen Schichtengefüge der Gesellschaft (horon, numun, jeli etc.). Die Patronyme (Namen der Clans) evozieren einen differenzierten Erzählhorizont, weshalb Männer einander oft mit solchen Namen anreden, z.B. I jalo! (dt. ungefähr: ‘Ich erkenne Dich als Mitglied der Linie der Jalo), was Männer mit einem stolzen n’ba beantworten, Frauen mit n’se. Gegenüber diesem kaum ins Deutsche übertragbaren Gesprächsschrittpaar finden die Zeitgrüße ihre Entsprechung in den meisten Sprachen, die Grußformen nach Tageszeiten (bzw. nach dem Stand der Sonne) differenzieren: I ni sogoma (‘Guten Morgen’, bis ca. 11.00 Uhr), I ni tile (‘Guten Tag’, 11.00 bis 16.00 Uhr), I ni wula (‘Guten Nachmittag’, 16.00 Uhr bis Sonnenuntergang), I ni su (‘Guten Abend’, soweit ein Individuum adressiert wird, bei adressierten Gruppen wird das I durch Aw ersetzt: Aw ni sogoma, ‘Guten Morgen’). Je besser sich die Grußpartner kennen, desto ausführlicher wird das Grußritual ausgestaltet. Man erkundigt sich nach dem Befinden der Familie, der Verwandten und Freunde. Aber auch bei weniger guten Bekannten würde das westlich knappe ‘Hello! ’ die Grenze zur Beleidigung touchieren. Vielmehr wird der Kontakt zunächst durch das verbreitete I ni ce (‘Danke! ’) eingeleitet, was dem deutschen Besucher auch nicht unmittelbar einleuchtet, bis er die eigentliche Bedeutung enthüllt hat (‘Ich grüße Dich bei Deiner Tätigkeit’). Vertrauter klingt da vielleicht das ihm aus dem Arabischen geläufige a salam aleikum, auf das mit dem Spiegelausdruck Wa leikum salam repliziert wird. Auch die Körpersprache wird dem Besucher zunächst fremd erscheinen. Frauen auf dem Lande etwa knien nieder zum Gruße, wenn sie einem Manne begegnen. Anders als in Europa wird der Besucher gegenüber dem Gastgeber oder der Jüngere gegenüber dem Älteren auch nicht höflich warten, bis dieser ihm die Hand reicht, sondern umgekehrt ihm zuerst die Hand darbieten, weil andernfalls er gegen die malische Etikette verstieße. Respekt wird zudem durch allerlei Geschenke bezeugt, Kolanüsse etwa oder Tabakpulver, mit einem zart gehauchten I bona file überreicht. Wer aus Deutschland kommt und derlei nicht immer dabei hat, tut gut, sich Alternativen zu überlegen. Und seinerseits auf der Hut zu sein und seine Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 215 Reaktion auf die Geschenke des Gastgebers mit Umsicht und Empathie zu kalkulieren, denn dieser wird daraus den Grad seiner Wohlerzogenheit abschätzen. Der Einfluß des Islams ist unüberhörbar; man wird die ständige Anrufung Gottes (a la ka …) als zum Ritual gehörig buchen, das auch allerlei gute Wünsche umfaßt, die den Gast vor Unheil schützen sollen. Auch wird man wechselseitig all der Freunde und Verwandten gedenken und sie in die guten Wünsche einschließen, denn was gilt und vermag ein Mensch denn schon allein: bolo den kelen te bele ta (‘ein Finger nimmt keinen Stein allein’), wie man sagt, und man erinnert sich des berühmt gewordenen Satzes von Seydou Badian Kouyaté (1957) “Je suis venu dans la main des autres et je retournerai dans leur main. Que suis-je sans les autres? ” 6 Gruß als Ritual Die hier aus verschiedenen Disziplinen eher kursorisch als definitorisch eingeführten Aspekte des Grußverhaltens lassen sich resumierend über den Begriff des Rituals zueinander in Bezug setzen 14 : Rituale als muster expressiven, nicht technischen, instrumentalen handelns und nicht bestimmt durch zweck-mittel-relationen (wie z.b. im frühjahr kartoffeln pflanzen, um sie im herbst zu ernten) verweisen als symbolische handlung wieder auf etwas anderes, das in der form und im inhalt einer szenischen darbietung bei der aufführung eines rituals mitpräsent ist; in einem ritual können teilnehmer durch die tatsache ihrer teilnahme repräsentierte wertsysteme und machtverhältnisse anerkennen. Sprachliche Rituale dienen den Kommunikationspartnern also dazu, ihr Verhältnis im Rahmen einer sozialen Ordnung zu definieren. Im Verweis auf diese soziale Ordnung tritt der Symbolcharakter des Rituals zutage. Die routinisierten Grußsequenzen bilden so etwas wie ‘rituelle Klammern’ um ein Gespräch gleich welcher Extension (cf. Goffman 1974: 118). Sie sind konventionell bestimmte, habituell eingeschliffene Zeichen für den ‘sozialen Rahmen’, innerhalb dessen das Kommunikationsverhältnis der Partner etabliert ist. In diesem doppelten Bezug auf den sozialen Rahmen des Gesprächs und die soziale Beziehung der Gesprächspartner liegt die semiotisch funktionale Leistung des Grußverhaltens. Mit der Wahl spezifischer Formeln aus einem Repertoire fester Handlungsschemata geben die Partner Zeugnis ihrer Interaktionsgeschichte und versichern sich auf ebenso zweckmäßige wie ökonomische Weise ihrer gemeinsamen kulturellen Handlungsbasis. Die Geltungskraft der dabei befolgten Regeln wird ex negativo besonders anschaulich in Fällen, in denen diese kulturelle Handlungsbasis gerade keine fraglos gemeinsame ist. Sie wird problematisch in Situationen interkultureller Kommunikation, wie das Florian Coulmas (1981: 140-145) am Beispiel des Deutschen und Japanischen eindringlich demonstriert hat. Je größer die kulturelle Distanz zwischen den Partnern und den von ihnen gebrauchten Sprachen (bzw. verbalen und non-verbalen Codes), desto schwieriger die Bestimmung der funktionalen Äquivalenz von Grußformeln. Und die Gefahr, mißverstanden zu werden, lauert an jeder Ecke und auf allen sprachlichen und nicht-sprachlichen Ebenen des Signalements (Roche 2001: 16): Gerade diese Tatsache macht es so schwierig miteinander zu kommunizieren, und zwar nicht nur über kulturelle Grenzen hinweg, sondern auch innerhalb einer Gemeinschaft mit dem gleichen kulturellen Hintergrund. Zu viele Konnotationen und Interpretationen erschweren das gegenseitige Verstehen. Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 216 Abb. 1: Gruß und Ritual als Problemsystem (aus: Hess-Lüttich 1991: 528) Des Grußes Ritualcharakter ist demnach nicht nur ethologisch herzuleiten, sondern in ihrer jeweiligen kulturellen Prägung zu beschreiben. Diese Differenzierung leitet zum Ausgangspunkt zurück: die soziobiologische Perspektive, in der Gruß-Zeichen auf aggressionsvermeidende Gesten zurückgeführt werden (s.o. Abs. 1) und als Handlungen beschrieben werden, die sich im Laufe ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung zwar von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst haben, aber weiterhin, mit neuem Sinn versehen und “symbolischem Mehrwert” ausgestattet (cf. Jetter 1978: 116), vollzogen werden, diese ethologische Perspektive 15 muß ergänzt werden um die interkulturelle Perspektive einer kontrastiven Pragmatik ritualisierter Handlungsroutinen im Dialog zwischen Angehörigen einander fremder Kulturen. Wie diese Verbindung zwischen Gruß und Ritual sich begriffssystematisch über ihren ethologisch beschriebenen Ursprung im tierischen Verhalten einerseits und ihre semiotisch beschriebene Entfaltung im menschlichen Verhalten andererseits herstellen läßt, mag der Versuch einer problemsystematisch skizzierten Übersicht veranschaulichen (Hess-Lüttich 1991: 528): in phylogenetischer Entwicklung über die Variablen Territorium, Dominanz/ Submission und Affiliation, die in erster Linie für die non-verbalen Kommunikate von Bedeutung sind; in symbolischer Vermittlung über die Variablen der Expressivität, Konventionalität und fehlenden Zweck-Mittel-Relation, die für das sprachliche Verhalten relevant werden (Abb. 1). Beide Codes, der verbale und der non-verbale, sind natürlich interdependent. Ihr Gebrauch ist Ausdruck spezifischer Kompetenz zur angemessenen Reaktion auf Handlungsimpulse, zur Handlungsplanung und -durchführung nach Maßgabe semiotischer, linguistischer, kultur- Verhüllung und Enthüllung im Ritual der Begegnung 217 übergreifender und kulturspezifischer Regularitäten. Diesen Regularitäten gilt es - und dazu soll diese Skizze ein wenig anregen - weit mehr als bisher das empirische und transdisziplinäre Interesse zu widmen, nicht nur in der Kultursemiotik, sondern auch in der Angewandten Linguistik, in der Kontrastiven Pragmatik und, nicht zuletzt, in der Interkulturellen Germanistik, damit wir verstehen lernen, warum und zu welchem Ende Menschen Rituale als Zeichen und Gruß-Zeichen als Rituale zu gebrauchen gelernt haben 16 : Jedes Territorium ist von Grenzen umgeben, die es gegen die Territorien anderer abgrenzen und den eigenen Anteil innerhalb des gemeinsamen Territoriums einer Gruppe, einer größeren Gemeinschaft oder eines ganzen Volkes anzeigen. Diese Einheiten sind gegenüber gleichartigen Größen wiederum durch Grenzlinien geschieden - Stammesgrenzen, Landesgrenzen, Sprachgrenzen […]. Jeder, der außerhalb dieser Grenzen lebt und sich ihnen nähert, ist ein potentieller Eindringling: Er könnte feindliche Absichten hegen und unser Territorium verletzen. Um diese Angst aufzuheben und ein friedliches Miteinander möglich zu machen, haben die Menschen eine Reihe von Ritualen entwickelt, durch die sie ihre freundlichen Absichten bei der Annäherung an ein fremdes Territorium signalisieren. Diese Rituale ändern sich von Kulturkreis zu Kulturkreis, doch allen ist ein Signal gemeinsam: Die offene Hand. 7 Literatur Badian, Seydou 1957 [s.u. Kouyaté] Bailleul, Charles 1996: Dictionnaire Français-Bambara, Bamako: Éditions Donniya Besch, Werner 2 1998: Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Birdwhistell, Ray L. 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Birdwhistell [1968] 1984: 193. 5 Zur Theorie und Methodologie der Proxemik cf. insbesondere Hall 1968; id. 1976; St. Clair 1980. 6 Scheflen 1976: 38; cf. zum Folgenden auch Scheflen 1975: 159-173. 7 Zu den kommunikations- und zeichentheoretischen Grundlagen cf. Hess-Lüttich 1981. 8 Ekman & Friesen [1972] 1984; Kendon [1973] 1984; Poyatos 1983. 9 Cf. Poyatos 1980; id. 1983; id. 1984. 10 Die Beobachtung ist natürlich von arabischer Seite nicht unwidersprochen geblieben: Khalil (1997: 77) etwa moniert methodische Schwächen der Braun-Studie und fordert zu Recht eine systematische Beobachtung interkulturellen Grußverhaltens, um tradierte Stereotypen gerade bezüglich des arabischen Höflichkeitsspektrums kritisch zu überprüfen (cf. dazu inzwischen Bouchara 2002). 11 Kendon & Ferber 1973: 618ff. Cf. zum Folgenden ibid.: 636ff. Kendon & Ferber sagen allerdings nichts über das Grußverhalten der amerikanischen Ureinwohner, die z.T. hochinteressante Grußrituale ausgebildet haben. Ein Beispiel ist der berühmte “Tränengruß” oder “salutation larmoyante”, der bei den Indianern in Nord- und Südamerika beobachtet wurde, aber auch bei den Ureinwohnern Australiens in Queensland, mit dem Fremde von den einheimischen Frauen begrüßt werden. Einen Überblick über die reichhaltige Literatur zu dieser speziellen Form des Grüßens bietet Harbsmeier 1987: 90-114. 12 Cf. zum Folgenden Collett 1983: 191-238. 13 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Bambara [08.08.2007] Der Sprachcode ist gem. I SO 639-1 ‘bm’. Das gemeinsame Merkmal der Kontextgebundenheit teilt Bambara übrigens auch mit schweizerdeutschen Dialekten: “In der mathematischen Linguistik ist Bambara von besonderem Interesse, da bisher nur für sehr wenige Sprachen gezeigt werden konnte, daß sie nicht kontextfrei sind. Während sich der Beweis beim Zürichdeutschen und Ernest W.B. Hess-Lüttich & Djouroukoro Diallo 220 Niederländischen auf den Satzbau stützt, basiert das Argument für die Nicht-Kontextfreiheit von Bambara auf der Wortbildung” (loc.cit.). Zur Bamako-Lexik cf. auch Culy 1985; Bailleul 1996. 14 Hartmann 1973: 140 [Kleinschreibung: sic]. Zum Folgenden cf. auch Lüger 1992: 20-30. 15 Cf. dazu auch den Überblick bei Sager 1988. 16 Das folgende Zitat entstammt einem Buch des Pantomimen Samy Molcho (1983: 206) über Körpersprache, hier auszugsweise zitiert nach Lüger 1992: 28. “Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa” Kartosemiotische Aspekte audiovisueller Dialektkartographie. Zum elektronischen Sprachatlas der deutschen Schweiz (aSDS) Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern/ Stellenbosch) & Hans-Christian Leiggener (Biel/ Bienne) 1 Überblick 2 Sprache als Lautsequenz und Bildfläche: Raumstrukturierung nach Isoglossen 3 Schrift als Laut-Zeichen? Tonträger und Transkription 4 Semiotische Aspekte der Dialektkartographie 5 Technische Probleme der Zeichenverwendung in der kartographischen Praxis 6 Fazit 7 Literatur Report on a project of digital dialect carthography for the integration of several types of dialectological data in various codes. The emphasis lies on the discussion of semiotic and technical problems in applications of multimedia and man-machine-interaction. Bericht über ein Projekt digitaler Dialektkartographie zur Integration von mehreren Typen dialektologischer Daten in verschiedenen Codes. Dabei wird besonderes Gewicht auf die kartosemiotischen Fragen und technischen Probleme angemessener Datenrepräsentation in multimedialen Umgebungen zur interaktiven Nutzung gelegt. 1 Überblick Ziel des Projekts, über das hier berichtet wird, ist die Begründung, Beschreibung und auch technische Erstellung einer neuen Art der dialektologisch-dialektkartographischen Datenaufbereitung für eine zeitgemäße audiovisuelle 3D-Dialektgeographie auf der Höhe ihrer technischen Möglichkeiten. 1 Wesentlicher Bestandteil ist die Entwicklung einer CD-Rom, die dem Nutzer aufgrund der multimedialen und interaktiven Formatierung die auditive und visuelle Analyse der repräsentierten dialektologischen Daten erleichtern soll. Sie bietet 43 Karten, die in der subtextuellen Tiefenstaffelung zugleich je 67 Tonträger und deren Transkription sowie die Erläuterung des jeweils abgerufenen dialektalen Phänomens enthalten. Das Projekt ist im wesentlichen zwischen drei Eckpfeiler eingehängt: (i) die topographische Gliederung der Deutschschweiz mit der Ermittlung und Klassifikation der Isoglossen zu den ausgewählten Dialektphänomenen, (ii) die auditiven Daten aus den Archiven mit den Kriterien ihrer Verwendung, (iii) die dialektkartographische Repräsentation dieser Daten einschließlich der toposemiotischen Reflexion dieses intermedialen Transferprozesses zwischen Zeichensystemen unterschiedlicher Struktur und Modalität. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 222 Auf der Linie dieses Programms werden zunächst eingehend die Sprachverhältnisse in den Gemeinden der deutschsprachigen Schweiz beschrieben, insbesondere im Hinblick auf die Raumstrukturierung der deutschen Schweiz und die Isoglossen der einzeln betrachteten dialektalen Phänomene. Die Daten gründen auf den Befunden des Sprachatlasses der deutschen Schweiz (= SDS), ergänzen diese jedoch durch den Einbezug neuerer dialektologischer Literatur. So können alle Gemeinden kartiert werden, während der SDS nur eine Auswahl repräsentiert; damit können bestehende kartographische Lücken geschlossen werden, auch wenn dies hier und da mit der (möglicherweise kontrafaktischen, aber auf Majoritätsverhältnisse gestützten) Annahme dialektaler Homogenität auf der Bezirksebene erkauft wird. Die dadurch vor allem in Mischregionen und Überlappungszonen entlang der Sprachgrenzen auftretenden Extrapolationsunsicherheiten sind kaum vermeidlich, aber als Darstellungsproblem reflektiert. Auf der anderen Seite ermöglicht die Datenreduktion auch klare Kartenbilder und einen benutzerfreundlichen Umgang mit dem nach dialektalen Hauptoppositionen übersichtlich klassifizierten Sprachmaterial. Das auditive Material, also die “Tonträger” und deren Transkriptionen, liefern zu jedem der Kartenbilder 67 Belege, zusammen also 871 Hörbeispiele und deren Verschriftlichung. Das Material dazu entstammt vor allem dem Datensatz “Gespräch am Neujahrstag” des Sprechenden Atlasses (1952) sowie den SDS-Phonogrammen (1972-1976), stellt also (methodologisch bewußt) gerade nicht den gegenwärtigen Lautstand dar. Im Ausgangsmaterial begründet sind daher auch die damit einhergehenden Einschränkungen hinsichtlich der Berücksichtigung der Dialektregionen (so fehlt z.B. die Dialektlandschaft des Goms im obersten Wallis) und der dialektalen Variablen (so wird z.B. der Verbplural nicht berücksichtigt). Den Unterschieden zwischen den Tonträgern des Sprechenden Atlasses und der SDS- Phonogramme hinsichtlich der Gewährspersonenauswahl oder des Aufnahmezeitpunktes wird im Blick auf den vorliegenden Anwendungszweck des Projektes nicht systematisch Rechnung getragen. Hier interessiert mehr der unmittelbare Zusammenhang von lautlicher Realisation und deren kartographischer Verortung; das semiotische Problem der Interpretation der auditiven Daten in ihrer graphisch-visuellen Form durch den Prozeß der Verschriftlichung wird dagegen nur am Rande berührt. Inwieweit das seit gut zweihundert Jahren bewußte Problem angemessener Dialekterfassung durch den schriftlichen Code damit gelöst sei, wie Leiggener (2006: 205) hofft, kann hier nicht aus eigenem Recht diskutiert werden (kritische Stimmen zu Dialekt und Dialektologie zitiert Hess-Lüttich 2000). Das Problem der intermedialen Code-Relationen wird aus semiotischer Perspektive erörtert (zum Code-Begriff s. Hess-Lüttich 1994; zur Intermedialität s. id. 2006). Die ‘mediensemiotische’ Diskussion von Grundbegriffen der ‘Multimedialität’ und der ‘Interaktivität’ (in der Mensch-Maschine-Interaktion) ist in vollem Gange. Wichtige Arbeiten zur Deixis in der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI), zur multimedialen Informationsrepräsentation und zur einschlägigen Kartosemiotik wurden vor allem von Dagmar Schmauks vorgelegt (cf. Schmauks 1991; id. 1996; id. 1998). Aus der Korrelation der Daten von Raum, Text und Laut wird versucht, eine dreidimensionale Dialektgeographie zu begründen, die das ehrwürdige Isoglossen-Konzept durch Farbkontraste flächig visualisiert, dabei aber den Bezug zur Sprecherzahl in den Flächen berücksichtigt und das geomorphologische Relief abbildet. Der Einsatz von dazu kombinierten technischen Hilfsmitteln unterschiedlicher Datenfiles (im .tbl-Format), Geometriefiles (im .agf-Format) und Kartenbeschreibungsfiles (im .xml- Format) entsprechen dem technischen Stand heute möglicher Dialektkartographie (die z.T. auch bereits Videosequenzen zu integrieren vermag). Die mathematisch suggerierte Präzision Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 223 der Phänomen-Darstellung wird dabei freilich nicht immer der Komplexität der Phänomen- Wirklichkeit gerecht: so exakte Grenzziehungen wie im Kartenbild gezogen sind gerade in Mischzonen und in Isoglossennähe kaum möglich, vereinfachen aber das Bild zumal für den Laien in anschaulicher Weise. Das macht die Resultate der “audiovisuellen 3D-Dialektgeographie” jedoch leichter praktisch anwendbar sowohl auf die drei Dimensionen Ton, Text und Kartenbild als auch die dreifach instrumentierte technische Programmierung und das dreidimensionale Blockbild der geomorphologischen Reliefkarten. Die Verbindung von Originalkarte mit den auditiven und transkribierten Befunden, farbiger Flächenkarte mit deren Verteilung im Raum, Punktsymbolkarte mit den aktivierbaren Ortspunkten der empirischen Erhebung und Flächenkombinationskarte mit der Korrelation linguistischer und extralinguistischer Daten stellt eine nützliche Erweiterung und technische Aktualisierung des dialektgeographischen Instrumentariums dar. Dafür spricht auch, daß Teile aus dem hier aufbereiteten Material Eingang finden sollen in den “Atlas der Schweiz 3”, dessen Publikation vorbereitet wird. Die Stärke des Ansatzes liegt vor allem in der technischen Aufbereitung bekannter Daten, weniger in der Erschließung neuer dialektologischer Erkenntnisse. Dafür markiert die ‘semiotische’ Diskussion der Probleme von Code-Wechseln und Zeichen-Transfers (cf. Hess- Lüttich ed. 1987; id & Posner eds. 1990) angesichts des in diesem Bereich erreichten Reflexionsniveaus interessante transdisziplinäre Anschlußstellen, um das bekannten Quellen entstammende Datenmaterial nicht nur im Lichte der klassischen diachronen Dialektologie zu deuten, sondern auch für die soziolinguistische Beschreibung im Sinne moderner social dialectology zu erschließen. Aber allein schon die Variablenauswahl und -übertragung, die Anwendung auf das von professionellen Kartographen bereitgestellte Kartenwerk und die umfassend kommentierte Datenkombination und -komprimierung in einer anwendungs- und nutzerfreundlichen CD-Rom rechtfertigen eine optimistische Prognose bezüglich des Erfolgs dieses Ansatzes angewandter Kartosemiotik in der Praxis. 2 Sprache als Lautsequenz und Bildfläche: Raumstrukturierung nach Isoglossen Mittels der multimedialen interaktiven CD-Rom kann auch der Laie die Daten des audiovisuellen Sprachatlasses der deutschen Schweiz (aSDS) sowohl auditiv als auch visuell analysieren. Damit wird eine neue Art der Datenaufbereitung für die klassische Dialektgeographie bereitgestellt: die CD-Rom stellt in diesem Falle, wie gesagt, insgesamt 43 Kartenbilder mit je 67 Tonträgern und deren Transkription einschließlich der Erläuterung des jeweiligen dialektalen Phänomens per Mausklick zur Verfügung. Das verbindet den Einblick in die sprach-räumliche Binnendifferenzierung (durch Klassifikation der Isoglossen) mit dem empirischen Befund auf der Grundlage der Tonträger und deren mediensemiotisch reflektierte dialektkartographische Lösung durch multimediale Integration der Daten. Die dialektologische Analyse der Sprachverhältnisse in den einzelnen Gemeinden dient dem Überblick über die sprachliche Raumstrukturierung der deutschen Schweiz. Zudem wird der Verlauf der Isoglossen kommentiert und der SDS-Datensatz im Hinblick auf die kartographische Darstellung klassifiziert. Die bereits von Rudolf Hotzenköcherle (1984) eingeführte Einteilung der “Sprachlandschaft der deutschen Schweiz” mit der wirkungsmächtigen Unterscheidung zwischen Hoch- und Höchstalemannisch (also der Nord/ Süd-Gegensatz) und dem West/ Ost-Gegensatz der helvetischen Dialektlandschaft dient dabei als Ausgangspunkt. Allerdings müssen weitere Daten einbezogen werden, da der aSDS alle Gemeinden der Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 224 deutschen Schweiz kartiert, während die SDS-Daten nur jede dritte Gemeinde berücksichtigen. Die dadurch bislang bestehenden kartographischen Lücken können auf diese Weise weitgehend geschlossen werden. Etwaige noch bestehende ‘weiße Flecken’ können durch (kontrafaktische) Homogenitätsannahmen (aufgrund bestehender Mehrheitsverhältnisse) innerhalb von Bezirken als den zweitkleinsten administrativen Einheiten der Schweiz minimiert werden. Wenn etwa in einem Bezirk mit drei Aufnahmeorten zwei Aufnahmen identische dialektale Varianten aufweisen und die dritte davon abweicht, wird diese als Ausnahme innerhalb des gesamten Bezirks als einer zusammenhängenden sprachlichen Einheit betrachtet und entsprechend eingerechnet - ein Verfahren, das sich in der Dialektologie auch bislang bereits durchaus bewährt hat (cf. Zinsli 2 1957; Meng 1986; Bietenhard 1991). Bei der angestrebten Berücksichtigung sämtlicher deutschsprachiger Gemeinden der Schweiz stellen (neben der Detailanalyse der dialektalen Verhältnisse innerhalb eines Kantons) vor allem die gemischtsprachigen Regionen und die Situation an den Sprachgrenzen eine methodische Herausforderung dar. Dies erfordert moderne Kartiermethoden auf der Grundlage der jeweils neuesten zur Verfügung stehenden Daten, die freilich vielfach noch nicht in digitalisierter Form vorliegen. Die im Zuge der Volkszählung im Jahre 2000 erhobenen Sprachdaten können hier ergänzt werden. Dabei zeigen sich vor allem im Kanton Graubünden, aber auch im Kanton Freiburg heute andere Sprachverhältnisse als zur Zelt der Erhebung der SDS-Daten. Dort wird z.B. in Graubünden eine Vielzahl von nach der Volkszählung von 2000 mehrheitlich deutschsprachigen Gebieten noch dem rätoromanischen Territorium zugeschlagen. Der Umstand, daß die Gebiete, deren Deutschsprachigkeit relativ jung ist, zwischen zwei verschiedenen Dialektregionen (dem Südwestwalserischen und dem Churrheintalischen) liegen, erschwert die dialektologische Einteilung nicht unerheblich (cf. Willi & Ebneter 1987; Wellstein & Ebneter 1991; Ludwig & Ebneter 1988). Ähnliche Probleme ergeben sich an den Sprachgrenzen, z.B. in den gemischtsprachigen Gemeinden des Freiburger Seebezirks (cf. bereits Henzen 1924). In solchen Regionen gilt in der Regel jeweils die sprachliche Mehrheit als Maßstab. 2 Bei der arealen Verteilung eines jeden im aSDS aufgeführten Dialektmerkmals wird ausgehend vom Datensatz des SDS die Anzahl von Isoglossen aufgrund von Klassifikationen, die die dialektalen Hauptoppositionen hervortreten lassen, systematisch und methodisch kontrolliert reduziert, um klare Kartenbilder zu generieren. Seltene Befunde, die auf keinem Tonträger Eingang finden, werden dabei dem sie umgebenden dialektalen Umfeld zugerechnet. Die Klassifikationen werden zudem durch Transkriptionen visuell unterstützt. 3 Schrift als Laut-Zeichen? Tonträger und Transkription Die Tonträger sowie deren Transkriptionen stellen insofern eine substantielle Bereicherung des aSDS dar, als bei pro Kartenbild 67 Tonträgern 871 auditive Belege und Transkriptionen Grundlage der Auswertung sind. Die Belege entstammen den berühmten “Gesprächen am Neujahrestag” des Sprechenden Atlasses und der SDS-Phonogramme. Das Corpus bietet einen Vergleichstext, der eine Gegenüberstellung der in den 67 verschiedenen Ortschaften üblichen Sprachgepflogenheiten realisiert und somit eine kartographische Darstellung mittels Isoglossen ermöglicht. (Die weiteren Aufnahmen der SDS-Phonogramme sind bisweilen sehr umfangreich, aber schlecht miteinander vergleichbar.) Für den aSDS bedeutet das Einschränkungen in zwei Hinsichten: (i) wenn Tonträger von 67 Ortschaften vorliegen, sind Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 225 bestimmte Dialektlandschaften nicht vertreten; (ii) die Textgrundlage beschränkt die Anzahl der betrachteten dialektalen Variablen. Einige bekannte dialektale Phänomene wie der Verbalplural oder die Sprachlandschaft des Goms im obersten Wallis können dadurch nicht berücksichtigt werden. Weitere Einschränkungen ergeben sich (iii) hinsichtlich der Gewährspersonen, die den Text sprechen und damit die Daten des SDS geliefert haben und (iv) hinsichtlich des Aufnahmezeitpunkts. Wenn einige der Gewährspersonen des Sprechenden Atlasses dem für den SDS geforderten ‘klassischen Profil’ bezüglich Herkunft, Berufstätigkeit und ständigem Wohnsitz nicht ganz entsprechen, so wird das i.d.R. durch deren berufliches Interesse am Dialekt kompensiert, insofern sie z.B. als Lehrer selbst dialektologische Schriften zu ihrer Umgebung verfaßt haben (wie Albin Fringeli) oder wissenschaftlich einschlägig engagiert waren (wie Walter Henzen oder Otto Frehner aus Herisau, der die Korrekturen zu den Transkriptionen seines gesprochenen Textes für die Begleittexte zu den SOS-Phonogrammen selbst vornahm). Das Problem Aufnahmezeitpunkt der Tonträger des Sprechenden Atlasses einerseits und der SOS-Phonogramme andererseits besteht darin, daß erstere bereits aus dem Jahre 1943 stammen, letztere (bis auf eine Ausnahme) im Zeitraum zwischen 1954 und 1960 entstanden, was Zweifel an der Synchronie der Daten rechtfertigt. Für die Diachronie fehlen zudem aktuell erhobene Daten, für die noch kein vergleichbares Corpus zur Verfügung stand. Methodisch problematisch ist auch die kontextfreie Verwendung von einzelnen Sätzen oder Teilsätzen aus den Corpora, die möglichst viele Variablen enthalten, wobei aufgrund begrenzter Speicherkapazitäten jedes Dialektmerkmal nur einmal betrachtet werden kann. (Die einzige Ausnahme ist das wiederholte Notat von mhd. / â/ in schwer und in Käse, da die Variable die durch die Walserwanderungen bedingten dialektalen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Teilen Graubündens und dem Wallis widerspiegelt.) Die Texte sind trotz standardsprachlicher Vorlage (ein weiteres methodisches Problem) keineswegs identisch, da die Sprecher nicht selten von der Vorlage abweichen. Diese Probleme werden indes teilweise aufgewogen durch den Vorteil, daß alle Variablen, in Ko-Texte eingebettet, dem Nutzer Aufschluß geben über prosodische Merkmale (Intonation, Satzmelodie, Phonotaktik) realitätsnaher Verwendung. Damit wird der Informationsverlust durch Code-Transformationen minimiert (cf. Hess-Lüttich 2004: 3490f.). Das Problem war auch der traditionellen Dialektologie bereits bewußt: “Phonetische Mundarttranskriptionen - und wären es die feinsten - haben den Nachteil, daß sie die gesprochene Realität nur unvollkommen evozieren” (Hotzenköcherle 1962 a: 73). Der aSDS erfüllt in diesem Punkt ein seit langem formuliertes Desiderat. Selbst die heute hoch elaborierten Transkriptionssysteme und Partiturnotationen können den faktischen Sprachgebrauch nicht verlustbzw. interpretationsfrei abbilden. Die Verschriftung einer Substandardvarietät enthält bereits eine durch sprachwissenschaftliche Erkenntnisse begründete Darstellungsform, d.h. jegliche “Verschriftlichung von gesprochener Sprache [ist] Teilbearbeitung, da die Zuteilung der gesprochenen Laute zu einem Schriftzeichen nur durch die eine vorläufige lautliche Interpretation möglich ist” (Löffler 3 1990: 66). Die Klage über die Grenzen der Schrift als Zeichenkette für das Lautkontinuum bzw. zu dessen Abbildung ist so alt wie das Nachdenken über Sprache (cf. Stetter 1997). Auch in der Frühphase dialektologischer Studien schmerzte manchen der Philologen, die von ihnen wahrgenommenen dialektalen Nuancen nur unzureichend semiotisch umcodieren zu können; so schränkte Franz Joseph Stalder schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine diesbezüglichen Anstrengungen ein: “Diese Übersetzungen, verfaßt von Männern, die der örtlichen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 226 Sprachart wohl kundig sind, geben getreulich den Dialekt jedes Ortes, sofern sich der Ton und Laut desselben in leblosen Schriftzeichen ausdrücken läßt” (Stalder 1819: 273f.). Der aSDS vermeidet das Problem durch seine audiovisuelle Kartierung und konserviert zugleich einen historischen Sprachstand im Medium des gesprochenen Wortes, ohne deshalb auf Schrift verzichten zu müssen. Aber durch die multimediale Polycodierung in Ton, Schrift und topologischer Verteilung wird dem Benutzer die dialektale Information mehrfach und (in den Einzelcodes gegeneinander überprüfbar) übermittelt, was akustisch oder artikulatorisch bedingte Fehlerquoten oder Verstehensprobleme erheblich vermindert. Die Transkriptionen relativieren zudem die (im Verhältnis zu den SDS-Transkriptionen bereits ihrerseits stark klassifizierten) kartographischen Klassifikationen, denn sie erlauben dem Nutzer, etwaige stärkere Differenzierungen innerhalb des Kartenbildes selbst zu erkennen und zu interpretieren. 4 Semiotische Aspekte der Dialektkartographie Wir halten also fest: werden (Sprach-)Daten in ein anderes Medium übersetzt oder miteinander kombiniert, geht damit zugleich und mit semiotischer Notwendigkeit eine Veränderung dieser Daten einher. Im aSDS werden die dialektologischen Daten, die Tonträger und die Transkriptionen multimedial zusammengeführt. Ihr Zusammenwirken ergibt hinsichtlich der Zeichenprozesse des Kartierens einen Mehrwert, der medienbzw. kartosemiotisch expliziert werden kann: mediensemiotisch insofern die Daten im Medium der interaktiven CD-Rom polycodiert notiert werden können; kartosemiotisch insofern kartographische Datenverarbeitung und -analyse die semiotischen Modalitäten ikonischer, symbolischer und indexikalischer Datenrepräsentation nutzt. Deshalb ist unsere dialektologische Fragestellung recht eigentlich eine semiotische: “Semiotics, the study of sign processes and systems in nature and culture, has contributed approaches to the media since the very beginning of media studies” (Nöth 1997: 1). Der Ansatz verbindet demnach Multimedialität mit Interaktivität. Bei aller technizistischen Verkürzung der heute geläufigen Verwendung des Begriffs ‘Multimedia’ als “Kombination technischer Medien, insbesondere […] Verschmelzung von Fernsehen und Computer, von Audivisualität und Datenverarbeitung” (Hess-Lüttich 1992: 433), hat die technische Entwicklung die synchrone Kombination von Kartenbild, Ton, Transkription und Kommentartext im Medium der CD-Rom erst für die multimediale Anwendung ermöglicht, weil sie im Vergleich zu anderen Speichermedien “aufgrund ihrer großen Kapazität […] zahlreiche Texte, Grafiken, Animationen, Videoclips, Programme usw. aufnehmen [und] für die verschiedensten Informationsangebote” aufbereiten kann (Voets & Hamel 1995: 61). Insofern erlaubt das Medium “die Integration aller herkömmlichen Informationsträger zu einem interaktiven multimedialen System” (Hess-Lüttich 1992: 442), das die Modalitäten der Funktionsweise des aSDS bestimmt, nicht jedoch dessen kartographischen Gehalt (s.u. zu kartosemiotischen Aspekten). Die drei hier involvierten Bestandteile Karte, Text und Ton sind eigens für den aSDS digitalisiert worden, damit sie technisch kookkurrieren können. Dieser Digitalisierungsprozeß ist für die Kartographie um ein Mehrfaches aufwendiger als für den Text (Transkriptionen) oder den Ton, er limitiert bisweilen auch den Handlungsrahmen (s.u. zu technischen Aspekten). Interaktivität konstituiert sich durch die “Art des Informationsaustauschs zwischen Mensch und Maschine, bei dem die Möglichkeit besteht, in den Ablauf einzugreifen bzw. Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 227 diesen zu steuern. Interaktiv wird oft auch als Synonym für dialogorientierte Bedienung - z.B. einer Software - benutzt” (Voets & Hamel 1995: 162). Schmauks (1996: 151) nennt ein System interaktiv, “wenn es auf Benutzereingaben flexibel reagiert”, Weiss ( 5 1993: 12.94) spricht von einem “Verfahren, das den Dialog mit dem Computerprogramm ermöglicht. Das Multimedia-Programm ist dabei so konzipiert, daß es auf jede Wahl oder jeden Befehl des Benutzers in einer spezifischen und sinnvollen Weise, wenn möglich intuitiv und spontan, reagiert”. In der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) kann bei Multimedia-Produkten der neuen Generation dem Interesse des Nutzers effektiver Rechnung getragen werden. Der mit Audioschnittstelle ausgestattete Computer kann als Werkzeug dienen, das den bestmöglichen Zugang zur gesprochenen Wirklichkeit verschaffen kann, d.h. das dem Nutzer die technisch bestmögliche Wiedergabe einer dialektalen Äußerung abzurufen erlaubt. Das zusätzliche Einflechten des Textes (sowohl der Transkriptionen wie der Erläuterungen) unterstützt die MMI dabei entscheidend: “In einem alternativen Ansatz wird der Computer nicht als Dialogpartner, sondern als Werkzeug aufgefaßt, das wie alle Werkzeuge unzureichende menschliche Fähigkeiten erweitern soll” (Schmauks 1991: 119). Dies bedeutet natürlich nicht etwa vollständige Nachahmung der Realität. Die MMI versucht zwar, dem Prozeß alltäglicher Kommunikation immer ähnlicher zu werden, aber eine Vielzahl konkomitanter Faktoren und nonverbaler Komponenten wie Mimik, Gestik, Proxemik usw. in unmittelbarer en-face-Verständigung fehlen: “Wenn Bestrebungen zur Verbesserung der MMI das Leitziel ‘Natürlichkeit’ haben, kann man sich z.B. am Vorbild der face-to-face Interaktion orientieren. […] Dennoch liegt immer noch eine erhebliche Verkürzung gegenüber natürlichen Dialogen vor, bei denen Sprache von nonverbalen Mitteln begleitet wird” (Schmauks 1991: 119). Zum Verbalausdruck kommen bei der vorliegenden CD-Rom graphische Elemente hinzu in Form von Ortspunkten oder “earcons”, die per Mausklick interaktiv werden, d.h. “sprechen”: “Bei sogenannten ‘hörbaren Graphiken’ haben die normalerweise nur sichtbaren Piktogramme (‘icons’) auch akustische Aspekte. Aufgrund des Wortspiels ‘icon-eyecon’ werden sie darum ‘earcon’ genannt. […]. Falls der Cursor ein earcon berührt, erklingt dessen kennzeichnender Ton” (Schmauks 1998: 21). Die Ortspunkte figurieren auf den aSDS-Karten als genau jene Zeichen, die die Schnittstelle zu den auditiven Daten darstellen. Index-Gesten sind als individueller Ausdruck von Interesse ein wichtiger Bestandteil der Interaktivität. Das ‘Zeigen’ erfolgt am Computer normalerweise mittels Maus und Mausklick. Die Cursorbewegungen “können als Simulation der Bewegungen aufgefaßt werden, die ein Mensch beim taktilen Zeigen mit seinen Fingerspitzen ausführt” (Schmauks 1996: 150). Dieses Zeigen simuliert aber nicht nur diese für den Menschen äußerst wichtige Interaktionsgeste, sondern kann auch die sprachliche Eingebung (den verbalen input) substituieren: “Ersetzung sprachlicher Interaktion ist durch eine Vielzahl von Techniken möglich. […] Der Benutzer kann aus einer Menge antizipierter Möglichkeiten durch ‘Zeigen’ eine auswählen” (Schmauks 1991: 123). Das Zeigen mittels Mausklick identifiziert bei der vorliegenden CD-Rom exakt den Ortspunkt und stellt das dazugehörige auditive und textliche Material bereit. Semiotisch relevant wird bei der Interaktion zudem jede Veränderung des Erscheinungsbildes am Bildschirm. Die “lokalen Änderungen des visuellen Kontextes” (Schmauks 1991: 125) ratifizieren die Zeigehandlungen des Nutzers. Mit der Wahl eines jeden neuen Menüpunktes des aSDS erscheint eine neue Karte am Bildschirm. Im Gegensatz zur statischen Information einer Karte, auf der sich nur Informationen ablesen lassen, die aber selbst nicht interaktiv veränderbar ist, spricht man hier deshalb von dynamischer Information (cf. Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 228 Abb. 1: Anwendungsbeispiel des aSDS: Mit jedem Mausklick ändert sich der visuelle Kontext. Die Abb. zeigt exemplarisch das Kartenbild der Monophthongierung in “Geiss” (SDS I 109). Am rechten Bildschirmrand ist die ausgewählte Variable unterstrichen, in der unteren Mitte wird das dialektale Phänomen erklärt und unmittelbar oberhalb erscheint die Transkription der dialektalen Äußerung des angeklickten Ortspunkts. Der aktive Ortspunkt ist zudem mittels eines Kreises gekennzeichnet. Schmauks 1991: 125). Eine Computergraphik wird also wie das Fernsehen oder wie ein Video als “dynamisches Bild” betrachtet (cf. Caneparo & Caprettini 1997: 148). Die im aSDS abrufbaren 43 Kartenbilder in Verbindung mit den an diese jeweils gekoppelten 67 Tonträger konstituieren somit eine dynamische Dialektkarte, die auf Benutzereingaben reagiert. Wir haben es hier also mit einer interaktiven Anwendung zu tun, bei der sich die polycodierten Informationen von Karte, Ton und Text zum dynamischen Superzeichen supplementieren. Als Gefüge von Elementen, das mehr ist als deren Summe (Totalität) und als Gefüge von Elementen, die gegenseitig voneinander abhängen (Interdependenz) ist es ein Zeichen von komplexer Struktur (cf. Oppitz 1975: 19), das im Mittelpunkt des Interesses moderner Kartosemiotik steht. Gegenstand der Kartosemiotik ist “die semiotische Untersuchung von topographischen und thematischen Karten” (Nöth 1998: 25), die längst auch die sog. Neuen Medien in die Kartographie mit einbezieht. Dadurch erfahren die traditionellen Dialektkarten im Hinblick auf die Aspekte Statik, Visualität und Zweidimensionalität eine deutliche Erweiterung. Die Visualität wird z.B. durch die Tonträger bereichert, denn “typische Karten stellen zwar Sichtbares Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 229 durch sichtbare Zeichen dar, aber auf beiden Ebenen gibt es Abweichungen. Karten können Daten aus allen Modalitäten erfassen” (Schmauks 1998: 8). Eine solche Modalität ist eben das am jeweiligen Ort “Hörbare”, wodurch die visuelle Dialektkartographie zur audiovisuellen wird. Als kartographische Grundlage des aSDS werden zudem nicht die herkömmlichen zweidimensionalen Karten verwandt, sondern Blockbilder, die der Benutzer wie Reliefkarten empfindet. Damit wird die Dialektkarte dreidimensional. Dazu kommt das Zusammenspiel von Karte und Sprache, Bild und Laut (Nöth 2000: 487): Wegen ihrer Zweidimensionalität sind sowohl Bilder als auch Karten in ihrem räumlichen Darstellungspotential der Sprache überlegen, denn Sprache kann die Dimensionalität des Raums nur durch die Eindimensionalität der Lautkette wiedergeben. Im Gegensatz zu Bildern sind Karten jedoch insofern der Sprache ähnlicher, als sie ein elaboriertes System arbiträrer Symbole verwenden, um geographische Orte auf der Karte zu lokalisieren oder zu beschreiben. Die Eindimensionalität akustischer Lautketten der Sprache und die Zweidimensionalität der Koordinaten flächiger Karten ergänzen einander also zum dreidimensionalen System arbiträrer Symbole von Sprache, Fläche und Raum. Semiotisch komplexe Karten dieses Typs kommunizieren generell zwei wichtige Informationen zugleich, nämlich einerseits die “interne Information topographischer Nähe” und andererseits die “externe Information […], die für Interpretation und Entscheidung notwendig ist” (Bertin 1982: 139). Die interne Information der vorliegenden Karte wird durch die Kantonsgrenzen, das Relief und die Seen verkörpert. Diese Information knüpft also an bereits voraussetzbares Wissen an. Die externe Information ist hingegen neu; dies sind die pro Menüpunkt wechselnden Gebietszuteilungen der jeweiligen Karten, die Farben sowie die interaktiven Ortspunkte, deren Aktivierung auditives Material sowie die Transkription und die dialektologische Erläuterung präsentiert. Diese Information muß sich an der Voraussicht von Operationen der Kartennutzung orientieren. “Zur Planung einer Karte gehört es unter anderem, die Fragen vorauszusehen, die der Kartennutzer stellen könnte oder stellen soll. Graphische Mittel werden dann im Hinblick auf die bezweckte Lesung eingesetzt (oder sollten so eingesetzt werden)” (Schlichtmann 1998: 49). Im aSOS zielt vor allem die unterschiedliche Einfärbung der einzelnen Dialektgebiete auf die bezweckte Lesung hin. Die unterschiedlichen Farben suggerieren demnach bereits die dialektalen Unterschiede. Es handelt sich bei den neueren Werken der Dialektkartographie wie dem aSDS oder vergleichbaren Projekten wie dem Digitalen Wenkeratlas (DiWA) 3 um Transformationen von Karten in andere Text-Modalitäten, denn unter bestimmten Rahmenbedingungen “ist es sinnvoll oder gar unerläßlich, eine Karte in andere Modalitäten oder Medien zu übersetzen” (Schmauks 1998: 20). Dabei orientiert sich die Struktur des kartographischen Superzeichens heute meist an der gängigen Zeichentypologie symbolischer, ikonischer und indexikalischer Zeichen (Peirce 1958/ 1960; cf. Nöth 2000: 178-198; Posner et al. 1996-2004; Hess-Lüttich & Rellstab 2005; Hess-Lüttich 2006): “In Karten finden sich natürlich alle drei Zeichentypen, aber die Vorstellung, daß die beste aller Karten diejenige ist, die ihr Territorium am getreusten ‘abbildet’, hat zu der Annahme geführt, daß Karten in erster Linie ikonische Zeichen sind” (Nöth 2000: 489). Solche ikonischen Zeichen sind beim aSDS etwa die maßstabgetreu verkleinerte Repräsentation des Territoriums und der Seen sowie das dreidimensionale Relief, das nahezu photographische Wirkung erzielt. Demgegenüber sind “Kartographen […] darum bemüht, die Symbolizität der Karten soweit wie möglich zu reduzieren” (Nöth 2000: 490). Freilich erweist sich das - abgesehen von der konventionell gängigen symbolischen Verwendung z.B. von blauer Farbe für Seen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 230 und differenzierten Linien für Kantons- und Staatsgrenzen sowie die ‘Einnordung’ (also die Ausrichtung der Karten nach Norden) - bei thematischen Karten als ziemlich schwierig. Gerade bei der Dialektkartographie kann auf symbolische Darstellungen auf der Karte kaum verzichtet werden. “Die kartographische Darstellung kommt ohne Abstraktion, ohne Zeichen für die Dinge, ohne symbolische Linien und Farben nicht aus” (Imhof 1965: 99). Da beim aSDS jedoch sämtliche Karten zugleich um Tonträger ergänzt werden, relativiert das ihre Symbolizität insofern als die Kookkurrenz farblich-symbolischer Darstellung und realauditiver Lautung die eingefärbten Dialektkarten gleichsam iconisiert, also zur faktischen Ähnlichkeit des Dargestellten mit seinem Objekt führt. Auch die dreidimensionale Reliefkarte verstärkt die Ikonizität, indem sie die Symbolizität der aSDS-Karten durch ihren nahezu photographischen Effekt reduziert. Als die wesentliche Funktion einer Karte betrachtet Nöth (2000: 490) indes die “indexikalische, denn einerseits sind Kartenzeichen durch Gesetzmäßigkeiten der optischen Projektion mit dem dargestellten Territorium (als dem dynamischen Objekt) kausal verbunden, andererseits orientiert eine Karte ihre Benutzer ‘richtungsweisend’ in ihrer unmittelbaren geographischen Umwelt oder in ihrem mentalen Vorstellungsraum.” 5 Technische Probleme der Zeichenverwendung in der kartographischen Praxis Die im Zusammenhang mit Konzepten der Multimedialität und Interaktivität diskutierten zeichentheoretischen Probleme intermedialer Relationen (Hess-Lüttich 2006) gelten grundsätzlich auch in der digitalen Dialektkartographie. Hinzu kommen jedoch bei der Erstellung nutzerfreundlicher polycodierter Texte allerlei technische Probleme (die hier für ein nicht technisch vorgebildetes Leserpublikum nur in allgemeiner Form kurz angerissen werden sollen). Es wurde bereits hervorgehoben, wie sich die Textfläche, das dreidimensionale Blockbild und die konkomitanten Zeichenketten auf dem akustisch-phonetischen Kanal mit jedem Nutzer-Input (per Mausklick) dynamisch verändern. Die zur Visualisierung von Dialektgrenzen markierten Isoglossen werden durch Farbkontraste realisiert, die aus dem sog. Rot-Grün-Blau-Farbraum (RGB) generiert werden, was eine für Computeranwendungen gängige Lösung darstellt. Für die Komplementarität der Farben ist dabei sowohl der maximale Kontrast zwischen den verschiedenen Dialektgebieten wichtig als auch die Regelmäßigkeit der Farbverteilung auf den Karten und die Kontinuität der Farbgebung beim Kartenwechsel. Beim aSDS z.B. sind die Verbreitungsgebiete der westlichen Varianten und die der Höchstalemannia i.d.R. blau markiert, die der östlichen und hochalemannischen in gelb. Diese Farbwahl kann freilich nicht immer konsequent durchgehalten werden und orientiert sich zudem am Sprachgebrauch in den Städten Bern und Zürich. Kleinere Dialektgebiete werden mittels kontrastreicher Farben hervorgehoben, bei den Kombinationskarten werden Gebiete mit ähnlichem Sprachgebrauch in entsprechend ähnlichen Farben gehalten. Die Größe der eingefärbten Fläche entspricht natürlich nicht der Einwohnerzahl, was den rotfarbenen Agglomerationsgebieten und der Reliefkarte, die die Gebirgsregionen hervorhebt, entnommen werden kann. Die technischen Hilfsmittel der Dialektkartographie des aSDS bestehen, wie bereits kurz erwähnt (s.o.), aus drei Typen von Files, die nunmehr noch kurz erläutert werden sollen. Sie enthalten den digitalisierten Datensatz aller im aSDS verfügbaren (aber zusätzlich klassifizierten) Daten. Bei den Datenfiles (im .tbl-Format) muß jeder kartierten Gemeinde ein dialektaler Wert in Form von Zahlen zugewiesen werden. Die offiziell nicht deutschsprachi- Du häsch gwüss schwëër z trääge ghaa 231 gen Gemeinden werden mittels Leerwert (Rautezeichen) von der Einfärbung ausgenommen. Bei den Geometriefiles (im .agf-Format) handelt es sich um das kartographische Grundgerüst, das sich aus Kantons- und Gemeindegrenzen sowie der Reliefkarte zusammensetzt. Mittels der Kartenbeschreibungsfiles (im .xml-Format) wird den verschiedenen Werten der Datenfiles ein Farbwert zugewiesen. Die Kombinationskarten sind bezüglich der Farbwahl um einiges schwieriger zu gestalten als die einfachen Karten, denn bei diesen gilt es, zwischen acht und 26 verschiedenen Dialektgebieten Grenzen und Zugehörigkeiten hervortreten zu lassen. Dabei stimmen die mathematisch möglichen Dialektgebiete aufgrund der Anzahl der miteinander kombinierten Varianten und Variablen nicht mit den tatsächlich existenten überein. Die Unterstützung moderner, hochtechnisierter Kartographietechnik nimmt dem Dialektkartographen mithin die Definition der jeweiligen Dialekträume, ihre jeweilige Einfärbung und die Bearbeitung der Navigation im Hinblick auf die beabsichtigte Handhabung der Nutzer nicht ab. Weitere Probleme entstehen durch die technischen Lösungen selbst. Die Entscheidung für das Isoglossenkonzept als Möglichkeit kartographischer Darstellung von Dialektgrenzen z.B. suggeriert eine Genauigkeit, die in der Wirklichkeit des Sprachgebrauchs, besonders in Mischgebieten in Isoglossennähe, keine Entsprechung hat. Oder die Entscheidung für die ‘politische Gemeinde’ als der kleinsten kartographischen Einheit: Isoglossen und Verwaltungsgrenzen stimmen keineswegs immer überein. Im St. Galler Oberland (Bezirk Sargans) existieren beispielsweise innerhalb der Gemeinde Quarten zwei SDS-Aufnahmeorte (die Teil-Gemeinden Murg und Oberterzen), zwischen denen häufig wichtige Isoglossen verlaufen. 