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Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2008
311-2
Gunter Narr Verlag Tübingen An International Journal of Semiotics KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica Volume 31 · No. Jan/ Jun. 2008 Page 1 - 194 1 / 2 KODIKAS/ CODE · Ars Semeiotica 31 : 1 - 2 (2008) 1 - 194 ARTICLES Christophe Bourquin Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens Lars Meyer Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure Potential und Aporien zwischen Sprachphilosophie und Linguistik Rodica Amel Sign Systems - Reference Systems Chris Bezzel Sprachkörper. Für eine phonologische Poetik Martin Siefkes Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene in “Die Zeit und das Zimmer” von Botho Strauß Dagmar Schmauks Rotes Blut und rote Blüten Vergewaltigung und Lustmord im Spiegel der Lyrik REVIEW ARTICLES Dagmar Schmauks Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld Dagmar Schmauks Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums: Facetten des Raumerlebens Ernest W.B. Hess-Lüttich Sprache und Recht, Neue Studien zur Rechtskommunikation 009209 KODIKAS CODE 1-2 2008: 093707 KODIKAS Code 1-2 (2007) 04.02.2009 12: 24 Uhr Seite 1 KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 31 (2008) No. 1-2 ARTICLES Christophe Bourquin Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Lars Meyer Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure Potential und Aporien zwischen Sprachphilosophie und Linguistik . . . . . . . . . . . . . . 29 Rodica Amel Sign Systems - Reference Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Chris Bezzel Sprachkörper. Für eine phonologische Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Martin Siefkes Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene in “Die Zeit und das Zimmer” von Botho Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Dagmar Schmauks Rotes Blut und rote Blüten Vergewaltigung und Lustmord im Spiegel der Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 REVIEW ARTICLES Dagmar Schmauks Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Dagmar Schmauks Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums: Facetten des Raumerlebens . . . . . . . . 145 Inhalt 2 Ernest W.B. Hess-Lüttich Sprache und Recht Neue Studien zur Rechtskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 REVIEWS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Addresses of Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Publication Schedule and Subscription Information The articles of this issue are available separately on www.narr.de The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 118,- (special price for private persons 78,-) plus postage. Single copy (double issue) 62,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2009 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: NagelSatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 0171-0834 Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens Christophe Bourquin 0. Praemittenda Der folgende Beitrag, der auf die Ausleuchtung der Differenzialität des sprachlichen Zeichens abstellt, ist nicht thetisch, sondern synthetisch. Die wissenschaftstheoretische Systematik ist dem historischen Apriori unterstellt. Die Synthese steht nicht im Zeichen des Weg-, sondern des Ausarbeitens von Differenzen. Praemittendis praemissis. 1. Kommunikation(en) 1.1 ‘status artis’ Mit Charles Sanders Peirce (1839-1914) und Ferdinand de Saussure (1857-1913) scheiden beinahe zeitgleich zwei Gelehrte aus dem Leben, deren Zeichenkonzeptionen für die Tradition des 20. Jahrhunderts Maßstäbe setzen. Während Peirce in den Ruf des Gründungsvaters der modernen Semiotik zu stehen kommt, wird es de Saussure zuteil, als Erneuerer einer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend historisch gewordenen Linguistik in die Annalen der Wissenschaftsgeschichte einzugehen. Der Cours de linguistique générale, ursprünglich als Vorlesungsskript eines Indogermanisten mit Schwerpunkt Sanskritistik konzipiert, lässt nach der postumen Veröffentlichung durch de Saussures Schülerkreis die disziplineigenen Grenzen schnell hinter sich. Schon bald gilt er als Referenztext für formalistische und strukturalistische Disziplinen, die im Begriff ihrer funktionalen Ausdifferenzierung stehen. Im Gefolge der Weiterentwicklung strukturalistischer zu poststrukturalistischen Ideen schreibt sich de Saussures Text zunehmend in den literaturwissenschaftlichen Theoriediskurs ein, der sowohl den französischen als auch den amerikanischen Strang des dekonstruktiven Denkens erfasst. Die Karriere des Textes ist nun an ein Ende gelangt, das umso endgültiger scheint, weil es, wie dereinst de Saussures Text, diffundiert hat. Verkündet wird es von einer Nachbardisziplin, der systemtheoretischen Soziologie. Niklas Luhmann (1927-1998) höchstselbst ergreift das Wort: Die amerikanische Dekonstruktionismusdebatte ist heute ganz offensichtlich erschöpft. Fast will einem der Dekonstruktionismus wie eine altmodische Mode erscheinen. Es gab eine Zeit, in der man meinte, die Dekonstruktion zur Analyse literarischer Texte wie Gesetzestexte einsetzen zu können, um ältere, formalistische Methoden zur Entschlüsselung immanenter Textbedeutungen zu ersetzen. 