4 Dialektal heterogen sind auch die beiden Gemeinden Mels und Pfäfers, die beide durch zwei SDS-Aufnahmeorte vertreten sind. Sowohl Weisstannen wie auch Vättls sind weit entfernt vom politischen Gemeindezentrum und bei beiden handelt es sich um Bergdörfer, die oft andere Varianten aufweisen als ihr politisches Zentrum. Meist handelt es sich dabei um Relikte, die nach den SDS-Daten zwar noch belegt sind, aber aufgrund der kartographischen Darstellungsweise im aSDS nicht abgebildet werden können. Schließlich fallen teilweise dünn besiedelte Gemeinden der Höchstalemannia durch ihre enormen Flächenausmaße kartographisch bezogen auf die Sprecherzahl überdimensional ins Gewicht. Um der Fehlinterpretation einer Korrelation von Fläche und Sprecherzahl vorzubeugen, sind im aSDS die Städte und Agglomerationsgebiete der Schweiz mit über 10’000 Einwohnern rot gekennzeichnet. Daraus können die Nutzer auf die Populationsdichte schließen; zudem sind der Reliefkarte, wie beschrieben, die Gebirgsregionen und die Gletscherflächen zu entnehmen. 6 Fazit Die audiovisuelle 3D-Dialektgeographie (‘3D’ für Dreidimensionalität) vereint die Textdimensionen polychrome Blockbild-Karte, Originaltonaufnahme und phonetische Transkription. Das Zusammenwirken der Codes im interaktiven Multimedium der CD-Rom ermöglicht die Eingliederung mehrerer herkömmlicher Kartentypen der Dialektkartographie und deren audiovisuelle Nutzung. Die auditiven und transkribierten Befunde entsprechen dem Typus einer Originalkarte, die Farbverteilungen dem einer Flächenkarte; die per Mausklick aktivierbaren Ortspunkte können als Elemente einer Punktsymbolkarte betrachtet werden; insofern die Karten linguistische und extralinguistische Merkmale (Kantonsgrenzen, Stadtgebiete, Relief) verbinden, kann zusätzlich von einer Flächenkombinationskarte gesprochen Ernest W.B. Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 232 werden; die Verbindung verschiedener thematischer Kartentypen wird in Form von Merkmalskombinationskarten geleistet (z.B. enthält der Satzteil “ein gutes neues Jahr” sowohl phonetische als auch morphologische Unterschiede, die in einer Kombinationskarte dargestellt werden können). Schließlich ermöglicht das Verfahren die kombinierte Anwendung aller schulmäßigen Methoden der Kartiertechnik im Dienste der Erstellung einer ‘guten Karte’: “In einer guten Karte können alle kartographischen Mittel nebeneinander benutzt werden” (Naumann 1982: 672). Damit verspricht die geolinguistische und dialektologische Kartographie Anschluß zu gewinnen an die modernen Kartiersysteme der Naturwissenschaften. 7 Literatur Bertin, Jacques 1982: Graphische Darstellungen und die graphische Weiterverarbeitung der Information, übers. u. bearb. v. Wolfgang Scharfe, Berlin/ New York: de Gruyter Besch, Werner, Ulrich Knoop & Wolfgang Putschke (eds.) 1982/ 1983: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, vol 1: 1982, vol. 2: 1983, Berlin/ New York: de Gruyter Besch, Werner & Klaus J. Mattheier (eds.) 1984: Ortssprachenforschung. Beiträge zu einem Bonner Kolloquium, Berlin: Erich Schmidt Bietenhard, Ruth 1991: Oberländer Mundarten, Thun: Krebser Caneparo, Luca & Gian Paolo Caprettini 1997: “On the semiotics of the image and the computer image”, in: Nöth (ed.) 1997: 147-158 Foote, Kenneth E. 2003: “Semiotic aspects of geography”, in: Posner et al. (eds.) 2003: 2636-2642 Henzen, Werner 1924: Die deutsche Freiburger Mundart im Sense- und südöstlichen Seebezirk, Frauenfeld: Huber Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1987: Text Transfers. Probleme intermedialer Übersetzungen. Münster: Nodus Hess-Lüttich, Ernest W.B. & Roland Posner (eds.) 1990: Code-Wechsel. Texte im Medienvergleich, Opladen: Westdeutscher Verlag, 9-23 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1992: “Die Zeichen-Welt der multimedialen Kommunikation”, in: id. (ed.) 1992: 431-450 Ernest W.B. Hess-Lüttich (ed.), Medienkultur - Kulturkonflikt. 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Hess-Lüttich & Hans-Christian Leiggener 234 Zinsli, Paul 1957: “Berndeutsche Mundart. Zur räumlichen Gliederung des Berndeutschen”, in: Berner Staatsbuch 2 1957: Behörden, Geschichte, Kultur und Volkswirtschaft des Kantons Bern und seiner 30 Amtsbezirke, Bern: Verlag Berner Tagblatt, 93-114 Anmerkungen 1 Berichterstatter: Ernest W.B. Hess-Lüttich. Das Projekt wurde unter meiner Leitung an meinem Lehrstuhl für Germanistik an der Universität Bern von Hans-Christian Leiggener in Zusammenarbeit mit dem Phonogrammarchiv der Universität Zürich und dem Kartographischen Institut der ETH Zürich durchgeführt. Alle Daten sind in der Dissertation von H.-C. Leiggener (2006) dokumentiert, die demnächst erscheinen soll. 2 Eine Ausnahme bilden die Städte Freiburg/ Fribourg und Siders (Wallis) sowie die z.Zt. mehrheitlich italienischsprachige Tessiner Walsersiedlung Bosco/ Gurin, die deutschsprachige Minderheiten aufweisen. Dies liegt bei den erstgenannten in historischen Ursachen und im unmittelbaren Anstoß an deutsches Sprachgebiet begründet, bei der Tessiner Gemeinde in dem Umstand, daß diese ihre deutschsprachige Mehrheit erst im Laufe der letzten Dekade verlor. 3 Bei dem von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) im Rahmen des Programms “Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen” finanzierten DiWA-Projekts sollen 576 Karten online verfügbar sein, die eine bis dato unerreichte Datenfülle repräsentieren, insofern sie die Verbindung “mit kulturhistorischen, sozialdemographischen und bibliographischen Informationen” ermöglichen (www.diwa.info/ projektbeschrieb). Zur Veranschaulichung der Topographie dienen auch hier Reliefunterlagen. 4 So kann z.B. die Dialektgrenze zwischen Murg und Quarten im Hinblick auf die Variablen SDS IV 167 (“nicht” im Satzinlaut) und SDS V 185 (Rückstand beim Auslassen von Butter) aufgrund der gewählten Einheiten nicht kartographisch repräsentiert werden, was hier aber zulässig scheint, da ansonsten die “Unterschiede sehr bescheiden [sind], d.h. die Mundarten von Murg und Quarten sind sehr ähnlich” (Trüb 1951: 185). Bausteine zu einer Emotionssemiotik Zur Sprache des Gefühlsausdrucks in Kommunikation und affective computing Gesine Lenore Schiewer (Bern) 1. Einleitende Bemerkungen zu Interesse und Wissenschaftsgeschichte der Emotionssemiotik 2. Thematisierung und Ausdruck als Formen der Emotionsmanifestation 3. Manifestation von ‘hot emotions’ als Symptom 4. ‘cold emotions’ und die Ebene des Symbols 5. Zur Steuerung von Gemeinschaftshandlungen: Kybernetik und Kommunikation - Synopse II 6. Zur Soziologie der Emotionskommunikation 7. Abschließende Bemerkungen: Emotionssemiotik als integratives Forschungsfeld 8. Literaturangaben Different dimensions of verbal and non-verbal expressions of emotion from the sender, their reception at the receiver-side and the corresponding communication are the subject of this synoptical presentation. Correlating some of the actually most prominent emotion theories, it aims for a conception of the relevant aspects of emotions in communication and hence for a contribution to linguistics and semiotics of emotion. Especially cognitive emotion theories are regarded which actually attract interest in linguistics and in the fields of affective computing and human-computer-interaction as well. Even in literary studies this type of emotion theories might be of specific interest. Some remarks concerning the sociology of emotion communication conclude this survey of the semiotic fields regarding the emotionally “wrapped”. Die verschiedenen Dimensionen des verbalen und nonverbalen Emotionsausdrucks, seine Rezeption auf Seiten des Empfängers und die sich daraus entwickelnde Kommunikation in Text und Dialog sind Gegenstand dieser synoptischen Darstellung. Sie versteht sich mit der Zuordnung der gegenwärtig prominenten Emotionstheorien als ein Beitrag zur Konzeptualisierung kommunikativ relevanter Aspekte von Emotionen in einer Emotionslinguistik und -semiotik. Berücksichtigt werden unter anderem kognitive Emotionstheorien, die in der Linguistik ebenso wie in den Bereichen des affective computing und der Mensch-Computer- Interaktion zur Zeit besondere Beachtung finden und auch für literaturwissenschaftliche Fragestellungen von besonderem Interesse sein können. Einige Bemerkungen zur Soziologie der Emotionskommunikation runden diesen Aufriss der semiotischen Felder des emotional “Verhüllten” ab. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gesine Lenore Schiewer 236 […]; für die Gefühle der Liebe und des Hasses gibt es kein Thermometer, und die vielerlei Stimmungen sind kaum durch einen Namen kenntlich zu machen. Daher auch in diesem Gebiet die Klage über die Unzulänglichkeit der Sprache allgemein ist. Die Menschen möchten oft so gern sagen, wie so ganz eigen und stark ihre Liebe, wie seltsam und tief ihr Entzücken, wie hochschwebend und beseligend ihre Andacht ist; weil aber die - auch von den besten Dichtern gebrauchten - Wörter es nicht verkünden, darum meinen alle Liebenden, so sei noch nie geliebt, und alle Romantiker überhaupt, so sei noch nie gefühlt worden, wie sie fühlen und lieben. Moritz L AZARUS , Das Leben der Seele (1855-1857) Die menschliche Sprache auf ihrer tiefsten Stufe ist deiktisch. “Geben Sie mir Leberwurst! ” Der Stumme zeigt mit den Fingern auf die Leberwurst mit dem gleichen Erfolg. Der Hund schnappt nach er Leberwurst mit noch schnellerem Erfolg. Die Sprache auf ihrer höchsten Stufe ist Kunstmittel. Goethe setzt Wort an Wort, wie Rafael Farbe an Farbe. Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901) Es ist eine neue und vielleicht naive, aber trotzdem eine erkenntnistheoretisch belangvolle Frage, ob auch Roboter träumen können. Karl B ÜHLER , Das Gestaltprinzip im Leben des Menschen und der Tiere (1960) 1 Einleitende Bemerkungen zu Interesse und Wissenschaftsgeschichte der Emotionssemiotik Der Komplex von Zeichen, Sprache und Emotion impliziert die Beobachtung, dass Kommunikationspartner in der Lage sind, die Emotionen ihres Gegenübers zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Diese Zusammenhänge verweisen auf eine weit verzweigte Wissenschaftstradition innerhalb der Sprach- und Literaturforschung; so wurden Fragen der Emotionalisierung durch Kommunikation und Sprache schon in der Antike in Rhetorik, Poetik und Ethik reflektiert. Aktuelle Emotionsdefinitionen, die in vielfältigen Ausprägungen und Varianten vorliegen, profitieren von dieser Tradition und tragen den Variablen des Emotionsbegriffs in unterschiedlichen Akzentuierungen Rechnung. Sie umfassen dementsprechend neben solchen Aspekten wie etwa dem subjektiven Erleben, der physiologischen Erregung, kognitiven Facetten und eventuell sozialen Dimensionen auch die Komponente des Ausdrucks von Emotionen. Damit rückt hier neben den innerindividuellen, persönlichen Prozessen des Emotionalen die Kundgabe von Gefühlen - die Visualisierung oder die Manifestation über andere semiotische Kanäle des vordergründig Nicht-Sichtbaren - in den Blick. Die entsprechenden verbalen, vokalen, mimisch-gestischen sowie die Postur betreffenden Formen des Emotionsausdrucks stehen daher zunehmend im Interessenhorizont einer Linguistik, die in Ergänzung reduktionistischer Sprachauffassungen sowohl das mündliche Gespräch als auch den geschriebenen Text aus einer Perspektive des “Ganzen Menschen” analysiert. Denn der Ausdruck von Gefühlen ist eine zentrale Aufgabe von Sprache und findet auf vielfältige Weise statt: Das Spektrum reicht von unter Umständen kaum wahrnehmbaren prosodischen Veränderungen über die explizite Kundgabe und Benennung von Freude, Wut oder Trauer bis zum unkontrollierten Gefühlsausbruch. Ebenso wie diese alltagssprachlichen emotivexpressiven Funktionsebenen leisten die poetischen Formen der Sprachverwendung äußerst differenzierte sowohl explizite als auch implizite Thematisierungen des Emotionalen. 1 Jüngste Forschungen auch im Bereich der Mensch-Maschine-Kommunikation befassen sich damit, diesen für reale Kommunikationsprozesse zentralen Verhaltensaspekt des Bausteine zu einer Emotionssemiotik 237 Emotionalen auf Computer zu übertragen (vgl. z.B. André 2004). Neuere Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz-Forschung fokussieren daher verstärkt ausgerechnet den Bereich, der diesem Untersuchungsfeld diametral entgegen zu stehen scheint: den Komplex der Emotionen. Verschiedene aktuelle Emotionstheorien wurden bereits speziell im Hinblick auf eine Implementierung formuliert. Die Anwendungsmöglichkeiten einer infolge dieser Ergänzung substantiell beförderten Künstlichen Intelligenz werden als vielfältig erachtet: Die Zielsetzungen umfassen im Feld des affective computing (P ICARD 1997) sowohl die Realisierung von Computern, die Emotionen “verstehen” (Analyse) und “ausdrücken” (Synthese) können, als auch solcher Computer, die Emotionen “besitzen” (vgl. R UEBENSTRUNK 1998). Die informationstechnologische Emotionsforschung bezieht sich in Nutzerperspektive auf Fragen des Erfolgs von Benutzerschnittstellen mit Konversationsagenten, auf die Mitteilbarkeit von Emotionen in computervermittelter Kommunikation einschließlich der nonverbalen Kommunikation, die Induzierbarkeit von Stimmungslagen über das www, den Einfluß von Emotionen auf computerunterstützes Lernen, die Zusammenhänge von Motivation und Screen-Design, Emotionen und interface-Konzeptionen und anderes mehr. 2 Die Applikation humaner Kommunikationsgegebenheiten auf die Interaktion von Mensch und Maschine ist jedoch nicht allein aus einem Praxisinteresse heraus geleitet, sondern theoretisch und wissenschaftshistorisch fundiert. Schon 1927 hat Karl B ÜHLER in Die Krise der Psychologie den Begriff der Steuerung aus dem Bereich der Technik auf die sprachliche Kommunikation übertragen. 1960 hat er dann die Kybernetik aus einer gestalttheoretischen Perspektive heraus in Bezug auf die Leistung von Computern und Robotern einerseits und menschliche Verstehens- und Verständigungsprozesse einschließlich der hierbei zu beobachtenden schöpferischen Facetten andererseits diskutiert. B ÜHLER verkörpert auf diese Weise in seinem Denken eine ganz entscheidende Schnittstelle im Hinblick auf die wissenschaftshistorischen Fundamente von Kybernetik, Künstlicher Intelligenz und Kognitionswissenschaften: die Bedeutung gestalt- und denktheoretischer Grundlegungen für diese Entwicklungen waren in den USA schon vor 1950 bestens bekannt (vgl. S IMON o.J., 147; für einen Überblick zu der Entwicklung von der Gestaltpsychologie zu den Kognitionswissenschaften vgl. M URRAY 1995, S CHIEWER 2004 und zum Gestaltdenken Karl B ÜHLERS vgl. V ONK 1992). Dass Herbert A. S IMON ebenfalls schon früh den Komplex der Emotionen in die Künstliche Intelligenz- und Kognitionsforschung eingebracht hat, überrascht angesichts der Verhaftung in der gestalttheoretischen Denktradition keineswegs, da hier die Frage der “Gemüthsbewegungen” schon um 1900 eine bedeutende Rolle gespielt hat (vgl. z.B. S TUMPF 1899 und für einen Überblick S CHIEWER 2004). 3 Die Überlegungen zur Emotionssemiotik sollen hier daher ihren Ausgang nehmen von dem Zeichenbegriff B ÜHLERS , der im Hinblick auf die unterschiedlichen Formen der Emotionsmanifestation zu differenzieren sein wird. Dass dabei im Folgenden von Anfang an die Codierung von Emotionen sowohl in Bezug auf die menschliche Kommunikation als auch die Mensch-Maschine-Interaktion in den Blick genommen wird, ergibt sich in erster Linie aus der Fokussierung des kybernetischen Steuerungsbegriffs, die - wie skizziert - bei B ÜHLER theoretisch motiviert ist, und in zweiter Linie aus der aktuellen praxisnahen Interessenlage heraus. Unter dem Aspekt der Emotionskundgabe soll in dem vorliegenden Beitrag die Facette der maschinenseitigen Synthese, das heißt der Ausdruck von Emotionen auf Maschinenseite, einschließlich der kommunikativen Wirkungsfunktion auf den menschlichen Systembenutzer Berücksichtigung finden. Gesine Lenore Schiewer 238 Ziel der Ausführungen ist eine synoptische Darstellung verschiedener Dimensionen der Emotionsbekundung, ihrer Rezeption und ihrer Kommunikation in Text und Dialog sowie die Zuordnung relevanter Emotionstheorien mit ihren spezifischen analytischen Ansätzen und Beschreibungsformen (vgl. die Übersichten in 4.3 und 5.). Diese Zusammenschau versteht sich als ein Überblick über linguistisch relevante Aspekte von Emotionen und als Schritt in die Richtung der Konzeptualisierung einer Emotionssemiotik und -linguistik; in einem weiteren Schritt können auch literaturwissenschaftliche Perspektiven der Emotionscodierung an solche Grundlegungen angeknüpft werden (vgl. Schiewer 2007). Ähnlich haben Marcel Z ENTNER und Klaus R. S CHERER in jüngerer Zeit für die Psychologie die Entwicklung integrativer Ansätze zur umfassenden theoretischen Erklärung des Emotionsphänomens angemahnt und hier bereits eigene Vorschläge vorgestellt (vgl. Z ENTNER / S CHERER 2000, 157ff.). In vergleichbarer Absicht haben John W. O LLER und Anne W ILTSHIRE den bisher bestehenden Mangel an systematischer Zusammenarbeit von Linguistik und Psychologie im Feld der Emotionsmanifestation beklagt (vgl. O LLER / W ILTSHIRE 1997, 35). 4 2 Thematisierung und Ausdruck als Formen der Emotionsmanifestation Eine erste grundlegende Unterscheidung innerhalb der vielfältigen Formen der kommunikationstheoretisch und linguistisch relevanten Emotionsbekundungen betrifft die zwischen dem Ausdruck und der Thematisierung von Emotionen. Unter den Ausdrucksformen des Emotionalen wird in der Linguistik die nicht explizit thematisierende Form der Kommunikation von Emotionen subsumiert. Es handelt sich dabei um flexible Zusammenhänge zwischen zugrunde liegenden Emotionen und der Ausdrucksmanifestation, die gleichwohl in systematischer Weise in Erscheinung treten. (vgl. F IEHLER 1990, 99ff.). Das Spektrum möglicher Ausdrucksformen umfasst Manifestationsweisen der paraverbal-prosodischen Phänome wie zum Beispiel Stimmcharakteristika und Sprechtempo, physiologische Reaktionen, die Mimik einschließlich des Blickverhaltens, weiterhin Gestik, Körperhaltungen und -bewegungen. Manifestationen im verbalen Anteil von Äußerungen wie etwa die spezifische Wortwahl einschließlich stilistischer Besonderheiten, Ausrufe oder Interjektionen sowie verbal-emotionale Äußerungen wie die Verwendung bestimmter Sprechakte (Vorwürfe, Drohungen etc.) gehören ebenfalls zu den Formen des Emotionsausdrucks. Aber auch prozessuale Aspekte wie die unterschiedlichen Formen des Gesprächsverhaltens sind hier unbedingt zu berücksichtigen (vgl. F IEHLER 1990, 96f.). Auch Thematisierungen von Emotionen decken eine Reihe unterschiedlicher Formen ab. Hierzu gehören die verbale Benennung und Beschreibung erlebensrelevanter Ereignisse und Sachverhalte, die Beschreibung und das Erzählen der situativen Umstände des Erlebens und insbesondere die konkrete verbale Thematisierung und Beschreibung des Erlebens. Dabei spielt der entsprechende Gefühlswortschatz einer Sprache und hier wiederum ein Kernbereich erlebensbenennender Begriffe sowohl im Hinblick auf die entsprechenden Ausdrucksmöglichkeiten als auch im Sinn einer typisierenden Rückwirkung auf die betreffende Emotionskonzeption selbst eine bedeutende Rolle (vgl. F IEHLER 1990, 96f. und 115ff.). Das mit dieser Unterscheidung grob umrissene Feld der Emotionsmanifestationen ist im Folgenden zu differenzieren. In systematisierender Absicht werden hierbei die von Karl B ÜHLER in seinem ‘Organon-Modell’ zusammengefassten Kategorien der semiotischen Symptom-, Symbol- und der Signal- oder Appellfunktion zugrunde gelegt. Bausteine zu einer Emotionssemiotik 239 Als Symptom kann dabei eine Emotionsäußerung gewertet werden, die mit einer so genannten ‘hot emotion’, das heißt einer unmittelbaren Emotionalisierung im Sinn eines affektivgeprägten Erlebens oder einer subjektiv-gefühlsorientierten Erlebnisqualität einhergeht und vor diesem Hintergrund zu sehen ist (vgl. z.B. die Darstellung in T EASDALE / B ARNARD 1993, 42f.). Als Symbol sind dahingegen solche Äußerungen zu sehen, denen der Zustand der ‘cold emotion’ zugrunde liegt, so dass es sich hierbei seitens des Emittenten um eine sachorientierte Emotionsäußerung ohne unmittelbare Emotionalisierung handelt. Unter dem Aspekt des Appells schließlich ist die Frage der Emotionalisierung im Hinblick auf den Emittenten und den Rezipienten zu differenzieren. Es sind hier also Unterscheidungen vorzunehmen, die sich - in Abhängigkeit davon, ob es angesichts des Zustands einer ‘hot emotion’ oder aber in der Verfassung der ‘cold emotion’ seitens des Emittenten zur Emotionsthematisierung oder zum Emotionsausdruck kommt - auf die Reaktionen des Rezipienten beziehen. Dieser kann seinerseits jeweils sowohl mit ‘emotionaler Ansteckung’ reagieren - respektive bereits im Sinn der ‘hot emotion’ emotionalisiert sein - oder aber kühl bleiben. 5 Dabei ist selbstverständlich nicht von diskreten Kategorien, sondern vielmehr von kontinuierlichen Übergängen und dominanten, statt ausschließlicher Funktionen auszugehen. 3 Manifestation von ‘hot emotions’ als Symptom Sowohl der Ausdruck als auch die Thematisierung können als Manifestation von Emotionen im Sinn eines Symptoms - nach Karl B ÜHLER - fungieren und damit auf die Abhängigkeit von einem sich mitteilenden Sender verweisen. Gegenwärtiges eigenes Erleben im Sinn der ‘hot emotion’ werden explizit thematisiert oder in der einen oder anderen Form zum Ausdruck gebracht (vgl. hierzu 3.1 und 3.2 in diesem Text); typischerweise geht mit starker Emotionalisierung die Tendenz zum Kontrollverlust und stilistischer Direktheit, wenn nicht sogar der Ausfälligkeit oder Exaltation einher. In der Terminologie von Charles S. P EIRCE handelt es sich hier um eine indexikalische Beziehung von Emotion und Manifestation (vgl. R ELLSTAB 2006 zu der Sprachtheorie P EIRCE ’, die hier erstmals sowohl quellenkritisch als auch systematisch dargestellt wird). Im Feld der Emotionstheorien sind mindestens vier Konzeptionen zu nennen, die korrespondierende Ansatzpunkte im Hinblick auf die Manifestation von Emotionen im Sinn eines Symptoms aufweisen: die evolutionstheoretischen Theorien, die psychophysiologischen Theorien, die ausdruckstheoretischen Theorien und spezifische Ausprägungen der kognitiven Emotionstheorien. Evolutionstheoretische Theorien werden vor allem mit Charles D ARWIN und Paul E KMAN verbunden; sie fokussieren die als universell angenommenen typischen Formen der Mimik im Zusammenhang einer begrenzten Anzahl von Basisemotionen und gehen von einer biologischen Anlage der entsprechenden Formen des Gesichtsausdrucks aus. 6 Psychophysiologische Theorien, zu deren Vertretern William J AMES und Samuel S CHACHTER gerechnet werden, rekurrieren generell verstärkt auf die physiologischen Facetten von Emotionen. Ausdruckstheoretische Konzepte mit der Untersuchung der “Nonverbalen Kommunikation” respektive der so genannten “Körpersprache” beziehen sich demgegenüber auf Verhaltensweisen, körperliche Erscheinungen oder Artefakte, welche Rückschlüsse auf emotionale Aspekte zulassen. Im Rahmen der kognitiven Emotionstheorien - die im allgemeinen eher mit den unten angesprochenen Formen der Emotionsmanifestation als Symbol zu verbinden sind - gibt es in jüngster Zeit sehr wohl auch Entwicklungen, die auf der Basis der Modellvorstellung der Emergenz die Integration wesentlicher Facetten einer Gesine Lenore Schiewer 240 ‘hot emotion’ mit den entsprechenden physiologischen Veränderungen und inneren Gefühlserlebnissen anstreben (vgl. G ESSNER 2004). Im Bereich der linguistischen Theoriebildung kann in diesem Zusammenhang insbesondere auf das Konzept einer Linguistischen Ethologie hingewiesen werden, das seit geraumer Zeit maßgeblich von Sven Frederic S AGER entwickelt wird (z.B. S AGER 1995). Der kommunikationstheoretische Ansatz Gerold U NGEHEUER s akzentuiert die anthropologische Fundierung verbaler Interaktion und berücksichtigt damit die Individualität einschließlich der Emotionalität von Kommunikationsteilnehmern in systematischer Weise. 3.1 Thematisierung von Emotionen als Symptom Die Thematisierung einer gegenwärtig erlebten ‘hot emotion’ kann etwa durch eine Sprechhandlung erfolgen, mit der die betreffende subjektive Wahrnehmung geäußert wird: “Ich bin wütend! ” Hierbei handelt es sich um Äußerungen, die sprechakttypologisch gesehen gelegentlich zu einer eigenen Klasse der Emotive gerechnet werden. Ihr Charakteristikum besteht darin, dass in ihnen die psychischen Zustände des Sprechers zum Ausdruck kommen und deswegen der Hörer an ihnen die Verfassung des Sprechers erkennen und sich unter Umständen auf sie einstellen kann (vgl. W AGNER 2001, 138). W AGNER zählt zu den Emotiven beispielsweise “Angst-äußern”, “Ekel-äußern”, “Freude-äußern” und andere mehr. Weder S EARLE und V ANDERVEKEN noch Eckard R OLF berücksichtigen diese Klasse emotiver Sprechakte in ihren Klassifikationen; vielmehr schließen sie diesen Typus unmittelbarer Thematisierung der eigenen Befindlichkeit des Sprechers aus ihren Überlegungen aus. 7 Eckard R OLF betrachtet aber ausdrücklich emotionsthematisierende Äußerungen wie: “Das tut mir leid” oder “Ich freue mich mit Dir” als Bekundungen eines psychischen Zustandes, die der Stützung eines vorangehendes expressiven Sprechaktes dienen, etwa einer Entschuldigung oder einer Gratulation. In den stützenden emotionsthematisierenden Sprechakten wird dabei die Aufrichtigkeitsbedingung des vorangehenden Sprechaktes explizit zum Ausdruck gebracht (vgl. R OLF 1997, 218). Der Zweck eines solchen expliziten Ausdrucks einer emotionalen Einstellung besteht R OLFS Ansicht nach in dem “Versuch einer Beeinflussung der emotionalen (Gesamt-)Lage des Adressaten” (R OLF 1997, 223), so dass hier der Appellfunktion zentrale Bedeutung zukommt. Das Kommunikationsmotiv kann im Fall der Emotionsthematisierung daher oftmals als selbstzweckhaft mit dem Ziel sozialer Rückversicherung bezeichnet werden. Ob nun ein emotiver Sprechakt tatsächlich angestrengt und das eigene Erleben unmittelbar thematisiert wird, hängt ohne Frage von Aspekten individueller, situativer, sozialer und kultureller Art ab, die beispielsweise die gesellschaftliche Akzeptanz der expliziten Äußerung von Unmut, Missfallen oder Wut und damit Verhaltensnormen und -erwartungen prägen. So werden das Äußern von Ärger und die damit verbundene Tendenz der Durchsetzung eigener Ziele in westlichen Gesellschaften üblicherweise als zulässig gewertet. Dahingegen erfahren in östlichen Gesellschaften Scham und die damit verbundene Tendenz der intrapersonalen Emotionsregulation im Zusammenhang einer Anpassung an gesellschaftlich erwartete Vorgaben typischerweise eine positive Wertung (vgl. H OLODYNSKI 2006). Zu erwarten ist hier natürlich auch eine entsprechende phonetisch-prosodische Akzentuierung sowie ein mimischer Ausdruck, der im Fall der sogenannten fünf bis acht oder neun Basisemotionen - sofern er nicht aufgrund von ‘display rules’ oder von Manifestationsregeln modifiziert, überformt oder unterdrückt wird - prototypisch dem von Paul E KMAN beschriebenen, als universell angenommenen Gesichtsausdruck entspricht. Bausteine zu einer Emotionssemiotik 241 Im Hinblick auf die Appellfunktion solcher Emotionsmanifestationen, die mit einer ‘hot emotion’ seitens des Emittenten einhergehen, ist davon auszugehen, dass es auch beim Rezipienten zur Emotionalisierung und unter Umständen auch zu besonders intensiven Formen kommen kann. Im Allgemeinen kann die direkte Thematisierung bei geringer oder fehlender Maskierung der Mimik in stilistischer Hinsicht als eine Form von Direktheit oder Unmittelbarkeit aufgefasst werden. In ontogenetischer Perspektive entspricht dieser Art der Emotionsmanifestation auch der frühkindliche Emotionsausdruck des Säuglings. Er kann als interpersonale Emotions- und Handlungsregulation beschrieben werden, da es hier darum geht, an die elterliche Intuition zu appellieren und auf diese Weise die Zuwendung der Bezugspersonen zu initiieren. Sofern schließlich im Bereich der Robotik und speziell von Androiden Emotionen Berücksichtigung finden, wie beispielsweise im Fall von Cynthia B REAZEALS sozialem Roboter K ISMET (vgl. Breazeal 2002), wird hier gegenwärtig ebenfalls vielfach auf die Ebene des unmittelbaren Emotionsausdrucks respektive der Thematisierung bei ‘hot emotion’ rekurriert: As the robot’s affective state changes, […] the robot’s facial expression changes to mirror this. As positive valence increases, Kismet’s lips turn upward, the mouth opens, and the eyebrows relax. However, as valence decreases, the brows furrow, the jaw closes, and the lips turn downward. […] The expressions become more intense as the affect state moves to more extreme values in the affect space. Hence, Kismet’s face functions as a window by which a person can view the robot’s underlying affective state. This transparency plays an important role in providing the human with the necessary feedback to understand and predict the robot’s behavior. (B REAZEAL 2003, 6) Als wichtiges Ziel wird auch hier die interpersonale Emotions- und Handlungsregulation gesehen: In many cases, Kismet must work in partnership with the human to achieve its goals. To do so, it must communicate its motives and goals to the person in an effective way through expressive cues and goal-directed behavior. As a result, human and robot work together, mutually regulating the others behavior through social cues, to establish and maintain a suitable interaction where the robot’s motives and goals are satisfied in a flexible and timely manner. This benefits the robot. (Breazeal 2003, 8) Ähnlich verhält sich der multimodale Dialog-Agent (multimodal conversational agent) M AX , der seine Befindlichkeit sogar verbal einschließlich einer emotionstypischen Prosodie zum Ausdruck zu bringen vermag: Instead of demonstrating the well-known expression of basic emotions on the agent’s face, we show here an example situation in which the current emotional state of M AX , being engaged in a conversation with a visitor, arises from the previous discourse and significantly influences the agent’s behavior. After being offended several times by verbal input of the visitor, the accumulation of the respective impulses in the emotion system results in increasingly negative emotions that become available to the agent’s deliberative processes. When first becoming “angry” the agent says “Now I’m getting angry” with a low pitch and rate of his voice as well as an appropriate facial expression of angriness. (Becker et al. 2004, 163) Darüber hinaus ist M AX sogar zu emotionsgesteuerten Handlungen in der Lage, die bereits eine Form des über die Thematisierung hinausgehenden Ausdrucks von Emotionen als Symptom aufzufassen sind: Further negative impulses result in the emotional state of “annoyance” together with a bad mood. In effect, a plan is triggered which causes the agent to leave the display and to stay away until the emotion system has returned into balanced mood. The period of absence can either be shortened by complimenting M AX or extended by insulting him again. (Becker et al. 2004, 163) Gesine Lenore Schiewer 242 3.2 Ausdruck von Emotionen als Symptom Im Zusammenhang des Ausdrucks einer ‘hot emotion’ wird von “sich ereignenden” Ausdrucksphänomenen gesprochen, die unwillkürlich auftreten. Ein kommunikativer Effekt und damit eine kommunikative Funktion bestehen hier vor allem, wenn es zu einer Deutung des Ausdrucks seitens eines Kommunikationspartners kommt (vgl. F IEHLER 1990, 102f.). Die entsprechenden Ausdrucksphänomene können sich auf die verschiedensten sprachlichen Ebenen beziehen. Wenngleich dem stimmlich-prosodischen und dem mimischgestischen Bereich hierbei aufgrund der engen Kopplung an physiologische und neurologische Prozesse eine herausragende Bedeutung zukommen mag, können insbesondere auch sprachliche Ebenen wie z.B. die Wahl von stilistisch markierten Ausdrucksformen oder spezifischer Sprechakte durch den emotional indizierten Ausdruck tangiert sein. 8 So kann das Erleben von Wut etwa zur Wahl von Sprechakten wie “fluchen” disponieren. 9 Zu den Ausdrucksphänomenen von Emotionen als Symptom kann - das Gegebensein einer ‘hot emotion’ vorausgesetzt - insbesondere die Sprechaktklasse der Expressive gerechnet werden, zu der beispielsweise der Sprechakt “jemanden beschimpfen” gerechnet wird. Der illokutive Punkt der Klasse der Expressive besteht Klaus W AGNERS Klassifikation zufolge darin, dass der Sprecher seinen psychischen Zustand für einen Hörer in kommunikativer Absicht zum Ausdruck bringt; dies ist zum Beispiel im Fall der Gratulation gegeben, in der ein Sprecher sein Sich-Mitfreuen dem Hörer gegenüber artikuliert (vgl. zu der Unterscheidung von Emotiven und Expressiven W AGNER 2001, 138). Der betreffende Zustand etwa des Sich- Mitfreuens kann dabei durchaus als ‘hot emotion’ wahrgenommen werden, muss es jedoch nicht - in diesem Fall wäre dann jedoch die Appellfunktion von zentraler Bedeutung. Andere Expressive sind W AGNER zufolge beispielsweise “Abneigung-zeigen”, “ausschimpfen”, “Mitgefühl-zeigen”. Ähnlich äußert sich auch Eckard R OLF , der betont, dass mit expressiven Sprechakten nicht nur bestimmte Emotionen zum Ausdruck gebracht werden, sondern auch versucht wird, “auf bestimmte, beim Adressaten vorhandene oder nichtvorhandene oder als vorhanden bzw. nichtvorhanden unterstellte Emotionen einzuwirken (vgl. R OLF 1997, 219; Hervorhebung bei R OLF ). Etwas zurückhaltender formuliert Daniel V ANDERVEKEN : “Expressive illocutionary verbs name forces whose point is to express (that is to say, to manifest) mental states of the speaker such as joy, approbation or discontent which are important in our social forms of life.” (V ANDERVEKEN 1990, 218). Gegenüber W AGNERS Liste expressiver Typen, die 95 Einträge umfasst, präsentieren sich die von R OLF mit 32 Typen und die von V ANDERVEKEN , der 29 Typen nennt, eher knapp. Diese Diskrepanz erklärt sich dadurch, dass im Gegensatz zu W AGNER sowohl R OLF als auch V ANDERVEKEN das gesamte Feld der sogenannten Gefühlswörter, das heißt der explizit emotionsbenennenden Wörter wie “glücklich sein”, “Angst haben” etc. ausklammern. 10 Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Expressive - im Verständnis von R OLF und auch von V ANDERVEKEN - als Ausdrucksphänomene zu betrachten sind und nicht als Thematisierungen von Emotionen. 11 Weiterhin können auch Belobigungen, Anerkennungen, Vorwürfe, Drohungen, Warnungen etc. durch den Zustand einer ‘hot emotion’ bedingt sein. In semiotischer Hinsicht liegen die Dinge hier jedoch etwas anders als bei den Emotiven und den Expressiven, bei denen der illokutionäre Zweck darin besteht, einem Gefühl oder einer emotionalen Einstellung Ausdruck zu verleihen: Direktive (z.B. Warnungen) mit fremdverpflichtender und Kommissive (z.B. Versprechungen) mit eigenverpflichtender Funktion, die beide den Aspekt der Appellfunktion akzentuieren, sowie Assertive (z.B. etwas bezweifeln) und Deklarative (z.B. Wetten) einschließlich der handlungsbegleitenden Akkompagnemente (z.B. das Äußern einer Kom- Bausteine zu einer Emotionssemiotik 243 plikation) mit dominanter Darstellungsfunktion werden in diesem Fall des symptomatischen Emotionsausdrucks durch aktuelles emotionales Erleben elizitiert. 12 Dieser Aspekt eines anzeigenden, symptomatischen Charakters von Sprache und Sprechakten - die Elizitation bestimmter Äußerungsformen - wird in der Theoriebildung allerdings vielfach als linguistisch nicht relevant betrachtet (vgl. z.B. K ONSTANTINIDOU 1997, 36). In psycholinguistischer Orientierung wird hier hingegen - immerhin - von Martina H IELSCHER eine Forschungslücke markiert: Sie betont, dass es unter psycholinguistischer Perspektive wichtig wäre, die speziellen Einflüsse aktuell vorliegender Stimmungen oder Emotionen auf die Wahl bestimmter Sprechakttypen (z.B. Bitte vs. Aufforderung oder Drohung) unter Berücksichtigung des appelativ/ conativen, des representativ/ referentialen, des expressiv/ emotiven und des beziehungsdefinierenden Aspektes zu untersuchen. Hypothesen hierzu finden sich H IELSCHER zufolge bislang vorwiegend in der psychologischen Literatur zu kommunikativen Strukturen in Therapie und Beratung, z.B. bei Schulz von T HUN (1981, 1989) oder auch schon bei S ATIR (1990). Die genannten Autoren postulieren globale kommunikative Stile, die mit bestimmten Grundemotionen und frühkindlich erworbenen ‘seelischen Axiomen’ von Angst, Hilflosigkeit, Wertlosigkeit und Schwäche in Zusammenhang gebracht werden. Diese Verbindung bestimmter Emotionen mit entsprechenden kommunikativen Mustern ist bislang H IELSCHERS Kenntnis nach jedoch nicht in kontrollierten Studien überprüft und einer genaueren linguistischen Analyse unterzogen worden (vgl. H IELSCHER 2003, 480). Eine emotionssemiotische Klärung des Sprachgebrauchs kann diese Fragen natürlich keinesfalls ausklammern. In ihrer “Communicative Theory of Emotions” beschreiben Keith O ATLEY und Philip N. J OHNSON -L AIRD entsprechende Elizitationsdispositionen in einer sehr allgemeinen Form. Sie schreiben Emotionen - neben einer internen Funktion flexibler Verhaltensabstimmung - eine Kommunikationsfunktion im sozialen Sinn zu. Emotionen unterrichten den Sozialpartner über Pläne und Ziele und eröffnen so die Möglichkeit, die gegenseitigen Rollen in einer Situation neu zu verhandeln. Diese Auffassung der kommunikativen Funktion von Emotionen im sozialen Sinn bezieht sich auf die Funktion von Emotionen in Planung und zielorientiertem Handeln, welches andere Menschen einschließt: Happiness, attachment emotions, and love induce and maintain cooperation. Sadness is the emotion of disengagement from a relationship. Anger sets up a script for competition, aggression, and perhaps renegotiation of the relationship. Interpersonal fear signals deference. Contempt and disdain signal withdrawal from relationship. (O ATLEY / J OHNSON -L AIRD 1996, 94) Kooperation, Distanzierung, Aggression und Neuverhandlung, das Erweisen von Respekt und Abbruch einer Beziehung als generelle Verhaltensdipositionen gehen mit spezifischen sprachlichen und mimisch-gestischen Ausdrucksformen einher. Wie aber können die bislang nur skizzierten Zusammenhänge von emotionalen Zuständen, latenten Dispositionen und konkreten Sprechhandlungen spezifiziert werden? Hier gilt es in einem ersten Schritt die vorhandene Literatur auszuwerten. So sind beispielsweise in dem von Peter A. A NDERSEN und Laura K. G UERRERO herausgegebenen “Handbook of Communication and Emotion” Darstellungen typischer Sprechhandlungslatenzen zu einigen Einzelemotionen zu finden. Zur “dark side” von Emotionen werden gerechnet: strategic embarrassment - guilt and hurt - jealousy experience and expression in romantic relationships - the experience and expression of anger in interpersonal settings - interpersonal communication problems associated with depression and loneliness. Die “bright side” von Emotionen umfasst demgegenüber folgende Aspekte: alleviating emotional distress Gesine Lenore Schiewer 244 through conversationally induced reappraisals - feelings about seeking, giving, and receiving social support - interpersonal warmth as a social emotion - loving and liking - communication and sexual desire (vgl. A NDERSEN / G UERRERO 1998). Exemplarisch soll an dieser Stelle das Beispiel der Erfahrung und des Ausdrucks von Ärger als Repräsentation der “dunklen Seite” von Emotionen herangezogen werden. Die Autoren des betreffenden Beitrags, Daniel J. C ANARY , Brian H. S PITZBERG und Beth A. S EMIC , machen einleitend richtig auf die historischen Dimensionen und damit die Wandelbarkeit und kulturelle Relativität aller Konzeptionen von Wut und der entsprechenden Ausdrucksformen aufmerksam. Sie fokussieren eine allgemeine Auffassung von ‘anger’ mit den potentiell destruktiven Manifestationsformen der Aggression (vgl. C ANARY / S PITZBERG / S EMIC 1998, 189). Phillip R. S HAVER et al. haben eine Übersicht typischer Reaktionsformen bei Ärger zusammengestellt, in der sowohl verbale als auch physische Angriffe, nonverbale Formen der Missbilligung, Formen des Unbehagens und des inneren Rückzugs sowie Verhaltensweisen der Vermeidung berücksichtigt werden (vgl. S HAVER et al. 1987, 1078). Zu den verbalen Angriffen zählen beispielsweise obszöne Äußerungen, Flüche, Schreie, das Erheben der Stimme, Gezeter, Geschrei, Klagen, Meckern. Weiterhin können Phänomene wie Drohen, Schimpfen, sich Beschweren, sich Wehren etc. genannt werden. Hinsichtlich der Appellfunktion von ‘hot emotion’-Ausdrucksmanifestationen ist von einem Spektrum möglicher Wirkungen auszugehen. Es kann - bei entsprechender Deutung des Ausdrucks und gegebener Reaktionsbereitschaft seitens des Rezipienten oder auch aufgrund ‘emotionaler Ansteckung’ - zur interpersonalen Handlungs- und Emotionsregulation kommen, ähnlich wie im Fall der ‘hot emotion’-Thematisierung. Auf der Seite des Emittenten kann dieser mögliche Effekt durchaus volitional angestrebt werden: so zielt Emotionsausdruck häufig auf die Erlangung sozialer Zuwendung (vgl. F IEHLER 1990, 102). Ebenso treten jedoch insbesondere bei unwillkürlichen Ausdrucksmanifestationen auch nicht intendierte und unabsichtlich herbeigeführte Appellwirkungen auf. Generell finden sämtliche Formen des Ausdrucks mit einer kommunikativen, und daher appellativen Funktion im Rahmen von Interaktionen in der Linguistik besondere Aufmerksamkeit (vgl. F IEHLER 1990, 99ff). Ebenso kann ein Ausdrucksphänomen auch zur intrapersonalen Emotions- und Handlungsregulation beitragen, indem beispielsweise dem Emittenten nachträglich bewusst wird, “dass mit ihm etwas passiert ist, das von anderen als Emotionsausdruck gedeutet werden kann” (F IEHLER 1990, 103), so dass er sich dann stärker kontrolliert. Oder dem Emittenten wird die eigene Befindlichkeit auf diese Weise selbst überhaupt erst bewusst. Auch hier sind wiederum sowohl Formen des intendierten Abreagierens als auch unwillkürlich auftretende Manifestationen anzutreffen. In stilistischer Hinsicht können die Ausdrucksphänomene dabei zwischen mehr oder weniger direkten Formen variieren. 4 ‘cold emotions’ und die Ebene des Symbols Die von Bühler akzentuierte sprachliche Funktion der Darstellung von Gegenständen und Sachverhalten, die auf der Konventionalität von Sprache mit der semiotischen Kategorie des Symbols - auch in der Terminologie Charles S. P EIRCE ’ - basiert, kann der ‘kühlen’ Thematisierung emotionaler Aspekte dienen. Weiterhin bestehen aber auch vielfältige Möglichkeiten der Ausnutzung und Modifikation der Sprachebenen selbst, um Emotionales zu codieren. Hierbei handelt es sich um Formen des Ausdrucks emotionaler Inhaltswerte, die ebenfalls nicht den Zustand einer ‘hot emotion’ voraussetzen. Bausteine zu einer Emotionssemiotik 245 Im Feld der theoretischen Emotionskonzeptionen zeichnen sich insbesondere die verschiedenen kognitiven Emotionstheorien und unter Umständen auch psychoanalytische Konzepte durch ihre Nähe zur Emotionsmanifestation in Sinn eines Symbols aus. Beide stellen insofern Gegenspieler zu den oben genannten Ansätzen dar, als hier Kognitionen als Basis emotionaler Prozesse betrachtet werden. Während in jenen Emotionen als der Tendenz nach kognitionsunabhängig und unkontrollierbar betrachtet werden, postulieren kognitive Ansätze, dass eine Situation zunächst bewusst kognitiv gedeutet wird und erst infolge der Deutung unter Umständen Emotionen elizitiert werden. Reinhard F IEHLER schlägt vor, den Allgemeingültigkeitsanspruch dieser Modelltypen zu relativieren und davon auszugehen, dass beide Mechanismen der Emotionsgenese existieren, aber sich auf unterschiedliche Domänen beziehen. So würden in Ausnahmesituationen äußerst intensive Emotionen ausgelöst, die unter Umständen höchstens minimale kognitive Leistungen erlaubten (vgl. F IEHLER 1990, 65). Der Typus kognitionsunabhängiger Emotionen entspricht der Emotionsmanifestation im Sinn eines Symptoms. Die Domäne des kognitiven Modells sind hingegen vertraute und sich wiederholende Situationen des Alltags, die eher schwächere Emotionen als bewertende Stellungnahme zu der gegebenen Situation auslösten. F IEHLERS eigenes Interesse richtet sich dabei auf diesen zweiten Typus von Emotionen, so dass für seine Untersuchung die Emotionsmanifestation im Sinn eines Symbols zentral ist (vgl. Fiehler 1990, 64ff.). Jedoch gibt es im Rahmen der kognitiven Emotionstheorien sehr wohl auch Entwicklungen, die - wie bereits erwähnt - die Integration wesentlicher Facetten einer ‘hot emotion’ anstreben und die daher das Potential bergen, beide von F IEHLER skizzierte Domänen mit den betreffenden Ausdrucksformen zu erfassen (vgl. G ESSNER 2004). 13 Oben wurde bereits erwähnt, dass es auch der Typus kognitiver Emotionstheorien ist, der im Zusammenhang der so genannten künstlichen Emotionen von größter Bedeutung ist. Zu nennen sind im Hinblick auf die Symbolfunktion weiterhin solche Emotionstheorien, die als kultur-konstruktivistisch bezeichnet werden (vgl. z.B. A VERILL 1980, 1985; H OLO - DYNSKI 2006; V ESTER 1991; W EBER 2000). Hier wird von einer prägenden Einflussnahme kultureller Variablen mit den spezifischen Emotionsregeln und ‘display rules’ auf emotionale Prozesse und ihre Ausdrucksformen ausgegangen. So komme es zur Ausbildung des jeweils relevanten soziokulturellen Wissens, das sich auf vertraute Situationen und Situationsbewertungen bezieht, die etwa unter Anleihe bei den Modellen der Künstlichen Intelligenz in typisierenden ‘frames’ und ‘scripts’ erfasst werden. 4.1 Thematisierung von Emotionen als Symbol Emotive ebenso wie sämtliche Formen der expliziten Verbalisierung von Emotionen können selbstverständlich auch im Zustand der ‘cold emotion’, das heißt ohne Emotionalisierung, Verwendung finden, um über Gefühle - seien es eigene oder fremde, vergangene oder zukünftige - zu sprechen. In diesem Fall rücken der sachliche Austausch, die Darstellungsfunktion sowie die Appellfunktion in den Vordergrund. Der sachlich-rationale Austausch hat sich in vielen Diskursformen des Alltags, Berufslebens und der Wissenschaft zum Maßstab der Objektivität entwickelt (vgl. H ABERMAS 1981) und wird beispielsweise für die Praxis der ‘Mediation’ als grundlegend erachtet. Affektive Gefühlsäußerungen sollen hier oftmals dadurch der Kritik zugänglich gemacht werden, dass sie in kognitive Aussagen und logisch aufgebaute Argumente überführt werden. In diesem Zusammenhang wurde auch vorgeschlagen, eine entsprechende “Übersetzungs- Gesine Lenore Schiewer 246 arbeit” in getrennten Sitzungen vorzunehmen (vgl. R ENN / K ASTENHOLZ 1998, 59f. und S CHIEWER 2002). Hinsichtlich der Appellfunktion können mit der Thematisierung sowohl volitionale Formen der intrapersonalen Emotions- und Handlungsregulation einhergehen als auch solche der interpersonalen Regulation. ‘Emotionale Ansteckung’ im weiteren Sinn einer ‘hot emotion’-Emotionalisierung des Rezipienten bei Kühlbleiben des Emittenten ist hier ebenfalls möglich. In noch stärkerem Maß als im Fall von ‘hot emotion’-Thematisierungen als Symptom spielen bei ‘cold emotion’-Thematisierungen als Symbol Fragen des Gefühlswortschatzes der betreffenden Sprache eine Rolle. Dieser Teil des Lexikons einer Sprache stellt einen wesentlichen Teil der verbalen Ausdrucksmöglichkeiten im Bereich des Emotionalen bereit und hat damit zugleich prägenden Einfluss auf die Typisierung der alltagsweltlichen Emotionskonzepte. Damit einher gehen gesellschaftliche Relevanzen der betreffenden Erlebnisform und soziale Normierungen (vgl. F IEHLER 1990, 115ff. und besonders 117). Daher wird seit geraumer Zeit ein Instrumentarium so genannter ‘semantischer Primitiva’ entwickelt, das die einzelsprachunabhängige Erfassung des semantischen Gehalts von Emotionsausdrücken erlauben soll (vgl. W IERZBICKA 2003 und eine Reihe weiterer Arbeiten W IERZBICKA s). Hinzuweisen ist hier in aller Kürze auf eine weitere Dimension der Thematik, die sich auf die sprachhistorische Ausbildung des Emotionswortschatzes bezieht. So hat beispielsweise für den betreffenden Wortschatz des Deutschen das achtzehnte Jahrhundert unter anderem aufgrund philosophischer und literarischer Kontexte einen entsprechenden Schub mit sich gebracht (vgl. B LACKALL 1966; J ÄGER 1988). In soziologischer Perspektive wurden dabei zwei mit dieser Ausbildung sprachlicher Möglichkeiten des Emotionsausdrucks komplementäre Entwicklungen akzentuiert: während auf der einen Seite eine Differenzierung und Verfeinerung der Kommunikation von Emotionen hervorgehoben werden kann, ist auf der anderen Seite nicht außer acht zu lassen, dass es so zugleich zu verstärkten Möglichkeiten gegenseitiger sozialer Kontrolle und womöglich sogar der Machtausübung kommen kann (vgl. E LIAS 1990). 4.2 Ausdruck von Emotionen als Symbol Auch die Expressive können ohne gegenwärtige Emotionalisierung in der Funktion eines Symbols Verwendung finden. Komplimente, Gratulationen und Dankesbekundungen werden mindestens genauso häufig ohne innere Beteiligung geäußert wie mit und unterliegen in hohem Maß dem Gebot konventioneller Darbietungsregeln. Direktive und kommissive Sprechakte als Grundformen der Appellfunktion sind hier gleichfalls zu berücksichtigen, sofern sie mit einer Wirkungsabsicht verbunden sind, die auf die Emotionen des Rezipienten abzielen. Das Ziel einer volitionalen interpersonalen Emotions- und Handlungsregulation, und damit der Effekt einer intendierten ‘emotionalen Ansteckung’, spielt hier insgesamt eine zentrale Rolle. Auch strategisch induzierte Emotionalisierung des Gegenübers oder Täuschungsabsichten seitens des Emittenten können unter Umständen vorliegen. Reinhard F IEHLER hat darauf hingewiesen, dass in diesem Fall verhältnismäßig eindeutige Manifestationsphänomene Verwendung finden, die konventionellen sozialen Symbolen entsprechend allgemein mit einer bestimmten Emotion - wie zum Beispiel kurz angebundenes Sprechen mit Ungeduld - identifiziert werden (vgl. F IEHLER 1990, 80ff.). Traditionell ist dies das Gebiet der Rhetorik, die insbesondere mit der Darlegung der Charakteristika der ‘hohen Stilebene’ immer schon die Instrumente für eine gezielte Emotionalisierung von Zuhörern Bausteine zu einer Emotionssemiotik 247 zur Verfügung gestellt hat. In diesem Zusammenhang dürfen die Emotionstheorie A RISTOTE - LES , die er im Rahmen seiner Rhetorik entwickelt hat, sowie das dramentheoretische Konzept der ‘katharsis’ in seiner Poetik natürlich nicht unerwähnt bleiben. Auch hier sind indes Rückwirkungen auf die intrapersonale Regulation ubiquitär, die etwa im Sinn des von Erving Goffman diskutierten ‘face’-Konzeptes das Selbstbild des Emittenten betreffen. Unter dem Stichwort des ‘Publikumseffekts’ werden die Folgen der Variation des sozialen Kontexts sowohl auf die jeweils als verbindlich erachteten Darbietungsregeln als auch die erlebten Emotionen des Emittenten erörtert (vgl. z.B. F RIDLUND 1994 und für einen Überblick M EYER et al. 3 2003, 88ff.). Ein unerschöpfliches Reservoir von Codierungen mit emotionalem Ausdruckswert stellt darüber hinaus die Sprache selbst dar. Im Sinn der ‘poetischen Sprachfunktion’ Roman J AKOBSON s können praktisch alle sprachlichen Formebenen Qualitäten emotionalen Aussagewerts aufweisen. Eine entsprechende Übersicht hat jüngst Carla B AZZANELLA vorgestellt (vgl. B AZZANELLA 2004, 62ff.; Stephen U LLMANN hat schon in den sechziger Jahren ähnliche Analysen vorgenommen, vgl. U LLMANN 1962, 163ff.; ausführlich diskutiert Richard W. J ANNEY die Typen des “affective indexing in speech”, vgl. J ANNEY 1996, 155-250). Unter Akzentuierung ästhetischer Aspekte wurden vor allem in den siebziger Jahren im Umfeld der Linguistischen Poetik solche Möglichkeiten sprachlicher Codierung von Emotionen untersucht (vgl. z.B. K ÜPER 1976). Als exemplarische Auswahl solcher Formen der Codierung ist folgende Übersicht zu verstehen: Sprachebene Formbeispiele Phonetik/ Phonologie Tonhöhe - Lautstärke - Tempo - Intensität - Artikulation - Rhythmus - Pausen - Metrik etc.; Onomatopoesie - Lipogramm etc. Graphemik Ausrufezeichen - Großbuchstaben zur besonderen Hervorhebung wie z.B. in der noch im 18. Jahrhundert verbreiteten Schreibweise “GOtt” etc. Morphologie/ Lexikon Suffixe (z.B. Verwendung von Diminutiva und Augmentativa) - Interjektionen - Schlagwörter - stilistische Markierungen etc. Syntax expressive Satztypen wie Exklamationen - formelhafte Wendungen - emphatische Konstruktionen (z.B. spezifische Thema/ Rhema-Strukturen) - Wortstellung etc. Semantik Denotation-Konnotation - Metaphorik - Indirektheit - Ironie - Ambiguität - Polysemie Text spezifische Textsorten wie Liebesbrief, Streitgespräch mit entsprechenden Formmerkmalen - funktionale Stile - Registerwahl - rethorische Aspekte - soziolinguistische Merkmale Literarische Formen der Sprachverwendung sind in diesem Feld sprachlich-emotionaler Codierung von besonderer Bedeutung, da hier den Phänomenen des Neuen, Abweichenden und Überraschenden eine entscheidende Rolle zukommt. Sie sind es, die im Kontext des Strukturalismus der P RAGER S CHULE mit dem Stichwort der ‘Entautomatisierung’ verknüpft wurden und auf die auch im Rahmen der Erforschung der Prozesse emotionaler Kreativität rekurriert wird (vgl. O ATLEY 1994). 14 Vielfach sind sie es auch, die eine Fortentwicklung und Verfeinerung der verfügbaren Formen des Emotionsausdrucks in einer Sprache überhaupt erst ermöglichen. Gesine Lenore Schiewer 248 4.3 Synopse I: Thematisierung und Ausdruck als Formen der Emotionsmanifestation Semiotischtheoretische Ebene (B ÜHLER ) indexical perspektive (J ANNEY ) - Emittentenseite - Manifestationsform von Emotionen (F IEHLER ) Sprachausdruck Sprechaktklasse (S EARLE / V ANDERVEKEN , W AGNER ) Funktion - Appell Entwicklungsstufe (B ÜHLER , H OLODYNSKI ) pragmatic perspective (J ANNEY ) - Rezipientenseite - Symptom ‘hot emotion’ Emotionstheorien: - evolutionstheoretische - psychophysiologische - ausdruckstheoretische - kognitive Thematisierung Emotive (ego) [Wagner] Interpersonale Emotions- und Handlungsregulation “Elterliche Intuition” [H OLODYNSKI ] Selbstzweckhaftes Kommunikationsmotiv sozialer Rückversicherung; vergleichbar mit direktem Ausdruck von Basisemotionen in der Mimik direkter Stil u.U. emotionale Ansteckung Beispiele der Robotik: KISMET [B REAZEAL ] MAX [K OPP et al.] Ausdruck Expressive (ego-alter) [S EARLE / V ANDERVEKEN ] Symptomatisch indizierte Sprechhandlungen: alle Sprechakttypen, falls durch ‘hot emotion’ elizitiert Ansätze zur Erfassung systematischer Zusammenhänge bei: O ATLEY / J OHNSON -L AIRD A NDERSEN / G UERRERO (volitionale) Inter- und intrapersonale Emotions-und Handlungsregulation mehr oder weniger direkter Stil Deutung seitens Rezipienten u.U. emotionale Ansteckung Direktive (ego) Kommissive (ego-alter) Fremdverpflichtung Selbstverpflichtung Symbol ‘cold emotion’ Emotionstheorien: - kognitive - psychoanalytische - kulturkonstruktivistische Emotionale Kreativität Thematisierung Emotive (ego) [W AGNER ] Alle Formen expliziten Sprechens über eigene und fremde Gefühle ohne aktuelle Emotionalisierung Volitionale inter- und intrapersonale Emotions- und Handlungsregulation Sach- und Gegenstandsorientierung u.U. Versachlichung [H ABERMAS ] u.U. emotionale Ansteckung Ausdruck Expressive (ego-alter) Assertive (ego-alter) Deklarative (ego), Akkompagnemente (ego) Sämtliche Sprachebenen können genutzt werden - literarische Formen der Sprachverwendung ist hier besonders innovativ Volitionale inter- und intrapersonale Emotions- und Handlungsregulation Entwicklung/ Verfeinerung sprachlicher Formen des Emotionsausdrucks u.U. emotionale Ansteckung strategisch induzierte Emotionalisierung Publikumseffekt [F RIDLUND ] Rhetorik Katharsis Direktive (ego) Kommissive (ego-alter) Fremdverpflichtung Selbstverpflichtung Bausteine zu einer Emotionssemiotik 249 5 Zur Steuerung von Gemeinschaftshandlungen: Kybernetik und Kommunikation - Synopse II Im Hinblick auf die Funktion sprachlich-emotionaler Manifestationsformen muss über die bereits berücksichtigten Formen des Appells hinaus die Ebene menschlichen Gemeinschaftslebens in den Blick genommen werden. Denn das Problem der gegenseitigen Verhaltens- und Handlungsabstimmung in ständigem Kontakt impliziert neben individualpsychologisch zu erfassenden Fähigkeiten des Individuums der Sprachverwendung auch eine soziologisch zu beschreibende Ebene. Die entsprechenden Formen wechselseitiger Koordination von Gemeinschaftshandlungen unter Einbezug von externen Orientierungspunkten im geteilten Wahrnehmungsraum betrachtet Karl B ÜHLER als Steuerungsprozesse, die er mit kybernetischen und gestalttheoretischen Instrumenten zu beschreiben sucht. Da es sich dabei um überaus weitreichende Überlegungen B ÜHLERS handelt, sind hierzu einige Erläuterungen angebracht. B ÜHLER geht zunächst davon aus, dass sowohl verbalsprachliche als auch para- oder nonverbale Kommunikationsmittel zu berücksichtigen sind, die manchmal äußerst subtil eingesetzt werden. Unter Umständen ermöglichen sie allein aufgrund gegenseitiger Beobachtung der Handlungspartner schon Verständigung. Generell können jedoch sämtliche bereits erörterte Manifestationsformen von Emotionen zum Tragen kommen. Daher sind nach B ÜHLER vier Stufen hinsichtlich der wechselseitigen Einflussnahme zur Ermöglichung von Gemeinschaftshandlungen zu unterscheiden: die gegenseitige Beobachtung stellt eine elementare Form dar, die gleichwohl bereits als Gestaltphänomen aufzufassen ist, da hier die Tätigkeit des anderen schon verstanden wird und der Handlungsabstimmung dient. Alle weiteren Stufen implizieren insofern Gestaltbildungen, als die verwendeten Sprachzeichen in Relation zum konkreten gegenständlich-‘symphysischen’ Umfeld (2. Stufe), zum ‘empraktischen’ Handlungskontext (3. Stufe) oder zum ‘synsemantisch’textuellen Umfeld (4. Stufe) interpretiert werden (vgl. B ÜHLER 1982[1934] und für eine Zusammenfassung U NGEHEUER 1972). Die Prozesse wechselseitiger Steuerung implizieren B ÜHLER zufolge daher schon auf der ersten Stufe Gestaltphänomene, denn seiner Auffassung nach spielen auch im Bereich des menschlichen Wahrnehmungsvermögens kognitive Züge eine Rolle. Gerold U NGEHEUER hat die außerordentliche semiotische Relevanz diese gestaltistischen Grundlegung hervorgehoben: Für die Sprachtheorie ist sie von besonderer Bedeutung, weil es somit bereits auf der Wahrnehmungsstufe mannigfaltige Prozesse gebe, die den Charakter des Bedeutens tragen. Generell gilt B ÜHLERS Ansicht nach, dass das “anschauungsnahe Denken” und damit gestaltistische Aspekte für die Umgangssprache eine bedeutende Rolle spielen (vgl. B ÜHLER 1960, 73f.). U NGEHEUER betont nachdrücklich, dass “jede ernstzunehmende allgemeine Zeichen-Theorie” gezwungen sei, von diesen Tatbeständen auszugehen (vgl. U NGEHEUER 1972, 189). Damit werden ganzheitlich oder als Gestalt zu beschreibende Vorgänge zu einem zentralen semiotischen Aspekt erklärt. Hierbei hat Karl B ÜHLER sogar schon 1960 für möglich gehalten, dass Roboter gebaut werden könnten, die “Weh und Leid” und “echte Gestaltreaktionen” zeigen (vgl. B ÜHLER 1960, 51 und 72). Wenngleich B ÜHLER zudem hier erstaunlich weit vorstößt in dem Versuch, sozialpsychologische Probleme mit kybernetischen Kategorien wie Steuerung, Regelung, Kontakttiefe und Stabilität zu lösen (vgl. U NGEHEUER 1972, 182), dann ist die Schlussfolgerung, die sich aus seinen gestalttheoretischen Grundlegungen für Fragen der Robotik, Künstlichen Intelligenz und Mensch-Maschine-Interaktion Gesine Lenore Schiewer 250 ergibt, sogar fast noch folgenreicher. Denn Roboter, die “Weh und Leid” zum Ausdruck bingen, sind heute im Rahmen des affective computing keine Phantasievorstellung mehr; B ÜHLER hat jedoch bereits die gestalttheoretischen Dimensionen im Hinblick auf die Folgen für Mensch-Maschine-Schnittstellen offengelegt: Menschen und Tiere jedenfalls besitzen sie [echte Gestaltreaktionen. G.L.S.], und sie unterliegen oder entziehen sich ihnen in ihrem orientierten und lebensförderlichen Verhalten. […] Man denkt […] auch an das Nervensystem und speziell an das Gehirn der höheren Tiere, wenn von deren gestaltlicher Verhaltenssteuerung die Rede ist, […]. Doch die Roboter bleiben deshalb in unsere Betrachtung eingeschlossen, weil sie bekanntlich mit einem ausgesprochen funktionalen Analogon zum (animalischen) Nervensystem ausgestattet sind. (B ÜHLER 1960, 72f.) B ÜHLER bezieht also die gestaltistischen Prozesse wechselseitiger Verhaltenssteuerung grundsätzlich auch auf Roboter. Dies hat aber zur Konsequenz, dass mit der Realisierung von Computern und Robotern, welche semiotisch relevante Formen des Emotionsausdrucks zeigen, deren Komplexität über die ‘hot emotion’-Thematisierung - wie sie bei Cynthia B REAZEALS “K ISMET ” anzutreffen ist - hinausgeht, auch anspruchsvollere Deutungs- und Interpretationsprozesse seitens des Rezipienten erforderlich werden. Damit eröffnet sich hier dann aber aufgrund der ubiquitären Fallibilität von Kommunikation auch das Feld möglicher Fehlinterpretationen seitens des Rezipienten; und womöglich sogar der Infragestellung des Prinzips der Kooperativität von Kommunikation. Dass dies nicht science fiction ist, hat Cristiano C ASTELFRANCHI deutlich gemacht, der eine Fundierung der Kognitionswissenschaften und der Künstlichen Intelligenz in kooperativistischen und harmonisierenden Interaktionstheorien kritisiert. 15 - Es bestätigt sich hier erneut die von U NGEHEUER schon 1972 akzentuierte Modernität der Ideen B ÜHLERS , “die von keinem seiner Zeitgenossen in Europa übertroffen wurde” (U NGEHEUER 1972, 182): Mit seinem Ansatz hat B ÜHLER die Basis für eine Beschreibung der Kommunikation mit ernst zunehmenden Androiden - von deren Entwicklung inzwischen auszugehen ist - geschaffen. Bausteine zu einer Emotionssemiotik 251 Kommunikatives Kontaktsystem der Sprache (B ÜHLER / U NGEHEUER ) Formen der Handlungskoordination Eingesetzte Mittel Funktion Entwicklungsstufe System von agierenden Individuen Theorien: soziologische und sozialpsychologische neben individualpsychologischer Fundierung Emotionstheorien: - soziologische [z.B. E LIAS ] - sozial-konstruktivistische Handeln in ständigem Kontakt mit den Handlungspartnern Einbezug von externen Orientierungspunkten alle Manifestationsformen von Emotionen können von B ÜHLERS Stufe 1-4 in zunehmender Indirektheit und sprachlicher Fundierung/ Subtilität zum Tragen kommen kommunikative Mittel sprachlicher und nichtsprachlicher Art: entweder Beobachtung der handelnden Partner und darauf eingestellte Kooperation oder Sendung und Empfang von Signalen und Zeichen, die Aufmerksamkeit und/ oder Handlung im Partner auslösen wechselseitige Steuerung, kybernetischer Prozess, d.h. Sprache als Einflussnahme aufeinander zur Ermöglichung von Gemeinschaftshandlungen 1. Stufe: elementar Einstellung aufeinander, gegenseitiges Verstehen der Tätigkeit des anderen Handlungsabstimmung ohne Gesten und Worte in gemeinsamer Wahrnehmungssituation (gestaltistischer Ansatz) 2. Stufe: höhere Stoff- und Gegenstandsgebundenheit der Zeichen; Symphysische Verwendung der Zeichen, d.h. erst das symphysische Umfeld legt die Grundlage ihrer Interpretation Kooperation auf Distanz bei nur teilweise gemeinsamer Wahrnehmungssituation 3. Stufe: fortentwickelt empraktischer Gebrauch der Kommunikationszeichen 4. Stufe: volle Entfaltung synsemantischer Gebrauch Kommunikationshandlung 6 Zur Soziologie der Emotionskommunikation Die Perspektive soziologisch orientierter Emotionstheoriebildung, welche durch den Aspekt der Steuerung von Gemeinschaftshandlungen erforderlich wird, kann hier nur angedeutet werden (vgl. für einen Überblick S CHÜTZEICHEL 2006). So kann Norbert E LIAS zufolge das gesamte äußere Verhalten des Menschen - Körperhaltung, Gebärden, Kleidung, Gesichtsausdruck, kurz das breite Feld des Para- und Nonverbalen - zum Zeichensystem werden, mit dessen Hilfe sich die Individuen immer differenzierter darzustellen und innere Stimmungslagen nach außen kundzutun vermögen. Zugleich werde es für den einzelnen wichtig, den anderen genau beobachten und “lesen” zu können, um von seinen sichtbaren Äußerungsformen auf seine unsichtbaren inneren Motive, Gefühls- und Seelenzustände zu schließen und das eigene Verhalten und Handeln darauf abstimmen zu können. Das heißt nach Thomas A LKEMEYER , dass mit wachsender Komplexität der sozialen Beziehungen den Individuen sowohl neue Kompetenzen der Fremddeutung als auch der Gesine Lenore Schiewer 252 Selbstdarstellung durch Sprache, Mimik, Gestik, Haltung, Kleidung etc. abverlangt werden, welche gelernt werden müssen. Gleichzeitig mit der Ausdifferenzierung und Komplexitätssteigerung der gesellschaftlichen Strukturen erfolgt eine Verfeinerung der individuellen Ausdrucks-, Darstellungs- und Deutungsfähigkeiten ebenso wie des emotionalen und psychischen Innenlebens der Subjekte. Bei diesem wechselwirksamen Prozess von Gesellschaftsstruktur, emotional-psychischer Individualentwicklung und Semiosen handelt es sich um Aspekte einer Figuration, die sich gegenseitig beeinflussen (vgl. A LKEMEYER 2003, 2808). Mit diesem Prozess zunehmender Verfeinerung und Differenzierung der Emotionen sowie der Möglichkeit ihrer gegenseitigen Mitteilung wird, wie E LIAS 1978 betonte, das friedfertige Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft überhaupt erst denkbar. Emotionen bestimmt auch E LIAS dabei nicht als bloßen Gefühlsausdruck, sondern als Komplex aus einer physiologischen Komponente, einer Verhaltenskomponente und einer Gefühlskomponente, dem eine besondere Bedeutung für die menschliche Interaktion und Vergesellschaftung zukommt (vgl. A LKEMEYER 2003, 2810). Die skizzierte Entwicklung impliziert jedoch auch eine andere Tendenz: Denn die sublimierten Mitteilungsformen von Emotionen bringen sowohl eine Zunahme der Verständigungsmöglichkeiten und des Verständnisses füreinander mit sich als auch - dies ist die Kehrseite - der Möglichkeiten gegenseitiger Beobachtung und Kontrolle sowie der echten Unterdrückung, wenn entsprechende Machtstrukturen und -verhältnisse bestehen (vgl. E LIAS 1978, 106). Norbert E LIAS verweist damit über die Affektsublimierung vermittels Mitteilung hinausgehend sowohl auf die verständigungssichernde Perspektive als auch die Aspekte der Kontrolle und Unterdrückung. Mit E LIAS ’ prinzipiell wertfrei angelegter Konzeption ergeben sich somit sowohl positive Möglichkeiten der Kommunikationsoptimierung als auch solche der Korruption (vgl. die Diskussion dieses Ansatzes im Zusammenhang mit Fragen eines interkulturellen ‘Dialogs der Kulturen’ S CHIEWER 2006). 7 Abschließende Bemerkungen: Emotionssemiotik als integratives Forschungsfeld Selbst eine vorläufige Skizze der emotionssemiotischen Perspektivierung des Gefühlsausdrucks in Kommunikation und affective computing - die selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit erheben kann - lässt erkennen, dass sich hier auf mehreren Ebenen die Chance und zugleich die Notwendigkeit der Integration sowohl in methodischer als auch disziplinärer Hinsicht bislang disparater Ansätze ergeben. Zusammenfassend sind insbesondere vier Aspekte hervorzuheben: Erstens ist die von B ÜHLER begründete Parallelisierung eines gestalttheoretisch gefassten und daher nicht informationstheoretisch reduzierten Kommunikationsbegriffs einerseits und kybernetischer Grundlagen andererseits zu betonen. Es ergeben sich auf diese Weise hochaktuelle Perspektiven für Fragen der Mensch-Maschine-Interaktion. Zweitens fällt die Parallelisierung von systematischen und historischen Perspektiven auf den Gegenstand auf, wie die Schlüsselfunktion der Theoriebildung Karl B ÜHLERS für die Integration von wissenschaftshistorisch älteren gestalttheoretischen Grundlagen und jüngeren Entwicklungen hin zur Kybernetik und Künstlichen Intelligenz erkennen lässt. Drittens ist die Komplementarität von innerindividuellen Prozessen, dialogisch-mikrosoziologischen und gemeinschaftlich-makrosoziologischen Dimensionen des Emotionalen von erheblicher Tragweite. Bausteine zu einer Emotionssemiotik 253 Und schließlich ist viertens die Komplementarität von Theorie und Praxis - von wissenschaftshistorischer Grundlegung und aktuellem Anwendungsinteresse - zu akzentuieren, wie sie im Hinblick auf die Applikation humaner Kommunikationsstrukturen auf die Mensch- Maschine-Interaktion und das affective computing aufgezeigt werden kann. Insgesamt ergibt sich daher in der Reflexion von Zeichen, Sprache und Emotion eine Thematik, die transdisziplinär vernetzte Zugänge von Kognitions-, Informations- und Geisteswissenschaften mit sowohl systematischer als auch historischer Methodik besonders fruchtbar erscheinen lässt. 8 Literatur Alkemeyer, Thomas (2003): Semiotische Aspekte der Soziologie: Soziosemiotik, in: Posner, Roland et al., Semiotik - Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 3. Teilbde., Berlin/ New York: de Gruyter, 2758-2846. Andersen, Peter A. / Guerrero, Laura K. (ed.) 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Beispielsweise werden die Rolle des Emotionalen für die Interaktion im Gespräch untersucht (vgl. z.B. F IEHLER 1990; Marie-Louise K ÄSERMANN ; W EIGANG 2004), semiotische Zugangsweisen sondiert (z.B. C AFFI / J ANNEY 1994; J ANNEY 1996; Magdalena K ONSTANTINIDOU ; FRIES 2003), die Emotionalität in Sachtexten beschrieben (J AHR 2000; D RESCHER 2003), Gefühle hinsichtlich kognitiver Prozesse und des Gedächtnisses auf linguistischer Ebene erfasst (Marco B ATTACCHI et al.; F RIES 2000). In der intensiven Forschung im anglo-amerikanischen Sprachraum zu diesem Gebiet spielen Fragen der interkulturellen Kommunikation eine bedeutende Rolle (z.B. H ARKINS / W IERZBICKA 2001; N IEMEIER / D IRVEN 1997), diskutiert werden aber auch verschiedene emotionstheoretische Konzepte im Hinblick auf ihre Bedeutung für linguistischkommunikationstheoretische Fragen wie die Kommunikation von Emotionen im täglichen Leben und der sozialen Interaktion (vgl. für einen Überblick A NDERSEN / G UERRERO 1998). 2 Grundlage solcher Systeme sind “künstliche Emotionen” und damit verschiedene Modelle von Emotionen. Dominierende Bedeutung kommt hierbei dem Typus der kognitiven Emotionstheorien zu, denen zufolge die Entstehung von Emotionen als Folge bestimmter Kognitionen und ihrer Bewertung und Interpretation zu sehen ist. 3 Vgl. zu den Beziehungen der modernen Semiotik zur Gestalttheorie S TADLER / W ILDGEN 2003, 2473-2483. 4 “Rarely, for example, have linguists and psychologists talked about the remarkable coordination of affective indicators in speech as related to segmental phonology, lexicon, syntax, semantics, and pragmatics, and even more rarely still has research looked systematically toward gestural and other visible manifestations of affect. The crying need, it seems, is for a theory that will embrace the full spectrum of semiotic phenomena and also take on the essential task of examining the incorporation of affect into all those semiotic systems.” O LLER / W ILTSHIRE 1997, 35. 5 In der Terminologie der Sprechakttheorie entspricht der Appellfunktion der perlokutionäre Akt: “the speaker can occasionally (intentionally or not) perlocutionarily please or amuse the hearer.” (V ANDERVEKEN 1990, vol. I, 69). V ANDERVEKEN betont dabei, dass perlokutionäre Akte nicht von der Satzbedeutung determiniert seien, nur gelegentlich auftreten und daher keinen Aspekt der Satzbedeutung darstellen (vgl. V ANDERVEKEN 1990, vol. I, 69f.). 6 Paul E KMAN beschreibt jedoch auch Phänomene gestellter und übernommener Mimik. Beispielsweise beschreibt er eine Form der “affektierten Skepsis”, die er in Hollywoodfilmen der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts bei “hübschen und kultivierten Frauen” zum Ausdruck “ihres vornehmen Zweifels” beobachtet habe. Damals hätten sich Jugendliche bemüht, die entsprechende Bewegung der Augenbrauen nachzuahmen und jeden bewundert, der es konnte. E KMAN betont, dass er diese Bewegung nur selten in natürlichen Situationen beobachtet habe. Vgl. E KMAN 1988, 96. 7 Dies wird damit begründet, dass mentale Zustände sich auf einen Sachverhalt beziehen, der in einer Proposition zum Ausdruck kommt. Daher wird z.B. die Äußerung “ich bin zornig” nicht als Sprechakt betrachtet. Hingegen stellt V ANDERVEKEN zufolge die Äußerung “ich drücke meinen Zorn darüber aus, dass …” einen Sprechakt dar (vgl. V ANDERVEKEN 1990, 213ff.). Dies ist insofern eine folgenreiche Festlegung, als in der Mensch-Maschine- Interaktion bislang Äußerungen wie “ich bin zornig” eine zentrale Rolle spielen. 8 Einen bedeutenden integrativen Ansatz, in dem die verbale Ebene unter dem Aspekt stilistischer Wahlmöglichkeiten, prosodische Aspekte sowie kinesische mit den Facetten Körperhaltung, Gesichtsausdruck und Blickkontakt einbezieht, haben A RNDT und J ANNEY entwickelt. Vgl. A RNDT / J ANNEY 1987. 9 Klaus R. W AGNER zählt “fluchen” zu der Klasse der emotiven Sprechakte: “Der Sprecher versucht durch stehende Redewendungen (Kraftausdrücke) […] sich eine Abfuhr von negativen Gefühlen (Ärger, Wut, Aggressionen, Frustrationen) zu verschaffen.” W AGNER 2001, 221. R OLF zählt “fluchen” dahingegen zu den Expressiva; vgl. R OLF 1997, 236. “Verfluchen” oder “einen Fluch über jemanden aussprechen” wird von S EARLE / V ANDERVEKEN und von R OLF zu den Deklarativa gerechnet. Vgl. W AGNER 2001, 284; R OLF 1997, 213; S EARLE / V ANDERVEKEN 1985, 209. 10 So nennt V ANDERVEKEN folgende englische Expressive: “approve”, “compliment”, “praise”, “laud”, “extol”, “plaudit”, “applaud”, “acclaim”, “brag”, “boast”, “complain”, “disapprove”, “blame”, “reprove”, “deplore”, “protest”, “grieve”, “mourn”, “lament”, “rejoice”, “cheer”, “boo”, “condole”, “congratulate”, “thank”, “apologize”, “greet”, “welcome”. Vgl. V ANDERVEKEN 1990, 213. Bausteine zu einer Emotionssemiotik 257 11 W AGNERS Liste der Expressive umfasst dahingegen sowohl thematisierende als auch ausdrückende expressive Typen. 12 Klaus R. W AGNER geht davon aus, dass in ontogenetischer Perspektive zwei Niveaus zu unterscheiden sind. Der Erwerb der Direktive soll auf dem ersten Niveau erfolgen und die Klasse der Aufforderungshandlungen die erste, die das Kind erwirbt: “Sie muß als der zündende Funke, als der Angelpunkt nicht nur des Sprechhandlungserwerbs, sondern des gesamten Spracherwerbs angesehen werden. Kinder lernen nicht die mehr oder weniger komplizierten Sprachstrukturen, um sprechen zu können, - sondern sie sprechen, weil sie gemerkt haben, wie wunderschön sie damit ihre Bezugspersonen dirigieren können.” (W AGNER 2001, 139). Daher spricht W AGNER hier von ego-Zentrierung und ordnet die direktiven Sprechhandlungen der Appellfunktion zu. 13 Kommissive gehören dagegen dem zweiten Niveau an. Hier muß das Kind lernen, zwischen der Fremdverpflichtung, die ihm durch die Verwendung von Direktiven sehr geläufig ist, und der Selbstverpfllichtung zu unterscheiden. W AGNER spricht daher von ego-alter-Zentrierung (vgl. W AGNER 2001, 140). 14 Eine Implementierung auf der Basis dieses Ansatzes erfolgt im Rahmen des Projekts “Emotionale Agenten zur Kontrolle von Ausdruck, Handeln und Sprechen in der Mensch-Maschine Interaktion - Emotional Agents for Controlling Expression, Action and Speech in Man-Machine Interaction”, das von der Hasler Stifung, Bern (Schweiz) finanziert wird. Mitwirkende sind Wolfgang G ESSNER , Guerrino M AZZOLA , Alex R INGENBACH und Gesine Lenore S CHIEWER . 15 Erwartungsverletzungen werden auch im Bereich der kognitiven Emotionstheorien, und zwar speziell von attributionstheoretischen Ansätzen reflektiert. Der hier zentrale Gedanke, dass Verhaltensweisen dann außergewöhnlich erscheinen, wenn sie einer Situation nicht angemessen sind, kann auf die Frage des Erwartbaren respektive Abweichenden und Ungewöhnlichen im verbalen Verhalten übertragen werden (vgl. H ÜBLER 2001, 42f.). 16 “No more Cooperation, Please! ” lautet der provokante Obertitel des Beitrags von C ASTELFRANCHI und er macht deutlich: “Conversational and interactional studies are dominated by a ‘cooperativistic’ or ‘benevolent’ conception of the agents. […] Generalized benevolence is in contradiction with the alleged rationality and autonomy of the agent in AI models. The cooperativeness of the agent is in actual fact quite executive. The agent must be capable of understanding and adopting other people’s goals, even beyond the limits of what he is asked to do and is communicated to him.” C ASTELFRANCHI 1992, 205. A. Francke UTB Literaturwissenschaft Preisänderungen vorbehalten Matthias Luserke-Jaqui Friedrich Schiller UTB 2595 S, 2005, XI, 459 Seiten, 5 Abb., [D] 19,90/ SFr 34,90 UTB-ISBN 978-3-8252-2595-7 Die Leser können sich in diesem gründlichen Werkkommentar mit den Texten und ihrem Kontext eines der wichtigsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte vertraut machen. Eindrückliche Textanalysen zeigen, dass Schillers Schaffen die letzten 200 Jahre mühelos überdauert hat und die Lektüre seiner Texte immer noch lohnt. Wer sich mit Schiller beschäftigt, erfährt durch Literatur, was der Mensch ist. Den Weg zu solcher Erkenntnis rekonstruiert dieses Buch. Aus dem Inhalt: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte oder Warum Schiller? · Biographische Skizze · Jugenddramen · Das erzählerische Werk · Das lyrische Werk · Das essayistische Werk · Klassische Dramen · Literaturverzeichnis · Anhang Matthias Luserke-Jaqui, geb. 1959, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der TU Darmstadt, ist Herausgeber des Schiller-Handbuchs (2005) und Mitherausgeber der Frankfurter Schiller-Ausgabe “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” Semiotik und Dialektik der Ver-/ Enthüllung bei Schiller, Fontane und Picasso Klaus H. Kiefer (München) “Die Enthüllung selbst ist nur eine Illusion unter anderen.” Botho Strauß: Niemand anderes, München: dtv 1990, 42 Semiotics and Dialectics of Unveiling in the Works of Schiller, Fontane and Picasso. Schiller’s Lied von der Glocke, Fontane’s Adultera and Picasso’s Demoiselles d’Avignon unveil the female body, in parts or in whole. Probably for reasons of decency, the object itself is not specified by the two writers. In Schiller’s work the exposure is prompted by a bridal’s deflowering and in Fontane’s work by the adultery committed by a young woman. It is only possible for the reader to gather the “unspeakable” by a different code. The silent body and its discreet sexuality are emblematically reproduced in clothing, interior etc. Picasso’s “Demoiselles” display less and less the unveiling of the female body - as exposure belongs to their trade anyway - whereas their bodies work their way out of the (“cubist”) canvas, and the sexual action is relocated in the view of the beholders, whom the “primitivistic” masquerade unmasks in their desire. Schillers Lied von der Glocke, Fontanes Adultera und Picassos Demoiselles d’Avignon enthüllen den weiblichen Körper, partiell oder ganz, indem die beiden Schriftsteller, wohl aus Dezenzgründen, das Faktum selbst nicht benennen. Anlass der Entblößung ist bei Schiller die Defloration einer Braut bzw. bei Fontane der Ehebruch einer jungen Frau. Der Leser kann den “unaussprechlichen” Sachverhalt nur über andere Zeichensysteme erschließen. In Kleidung, Interieurs etc. bilden sich der stumme Körper und seine verschwiegene Sexualität zeichenhaft ab. Picassos “Demoiselles” enthüllen weniger den weiblichen Körper - Entblößung gehört ohnehin zu ihrem Gewerbe -, vielmehr arbeitet sich ihr Körper (“kubistisch”) aus der Leinwand heraus, und die sexuelle Handlung wird in den Blick des Zuschauers verlagert, den die “primitivistische” Maskerade in seinem Begehren demaskiert. 1 Sauglocke und Ritual “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” - jedem Deutschen, zumal wenn er zu denjenigen gehört, die Das Lied von der Glocke (1800) noch auswendig gelernt haben, klingt unweigerlich der folgende Satzteil im Ohr: “Reißt der schöne Wahn entzwei” (SW 1, 429-442, V. 101). Ich will dem sprichwörtlich gewordenen Schiller-Vers (Büchmann 2002: 189) keine weitere - wohlverdiente - Parodie hinzufügen (Segebrecht 2005), vielmehr sollen in dieser Sentenz einige Strukturen aufgezeigt werden, die ich später an zwei weiteren epochentypischen Beispielen, Fontanes Adultera (1882) und Picassos Demoiselles d’Avignon (1907), vertiefe. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Klaus H. Kiefer 260 Offenbar wird in der Glocke ein archaisches Ritual der Entblößung und des “Gebrauchs” des jungfräulichen Körpers synekdotisch - sprachlich und gestisch - inszeniert: Momentaufnahme einer weiblichen Biographie. Nicht nur im Deutschland des 18. Jahrhunderts sind Gürtel und Schleier bekannte Teile eines vestimentären Codes der Braut; 1 der Schleier (griech. hymen) ist zugleich aber auch Sexualmetapher, so dass in Schillers “Lied”, für jeden halbwegs Erwachsenen erkennbar, eine Defloration beschrieben wird: eine so konkrete wie symbolische Handlung als Beginn des Ehestandes. Der Text beschreibt und betreibt ein semantisches Glissando vom Kleid (Gürtel, Schleier …) zum Körper, d.h. von der Kultur zur Natur, und von da wiederum zurück zur Kultur, denn der weibliche Körper wird (erst) in der Ehe zum gesellschaftlichen, ja ökonomischen Gegenstand: sei dies eine freundliche, sei es eine feindliche Übernahme. Gewiss folgt er seiner biologischen Bestimmung, Kinder zu gebären, aber er rührt nicht nur “hurtig”, wie es ein galanter Anonymus des 17. Jahrhunderts noch ausdrückt (zit. Schöne 1968: 485, V. 1), die “Lenden” - bis die “Windel überquillt” 2 -, sondern er regt auch “ohn Ende” - wiederum synekdotisch - die “fleißigen Hände” (SW 1, V. 123f.). Ich will nicht erörtern, was der Dichter mit “Wahn” bzw. “schönem Wahn” bezeichnet, und ob und wie anders der neue gesellschaftliche, d.h. eheliche, Zustand post festum zu bewerten sei. Offenbar gelangen die Protagonisten vom Regen in die Traufe eines - freilich grundverschiedenen - Verblendungs-, aber auch Wirkungszusammenhangs, der weder von ihnen hinterfragt wird, noch in Schillers Absicht hinterfragt werden soll. 3 Interessant an den beiden zur Diskussion stehenden Versen ist, mit welch geringem Aufwand komplizierte Vorgänge oder Handlungen beschrieben werden, so dass sie jedermann erkennt - zumindest in einer rudimentären Stammtischversion. 4 Umgekehrt verblüfft aber auch, was die auktoriale, ja patriarchale Rhetorik alles einspart bzw. an Kulturwissen und kulturellem Zwang stillschweigend voraussetzt. Eigentlich ist ja vom Körper, genauer: einem bestimmten Körperteil (Benthien & Wulf 2001), gar nicht die Rede - das gälte wohl als Pornographie -, sondern er wird metonymisch durch Kleidungsstücke evoziert: Gürtel und Schleier sind bekanntermaßen “Gefäße” für Körperteile. Diese Metonymie funktioniert jedoch nur auf der Basis eines uralt-kulturellen Codes, um Joanne Entwistle (2000: 6) zu zitieren: “[…] human bodies are dressed bodies. The social world is a world of dressed bodies.” Kurzum: “The body and dress operate dialectically […].” (Entwistle 2001: 36) Bei Schiller ist im übrigen nicht weiter die Rede von Brautmode oder Brautschmuck, Dinge, denen bei Hochzeiten in der Regel große Bedeutung beigemessen wird - wenn es sich das Paar leisten kann -, ganz zu schweigen von der Unterwäsche (Mosbach 2005). Nicht nur Karl Krauss (1909: 46) zufolge kommt es ja gar nicht so sehr “auf das Äußere einer Frau” an, sondern “[a]uch die Dessous” seien, so Krauss, wichtig. Diese wirken in der Tat nach Gürtel und Schleier als letzte vestimentäre Bastion, die sich dem Begehren des frischgebackenen Ehemanns entgegensetzt - allerdings erst im 19. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert trug die Dame unter den Unterröcken nichts, außer Kniestrümpfe (Haumann 2001: 13). 5 Das Zerreißen von Schleier und Gürtel stellt demnach einen relativ unvermittelten Gewaltakt der Inbesitznahme dar. Trotz dieses Gewaltzusammenhangs sind Text und Körper in Schillers Glocke so weit auseinander gerückt, dass die Parodie die Rechte des Körpers - wenn auch mehr stumpfsinnig denn spitzfindig - wieder einfordern musste, freilich nur die Rechte des männlichen Körpers, zumal Schiller beim Glockenguss die Herstellung des (phallischen) Klöppels vergessen hatte - “eine verräterische Fehlleistung” (Zimmermann 2003: 123). Die junge Frau in ihrer Leiblichkeit kommt bei alledem nicht zu Wort. 6 Nur als Mutter “lehret” sie die Mädchen (vermutlich das alte Rollenspiel) und “wehret” sie den Knaben (V. 121f.). Ihre “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 261 Opferrolle ist ansonsten züchtig-stumm, während der jungdeutsche Parodist lautstark die “Sauglocke” läutet. 7 Nicht nur reizt Schillers hyperperfekte Form zur Parodie, so dass schon die Jenaer Romantiker vor Lachen “fast von den Stühlen gefallen” sind (Caroline Schlegel an Auguste Böhmer, 21. Oktober 1799, zit. Segebrecht 2005: 37), sondern die “gravitätische Zeigefingerdidaktik und altbackene Normativität” (Wellershoff 2001: 21) des Gedichts provoziert geradewegs die Überschreitung - auch dies ein Verfahren der Entlarvung. 2 Lebensfülle und Fragment Ich habe die beiden Zeilen des “Moral-Trompeters von Säckingen” - so Nietzsche (KSA 6, 111) über Schiller - etwas gegen den Strich gelesen, 8 nicht um Schillers klammheimlichen Sexismus zu entlarven oder gar meine Neugier als Voyeurismus zu enthüllen, sondern zu allererst um die “Fülle des Lebens” 9 gegenüber der Kargheit der Literatur zu kontrastieren, die bei Schiller graduell besonders hoch ist (Volli 2002: 204). Sabine M. Schneider (1998: 16f.) bringt Schillers “Ausdrucksnot” in Zusammenhang mit der von Michel Foucault (1966: 229ff.) konstatierten “crise de la représentation” Ende des 18. Jahrhunderts. Aber auch kein anderer als Goethe, Verfasser hüllenloser “Erotica”, betont (Kiefer 1996), Literatur sei “das Fragment der Fragmente”: “das Wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das Wenigste übrig geblieben.” (MA 17, 814, Nr. 512). Und dieses Wenige wird nicht selten selber als “Schleier” umschrieben, so von Goethe selber: “Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit” (MA 2.1, 96, V. 96). 10 Wie Johannes Endres (2003: 2) an mehreren Fallbeispielen aufgezeigt hat - bei Schiller insbesondere am Motiv des Sais-Schleiers -, unterliegt Textinterpretation selber einer Dialektik der Enthüllung. Die Wertschätzung der Literatur in unserer Kultur, die sich noch als “literarisch” versteht, scheint demzufolge etwas zu unterschlagen, und erst recht gilt dieser Vorbehalt für Germanistik und Deutschunterricht, obwohl dank der feministisch und der kulturwissenschaftlich orientierten Forschung der beiden letzten Jahrzehnte das “Territorium der Sprache” (Böhme 2006: 57) erheblich erweitert wurde. Es gilt, die Aphasie der Dinge, Körper, Gesten, Bilder, auch der inneren, etc. - die gesamte Semiosphäre (Lotman 1990) - zum Sprechen zu bringen und umgekehrt die verbalen Zeichen in ihren lebensweltlichen Handlungszusammenhang zurück zu übersetzen. Jedes Zeitalter besitzt eine eigene Konfiguration, in die sich die Individuen mehr oder weniger einpassen. Dieser “Abdruck” ist erkennbar. Zwar fordern heute die hochentwickelten visuellen Medien, d.h. mehr noch als Malerei und Plastik - die es schon immer gab - der Film in seinen verschiedenen Formen, die in der Literatur fehlende Körperlichkeit oder Dinglichkeit zu zeigen, die vorher nur mehr oder weniger vage imaginiert wurde oder einfach selbstverständlich war, d.h. verbalsemiotisch “stumm”, aber auch die “Traumfabrik” zeigt nicht alles, und dies auch nicht nur aus Gründen der freiwilligen Selbstkontrolle. Auch die ikonischen Zeichen sind Zeichen, d.h. auch sie stehen quasi uneigentlich und notwendigerweise verkürzt an der Stelle des eigentlichen Objekts (Derrida 1968: 47). 11 Die Ähnlichkeitsrelation zwischen Ikon und Objekt, so umstritten deren genauere Bestimmung sein mag, führt notwendigerweise eine Renaissance des Mimesispostulats herauf, so dass Fragen nach der Wahrscheinlichkeit von Raum, Zeit, Körper, Kleidung, Praktiken etc. wieder legitim werden, Fragen, die uns die moderne (nach-realistische) Literatur und ihre bürgerliche Didaktik eigentlich abgewöhnt hatte. Literatur als Erziehungsinstrument ermöglichte - ad usum delphini - eine Entsinnlichung, die mit der Maxime des “literarischen” Lesens oder Lernens Klaus H. Kiefer 262 verbrämt wurde. 12 Es liegt mir fern, das “Phantasietraining” durch Literatur in Abrede zu stellen, aber der vielzitierte (und wenig problematisierte) “linguistic turn” bedarf einer synästhetischen bzw. (umfassend) semiotischen Revision (Kiefer 2003b). Vor allem muss geklärt werden, wie Wörter Körper, Dinge etc. formen, so dass sie lesbar - und fühlbar, vorstellbar - werden und wie letztere wiederum nach einem verbalen Ausdruck “rufen” - wie weiter unten ausgeführt: über indexalische Zeichen -, der sie aus ihrer Stummheit befreit, ihnen aus der bloßen Präsenz zur Repräsentation verhilft. Zeichenbildung, Semiose, ist ein “dialektischer” Prozess, wie es Ernst Cassirer (1990: 50) treffend beschrieben hat: Er [der Mensch] lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist. Aller Fortschritt im Denken und in der Erfahrung verfeinert und festigt dieses Netz. Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten; er kann sie nicht mehr als direktes Gegenüber betrachten. Die physische Realität scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe. 3 Fontane im Treibhaus Es wäre müßig, hier über Theodor Fontanes “Realismus” zu diskutieren, aber wenn, mit Walter Müller-Seidel (1975: 172) zu sprechen, der “Gegensatz von Typus und Individualität, von Kopie und Original” das zentrale Motiv der Adultera (1882; SR 2, 7-140) ist, so wird man eine zentrale Szene dieser Ehebruchsgeschichte doch auch auf ihre Originalität hin zu überprüfen haben. Während in unserem Schiller-Beispiel der Akt selber durch das Ritual und die Körper/ Kleid-Dialektik umschrieben und konstituiert wird, modelliert Fontane als Erzähler den weiblichen Körper quasi von außen her, sobald sich dieser im gegebenen Fall überhaupt wieder - nach zehn Jahren glücklicher Ehe (SR 2, 9) - zu regen beginnt: Die entscheidende Szene spielt im Treibhaus des Bankiers van der Straaten, wie es auch der Fontaneschen Quellenlage entspricht (Grawe 2000: 526). 13 Melanie van der Straaten, so der Erzähler, gehört den “von äußeren Eindrücken, von Luft und Licht abhängigen Naturen” zu (SR 2, 82), und als sie mit ihrem Geliebten in spe in der vom Erzähler geradewegs schwülstig präparierten Laube (Eilert 1978: 503ff.) anlangt, geschieht denn auch, was nach der Ordnung der Körper und Dinge geschehen muss: “[…] diese weiche, schlaffe Luft machte sie selber weich und schlaff, und die Rüstung ihres Geistes lockerte sich und löste sich und fiel.” (SR 2, 82) Ein Treibhauseffekt! Jeder weiß, was nach dem “Endlich” des nächsten Abschnitts geschehen ist, nur wie? Die etwas klapprige Rüstungs-Metapher hilft da freilich nicht weiter. Erzähler bzw. Leser verlassen das Paar: Melanie in der engen Laube der Treibhauskuppel auf einem kleinen Stuhl sitzend, Rubehn vor ihr kniend (SR 2, 81f.). Im Grunde ginge auch alles Weitere den Leser nichts an, wenn nicht der frivole Erzähler 14 selber von Anfang an das Thema von Sagen und Sehen (SR 2, 10) aufgeheizt hätte, ja selbst der Gärtner, der “galante [! ] Kagelmann” (SR 2, 77), bringt - etwas weit hergeholt und im geheimen Einverständnis mit dem Erzähler - die Rede auf Kleidung und Anstand. Welches Kleid, Korsett etc. Melanie getragen haben mag, ignoriert Fontane allerdings, typisch Mann. 15 Die für ihre spätere “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 263 Schwangerschaft notwendige zumindest partielle Entblößung der Heldin (auf engem Raum und gewiss in der Furcht vor Entdeckung: Anastasia und Kagelmann sind in der Nähe) wird dadurch plausibler, dass die Damenunterwäsche noch im späteren 19. Jahrhundert im Schritt offen war, 16 zeitgenössisch - fast unaussprechlich heute - als “Stehbrunzhose” bezeichnet. Auch die feinere Dame, nicht nur die Bäuerin auf dem Feld, hat sie getragen, denn man hielt sie für hygienischer und gesünder - und sie war auch für gewisse Minuten praktischer … Wenden wir, was der 60jährige Professor für alte Sprachen und deutsche Literatur am Gymnasium zum heiligen Geist Willibald Schmidt, Fontanes alter ego in Frau Jenny Treibel (Grawe 1996: 279), gelegentlich äußert, auf den gegebenen Fall an: “Das Nebensächliche […] gilt nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn nichts drin steckt. Steckt aber was drin, dann ist es die Hauptsache, denn es gibt einem dann immer das eigentlich Menschliche.” (SR 4, 360) Das war es für Fontane wohl nicht, aber es ist unübersehbar bzw. -hörbar, wie Natur und Kultur 17 - wie gesagt: von außen her - bis auf Körperhaltung, Atmung, Nerven, aber nicht weiter, ein Triebgeschehen kommunizieren, das ansonsten keine (verbale) Sprache findet: “[…] dabei war es, als ob hundert Geheimnisse sprächen” (SR 2, 82), heißt es bezeichnenderweise, und dabei ist jedes Wort als emphatisch-bedeutsam zu verstehen. Im Bildungszitat aus Goethes Wahlverwandtschaften, “Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen […]” (MA 9, 457; vgl. SR 2, 83), verbirgt sich der Exotismus des Unausgesprochenen und enthüllt zugleich die diskursive Leerstelle. Körper und Dinge (dazu zählen auch Kleider- und Körperöffnungen) kommunizieren eigenmächtig, mehr als es Sprache und Bewusstsein erlauben. Das bürgerliche Individuum beginnt, so Freud, die Herrschaft, die Diskursmacht, “im eigenen Haus” (GW 11: 295 u. GW 12: 11) zu verlieren. Fontane, der sich schon früh mit dem Motiv des Treibhauses befasst hatte, musste den Sachverhalt förmlich “ausschwitzen”, ja die gesamte Novelle ist ein Treibhaus, das die verbal charakterisierten Figuren in ihrer Sinnlichkeit bloßstellt, und Fontanes dialektisch-anspielungsreiche Sprachkunst (Verhüllung/ Enthüllung) - die er auch persönlich pflegte - ist gerade aus dieser Perspektive zu würdigen. Die Adultera-Verfilmung durch Thomas Langhoff (Regie) aus dem Jahr 1982 bildet Fontanes Vorlage relativ werktreu nach. 18 Melanie in einem hochgeschlossenen, langen weißen Teekleid - das modisch über die 70er Jahre hinausweist 19 - zeigt, kaum in der Teibhauskuppel angelangt, Hitzewallungen, worauf sie und Rubehn überraschend rasch zur Sache kommen und in die Horizontale gleiten, so beengt diese auch erscheinen mag. Entsprechend der diskreten Vorlage wird keine Enthüllung vorgeführt, vielmehr wird der anthropologisch erwartbare Liebesakt - durch Kameraschwenk - mit Palmblättern verhüllt. In der aktualisierenden Verfilmung des Adultera-Stoffes durch Dagmar Damek (Buch und Regie) aus dem Jahr 1990 - die Handlung spielt wohl ein Jahrzehnt früher - wird das Treibhaus-Motiv nicht mehr so realisiert wie bei Fontane und Langhoff. 