1 Das mit wenigen Strichen gezeichnete Bild ist unmissverständlich. Das Verdikt trifft den poststrukturalistischen Ausläufer der Dekonstruktion ebenso wie den Formalismus als deren K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Christophe Bourquin 4 strukturalistischen Vorläufer. Das Paradigma der Werkimmanenz leuchtet in der Formulierung der “Entschlüsselung immanenter [Hv. CB] Textbedeutungen” schlaglichtartig auf. Mit anderen Worten: Luhmann sitzt über wesentliche Stationen der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts zu Gericht. Diese wissenschaftstheoretische Zeitdiagnose ist keineswegs singulär. Sie findet ihre Pendants in aktuelleren Einführungen in die Literaturwissenschaft: “Der Poststrukturalismus, der als historische Diskursanalyse (Derrida, Foucault, de Man) ebenfalls zunächst einen politischen Anspruch verfolgte, um über den Zusammenhang von Sprache/ Literatur, politisch-gesellschaftlicher Macht und sexuellem Begehren aufzuklären, ist nahezu erfolgreich aus der Literaturwissenschaft ausgetrieben.” 2 An die Stelle von Luhmanns gewohnt lakonischer Diktion tritt der rhetorische Exorzismus. Der semantische Aussagewert der Einschätzungen ist vergleichbar, das bilanzierende Fazit einfach zu formulieren: Der Poststrukturalismus ist (endlich) vorbei. Damit drängen drei Fragen in den Vordergrund; erstens, woran die Verabschiedung rückbindbar ist, zweitens, welches Paradigma die frei gewordene Leerstelle besetzt, und drittens die Frage nach der Superiorität der ablösenden gegenüber der abgelösten Position. 1.2 Hermeneutik Welches Verstehen von Verstehen auch immer zum Ausgangspunkt genommen wird, ob das sich über ein Vor- und Einverständnis aufbauende Verstehen einer dialogisierenden Hermeneutik à la Gadamer (1900-2002) oder das Verstehen einer dekonstruktiven Posthermeneutik à la Derrida, das sich über ein Missverstehen des Verstehens konstituiert: für beide Ansätze ist die Folie der Sprachlichkeit unabdingbar. Die unterschiedliche Fokussierung sprachlicher Medialisierung, oraler versus literaler, lässt unterschiedliche hermeneutische Selbstverständnisse ankristallisieren, deren Konvergenzpunkt in der Sprache als unhintergehbarem Medium liegt. 3 Der hermeneutische Medienreduktionismus ruft eine Form der Exbzw. Inklusionslogik auf den Plan, die nach zwei Seiten hin operiert: textbegrenzend im Sinne von ‘il n’y a pas de hors-texte’ 4 und textentgrenzend im Sinne von ‘Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache’. 5 Die mediologische Engführung, die unter der Signatur des ‘linguistic turn’ Schule macht 6 , wird zum Anlass grundlegender Kritiken: Wie kann ich behaupten, eine Erfahrung sei nicht-sprachlich, wenn ich doch in der bloßen Behauptung über sie sprechen, mich auf sie durch Sprache beziehen mußte? Jeder Versuch, etwas als nicht-sprachlich zu beschreiben oder es als sprachlich un-ausdrückbar zu beschreiben erweist es auf selbst-widerlegende Weise als sprachlich und in der Sprache ausgedrückt. … Daher folgert zum Beispiel Gadamer: “Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache” (Wahrheit und Methode, 478) und Derrida, Rorty und ihresgleichen lehnen ab, daß es so etwas wie “hors-texte” überhaupt gibt. … Gewiß, sobald wir über etwas sprechen müssen, sogar schon, wenn wir seine Existenz bestätigen oder leugnen, müssen wir es in das Sprachspiel (ein)bringen, ihm ein sprachliches Gepräge oder irgendeine begrifflich-textliche Identität wie “nicht-ausdrückbares Kribbeln” oder “nicht-diskursives Bild” geben. Doch das bedeutet nur, daß wir über existierende Dinge niemals sprechen (oder explizit denken) können, ohne daß sie irgendwie sprachlich vermittelt wären; es bedeutet nicht, daß wir sie nicht nicht-sprachlich erfahren können oder daß sie nicht für uns bedeutungsvoll existieren könnten außer in der Sprache. … Auf diese Weise geht der hermeneutische Universalismus fehl in seinem Argument, Interpretation sei the only game in town, weil Sprache the only game in town sei. Denn es gibt sowohl uninterpretiertes sprachliches Verstehen als auch bedeutungsvolle Erfahrung, die nicht sprachlich ist. 7 Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 5 1.3 Kultursemiotik Das Postulat der Analyse nicht-sprachlicher Verstehensprozesse leitet die Revolutionierung der Literaturzu Kulturwissenschaften ein 8 und damit den ‘linguistic’ in einen ‘cultural turn’ 9 über. Die Transformation bringt die Interdisziplinarisierung der Semiotik mit sich. Ein Blick auf die Titel jüngerer Erscheinungen 10 stellt unter Beweis, dass Kulturwissenschaft ohne Semiotik nicht auskommt. Es drängt sich auf, Kulturwissenschaft als Kultursemiotik 11 , Semiotik als Logik der Kultur zu begreifen. 12 Das Reich der Zeichen findet seine Bezeichnung als Semiosphäre 13 : Kultur ist - metaphorisch auf den Punkt gebracht - die Wirklichkeit der Zeichen. Kultur ist ein zeichenhaftes Phänomen, das systemischen Charakter besitzt und als offenes dynamisches, irreversibles tatsächlich existierendes System zu begreifen ist; sie umfaßt all die Phänomene und betrifft all die Aspekte, die auf Zeichenprozessen beruhen. Überall dort, wo Zeichen und also Bedeutungen (Interpretanten) auftreten, Diskurse generiert werden und Weltbilder greifen, hat man es mit dem System Kultur zu tun. 14 Das kultursemiotische Paradigma tritt mit ebendem Anspruch auf Universalität an, der die Hermeneutik ins Sperrfeuer der Kritik gebracht hat. Thomas A. Sebeok (1920-2001), mit Umberto Eco (1932-) und Roland Posner (1942-) einer der Wettermacher semiotischer Theoriebildung, beklagt, “daß die Semiotik vielfach fälschlicherweise mit dem Strukturalismus gleichgesetzt werde; dies schade der Disziplin insofern, als ihr universaler Anspruch, eine verbale und nonverbale Zeichentheorie der Kultur begründen zu wollen, verkannt werde und die Semiotik als eine inzwischen obsolete modische Strömung angesehen werde.” 