20 Gewiss gibt es Gewächshäuser auf dem Grundstück Felix (sic) van der Straatens, sie dienen vor ihrer eigentlichen bzw. nach ihrer früheren Bestimmung (die Pflanzen sind in den Hintergrund gerückt) als zeitgeistiges Kunstatelier und als Partyraum, aber auch als “Liebesnest” (mit Diwan am Boden). Die Heldin besitzt als moderne Frau eine relative Bewegungsfreiheit in Raum und Zeit, die damit auch nicht auf einen einzigen (wahrhaft) “prägnanten Moment” fixiert erscheint. Sexuelle Peinlichkeiten, etwa nach Art der hitzig-schlüpfrigen Treibhausszene bei Fontane, bleiben ausgespart; erotische Körperkontakte werden über die räumliche Nähe des Gastes und Alltagspraktiken motiviert, wie z.B. dem Öffnen von Reißverschlüssen oder einer Demaskierung - bei einem Faschingsfest zeigt sich Melanie zunächst signifikant verhüllt. 21 Klaus H. Kiefer 264 4 Das “philosophische Bordell” Pablo Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1907) trug zunächst den Arbeitstitel “Bordel philosophique” (Rubin 1994: 17ff.), auch wenn sich der Namensgeber, angeblich Guillaume Apollinaire, hinsichtlich der Kombination von Sexualität und Philosophie nicht so viele Gedanken gemacht haben dürfte 22 wie die späteren Interpreten dieses Schlüsselwerks des 20. Jahrhunderts. Ob der junge Picasso tatsächlich in der Carrer d’Avinyó seiner Heimatstadt Barcelona ein Freudenhaus besucht (oder nur Pinsel und Farben gekauft) hat, ist strittig - es geht aber wohlgemerkt weder um das Factum noch um die Frequenz seiner sexuellen Aktivitäten, sondern nur um den Ortsbzw. Straßennamen. Dieser war ohnehin sprechend, denn Avignon galt dank seiner päpstlichen Vorgeschichte gewissermaßen als Sündenbabel des Midi - die zölibatären Kleriker mussten ja erotisch entsorgt werden -, und entsprechende Redewendungen mit “Avignon” lassen keinen Zweifel, dass selbst unter dem späteren Decknamen “demoiselles” eigentlich “des filles” gemeint waren und sind. Warum und wie aber wird aus einer biographischen Anekdote ein Kunstwerk? Hier nur einige Aspekte der so komplexen wie breit dokumentierten Entstehungsgeschichte (Seckel 1988). Die Figur eines jungen Mannes, der von links mit einem Totenschädel in der Hand, in anderen Skizzen und Entwürfen mit einem Buch, das Etablissement betritt, gilt einer späteren Aussage Picassos zufolge als Medizinstudent; dieser besitzt aber auch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Künstler selber. Allerdings wandelt er sich in späteren Skizzen und Entwürfen zur weiblichen Figur. Auch ein Matrose, der zunächst im Zentrum des Bildes saß, wird zur Frau - weitere Metamorphosen, auch des Mobiliars, lasse ich beiseite -, so dass in der Endfassung fünf mehr oder weniger bekleidete - und vom Typ her ziemlich gleichartige - Frauenfiguren die Bildfläche einnehmen. William Rubin zufolge ist damit die narrative Konzeption zugunsten einer “ikonischen” aufgegeben. Rubin (1984: 260) selber setzt “ikonisch” in Anführungszeichen; er meint damit, dass Picasso die Spannung zwischen den Geschlechterrollen, d.h. den Freiern und den Huren, und auch die zwischen den beiden unterschiedlichen Männern, dem Debütanten und dem Insider, aus dem Bild herausgenommen hat. Während die beiden Männer, solange sie in den Vorarbeiten präsent waren, voll bekleidet waren - der angebliche Student trägt merkwürdigerweise einen Business-Anzug, der Matrose einen Pullover mit V-Ausschnitt (Steinberg 1988: 40) -, ist die Arbeitskleidung der “demoiselles” eher leicht. Die Nacktheit der fünf Akte unterscheidet sich jedoch graduell, und sie liegt im übrigen fernab pornographischer Konnotationen, wenn man eines ihrer möglichen “Vor-Bilder”, z.B. Ingres’ Türkisches Bad, vergleicht. Die von links eintretende Figur - das Bild ist von links nach rechts zu “lesen” 23 - ist mehr bekleidet, als die zweite und dritte, ja man könnte zwischen Nr. 2 und 3 insofern einen Fortschritt der Entkleidung feststellen, als Nr. 2 ein Gewand noch mit einer Hand festhält, die zentrale Figur Nr. 3 hingegen sich mit beiden lasziv erhobenen Armen noch weiter entblößt und anbietet. Sowohl die eintretende Figur als auch die beiden “Randfiguren” rechts zeigen sich allerdings “maskiert”, wobei diese beiden, die stehende wie die hockende, ansonsten völlig nackt sind. Doch handelt es sich bei den paar Tuchzipfeln überhaupt um Kleidung? Das Interieur des Bordells ist in der Endfassung völlig verschwunden und die genannten Stoffreste gehen mit dem Hintergrund eine textile Verbindung ein: Die Leinwand wirkt wie zerknittert, und aus diesen “Kuben” treten die Figuren samt Falten ihrer spärlichen Bekleidung hervor - womit ich allerdings nicht das Thema “Kubismus” anschneiden will (Green 2001: 9). Interessanterweise taucht die sehr unnatürlich wirkende linke Hand der Eintretenden schon in frühsten Skizzen, etwa bei dem “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 265 sog. Medizinstudenten auf; sie schiebt einen Vorhang beiseite. Dieser Vorhang, der ursprünglich die Bordellszene eröffnete, ist nunmehr die Leinwand selber. Zwar schaut auch die am rechten Rand stehende Figur aus einem Raum hinter den Kulissen durch eine Art Vorhangsspalte (ihre beiden Arme bleiben hinter dem Tuch) auf das Bühnengeschehen; letztendlich wirkt aber auch diese ursprüngliche “Tiefendimension” Carl Einstein zufolge (Kiefer 1994: 134ff.) wie auf die Leinwand projiziert. Alle Körper und Dinge (die Fruchtschale unten Mitte) erscheinen von einer Grundfläche aus nach vorne gekippt. 24 Picasso hat nachweislich nach dem Besuch einer Afrika-Ausstellung im Trocadéro, dem heutigen Musée de l’Homme, Juni 1907, drei seiner Figuren “maskiert”. Die afrikanischen Masken - Picasso versieht sie mit iberischen und ozeanischen Einschlägen - interessierten ihn nicht nur aus formalen Gründen. Den Ausstellungsobjekten war durch Beschriftung eine heilende, ja exorzistische Funktion zugesprochen worden, wurden sie doch bei Heilungsritualen - auch bei Geschlechtskrankheiten - eingesetzt (Rubin 1984: 262ff.). Kein Wunder, dass der ins Bordell getriebene junge Mann Picasso, der zugleich - und zeitlebens - von einer ständigen Angst vor Ansteckung und Tod besessen war, 25 in seinem Werk so etwas wie eine “toile d’exorcisme” sah, wie er gegenüber André Malraux (zit. 1974: 19) bekennt. Notwendigerweise ist in der Endfassung der “Demoiselles” das (konventionelle) memento mori-Motiv des Totenschädels, den - wie schon bemerkt - der Medizinstudent in den frühen Entwürfen trägt, verschwunden. Analog zu den Stammesmasken wird das gesamte Bild zur “chose magique” (zit. Malraux 1974: 18), zum Fetisch. Gegenüber Rubin und Steinberg 26 möchte ich eine weitere mögliche Bild-Lektüre behaupten: Letzterer vor allem betont die Dissoziation der Figuren untereinander, obwohl er Reste von Handlung, die ja Kontinuität bedeutet, erkennt und bei anderen Picasso-Akten die Komplementarität zweier gegenüberstehender Figuren 27 als zu einer einzigen verschmolzen denkt. Vor dem Hintergrund der chronophotographischen Experimente Eadweard Muybridges, die nicht nur futuristische “Bewegungsbilder”, sondern auch z.B. Marcel Duchamps Nu descendant un escalier inspirierten, 28 kann man die Demoiselles d’Avignon nach Art eines “filmscripts” 29 wahrnehmen, sie gleichsam als “comic strip” lesen: mit einer “bewegten” Frau. Die Handlung ist ja seit den frühsten Entwürfen zwischen Introitus (links) und Coitus (rechts) eingespannt, in der Endfassung freilich ohne ersichtlichen Partner; die Position der Hockenden signalisiert aber eindeutig Paarung. Ohne Zweifel ist der abwesende Partner der (männliche) Bildbetrachter selbst, der in den Striptease der Darstellung hineingezogen wird, wie es Lucinda Jarret (1999: 8) beschreibt: “Beim erotischen Tanz und beim Striptease entsteht eine gewisse Intimität zwischen Darstellerin und Publikum: Jeder Zuschauer soll das Gefühl haben, dass der Auftritt nur für ihn allein bestimmt ist und dass die Darstellerin seine Phantasien auslebt.” Die “Masken” halten jedoch auch der Betrachterin einen Spiegel vor: In der Maskierung enthüllt sich die weibliche Sexualität überhaupt als afrikanisch-wild, ja bedrohlich, mit dem kunstgeschichtlich einschlägigen (neutralen) Begriff: als primitiv - ein Primitivismus, der das zeitgenössische Publikum beiderlei Geschlechts schockiert und zugleich fasziniert, wenn es im unausweichlichen Blickkontakt mit den Demoiselles der nackten Tatsache ins Auge schaut. Nicht nur steigert sich die Entkleidung von links nach rechts, sondern die zunächst diagonal aufsteigende Handlungskurve kulminiert paradoxerweise im “horizontalen Höhepunkt” rechts unten; sämtliche Oberkörper der weiblichen Figuren verharren jenseits einer vertikalen Linie, die etwa das obere Drittel des Bildes abtrennt. Der Unterleib zeigt sich im unteren Drittel. Der Begriff der Maske bedarf einer zusätzlichen Erläuterung: Natürlich ist der gesamte Kopf der Eintretenden wie auch der am rechten Rand Stehenden “afrikanisch” ge- Klaus H. Kiefer 266 staltet, und nur die Hockende hält sich - etwas deutlicher erkennbar - eine Maske vor, d.h. die Maskerade wird eigentlich annulliert; eher ist die Mimik selber maskenhaft, besser: zeichenhaft. Eine einfache Deutung könnte das Minenspiel als “Erröten” der erotischen Debütantin und derjenigen Frau interpretieren, die sich selber beim Liebesspiel beobachtet. Steht sie nur zufälligerweise über dem Haupt der Hockenden wie ihr “Über-Ich” und schlägt sie nicht (fast) die Hände vor Erstaunen über dem Kopf zusammen? Eine solche Spaltung (Mallet 1990: 148ff.) taucht wenn nicht oft im Alltag, so doch in etlichen “Kinder- und Hausmärchen” der Brüder Grimm, etwa dem Räuberbräutigam, auf (1996: Bd. 1, 210). 5 Zeichen und Fetisch Ganz im Sinne von Carl Einsteins “Ethnologie du Blanc” (zit. Kospoth 1931: 5) 30 entlarven Picassos Demoiselles d’Avignon die Moderne in ihrem - bei Schiller und bei Fontane mehr oder weniger verdrängten - Primitivismus; Fontane hatte bereits zur exotistischen Motivierung gegriffen, doch der (literaturwissenschaftliche) Begriff des Motivs sagt nicht alles. War bei Schiller die Entblößung des weiblichen Körpers in Rhetorik und Ritual verborgen, bei Fontane die Triebdynamik architektonisch und modisch eingekleidet, so bietet Picasso, den “dark continent” weiblicher Sexualität - wie ihn Freud (StA-Ergbd., 303) nicht zufällig (primitivistisch) nennt - maskiert und nackt zugleich. Für Leo Steinberg (1988: 55) ist hier das Bordell das “hothouse”, das die Wahrheit heraustreibt; er nennt es auch - fast wie in Anspielung auf Fontane - “caged jungle”. In unterschiedlicher Weise, aber vergleichbar, ist diese Entblößung in allen drei Fallbeispielen zeichenhaft. Man fragt sich allerdings nicht nur, wie kommen diese Zeichen zustande, sondern auch, wie bringen sie das zuwege, was man als Handlung im literarischen bzw. plastischen Kunstwerk erkennt. Zeichenbildung und Zeichenwirkung werden bislang kaum in einer fungiblen Theorie zusammengefasst. Bislang war die Semiotik vorwiegend repräsentationistisch orientiert (Nöth 2000: 162ff.), und eine neuere Arbeit, die Hartmut Böhmes (2006: 321 u.ö.), die diese Konzeption überwindet, fasst jene auch noch in dieser Weise auf. Was zur pragmatischen Dimension der Semiotik gehört, wurde akzidentiell behandelt. Begriffe wie “Ideologie” spielten dabei eine Rolle, oder es wurde die Raumstruktur Venedigs etwa bei Schillers Geisterseher oder Thomas Manns Todes-Novelle für die mysteriöse Handlung mit-verantwortlich gemacht (Kiefer 2004: 258). Zeichen als Agenzien (von “Agens”) oder Pragmeme (analog zu “Phonem”, “Semem” etc.) - so mein terminologischer Vorschlag - wurden kaum klassifiziert. Damit aber wäre die Semiotik nach dem Wunsch Ferdinand de Saussures (1976: 33) endlich “au sein de la vie sociale” angekommen. Die Sprechakt-Theorie hat immerhin erkannt, dass keine Sprechhandlung gelingt, wenn nicht die Macht einer “Institution” hinter ihr steht (Searle 1976: 51f.), wobei der Gebrauch von Zeichen im Unterschied zum instinktive Reaktionen auslösenden Signal (bei Tieren) stets einen Spielraum lässt. In diesem Sinne bewirkt das Hochzeitsritual bei Schiller die Handlungsfolge, im American Wedding heute noch durch das “You may kiss the bride”, das ein Heben des Schleiers erfordert, in zahlreichen Filmschmonzetten verewigt. 31 Machtausübung bedient sich in der Regel der Gewalt, die Worte in das Register der Dinge und der Körper übersetzt. Diese wiederum nötigen nicht nur zur Einsicht, sie verhindern sie auch. Der Schleier ist nicht nur “visibler Träger des Invisiblen” (Endres 2005a: VIII), sondern er fordert zugleich auch Aktion: entweder Respekt oder Entschleierung - aus welchem Grund und zu “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 267 welchem Zweck auch immer. Indessen hat, um noch einmal Johannes Endres (2005b: 3) zu zitieren, “die europäische Aufklärung im Schleier einen ihrer größten Opponenten gesehen.” Ohne Zweifel kann der Schleier als Fetisch, als magisches Dingzeichen, 32 verstanden werden, er besitzt exemplarisch - und daher habe ich ihn ja bei Schiller aufgegriffen (und “abgerissen”) - eine synekdotische wie eine performative Struktur. 33 Er ist ein artefaktisches Zeichen, dem ein - wie schon Alfred Binet (1887: 143) erkannte - “pouvoir mystérieux” innewohnt. Er ist also Zeichen und Agens zugleich: eben ein Pragmem. Die Frage stellt sich, ob ein ideologisch belasteter Begriff wie “Fetisch” eine theoretische Generalisierung aushält, die soweit geht, dass sie für jedes Zeichen gilt, das repräsentiert, kommuniziert und wirkt. Jean Pouillon (1970: 147) kommt auf anderen Wegen zu der Einsicht: “Le fétiche d’un côté, le mot abstrait de l’autre déterminent le champ symbolique; ils font partie du même système qu’ils fondent ensemble.” Nicht selten geraten solche Verallgemeinerungen freilich zu Allgemeinplätzen wie bei Binet (1887: 144), demzufolge “tout le monde est plus ou moins fétichiste en amour”, oder bei Freud (1992: 15), demzufolge alle Frauen “Kleiderfetischisten” sind. 34 Der Fetischismus thematisiert ein Kräfteverhältnis. Den Zaubertrank im Leibe sieht Faust Helenen “in jedem Weibe” (MA 6.1, 608, V. 2604), und ich habe mich schon immer gefragt, wie wohl Kants kategorischer Imperativ eigentlich, d.h. praktisch, funktionieren soll. 35 Doch wie ist dieser Ersatz des “Ganzen” durch ein Partialobjekt in ihrer (dialektischen) Wechselwirkung semiotisch zu vermitteln? 36 Das Zeichen kann aus dem “dynamischen Objekt” - mit Charles Sanders Peirce zu sprechen - nie das “Ganze” herausholen; es begnügt sich prinzipiell, wenn auch immer vorläufig, mit einer Substitution, was nicht hindert, dass sich der Zeichenbenutzer bzw. der Fetischist einer ganzheitlichen Illusion hingibt. Pouillon (1970: 137) bezeichnet den Fetischismus als “la négation de l’écart entre l’objet et ce dont il est le véhicule”, d.h. der Fetischist ist im Grunde ein religiöser Typ (Kohl 2003: 155f.), er glaubt an die Konvention zwischen Signifikant und Signifikat und handelt danach. Ein Künstler wie Picasso oder ein “post-konventioneller” Glaubensstifter 37 hingegen kann dieses Verhältnis umkehren, der Wissenschaftler kann es analysieren - stets unter der Gefahr, die Freud (1992: 13) bei einem Patienten erkannt hat, der “spekulativer Philosoph” geworden war: “Es hat sich […] auf intellektuellen Gebiet etwas ähnliches […] vollzogen wie auf erotischem Gebiet: er hat sein Interesse von den Dingen weg auf die Worte gewendet, die ja gewissermaßen die Kleider der Begriffe sind u. das erklärt sein Interesse für die Philosophie.” Das o.g. Kräfteverhältnis lässt sich ermitteln, wenn man alle Zeichen als “indexalisch” codiert versteht, wenn man also nicht wie Peirce aus dem Index (oder mit einem anderen Terminus: dem Symptom) eine autonome Zeichenklasse macht. Ich folge Peirce (1960: 170 = CP 2.305) jedoch in der Definition des Index: “in dynamical (including spatial) connection both with the individual object, on the one hand, and with the senses or memory of the person for whom it serves as a sign, on the other hand”. 38 Das seit Urzeiten kulturell eingespielte Verhältnis des Index “Rauch” für das Objekt “Feuer”, das das quid pro aliquo setzt, bietet das semiotische Standardbeispiel. Das Kausalverhältnis ist jedoch nur ein Sonderfall. Es gibt zahllose natürliche Fälle - und auch die Naturwissenschaft bleibt ja nicht stehen. Agenzien können neben Naturgesetzen sein: Glaubenswahrheiten, Triebe, Rituale, Sitten und Gebräuche, Trends, Erziehungsmaßnahmen, Werte und Normen, 39 aber auch Körper und Dinge, denen allesamt “Handlungsschemata” (Böhme 2006: 82) inkorporiert sind. Das Zeichen als Pragmem ist also die Handlung oder zumindest die Einstellung (kognitiv, affektiv, appreziativ), die als Interpretant ausgebildet wird. 40 Ähnliches meint wohl auch Wittgenstein (1969: 311), wenn er die Bedeutung als Gebrauch versteht. Klaus H. Kiefer 268 Macht der Begriff des Rituals bei Schiller plausibel, dass das Schleier-Zeichen ein Fetisch ist, und leuchtet wohl auch ein, dass Picassos Werk selber einen Fetisch darstellt, so hat es der “realistische” Roman ungleich schwerer, Wirkungsverhältnisse zu konstruieren, die in der zivilisierten Gesellschaft tabuisiert, ja vor Freud auch noch gar nicht erforscht waren. Stattdessen werden Goethes “Wahlverwandtschaften” bildungsbeflissen zitiert, um die primitiven - inclusive fetischistischen - “Gesinnungen” von “Mohren” (MA 9, 457) außen vor zu halten. Van der Straaten freilich ist ein heimlicher Fetischist; er sammelt Kopien statt Originale, pflegt im kühlen Berlin (oder lässt pflegen) exotische Gärten, und er hat sich auch seine (jüngere, adlige, französische, kurzum: “märchenhafte”) Frau aus ähnlichen Gründen zugelegt. Mit Mühe - da Melanie keine Kunst-, sondern (aktive) Musikliebhaberin ist - versucht er sie auf seine Bildkopien, man kann auch sagen: seinen Lebensentwurf, seinen Fetischismus - umzukodieren, aber das “Treibhaus” ist stärker, sobald sich die Gelegenheit bietet. Van Straatens “Spiel” mit des “Feuers Macht”, um Dagmar Dameks Filmtitel mit einem anderen bekannten Glocken-Vers zu komponieren (SW 1, V. 156), misslingt. Natürlich ist das Treibhaus, wie gesagt, zunächst nur ein kleiner van Straatenscher Privatfetisch, es ist aber auch ein Zeichengebilde, das repräsentiert, was die Figuren im Inneren treibt, und das als Katalysator ihren Kontrollverlust bewirkt. Es ist Medium, Mittel und Interpretant der - an sich unwahrscheinlichen - Entblößung, denn kein Ritual gibt sie vor, ja sie verstößt gegen jede gute Sitte, auf die Melanie ja ansonsten größten Wert legt. Diesbezüglich schafft Picasso eine tabula rasa. Die “Dialektik der Aufklärung” bleibt jedoch nicht stehen, was ihr (Mit-)Erfinder Theodor W. Adorno am eigenen Leib zu spüren bekam, als eine Gruppe von Studentinnen den tausendjährigen Muff unter den Talaren entlarvten, indem sie sich selbst enthüllten. um den schon genannten Dialektiker, schlicht genannt: Teddy (auch er selber nannte sich so), an der Ausübung seines “Denkgeschäftes” (Gernhardt 2000: 55-61, V. 94) zu hindern. Drei Studentinnen entblößten im Hörsaal ihren Busen und umtanzten flowerpower-blütenstreuend den prominenten Prof, der sich die Aktentasche vors Gesicht hielt und fluchtartig den Raum verließ. Robert Gernhardt (2001: Spur 10) hat dieses “Busenattentat” - der Begriff ist historisch verbürgt (Stelzer 2005) - nach Art einer Max-und-Moritz-Moritat besungen. Fatalerweise ist Adorno wenige Wochen nach diesem Mißbrauch einem Herzinfarkt erlegen, 66-jährig. Er hatte es nicht verwunden, als alter Mann - wenn auch renommierter “Fraunaufreißer” (Gernhardt 2000: V. 71) - und Reaktionär bloßgestellt zu werden. Letzteres war er wohl nicht, obwohl in den Augen der Studenten/ innen damals schon als reaktionär galt, wer berühmt war oder zumindest Vorlesungen hielt. 6 Literatur Abgekürzt zitierte Literatur CP = Charles Sanders Peirce: Collected Papers, hg. v. Charles Hartshorne & Paul Weiß, Cambrige/ Mass.: The Belknap Press of Harvard UP 1960, Bd. 2: Elements of Logic GW = Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, London: Imago 1940-1952 KSA = Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. 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Der Gürtel entfaltet aber auch magische Wirkungen (Harmening 2005: 187f.). Offenbar bedarf es eines Rituals, um die Transgression der Ordnung vom ethischen Tabu zur ehelichen Pflicht zu sanktionieren. Zur Funktion von Kleidung und Mode allgemein s. Bovenschen 1986. Klaus H. Kiefer 272 2 So auf dem Münchner Nockherberg 2007 als satirischer Angriff auf die derzeitige Familienministerin Ursula von der Leyen; Quelle: www.merkur-online.de: Singspiel: Die besten Sprüche: “Geh ich abends leise durch die Kinderzimmer / spür ich, wie es mich erfüllt / glücklich bin ich jetzt und immer / wenn die Windel überquillt.” (3. April 2007). 3 Die hochzeitliche Urszene wurde aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei allen zeitgenössischen “tableaux vivants” der Glocke ausgespart (Segebrecht 2005: 49). 4 In Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse weniger mit erotischen Akzenten, denn mit Erfahrungswerten der “Ehehölle”: “[…] der Oberlehrer Besenmeier hat Fräulein Julie Frey geheiratet und steht - ‘mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei’ - fürchterlich unter dem Pantoffel” (1981: 142). 5 Das Thema “Unterwäsche” bzw. “Dessous” findet mehr und mehr wissenschaftliche und auch museale Berücksichtigung, weil es mit dem Thema der Emanzipation gekoppelt ist; vgl. die beiden Ausstellungen des Rheinischen Industriemuseums Dessous. 150 Jahre Kulturgeschichte der Unterwäsche sowie Kleider & Körper seit 1850, 15. Oktober 2006-20. Mai 2007. 6 Vgl. dagegen Denis Diderots Les Bijoux indiscrets. Leibliche Konnotationen entfaltet in Schillers Gedicht allenfalls die Vereinigung des “Spröde[n] mit dem Weichen” (SW 1, 432, V. 86). 7 Im restringierten Code von Ignaz Franz Castellis (1979, ca. 1840) Männerphantasie, aber immerhin, reagiert das Geschlechtswesen Frau in der Sauglocke mit Seufzen, Stöhnen und Zittern. Die neuere Zeit kennt auch genderbewußte Parodien der Glocke von Autorinnen (Segebrecht 2005: 141). 8 Schillers philosophische Ballade Das verschleierte Bildnis zu Sais (SW 1, 224-226) wäre komplexer als die beiden Glocken-Verse, die allerdings sich ihrer brutalen brevitas als Einleitungsbeispiel eignen. Ein Motivvergleich ist hier nicht beabsichtigt; zum epistemologischen Sais-Gedicht vgl. Endres 2003: 39ff. 9 Der Ausdruck (griech. pleroma) hat religiöse Ursprünge und Konnotationen, die ich hier aber nicht übernehme, sondern es geht zum einen um “Fülle” als semiotischen “Quellgrund”, wo sich Zeichen bilden und zu wirken beginnen, d.h. um das “dynamische” Objekt (Nagl 1992: 38f. in Auseinandersetzung mit Jacques Derrida); zum anderen beziehe ich mich auf Schillers mit der Antike konnotierten Begriff “Lebensfülle” (Die Götter Griechenlands, SW 1, 163 u. 169, V. 11). 10 Vgl. Schiller: Die Götter Griechenlands [1800]: “der Dichtung zauberische Hülle” (SW 1, 169-173, V. 9), durchaus eine hellsichtige Verbesserung gegenüber der Erstfassung [1788]: “der Dichtung malerische Hülle” (SW 1, 163-169, V. 9). Allgemein s. Landfester 1995 u. bes. Janssen 2000: 66. 11 Zur Diskussion der Ikonizität s. Nöth 2000: 193ff. u. 471ff. sowie Kiefer 2007a. Überraschenderweise hat Kanzog (2001: 112f. u. 2007) mehrfach die Übertragung von Begriffen wie Metapher, Metonymie, Synekdoche etc. auf die Filmrhetorik zurückgewiesen. 12 Abraham & Kepser (2006: 82) erklären diese literarästhetische Konzeption allerdings für überwunden. 13 Auch das van Straatensche Treibhaus war nur eine kleinere Kopie (SR 2, 81) der englischen Vorbilder (Kew Gardens). Daß es als “altmodisch” (SR 2, 76) bezeichnet wird, weist auf den Archaismus dessen, was in ihm passiert. Ein weiteres “Treibhaus” besucht man in Stralau (SR 2, 57). 14 Gegen Grawe (2002: 205) meine ich, dass die Treibhausszene keineswegs “ins Kitschige” entglitten ist, sondern eine lustvolle Komik aufweist: wie sich zwei der Etiquette durchaus verpflichtete Menschen näher kommen (“an die Wäsche gehen”). Gerade bei Melanie ist der Triebschub beachtlich. 15 Fontanes “Ehebriefwechsel” ist unergiebig. - Neben meiner editionsphilologischen Beschäftigung mit der Mode des Directoire (Kiefer 1988 u. 2004), die, interpretatorisch fruchtbar, ein Licht auf Goethes Revolutionsrezeption warf, hat mich vor allem eine Ausstellung im Museum of Costume in Bath (UK) auf die Semiotik von Körper und Kleidung aufmerksam gemacht: Jane Austen - Film and Fashion, Kat. hg. v. Heritage Services Division of Bath & North East Somerset Council, 2004. 16 Dieses pikanten Details war sich der Erzähler bewußt, so dass das bei Fahrradfahren verrutschte Kleid Heths (SR 2, 76) als eine unmittelbare Vorausdeutung auf die Kleidung der Mutter verstanden werden muss; vgl. auch Fontanes obszönes Gedicht “In Sachen der Radlerinnen” (SR 6, 550). Die Kinderkleidung wird authentisch gezeigt in Langhoffs Adultera-Verfilmung (s.u.). Natürlich kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, welche Unterwäsche Melanie van der Straaten getragen hat. In den 70er Jahren (des 19. Jahrhunderts) bahnt sich jedenfalls ein Umbruch - dem der späte Fontane wohl entrückt war - erst allmählich an (Saint-Laurent 1986: 103ff.) 17 Die Natur “spricht” bzw. läßt Worte “fließen”, so schon bei der Flussfahrt, Kap. 10; das Treibhaus entfaltet eine wirkungsvolle Dynamik von Natur und Kultur. 18 Eine Leihkopie des Melanie van der Straaten betitelten Films ist über das Deutsche Rundfunkarchiv Babelsberg erhältlich. Der L’Adultera (schwed. Original: Beröringen) betitelte Film Ingmar Bergmanns aus dem Jahr 1971 “Mit dem Gürtel, mit dem Schleier …” 273 hat - soweit aus Inhaltsangaben erschließbar (der Film war mir nicht zugänglich) - nur hinsichtlich der zentralen Personenkonstellation Ähnlichkeiten mit dem Fontane-Text. 19 Vgl. Loschek 1999: 451. Man wird sich Melanie “altmodischer”, eher wie ihr Urbild Therese Ravené oder Effis Urbild Elisabeth von Ardenne vorzustellen haben; s. die Abb. in: Wagner-Simon 1992 bzw. Franke 1994. 20 Dagmar Damek (Buch und Regie): Spiel mit dem Feuer, München: Infa-Film 1990, ausgestrahlt im Bayerischen Rundfunk, 88 Min. Für die Zusendung einer VHS-Kopie danke ich Konstantin Schirk von der Infafilm GmbH. 21 Sie trägt das glockenförmige Drahtgestell einer altmodischen Krinoline. Daß Melanie van der Straaten bei öffentlichen Auftritten noch einen solchen mit Stahlbändern armierten Unterrock getragen hat, etwa in Form einer Turnüre o.ä., ist wahrscheinlich (Loschek 1999: 72f., 229f., 460). 22 Guillaume Apollinaire, der auch Verfasser pornographischer Schriften (Les onze mille verges ou les amours d’un Hospodar - Picasso besaß das Originalmanuskript) und zudem de Sade-Kenner war, spielt vermutlich auf de Sades Philosophie dans le boudoir an. Das Sadesche “boudoir” kann im 18. Jahrhundert als Synomym zu “bordel” verstanden werden (Adriani 2005). 23 Die “Lektüre” von links nach rechts entspricht dem Zulaufen auf einen Höhepunkt; s. mit Berufung auf Heinrich Wölfflin Clausberg 1999: 4. 24 Zu den von Getrude Stein Picasso nahegebrachten Kippbildern als kubistische Bildinspiration Teuber 1982: 27f. u. 39. 25 Geschlechtskrankheiten bedeuteten in Picassos jungen Jahren noch den sicheren Tod. 26 Ebenso gegen Herding (1992: 11), der nur die “handlungslose Schaustellung einer unzusammenhängenden Figurenversammlung” erkennt. 27 Vgl. Picasso: Deux Femmes nues, Paris Herbst 1906 ebenfalls mit dem “revelatorischen” Griff der einen Figur in einen “Vorhang”, Abb. in: Rubin 1994: 43. 28 Vgl. Eadweard Muybridge: Animal Locomotion [1887], Schwarz/ Weiß-Photographie, Abb. in: Hulton 1986: 51 u. Marcel Duchamp: Nude Descending a Staircase no. 2 [1912], Öl auf Leinwand, Abb. in: Hulton 1986: 281; s. dazu auch Kiefer 2003a. 29 Steinberg (1988: 52) lehnt dieses Verfahren ab, vgl. auch Dalyremple Henderson 1983: 79. 30 Aus der Perspektive dieser “Ethonologie du Blanc” verliert die antikolonialistische Kritik am Fetisch-Begriff, etwa seitens Marcel Mauss’ oder Claude Lévi-Strauss’, ihren Anhaltspunkt. 31 Auch in diesem Fall entlarvt ein Cartoon den archaischen Gewaltakt: Der Schamane vor dem steinzeitlichen Paar, der Bräutigam mit Keule angetreten: “Congratulations, you’re now man and wife. You may club the bride.” (http: / / www.cartoonstock.com/ directory/ y/ you_may_kiss_the_bride.asp; 11. April 2007). 32 Das gilt auch für die muslimische Verschleierung, die mittels Kopftuch den weiblichen Haarzauber bannt und Scham erzeugt; das Kopftuch ist demnach kein “Dessous”, sondern ein “Dessus”. 33 In dieser stillschweigenden Anleihe bei der Sprechakttheorie sind sich Endres (2003: 2) und Böhme (2006: 190) einig. 34 Freuds Erklärung des Fetichismus durch den angeblichen “Penisneid” der Frau ist so wahnwitzig, daß sie nur durch das Bonmot des “Stadtneurotikers” Woody Allen entlarvt zu werden verdient, er - im Film heißt er Alvy Singer (genannt: Allen) - sei wohl der einzige Mann, der darunter leide. 35 Habe ich in diesem Zusammenhang (Kiefer 2004: 37f.) auf einen versteckten Animismus Kants hingewiesen, so könnte ich jetzt mit Böhme (2006: 188) von einem wirksamen “magischen Milieu” sprechen, das sein Postulat realisiert. 36 Vgl. “Ganzes/ Teil” (versch. Verf.), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, in Verb. m. Guenther Bien u.a. hg. v. Joachim Ritter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, Bd. 3, 3-20. 37 Ich greife hier einen Begriff von Kohlberg 1995 auf, dessen Konzeption ich ansonsten nicht teile. 38 Zur Wichtigkeit des Index-Begriffes Short 2004: 222f. 39 Zu meiner Wertetheorie s. Kiefer 2007b. 40 Der Interpretant repräsentiert also nicht nur einfach das Zeichen auf eine andere Weise, sondern er bewirkt etwas; vgl. Nöth 2000: 64 u. dagegen Eco 1972: 77. Literaturwissenschaft A. Francke Preisänderungen vorbehalten Herbert Grabes Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne Die Ästhetik des Fremden UTB 2611 M, 2004, XII, 178 Seiten, 16 Farbtafeln, 22,90/ SFr 40,10 UTB-ISBN 978-3-8252-2611-4 Dieser kompakte Überblick über die Literatur und Kunst von Moderne und Postmoderne führt in die Ästhetik dieser Epochen als Ästhetik des Fremden ein. Er erklärt damit, warum die moderne und postmoderne Literatur und Kunst für ein breites Publikum schwer zugänglich geworden ist. Indem sie einen ästhetischen Prozess in Gang zu setzen versucht, der mit einer befremdenden Wirkung beginnt, muss diese Literatur und Kunst zwangsläufig die Erwartung einer spontanen Zugänglichkeit enttäuschen, wie sie von der Ästhetik des Schönen oder Erhabenen in vormodernen Zeiten her gewohnt war. In allgemein verständlicher Sprache und mit zahlreichen Beispielen aus Kunst und Literatur illustriert, macht der Band mit den vielfältigen Strategien der Erzeugung von Fremdartigkeit in Moderne und Postmoderne bekannt. Er geht hierbei zunächst empirisch vor und erläutert die theoretischen Grundlagen der modernen und postmodernen Ästhetik im Schlussteil. Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst Vessela Posner (Berlin) “Ich erinnere mich nicht, ob du schön warst … Manchmal verlieren die Augen wegen der Nähe ihre Kraft, die nahen Dinge zu sehen …” Aus einem bulgarischen Schlager der 70er Jahre This article discusses the tradition of the body secret in art by presenting five examples: “Holy Maria Magdalena with Angels” by Tilmann Riemenschneider, the fresco “The Love Adventures of Mars and the Nymph Ylia”, the painting “The Room” by Balthus, Helmut Newton’s “Walking Women” and Rebecca Horn’s “Soft Prisoner” from the movie “The Gigolo”. After this introduction, the project of a multimedia installation is described, which has the title “What is touched becomes invisible”. The pictures displayed in this installation are to be experienced less through what they depict than through the perceptual conflicts which arise in the beholder when what they depict is touched and thereby made invisible. The project is intended to initiate a complex process of multimedia perception which has the power to make the aesthetic information conveyed unforgettable. An fünf Beispielen wird die Tradition des Körpergeheimnisses ästhetisch aufgezeigt: Tilmann Riemenschneiders “Hl. Maria Magdalena mit Engeln”, Fresko “Die Liebesabenteuer des Gottes Mars und der Nymphe Ylia”, “Das Zimmer” von Balthus, Helmut Newtons “Walking Women” und Rebecca Horns “Sanfte Gefangene” aus dem Film “Der Eintänzer”. Sie leiten die Beschreibung der multimedialen Installation “Berührtes ist unsichtbar” ein. Der Sinn der Bilder in der Installation ist weniger durch ihre Abbildhaftigkeit erfahrbar als durch Wahrnehmungskonflikte an der Grenze der Abbildhaftigkeit. Das Ziel des Projekts ist es, einen komplexen Erfahrungsprozess in Gang zu setzen, der das ästhetisch Mitgeteilte unvergesslich macht. Vorbemerkung Für die folgenden Überlegungen beziehe ich mich auf eines der langfristigen Themen meiner künstlerischen Arbeit, die ich als “Lob des Körpers” bezeichne. Der folgende Text ist aber speziell für den Workshop “Kartographie des Verhüllten” entstanden, der von Dieter G. Genske und Monika Huch im Rahmen des 11. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS e.V.) organisiert wurde. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Vessela Posner 276 Abb. 1: Tilman Riemenschneider, Die hl. Maria Magdalena mit Engeln, 1490/ 92 Abb. 2: Die Liebesabenteuer des Gottes Mars und der Nymphe Ylia, Fresko von Francesco del Cossa, 1476. Palazzo Schifanoia, Ferrara “Nähe und Entfernung” Deswegen beginne ich meine künstlerische Selbstanalyse mit dem Eingangssatz der Organisatoren: “Verhülltes weckt Neugierde - auf das Verhüllte, aber auch auf die Hülle” (Genske & Huch 2005). Die Opposition Verhülltes vs Hülle versuche ich mit meinen grundsätzlichen Begriffen Nähe und Entfernung zusammen zu bringen und wechselseitig zu erklären. In diesem Aufsatz habe ich nicht die Möglichkeit, ausführlich über die verschiedenen Darstellungsweisen eines “Verhüllten Körpers” in der Bildenden Kunst und bzw. die verschiedenen Darstellungsweisen seiner “Enthüllung” zu sprechen. Die folgenden Beispiele, die ich rein eklektisch nach meinem eigenen Geschmack ausgewählt habe, benutze ich nur zur Einführung in die vergangene Tradition des Körpergeheimnisses und ihre ästhetischen Aspekte. Die Selbstdarstellung des Menschen im Alltag beruht auf dem Stil seiner Bekleidung. Die Darstellung des Menschen in der Kunst spielt mit dem Stil seiner Verkleidung. Eine Maria Magdalena von Riemenschneider ist durch ihr Haar verkleidet, bzw. verhüllt. Die angedeutete nackte rechte Brust zeigt, dass die Haarlocken auf dem Körper keine biologische Behaarung wie bei einem Affen, sondern eine konventionelle Körper-Verhüllung sind. Die “Absurdität” dieser “Bekleidung” liegt darin, dass die Frau (Maria Magdalena) nackt ist und man ihren Körper selbstverständlich sehen kann. Entsprechend den Normen der Epoche aber wird die Stilistik der “Verhüllung” benutzt, und der Betrachter wird auf keinerlei Weise aufgefordert, einen nackten Körper zu entdecken: die biblische Geschichte ist das Einzige, an das man bei dieser Skulptur denken soll (vgl. Abb. 1). Aus ungefähr derselben Zeit stammt das folgende Fresko, das ein nacktes Liebespaar evoziert, und zwar durch die ausgezogene individuelle Körperverhüllung (die Kleider vor dem Bett) und die gemeinsame “Verhüllung” (den weißen Stoff über den Körpern im Bett) (vgl. Abb. 2). Fast ohne nackte Körperteile zu malen, deutet der Künstler an, dass die beiden Körper hinter den leeren Kleidern nackt sind, wobei die Falten des bedeckenden Stoffes den Konturen der Körper nicht genau folgen. Diese, auf den ersten Blick von den gesellschaftlichen Konventionen geforderte “Bedeckung”, lässt aber dem Betrachter unbegrenzte Möglichkeiten, mit der Mitteln der schönen Hülle das Verhüllte zu entdecken. Die Verhüllung der beiden nackten Körper bei der Liebe provoziert die Fantasie mehr, als wenn sie unbedeckt wären. Heute, nach allen sexuellen Befreiungsbewegungen, scheint uns dies selbstverständlich. Ich bin sicher, dass Francesco del Cossa im 15. Jahrhundert auch viel mehr wegen des Imaginationspotenzials der Opposition “Verhüllt vs Enthüllt” als wegen der kirchlichen Beschränkungen die nackten Körper so schön malerisch “verhüllt” hat. Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 277 Abb. 3: Balthasar Klossowski, gennant Balthus. Das Zimmer, 1952-1954) Abb. 4: Nelmut Newton, “Walking Women”, French Vogue, Paris 1981 Abb. 5: Rebecca Horn, Die sanfte Gefangene, aus dem Film “Der Eintänzer”, 1978 Im 20. Jahrhundert geht Balthus viel “frecher” zu Werke: das Licht “ent-deckt” den ganzen Körper. Was aber? ! Einen Mädchenkörper in einer sexuell provokativen Stellung? Dieser Körper, der erotisch fast pervers sein soll, ist tatsächlich wie eine grobe Steinskulptur gemalt. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die ästhetisierte Erregung nicht in der visuellen, sondern in der Einfallskraft des Betrachters liegt, eine weitere “Enthüllung” fortzusetzen (vgl. Abb. 3). Ungefähr 30 Jahre später, im Kontext der reinen Konsumgesellschaft, fotografiert Helmut Newton zweimal dieselben Models in (fast) denselben Posen: bekleidet und unbekleidet. Auf welchem der beiden Fotos sind die Frauen (Models) “nackter”? Dort, wo sie keine Kleidung haben, und nur einen nach Model-Klischee perfekten Körper oder dort, wo sie die für diesen Sozial-Status vorgeschriebenen Kleider anhaben? Die Botschaft scheint mir klar: der Körper (nackt oder “angemessen” bekleidet) ist schon - und nur - eine der Gesellschaft angemessene Bedeckung der Persönlichkeit bzw. des konkreten Körpers. Die ästhetische Form der Fotografie schließt jede Möglichkeit zu einer weiteren “Enthüllung” aus (vgl. Abb. 4). Die Installationen der Kunst der Gegenwart experimentieren bereits mit der Inszenierung einer möglichen “Enthüllung” des Körpers. “Die sanfte Gefangene” von Rebecca Horn ist ein Beispiel für ein besonders poetisches Werk, das die Metapher der “Verhüllung” benutzt. Die harmonische Bewegung der Vogel-Frau versteckt und zeigt ihren Körper. Das ist eine Form des Fliegens, nicht aber in einem äußeren, sondern in einem inneren Raum: statt großartiger Landschaften entdeckt der Betrachter dort die Geheimnisse eines Körpers. Verglichen mit den anderen visuellen Praktiken ermöglicht die Bewegung hier eine viel deutlichere Darstellung des Prozesses “Verhüllung vs Enthüllung”. Aber auch hier ist es der Künstler, der die Form und den Rhythmus des “Zeigens und Verdeckens” bestimmt. Der Betrachter akzeptiert es nur auf der visuellen Ebene und kann nicht in das Spiel eintreten: wie früher hat er nur seine Augen, um zu “entdecken”, und es geht nicht um’s Berühren (vgl. Abb. 5). Vessela Posner 278 Die bis jetzt beschriebene Situation ist typisch für den Status der Bildenden Kunst, die durch die Institution des Museums der Moderne bestimmt ist. “Berührtes ist unsichtbar” Heute ist in der multimedialen Kunst eine im Prinzip neue Entwicklung zu beobachten, die interaktiv und performativ ist. Ihre Schöpfungen sind digital und multimedial, manchmal nur für das Internet realisiert, und in ihnen lässt sich der reale Körper kaum vom virtuellen Körper unterscheiden. Die Künstler versuchen nicht mehr, eine schlüssige Körperdarstellung zu entwickeln, sondern jetzt wird der Betrachter provoziert, mit dem Künstler mitzuspielen und zusammen mit ihm hinter der “Hülle” das “Verhüllte” zu entdecken. In dieser Richtung wurde das Kunstprojekt “Berührtes ist unsichtbar” von Roland Posner und mir als eine multimediale dreiteilige Raum-Installation mit Fotos, Ölmalerei, Dias und interaktiven Bildschirmen entworfen, das ich nun als Beispiel analysiere. In dieser interaktiven Installation wird vom Betrachter - ganz gegen die Gepflogenheiten der traditionellen Kunst - verlangt, sich einem dargestellten Körper zu nähern und ihn durch Berührung zu entdecken. Wie sich herausstellt, wird von diesem Körper immer weniger sichtbar, je mehr der Betrachter sich ihm nähert, und wird umso mehr an diesem Körper verdeckt, je mehr der Betrachter von ihm berührt. Das Erlebnis des Körpers liegt hier nicht mehr in seiner visuellen Wahrnehmung, sondern in der dialektischen Spannung zwischen Nähe und Sichtbarkeit, zwischen Berührung und Verdeckung. Das verlangte interaktive Betrachten wird zum betrachteten Berühren. Der Kunstkonsument tritt ein in eine psychotherapeutische Beziehung - nicht zu anderen Körpern, sondern zu anderen Zeichen gegebener Körper. Diese Zeichen produziert er jedesmal selbst. Inhaltlich basiert das Projekt “Berührtes ist unsichtbar” auf allen bekannten Körpererfahrungen. Wer sich auf diese Installation einlässt, kann die paradoxe Erfahrung kennenlernen, die wir alle machen, wenn wir uns näherkommen wollen: Je näher wir uns kommen, um so weniger können wir voneinander sehen; je weiter wir uns entfernen, um so weniger können wir einander berühren. Berührung und Blick sind komplementär zueinander. Das hat Auswirkungen auf die Art, wie wir Gegenstände erfassen, auch künstlerische Objekte. Bilder betrachten wir von vorne (“Berühren verboten! ”), und wir sehen sie ganz. Körper betrachten wir auch von der Seite und von hinten, aber wir sehen sie nie ganz. Um sie ganz zu erfassen, müssen wir sie nicht nur betrachten, sondern auch zugleich berühren. Erst wenn Sehen und Tasten sich ergänzen, wird das Wahrgenommene dreidimensional. Den Körper des anderen sehen wir von vorne, betasten wir von der Seite und berühren wir von hinten. Wenn wir ihn umarmen, können wir ihn nicht mehr sehen. Was wir sehen, können wir nicht zugleich berühren, wir würden es dabei verdecken. Was wir berühren, können wir nicht zugleich betrachten. Selbst Teile eines Körpers können wir nur entweder betrachten oder betasten. Beides zugleich ist unmöglich. Der Gegensatz ist nur aufhebbar durch die Zeit. Wir berühren, was wir zuvor gesehen haben, und wir betrachten, was wir dann berühren werden. Sehen und Berühren ergänzen einander in der Zeit. Gehen wir aufeinander zu, um uns zu umarmen, so berühren wir uns zuerst mit dem Blick. Der Blick kann den Körper des anderen abtasten, der Blick kann den anderen auch tief berühren, doch beides geschieht metaphorisch. Berührungen können den Körper des anderen Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 279 erkunden, Berührungen können den anderen in seinem Wesen erkennen (“… und sie erkannten einander” …), doch auch das geschieht metaphorisch. Zwischen unseren Körpern liegt unsere Kleidung. Sie ist, was wir sehen, wenn wir uns betrachten. Wollen wir uns berühren, so ziehen wir die Kleidung aus. So glauben wir uns ganz nahe zu kommen. Doch Berühren ist Bedecken. Wo die Hand den Körper des anderen berührt, ist dieser nicht sichtbar. Für einen Augenblick ist die Hand wie die Kleidung. Um den Körper des anderen zu sehen, müssen wir sie von ihm nehmen. Um den Körper des anderen zu berühren, müssen wir ihn verdecken: Toucher c’est couvrir. Um den Inhalt dieser Bemerkungen erfahrbar zu machen, benutzen wir in drei Teilen der Installation drei verschiedene Typen von Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter, und dabei wird das performative Potenzial der Kunst Schritt für Schritt verstärkt. Deswegen ist es notwendig, bevor man mit der Beschreibung und Analyse des Projekts anfängt, den Begriff der “Performativität” in Bezug auf die visuelle Kunst zu klären. Die Performativität des künstlerischen Ausdrucks (énonciation) entspringt dem Vermögen der Kunst, direkt auf die Umgebung (außerhalb der Kunstwelt) einzuwirken und eine Reaktion des Rezipienten zu bewirken, die nicht nur im Beobachten oder Nachdenken besteht. Diese Auffassung ist unmittelbar verbunden mit der semiotischen Konzeption einer “erfolgreichen Kommunikation” (vgl. Searle 1969 und Posner 1993: 239ff). Damit sich eine Mitteilung als “performative Kunst-Kommunikation” entwickeln kann, sind einige Voraussetzungen erforderlich: die Kommunikationspartner (der Künstler und seine Adressaten) identifizieren vorgegebene Artefakte, Installationen oder Situationen als Kunstwerke; sie sind bereit, abwechselnd die Rolle des Senders und des Rezipienten einzunehmen; sie beherrschen weitgehend gemeinsame Codes, die ihnen den Meinungsaustausch und insbesondere die Bestätigung, Aufhebung oder Verschiebung von Zweifeln ermöglichen. Diese etwas trockene Beschreibung der “nicht erfassbaren ästhetischen Erfahrung” (Greimas 1987) galt bereits, bevor sich die Künstler ihrer bewusst wurden. Wirklich neu ist in der Kunst der Gegenwart jedoch das Bemühen der Künstler, an die Stelle des zeitlosen Kunstwerks die Kommunikation in Echtzeit zu setzen - in der berechtigten Hoffnung, dass ihre Kunst eher als Einladung zum Dialog denn als ewiges Ausdrucksmittel aufgefasst wird. Für dieses Ziel ist das Bild nicht mehr das wichtigste Instrument, noch weniger das wichtigste Artefakt. Wichtiger sind die rhetorischen Mechanismen, mit denen sich die Kunst in Opposition gegen die Bilder alten Typs und gegen deren Allgegenwart und Allmacht in einer visuell ausgerichteten Gesellschaft durchsetzt. Diese Opposition ist unmittelbar verbunden mit dem Ziel der Wiederherstellung der Ganzheit des Wahrnehmens, die keine Beschränkung auf das Visuelle mehr erzwingt, sondern auch die anderen Wahrnehmungskanäle einbezieht (also den Gehörssinn, Geruchssinn, Tastsinn, Geschmackssinn). In diesem Rahmen spielt im Umgang des Künstlers mit dem Kunstliebhaber die Berührung des Kunstwerks wieder eine wichtige Rolle. Heutzutage beschäftigt diese Problematik, Kunst als erfolgreiche Kommunikation und synästhetische Erfahrung auszuweisen, immer mehr Künstler, und unser Projekt ist nur ein Beispiel unter vielen. Vessela Posner 280 Abb. 6 Die Installation in 3 Phasen Für die Installation “Berührtes ist unsichtbar” benutzen wir als Ausgangsmaterial eine Reihe von Fotos (z.B. Abb. 6). Auf ihnen sind Frauenkörper in natürlicher Größe und ohne Gesicht dargestellt. Diese Körper können aber von den Adressaten nicht als ganze gesehen werden; sie sind nur in ihrer Bearbeitung durch andere Medien zugänglich. Die ästhetische Kommunikation findet in drei Phasen statt, die in drei nebeneinander liegenden Räumen ablaufen: 1) Die erste Phase evoziert die Museumssituation. In der Situation des Kunst-Museums darf man dem Kunstwerk nicht zu nahe kommen und keinesfalls es berühren. Ein Status quo, der erst nach der Institutionalisierung des Museums im 18. Jahrhundert für die Werke der bildenden Kunst in den europäischen Gesellschaften wichtig wurde. In der Antike und im gesamten Mittelalter waren künstlerische Werke zu einem klaren Zweck geschaffen worden, und wenn damals der Zugang zu ihnen streng reglementiert wurde, so geschah das nur wegen ihrer religiösen oder magischen Funktion für die Gesellschaft. In einer orthodoxen Kirche zum Beispiel kann der Betende auch die wertvollste Ikone küssen, streicheln, an seinen Körper drücken, mit seinen Tränen bedecken. Auf solche Weise - über die Vermittlung der Kraft des Dargestellten durch die Nähe zum Bildträger (dem Bild oder der Plastik) - teilt sich dem Wallfahrer in San Pietro in Rom, wie auch auf der gotischen Grande Place in Brüssel und an vielen anderen Orten, die inhaltliche Kraft des Objekts mit. Man kann sagen, die rituelle Berührung ist eine notwendige Bedingung dafür, dass das sichtbare Objekt einen performativen Akt vollbringt. In einem Museum aber ist ein derartiges Verhalten absolut ausgeschlossen. Das Museum, als eine der Hauptinstitutionen im Disziplinierungssystem der Moderne (Foucault), beansprucht das Recht, bestimmte Artefakte nach den vorherrschenden moralischen und ästhetischen Codes als ‘Kunstwerke’ auszuwählen und ihnen einen entsprechenden Wert zuzusprechen. Auf diese Weise wertvoll geworden, schienen sie durch ein Berührungs- und Besprechungs-Verbot gegen Abnutzung und Missbrauch geschützt werden zu müssen. Der Mechanismus der Tabuisierung beruht in der Darstellungspraxis der Post- Renaissance auf der Voraussetzung, dass das Kunstwerk in Distanz zur Wirklichkeit entstanden ist, in Distanz zur Wirklichkeit funktioniert und deshalb nur in gehöriger Distanz intellektuell betrachtend wahrgenommen werden soll. Um das Werk für die Ewigkeit zu schützen, wird verboten, ihm zu nahe zu kommen und es in die Hände zu nehmen. Rein motorisch bedingt entstand so eine Aura, die zum Hauptkennzeichen des Kunstwerks wurde; sie disponierte zur andauernden Betrachtung aus der Ferne und motivierte eine spezifisch bühnenbildnerische Gestaltung der Umgebung; der Zugang zum Kunstwerk wurde auf die visuelle Wahrnehmung eingeschränkt, und als Konsequenz ergab sich eine totale Vernachlässigung der anderen Sinne zugunsten des Sehens (vgl. Posner 2004). Dafür kontrolliert das Museum den Betrachter (der a priori schon ein respektvoller Kunstliebhaber ist) im musealen Raum durch die banale “rote Kordel”, die die amtlich vorgeschriebene Betrachtungsdistanz signalisiert (mittlerweile benutzt man dafür oft elektronische Sensoren, die viel diskreter sind, aber genau dem selben Zweck dienen), und zusätzliche Schilder “Bitte nicht berühren” (sie gibt es weiter …). Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 281 Abb. 7 Abb. 8 Präsentiert wird nun eine Reihe von Bildern in Ölmalerei (aus der Serie “Körperportraits”, z.B. Abb. 7), die nach den Fotos gemalt sind, aber ihre Gegenstände viel abstrakter darstellen. Wie in einer traditionellen Museumsausstellung sind sie in gewisser Distanz zum Museumsbesucher aufgehängt, und diese wird hervorgehoben durch eine rote Kordel zwischen zwei Ständern, an der das Schild “Nicht berühren! ” hängt (Abb. 8). Die in den Fotos direkt abgebildeten konkreten weiblichen Körper sind hier ‘verdeckt’ durch die Materie der Malerei; ihre Einzelheiten sind also nur teilweise zu identifizieren und nur aus der Ferne zu erahnen. Der einzelne Frauenkörper erscheint nicht als Objekt der Begierde, sondern als Konfiguration plastischer Formen, und sein Betrachter ist festgehalten in den strengen Grenzen des Museumsreglements. 2) Die zweite Phase spielt mit der Chance, den Frauenkörper in intimer Umgebung zu berühren, sie eröffnet eine Gelegenheit und macht sie doch zugleich zunichte. Hier kommt schon das erotische Element im Projekt ins Spiel, das dem ewigen Problem der Künstler entspricht: ein Körper lässt sich nicht in derselben Weise wie eine Landschaft oder ein Stillleben als Kunst-Objekt interpretieren; ein Körper ist, vor allen anderen symbolischen Verwendungen, ein Objekt der erotischen Begierde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts versuchen die provokantesten modernen Künstler, das für das Sprechen über Sexuelles (in allen seinen Erscheinungsformen), über Frustration und über Phobien geltende Tabu zu brechen. Der visuelle Diskurs, den Rodin, Klimt, Schiele, Freud, Bacon und andere über diese Themen führen, bringt ihnen, je nach Epoche und Milieu, entweder Ruhm oder Gefängnisstrafen ein (oder beides). Sie alle bewegen sich in Richtung auf einen künstlerischen Diskurs über Körper als Objekte und Subjekte sexueller Begierde und sexueller Praktiken. Doch bleibt in all diesen Beispielen das Tabu der körperlichen Berührung des Kunstwerks selbst erhalten, ja es liefert sogar das Alibi für den in anderer Hinsicht enttabuisierten Diskurs. Die heutige Kunst greift dieses Tabu nun selbst an, und die angeführten Beispiele zeigen das. Sie setzen Tabus aus dem realen Alltagsleben in Beziehung zu solchen aus der traditionellen bildnerischen Praxis (Bildproduktion und Bildbenutzung) und thematisieren damit das System der Kunsttabus. Das Tabu, einem fremden weiblichen Körper zu nahe zu kommen, scheint sich kaum zu unterscheiden von dem Tabu, einem Kunstwerke zu nahe zu kommen, und das Vergehen, eine fremde Frau anzufassen, wird gleichgesetzt mit dem Vergehen, ein Kunstwerk anzufassen. Thematisiert wird die Tatsache, dass wir Frauen und Kunstwerke gleichermaßen als ‘okkulte Gegenstände’ behandeln; aufgefordert wird dazu, diese Haltung zu ändern. Dieser zweite Raum (Abb. 9 und 10) der Installation “Berühren ist unsichtbar” ist fast das Gegenteil des inszenierten Museums-Raums im ersten Teil. Er ist verdunkelt und vertraulich, die kleinen Projektionen der Fotos (konkrete und realistische) “blinken” auf der Wand wie Vessela Posner 282 Abb. 9 Abb. 11 Abb. 10 vielversprechende und verheißungsvolle Fensterchen. Alles ist erlaubt, und der Betrachter darf so nahe zum Bild gehen, wie er es will …, sogar es berühren. Zu sehen sind dieselben Körper wie in der ersten Phase, nur handelt es sich diesmal um Diaprojektionen der Ausgangsfotos. Die Projektionen sind konkret und klar, aber die Anordnung der Projektoren und Wände zwingt jeden, der sich einem der projizierten Körper nähern will, diesen beim Näherkommen durch den Schatten des eigenen Körpers teilweise oder ganz zu verdecken (Abb. 11). Der begehrende Körper selbst bringt also das Objekt der Begierde zum Verschwinden. Der Interaktionsversuch führt zur Auslöschung des Interaktionspartners. Wer dem Körper auf der Leinwand ganz nahe kommt, sieht nur noch sich selbst - als Schatten. 3) Die dritte Phase versetzt den Betrachter noch deutlicher in die Rolle des Betrachteten. Er befindet sich gegenüber einer Reihe von Rahmen mit weißer Leinwand im gleichen Format wie die anderen Bilder (Abb. 12 und 13). ‘Hinter’ jedem Rahmen befindet sich jeweils der virtuelle Körper einer der Personen, die in den Ausgangsfotos abgebildet sind. Er kann vom Betrachter allerdings nur durch Berühren (der Leinwand) wahrgenommen werden. Die Leinwandfläche wird im Umkreis von einer Handbreit um die Berührungsstelle (also insgesamt zwei Handflächen) aktiviert und bleibt bis etwa fünf Sekunden nach dem Ende der Berührung aktiv. Die virtuelle Person ‘hinter dem Rahmen’ wird durch die Berührung also nur zeitweise und nur partiell sichtbar (Abb. 14, 15, und 16). Eine Berührung mit der Fingerkuppe macht von ihrem Körper zwei Handbreit zugänglich. Will der Betrachter ihren ganzen Körper (wenigstens von einer Seite) wahrnehmen, so wird er versuchen, seinen eigenen Körper in ganzer Größe auf die Leinwand zu drücken (Abb. 17), oder er wird sich mit anderen Betrachtern zusammentun und die Leinwand vereint mit ihnen an vielen Stellen (fast) gleichzeitig berühren (Abb. 18). Wie er es aber auch anstellt, er wird den Wunschpartner nicht einmal von einer Seite vollständig wahrnehmen können. Entweder hat er sich ganz an ihn gedrückt (und wird so nur mit seinem eigenen Verlangen, mit seiner eigenen Imagination, mit sich selbst wie in einem Spiegel konfrontiert), oder er wird abgelenkt durch eine Performance mit mehreren Teilnehmern, die ihm keinen Raum und keine Zeit für eine intimere Beschäftigung mit dem Gegenstand seines Interesses lässt. Dieser präsentiert sich als ein Gegenüber, das zwar durch Berührung zugänglich wird, aber niemals voll präsent ist. Es Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 283 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 16 Abb. 15 Abb. 17 Abb. 18 Vessela Posner 284 muss durch die Einbildungskraft des Betrachters vervollständigt werden. Dabei wird der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen, auf das mehr oder weniger große Spektrum intimer Seh- und Tastempfindungen, die er aus seiner Erinnerung kennt. In dieser Installation verwandelt sich der Betrachter in einen betrachteten Berührer. Im Unterschied zum “Internet-Voyeurismus”, welcher beim individuellen Konsum der neuen Technologien stehen bleibt und sich diskret und öffentlich unbemerkt vollzieht, verwandelt die Körperwahrnehmung sich hier nicht bloß in eine öffentliche Angelegenheit, sondern sogar in ein öffentliches Spektakel. Wahrnehmungskonflikte und ihr Preis Die drei Teile der Installation richten die Aufmerksamkeit der Besucher auf individuelle nackte Körper, die in verschiedener Weise durch Bilder vergegenwärtigt werden. Die Bilder fordern die Besucher durch ihre Präsentationsweise zu einer viel direkteren Interaktion mit diesen Körpern (bzw. mit den Personen, denen sie gehören) heraus als im traditionellen Museum. Jeder einzelne Besucher kann konkret erfahren, dass diese Interaktion nur möglich ist um den Preis der Negierung des Bildes und im Konflikt mit den Konventionen der Bildwahrnehmung. Im dritten Teil ist der Betrachter aufgefordert, die folgenden Verbote zu übertreten: (1) das Verbot, einen fremden weiblichen Körper zu berühren - welches zu den weltweit am meisten verbreiteten Tabus gehört; (2) das Verbot, ein Kunstwerk zu berühren - was nur bei Menschen wirksam ist, die durch die Kultur der Moderne des Westens geprägt sind. Diese ästhetisierte “Enthüllung” des verbotenen “Verhüllten” geschieht als Reaktion auf eine Wirklichkeit, die sich immer mehr auf die Selbst-Inszenierung ihrer eigenen Hülle fixiert, und sie ist geeignet, den Weg in diese Wirklichkeit vielleicht ein Stück weit zu verändern. Dabei wird die “klassische Aura” des Bildes von zwei Seiten aus angegriffen: (1) Es gilt nicht mehr ohne Weiteres, dass ein ästhetischer Gegenstand einen konstanten Sinn in sich trägt, der durch seine Wahrnehmung mit den Augen zugänglich ist. (2) Es gilt nicht mehr ohne Weiteres, dass ein ästhetischer Gegenstand seinen Sinn durch Berührung verliert. Die Bilder in der Installation (Ölmalerei oder Fotos) werden weiterhin als solche präsentiert, sie sind also gegenwärtig und funktionell; aber ihr Sinn ist weniger durch ihre Abbildhaftigkeit erfahrbar als durch Wahrnehmungskonflikte an der Grenze der Abbildhaftigkeit. Sie funktionieren nicht mehr als eine “ästhetische Hülle” - perfekt geschaffen und tabuisiert -, sondern als eine öffnungsbereite Verhüllung, die nur eine von unbegrenzt vielen möglichen “Visualisierung(en) des vordergründig Nicht-Sichtbaren” (Genske & Huch 2005) vorstellt. Das Projekt versucht seinen Adressaten auf viel direktere Weise herauszufordern, als er es aus den traditionellen Museen gewohnt ist. Sein Ziel ist es nicht, visuelle Erfahrungen hervorzurufen, sondern einen komplexeren Erfahrungsprozess in Gang zu setzen, der das ästhetisch Mitgeteilte unvergesslich macht. Natürlich hat unser Projekt auch andere Dimensionen, die man thematisieren kann (z.B. die rein plastische Metamorphose zwischen Foto und Malerei; oder den Rhythmus und die Zeit, die der Betrachter braucht um die verschiedenen Elemente zu entdecken). In diesem Aufsatz habe ich mich nur auf das Thema konzentriert: was und warum verhüllt man etwas in der Kunst und wie kann es enthüllt werden, sogar ohne dass sein ästhetischer Status zerbrochen wird. Verdecken und Aufdecken macht Körper zu Kunst 285 Ein Körper als Geschenk? Am Anfang habe ich bereits gesagt, dass dieser Text besonders für diesen Workshop verfasst wurde. Deswegen, aber auch weil diese Idee mich seit langer Zeit beschäftigt (in der bildenden Kunst sowie in der angewandten Semiotik), beziehe ich mich zum Abschluss gerne noch einmal auf eine von den Initiatoren des Themas benutzte Metapher: die Spannung zwischen dem Verhüllten und der Hülle ist mit der Entdeckung eines Geschenks zu vergleichen: “Wie bei einem Geschenk gehört beides / Verhülltes und Hülle/ zusammen, auch wenn Umhüllendes und Verhülltes jeweils unabhängig voneinander betrachtet werden kann.” Ist ein Körper nicht ein besonderes und ein wertvolles Geschenk! ? Sicher waren die Künstler immer überzeugt, dass er das Intimste ist, was sie dem Publikum mitteilen können, dem Publikum schenken können. Ob aus diesem Geschenk ein Kunstwerk entstehen wird, bleibt eine “offene Frage”. Der Mangel einer eindeutigen Antwort darauf modifiziert meinen Titel: das Verb sollte im Konjunktiv stehen: “Durch Verdecken und Aufdecken könnten Körper als Kunst wahrgenommen werden” … Literatur Genske, Dieter D. & Huch Monika 2005: “Kartographie des Verhüllten”, Vorlage für den 11. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik Greimas, Algirdas Julien 1987: De l’imperfection. Périgueux: Pierre Fanlac Posner, Roland 2002: “Believing, causing, intending: The basis for a hierarchy of sign concepts in the reconstruction of communication”, in: René J. Jorna, Barend van Heusden und Roland Posner (eds.) 2002: Signs, Search, and Communication: Semiotic Aspects of Artificial Intelligence, Berlin/ New York: Walter de Gruyter, S. 215-270 Posner, Vessela 2004: “Die Tabus der Kunst und die Kunst ihrer Verletzung”, in: Gloria Withalm & Josef Wallmannsberger (eds.) 2004: Macht der Zeichen. Zeichen der Macht, Wien: INST, S. 464-472 Searle, John 1969: Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge: Cambridge University Press Deutschlands führende Experten zeichnen in diesem Band den langen Weg nach, den unsere Vorfahren gegangen sind - von Proconsul, einem Vorläufer der heutigen Menschenaffen, über die Australopithecinen, den ersten Werkzeugmacher Homo habilis und den Homo erectus bis zum Homo sapiens sapiens, dem modernen Menschen. Die hochaktuellen Beiträge gehen auf alle wesentlichen Aspekte der menschlichen Evolution ein und berücksichtigen auch jüngste spektakuläre Entdeckungen wie den Flores-Menschen oder die ersten Zeugnisse für die Entstehung von Musik und Kunst auf der Schwäbischen Alb. Dem übergeordnet ist jedoch als zentrales Anliegen des Bandes die Frage, die uns alle am meisten interessiert: was machte und macht den Menschen eigentlich zum Menschen? Mit Beiträgen von: Nikolaus Blin, Michael Bolus, Günter Bräuer, Nicholas J. Conard, Miriam Noël Haidle, Winfried Henke, Wolfgang Maier, Hans- Ulrich Pfretzschner, Holger Preuschoft, Carsten M. Pusch, Friedemann Schrenk, Joachim Wahl Nicholas J. Conard (Hrsg.) Woher kommt der Mensch? 2., überarb. und aktual. Auflage, 2006, 331 Seiten, 120 Abb., € [D] 29,90/ SFR 52,20 ISBN 978-3-89308-381-7 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: w w w.attempto-verlag.de · E-Mail: info@attempto-verlag.de Enthüllende Methoden in der Archäologie Uwe Vogt (Birkenwerder) Archaeological methods are un-covering parts of our history. While traditional historic sciences deal with written traditions as source, archaeologists read in the colours of soils and in relations of finds and place. Therefore, a find, isolated from its original place, has only limited value for the reconstruction - the connecting history may stay in the dark forever. Archäologische Methoden enthüllen Teile unserer Vergangenheit. Während sich die traditionellen Geschichtswissenschaften der schriftlichen Überlieferung als Quellen bedienen, lesen die Archäologen aus Bodenverfärbungen und Fundzusammenhängen. Daher hat ein aus dem Befundzusammenhang herausgerissenes Fundstück nur noch einen sehr eingeschränkten Informationswert - die dazugehörige Geschichte wird teilweise im Dunkeln bleiben. 1 Das Selbstverständnis der Archäologie Die Archäologie ist eine recht junge Wissenschaft. Sie entwickelte sich aus regionalen Sammlungen, die oft als Raritätenkabinett von den jeweiligen Kleinfürsten zusammengetragen wurden. Das Interesse an der Vorgeschichte war vor dem 18. Jahrhundert auf einen sehr engen Personenkreis beschränkt. Erst mit dem Aufkommen der Nationalstaaten und dem neuen Selbstverständnis der Bürger erwachte auch das Interesse an der eigenen Identität. Während die Länder mit einer antiken Hochkultur und schriftlicher Überlieferung meist an ihre antike Vergangenheit anknüpften, wuchs in Deutschland das Interesse an der einheimischen Vergangenheit. Inzwischen hat sich die Archäologie von der reinen Sammeltätigkeit zu einer historischen Wissenschaft entwickelt. Die Zielsetzung besteht nicht mehr im Zusammentragen außergewöhnlicher Funde, vielmehr ist die Frage nach der historischen Aussage in den Vordergrund gerückt. Daher versteht sich die Archäologie als historische Wissenschaft, die sich vorrangig mit den schriftlosen Kulturen beschäftigt. Dies wird auch durch die Berufsbezeichnung Prähistoriker widergespiegelt. Während sich die traditionellen Geschichtswissenschaftsbereiche der schriftlichen Überlieferung als Quelle bedienen, lesen die Archäologen aus Bodenverfärbungen und Fundzusammenhängen. Nur selten lässt sich mit diesen Methoden eine Ereignisgeschichte, wie sie in den historischen Wissenschaften üblich ist, schreiben. Aufgrund der grundlegend anders gelagerten Quellenlage werden in der Archäologie Aspekte wie soziale Lebensverhältnisse, Wirtschaftsgeschichte, Siedlungsdichte etc. vorrangig beleuchtet. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Uwe Vogt 288 2 Entdecken ohne aufzudecken. Archäologische Prospektionsmethoden Die bekannteste Arbeitstechnik der Archäologie besteht in der Ausgrabung. Inzwischen sind nicht nur neue Methoden hinzugekommen, auch die Grabungstechnik wurde kontinuierlich verfeinert und weiter entwickelt. In der heutigen Archäologie sind der eigentlichen Ausgrabung noch andere Möglichkeiten der Voruntersuchung vorgeschaltet. Inzwischen kommt der Prospektion, also der Vorerkundung archäologischer Fundstellen eine zunehmend höhere Bedeutung zu. Für die Prospektion bieten sich mehrere Verfahren an, die je nach den örtlichen Gegebenheiten zum Einsatz gebracht werden können. 2.1 Feldbegehung Die klassische Prospektion besteht in der so genannten Feldbegehung. Durch systematische Begehung werden alle Funde aufgelesen und die Fundlage kartiert. Fundkonzentrationen geben Hinweise auf archäologische Fundstellen, ohne dass eine Ausgrabung durchgeführt werden muss. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden so die meisten Fundstellen entdeckt. Diese Prospektionsmethode bietet sich auf frisch gepflügten Feldern oder nach Regenfällen, die die Fundstücke freispülen, an. In Sedimentationsgebieten ist diese Methode weitgehend wirkungslos. In den letzten Jahren wird bei der Feldbegehung auch zunehmend ein Metalldetektor eingesetzt. Dadurch konnten viele neue Fundstellen in die Denkmallisten aufgenommen werden. Leider wird diese Methode auch außerhalb der wissenschaftlichen Archäologie angewandt. Dies führt zu einer zunehmenden Zerstörung archäologischer Fundstellen durch Raubgräber. Durch die Ausplünderung der Denkmäler werden Befundzusammenhänge gestört, so dass dieser Fundstelle als Geschichtsquelle wichtige Informationen verloren gehen. Das Vorgehen der Raubgräber ist vergleichbar mit jemandem, der in ein Archiv eindringt und von den Pergamenten die Tinte herunterkratzt. 2.2 Luftbildarchäologie Bei der Luftbildarchäologie ermöglicht die Vogelschau eine Perspektive, die die Zusammenhänge von Geländestrukturen oder Vegetationsstörungen erkennen lässt. Dies kann an folgendem Beispiel gut nachvollzogen werden. Wer auf einem Teppich liegt, wird aus dieser Perspektive das Muster nicht erkennen können. Erst im Stehen aus einer Höhe von über 1,50 m fügen sich die Linien zu klaren Strukturen zusammen. Die Luftbildarchäologie bedient sich unterschiedlicher Formen von Wachstumsanomalien, die sich zu deutbaren Strukturen zusammenfügen lassen. Im Wesentlichen sind es Störungen im Wasserhaushalt, die zu einem unterschiedlichen Wachstum der Pflanzen führen. So können alte Maurreste weniger Wasser speichern als der ungestörte Boden in der unmittelbaren Umgebung. Bei Getreide führt dies in der Regel zu einem Niedrigwachstum und einer früheren Reifung. Der umgekehrte Effekt ist bei einem verfüllten Graben gegeben. In der Grabenfüllung findet sich ein höherer Humusanteil, der zu einem besseren Wachstum und einer späteren Reifung führt. Im Luftbild sind diese Wachstumsanomalien als gelbe beziehungswese grüne Linien zu erkennen (Bildgruppe 1). Enthüllende Methoden in der Archäologie 289 Abb. 1.1 Abb. 1.2 Bildgruppe 1: Der Verfall eines Wall-Grabensystems im Laufe der Jahrhunderte Abb. 1.1: Die Zerfallsstufen einer Befestigungsanlage (a) über den Zustand (b) kurz nach der Zerstörung und den Befund als obertägig gerade noch sichtbares Bodendenkmal (c) bis zur völligen Verflachung (d). Nunmehr sind Palisadengräbchen und Grabenverlauf nur noch durch das Luftbild zu erfassen. Abb. 1.2: Das Wuchsverhalten von Getreide im Bereich eines Mauerzuges während des frühen Wachstums (a), der Ährenschiebe (b) und der Reife (c) Uwe Vogt 290 Abb. 2.1: Der Kreisgraben von Goseck im Luftbild. Der Kreisgraben und 3 Zugänge sind deutlich zu erkennen Abb. 2.3: Der Kreisgraben von Goseck während der Ausgrabung. In ein aktuelles Luftbild wurde das Bild nach der geophysikalischen Prospektion projiziert. Abb. 2.2: Der Kreisgraben von Goseck in der geophysikalischen Prospektion. Hier erscheint zusätzlich schwach ein doppelter Palisadengraben im Innern des Kreisgrabens Abb. 2.4: Der Kreisgraben von Goseck mit der über dem Grabungsbefund projizierten Rekonstruktion 2.3 Geophysikalische Prospektionsmethoden Bei den geophysikalischen Methoden wird ebenfalls den anthropogenen Störungen im Erdreich nachgespürt. Je nach Methode werden unterschiedliche Parameter, wie elektrischer Widerstand, oder Störungen des geomagnetischen Kraftfeldes gemessen. Ein verfüllter Graben oder eine im Erdreich verborgene Mauer weisen eine andere elektrische Leitfähigkeit auf als das Umfeld. Diese Störung wird gemessen und auf einem Plan dargestellt. So entsteht eine Karte dieser Anomalien, die bereits ein sehr getreues Abbild der archäologischen Strukturen bietet (Bildgruppe 2). Bildgruppe 2: Der Kreisgraben von Goseck: Kombinierte Prospektion Luftbild + Geophysik Enthüllende Methoden in der Archäologie 291 Abb. 4: Münzfunde: a) Landsberger Schild, b) Adlerhohlpfennig, c) Löwenschild im Perlreif, d) Scherf, e) Brandenburgischer Denar, f) 3 Pfennig, g) Doppelgroschen, h) 1 Pfennig, i) 1 Pfennig Abb. 3: Die Dorfkirche in Zallmsdorf, Kr. Wittenberg 3 Enthüllen des Verborgenen. Die Ausgrabung Bei der Ausgrabung werden die Erdschichten systematisch abgetragen und so der archäologische Befund aufgedeckt. Diese Befunde bestehen in der Regel aus ehemaligen Gruben, die später mit einem unterschiedlich zusammengesetzten Erdreich verfüllt wurden. Daher lassen sich in einer frisch präparierten Fläche die Konturen der Grube sehr genau erkennen. Diese Befunde werden auf einem Plan zusammengetragen. In der Gesamtansicht ergeben sich regelhafte Strukturen, die sich zu konstruktiven Einheiten, wie Häuser oder Grabbauten, rekonstruieren lassen. Durch gezielte Anlage von Profilschnitten lässt sich die Art der Verfüllung der Befunde erkennen. Dies kann für die Funktion oder die Art der Auflassung der Fundstelle von großer Bedeutung sein. Die Profile sind auch wichtig für die Stratigraphie, die die zeitliche Abfolge der Fundstelle erkennen lässt. Die Stratigraphie ist besonders bei mehrphasigen Anlagen von besonderer Bedeutung. Die dabei geborgenen Funde dienen in erster Linie zur Zeitbestimmung. Um die genaue Datierung gewährleisten zu können, ist es wichtig, dass die genaue Lage der Funde dokumentiert wird (z.B. in der Dorfkirche zu Zallmsdorf, Abb. 3-5). Die Schichten sind genau so alt, wie die Funde, die darin geborgen wurden. Während einer viertägigen Untersuchung konnten 31 Fundmünzen geborgen werden. Da eine fachgerechte Bergung und Dokumentation gegeben war, bietet diese Münzserie genug Informationen zu einer weitreichenden Interpretation des Fundes. Es handelt sich um 16 mittelalterliche und 15 neuzeitliche Münzen. Die älteste ist ein brandenburgischer Denar aus der Zeit um 1360. Bei der jüngsten handelt es sich um 1 Pf. von 1874. (Die Bestimmung der Münzen verdanke ich H.-D. Dannenberg, Potsdam). Die mittelalterliche Münzreihe bricht um 1520 abrupt ab. Die neuzeitlichen Münzen setzen erst wieder nach dem 30-jährigen Krieg ab 1650 ein. Diese Unterbrechung kann nicht mit dem Religionskrieg erklärt werden. Es wird vielmehr angenommen, daß der durch Tetzel im Uwe Vogt 292 Abb. 5a: Lage der Münzfunde Abb. 5b: Münzen im Bereich des Lichteinfalls nahegelegenen Jüterbog massiv betriebene Ablaßhandel bewirkt hat, daß in reformierten Kirchen jeglicher Geldverkehr verpönt war. Erst als 1697 die im Krieg zerstörte Kirche wieder aufgebaut war, gelangten nach 180 Jahren wieder Münzen ins Erdreich. Sie belegen die nun einsetzende Sitte der Kollekte im Rahmen des Gottesdienstes. Die Kartierung zeigt, daß die meisten Münzen südlich des Mittelgangs verlogen gingen. In der Neuzeit ist dies noch ausgeprägter als im Mittelalter. In der Neuzeit wurden alle Münzen im Bereich des Lichteinfalls verloren. Nach der Reformation gab es deutsche Liederbücher. Zum Lesen der Liedtexte war man auf das Licht angewiesen. 4 Transformation archäologischer Quellen in lesbare Zeichen Der Sinn der Archäologie besteht darin, nicht schriftlich überlieferte Geschichte zu erforschen. Den Funden kommt daher nicht mehr allein der antiquarische Wert zu, sondern sie sind ein Bestandteil der archäologischen Fundstelle. Wichtig ist dabei, die Befunde wertneutral zu interpretieren. Wichtige Anhaltspunkte hierfür sind Form, Größe und das verwendete Baumaterial, sofern dies noch nachweisbar ist. Auch die Art der Verfüllung kann wichtige Hinweise auf die ursprüngliche Funktion der Befunde bieten. Des weiteren werden die Fundstücke für die Interpretation der Befunde herangezogen. Daher hat ein aus dem Befundzusammenhang herausgerissenes Fundstück nur noch einen sehr eingeschränkten Informationswert. Für die Gewinnung von aussagekräftigen Daten ist die Kenntnis der Lage in dem jeweiligen Befund unabdingbar. Insbesondere bei Grabfunden geben die Funde Auskunft über die soziale Stellung des Bestatteten oder auch zu seiner ethnischen Herkunft. Falls die Knochen nicht mehr erhalten sind, lässt sich auch das Geschlecht anhand der Funde erkennen. Enthüllende Methoden in der Archäologie 293 Einzelne Objekte sind auch aus sich heraus deutbar. In den meisten Fällen ist dies der Fall, wenn diese Fundstücke bereits als Informationsträger herstellt wurden. Dies gilt in erster Linie für Münzen, deren Münzbild als Propagandamittel eingesetzt wurde. Aber auch Schmuck- und Trachtgegenstände dienten als Informationsträger. Neben dem Status des Trägers wurden hiermit auch kultische Vorstellungen wiedergegeben. An dieser Stelle konnte nur ein kleiner Einblick in die Methoden der Archäologie gegeben werden. Der Fortschritt in anderen, meist als Hilfswissenschaften bezeichneten Fächern, kommt auch der ur- und frühgeschichtlichen Forschung zu Gute. In wenigen Jahrzehnten schon werden Methoden zum Standard gehören, die heute noch unbekannt sind. Abbildungsnachweise: Abb. 1: R. Christlein u. O. Braasch, Das unterirdische Bayern. Stuttgart (1982). Abb. 2: LfA Halle (Saale). Alle anderen Verfasser. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de „Berlin ist natürlich großartig. Man denkt, man sitzt im Kino“, heißt es bei Erich Kästner. Aber nicht nur die Hauptfigur seines Kinderbuchs Emil und die Detektive bezieht die Wahrnehmung der Stadt auf den Film. Zahlreiche Autoren, Regisseure und andere Künstler haben die Stadt als Medienereignis inszeniert oder reflektiert - man denke an Klassiker wie Fritz Langs Film Metropolis oder Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz . In Überblicksartikeln und exemplarischen Studien zu einzelnen Filmen und Romanen geht der Band den Wechselwirkungen von Urbanität und Kreativität, Medienevolution und Kulturgeschichte nach und ent wir f t ein facettenreiches Bild der deutschen Hauptstadt im 20. Jahrhundert. Matthias Bauer (Hg.) Berlin Medien- und Kulturgeschichte einer Hauptstadt im 20. Jahrhundert 2007, 356 Seiten, 40 Abb., €[D] 48,00/ SFr 76,00 ISBN 978-3-7720-8217-7 Raum - Zeit - Schichten Der Spreebogen im Zeichen des Eulerschen Schnittprinzips Dieter D. Genske (Zürich) & Ernest W.B. Hess Lüttich (Bern/ Stellenbosch) 1 Verhüllung, Enthüllung und das Eulersche Schnittprinzip 2 Der Berliner Spreebogen 3 Anthropogene Schichten 4 Geogene Schichten 5 Spurensuche 6 Literatur This article analyses a terrain in central Berlin based on the concept of “cutting free” as developed by Leonard Euler in the 18 th century to investigate mechanical systems. The concept and the process of free-cutting reveals the development of the terrain in time and space. In order to look map features that are disguised by anthropogeneous substrates and geological layers, simple as well as sophisticated techniques of site investigation are employed. A broad spectrum of direct and indirect signs have to be processed and analysed in order to identify characteristic strata and their interrelation. Dieser Beitrag analysiert exemplarisch ein ausgewähltes Terrain im zentralen Bereich von Berlin. Dabei wird von Leonard Eulers Konzept des ‘Freischneidens’ ausgegangen, das er im 18. Jahrhundert entwickelte, um mechanische Systeme zu untersuchen. Das Konzept und der Prozeß des ‘Freischneidens’ enthüllt die Entwicklung des Terrains in Zeit und Raum. Um Eigenschaften zu erkennen, die durch anthropogene und geogene Schichten verhüllt sind, werden sowohl einfache als auch anspruchsvolle Methoden der Baugrunderkundung eingesetzt. Ein breites Spektrum von direkten und indirekten Zeichen gilt es analytisch zu verarbeiten, um charakteristische Schichten zu identifizieren und ihr Zusammenwirken zu verstehen. 1 Verhüllung, Enthüllung und das Eulersche Schnittprinzip Grundgedanke der folgenden Ausführungen ist ein mechanisches Prinzip, das zuerst der Basler Mathematiker Leonard Euler (1707-1783) formuliert hat. Danach lassen sich die an einem System wirkenden Kräfte ermitteln, indem es gedanklich ‘freigeschnitten’ wird, um so die Kräfte herzuleiten, die es im Gleichgewicht halten (Euler 1757; Szabo 1979: 20). Das Eulersche ‘Schnittprinzip’ ist ein Grundpfeiler der Mechanik, das, im übertragenen Sinne, im folgenden auf einen Siedlungs- und Landschaftsraum angewandt wird. Ein Gelände wird ‘freigeschnitten’, also aus seinem Zusammenhang gedanklich gelöst, um dadurch seine Entstehung und seine Entwicklung besser zu verstehen. Dabei werden, besonders an den K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 296 Abb. 1: Leonard Euler (1707-1783) kam dem Kräftespiel in einem mechanischen System auf die Spur, indem er es an beliebig gewählten Stellen zertrennte und an den solchermaßen ‘freigeschnittenen’ Kontaktflächen Reaktionskräfte ansetzte und sie ins Gleichgewicht setzte. (Abb. aus: Istvan Szabo, Geschichte der mechanischen Prinzipien und ihrer wichtigsten Anwendungen, 2. Aufl., Basel/ Boston/ Stuttgart: Birkhäuser 1979: 21). Schnittkanten, jene Schichten enthüllt, die das aktuelle Landschaftsbild ‘verhüllt’. Prozesse und Phänomene lassen sich rekonstruieren und erklären und erlauben so Rückschlüsse auf die raumzeitliche Dynamik und die morphologische Ausprägung des Terrains. Anthropogene Eingriffe überprägen die geogenen Vorgaben. Ihre Komplexität wird deutlich, wenn man versucht, sie in Phasen zu gliedern. Einzelne Phasen können sich zum einen überdecken und in einzelnen Schichten manifestieren, zum anderen kann eine spätere Phase eine frühere teilweise zerstören oder völlig eliminieren. Oft sind von einer Schicht nur noch Fragmente vorhanden, die von anderen Schichten überlagert und verhüllt werden. Um sie zu kartieren, gilt es historische Karten zu deuten, naturräumliche Vorgaben zu verstehen und schließlich vor Ort zu recherchieren. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Verfahren der Baugrunderkundung eingesetzt. Historische Karten und Planungsunterlagen sind oft unvollständig, Erläuterungen und Beilagen im Laufe der Zeit verloren gegangen. Aufgrund der oft nur bruchstückhaft vorliegenden Planungsunterlagen ist mitunter nicht bekannt, inwieweit die skizzierte Planung tatsächlich umgesetzt und somit das Gelände erneut überprägt wurde. Deshalb ist es notwendig, zusätzlich direkte Informationen zu sammeln, zum Beispiel durch das Freilegen von Bodenprofilen und Relikten ehemaliger Besiedelung. Weiterhin werden indirekte Aufschlüsse kartiert, wie zum Beispiel die Ansiedlung ‘kennzeichnender’ Pflanzen oder Variation der Magnetisierung des Untergrundes. Die Dynamik eines anthropogen überprägten Naturraums ergibt sich aus Bruchstücken und Fragmenten, die, rekonstruiert und zusammengefügt, räumliche und zeitliche Schichten bilden und die, an ihren Schnittkanten freigelegt, mit ihrer Umgebung in Wechselwirkung stehen. Die Deutung der Vielfalt geogener und anthropogener Zeichen erlaubt einen Einblick in die raumzeitliche Entwicklung eines Landschafts- und Siedlungsraums. Das im folgenden skizzierte Freischneiden eines Segments der Bundeshauptstadt aus einem raumzeitlichen Kontinuum ist somit ein semiotischer Prozeß (cf. Hess-Lüttich et al. eds. 1998 a; id. 1998 b). Dafür wurde als Beispiel der Berliner Spreebogen gewählt, heute Standort des Reichstags und des Kanzleramtes. Raum - Zeit - Schichten 297 Abb. 2: Der Berliner Spreebogen und seine aktuelle Bebauung (vereinfacht). Die Abkürzungen beziehen sich auf den Reichstag (R), die Schweizerische Botschaft (CH), das Sowjetische Ehrenmal (SE) und das Haus der Kulturen der Welt (HKW). Ebenfalls dargestellt ist das Band des Bundes mit Kanzleramt (KA) und den Kanzlergärten (KG), dem Paul-Löbe-Haus (PLH) und dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (MELH). Östlich des Reichstags liegt das Jakob- Kaiser-Haus (JKH) (Genske & Hess-Lüttich 2004). 2 Der Berliner Spreebogen Der Spreebogen in Berlin hat eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht (Genske & Hess- Lüttich 2004: 9). Heute ist er Sitz der Regierung des wiedervereinigten Deutschlands. Das architekturtheoretisch intensiv diskutierte programmatische ‘Band des Bundes’ verbindet Ost- und West über die Weltenscheide des ehemaligen Eisernen Vorhangs hinweg. Einige Bauwerke zeugen jedoch von früheren Epochen, in denen der Spreebogen gleichermaßen Schauplatz war für Politik und Kultur, Hoffnung und Enttäuschung, Krieg und Frieden. Dieser Beitrag ist eine semiotische Spurensuche, bei der geologische, historische, städtebauliche und weltpolitische Schichten dieses bemerkenswerten Carrés im Herzen Berlins freigelegt werden (Abb. 2). Nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands wurde entschieden, den Regierungssitz nach Berlin auf den Spreebogen zu verlegen. Die Architekten Axel Schulze und Charlotte Frank entwarfen das ‘Band des Bundes’ mit dem Kanzleramt und weiteren Regierungsbauten, das über die Spree hinweg als Klammer zwischen Ost und West figuriert. Bevor mit dem Bau begonnen werden konnte, sah die Planung die Errichtung von insgesamt drei Tunneln vor, die unter dem ‘Band des Bundes’ hindurch nach Norden geführt Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 298 werden sollten. Im einzelnen waren ein Straßentunnel, ein Tunnel für die Fernbahn und ein U-Bahntunnel vorgesehen. Im Rahmen der Voruntersuchungen war zu klären, ob Baugrundhindernisse den Bau der unterirdischen Verkehrsanlagen stören könnten. Die Untersuchung des Untergrundes ergab eine so nicht vorhergesehene komplizierte geologische Situation. Darüber hinaus wurde in den Baugrund mehrfach eingegriffen, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, als Albert Speer den völligen Umbau der Reichshauptstadt und die Errichtung monumentaler Regierungsbauten plante. Erst als sich das Kriegsglück der Machthaber wendete, wurden die Bauarbeiten eingestellt. Die Sowjetische Armee nahm den Reichstag am 30. April 1945 ein und hißte auf seinem Dach die Rote Fahne. Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte wurden die Ruinen abgeräumt, der Spreebogen wurde zu einer trostlosen Brachfläche an der deutsch-deutschen Grenze. Nur noch die Schweizerische Botschaft zeugte vom eleganten Alsenviertel, dem von Schinkel und Lenné erdachten städtebaulichen Meisterwerk im Herzen Berlins. 1 3 Anthropogene Schichten 3.1 Die Speersche Schicht Die Generalbauinspektion Albert Speers plante, auf dem Spreebogen die “Halle des Volkes” zu errichten, dreihundertzwanzig Meter hoch, um den Führerkult architektonisch zu inszenieren (Reichhardt & Schäche 2005). Eine Million Menschen hätten während der geplanten Siegesfeiern vor dem hundertachtzigtausend Menschen fassenden Kuppelbauwerk jubeln sollen. Die sich in immer groteskere Dimensionen versteigende Planung sah schließlich vor, die Spree südlich unter den geplanten Aufmarschplatz in zwei Tunnelröhren umzuleiten (Abb. 3). Als nach der Wende die Planungen für die unterirdischen Verkehrsanlagen begannen, war völlig offen, ob im Zuge der Speerschen Planung tatsächlich bereits in den Baugrund eingegriffen worden war. Alliierte Luftbilder zeigen eine große Baugrube im Bereich des geplanten “Spreedurchstichs”, die jedoch mit Grundwasser gefüllt ist. Aus historischen Photos und Fragmenten von Planungsunterlagen mußte gefolgert werden, daß tatsächlich mit den Abbrucharbeiten begonnen worden und die Ausführungsplanung weit fortgeschritten war. Es wurde zudem deutlich, daß möglicherweise mit erheblichen Baugrundhindernissen zu rechnen sein würde. Bekannt war nur, wo ungefähr diese im Untergrund verborgen sein könnten. Der Nachweis der Existenz der vermuteten Tunnel, Fundamente und Stahlspundwände gelang jedoch erst mit der Durchführung einer umfangreichen geomagnetischen Feldaufnahme, die etwa zwanzig Hektar abdeckte (Borchert et al. 1995). Armierte Fundamente, Stahlbetontunnel und Stahlspundwände verursachen magnetische Kontraste. Die Messungen identifizierten deutlich die im Luftbild bereits nachgewiesene 140 mal 60 Meter große Baugrube für den “Spreedurchstich” südlich der geplanten “Halle des Volkes”. Darüber hinaus wurden zwei massive Tunnelfragmente erkennbar, die die Trassen der neu geplanten unterirdischen Verkehrsanlagen zwischen Tiergarten und dem früheren Lehrter Bahnhof (heute Berliner Hauptbahnhof) kreuzten. Weiterhin bildeten sich die Baugrubenwände für zwei südlich abzweigende Tunnelbauwerke ab. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen wurde mit Hilfe seismischer Methoden und mit Georadar die Geometrie einzelner Störkörper näher vermessen. Mit Aufschlußbohrungen im Raum - Zeit - Schichten 299 Abb. 3: Modell der Nord-Süd-Achse, zwischen dem Südbahnhof (im Vordergrund) und der “Großen Halle” auf dem Spreebogen, Planungsstand 1942 (Archiv Wolfgang Schäche). Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 300 Abb. 4: Die Speersche Überplanung des Spreebogens (Genske & Hess-Lüttich 2004: 79). Bereich des “Spreedurchstichs” wurden sechs Meter mächtige Stahlbetonfundamente nachgewiesen. Nun stand fest, daß bei der Durchführung der Baumaßnahmen mit erheblichen Störkörpern zu rechnen war. Die Planung wurde entsprechend angepaßt. Für den Spreebogen (Abb. 4) wurde die “Große Halle” (GH) schließlich zu groß, deshalb sollte sie auf dem Humboldt-Hafen errichtet werden. Wasserflächen hätten die Wirkung der 320 m hohen Kuppel nochmals verstärkt. Der “Große Platz” (GP), für eine Million Menschen bemessen, sollte Ort des Führerkults werden. Der “Führer” selbst gedachte, westlich des Platzes im “Führerpalast” (FP) zu residieren. Die Spree hätte unter dem “Großen Platz” in zwei Tunnelröhren geführt werden müssen (“Spreedurchstich” SD). Den südlichen Eingang des Platzes hätten die “Neue Reichskanzlei” (NR) und das “Oberkommando der Wehrmacht” (OKW) flankiert. Der Reichstag (R) wäre Restaurant und Lesesaal der Abgeordneten des “Neuen Reichstags” (NR) geworden, die in Hitlers Einparteienregime freilich wenig abzustimmen gehabt hätten. Vielmehr galt es, in der fünfzigmal größeren Kuppelhalle dem Führer zu huldigen, was das einfache Volk auf dem erwähnten Aufmarschplatz ebenfalls hätte üben können. Die historische Entwicklung des Spreebogens ist bei dieser Planung fast vollständig ausgeblendet. Allein das Brandenburger Tor (B) und der Reichstag (R) hätten von der Geschichte des Terrains gezeugt, die von Friedrichs Exerzierplatz bis zur ersten deutschen Republik reicht, für die der Diktator allerdings nicht viel übrig hatte. Unterlegt ist hier die aktuelle Bebauung mit dem ‘Band des Bundes’ (BB), dem ‘Haus der Kulturen der Welt’ (HKW), dem Sowjetischen Ehrenmal (SE) und der Schweizerischen Botschaft (CH). Raum - Zeit - Schichten 301 Abb. 5: Der Spreebogen nach dem Fall der Mauer 1990 (Genske & Hess-Lüttich 2004: 105). Anfang der 1990er Jahre gelang es, mit Hilfe geophysikalischer Messungen massive Fundamente zu lokalisieren. Die Messungen zeigen den magnetischen Kontrast zwischen natürlichem Baugrund und den im Boden verborgenen Fragmenten der Speerschen Planung (Abb. 5). Deutlich erkennbar sind die Fundamente der in Stahlbeton ausgeführten Spreetunnel (“Spreedurchstich”) und die Stahlspundwände zur Sicherung der nach Süden abbiegenden Tunnelbaugrube. Ein zweiter, nach dem Luftbild von 1945 bereits vollendeter Tunnel zweigt zum Reichstag (R) ab. Die geplanten Tunnel für Strasse, Bahn und U-Bahn sind gestrichelt gezeigt. Ebenfalls dargestellt sind das Brandenburger Tor (B), das Schweizer Generalkonsulat (CH), das Sowjetische Ehrenmal (SE) und das ‘Haus der Kulturen der Welt’ (HKW). Unterlegt ist wiederum das ‘Band des Bundes’ (BB). Die mittels Geophysik lokalisierten Baugrundstörungen behinderten den Bau der Tunnel. Außerdem kam es während der Bauausführung wiederholt zu Munitionsfunden und Wassereinbrüchen. 3.2 Die Prä-Speerschen Schichten Albert Speer hat wie kein anderer zuvor in den Untergrund des Spreebogens eingegriffen. Dadurch sind in bestimmten Bereichen alle Zeugnisse früherer Überprägung unwiederbringlich verloren. Glücklicherweise beschränken sich die massiven Eingriffe nur auf wenige Bereiche, insbesondere im nördlichen Spreebogen. Vor der Speerschen Planung hatte der Spreebogen ein völlig anderes Gepräge, das sich, Schicht um Schicht, rekonstruieren läßt. Bis in die 1930er Jahre wird der Spreebogen durch das Alsenviertel geprägt, eine kohärente Stadtbebauung, benannt nach der dänischen Stadt Alsen, die nach der Erstürmung der Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 302 Abb. 6: Der Spreebogen als ein städtebaulich kohärentes Viertel mit gehobener Wohn- und Verwaltungsbebauung, dessen ursprüngliche Planung auf Entwürfe von Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné zurückgeht (Genske & Hess-Lüttich 2004: 47). Düppeler Schanzen durch preußische Truppen im April 1864 besetzt wurde. Die auf Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné zurückgehende Planung ist ein harmonischer Entwurf, in dem sich ein von der Aufklärung getragener Urbanismus im naturräumlich vorgegebenen Spreebogen entfaltet. Abb. 6 zeigt die Struktur des Geländes zu der Zeit, als Philipp Scheidemann vom Reichstag (R) aus die Republik ausruft. Zu sehen sind das Brandenburger Tor (B), das Generalstabsgebäude (GS), das Krollsche Etablissement (K), die Siegessäule (S), und die Brücken Moltkebrücke (MB), Alsenbrücke (AB) und Kronprinzenbrücke (KB). Zu sehen ist ebenfalls das 1919 von Magnus Hirschfeld eröffnete Institut für Sexualwissenschaften (IfS) In den Zelten 10. Unterlegt ist wiederum die aktuelle Bebauung mit dem ‘Band des Bundes’ (BB), dem ‘Haus der Kulturen der Welt’ (HKW), dem Sowjetischen Ehrenmal (SE) und der Schweizerischen Botschaft (CH), die die Eidgenossen 1920 bezogen. Doch bereits vor Schinkels und Lennés Masterplan belebt sich der Spreebogen. Der Tiergarten wird ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. 