15 In die gleich Kerbe schlägt Lasar Ossipowitsch Resnikow bereits 1964: “Wir definieren die Semiotik als die Wissenschaft von den sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichensystemen und meinen, daß der Gegenstand der Semiotik zu eng gefaßt wird, wenn man sie nur als Theorie der sprachlichen Zeichen oder als allgemeine Sprachtheorie auffaßt, denn dann verschwindet jeder Unterschied zwischen der Semiotik und der allgemeinen Sprachwissenschaft.” 16 Was diese Voten mit Blick auf das Interferenz- und Bedingungsverhältnis von Kultursemiotik und Linguistik zur Anschrift bringen, ist mit Händen zu greifen: The sign did not fail linguistics; linguistics have failed the sign. Anzufügen bleibt, dass Kultursemiotik sich gegen die Reduktion auf Kulturanthropologie zur Wehr setzt. Die Universalisierungsbestrebungen zielen auf eine eigentliche Biobzw. Zoosemiotik, die den “Schnittpunkt von Natur und Kultur” 17 umkreist. Ob der kultursemiotische Ansatz bei der Beantwortung der Kernfrage, “[w]ie menschliche Wahrnehmung vor sich geht, daß Zeichen, Dinge und Ereignisse in unserem Leben Bedeutung erlangen” 18 , dem aufgestellten Ideal gerecht werden kann, bleibt abzuwarten. 1.4 Rhetorik, Systemtheorie Skepsis ist da angesagt, wo das Denken des kulturellen Korpus in zeichentheoretischen Kategorien sich vor dem Hintergrund einer Strukturierung der Kultur in Analogie zur Zeichenstruktur vollzieht. Die Analogie tritt als Junktim in Erscheinung. ‘Kultur als Text’, lautet die skandierte Parole. Das diskurisve Feld, das damit der Bewirtschaftung anheim fällt, ist das rhetorische, genauer: das der Tropologie. 19 Die rhetorischen Implikationen der kultursemiotischen Bestrebungen sind im Zuge der breiten Rezeption, die die Texte Clifford Geertz’ 20 (1926-2006) erfahren haben 21 , zusehends in Vergessenheit geraten. Die Textanalogie weicht der Vorstellung eines substanzialisierten Textbegriffs. 22 Die Anmahnungen von Klaus Christophe Bourquin 6 Scherpe, Thomas Macho und Hartmut Böhme sind zustimmungspflichtig. 23 Zweitens offenbart die Kultursemiotik, etwa im programmatischen Aufsatz Roland Posners mit dem Titel Kultur als Zeichensystem: Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe, eine gewisse Resistenz in der Kenntnisnahme medien- und systemtheoretischer Überlegungen. Die Folge ist ein Rückfall hinter das Niveau letztgenannter Theoriebildungen. Auf der Suche nach Antwort auf die Frage, ob und inwiefern sich Kultur als Zeichensystem analysieren lässt, charakterisiert Posner die in Kulturen auftretenden Typen von Zeichenprozessen stichwortartig anhand von Beispielen. Die semiotischen Prozesse unterliegen dabei der Einteilung in Indikation, Signifikation und Kommunikation. 24 Die Klassifikation ist, unter Ausblendung von Ikonizität, eine Variation aus der Peirce’schen Tradition. Nicht die Auslassung des ikonischen Elementes beschert die Irritation. 25 Das irritierende Moment der Typologie ist dem zugrunde gelegten Kommunikationsmodell geschuldet, das mit Sendern, Botschaften und Empfängern operiert. 26 Kognitions-, System- und Medientheorien optieren dafür, dass die Frage, ob Kommunikation stattfindet oder nicht, nicht von der ‘Übertragung von Information’ 27 abhängt, sondern davon, was im Rezipienten geschieht. 28 Ob der Kapitän des einen Schiffes, um im Beispiel Posners zu bleiben, das “ostentativ schnelle[ ] Zufahren” des andern indexikalisch semiotisiert, als Anzeichen dafür, dass es offenbar eilt, oder kommunikativ, im Sinne von: ‘Mach mir Platz’, hängt allein von ihm ab. Im zweiten Fall kommt ein Mechanismus zum Tragen, den die Systemtheorie als Wahrnehmung der Differenz von Information 29 und Mitteilung 30 beschreibt. Allein: Die indexikalische Semiotisierung führt vor Augen, dass die systemtheoretische Differenz auf sie nicht applizierbar ist. Zwischen Nicht-Zeichen (Kognition, Information) und Zeichen (Kommunikation, Mitteilung) schiebt sich das Anzeichen (Indexikalität). Das gibt den Ausschlag, die Unterscheidung von Information und Mitteilung der semiotischen Ausdifferenzierung zu unterziehen. Semiotisierung 32 (von Information im definierten Sinne 33 ) zur Kommunikation unterliegt somit den Möglichkeiten zweier Anschlussselektionen: einer indexikalischen 34 und einer kommunikativen. 35 2. Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens Das Medium, das soziale Systeme konstituiert und autopoietisch prozessieren lässt, ist Sprache. Als Leitmedium kommunikativer Semiotisierung von Information fungiert das sprachliche Zeichen. Von der Frage nach der medialen Differenzlogik, die dieses konstituiert, sind die nachstehenden Ausführungen gerahmt. Die polemische Note, mit der Luhmann im Eingangsvotum das dekonstruktive Denken adressiert, täuscht über die favorisierte Positionsnahme hinweg, in der (Post)Strukturalismus und Systemtheorie kongruieren: dem Denken der Differenz. Die Ausleuchtung der Differenzen dreier Differenzkonzepte, des strukturalistischen, poststrukturalistischen und systemtheoretischen, lässt den Weg einschlagen, auf dem die Umreißung der Differenzialität des sprachlichen Zeichens erfolgen soll. 2.1 Struktur(alism)en 2.1.1 De Saussure Im Zusammenhang einer in vielen Belangen radikalen Umwertung linguistischer Bezugsgrößen - der Aufwertung der syngegenüber der diachronen Perspektive 36 , der Priorisierung Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 7 des Performanzcharakters der ‘parole’ gegenüber dem Systemcharakter der ‘langue’, der Sekundarisierung der Schrift als Repräsentation der Repräsentation gegenüber der Stimme - entfaltet das de Saussure’sche Programm eine Differenztypologie des sprachlichen Zeichens, deren bekannteste die Bilateraldifferenz von ‘signifiant’ und ‘signifié’ ist. 37 Sowohl zu Beginn des § 1 der ‘Allgemeinen Grundlagen’, der die ‘Natur des sprachlichen Zeichens’ in den Blick nimmt, als auch durch das Arbitraritätsaxiom (§ 2) reiht sich de Saussure in die kratyleische Tradition ein: H ERMOGENES : … Denn mich dünkt, welchen Namen jemand einem Dinge beilegt, der ist auch der rechte, und wenn man wieder einen andern an die Stelle setzt und jenen nicht mehr gebraucht, so ist der letzte nicht minder richtig als der zuerst beigelegte, wie wir unsern Knechten andere Namen geben. Denn kein Name irgendeines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen. 38 De Saussure übernimmt die von Hermogenes formulierte Konventionalität des Zeichens als Gegenthese zur Behauptung des Kratylos von der natürlichen Richtigkeit der Benennung. Der unilaterale, auf direkte Referenz abzielende Zeichenbegriff Platons (427-347 v. Chr.) findet Beanstandung. 39 Die Bilateraldifferenz des de Saussure’schen Modells ersetzt die Vorstellung einer Beziehung zwischen Zeichen und Referent durch das Verhältnis eines “Lautbild[es]” (Signifikant) und dazugehöriger Bedeutungsvorstellung 40 (Signifikat): Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild. Das sprachliche Zeichen ist also etwas im Geist tatsächlich Vorhandenes, das zwei Seiten hat und durch folgende Figur dargestellt werden kann 41 : Vorstellung Lautbild Die Darstellung bringt die Bilateraldifferenz in die Fassung einer in sich geschlossenen Einheit. Gegenläufig dazu betrachtet de Saussure einige Seiten weiter die Sprache jedoch ausschließlich relational, als ein Effekt und System von Differenzen: Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, d a ß e s in d e r S p r a ch e n u r Ve r s chi e d e n h eit e n gib t. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten o h n e p o s itiv e Ein z elgli e d e r. Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt, die Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben. Was ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in Gestalt der andern Zeichen um dieses herum gelagert ist [Hv. CB]. 42 Der Widerspruch, der durch die Bespiegelung der Zeichendarstellung an der zitierten Textstelle ins Bewusstsein tritt, ist manifest. Der Text widerschreibt der Visualisierung in dem Maße, wie die Visualisierung dem Text widerzeigt. Die visualisierte Form des sprachlichen Zeichens kehrt durch die Ausblendung des Kontextes, in dem sie figuriert, das Verhältnis der semiotischen Abstufung von Bedeutsamkeit, wie sie im letzten Satz des Zitats anklingt, ebenso um, wie sie durch die Ausschaltung des sie konstituierenden Differenzmilieus zusätz- Christophe Bourquin 8 lich jene Form von Differenzialität unterschlägt, die als zweite Komponente innerhalb der de Saussure’schen Differenztypologie fungiert. Diese trägt dem Umstand Rechnung, dass sprachliche Zeichen nicht nur in sich selbst differente Gebilde sind, sondern auch, mit dem Effekt Semiotizität konstituierender Funktion, in Differenz zu anderen Zeichen stehen. Den Aspekt kann man als Heterodifferenzialität charakterisieren. Eine Visualisierung des sprachlichen Zeichens, das Bilateral- und Heterodifferenzialität kombiniert, lässt sich auf folgenden Schematismus bringen 43 : … a’ b’ c’ d’ e’ f’ g’ … - - - - - - - … a b c d e f g … 2.1.2 Bloomfield, Greimas, Jakobson Bilateral- und Heterodifferenzialität erfahren im Zuge der Ausdifferenzierung strukturalistischer Ideen eine rege Rezeption. Der morphologische Strukturalismus à la Bloomfield (1887-1949) tomisiert die Signifikantenseite über Wurzel-, Endungsmorpheme und Affixe. 44 Das Zeichen zeigt sich unter dem Aspekt seiner Segmentierbarkeit (Partialdifferenz). 45 Semantische Probleme werden marginalisiert. 46 In der Pariser Schule 47 der strukturalen Semantik um Algirdas Julien Greimas (1917-1992) 48 , die die Effekte, die die Partialdifferenzen der Signifikanten auf die Signifkatseite ausüben, in den Fokus des Interesses treten lässt 49 , findet die Tendenz ihr Gegengewicht. Parallel zur Partialisierung der Bilateraldifferenz wird die Heterodifferenzialität in der Zwei-Achsen-Theorie der Sprache ausgebaut. 50 Heterodifferenzialitäten gelangen in die Registratur paradigmatischer und syntagmatischer Klassifikation, je nachdem ob die Differenzrelation über die Operation der Selektion erfolgt, d.h. über die Auswahl aus einem semantischen Feld nach dem Kriterium der Similarität, oder im Modus kombinatorischer Kontiguität. 51 Die Projektion der Ordnungsform des Statteinanders auf die Ordnungsform des Nacheinanders mündet in Roman Jakobsons (1896-1982) Poetikfunktion. 52 2.1.3 Derrida, Deleuze Die skizzierten Ausdifferenzierungen erfolgen vor dem Hintergrund des Vorhandenseins des sprachlichen Zeichens. De Saussures Argument, dass dasjenige, “[w]as ein Zeichen an Vorstellung oder Lautmaterial enthält, weniger wichtig [sei] als das, was in Gestalt der andern Zeichen um dieses herum gelagert ist” 53 , setzt den Zeichenbegriff voraus. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Voraussetzung bleibt unberührt. Die zeichentheoretische Reflexion setzt ein, ohne dass reflektiert wäre, was das Zeichen zum Zeichen (ge)macht (hat). Das Verdienst, die Tragweite der Problematik eigentlich erst erkannt zu haben, fällt Jacques Derrida und Gilles Deleuze (1925-1995) 54 zu. Die Kategorie, um die die Differenztypologie des sprachlichen Zeichens erweitert wird, ist die Wiederholung. Obschon Zeichen immer noch einmal wiederholt werden können, existiert, der französischen Argumentation zufolge, nicht zuerst das Zeichen, auf das sich Iterativität oder Iterabilität appliziert; vielmehr sind Zeichen Effekte der Wiederholung selbst. Wiederholung ist ein Differenzbegriff deshalb, weil sich von Wiederholung nur sprechen lässt, wenn mindestens zwei Zustände voneinander diskriminierbar sind. Jede Wiederholung verweist so auf die eigene Differenz. Für die Differenzialität des Zeichens heißt das, dass dieses nicht nur in Differenz zu anderen Zeichen Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 9 steht, sondern auch zu sich selbst, im Sinne der eigenen Wiederholungen. Bedingung von Heterodifferenzialität ist Autodifferenzialität. Gesetzt, dass das ‘Zeichen’ durch Wiederholung erst zum Zeichen wird, stellt sich die Frage, in welche Reflexionsfigur der Übergang vom ‘Zeichen’ zum Zeichen zu fassen ist. Derrida löst das Problem im Rahmen einer Theorie der ‘ursprünglichen Verspätung’: Der Begriff einer ‘ursprünglichen Verspätung’ ist paradox, aber notwendig. Gäbe es nicht vom Ursprung an (wann immer es Ursprung gibt) vom ‘ersten Mal’ an eine Differierung, so wäre das erste Mal nicht das ‘erste Mal’, denn ihm folgte kein ‘zweites Mal’; und wenn das ‘erste Mal’ das ‘einzige Mal’ wäre, so stünde es am Ursprung von gar nichts. In leicht dialektisch klingender Weise müßte man sagen, daß der erste nicht der erste ist, wenn es nach ihm keinen zweiten gibt. Also gelingt es dem ersten nicht, aus eigenen Kräften erster zu sein: der zweite muß ihm mit der ganzen Kraft seiner Verspätung helfen. Durch den zweiten ist der erste erster. Das ‘zweite Mal’ hat also einen gewissen Vorrang über das ‘erste Mal’, denn es ist vom ersten Mal an als notwendige Bedingung für den Vorrang des ersten Mals zugegen … 55 Der Priorisierung des Sekundären korrespondiert die Sekundarisierung des Primären. So eingängig die Überlegung ist, über den Mechanismus, der das ‘Zeichen’, das noch keines ist und das erst durch die “ganze[ ] Kraft” der “Verspätung” sowohl sich als auch seine(n) Nachfolger zu Selektionen erhebt, denen der Status der Semiotizität attestiert werden kann, schweigt sie sich aus. Durch den Einbau von Iterabilität in die semiotische Ausdifferenzierung der systemtheoretischen Differenz von Information und Mitteilung wird der Vorgang formalisierbar. Iterabilität erhöht die Wahrscheinlichkeit kommunikativer Semiotisierung von Information. Oder: Wiederholung von Information fungiert als Wahrscheinlichkeitsverstärker für das unwahrscheinliche Ereignis Kommunikation. 56 Die Konsequenzen, die sich aus der Kombination von Auto- und Heterodifferenzialität ergeben, lassen sich an der bereits eingeführten Matrix in erweiterter Form ablesen: … a’ b’ c’ d 1 ’ e’ f’ g’ … … h’ i j’ d 2 ’ k’ l’ m’ … - - - - - - - - - - - - - - … a b c d 1 e f g … … h i j d 2 k l m … … n’ o’ p’ d 3 ’ q’ r’ s’ … … t’ u’ v’ d 4 ’ w’ x’ y’ … - - - - - - - - - - - - - - … n o p d 3 q r s … … t u v d 4 w x y … “Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt”, so de Saussure, “die Sprache enthält … nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben.” 58 Sowohl Signifikant als auch Signifikat sind differenziell bestimmt. Für das Signifikat als ‘Bedeutungsträger’ bedeutet das, dass ‘Bedeutung’ nicht vorliegt, sondern differenziell erzeugt wird. Anders gesagt: d (’) 1-4 ist nicht in Kontexte gestellt und davon isolierbar, vielmehr konstituieren Kontexte d (’) 1-4 . Offensichtlich ist, dass die Kontexte von d (’) 1-4 divergieren. Wo ein Kontext beginnt und wo er endet, ist eine kontingente Setzung. Angesichts der Kontingenz semantischer Konsistenz ist Insistenz auf Konsistenz eine Verlegenheitsformel. Das Signifikat fällt durch die verschiedenen Signifikantenketten, in die es verstrickt ist, der Transformation anheim; es verändert 59 sich mit jeder Wiederholung seines Signifikanten. 60 Die Quintessenz, in die die Kombination von Auto- und Heterodifferenzialität einlenkt, zeigt ‘Sinnverschie- Christophe Bourquin 10 bung’ nicht als Prämisse, die man wählen kann oder nicht, sondern als Effekt der Differenzialität sprachlicher Medialität. 