1842/ 44 entsteht das große Krollsche Etablissement, ein über fünftausend Gäste mühelos fassendes Ausflugslokal des Breslauer Gastwirts Joseph Kroll, südlich des heutigen Kanzleramtes, erbaut nach den Plänen Ludwig Persius’, des königlichen Baumeisters. Vis à vis richtet der Diplomat, Sammler und Kunstmäzen Graf Athanasius Raczynski ein Palais ein, das jedoch keine vierzig Jahre überdauern wird, da es Paul Wallots Reichstag weichen muß. Im westlichen Spreebogen gibt es etliche Vergnügungszelte, wo wenig später vornehme Stadtvillen entstehen. Bettina von Arnim, Clara Schumann, Joseph Joachim und Mathilde Wesendonck wohnen (in der nach diesen Zelten benannten Straße) “In Raum - Zeit - Schichten 303 Abb. 7: Der Spreebogen zur Zeit des Grossen Kurfürsten, um 1660 (Genske & Hess-Lüttich 2004: 25). den Zelten”. Magnus Hirschfeld errichtet hier sein weltberühmtes Institut für Sexualwissenschaften, das am Morgen des 6. Mai 1933 von Studenten der Hochschule für Leibesübungen zusammen mit SA-Leuten geplündert wird. Die “Auftaktveranstaltung” der “Aktion zur Bekämpfung des undeutschen Schund und Schmutzes in der Literatur” hat vier Tage später mit der Bücherverbrennung am Opernplatz ihren traurigen Höhepunkt. Bevor Joseph Lenné das sandige Terrain, Berlins “Wüste Sahara”, mit dem Aushub aus dem Humboldthafen bedeckt, um es zu begrünen, exerzieren hier die Soldaten Friedrich des Großen und davor die des Soldatenkönigs, der insgesamt fünf Exerzier- und Musterplätze im märkischen Sand anlegen läßt, um den militärischen Charakter der preußischen Garnisonsstadt zu unterstreichen. Doch der Exerzierplatz vor dem Brandenburger Tor ist mit Abstand der größte, der Exerzierplatz “par excellence”. Auch eine Mauer gibt es schon im Berlin des Soldatenkönigs, die bereits vom Großen Kurfürsten errichtete “Akzise”, zum einen um (nach niederländischem Vorbild) Verbrauchssteuern einzuziehen, zum anderen, um Soldaten am desertieren zu hindern. Auf dem Spreebogen zieht sich diese Akzisemauer übrigens ziemlich genau entlang der im August 1961 errichteten deutsch-deutschen Grenzmauer, die Berlin und Deutschland fast 30 Jahre lang teilt. Das vermutlich erste Bauwerk auf dem Spreebogen ist eine Meierei, also ein Bauernhof zur Versorgung der noch jungen Handelsstadt. Kurfürst Joachim Friedrich schenkt sie 1602 seiner neuen Gemahlin. Sie befindet sich etwa dort, wo sich heute das Paul-Löbe-Haus in das Band des Bundes integriert. Die Zoll- oder Akzisegrenze wird nördlich von der seinerzeitigen Meierei bald danach durch den “Unterbaum” markiert, einen über die Spree gelegten Baumstamm. Abb. 7 zeigt, wie nördlich der Meierei (M) eine hölzerne Klappbrücke (UB) den Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 304 Abb. 8: Schematische Darstellung des Eisrandes eines Inlandsgletschers (oben) und die nach dessen Rückzug von der Vereisung zeugenden Landformen. E Esker, EM Endmoräne, G Gletscher, GM Grundmoräne, GS Gletschersee, K Kames, SA Sander, SÖ Sölle, T Toteisblöcke, U Urstromtal. “Unterbaum” ersetzt hat. Ein Reit- und Jagdweg führt vom Stadtschloß ins kurfürstliche Jagdrevier. Am Spreeufer wird ein Holzplatz (HP) eingerichtet. Die Dorotheenstadt (DS) expandiert nach Westen; sie erhält 1674 die Rechte einer Stadtgemeinde. Unterlegt ist auch hier die aktuelle Bebauung mit dem ‘Band des Bundes’ (BB), dem Reichstag (R), dem Brandenburger Tor (B), der Schweizerischen Botschaft (CH), dem ‘Haus der Kulturen der Welt’ (HKW) und dem Sowjetischen Ehrenmal (SE) (vereinfachte Rekonstruktion nach historischen Berichten). Vor dem Bau der Meierei verlieren sich die Spuren menschlicher Überprägung auf dem Spreebogen. Die unterste der anthropogenen raum-zeitlichen Schichten ist somit freigelegt. Und dennoch ist damit noch längst nicht die letzte Schicht “entdeckt”. 4 Geogene Schichten Eiszeitliche Gletscher prägen bis vor etwa zwanzigtausend Jahren das Bild der Gegend, in der heute Berlin liegt. Die Gletscher hinterlassen deutliche Spuren, die der Glazialmorphologe heute ohne weiteres zu lesen vermag (Abb. 8). Sie charakterisieren die oberste geogene Schicht, unter der noch weitere folgen. Bereits während des Zweiten Weltkriegs ließ die Deutsche Forschungsgesellschaft für Bodenmechanik (D EGEBO ) auf Anweisung der Speerschen Generalbauinspektion die geologischen Verhältnisse im Spreebogenbereich untersuchen. Im Bereich des “Spreedurchstichs” und der “Großen Halle” wurden hunderte von Bohrungen ‘abgeteuft’. Außerdem wurden Caissons (Senkkästen) in den Boden gesenkt, um Bodenproben zu entnehmen und die Raum - Zeit - Schichten 305 Abb. 9: Profil durch den Untergrund des Spreebogens (vereinfacht nach Lipptreu et al. 1996; Tiedemann 1999). Machbarkeit von Caissongründungen für die “Große Halle” zu prüfen. Für die gefährliche Arbeit unter Druckluft wurden Kriegsgefangene eingesetzt. Die Auswertung der Bohrungen ergab, daß bis in eine Tiefe von fünfzig bis siebzig Metern eiszeitliche Ablagerungen den Untergrund prägen. Sie zeugen von den Gletschern, die von Skandinavien her den heutigen Berliner Raum ‘überfuhren’, zum letzten Mal vor etwa zwanzigtausend Jahren. Die Gletscher hinterließen ein heterogenes Gemenge von zerriebenem Gestein, Sedimenten und intakten Gesteinsbrocken, die als ‘Findlinge’ erhebliche Baugrundhindernisse darstellen. Immer wieder zogen sich die Gletscher zurück, um nach den Warmzeiten erneut vorzustoßen. In den Interglazialen besiedelt sich das Land mit Wildpferden, Wölfen, Bären, Mammuten, die sich schließlich mit dem steinzeitlichen Menschen die noch intakte Umwelt teilen. Als homo sapiens, als denkender Mensch, wie es heißt, wird er sie schon bald zu großen Teilen zerstören. Unter den eiszeitlichen, als Grundmoräne bezeichneten Schichten stehen Sande mit Braunkohlefragmenten an, mitunter sogar kleine Braunkohleflöze, die auf überflutete voreiszeitliche Wälder schließen lassen. Ab etwa hundertdreißig Meter Tiefe stehen die so genannten Septarientone (Rupel-Tone) des Oligozäns an, einer in das erdgeschichtliche Tertiär gehörenden Serie von Schichten, die sich vor dreißig bis fünfunddreißig Millionen Jahren gebildet haben. Zu jener Zeit waren große Teile Europas überflutet. Um die im tonigen Schlamm eingeschlossenen organischen Reste bilden sich durch chemische Prozesse Konkretionen, die sich mit Kalk anreichern. Als die Tone austrocknen, scheiden sich entlang der Schrumpfrisse vagabundierende Lösungen ab, die als Septarien bezeichnet werden (Abb. 9). Speers Planer fürchten besonders diese Tone, denn unter der Last der “Großen Halle” drohen sie zu ‘konsolidieren’, was sich an der Oberfläche als Setzung des Geländes bemerkbar machen würde. Daher versuchen sie, so viel wie möglich über diese Schichten zu erfahren. Schließlich wird sogar eine Bohrung bis auf eine Tiefe von vierhundertzwanzig Metern geführt, eine zu dieser Zeit beachtliche Ingenieurleistung. Noch in fünfhundert Dieter D. Genske & Ernest W.B. Hess Lüttich 306 Metern Tiefe hätte die “Große Halle” den Boden mit einer Last von zwanzig Tonnen pro Quadratmeter komprimiert, also dem Gewicht von mehr als zwanzig Autos. Aufgrund der seinerzeitigen Berechnungen der Ingenieure wären nach Fertigstellung des Bauwerks bis etwa 1995 noch sechs bis sieben Zentimeter Setzungen zu erwarten gewesen. Die Setzungen wären endgültig erst nach etwa dreitausend Jahren abgeklungen. Das reichte den Ingenieuren, um ‘grünes Licht’ für den Bau der “Großen Halle” zu geben. Doch dann kam der Bau glücklicherweise ins Stocken, denn der sich immer schwieriger gestaltende Krieg absorbierte alle Kräfte. Wäre er gewonnen worden, Speers Planung hätte den Spreebogen und das Stadtbild Berlins noch mehr zerstört, als es die Bomben der Alliierten vermochten. 5 Spurensuche Das Beispiel des Spreebogens zeigt, wie vielschichtig eine raum-zeitliche Spurensuche sein kann (cf. Hess-Lüttich et al. eds. 1998 a; id. ed. 1998 b). Das praktische Instrumentarium semiotischer Deutung ist komplex: es reicht in diesem Falle von der Interpretation und Superposition historischer Karten über die Deutung von Dokumenten und Berichten bis hin zu Maßnahmen der Erkundung des Untergrundes wie etwa Bohrungen oder geophysikalisches Imaging. Das Zusammenfügen all dieser Informationen, die auf Raum und Zeit bezogen in vielfältigen Formen und Formaten vorliegen, erweist sich zuweilen als eine große interdisziplinäre Herausforderung, bei der es geosemiotische Hinweise zu interpretieren und historische Befunde zu beweisen und beides in angemessener Kombination zur Grundlage künftiger Planungen zu machen gilt. 6 Literatur Anon. 1987: Städtebauliche Entwicklung Berlins 1650 bis heute [Begleitheft zur Ausstellung “Die städtebauliche Entwicklung Berlins seit 1650 in Karten” anlässlich der 750-Jahr-Feier] Berlin: Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz AGBB Archäologische Gesellschaft in Berlin und Brandenburg (ed.). 2003: Archäologie in Berlin und Brandenburg, Stuttgart: Theiss Borchert, K.-M., D.D. Genske, C. Gelbke, E. Räckers & W. Schäche 1995: “Reaktivierung des Spreebogens in Berlin”, in: D.D. Genske & P. 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KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Der vorliegende Band bietet ein Forum für Diskussionen neuer Fragestellungen in einem aktuellen Teilbereich eines noch jungen transdisziplinären Forschungssektors der Kultur- und Technikwissenschaften, der die sprachlichen Wechselbeziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt untersucht. Er bildet damit zugleich eine begriffliche, methodische und disziplinsystematische Grundlage für die Beobachtung interkultureller kommunikativer Prozesse im Umwelt- und Entwicklungsbereich. Die Vermittlung fachlich-technischer Sachverhalte bzw. Problemlösungen in Entwicklungsländern, Krisenkommunikation in interkulturellen Konfliktsituationen, Medienkommunikation über Umweltfragen sowie Gesundheitskommunikation in Ländern der Dritten Welt stellen im Zeichen der Globalisierung neue Aufgaben und Herausforderungen dar für eine Angewandte Diskursforschung, die sich im Schnittfeld linguistischer, medienwissenschaftlicher, sozial-, geo- und umweltwissenschaftlicher Fragestellungen transdisziplinären Perspektiven öffnet. Ernest W. B. Hess-Lüttich (Hrsg.) Eco-Semiotics Umwelt- und Entwicklungskommunikation 2006, 409 Seiten € 78,00/ SFR 131,00 ISBN 978-3-7720-8184-2 All objects could become garbage: Waste disguising civilisation Dieter D. Genske (Zürich) & Susanne Hauser (Berlin) 1 Introduction 2 Codes of waste and degradation 3 Rationales, discourses and excurses 4 Final Remark 5 References The paper was originally written for an Internet lecture offered by the Open Semiotics Resource Center (University of Toronto). It presents a semiotic approach to the current discussion on waste and brownfields in environmental studies, cutting free the layers of civilization and cultural history, which become accessible through the analysis of signs for land use in a diachronic perspective. Der Beitrag geht auf eine Internetvorlesung zurück, die für das Open Semiotics Resource Center (University of Toronto) als Online-Vorlesung entwickelt wurde. Er thematisiert Abfälle und Brachflächen in ihrer semiotischen Dimension und assoziiert sie mit der zivilisatorischen Maskierung, der Verschüttung und Verdeckung kulturhistorischer Schichten, die erst durch die Interpretation von Zeichen vergangener Nutzung und Benutzung sichtbar werden. 1 Introduction Waste is a matter of concern for all of us. In this paper, which is based on lectures given for the Open Semiotics Resource Center (Toronto), we will try to analyse the different dimensions of this complex topic with special regards to its semiotic implications. We will address the topic from two different perspectives in line with the disciplines that we represent: the view of a cultural scientist (Susanne Hauser) and the view of a natural scientist (Dieter D. Genske). This makes the following analysis a transdisciplinary one. We have tried to stage this lecture in the form of a classical dialogue, giving every side enough room to expand and to develop a line of argumentation typical for the discipline represented. We have chosen this topic since we have been dealing with waste and derelict land throughout our own biographies, be it from the consulting side to process and recycle waste, be it as land redeveloper for the International Building Exhibition IBA Emscherpark (Germany), or as historian and semiotician interested in symbolic and material practices related to refuse of different qualities. We met the first time in the mid 1990s, when we prepared a workshop to take place at the International Congress on Semiotics in Dresden Germany. This K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Dieter D. Genske & Susanne Hauser 310 workshop brought together architects and engineers, geographers and philosophers, artists and planers to discuss the semiotics of derelict land (Genske & Hauser 2002). We learned during this workshop that there is much more to say about the semiotics of waste and wasteland, and we consequently decided to launch this initiative. It is a first essay, which will mature with every feedback that we receive from you. This aspect makes this project both innovative and exiting. The course is structured in eight lectures, two of which are published here. The first lecture addresses the codes of waste and the codes of degradation. Lecture two explains how signs of degradation are interpreted in order to investigate derelict terrain. A first version of the ideas expressed in Susanne Hauser’s texts has been published in Bernard, Wallmannsberger & Withalm (1997) and Hauser (2001). The ideas presented in Dieter Genske’s texts are developed in more detail in Genske (2003) and Genske & Heinrich (2003). 2 Codes of waste and degradation 2.1 Codes of waste 2.1.1 Order and non-order Waste and garbage arise in areas where order prevails and where production serves the purposes of utilization and consumption. The relation of garbage and waste to the order that produces them is a dynamic between the external and the internal, the imperceptible and the perceptible, the non-object and the object, silence and speech, non-sense and sense. Garbage and waste have an indistinct character, drawing all other objects into this blurredness: All objects could become garbage. In an economic system that continues to subjugate the earth, reducing it through processes of production and consumption to virtual waste, all objects are suspected of ending up as garbage. And not only objects: Within the structure of the production process that sets garbage outside itself, human beings can also ultimately be relegated to the status of “garbage”, if they become identified with the non-meaning associated with garbage. In regard to the limits of garbage and waste, our concern is not to aestheticize fascinating marginalia, but to grapple with the central phantasms and conditions of activity of this society. The relationship garbage and waste maintain with the order that excludes them from itself can be described with a variety of models: The order and its waste stand in structural, functional, and process-related relationships. In the Modernist period, the order’s Other can be described in structural and thus also in binary terms; in many ways, garbage is defined as the opposite of order. Therefore it’s not only possible but also appropriate to think of garbage and waste in semiotic categories. Here we will not only speak of what waste or garbage are per se, but also of the “investissement”, to use Roland Barthes’ term, the furnishing of something with its sense and meaning. Garbage and waste are debated in terms of material, toxicological, or technical aspects, not in terms of “present danger”, “real pollution”, or “proven harmfulness”. The central question is the metaphorical space in which garbage and waste are situated. In this discussion, a new relationship establishes itself between order and what is excluded from it, between cleanliness and dirt, between reason and unreason - and not least between the morally “correct” and the “wrong” or even “reprehensible”. The public and All objects could become garbage 311 widespread discourse produces and maintains this metaphorical space, in which the erection and maintenance of a new order and the borders to be drawn around this order are negotiated and reproduced. 2.1.2 Sources and types of waste At the beginning of the new millennium, every two months every European produces an amount of household wastes corresponding to his own weight. In the United States this quantity is already reached after one month. One of the most demanding challenges of an urban society is to handle these wastes, i.e. to collect, transport, stock and transform them into new resources. In mediaeval times, urban wastes were simply left in streets, often thrown out the windows. “Cleaner pigs” took over the job of cleaning up by eating the edible residues. This led to a general degradation of public health and finally to the outbreak of epidemics such as the Black Death. Although many attempts were made to systematically collect and discharge wastes, as for instance by the French King Philippe II in the 12th century, it was not until 1883 that the Prefect of Paris Poubelle ordered his citizens to dispose their wastes in trash cans. He also obliged them to sort their wastes in glass, paper and compostable wastes. It wasn’t until the 1940s that all citizens of Paris finally accepted this system. Similar problems of waste management were encountered in other cities such as London, where in 1875 the Public Health Act required the communities to remove and dispose wastes. Still, in those days the production of urban waste was comparably low. This was because organic wastes were consumed directly by household animals or used as fertilisers. Glass bottles were reused, magazines not as abundantly read as today, plastic was not yet produced and reusable items such as cloths, metals, tiles, etc. were picked up by rag pickers, metal collectors, etc. Large, waste producing businesses and industries had yet not been established. The production of urban household waste increased significantly with the advent of industrialisation. A citizen of an industrialised country produces much more waste than the typical pre-industrial bourgeois. Today’s townsmen also produce much more waste than people living in developing countries, where the waste production of today can be compared with the one of Europe in the 19th century. Waste is defined as material that is of no use anymore to the present owner and that is therefore discarded. The handling and management of waste is both in the interest of the present owner and in the interest of public health. In general, wastes can be grouped according to their, physical state, origin, level of danger and potential to be recycled, downcycled or transformed into secondary resources. The physical state of waste can be either solid as in the case of household wastes, liquid as in the case of sewage or gaseous as in the case of chimney exhausts. In an urban environment three different sources of solid waste can be encountered: • Household wastes, also referred to as municipal solid wastes MSW, consisting of food and yard wastes, paper, plastics, glass, metals, ceramics, wood, textiles and appliances. • Wastes from urban businesses and industries producing either wastes specific to their production or wastes similar to household wastes. • Wastes produced on construction sites, being mainly excavations and rubble from dismantled buildings. Dieter D. Genske & Susanne Hauser 312 There are inoffensive wastes and hazardous wastes. Four groups of hazardous wastes are distinguished: • Toxic wastes including substances dangerous to human health and the environment. • Corrosive wastes having a pH smaller than 2.0 or higher than 12.5. • Reactive wastes provoking chemical reaction, fires and explosion when coming into contact with water, air or other wastes. They may emit toxic fumes when mixed. • Ignitable wastes that can cause fires under standard temperature and pressure conditions. The United Nations Environment Programme UNEP defines hazardous wastes as “Wastes other than radioactive wastes which, by reason of their chemical activity or toxic, explosive, corrosive or other characteristics causing danger or likely to cause danger to health of the environment.” Radioactive wastes comprise a group of special wastes that are legally treated in a different way and are stored in specially designed repositories. Annually, four-hundred million tons of hazardous wastes are produced. The Convention of Basel (www.basel.int) prohibits the exportation of hazardous wastes into countries not prepared to treat these wastes. Finally, waste can be grouped with regard to their potential to be exploited: • Certain waste types can be reused, for example bottles that are refilled, beer cases that are re-employed, batteries that are recharged, etc. • Certain waste types can be recycled, for example cans, glass, or paper, etc. When compared with the production of goods of the “first generation”, recycling saves both resources and energy. Some material can be recycled indefinitely, for example aluminium and glass. • Certain waste types can be downcycled, for example paper to cardboard, textiles to fillings, plastic to granulate, etc. • Certain waste types can be composted to produce both compost and energy. One ton of “green wastes” generates 0.30 tons of compost and 0.12 tons of biogas. • Mixed wastes. Once different waste types are mixed, they become difficult to exploit. The French refer to mixed wastes as “déchets banalisés” already expressing its limited exploitation potential. Mixed waste may be incinerated in municipal solid waste incinerators to be reduced to one third of its original weight and one fifth of its original volume. The volume reduction alleviates in a significant way the demand for waste storage facilities. Furthermore, incineration produces energy, which can be exploited: One ton of household waste generates the same calorific power as 120 litres of heating oil or 200 kg of coal. Beside the positive aspects of waste incineration it should be kept in mind that incineration also produces waste: exhausts, bottom ashes, i.e. the residue of combusted waste, flue dusts collected in exhaust filters and process water. Waste incineration is considered to be an expensive technology, especially since process water and exhausts have to be filtered and treated. Bottom ashes and flue dust have to be stored in special waste storage facilities. For these reasons, in countries with large resources of virgin land a simple deposition of both unsorted and untreated waste prevails without All objects could become garbage 313 reducing its volume by incineration. A comparison of the wealth of national economies and the percentage of waste incinerated illustrates that only rich countries can actually afford waste incineration. It also has to be noted that the feasibility of incineration depends strongly on the composition of the waste to be incinerated. In countries where the daily diet is dominated by vegetables and fruit, with little paper and plastic mixed into the household waste, the calorific power of municipal wastes may not be sufficient to keep an incinerator running. A variety of modelling tools has been developed in order to predict the waste production of a given community: Waste statistics raised for the community under consideration allow both the analysis of urban waste production patterns over time and a projection to future developments. Data must be collected constantly in order to include seasonal changes and local waste production characteristics. A community map indicating waste production rates for each quarter helps localise problem areas and ensures that adequate action can be taken. Based on the concept of Equivalent Habitants the waste production of a community including businesses as well as commuters and tourists can be modelled. In this approach a business is represented by an equal amount of residents that would produce the same amount of waste as the business would. This concept, commonly applied to waste water, can be applied to solid waste and gas emissions as well. Specific parameters such as volume of waste, its weight, percentage of biodegradables, heavy metal contents, etc. can be addressed. A community can also be interpreted as an ensemble of units producing different types and quantities of materials referred to as goods, which also include wastes. These goods are submitted to processes such as transport, transformation, elimination and storage. Mass fluxes between units can be analysed by means of a material flow analysis in which goods and processes are identified and mass fluxes per unit of time are characterised. This analysis also includes uncertainties associated with processes and goods. System borders such as the city limits have to be defined, as well as sinks like the atmosphere, surface water, groundwater and the soil. 2.1.3 Reception of garbage and waste Any discussion concerning garbage deals with objects or material which, superfluous to the producing order, are therefore eliminated. Expelled from the realm of order, they are relegated to a region of chaos, disorder, boundlessness, non-sense, entropy and timelessness. Garbage is what stands in categorical opposition to the core activities of modern society, i.e. exploitation, use, production, and consumption. Exclusion from these activities means falling into the category of garbage, and this phenomenon also has socio-political repercussions and connotations. The production of garbage remains nonetheless the central activity of our society. No other society to date has been so preoccupied with the production and conversion of all available resources to perishable goods and garbage as is our own. In German encyclopedias around the turn of the century, “Müll” (=”garbage”) emerged as a term for a type of waste, denoting in particular domestic waste for which there was no further use and therefore characterized in every respect as worthless. “Müll” is therefore a categorym whose evolution in the German-speaking regions coincided with the beginning of industrialized waste disposal. Since this time-period, the various sub-categories such as sweepings, shards, rags, ashes have become increasingly obsolete, resurrected only in times of crisis, during which a differentia- Dieter D. Genske & Susanne Hauser 314 tion and rehabilitation of “garbage” as recyclable “materials” or “substances” can be observed. The term “garbage” can be extended in a metaphoric, metarealistic way to describe any kind of definitive obsolescence. “Das Müll-System” (= “The Garbage System”), the title of an analysis of the global situation based on the fundamental category “garbage” (Grassmuck & Unverzagt 1991), coincides with Ilya Kabakov’s description of Soviet society (Kabakov & Groys 1991: 105). “This entire reality is one huge garbage heap.” Being “garbage” doesn’t necessarily or materially exclude objects and substances from definite, physically interpreted spaces, but certainly from the realm of objects and substance, perceived as limited or limitable and consequently definable. Garbage symbolizes the amorphous and chaotic in a substantial, semantic, and perceptual sense, the components of garbage no longer being differentiated. The undefined and undifferentiated quality of garbage is experienced as one of its central and most menacing characteristics. From the point of view of order, garbage always symbolizes the chaotic Other, eluding its categories and thereby its authority. Once an object becomes certified as garbage, it no longer belongs to the realm of order. However, the area beyond the realm of order harbours many familiar and unfamiliar dangers. A system of order possesses and produces identity, partly in the rejection of what is not or no longer part of it. A rejection of what has been banished from a society can internally be turned against objects, materials, and people invested with the characteristics attributed to garbage. This connection is nothing new. Well into the 19th century, the traditionally marginalized groups in European history such as prostitutes, executioners, male and female convicts, the poor, including war widows and orphans were assigned the task of disposing of materials considered to be of no value. At the close of the century, they were followed in some large German cities by militarily organized troops of street sweepers composed of “discharged” veterans. Even the mechanisation of waste disposal could not remove the stigma attached to those engaged in the area (Hösel 1990). Evidence is provided by the fact that, during the labour shortage in the Federal Republic of Germany, the unpopular cleaning jobs with the local authorities were relegated to foreign guest workers. In 1979, Thompson, in his Rubbish Theory (1981: 11), asserts “garbage is still pretty vile stuff, and tends to stick to those who come into contact with it”. While “garbage” mainly epitomizes phenomena excluded from domestic and urban economies and constitutes altogether the more striking metaphor, waste is the more neutral, overarching term. After all, waste has recycling potential. It contains mobile elements that the owner wishes to discharge or whose orderly disposal serves the interests of the community as a whole, as West Germany’s Waste Disposal Law of June 7, 1972 stipulated. Waste can bridge the frontiers of order. This is indicated by the fact that waste, more easily than garbage, can be treated as a concealed category, suspended between durability (= objects that increase in value) and perishability (= objects that diminish in value), reinstated after a lull as soon as the market picks up. To quote Thompson once again (Thompson 1979: 25): “… The object simply continues to exist in a kind of limbo outside of time and meaning, where it retains the chance of being rediscovered (if it has not disintegrated or been destroyed in the meantime)”. Wastes are simply materials in the wrong place at the wrong time. As long as they are defined as waste, it remains unclear whether they are completely worthless or whether they will eventually be rehabilitated at some future stage. The concept of waste as a “shifter” may be understood as useful for the analysis of the boundaries of a social, cultural, and economic order from a third perspective, neither order nor chaos, persisting in suspension somewhere between the two, excludable yet not definitely excluded. All objects could become garbage 315 This interpretation has existed for more than a century: “Industry is committed to maximum waste reduction, reintegrating unavoidable wastes into the production cycle or incorporating them productively elsewhere.” According to Meyer’s Lexicon of 1889 “it is not uncommon for the prosperity of an entire firm to depend on the successful use of wastes (…)”. Significant by-products of the chemical industry such as aniline dye synthesis or the production of hydrochlorofluorocarbons (HCFC) owe their existence to the coal and steel sector’s desire to recycle wastes and to the optimistic belief in the practical validity of metaphors of natural cycles. In this context the concept of industrial ecology has been developed, which aims at breaking the linear exploitation pattern of traditional industries characterised by extraction of resources, production of goods, and dumping of wastes. Industrial ecology takes advantage of the synergies between production processes by considering “wastes” as potential resources for other industries (Genske 2003: 10). An example is the Eco-Park Kalundborg in Denmark that combines an electrical power plant, an oil refinery, a pharmaceutical plant, a wallboard factory, a sulphuric acid producer, a cement manufacturer, fish farming, horticulture greenhouses, area homes and farms (Raven et al. 1998: 344). According to the Center for Eco-Industrial Development at Cornell University already more than 25 Eco-Parks existed by the end of the 20th century. 2.2 Codes of degradation 2.2.1 Resources, waste, space and conflict While Earth’s population keeps on growing, more and more resources are consumed. After the easily accessible ones at the surface had been depleted, more complex exploitation methods were applied to reach deeper into the ground. In many cases villages were established where resources were extracted. They became the nuclei for urban settlements. Already in ancient time the existence of water wells determined the places where settlements were established. Much later, during the time of industrialisation, coal mines attracted workers from rural areas, settling right next to their place of work, again attracting bakers, butchers, blacksmiths and all those needed to establish urban infrastructure. More resources were extracted while urban development gained momentum: wells were drilled for water, pits were dug for aggregates, quarries were opened for building stones, roof covering slate, lime, etc. Hence, urban development is closely connected with resource extraction of all kinds. Population rises when resources are made available and it declines again when they are exhausted. In some cases, the dimension of material moved to exploit resources is enormous. For example, the Bingham Canyon Copper mine in Utah U.S.A. has been excavated to a depth of some 800 meters below surface. The pit covers an area of approximately 7.5 square kilometres. Until the late 1980s, about 3.5 billion tonnes of ore had been extracted, seven times the amount of material moved to build the Panama Canal (Goudie 2000). If, in gold mining, the volume of earth that has to be extracted, moved, and separated was accounted for, a simple wedding ring would weigh up to 3.5 tons (Weizäcker et al. 1997: 242). For most raw materials the ratio of resource extracted to the material moved to extract it has been assessed. It may be as high as 1: 0.65 for sand and gravel and as low as 1: 350000 for platinum. Schmidt-Bleek (1997: 43) baptised the masses moved as ecological backpacks specific for every kind of raw material mined. In 1991, the Worldwatch Paper 109 “Mining the Earth” stated that more material was moved through resource extraction than all rivers of the Earth would carry to the seas. It was Dieter D. Genske & Susanne Hauser 316 also estimated that mining consumes about one tenth of the overall world’s energy production. In some cases, mining pits extent to city borders, as the brown coal pits in Germany do, where gigantic excavators are digging up enormous holes in the direct vicinity of cities such as Halle and Leipzig. Since 1947, German brown coal mining has forced some 100000 people to abandon their homes and to move to other places. Waste rock not used for further processing is piled up on waste heaps of which the first ones had conical shapes that did not correspond to the natural landscape. They were neither covered nor vegetated and consequently contaminated the surroundings with toxic dusts and acid drainage. In former Eastern Germany, for example, conical spoil heaps from former Russian uranium mining have caused the return of a disease that has already been known since mediaeval times as “Schneeberger Disease”, i.e. cancer caused by radioactivity from, in those days, metal mining activities. The second generation of spoil heaps showed first signs of improved design. The slope angle was lowered and vegetation was introduced. The third generation of heap design aims at creating a natural morphology integrated into the landscape, with an efficient cover system and a natural succession of vegetation. Deep mining (i.e. underground mining) further degrades land. Mineral processing industries, power plants, waste heaps, retention ponds, etc. occupy considerable spaces. Besides this, the natural morphology is also affected. Subsidence over mined-out workings may reach tens of meters as in the case of the German Ruhr District where the maximum subsidence has now exceeded 20 meters. In certain areas subsiding land has touched the groundwater table and secondary wetlands have developed. Georg Pawer (1494-1555), who became known under his Latin name Georgius Agricola, was the first to publish a critical review on the art of mining. In his work “De re metallica”, which appeared only after his death in 1556, he also indicated the adverse effects of mining on the environment: The woods and groves are cut down, for there is need of an endless amount of wood for timber, machines and the smeltering of metals. And when the wood and groves are felled, then are exterminated the beasts and birds, very many of which furnish a pleasant and agreeable food for man. Further, when the areas are washed, the water which has been used poisons the brooks and streams and either destroys the fish or drives them out (see Down & Stocks 1977: 7, Goudie 2000). Today, the impact of mining and processing can be quantified: When one ton of coal is burned an average five tons of earth and water has already been displaced. While burning, it produces more than three tons of the greenhouse gas carbon dioxide. Manufacturing a midsize car entails the production of fifteen tons of solid waste plus a considerable amount of wastewater. Even a product as simple as a newspaper still bears an ecological backpack of some ten kilos (Weizäcker et al. 1997: 244). It goes without saying that the extraction and transformation of resources consumes a considerable amount of land and biodiversity associated with it. In many cases the speed of land consumption is difficult to quantify, since reliable data is missing. For simple resources such as sand and gravel, typically observed in the direct vicinity of cities, an assessment of the land consumption pattern can be made. Gravel and sand are mainly needed as aggregates for concrete production, road building, drainage beds, etc. According to German statistics, the national demand for gravel and sand per capita is in the order of 5 cubic meters per year. It has been estimated that the extraction of 1 ton of gravel and sand consumes about 0.2 square meters of land. Consequently, every German uses up about one square meter of land through All objects could become garbage 317 gravel and sand extraction every year. This corresponds to a total land consumption of 2.5 square meters per second. The exploitation and transformation of more complex resources goes along with an even higher rate of land degradation. It is, in fact, estimated that of the 2000 square kilometres of land degraded by all industries in the European Union until the early 90s, some 20% can be attributed to coal and steel industries alone (RETI 1992). Industrialisation is directly associated with population growth and the spreading of cities. In Germany, for instance, the amount of land used for city development amounts to some 100 ha (or 120 football fields) per day. In the United States, the rate of land consumption is estimated to be at least ten times higher. In order to halt the excessive consumption of ecologically intact land or “greenfields” the British Government for examples has decided that 60% of all new housing shall be established on used land or “brownfields” by 2015. Similar initiatives can be observed in other European countries. The tendency is clear: Urban development of the future will be directly associated with the relicts of former use, notably the waste produced in former times and the various types of soil degradation due to resource exploitation and transformation under the dictate of fast profit (Genske 2007). Space becomes rare. Still, industrialised societies demand additional space to stock those wastes that can be neither re-utilised nor further reduced. These wastes are dumped on landfills. Early landfills were established on greenfields just outside the cities. Due to the growth of the cities, these landfills are nowadays integrated in the city infrastructure, often no longer used and of no use to anyone. An example (after M. Forter: Bonfol or a lecture on waste, Die Weltwoche, 20/ 2000, translated by the authors): Until World War II the Rhine River served as dustbin for the chemical industries of Swiss and German cities. Before 1860, production refuse - to a good proportion hazardous wastes - were stocked at the banks of the Rhine behind the factories. Then, for about ten years, it was dumped through a bottom hole of the middle bridge directly into the Rhine. Later the waste was grinded and washed with sewage into the Rhine or dumped into the river by special waste ferries. The dry summers of the late 1940s, the increasing water demand of the city and the booming chemical industry of Basel finally brought waste managers to re-think their disposal practice. They were forced to halt their waste dumping routine and began to search for land-based disposal sites. Ciba Industry started to export their chemical wastes to the neighbouring city of Weil am Rhein in Germany. However, German environmental authorities soon banned this waste trafficking, concerned that groundwater resources would be spoiled for good. Ciba consequently had to divert its waste to the Swiss City of Muttenz some five kilometres southeast of Basel. Ciba and Geigy ignored the fact that the Muttenz pit borders the aquifer utilised by the City of Basel as water reservoir. In 1955, the Swiss Water Protection Act was introduced, forcing Sandoz Industries of Basel, still following the convenient Rhine dumping practice, to haul its chemical waste to a French gravel pit at St-Louis, just across the border. When, in 1957, serious contamination of the surroundings of the Muttenz pit became obvious to everybody, Ciba and Geigy followed the example of Sandoz and screened neighbouring French and German communities for handy dumping sites. They found them in the Hagenthal-le-Bas, Neuwiller, Hirschacker, Grenzach,… It took until 1960 for the German and French authorities to put an end to the illegal dumping business at their Swiss frontiers. Basel’s chemical industries were left sitting on their waste, with neither Swiss nor foreign communities ready to take it. A dumping site further away was searched for and finally found some 40 kilometres west of Basel in Bonfol, a small and poor village in the Swiss Canton of Jura, close to the French border. The old clay pit was quickly filled with chemical waste of which no record was kept. Already six years later the citizens of French Pfetterhouse complained over toxic clouds coming from the landfill. Ciba officially denied the existence of such clouds, while its own experts stated in internal Dieter D. Genske & Susanne Hauser 318 reports that the contamination of the surroundings violates about all civil regulations and environmental laws. Nevertheless, the Basel newspaper Nationalzeitung declared Bonfol an “exceptionally well-designed landfill” … Waste that either leaches or produces hazardous substances has to be stored securely in order to avoid a contamination of the groundwater. When an appropriate basal lining system is missing leachate loaded with hazardous substances can infiltrate into the subground and spoil groundwater resources. Furthermore, industrial and hazardous waste sites are known for emitting noxious gases and to contaminate the surroundings by littering and dust blow. Landfills are usually covered daily with a layer of soil that later is compacted like the waste beneath it. A landfill that is covered daily is referred to as a “sanitary” landfill. Odours, litter and pests are restricted and the likelihood of fires is reduced. After decommissioning, a watertight cover system is installed, preventing surface water from percolating through the waste body, which would have to be pumped and treated. If money and know-how is missing, however, the landfill cannot be sealed properly, posing a continuing thread to its surroundings. The Love Canal Case (Niagara Falls) is only one of many examples illustrating the consequences of landfill gases contaminating an urban terrain. The scandal eventually resulted in the passage of the Superfund Act in 1980 by the U.S. Congress. If not designed with caution, the slopes of a landfill may be subject to failure. Although design procedures have been developed to lay out stable slopes, the parameter necessary for the calculation are difficult to retrieve. This is due to the inhomogeneous nature of waste, the alteration of strength properties during the maturation processes, chemical reactions that change the material properties over time and the destabilising action of water percolating through the unsealed surface of the landfill. In 1996, one person was killed when a 14-storey high landfill slid into the village of La Coruña, Spain. In 1966 a slide of colliery spoil engulfed a number of buildings at Pantglas, Aberfan, a village in South Wales, England, formed around an active colliery. It killed 144, mainly schoolchildren. With increasing population and only limited resources available conflicts arise over their distribution. This may lead to military confrontations that generally go along with a profound degradation of the environment. Aspects of this scenario include the destruction of strategically important targets as well as collateral damages and the contamination of land with chemical, biological and nuclear warfare agents. Bombs and shells as well as manoeuvring military equipment destroy the soil structure. Unexploded bombs and landmines make the terrain unsuitable for re-development. Destruction of strategically important production plants and service installations releases toxic substances that are produced, processed or handled in these facilities. As a consequence soil, surface watercourses and groundwater may become contaminated. In the course of the Kosovo Conflict in 1999, for instance, the New York Times quoted a NATO spokesperson as saying, “NATO had two types of targets. There were tactical and strategic targets. The oil refinery in Pancevo was considered a strategic target. It was a key installation that provided petrol and other elements to support the Yugoslav army. By cutting off these supplies we denied crucial material to the Serbian forces fighting in Kosovo. When targeting is done, we take into account all possible collateral damage, be it environmental, human or to the civilian infrastructure. Pancevo was considered to be a very, very important refinery and strategic target, as important as tactical targets inside Kosovo” […]. A major secondary effect of war is certainly the migration of refugees fleeing the battle zones to settle temporarily at places so far not touched by the conflict. In many cases, refu- All objects could become garbage 319 gees seek shelter in larger cities or close to them, where they build camps in the outskirts, still close enough to benefit from services the municipality may offer. According to the United Nations High Commissioner for Refugees UNHCR the number of people displaced by armed conflicts has reached some 22 million at the beginning of the 21 millennium. If all were gathered at a single place, this would equal the population of Canada or Kenya. The movement and settlement of refugees has many different environmental impacts such as the depletion and pollution of water resources, soil erosion, deforestation, degradation of biodiversity, as well as social and economic stress. The pressure put on local communities by migrating people may lead to over-use and finally disruption of environmental services, which may eventually cause a long-term deterioration of the urban environment. Even in times of peace land may be degraded due to the installation of military bases. Although military bases are often located away from cities, they may also be found right next to them, some were even the reason why a city was founded. At military bases troops exercise warfare, be it simple artillery shooting or airborne targeting. Furthermore, weapons are produced, conditioned and stored. Equipment is moved and maintained and wastes from all these activities are dumped. Consequently, the site degrades. Remediation is necessary before the site can be integrated into urban use. A good example of how military bases can degrade the environment is given by Erlebach & Müller (1998) who investigated the Former Russian barracks “Heidekaserne” in Halle/ Saale, former Eastern Germany. The 200 ha site is located between the historic centre of Halle, a city quarter of a later epoch, a national park, and the river Saale. The area has not been accessible to the public for nearly one and a half centuries, until Russian troops retreated in 1991. From 1897 to 1935 the site was a guarded hospital for the mentally ill. In 1935, the Reichswehr established a military school on the site, to which an airstrip was added later. During the Second World War the site was attacked and bombarded, which however caused only little damage. Immediately after the war the Soviet Army used the site again as military base, with up to 21000 soldiers being stationed there. From 1968 onwards, more military facilities were added including extra barracks, shooting ranges, storage facilities for shells and missiles, garages, maintenance facilities, etc. In 1991, after the fall of the wall, the Russian army retreated. To the first who were allowed on the site a devastating scenario unfolded: Nearly all barracks and facilities were out of repair, pipes and containers were leaking, at places soil was heavily contaminated with fuel, oil, paints, solutions, etc. causing serious groundwater contamination. Unidentified wastes including rubble, tires, scrap, ammunition, demolished vehicles were dumped at many different places. All in all, some 100 tons of ammunition fragments of various kinds were spotted and extracted. 