2.1.4 “différance”, kognitionstheoretisch Die Diskussion bereichert Jacques Derrida 61 um die Frage 62 , wie das sprachliche Differenzgeschehen zu dem steht, was als “différance” eingeführt wird: 1) Wie fange ich es an, von dem a der différance zu sprechen? Selbstverständlich kann sie nicht exponiert werden. Man kann immer nur das exponieren, was in einem bestimmten Augenblick anwesend, offenbar werden kann, was sich zeigen kann, sich als ein Gegenwärtiges präsentieren kann, ein in seiner Wahrheit gegenwärtig Seiendes, in der Wahrheit eines Anwesenden oder des Anwesens des Anwesenden. Wenn aber die différance das ist (ich streiche das “ist” durch), was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche. Sie gibt sich nie dem Gegenwärtigen hin. Niemandem. 63 2) Nach den Forderungen einer klassischen Begrifflichkeit würde man sagen, daß “différance” die konstituierende, produzierende und originäre Kausalität bezeichnet, den Prozeß von Spaltung und Teilung, dessen konstituierte Produkte oder Wirkung die différents oder die différences wären. 64 3) Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt. 65 4) Die différence, von der Saussure spricht, ist also selbst weder ein Begriff noch ein Wort unter anderen. Man kann dies a fortiori von der différance behaupten. Und dies führt dazu, die Beziehung zwischen beiden zu verdeutlichen. In einer Sprache gibt es nur Differenzen. Folglich kann taxinomisch eine systematische, statistische und klassifikatorische Bestandesaufnahme gemacht werden. … Andererseits sind diese Differenzen selbst wiederum Effekte. Sie sind nicht in fertigem Zustand vom Himmel gefallen; … Was sich différance schreibt, wäre also jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das “produziert”, was nicht einfach Tätigkeit ist. Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht einfach in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. 66 5) Behalten wir zumindest das Schema wenn nicht den Inhalt der von Saussure formulierten Forderung bei, so bezeichnen wir mit différance jene Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen “historisch” als Gewebe von Differenzen konstituiert. 67 6) Die Differenzen werden also von der différance “produziert” - aufgeschoben (différées). 68 7) Erste Konsequenz: die différance ist nicht. Sie ist kein gegenwärtig Seiendes, so hervorragend, einmalig, grundsätzlich oder transzendent man es wünschen mag. Sie beherrscht nichts, waltet über nichts, übt nirgends eine Autorität aus. Sie kündigt sich durch keine Majuskel an. Nicht nur gibt es kein Reich der différance, sondern diese stiftet zur Subversion eines jeden Reiches an. 69 8) Denn es gibt keinen Namen dafür, selbst nicht den der différance, die kein Name, die keine nominale Einheit ist und sich unaufhörlich in eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst. “Dafür gibt es keinen Namen”: diesen Satz in seiner ganzen Plattheit lesen. … Dieses Unbenennbare ist jenes Spiel, das nominale Effekte bewirkt, verhältnismäßig einheitliche oder atomare Strukturen, die man Namen, Ketten von Namenssubstitutionen nennt, und in denen zum Beispiel der nominale Effekt “différance” selbst herbeigeführt, wiedereingeschrieben wird, als blinder Einstieg oder blinder Ausgang immer noch Teil des Spieles, Funktion des Systems ist. Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 11 … Dieses “Wort” hat nichts Kerygmatisches mehr, wenn man nur seine Kleinschreibung (émajusculation) wahrnimmt. Den Namen des Namens in Frage stellen. 70 Dieses Schreiben ist kein Beschreiben, sondern umschreíbt, indem es úmschreibt. Was in erster Linie und in aller Drastik lesbar wird, ist dass sich “différance” dem Schreiben über “différance” einschreibt. Die Effekte der “différance” produzieren sich selbst als Effekt der “différance”. Die dabei genauer ins Blickfeld rückenden Differenzen sind ‘différence’ und “différance”, wie sie im vierten Votum, in der Auseinandersetzung mit de Saussure, gezogen werden. Derrida beginnt mit einer semantischen Analyse des französischen, lateinischen und griechischen Differenzbegriffs: Obgleich “différance” weder ein Wort noch ein Begriff ist, wollen wir eine vorläufige und approximative semantische Analyse versuchen, die uns bei dem, was auf dem Spiel steht, leiten wird. Es ist bekannt, daß das Verb “différer” (lateinisch differre) zwei Bedeutungen hat, die anscheinend sehr verschieden sind; … In diesem Sinne ist das lateinische differre nicht die einfache Übersetzung des griechischen diapherein, und dies wird für uns nicht folgenlos bleiben … Denn die Aufteilung des Sinns im griechischen diapherein umfaßt eine der beiden Bedeutungen des lateinischen differre nicht, nämlich die Tätigkeit, etwas auf später zu verschieben … Différer in diesem Sinne heißt temporisieren, heißt bewußt oder unbewußt auf die zeitliche und verzögernde Vermittlung eines Umweges rekurrieren … Die andere Bedeutung von différer ist die eher gewöhnliche und identifizierbare: nicht identisch sein, anders sein, erkennbar sein usw. 71 Was ‘différence’ und “différance” differenziert, ist nicht, dass weder das eine noch das andere “weder ein Begriff noch ein Wort” ist, sondern dass “différance” ‘différence’ in der Doppelsemantik von ‘verschieben’ verschiebt. 72 Die Wende der Saussure’schen ‘différences 73 in die derrideske “différance” stehe im Zeichen der Differenz von Präsenz und Dynamik. So jedenfalls lautet die gängige ‘communis opinio’ in der Rezeption, die sich nach Art von tibetanischen Gebetsmühlen durch die Forschungsliteratur zieht. 