300 000 tons of soil were identified as contaminated and had to be extracted. 400 000 tons of waste had to be removed from waste pits that were never secured or sealedoff according to landfill standards. Six tank batteries were discovered, including a central one with 60 individual tanks. 173 underground tanks had to be extracted and 600 cubic meters of remaining fluids had to be pumped. 19 filling stations had to be investigated. In conclusion, land basically degrades as a consequence of the exploitation of resources, their transformation into goods and the associated production of wastes. Conflict may arise over the distribution of resources and goods, which eventually further degrades land. Dieter D. Genske & Susanne Hauser 320 2.2.2 Conflict, space, waste and boundaries Waste operates in the twilight zone of the indeterminate, a third sphere, whose relationship to “nature” and “culture” sheds new light on the relationship between order and its Other. An analysis of this relationship indicates the blurredness and fluidity of their boundaries at any given time. It shows the self-contradictory approaches of cultures, societies, and economies which, by producing waste and garbage on a large scale, simultaneously create their boundaries and the potential to destroy them. Such an analysis would have to deal with the game of rejection and reabsorbtion. From this third perspective, Vilém Flusser proposes the analysis of waste as a further category of cultural analysis, traditionally opposing “nature” and “culture” without acknowledgement of a third: Faced with the fact that millions of people worldwide depend on garbage and waste for a living, it seems appropriate to consider this third sphere, which obviously maintains a link to its manufacturers. The most important impetus behind garbage production remains “innovation” - described by Schumpeter as “creative destruction” - which for the last two centuries has enabled industrial societies to channel virtually all global resources through the processes of production and consumption. The generation of obsolescence is one of its effects, the exhaustion of so-called raw materials and human labour a prerequisite. Innovation also has a spatial aspect relating to the questions of the boundaries of garbage and waste, which can be observed in abandoned industrial areas, agricultural installations, and land that has fallen to waste. These testify to a constant and constantly accelerated creative destruction. It originates from a nucleus where a new ordering activity is emerging, and creates space around it that no longer corresponds to this new order and is consequently “trashed”. The places where innovation flourishes are garbage-free zones, spaces destined to create a future order, surrounded by its “garbage”, i.e. its chaos, its desemanticized, undifferentiated, and ignored zones. The foundation of an order and its accompanying spatial structure through the demarcation of a pure “inner area” has already been described by Leroi-Gourhan through the example of prehistoric societies dating back to the 30th century B.C. He interprets it as the act through which, “originating from one point, order is created in the surrounding universe”: “The entire space is carefully purged; outside one stumbles upon occasional heaps of rubble, and scattered along the slopes are the ‘waste dumps’, small heaps of ashes, sprinkled with gravel and tiny fragments of bone. The moment in evolution in which the first pictorial representations emerge therefore coincides with the distinction of living space from the chaos of the surrounding environment. The role of man as organizer of space appears here as its systematic arrangement …” (Leroi-Gourhan 1980, 396-7). The model, in which Leroi-Gourhan describes the relationship between human domiciles and garbage or waste, can be applied to many well-known historical and the majority of contemporary efforts to come to terms with garbage and waste. This includes Sicilian sanitation regulations in the 12th and 13th centuries, the 15th and 16th centuries (which witnessed a spate of similar municipal regulations in France and the regions of the German Empire), and the 19th century during which numerous measures were adopted in all large European cities to banish sewage and garbage from the sanctity of the clean city area. The latter differ from earlier attempts to separate order and cleanliness from garbage and waste in the following characteristics: the extent of planning, the practice of concentrating wastes, the complex technical innovations and mechanization of the processes (Hauser 1992), the volume of waste, All objects could become garbage 321 and furthermore the production and usage of new materials which differ qualitatively from all former substances. The beginning of the 20th century saw the development of non-degradable materials that re-enter the material cycle only after a previously unimaginable period. The production of synthetics and new toxins represents the qualitative leap in the treatment and disposal of waste in industrialized countries and in all countries where these materials are used. Garbage and waste disposal, however, conforms to a pattern still resembling that existing 30 centuries B.C.: First, a border established through definition and legally enforced border is drawn around an inner area, which is to remain “pure”. Second is the prescribed, systematic, and occasionally centralized expulsion of undesirable materials from this defined area to an “outer” area, generally imagined as boundless, of unlimited capacity, and frequently as unpopulated. The aim is to make garbage and waste “disappear”, and where this proves impossible, to at least remove them to a place that does not encroach on the “pure inner area”. The methods of “making disappear” include dumping, burial, leaching, and incineration. An almost magical aura surrounds the “disappearing act” consisting of dumping wastes in the ocean. The pure inner area most discussed and cultivated in the 19th century is the metropolis, the big city. More and more, sewage is conducted through centralized and systematically structured canalisation systems into rivers, and the outskirts of most cities are dotted with both controlled and uncontrolled dumps. Occasionally, impressive solutions are found, which seize upon the metaphor of the city as organism, and attempt to establish a “recycling chain”, for example, by setting up sewage farms (Rieselfelder), which, however, soon gave way to the more economically viable garbage disposal system of incineration. In many cases, the margins of the city no longer provide sufficient space: Urban and industrial zones grow up side by side, particularly in the densely-populated industrial countries of Europe, giving rise to powerful clashes between rival interests. River pollution interferes with certain manufacturing processes and the maintenance of a minimum water quality, local soil and water resources grow scarce, uncontrolled dumps occupy space and damage the environment. Industrial wastes, some of them toxic and hazardous, increase absolutely and relative to other sources of garbage. Various nuisances develop, sometimes leading to a search for new “outer areas”. In the 20th century, mostly countries with extensive territories designate “outer areas” within their own national borders for aggressive waste. Countries capable of directly disposing of hazardous wastes in remote, sparsely populated regions or areas populated with undesirable minorities or ethnic groups continue to engage in this practice. In China, factories, test sites and nuclear waste dumps are located in areas such as Xinjiang, which, until settlement by the Han was increased, was populated almost exclusively by Turkic ethnic groups. In the USA, the most favoured potential dump site for highly radioactive material, Yucca Flats, Nevada, is situated in an area to which the Western Shoshone have a claim. The atomic industry looks primarily to the reservations of the indigenous population for their permanent and provisional dumpsites, affecting most recently the Cree in Saskatchewan, Canada. In the former USSR, the factories and waste dumps of high-risk industries are mainly concentrated in areas whose populations are of no concern to the government. It is ultimately states and state alliances that define their territory as inner space and plan and organize its “purity”. For many years, the more prosperous industrial nations suffering from tangible environmental problems - and that mainly means problems of waste disposal - managed to keep their garbage from their own door by exporting it to other countries. A more recent example of this is the plan to build a nuclear dump to be shared internationally on Bikini Atoll. Approximately 80% of the waste trade is conducted between the industrial- Dieter D. Genske & Susanne Hauser 322 ized countries, but 20% takes place between developing countries of the First World and importers from the Third World. Government-supported opposition is growing in many of these countries. The waste trade with former East Bloc countries also continues to thrive. It provides a spectacular example of the failure of the West’s “waste removal” methods. The collapse of the “Wall”, one of the most impenetrable borders of recent times, has brought the waste exported from western countries back to their centre of interest. Unification has restored to the Federal Republic of Germany a toxic “treasure” that was supposedly safely incarcerated “over there”. When the Wall collapsed, the states of Hamburg, Lower Saxony, and Hesse alone had exported an estimated 700000 tons of hazardous waste to the GDR. One of the most immediate steps taken after the collapse of the Wall was the official inspection of approximately 5000 waste dumps; it resulted in the closure of most. Approximately 2% of the dumps in the area of the five new states were still in operation in 1993. The general practice of relegating waste to “outer areas” has resulted in the almost complete absence of waste-free areas, i.e. areas wholly untouched by waste. Today the world seems full of waste. The boundlessness of waste, increasingly present in public consciousness over the past thirty years, has various aspects which seem to be more or less under control. These include knowledge of the quantities of particular substances produced. But there are no clear global figures on the volume of existing or projected conventional or hazardous wastes. Current estimates suggest that approx. 5 million tons of hazardous waste are produced in Germany and approx. 250 million tons in the USA each year. Global estimates vary considerably. This is due to a lack of data even in some countries that otherwise boast the most advanced systems for collecting socially relevant data. By 1990, among the EU countries, only Holland, Denmark and Germany had begun nationwide documentation of so-called “existing burdens”. One of the boundaries bridged by certain types of garbage is the one between waste and merchandise. This bold leap allows many forms of garbage and toxins to be exempted from existing Waste Acts. Additionally, sometimes waste is simply treated as “raw material” on the international market. In 1987, varnish and oil residues containing heavy metals were designated for export to Turkey as “substitute fuels”; in 1988, combustion residues from the city of Philadelphia ended up in Guinea as “raw materials for the brick industry”; in 1991/ 92, the Treuhandanstalt exported toxins from a number of German states, particularly pesticides akin to those used in chemical warfare, disguised as a consignment of goods and humanitarian aid to the vicinity of Sibiu in Rumania. Waste plastics stamped with the “green spot” indicating their status as raw material ended up on garbage dumps in Indonesia and in Hungary for incomprehensible “recycling”, etc. The daily papers are rife with more recent examples. This method of defending the “pure inner space” approaches the boundary between legality and illegality. The exact figures on illegal waste transactions are still debated by experts in environmental administrations and pressure groups, but there is no doubt that more cases of illegal transactions go undetected than become known (see Basel Convention www.basel. int). A further boundary is bridged by some sorts of atomic waste, known to constitute a hazard for living organisms for tens of thousands of years. This length of time defies human imagination. Precautionary measures for such a time span are virtually inconceivable, since it is impossible to make any reliable predictions concerning geological movements in landfills or set up institutions for monitoring dumps until the material ceases to be radioactive (Posner ed. 1990). All objects could become garbage 323 Waste crashes through barriers of time and space. This affects both national and continental borders not only in terms of waste export. The dispersion and effects of wastes such as HCFC are not contained within the borders of the manufacturing or consuming countries or of the continents producing the highest levels of emissions. Combustion residues are a typical example of trans-frontier pollutants. Waste transcends frontiers of knowledge. We do not know all of the substances produced in industrial processes and entering the air, water and soil. Scientists investigating synergistic effects cannot even determine the number of probable new chemical compounds, not to mention make any kind of reliable assessment of their qualities and effects. The multi-dimensional boundlessness of waste is a result of the fact that the emphasis has so far been placed on removing it to a non-defined “outside”, rather than on finding ways of avoiding its production. The “pure inner spaces” were precisely demarcated, while attempts to put limits to waste through the development of alternative production processes, improved consumer awareness, or modifications of economic systems proved sporadic and inconsistent. During the 19th century and up to the start of the environmental debate in the 20th, the idea that waste could resurface in the form of air, water and soil pollution remained the eccentric view of a few pessimists. Today, in the rich and densely-populated countries, the level of debate alone is enough to make it clear that a dynamic has developed in the cultural, social definition of frontiers drawn around pure inner spaces. The subversive power of this area expelled from the realm of order has become visible and palpable, more accessible to the senses and to knowledge. Public opinion suggests that the entire relationship between (our) order and its waste and garbage must be reviewed and restructured. We live in an order preoccupied with redefining and relimitating its own waste, while it continues to produce more and more of it. The strategies developed to contain waste can be subsumed in one question: How to limit garbage and successfully guard these limits. The limitation attempts operate on different levels: the legal definition of substances (garbage, hazardous waste, existing burdens, etc.) and the creation of legally binding regulations for their disposal, the inventory and description of existing garbage (e.g. the documentation of existing burdens; compulsory registration of hazardous waste, etc.), the securing of discontinued and operating dumps, the development of technical facilities to eliminate wastes with the lowest possible levels of pollution, the development of recycling methods and corresponding new product designs, and restricting the international waste trade. To mention just one of these difficult processes: efforts to implement a legally binding definition of garbage has become a burning political issue. Negotiations on waste at national and European levels or in the context of UN states are complicated by the fact that the definitory limitation of garbage varies according to the interests of the economically powerful pressure groups and countries. Interest is determined by the existing volume and quality of garbage and waste, the safety of production plants and their projected lifespan, the industrial structure, the waste disposal facilities, and other factors not necessarily based on environmental criteria. Such endeavours contribute to throwing a net of order over the realm formerly interpreted as disordered and to integrating and assimilating it in the order, rendering that realm identifiable, definable, and ultimately containable. Order itself changes through this extension and revision of its boundaries. The necessary containment of garbage will inevitably lead to an increase in reducing, domestically processing, eliminating, and disposing in the waste-producing countries and to the export only of “raw materials”. Germany’s Waste Disposal Act of November 18, 1988, Dieter D. Genske & Susanne Hauser 324 which rules that international disposal of waste is only legal if the waste is to be “recycled, processed, or recovered”, reflects this tendency. Such developments, however effective they may be, do not take place without necessity. Only since it has become obvious that the “outside” to which garbage was traditionally consigned is shrinking, that the pressure to establish new processes has increased - which does not mean that the analysis and solution of the situation are advancing at the same rate. This is an important element of a broader development, which is in the process of changing our notions of inner and outer, nature and culture, globality and locality, centre and periphery, thereby expanding the area of control and planning. In this way it follows the logic of expansionism. 3 Rationales, discourses and excurses The semiotic dimensions of sign interpretation on derelict land are complex and manifold. When writing this lecture, we realised that we can only scratch on the surface of this cosmos of ideas, perceptions and views. We have tried to embrace this intriguing topic by reducing it to basic scientific practice juxtaposed with semiotic implications including a short history of the conceptualization of “contamination”, aspects usually not discussed in the process of investigating a derelict site. The result is a sequence of three discourses on waste, two rationales on site investigation complemented with two excurses on maps and soft signs. 3.1 Discourse I: The discovery of hazardous wastes Not until the prolonged end of the European heavy industry and the end of the most conspicuous emissions connected with it, did public attention focus on the wastes left behind in its wake. The issue of “dangerous wastes from the past”, or Altlasten (German), a problem of contamination, was first identified in the 1970s as a general problem, and not just as a question of individual instances, in England, France, the Netherlands, the United States, Germany and also Japan. During that time, the first, since then extended legal instruments for the assessment of hazards and the definition of objects to be protected emerged. The interpretation took place in a time of intensive economic decline in the heavy industry. The problem has been constituted as such since the decline of heavy industrial production, when the old industrial sites began to change hands usually for public disposal, and the question of reuse arose. The present discourse about what is understood as dangerous wastes from the past - contamination - refers to the remains which are capable of generating undesirable effects if they are not treated. The discursive effort does not have anything to do with the fact that whatever has been leading to the resulting definitions and actions since the 70s actually did not exist previously: Contamination understood as such today have to some extent been produced over centuries in the areas of early industrialization and have seeped into the soils and water resources without any comprehensive, systematic efforts existing at the time to acquire data, clear, cleanse or secure them. The consequences of permanent pollution were certainly noticed, however, they were registered as accidents or disease cases. The semi-public discourse in the form of complaints, entries, and public letters about the pollution of rivers, soils and the atmosphere by the All objects could become garbage 325 industries in the old industrialized countries is as old as some of these remaining substances themselves noticed today as contamination. Observations of changed plant growth, the restlessness and diseases of animals and cases of illness among human beings which could in part be brought into a causal connection with the specific emissions have been frequently made. Wherever clashes of interests occurred in any of the old industrialized countries there were regulations governing risk and liability rights that could usually be derived from the already existing water and soil rights and had in part to be codified separately as in the case of the mining laws. Historical environmental investigations with respect to industrialization could show for some cases the fact that and the ways in which economic interests asserted themselves successfully in not having to treat those wastes. (Brüggemeier & Rommelspacher 1987, 1992, Brüggemeier 1995; Brimblecombe & Pfister 1990; Radkau 2002: 274-83.) During the period of industrial production, considerations of critical substances in the water resources and soils were hardly of any interest even when the facts were known or suspected. In so far, the handling of contamination as it has been developed in the last 30 years can be seen as part of a revelation process involving the old industrial sites. Franz-Josef Brüggemeier und Thomas Rommelspacher present four reasons for the late attention given to toxic substances in soils: In contrast to the air and water resources, soils were assumed to be part of private property where no intervention should take place; soils seemed to be resilient with respect to pollution; the methods of measurement had not matured sufficiently and, finally, the role of soils within an ecological context had not been fully appreciated until the 1970s (Brüggemeier & Rommelspacher 1992: 75). A final word on the observation of wastes: There are some terms that are repeatedly used in a planning context when dealing with difficult-to-manage industrial remains, burning dumps or toxic substances. These are the terms hazard, safety, security, protection, risk prevention, suspicion, and control. Especially, the last-mentioned term will have to be examined here since hardly a discovery - and it is discoveries and the discourse about them we are concerned with here - has extended the sphere of the observable, determinable and controllable to the same extent as the preoccupation with unstable soils and slopes or toxic substances in water resources, soils and the atmosphere. Hardly any other circumstance has enlarged the scope of required data acquisition and planning with state-of-the-art expertise to such an extent than the attention given to “hazardous substances” whenever an old industrial site is designated to be reused. In this connection, a slow, intermittent discussion presents itself in all the old industrialized countries seeking to develop legal and technical definitions for an actual hazard and its pragmatic prevention. In this process, the general term contamination (English/ French) or Kontamination (German) as well as the spatial term Contaminated/ Derelict Land (British), Brownfield (U.S.), Site pollué (French), Altlast (German) are being constituted as the object or problem, and are leading to further investigations, added data acquisition, and new methods as the now traditional Site Investigation Approach. 3.2 Rationale I: Historical site analysis In order to analyse signs of degradation the historic development of a terrain has to be reconstructed. In this context, signs of former use have to be identified and recorded in a systematic way. Dieter D. Genske & Susanne Hauser 326 Historical site analysis - also referred to as desk study - focuses on the former utilisation of the site and the resulting degradation of the terrain. The main goal of the historical or multitemporal analysis is to investigate and visualise the impact of human activities and their consequences for future utilisation. The historical analysis is based on textual records such as former site investigation reports, environmental audits, building and production permissions, statistical data on products including information on raw materials and wastes, property tax files, land title records, newspaper archives, private documentation, etc. Nontextual records complement this information. Relevant cartographic documents ranging from cadastral to topographical maps are available for a period of more than 150 years. The cycles of updating these plans and maps have varied from originally 15 years to 3-7 years more recently. As a result, those sites existing since the 19 th century are documented by up to 20 updated editions of large-scale topographic maps (1/ 25000 and larger) and more or less the same number of plans. Furthermore, additional nontextual documents such as maps of existing and earlier buildings and installations, previous street directions, evidence of water supply and sewage systems, fire insurance maps, safety plans, mining commissions, landuse maps, biotop maps, etc. offer valuable information on the historical development of the site. In addition, aerial photos serve as a useful source of information to reconstruct the historical development and former utilisation, especially if cartographic material is missing for certain time periods. The earliest coverage in Europe dates from the 1920s. It is supplemented by photography from allied reconnaissance and mapping sorties during World War II and thereafter by air covers taken at regular intervals of 2-3 years since 1950. Consequently, there is an aerial photographic documentation of most sites comprising 15 to 25 and sometimes even more covers, which are available for the historic analysis and mapping of urban land. Finally, oral textual information from eyewitnesses may explain details of the production, the handling of waste material and the localisation of possible dumping sites. The most complicated task is harmonising and visualising the essential information. A map depicting former utilisation based on the status quo-map has to be prepared. Of central interest are features which may obstruct the future utilisation of the site, including • soiland groundwater contamination and • relicts of former installations such as massive foundations and underground constructions. In order to detect these obstacles, historical maps and aerial photos are analysed, scanned and superimposed with the status quo-map to produce a thematic map depicting the historical development of the site. Buildings and installations that may obstruct the future utilisation are copied into that map as are possible sources of contamination due to activities of production and handling of polluting substances (at train stations, loading sites, etc.), or their deposition (waste heaps, dumping sites, etc.). An example: The coalmine Minister Stein used to be one of the most productive deep coalmines in the German Ruhr-District. Already in the last half of the 19th century mining commenced and subsequently a variety of processing facilities and chemical plants were founded in direct vicinity. However, due to the coal crisis the mine went out of business in the 1980s. The site was abandoned and became typical industrial wasteland, too contaminated for potential investors. However, the still intact infrastructure of the immediate neighbourhood and the proximity to major Autobahns made it attractive again. All objects could become garbage 327 In the late 1980s European funds were made available to remediate the site. Eight million Euro were drawn from the European Fund for Regional Development to support the project and plans were made to integrate Minister Stein into the International Building Exhibition IBA Emscherpark. The site became a prominent example for conversion of derelict terrain into high quality industrial land. In order to assess the hazards related to former use the first step was to prepare the status quo-worksheet illustrating the present situation on the site. After this, historic maps and aerial photos were scanned and significant features were imported into the status quo-document. The scans had to be adjusted in scale and rotated to match the status quo. Based on the historic maps and building permits the historic development of the site could be reconstructed, i.e. installations and facilities suspected as potential sources of contamination could be identified. Digital layers were prepared representing historical stages of development. Finally, a synthetic map with all relevant historic information was produced (see slide series “Investigation: Desk Study” under http: / / www.egs-net.ch/ mysite/ htmls/ openlearn.html). 3.3 Excursus I: Maps and Signs The analysis of maps with the tools of semiotics has to be considered a new field, although its roots reach back to the times when the first modern maps where drawn, as Bruno Aust, Dagmar Schmaucks and Winfried Nöth point out in their introduction to the edition Landkarten als synoptisches Medium (1998). One can even go back to ancient history to discover semiotic processes in land interpretation: already four centuries BC the Greek physician Hippocrates geo-referenced in his work “On Airs, Waters, and Places” (e.g. Littré 1961) spatial phenomena as signs for health and reasons for diseases. Cartography as “ensemble des opérations de conception, d’élaboration, de dessin et d’édition de cartes” (Petit Larousse 1998) is a semiotic exercise par excellence, a formalised process to visualise phenomena with a complex system of signs. Even time can be formalised with cartographic signs (Genske & Hess-Lüttich 1998), as realised already by Giordano Bruno (1548-1600), who interpreted from geomorphological signs that (according to Blei 1981, translated by the author) … da bald ein Meer ist, wo vorher ein Fluß war, bald sich Berge erheben, wo vorher Täler sich vertieft hatten … Aber in allem möchte ich nichts Gewaltsames zugeben, sondern einen ganz und gar natürlichen Verlauf erkennen. Denn ich nenne nur dasjenige gewaltsam, was außerhalb der Schranken der Natur oder gar gegen sie geschieht. [… there soon is a sea, where before was a river, mountains rise, where before where valleys … But in all this I would not see anything violent, rather a natural development. Because I only call violent what happens outside the boundaries of nature or even against her.] However, to put these findings on a map was, in those days, too much to dare when even words were already enough to be executed by the Holy Inquisition as a heretic. Maps, however, would have had a potential to logically explain the relation between time and the surface of the earth with a limited set of signs arranged in a systematic way and a special colour code dating back to Goethes Concept of Colours (Hofbauer 1998). Cartographic representations with their iconised reduction of complex processes enables the expert to present geomorphological phenomena in such a way that even the layman is able to understand them. Describing linguistically these complicated processes would mean much Dieter D. Genske & Susanne Hauser 328 more effort, still yielding a puzzling and confusing result. Cartography thus optimises a difficult and interwoven transfer of space-time information. The process becomes even more complicated if the information to be transmitted is ambiguous or fuzzy, having only a limited truth-value. Fuzzy information are, however, quite common when analysing brownfields, the object of this lecture. Only in few cases it is really clear which activities have caused the contamination of soil or groundwater. Usually there are only hints and speculations about presumed waste pits that where dug informally, not recorded in any official document. War impacts, which have caused pollution and in cases still cause pollution, are only sporadically documented. Even fragments of now dismantled installations such as foundations, cables, sewers, tanks, culverts, etc. are missing in maps and records. Still, a large variety of information are available that come in textural and graphical formats: description of production processes, statistics and mass flows, company records, building permissions, official surveys, geological maps, exploration boring profiles, aerial photographs, to mention a few. The decisions based on the evaluation of all these information are decisive for the feasibility of the remediation project as they are for the future of the city quarter, possible job opportunities, major investments … Consequently, an optimised strategy to investigate brownfields is needed to identify, record and visualise zones characterised by contamination and underground obstacles (Genske 2003). Since most of the information is fuzzy or soft, a well-reflected investigation strategy has to be developed which processes all sorts of information, from crisp data to semi-information of reduced truth-value. We will come back to this point after the following, second discourse on waste. 3.4 Discourse II: Contaminations Wastes incurring treatment problems have been discovered on industrial wasteland and dump sites since the 1970s: Lakes of tar, unlined earth basins filled with naphta products, soils polluted with benzene, toluene, xylene and polycyclic aromatic carbohydrates due to accidents, carelessness or normal operation, for example, during the production of carbohydrates. Slag, clinker, and construction waste contaminated with dioxines, for example, after the demolition of chimneys pose further categories of possibly critical materials; in former ore mining areas, heavy metals as well as highly toxic metals such as thallium or arsenic can be found. These are substances that are given priority in the discourse about soil damage with undesirable repercussions. An overview of the treatment of “Wasteland areas and land recycling” in various countries, among them Japan, the USA, Canada, can be found in Genske & Noll (1995). A comprehensive display of the aspects considered today when confronted with “Land recycling and contamination” is given by Thein 1995 in the same volume. Here, I am going to focus on the British, and, later on (see Discourse III), the German development. In the 1970s, the institutionalized treatment of contaminated land was added to that of derelict land in Great Britain. This term describes “land that contains toxic substances in such concentrations that they present a potential threat directly or indirectly to man, the environment or to other targets such as building structures or the components of buildings.” (Richards 1995, 23) While derelict land referred essentially to physically describable damage and instabilities, chemical and biological aspects now come into play. The category of contamination is constituted as an object of discourse and as a cause for a new kind of managing practice. All objects could become garbage 329 From a semantic perspective, the term describes an interesting option. The common use of the term contamination (Kontamination), and the definition of the removal of the damage, decontamination (Dekontamination), present a suggestive image of that which has occurred and should be reversed: Something has been infected by something else, made sick or spoiled, contaminated as it were. Thus there was something that was pure and intact and then came into contact with something else and therefore became disrupted in its properties. Decontamination describes the process in which the previous boundary between substances and bodies is reinstated since something which was adulterated in an impermissible and uncontrolled way has been withdrawn again. The fact that this is not always successful, is exemplified by the contamination through radioactive substances. Speaking about decontamination suggests that there was a process that was reversible. It implies that whatever was brought about in damage in the period of industrial production can be reversed today. The time and consequences of industrial production can be physically cancelled. Once the discovery and invention of the contamination has taken place, the internal expert discourse about a generalized suspicion begins to focus on the soils and water resources on industrial wasteland and to engender the preparedness for unforeseen, but to-be-considered toxic substances on industrial sites: “In practice, when dealing with industrial land it is never possible to know precisely what contamination exists and where it is” - according to the landscape planner Richard Cass (1994: 34). The generalized interest in substances remaining after production, however, is only slowly mobilizing efforts to acquire data on them. In the mid-1980s, it was estimated that there was about 45000 ha of derelict land to be treated, which means to stabilize it and at least to vegetate it if it cannot be used in any other way. Later estimates attempting to consider contaminated land raised this amount to twice as much. However, this includes already treated land whose contamination was not considered during the restoration work. In wake of growing attention, increased knowledge, and new issues, increasingly new demands are being placed on the management practice concerning industrial wasteland and deposits from industrial production (Barry 1995: 281). The disclosure of investigation results and the publication of lists as well as registrations of contaminated sites have met and are still meeting with resistance. In 1990 when the British government included the requirement enjoining local government agencies to compile a register of contaminated sites or land uses endangered by contamination into the Environmental Protection Act shortly before its enactment, it brought about a storm of publicized indignation. The requirement was interpreted as an immediate demand to disclose current contamination on public and private land. Especially the real estate sector and some local administrations quite rightly foresaw a blacklisting effect on sites that would not be able to be sold as a consequence of the register (Lawton 1994: 18). In almost all old industrialized countries, there is still a more or less restricted right on behalf of property owners to say nothing about the condition of their property, which in turn seemed to be jeopardized by this proposal. The requirement was dropped. In the United States, the Comprehensive Environmental Response, Compensation and Liability Act (CERCLA) of 1980 has been aiming in the same direction. With the installation of the SUPERFUND in the same year (SUPERFUND 2007) to clean up contaminated terrain, Dieter D. Genske & Susanne Hauser 330 a National Priority List for the most polluted sites was established. In practise, however, this list had the effect “of causing the site, plus much of the adjacent area, to be abandoned for any use, and severely depressed property values. Therefore (this) listing is avoided by local governments and property developers …” (Williams 1995: 22). However, the obstinate reticence in combination with the realization that hazards could be lurking in the dark elicited curious responses: These ranged from diffuse fears and suspicions and well-founded anxiety to insistent not-wanting-to-know. Since it is publicly known to be possible to find out something about the contamination of areas, buyers and users of a plot now want to know whether or not this knowledge has been taken into consideration: The uncanny feeling following the suspicion can only be rationally abated once the possible knowledge has been acquired. There is now a de facto compulsion to investigate, confront the waste and, as it were, confront what has been previously repressed. The magazine Landscape Design dedicated a whole issue to the question of contaminated areas in 1994. It describes how a planner from a local government agency in Britain compiled the requirements resulting from the failure of the listing of contaminated land: “… an awareness of the issues; a lack of fear of the problems; an adequate information base; a clear definition of the responsibilities; a fair and easily understood legal framework; adequate resources for investigation and techniques and a short and long term programme of action.” (Lawton 1994: 19). In the case of any knowledge or suspicion of hazardous substances, systematic data acquisition with an added guarantee of comparability has not been practiced until recently even in those countries with comparably high environmental standards and sophisticated data acquisition systems for publicly relevant data. In 1990 only the Netherlands and Denmark were among the countries of the European Community with a systematic method for nationwide data recording of substances compiled in the listings of Altlasten (see “Brachflächenrecycling” 1993-2000; the home page of the US Environmental Protection Agency http: / / www.epa.gov). The aim to stimulate clean-up work was, however, not achieved with these measures. More by accident, the European Commission finally solved the contradiction of disclosing lists of contaminated sites while at the same time depressing remediation efforts as observed in the case of the US National Priority List: The vicious circle was solved with motivation. Naturally, money is the best motivation. Consequently, the EU has been avoiding any listing but has been giving subsidies to those communities, which presented, together with partners from industry, a remediation project that stimulates regional economic growth while at the same time implements Agenda 21 locally (World Commission on Environment and Development 1987). With this strategy, the EU enforced the notion of a sustainable development while at the same time stimulating new, innovative industries in regions depressed by structural changes as for instance the German Ruhr District, where many contaminated sites were remediated in this context and presented during the International Building Exhibition IBA Emscherpark 1989-99 (see European Academy 1995). 