74 Im Schritt, den Derrida über de Saussure hinaus geht, vollziehe sich der Übergang von ‘Sinnpräsenz’ zu ‘Sinnverschiebung’. Die Losung ist ein kruder Vulgarismus. ‘Sinnverschiebung’ lässt sich über die Kombination von Auto- und Heterodifferenzialität des sprachlichen Zeichens bis ins Detail herleiten. Die zitierten Stellen verweisen auf “différance” im Sinne eines Ou-topos, der sie als Bedingung der Möglichkeit von ‘Sinnverschiebung’ denkbar macht. Die Effekte der ‘différences’ sind Effekte der “différance” (“Die Differenzen werden also von der différance “produziert” - aufgeschoben (différées).” 75 ), die “différance” die “konstituierende, produzierende und originäre Kausalität”, deren “konstituierte Produkte oder Wirkung die différents oder die différences wären” 76 , die “différance” eine “Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen “historisch” als Gewebe von Differenzen konstituiert” 77 , die “différance”, was den “Namen des Namens” 78 in Frage stellt. Mit der Überlegung kommt es zu einer Verschiebung der Bedingungskaskade um eine Position: “différance” als Bedingung der Möglichkeit von ‘Sinnverschiebung’ führt auf die Frage nach der Bedingung der Bedingung der Möglichkeit: Die Differenzen werden also von der différance “produziert” - aufgeschoben (différées). Wer oder was unterscheidet/ schiebt auf (diffère)? Mit anderen Worten, was ist die différance? Mit dieser Frage erreichen wir einen anderen Ort und eine andere Quelle der Problematik. Was unterscheidet/ schiebt auf (diffère)? Was ist die différance? 79 Christophe Bourquin 12 Der Vorschlag, als Ursache für die produzierten Differenzen “ein Subjekt oder eine Substanz, eine Sache im allgemeinen, ein irgendwo gegenwärtig oder selbst dem Spiel der différance entweichendes Seiendes” anzunehmen, wird zurückgewiesen, da “das Sprachsystem (das also nur aus Differenzen besteht) nicht eine Funktion des sprechenden Subjekts ist”, da “das Subjekt (Selbstidentität oder eventuell Bewußtsein der Selbstidentität, Selbstbewußtsein) in das Sprachsystem eingeschrieben, eine “Funktion” des Sprachsystems ist, nur zum sprechenden Subjekt wird, wenn es sein Sprechen, selbst in der sogenannten “Schöpfung”, selbst in der sogenannten “Überschreitung”, an das Vorschriftsystem der Sprache als System von Differenzen oder zumindest an das allgemeine Gesetz der différance angleicht, indem es sich nach dem Prinzip der Sprache (langue) richtet, von der Saussure sagt, sie sei “die menschliche Rede (langage) abzüglich des Sprechens (parole)”.” 80 Die Stelle streicht die Tragweite des ‘il n’y a pas de hors-texte’-Theorems in aller Deutlichkeit heraus, das, nur ‘en passant’, freilich einmal unter dem Aspekt seiner Selbstdekonstruktivität im Sinne von ‘il n’y a pas de ‘il y a’’ 81 zu denken anstünde. Und doch scheint sich “différance”, der Vorstellung von der Unhintergehbarkeit und Unüberschreitbarkeit der Sprache zum Trotz, der Sprache zu entziehen. Die Spekulation über die Eventualität einer Partialsprachlichkeit, in die eine Formulierung wie die “différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der [sc. sprachlichen] Differenzen” 82 einlenken könnte, untersagt jedoch unversehens ein Wortlaut wie: “Nicht nur gibt es kein Reich [Hv. CB] der différance, sondern diese stiftet zur Subversion eines jeden Reiches an.” 83 In noch tiefere Verrätselung führt, wenn dieses Reich, das keines ist, plötzlich als “alles” apostrophiert wird: “Es war bereits zu vermerken, daß die différance nicht ist, nicht existiert, kein gegenwärtig Seiendes (on) ist, was dies auch immer sei; und wir müssen ebenfalls alles vermerken, was sie nicht ist, das heißt alles[.]” 84 Ein Passus, der die Möglichkeit in sich birgt, das Problem nicht über die Differenz von Sprache und Nichtsprachlichkeit, nicht über die Grenze von einem ‘Innen’ des Textes und seinem ‘Außen’ erneut anzugehen, nimmt sich wie folgt aus: Da es keine Präsenz vor und außerhalb der semiologischen Differenz gibt, läßt sich, was Saussure über das Sprachsystem schreibt, auf das Zeichen im allgemeinen ausdehnen: Die Sprache ist erforderlich, damit das Sprechen verständlich sei und seinen Zweck erfülle (produise tous ses effets). Das Sprechen aber ist erforderlich, damit die Sprache sich bilde; historisch betrachtet, ist das Sprechen das zuerst gegebene Faktum. 85 Was interessiert, ist nicht die Differenz von Sprechen und Sprache, ist nicht das Problem, wie die Sprache das Sprechen regelt, nachdem das Sprechen die Sprache gesprochen hat, ist nicht die Frage nach der Entdifferenzierung der Ausdifferenzierung des Sprechens, sondern allein jener Aspekt des Sprechens, den man als ‘Bezeichnen’ bezeichnet, ohne dass die Frage danach, ‘was’ bezeichnet bzw. bezeichnet wird, in Subjektsphilosophien alteuropäischen Typs zurückfallen lässt. Die konstruktivistische Kognitionsbiologie der evolutionären Erkenntnistheorie 86 , auf der die Systemtheorie fußt, betont, dass es keinen Unterschied macht, ob von einem Beobachter oder einer Beobachtung gesprochen wird. Die Operation, die ihn/ sie erzeugt, ist die gleiche. Sie kommt zustande durch das Einführen einer Unterscheidung. Durch Unterscheiden bringt sich Beobachten hervor. 87 Was Beobachten konstituiert, sind nicht ‘Dinge’, sondern Differenzen. 88 ‘Beobachten’, als differenztheoretische Operation, differenziert auch das Differenzsystem der Sprache. 