3.5 Excursus II - Fuzzy signs Signs of contamination are rarely clear and unambiguous. In general, they expose only a certain level of truth. Since terms such as certainty, uncertainty, vagueness, ambiguity, imprecision, fuzziness, variability, soft data, etc., are frequently used in hazard analysis, it is All objects could become garbage 331 necessary to define the most essential of these notions and their use (Genske & Heinrich 2003). Webster universal dictionary (1993) defines certainty as follows: something undoubted and inevitable. The same dictionary defines uncertain as follows: ambiguous, vague, doubtful, dubious, equivocal, indeterminate, indistinct, questionable, insecure, changeable, irregular, not steady or constant, variable, etc. This list demonstrates the linguistic or lexical flexibility and vagueness of the spoken language. Zimmermann (1996) states for certainty in a real-world model that “certainty (…) indicates that we assume the structures and parameters of a model to be definitely known and that there are no doubts about their values of their occurrence.” Assuming that hard data is available from field sampling, two principle uncertainties can be distinguished (Blockley 1980): Parametric uncertainty, i.e. uncertainties in measured values of parameters, in terms of statistical probability, and systemic uncertainties, i.e. non statistical uncertainties. In context of non-statistical uncertainties, the notion of fuzziness has been introduced by Lotfi Zadeh in 1965. Fuzzy can be described by synonyms: flurry, like fuzz, blurred, (Webster dictionary 1993) and indistinct (in shape and outline), frayed (Oxford Advanced Learners 1989). Fuzzy set theory or possibility theory is a generalisation of the classical Cantorian crisp, i.e. dichotomous set theory, and represents a means for manipulating non-stochastic, i.e. nonrandom uncertainty. In contrast to common crisp mathematical approaches that include probability theory, fuzzy sets allow grades of membership to a set usually expressed by real numbers between 0 and 1. This concept (Zadeh 1965) provides a natural way of dealing with problems in which the source of imprecision is the absence of sharply defined criteria rather than the presence of random variables. However, similar aspects have been already discussed in principle by Aristotle in his treatise “On interpretation” (Aristole ‘On Interpretation’, paragraph 7, translated by E.M. Edghill): When […] the reference is to universals, but the propositions are not universal, it is not always the case that one is true and the other false, for it is possible to state truly that man is white and that man is not white and that man is beautiful and that man is not beautiful; for if a man is deformed he is the reverse of beautiful, also if he is progressing towards beauty he is not yet beautiful. Being an extension of two and many-valued logics, the main advantage of the fuzzy approach is its capacity to combine available data, expert knowledge and (subjective) experience in order to mimic real-world conditions more realistically. As an approach to dealing with uncertainties induced by imperfect knowledge, data, and signs of varying intensity it complements other theories such as evidence theory, rough set theory, and probability theory. However, there is still an ongoing controversial discussion, for instance, between supporters of the fuzzy approach and protagonists of the crisp probabilistic approach. The debate reduces to the question, whether fuzziness would be just probability in a clever disguise (Bezdek 1994). However, it can be stated that the philosophical and academic controversy, as necessary as it is, clearly has been passed by successful fuzzy applications. Fuzzy mathematics is especially applied in industrial controlling, in rule based Fuzzy Expert Systems (FES) in medicine or economy and increasingly also in environmental and geoscientific modelling. Dieter D. Genske & Susanne Hauser 332 Just as the classical (crisp) set theory serves as the basis for classical logic, fuzzy set theory is the basis for fuzzy logic. This means that theoretic operations in fuzzy sets are the base for logical operations (Alvarez Grima et al. 1997). In contrast to the classical set theory, a fuzzy set consists of objects that can have a partial degree of membership in a set. The classical set theory, instead, deals only with binary statements such as yes/ no, true/ false, or 0/ 1. Hence, these so-called crisp membership degrees to a set are either equal to 1, if an element belongs to a set, or 0, in case of exclusion. Fuzzy set theory generalises the concept of crisp set membership by extending the range of the characteristic function to the unit interval of [0,1]. The membership function JA(x) is called the grade of membership of x in a fuzzy (sub-)set A that lies within the universe of discourse X. In normalised fuzzy sets, the membership degree can take partial membership. Larger values denote higher degrees of membership. Fuzzy sets are defined by their membership functions, which are therefore the core of the entire concept. There are three possibilities to represent fuzzy sets: • Representation in a continuous domain, i.e. analytically defined by their membership functions • Representation in a discrete domain as value pairs • Graphical representation. Examples of continuous piece-wise linear functions are of trapezoidal and triangular shape and examples of continuous piece-wise exponential membership functions are the L-, G-, Pand L-(Gauss-) functions: These standard membership functions are only an approximation of the way humans linguistically interpret real values. Studies in psycholinguistics showed that piecewise exponential functions proved better performance in complex systems (such as language and perception) than more simple linear ones (Altrock 1995). Therefore, they are considered to describe environmental systems better, i.e. more organically. These basic membership functions are the basis of fuzzy sets within fuzzy subsets such as quantities, toxicity, size, etc. Fuzzy subsets can, for example, describe certain properties of observed items in an aerial photograph. In a study on a derelict harbour terrain (Genske & Heinrich 2003) up to three fuzzy subsets form a fuzzy family, that is a thematic group, such as material, with the subsets toxicity and quantity. Altogether, fuzzy families constitute the fuzzy power set describing the universe of discourse, including the potential to codify spatial signs of contamination. In this context a Soil Assessment Fuzzy Expert System (SAFES) has been developed to process signs of contamination from aerial photos taken at different time steps (Heinrich 2000). The outcomes of a SAFES consultation is coded in contamination potentials related to observed items, such as installations, surface discolorations, necrotic vegetation, etc. The development of the knowledge-and-rule base of SAFES is based upon characteristics of environmental relevant signs, the specific range of features (spatially and temporal), their relative intensity, as well as a semantic code for description of the observed items. The semantic descriptors helped to define values, shape, and number of membership functions over a certain part of the universe of discourse. Fuzzy sign processing enables the expert to visualise phenomena that are much too complex to be presented in textual form. It optimises interpretation processes of a manifold nature. Keeping in mind that a conventional preparation of hazard maps calls for a substantial All objects could become garbage 333 budget (field work, laboratory analyses, etc.) it can be concluded that fuzzy sign processing offers an attractive alternative to analyse degraded urban land. 3.6 Discourse III: The German approach - The Altlast In Germany, the first public attention given to problematic wastes on old industrial sites neither arose from any systematically sought-for and developed knowledge nor from the preparedness to take action on the part of the government agencies. Here too, examinations of sites with respect to possible restrictions of use were undertaken in connection with the late consequences registered as accidents. In Germany, broader public attention to what is understood as Altlasten developed when agencies were groping for explanations for inexplicable events such as the contamination of settlements built on old industrial land. Just as in the Love Canal Case, which finally led to the US Superfund Legislation (Lecture 1), the discussions were triggered also in Germany via so-called inhabited Altlasten. Among the examples are the settlements of Hamburg-Stolzenberg, Bielefeld-Brake, or also Dortmund-Dorstfeld, Herne-Baukau or Essen- Zinkstraße known since 1979. In Northrhine-Westphalia more than 10 percent of the “areas of suspected wastes from the past” were built up in 1991 (Grosser & Schmidt 1994: 14). The German term to a great extent corresponding to the English contamination and used in legal as well as non-specialized public discussions is Altlast (dangerous waste from the past). In the first (German) federal soil protection law passed in 1998 Altlasten are defined as “old deposits and old sites causing harmful changes to the soil or other hazards for the individual or the general public.” In this law as in the diverse definitions of the laws of the Länder (states) two concepts are pivotal, viz. those of hazard and harm, both criteria which appeal to eco-toxicological evaluations. This definition can already be implicitly found in the special report of the German Council of Experts for Environmental Issues “Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen RSU” of 1989, published in 1990: “an old deposit or an old site from which hazards to the environment especially to public health are to be assumed or expected”. The German Federal Soil Protection Law, published on March 24, 1998, adopts these definitions in its 3rd part, 11-16. The term “dangerous waste from the past” like the discourse about contamination certainly involves normative connotations. In dealing with them we are concerned with burdens. In a narrower sense it is a legal term, in a less specialized sense it is a term that by all means expresses a negative interpretation: Altlasten entail pollution stemming from closed processes and are now understood in terms of fault, damage, obstacle, or hazard and are addressed as a problem of law enforcement. What immediately crosses our mind when speaking about old burdens (German: “Alt”- Lasten), is the fact that the liability for cannot be traced and is usually not relevant for the transfer since, with the exception of mining in connection with mining laws, no claims, responsibilities, or ensuing actions can be derived. The slow integration of Altlasten into public discourse is also shown by the fact that, until spring 1998, there was no law in Germany which regulated the definition, data acquisition, responsibilities and the treatment of substances of this kind comprehensively on a nation-wide basis; this law finally makes land owners and perpetrators liable. And not until the recent years, have state laws been developed containing explicit regulations for the crucial legal concepts concerning the treatment of Altlasten. Dieter D. Genske & Susanne Hauser 334 I have to stress here, that Altlasten are only assumed to comprise substances and sites located on areas that have been given up, however, not the possible deposits on areas that are still in use - these are only included in exceptional cases, and treatment through public agencies is only considered when a hazard to the public has been ascertained. In Saarland where an average of two areas of suspected contamination per square kilometre are to be found according to the records in 1996, a law of this kind was not passed until June 1994. The reflection prior to this and the practical consequences drawn from this, shown here by an agent of the Saarland environmental ministry, serve as an example of the development that is gradually taking place in steps of performed quantification, definition, data acquisition, and finally, qualification as contaminated areas: “The first approaches towards a systematic and state-wide stock-taking of the old dump sites of the communities, commercial and industrial facilities in Saarland reach back as far as 1965.” The aim of this data acquisition, however, was only to determine the areas of deposits in quantitative terms; no assessments of the hazards were performed. Based on these first activities as well as on a survey of 1400 plants in Saarland carried out by the LfU (Landesamt für Umweltschutz, S.H. - akin to the EPA on a state level) in 1980 designed to survey deposit locations with respect to production-specific wastes, the communal waste treatment association Kommunale Abfallbeseitigungsverband (KABV) supported by the LfU published a study in 1984 which dealt with the environmental hazard potential of all of the 738 old dumps known in Saarland until then. With the help of an evaluation key based on a point system, an assessment of the possible environmental hazards or Altlasten was carried out for the first time on a state-wide level with special consideration of the deposited material, the distance to water protection zones, water supply plants, surface water bodies, and housing areas, etc. On the basis of this information, the systematic development of a Saarland old-deposit land register Altablagerungskataster (ALKA) was begun with in 1986. Due to an intensive study of the records, the questioning of local people with knowledge of the area, but also through the evaluation of topographical maps and aerial photographs, the number of recorded old deposits was more than doubled from 738 in 1984 to 1801 at present. … The development of the Saarland old site land register Altstandortkataster (ALSTOR) was begun with in fall 1990. … In the historical survey of old sites only those former sites of potentially hazard-suspected industrial and commercial businesses were considered whose areas were no longer used in a way to cause suspicion at the time of the survey. (Sobich 1996, 6ff) The preoccupation with Altlasten has been picking up momentum in Germany since 1989. In the new federal states (neue Bundesländer) the heavy industry suffered a breakdown after the fall of the Wall. The mass of suddenly available industrial land that was difficult to sell not only mobilized data acquisition but also considerations to initiate clean-up treatment as a necessary precondition for future economic development. During that time, concentrated efforts to define the object and to create the necessary legal and funding instruments were made. This did not only accelerate the awareness process concerning Altlasten and their systematic data acquisition in the new and old federal states, but also lead to the designation of 21 major projects for clean-up treatment with respect to such wastes in the new federal states. They were going to require 6 billion German Marks in clean-up costs according to estimates publicized in 1994 (Federal Environmental Ministry 1994, p. 26). In 1988, between 42000 and 48000 suspected areas were identified in the old federal states (Henkel 1988: 18ff). At the end of 1993, almost 140000 areas and suspected areas with All objects could become garbage 335 Altlasten were recorded in Germany based on diverse criteria. In 1994, it was estimated that a total 240000 areas and suspected areas of varying sizes with Altlasten were to be found; at the end of 1998 the estimation went up to 300000 sites (Federal Environmental Ministry 1994: 7; Grosser & Schmidt 1994: 13; Freier et al, 1998: 1). The registration of these areas can be interpreted as an extension of the definition and control over areas that had not previously been defined or controlled. In so far, the discourse about Altlasten highlights the efforts to catch up with the realities, which seems to generally characterize the state of waste management today: Added to the concept of risk prevention, is the objective to recycle wasteland and to reuse land understood as a resource. A scope of necessary control is also defined exceeding any previously known controlled containment of wastes. 3.7 Rationale II: Hazard Assessment Once the historical analysis (or desk study) of a degraded site has been concluded, a field reconnaissance is conducted. Field reconnaissance aims at confirming the findings from the historical analysis in the field. Additional information relevant for the project is collected and simple index tests on ground properties are carried out. An integral part of the field reconnaissance work is the identification of zones that are homogeneous with respect to certain properties. Field reconnaissance work thus includes a description of: • The ground conditions, i.e. the types of ground (soil/ rock), the mechanical properties of the ground and the hydraulic properties of the ground. • The flora and fauna that has established on the site and its relevance to soil types, depth to groundwater table, ground movements (slope creep, subsidence, etc.) and contamination of the ground. • Features of human impact confirming the former and present use of the site. Thematic maps with data from the field reconnaissance work illustrate problematic ground conditions and redevelopment obstacles. The field campaign is summarised in an interim report in which the results are commented and interpreted. Based on these findings the feasibility of a possible redevelopment project can be assessed. According to the recommendation of the reconnaissance report the project may have to be modified or, in certain cases, even discarded. If the project, however, appears feasible, the field reconnaissance report serves as reference to prepare the next step: the field investigation. The aim of field investigation is to optimise information on the condition of the site and thereby minimise remediation costs. In this final stage of site investigation much prior information is available since both historical analysis and field reconnaissance have already been concluded. It is now better known where ground contamination is likely. Some contamination spots have already been confirmed in the field. Derelict buildings have been investigated and sectors where underground structures can be expected have been mapped. This allows a well-considered choice of field investigation measures, which are more sophisticated but also more expensive than the index tests of field reconnaissance. It is evident that a sound knowledge of the geology of the site, a comprehension of the desk study and the field reconnaissance results and profound experience is necessary to lay Dieter D. Genske & Susanne Hauser 336 out an adequate field investigation campaign. Some sectors of the redevelopment site may still be little known despite the preceding desk study and field reconnaissance work. In this case, the sampling strategy depends on the type of search target and whether discrete ones like underground structures or gradual ones like a groundwater contamination are to be investigated. The search pattern to be applied varies accordingly. A large variety of methods to explore and characterise ground conditions has been developed: • 1D-investigation, i.e. linear investigation like borings; 2D-investigation, i.e. area investigation like geophysics; 3D-investigation, i.e. spatial investigations like pumping tests. • Direct investigation or indirect investigation: borings, for instance, are direct measures whereas geophysical investigations, cone penetration tests, etc. are indirect methods. • According to the goal of the investigation campaign, addressing either the general ground conditions, or the hydrogeology, or the stress and strain characteristics of the ground, or the contamination of the terrain. An integral part of the site investigation on derelict sites is the analysis of hazards associated with the reuse of the terrain. On abandoned land a large spectrum of pollutants can be encountered. The hazards caused by these contaminants depend on the existence of contamination pathways, the exposure of the receptor (plants, animals, humans, goods such as the groundwater), its capacity to take up contaminants, the exposure time and the dose. In a real world scenario it is difficult to take into consideration all these parameters at a time. When soil or groundwater samples are taken and analysed, concentrations of different contaminants are measured. These concentrations can be evaluated according to simple rating systems as for instance proposed by the Dutch recommendations, which consider three threshold values: • The background value, giving the natural concentration of the contaminant. • The test value, indicating the need for further site investigation if exceeded. • The intervention value, calling for immediate decontamination measures if exceeded. Threshold values are listed in reference tables. In certain countries, the future utilisation of the site is taken into consideration when defining thresholds. For instance, derelict industrial wasteland may be fit for use as sports ground but not as kindergarten terrain. The fitness-for-use concept has been introduced to reduce remediation costs and to stimulate the re-integration of abandoned land into the urban infrastructure. Threshold values and fitnessfor-use values are revised frequently, while research on toxicological impacts evolves constantly. While hazards refer directly to the probability of occurrence of an adverse phenomenon such as contamination, risk is defined as this probability of occurrence times the consequences arising from the given hazard. Therefore, in order to assess risks the consequences have to be quantified. This is, however, in general not possible, especially if goods are under consideration of which the value can hardly be assessed, as for instance human health. To simplify hazard assessment for urban land, the danger caused by ground contamination can be visualised with three key parameters (BUWAL 1994): All objects could become garbage 337 • The contamination potential, i.e. the toxicity of the pollutant detected. • The mobilisation potential, i.e. the potential of the pollutant to find a contamination path to a possible receptor. • The potential of exposition of the receptor, i.e. the good to be protected. These three parameters define three Cartesian axes. On these axes the potentials are scaled from zero, i.e. no hazard potential, to 1.0, i.e. full hazard potential. The potentials may either be assessed intuitively or calculated with more complex evaluation techniques. Maximal hazards are thus represented by a cube, whereby partial hazards produce a smaller volume. Today, a variety of different hazard assessment procedures have been developed all over the world (e.g. CARACAS 1998, 1999). In most cases the hazard assessment is based on the identification of contamination grade, mobilisation potential, the exposition of goods to be protected, the identification of source-path-target-patterns and the definition of threshold values. Hazards can be mapped by taking soil and water samples and measuring their grade of contamination. The results can be plotted as point information on a map depicting the contamination intensity. Contour lines of equal contamination grade can be drawn. Once the spatial distribution of contaminants is visualised, potential hazards for the groundwater to be protected, human health, neighbouring ecosystems, etc. can be derived. Besides the contamination of the derelict site the physical disturbance of the ground may obstruct the redevelopment of the terrain. On industrial sites a complex pattern of buildings, installations, traffic connections and supply facilities is present, which has modified the natural ground conditions. Key aspects are: • Disturbance of the natural ground conditions by foundations, basements, tanks, culverts, creating a highly inhomogeneous ground referred to as urbic anthrosols • Sealing of the ground with roads, parking lots, and constructions, resulting in a reduction of infiltration of rainwater and thus a reduction of the natural recharge balance of the groundwater. Once the natural ground conditions have been altered, the physical behaviour diverts from the one expected on virgin ground. Soft brought-in soils or waste may be located right next to sectors of natural soil. After buildings have been dismantled, the foundations are almost always left in the ground. On industrial wasteland, these foundations can attain considerable dimensions. If they stay in the ground, they obstruct the redevelopment of the site by blocking future cable and sewage lines. They complicate excavation and, if left in the ground, cause differential settlement of new buildings. Consequently, the investigation of hazards on derelict industrial wasteland not only refers to chemical contamination, but also to physical disturbance. The systematic collection and analysis of all information, crisp ones as well as soft ones, finally leads to the hazard assessment, which is usually presented in the form of a hazard map where hazard levels are coded and zoned in a comprehensive way, so that everybody involved in the remediation project can understand the specific legacy of the site and the threads a future utilisation will bear. Dieter D. Genske & Susanne Hauser 338 4 Final remark In this paper the first two lectures given for the Open Semiotics Resource Center are published. They address the codes of waste and the codes of degradation and explain how signs of degradation are interpreted in order to investigate derelict terrain. The third lecture shall focus on the integration of signs of former use and degradation into future use. A conceptual frame for semiotic approaches to redevelopment shall be discussed in the fourth lecture, which shall further be developed in the fifth lecture by making a turn to history. Lecture six shall provide some examples for this approach whereas lecture seven shall present the turn to nature, with examples given in the eighth lecture. 5 References Altrock, C. von (1995) Fuzzy logic and neurofuzzy applications explained. New Jersey: Prentice-Hall Alvarez Grima, M.,Verhoef, P.N.W., Deketh, H.J.R. (1997) The potential use of fuzzy set theory in engineering geology. NL-IAEG Ingeokring Newsletter (Delft) 5: 2-10 Aust, B. (1998) Generalisierung in der Kartographie. Zeitschrift für Semiotik 20 (1-2): 73-90 Barry, D.L. (1995) Recycling derelict sites: UK experience. In: Genske, D.D. & Noll, H.P. (eds.) Brachflächen und Flächenrecycling. Berlin: Ernst & Sohn, 81-89 Bernard, J., Wallmannsberger, J., Withalm, G. (1997) World of signs - World of things/ Welt der Zeichen - Welt der Dinge. 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Dordrecht: Kluwer Academic Der “verhüllte” Untergrund in der Geologie Beispiel Antarktis Franz Tessensohn (Hannover) 1 Das Untersuchungsobjekt ist verhüllt 2 Formen der Verhüllung 3 Geowissenschaftliche Methoden der Enthüllung 4 Beispiel: Die Enthüllung des Kontinents Antarktis 5 Literatur Geologists and geophysicists have developed certain methods to un-veil their research object - the Earth’s surface and underground, or, for example, the geologic history of the Antarctic continent, hidden by several kilometers of ice. With the knowledge provided by the different methods the scientist himself is directing and monitoring the “un-veiling” while an image of the entire object is crystallizing in his mind, piece by piece like a jigsaw-puzzle. Geologen und Geophysiker haben verschiedene Methoden entwickelt, um ihr Forschungsobjekt - die Oberfläche und den Untergrund der Erde, oder z.B. die geologische Geschichte des antarktischen Kontinents, der unter mehreren Kilometern Eis verborgen ist - zu enthüllen. Mit den Erkenntnissen, die sie mit Hilfe der verschiedenen Methoden gewinnen, steuern und überwachsen sie selbst die “Enthüllung”, während sich in ihrem Kopf ein Bild des Ganzen kristallisiert, Stück für Stück, wie bei einem Puzzle. 1 Das Untersuchungsobjekt ist verhüllt Geowissenschaftliche Aktivitäten sind in der Regel darauf ausgerichtet, die Geschichte der Gesteine - und damit einen Teil der Geschichte der Erde - zu rekonstruieren. Allerdings liegen die geowissenschaftlichen “Objekte” nur zu einem geringen Teil offen und frei zugänglich an der Erdoberfläche. Der Einsatz der Untersuchungsmethoden richtet sich daher nach den Formen sowie dem Grad der Verhüllung des Untergrundes. Über Aufgaben und Arbeitsmethoden des Geowissenschaftlers gibt es bei den meisten Menschen nur verschwommene Vorstellungen. Bekannt ist in der Regel, dass sich die Geologie mit dem Untergrund befasst. Von praktischem Interesse sind die obersten 10 km der Erdkruste, da sie die für uns wichtigen Ressourcen Öl, Gas, Kohle, Erze, Sand und Kies sowie das Grundwasser enthalten. Der tiefere Untergrund ist wichtig für die Katastrophen-Vorsorge (Erdbeben, Vulkanismus) und für die wissenschaftliche Erforschung des Aufbaus der Erde und der Prozesse im Innern unseres Planeten. Es kommt also darauf an, den Aufbau des verborgenen Untergrunds mit geeigneten Methoden zu erkunden. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Franz Tessensohn 342 Abb. 1: Globale Verteilung von Wasser, Sand, Vegetation, Gebirgen und Eis (http: / / www.ngdc.noaa.gov/ mgg/ image/ seafloor.html) 2 Formen der Verhüllung Der größte Teil der Erde ist durch Wasser, Vegetation, Sand und Eis verhüllt (Abb. 1). Die Ozeane (Abb. 2a) bedecken ca. 75% des Globus und verhüllen ein komplett eigenes Universum (Schätzing 2006). Der Meeresboden ist - wie die Kontinente - durch Gebirge, Ebenen und Täler gegliedert. Inseln sind untermeerische Berge, die über den Wasserspiegel herausragen. In Klimazonen mit ausreichendem Niederschlag ist die Erde von mehr oder weniger dichter Vegetation (Abb. 2b) bedeckt, z.B. Wald, Steppe, Tundra, aber auch in Form von Kulturlandschaften. Fehlt Vegetation, weil das Klima zu trocken ist, bilden sich Wüsten. Die älteste Wüste ist die Namib im Südwesten Afrikas. Die größten Wüsten sind die Sahara und die Gobi sowie der Westen Australiens. Aber auch der Westen der USA hat in Teilen Wüstencharakter. Der lose Sand der Wüsten (Abb. 2c) verhüllt meistens den festen Gesteinsuntergrund. Eine ganz andere Wüste gibt es in der Antarktis - Eis und Schnee bedecken den Südkontinent zu 99% (Abb. 2d). Auch weite Teile der Meeresflächen um die Antarktis sind ganzjährig von Eis bedeckt. Im Norden liegt Grönland weitgehend unter einer vergleichbaren Eiskappe und das Nordpolarmeer ist von Meereis bedeckt, das sich im Verlauf von mehreren Jahren erneuert. 3 Geowissenschaftliche Methoden der Enthüllung Die Enthüllung des Untergrundes gehört zu den wichtigsten praktischen Aufgaben der Geowissenschaften. Die Kunst besteht darin, Form, Tiefe und Alter der Untergrund-Objekte aus Oberflächen-Beobachtungen möglichst widerspruchsfrei zu rekonstruieren. Der “verhüllte” Untergrund in der Geologie 343 Abb. 2b Abb. 2a Abb. 2c Abb. 2d Abb. 2: Die wichtigsten Verhüllungsmedien der Gesteine der Erde: a) Meerwasser; b) Vegetation; c) Wüstensand; d) Eis und Schnee der Polarregionen > Oberflächen-Kartierung Die geologische “Kartierung” ist die Aufnahme der Gesteinsvorkommen an der Erdoberfläche. Ansatzpunkte dieser grundlegenden Bestandsaufnahme sind Vorkommen von anstehendem Gestein, sogenannte “Aufschlüsse”, die natürlicher Art (z.B. Felswände, Bachanschnitte) oder auch künstlicher Natur (z.B. Steinbrüche, Baugruben, Straßenanschnitte) sein können. Da die Gesteine nur selten horizontal lagern, kann zwischen diesen Eckpunkten mit Hilfe der Lagerungsdaten interpoliert werden. Das Ergebnis der “Kartierung” ist die geologische Karte, die alle Gesteine in einem Gebiet - z.B. Ton, Sandstein, Kalk, Granit etc. - sowie ihre Lage zueinander zeigt (Abb. 3). > Wahrscheinlichkeits-Interpretationen Die Oberflächen-Rekonstruktion ist also, wie alle geologischen Ergebnisse, eine Wahrscheinlichkeitsaussage. Die hohe Zahl der unbekannten Parameter macht die Geologie mit 60-80% Wahrscheinlichkeit zu einer Wissenschaft, die nicht zu den exakten gezählt werden kann. Wie in der Kriminalistik wächst mit der Erfahrung des Untersuchungsteams die Chance, aus den einzelnen Indizien zu einem zwingenden Gesamtschluss zu kommen. Dass die Interpretationen sehr wohl 100% erreichen können, zeigen z.B. die vielen Fälle von fündigen Erdölbohrungen aufgrund geologischer Vorhersagen. Franz Tessensohn 344 Abb. 3: Geologische Karte von Nord Victoria Land, Antarktis. (Eigene Geländeaufnahmen) > Geophysikalische Durchleuchtung Will man Exaktes über den Untergrund wissen, muss man eigentlich bohren, aber wie in der Medizin werden vor der “Operation” erst noch eine Reihe von Durchleuchtungsverfahren angewendet. In der Geologie fallen diese in das Fachgebiet der Geophysik. Geophysikalische Methoden können auf dem Land, auf dem Wasser, in der Luft, ja sogar vom Satelliten aus eingesetzt werden. Sie “durchleuchten” Wasser, Eis und Vegetation und liefern ein indirektes Bild des Gesteinsuntergrundes. Man bedient sich des Radars (Abb. 4), wobei selbst eine Eiskappe von 4 km Dicke durchdrungen wird, misst die magnetischen Eigenschaften der Gesteine (Abb. 5) unter Wasser oder Eis und erstellt, bevorzugt per Schiff auf den Meeren (Abb. 6), seismische “Profile” des Untergrunds (Abb. 7). - Die seismische Methode ist im Prinzip mit den Ultra-schallmessungen in der Medizin vergleichbar. - Aus den gewonnenen Daten werden Karten erstellt, “Profile” (Querschnitte) gezeichnet (Abb. 8), Modelle gerechnet und erst am Ende der Interpretationen steht dann, manchmal, eine Bohrung, um an der bestmöglichen Stelle die Vorstellungen zu verifizieren. Der “verhüllte” Untergrund in der Geologie 345 Abb. 5: Messungen der Gesteinsmagnetik aus der Luft durch Eis (links) und Meerwasser (rechts) am Ross-Meer der Antarktis (nach Bosum et al., 1989 und Lucchitta et al., 1989). Eine (stark magnetische) Vulkanstruktur, die als Berg das Eis überragt, bildet eine markante Anomalie. Ähnliche runde Strukturen deuten auf weitere unter dem Meer und dem Eis verborgene vulkanische Phänomene hin. Abb. 4 : Ein mit Radar erstelltes Längs-Profil durch einen Gletscher zeigt die Dicke des Eises und das Relief unter dem Eis (Schema). Franz Tessensohn 346 Abb. 6: Seismische Messungen per Schiff durchleuchten Meerwasser und sedimentären Untergrund (Schema). Abb. 7: Seismisches Profil aus dem Ross Meer der Antarktis. Die Schichten sind durch Bruchstrukturen schräg gestellt. Ein vulkanischer Kegel (links) hat die Sedimente durchstoßen (Davey et al., 2001). Abb. 8: Interpretierte seismische Messergebnisse: Das geologische Profil durch das Rossmeer-Becken ist ca. 1000 km lang. (Vereinfacht nach Hinz & Kristoffersen, 1987 und Cooper et al., 1987) Der “verhüllte” Untergrund in der Geologie 347 Abb. 9: Forschungsbohrung vom Meer-Eis des zugefrorenen Ross-Meeres bei Cape Roberts. Die Bohrung erreichte eine Teufe von über 1000 m in den Sedimenten und lieferte u.a. wichtige Daten über die klimatische Entwicklung der Antarktis in den letzten 35 Millionen Jahren. U.a. konnte der Beginn der Vereisung erfasst werden. > Prüf-Sondierungen Nachdem aus geologischen Beobachtungen und geophysikalischen Messdaten ein Modell des verhüllten Gesteinsuntergrunds konstruiert wurde, bleibt der Wunsch nach Verifizierung. Dieser Wunsch wird nur selten, meist bei wirtschaftlichem Interesse, manchmal auch durch sogenannte Forschungsbohrungen erfüllt (Abb. 9). An einem Bohrkern aus den durchbohrten Gesteinsschichten lassen sich die geophysikalischen Methoden im Nachhinein eichen. Ein weiterer wichtiger Faktor, der aus den Messdaten nur grob abgeschätzt werden kann, ist das Alter der Gesteine. Hierüber kann das Material des Bohrkerns zu exakteren Daten verhelfen. 4 Beispiel: Die Enthüllung des Kontinents Antarktis 98% der Antarktis sind von Schnee und Eis bedeckt. (Abb. 10a). Die hohen, tausende Meter dicken, Eiskalotten der Ost- und Westantarktis werden nur von drei Gebirgen überragt. Hunderte von Radarmessflügen haben es möglich gemacht, das Land unter dem Eis zu rekonstruieren (Abb. 10b). Dabei stellt sich heraus, dass die Gebirge der Westantarktis nach dem Abschmelzen des Eises einen insel-bedeckten Archipel formen würden. Die Ostantarktis dagegen bildet ein großes zusammenhängendes Plateau, nur teilweise bedeckt von flachen Meeren vom Typ der Ostsee, die durch das eislastbedingte Eindellen der Gesteinskruste unter den heutigen Meeresspiegel entstehen würden. Nach der Entlastung würden sie sich im Laufe Franz Tessensohn 348 Abb. 10a Abb. 10b Abb. 10c Abb. 10d Abb. 10: Die Enthüllung eines Kontinents. a) Die Antarktis unter ihrem Eispanzer. b) Die Topographie unter dem Eis. c) Geologische Karte der Antarktis (nach Kleinschmidt, 2007). d) Entwicklungsgeschichtliche Interpretation der Antarktis: An einen alten Kern in der Ostantarktis (rechts) lagern sich drei jüngere Faltengebirge in der Westantarktis an. Der “verhüllte” Untergrund in der Geologie 349 Abb. 11: Das Einpassen der Antarktis in das Mosaik der übrigen Kontinente des ehemaligen Superkontinents “Gondwana” zeigt, dass sich die antarktischen Strukturen sinnvoll auf den anderen Kontinenten fortsetzen. weniger Millionen Jahre, wie Skandinavien nach der Eiszeit, elastisch wieder über den Meeresspiegel erheben. Neben den Gebirgen, die das Inlandseis überragen, gibt es noch Gesteins-“Aufschlüsse” entlang der Küstenzone des Kontinents, wo das Eis dünner ist und in Form von einzelnen Eisströmen zum Meer hin abfließt. Zwischen den Strömen liegt abschnittsweise der Untergrund frei. Im Jahr 1959 wurde der Antarktis-Vertag geschlossen, der den Kontinent trotz einiger schwebender Gebietsansprüche für die internationale Forschung freigab. Seither wurden die erwähnten Gesteinsvorkommen systematisch und in internationaler Zusammenarbeit geologisch kartiert. Das Produkt ist eine geologische Karte mit vielen Einzelheiten (Abb. 10c). Nebenbei wurden einige recht sensationelle Ergebnisse erzielt. Das älteste Gestein in Enderby Land ist mit 3,8 Milliarden Jahren fast so alt wie die Erde selbst (4,5 Mrd.). Im Transantarktischen Gebirge findet man versteinerte Bäume aus der Permzeit. Auf der antarktischen Halbinsel wurden Fossilien gefunden, die ein warmes Klima vor der Vereisung belegen. In eiszeitlichen Ablagerungen am Beardmore-Gletscher kommen Blätter und (noch brennbares) Holz der Südbuche vor. Unter 2000 m dickem Inlandseis liegt ein See mit offenem Wasser (Lake Vostok). Da die Gesteinsaufschlüsse den Kontinent quasi umschließen, lassen sich auch Interpretationen des eisbedeckten Inneren der Antarktis durchführen (Abb. 10d). Vereinfacht dargestellt wird ein kontinentaler Kern (der Ostantarktis, rechts) von 3 Faltengebirgen (in der Westantarktis, links) begleitet. Ob diese Interpretation korrekt ist, lässt sich am besten im Vergleich zu anderen Südkontinenten prüfen. Denn die Antarktis bildete in der geologischen Vergangenheit zusammen mit Australien, Südamerika und Afrika den Superkontinent Gondwana (Abb. 11). Da sich die in der Antarktis “kartierten” Faltengebirge auf den benachbarten Kontinenten wiederfinden lassen und da auch die alten Kerne der Kontinente eine zusammenhängende Masse bilden, macht die geologische Interpretation durchaus Sinn. Franz Tessensohn 350 5 Literatur Bosum, W., Damaske, D., Roland, N.W., Behrendt, J.C. (1989): The GANOVEX IV Victoria Land/ Ross Sea aeromagentic survey: Interpretation of anomalies. - Geol. Jb., E 38, 153-230. Davey, F.J., Barrett, P.J., Cita, M.B., van der Meer, J.J.M., Tessensohn, F., Thomason, M.R.A. & Woolfe, K.J. (2001): Drilling for Antarctic Cenozoic Climate and Tectonic History at Cape Roberts, southwestern Ross Sea. - EOS, 82, 585 & 589-590. Cooper, A.K., Davey, F.J. & Behrendt, J.C. (1987): Seismic stratigraphy and structure of the Victoria land Basin, western Ross Sea. - In: Cooper, A.K. & Davey, F.J. (eds.): The Antarctic Continental Margin: Geology and Geophysics of the western Ross Sea. - Circum-Pacific Council for Energy and Mineral Resources, Earth Science Series, 5B, 27-65, Houston. Craddock, C. (ed.) 1969: Geologic maps of Antarctica, American Geographical Society, folio 12, New York. Craddock, C. 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Ein Maler hat die Gelegenheit, auf einem Forschungsschiff die wissenschaftlichen Arbeiten auf seine Weise zu dokumentieren. Seine Bilder sind keine Abbilder der Wirklichkeit, sondern Transformationen aus seinen Eindrücken während der Fahrt. Das gemalte Sujet ist nur Mittel zum Zweck, nur Metapher. Die beiden dargestellten Themenkreise - Forscher und Landschaft - verbindet das Meta-Thema der Distanz, des Sich-Entziehens: Die Verhüllung der Landschaft mit Eis und die Vermummung der Menschen funktionieren als Schutzmechanismus. Den Bildern werden Texte vom Maler selbst und über den Maler gegenübergestellt. 1 Heute scheint mir, dass ich allmählich etwas begreife von diesem Meer Es war heute wieder ganz windstill, und grau-geschichtete Nebelbänke zogen langsam vorbei. Alles war hell, die Wellen weich, “verschwommen”, kaum strukturiert. … Der Nebeltraum geht weiter. … möchte am liebsten die ganze Zeit auf dem Peildeck stehen und in den weißen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Gerhard Rießbeck 352 Abb. 2: Ein Forscher im Eis (Gerhard Rießbeck, 2001, Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm) Wahnsinn schauen, der sich unter mir ausbreitet. … Sonne und Nebel haben sich wieder zu einem atemberaubenden Theater verbündet. … Den ganzen Tag über fahren wir durch dicken Nebel und ebensolches Eis. Jetzt plötzlich wird der Nebel zu einzelnen Schleiern, goldfarbenes Licht bricht durch. Eisschollen im kältesten Hellstblau stehen im vom goldenen zum caput-mortuum-farbenen changierenden Wasser. Dann bricht die Sonne ganz durch. Fernste Eisregionen werden messerscharf golden konturiert, der sonst oft eintönige Himmel zerspringt in Fetzen farbigen Lichts. (Gerhard Rießbeck, aus dem Tagebuch eines Expeditionsmalers, geschrieben während der Arktisexpedition XVII/ 1 mit dem Schiff POLARSTERN des Alfred-Wegener-Instituts vom 19. Juni bis zum 29. Juli 2001) Zusammenstellung: Monika Huch, Adelheidsdorf 2 Ein Maler im Polarmeer Er malte schon Bilder vom Eismeer, bevor er auch nur die Aussicht hatte, es selbst zu sehen. … Bei ihm tauchen wirkliche Eisberge aus dem Meer, werden von Nebel in Blau-Grau-Stufen getaucht oder spiegeln, wenn auch nur selten, das leuchtende Orange der Sonne. … Wenn man genau hinguckt, fällt auf: So direkt ist sie (die Natur) nun auch wieder nicht gesehen. Oft sind die gezeigten Blickwinkel vom Schiff aus gar nicht möglich. Irritierende räumliche Wirkungen und künstliche Schattenschärfen entlarven Felsen, Eisberge oder Wolken als dramatisch aufgebaute Kulissen. Die Realität ist bewusst übersteigert und gestört. Fotorealismus liegt Rießbeck fern. Nicht einmal die Skizzen, die er an Bord fertigte, haben dokumentarischen Charakter. Rießbeck hat keine präzisen Details aufgenommen, obwohl er hervorragend zeichnen kann. Er hat die Acryl-Skizze gewählt, und diese Skizzen sind malerischer und weniger detailliert als die später im Atelier gestalteten Bilder. … Rießbeck gestaltete schließlich mehrere Bildserien mit von Serie zu Serie wechselnden, ähnlich proportionierten aber verschieden großen querrechteckigen Gemälden. Wenn ein Maler nach einer Reise im Atelier Bildserien malt, könnte man vermuten, dass er das Erlebte in seinem Ablauf gestaltet. … Der Maler zieht vielmehr die Bilanz möglicher Ansichten, besser Wirkungen der Polarlandschaft. (Nicola Borger-Keweloh, Kunsthistorikerin, im Katalog “Einundvierzig Tage in der Grönlandsee” mit Bildern von Gerhard Rießbeck, Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven und Alfred- Wegener-Institut Bremerhaven o.J.) Der Blick des Forschers 353 Kopf (Gerhard Rießbeck, 2003, Kohle/ Öl auf Papier, 30 x 20 cm) 3 Wissenschaft und Kunst treffen sich im Europäischen Nordmeer Als Polarforscher sind wir daran gewöhnt, dass uns Journalisten, Fotografen, Filmteams und Fachautoren auf unseren Reisen begleiten. Sie leiten die Ergebnisse unserer Arbeiten in verständlicher Form an die Öffentlichkeit weiter und stellen so das Expertenwissen der Allgemeinheit zur Verfügung. Doch auf dieser Reise begleitete uns ein Maler. Ihm ging es nicht darum, unser Wissen umzusetzen, sondern den Gegenstand unserer Forschung, das eisbedeckte Nordmeer, aus seiner Sicht darzustellen. Im Gegensatz zum Wissenschaftler, dessen oberstes Gebot darin besteht, den Gegenstand seiner Forschung so objektiv wie möglich zu erfassen und darzustellen, stehen für den Künstler gerade seine subjektive Darstellung und Interpretation im Mittelpunkt der schöpferischen Arbeit. Trotz dieser gegensätzlichen Ansätze verbindet uns als Wissenschaftler einiges mit Gerhard Rießbeck. Als empfindender Mensch ist auch der Wissenschaftler trotz seines Anspruchs der objektiven Messung auf See dem Objekt seiner Forschung ausgeliefert. Meer, Meereis mit seinen Formen und Farben, der Seegang mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen und das Wechselspiel von Wind und Wetter sprechen auch die Sinne der Wissenschaftler an. Die dabei geweckten Emotionen findet er dann in der Sprache der Kunst in den Arbeiten von Gerhard Rießbeck wieder. (Eberhard Fahrbach, Ozeanograph, im Katalog “Einundvierzig Tage in der Grönlandsee” mit Bildern von Gerhard Rießbeck, Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven und Alfred- Wegener-Institut Bremerhaven o.J.) 4 Der Blick des Forschers Ich bezeichne diese Figuren als “Forscher”, obwohl eigentlich nichts an ihrem Tun direkt auf eine spezielle Tätigkeit hinweist. Weder ihr Handeln noch ihre Psychologie wird ersichtlich, es bleibt offen, ob sie scheitern oder Erfolg haben. Nur ihre Ausgesetztheit in der Natur wird deutlich, … Es ist ein durch die verhüllende Kleidung anonymisierter Heldentypus, der in einer prekären Balance aus Ohnmacht und Eroberungsdrang verweilt. Und obwohl die Malerei in ihrem scheinbaren Realismus alle Fragen zu beantworten scheint, bleibt doch Entscheidendes rätselhaft und fragwürdig im Wortsinn. Gerade ihre Verhüllung macht diese Gestalten für mich zu idealen, weil vieldeutigen Protagonisten auf der Bühne der gemalten Natur. Dem Forscherblick schreibt man ja Nüchternheit zu, eine kühl gliedernde Distanziertheit, die mit Interesse, aber ohne Emition die Welt der Erscheinungen zu verstehen versucht und sie dabei den Kategorien menschlicher Logik unterwirft. Normalerweise ist es der Blick des Forschers, der eine Sache prüft. Er ist das Werkzeug der visuellen Kontrolle, einer intellektuellen Aneignung und somit letztendlich ein Instrument der Machtausübung des Menschen über seine Umwelt. Gerhard Rießbeck 354 Abb. 3-9: Forscherköpfe (Gerhard Rießbeck, 2002-2004, Kohle/ Öl auf Papier, 30 x 20 cm) In einer weiteren Reihe von Bildern schließlich ist dann nur noch der verhüllte Kopf des “Forschers” zum Thema geworden. Die Natur, die eigentlich diese Verhüllung bedingt, ist ausgeblendet. In den Bildern der “Forscherköpfe” habe ich dieses Verhältnis umgedreht: Nun sind die Forscher und sein Blick selber Gegenstand der Betrachtung. Dick vermummt, sogar die Augen noch mit Brillen geschützt und daher überindividuell, schaut er aus dem Bild heraus, scheint den Betrachter zu fixieren und wird selbst geprüft. Das sind, wohlgemerkt, trotz allen Realismusses keine Portraits. Es liegt nicht in meiner Absicht, tatsächliche Forscher zu malen, oder gar deren wirkliche Motivation darstellen zu wollen. Genauso wenig wie es mir in meinen reinen Landschaftsbildern um die bloße Wiedergabe des Gesehenen geht. Beide Male ist mir das gemalte Sujet nur Mittel zum Zweck, nur Metapher. Beide Themenkreise, Forscher und Landschaft, verbindet das Meta-Thema der Distanz, des Sich- Entziehens: Die Verhüllung der Landschaft mit Eis und die Vermummung der Menschen funktionieren als Schutzmechanismus, bieten Schutz vor Vereinnahmung und Manipulation; Schutz vor der Lösung des Rätsels. Und damit das genaue Gegenteil von Forschung. (Gerhard Rießbeck, Der Blick des Forschers - Expeditionsmalerei in Arktis und Antarktis, Beitrag in Polarforschung 73 (2/ 3), S. 135-137 (2006); EISTAGE, Expeditionsmalerei in der Antarktis, Hauschild-Verlag Bremen) Zusammenstellung: Monika Huch, Adelheidsdorf Adressen der Autoren Djouroukoro Diallo Daoudabougou, Rue 86, Porte 20 Bamako, Mali c/ o Nadia Stillhart Breitenrainplatz 26 CH-3014 Bern Dr. Dieter D. Genske Institute for Environmental Decisions IED Anthroposphere Dynamics ETH Zürich, CHN K73.2 Universitätsstr. 22 CH-8092 Zürich dgenske@ethz.ch Prof. Dr. Susanne Hauser Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung Universität der Künste Berlin Hardenbergstr. 33 D-10595 Berlin hauser@udk-berlin.de Prof. Dr. Dr. Ernest W.B. Hess-Lüttich Institut für Germanistik Universität Bern Länggass-Str. 49 CH-3012 Bern hess@germ.unibe.ch Dept. of Modern Foreign Languages University of Stellenbosch Private Bag x1 Matieland, 7602. ZA South Africa www.academie.sun.ac.za/ forlang/ Dipl.-Geol. Monika Huch Wissenschafts-Journalistin Lindenweg 6 D-29352 Adelheidsdorf mfgeo@t-online.de Prof. Dr. Klaus H. Kiefer Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 D-80799 München khkiefer@germanistik.uni-muenchen.de Dr. Hans-Christian Leiggener BEKB/ BCBE Zentralstr. 46 CH-2501 Biel/ Bienne hans-christian.leiggener@bekb.ch Dr. Vessela Posner Leipziger Straße 58 D-10117 Berlin vessela_posner@hotmail.com Gerhard Rießbeck Boelckestr. 9 D-91438 Bad Windsheim kunst.riessbeck@gmx.de PD Dr. Gesine Lenore Schiewer Institut für Germanistik Universität Bern Länggass-Str. 49 CH-3012 Bern gesine.schiewer@germ.unibe.ch K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 30 (2007) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Adressen der Autoren 356 Prof. Dr. Dagmar Schmauks TU Berlin Arbeitsstelle für Semiotik Sekr. FR 6-3 Franklinstr. 28/ 29 D-10587 Berlin dagmar.schmauks@tu-berlin.de Dr. Franz Tessensohn Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe Hannover Abt. Polarforschung priv.: Lindenweg 6 D-29352 Adelheidsdorf franz.tessensohn@tiscali.de Dr. Wilhelm Trampe Dipl.-Kfm., Studiendirektor Studienseminar Osnabrück Blumenthalstr. 32 D-49076 Osnabrück priv.: Im Osterfelde 1 D-31603 Diepenau trampe.deutschland@t-online.de Dr. Uwe Vogt Weimarer Straße 3 16547 Birkenwerder vogt.archaeologie@onlinehome.de