89 Der springende Punkt ist, dass das Bezeichnen einer Unterscheidung im Moment des Vollzugs nur die eine Seite dieser Unterscheidung bezeichnet. Die andere fungiert, als blinder Fleck der Beobachtung, unbeobachtet. Um bezeichnet zu werden, müsste Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 13 sie ihrerseits, als beobachtete Beobachtung, Komponente einer Unterscheidung werden. 90 Kommt es zur Beobachtung der beobachteten Beobachtung, handelt es sich um eine Beobachtung dritter Ordnung. Um zu beobachten, was eine Beobachtung dritter Ordnung nicht sehen kann, bedarf es einer Bezeichnung der Beobachtung der Beobachtung der beobachteten Beobachtung. Ein unabschließbarer Prozess bahnt sich an, ohne dass eine Hierarchie der Beobachtungs- und Bezeichnungsebenen sichtbar würde. Was aus der Überlegung hervorgeht, ist nichts anderes, als dass die Bezeichnung einer Unterscheidung den blinden Fleck der nichtbezeichneten Seite dieser Unterscheidung immer schon in sich trägt. Jede Bezeichnung stellt ein unausgeschöpftes Unterscheidungspotential zur Verfügung, auf das mit einer weiteren Bezeichnung eingetreten werden kann, wobei die das unausgeschöpfte Unterscheidungspotential der ersten Bezeichnung ausschöpfende zweite Bezeichnung ihrerseits ein unausgeschöpftes Unterscheidungspotential mit sich führt. Das unausgeschöpfte Unterscheidungspotential, der blinde Fleck in der Bezeichnung einer Unterscheidung, “ist kein gegenwärtig Seiendes, so hervorragend, einmalig, grundsätzlich oder transzendent man es wünschen mag.” 91 Es ist “der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen.” 92 Wo sich Derridas Ausführungen aufgrund ihrer mediologischen Engführung, die keinen anderen Fokus auf Sprache mehr zulässt als Sprache, im hermeneutischen Dunkel verlieren, bringt eine kognitionsorientierte Bespiegelung des sprachlichen Zeichens die beobachtungstheoretische Komponente der “différance” in Sicht: Sie ist eine Bezeichnung für die Beobachtung des blinden Flecks der bezeichneten Beobachtung. 2.2 Rhetorik der Differenz - Differenz der Rhetorik Das Bezeichnende, der Signifikant, morphologisch partialisierbar und durch Auto- und Heterodifferenzialität in die Sphäre der Semiotizität aufrückend, verfügt über zwei Formen der Präsenz von Absenz: über das sich seinem semantischen ‘Gehalt’ nach permanent ‘verschiebende’ Signifikat, die ‘Rückseite’ der Bilateraldifferenz, um die de Saussure’sche Tropik von den “zwei Seiten” 93 einer Münze zu bemühen 94 , und über das unausgeschöpfte Unterscheidungspotential der nichtbezeichneten Seite der über den Signifikanten bezeichneten Unterscheidung, die ‘différence’ der “différance”. Die Pentadifferenzialität des sprachlichen Zeichens ist um einen letzten Differenztyp zu erweitern. Der § 2 der ‘Allgemeinen Grundlagen’, der die Veränderlichkeit des Zeichens zur Sprache bringt, liefert dazu das Einfallstor: [D]as Zeichen wird umgestaltet, weil es sich ununterbrochen in der Zeit fortpflanzt. … Zunächst darf kein Mißverständnis bestehen über den Sinn, der hier dem Wort Umgestaltung beigelegt wird. Es könnte den Eindruck erwecken, als handle es sich speziell um phonetische Veränderungen, welche die Bezeichnung erleidet, oder um Veränderungen des Sinnes, welche die bezeichnete Vorstellung betreffen. Diese Anschauung wäre unzureichend. Was auch immer die Faktoren der Umgestaltung sein mögen, ob sie einzeln oder in Verbindung wirken, sie laufen immer auf ein e Ve r s chi e b u n g d e s Ve r h ält ni s s e s zwi s c h e n d e m B e z eic h n e t e n u n d d e r B e z e ic h n u n g . Dafür einige Beispiele: das lat. necâre “töten” wurde franz. noyer “ertränken”. Lautbild und Vorstellung sind beide geändert; aber es führt nicht weiter, wenn man diese beiden Seiten der Erscheinung unterscheidet; vielmehr genügt es, für das Ganze festzustellen, daß das Band zwischen Vorstellung und Bezeichnung gelockert ist, und daß eine Verschiebung ihres Verhältnisses eingetreten ist. 95 Die “Faktoren”, die dazu führen, dass das sprachliche Zeichen sich “umgestaltet”, sind Lautgesetze, von deren Wirkung die Signifikantenkette erfasst wird, und die semantischen Christophe Bourquin 14 Kontexte, in die diese zu liegen kommt. Die Reflexionsfigur der ‘Sinnverschiebung’, ob im neostrukturalen oder im Sinne des diachronen Sprachwandels, ist der tropische Effekt, der aus dem Vergleich der Kontexte resultiert, in denen das sprachliche Zeichen steht. Ein Argumentationsgang Friedrich Nietzsches (1844-1900), der darauf abzielt, dass die Genese des sprachlichen Zeichens ebenso tropisch motiviert ist wie die Bezeichnung für seine Transformation, sowohl ‘Sinnverschiebung’ als auch “Verschiebung ihres Verhältnisses” geben sich als Metaphern der Metonymie zu lesen 96 , formalisiert die Operation semiotischer Iterabilität (Autodifferenzialität) auf die Bedingung ihrer Möglichkeit: Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. 97 Der Begriff entsteht aus einem Gleichsetzen des Nichtgleichen: d.h. durch die Täuschung, es gäbe ein Gleiches, durch die Voraussetzung von Identitäten: also durch falsche Anschauungen. Man sieht einen Menschen gehen: nennt es “gehen”. Jetzt einen Affen, Hund: sagt auch “gehen”. 98 Mit der Übertragung von “gehen” vom Menschen auf den Affen und von da aus weiter auf den Hund öffnet sich der Blick für die Tropologie der Operation, die das “Nicht-Gleiche[ ]” “[g]leichsetz[t.]” “Nun aber ist jeder Begriff eine Metonymie und in Begriffen geht das Erkennen vor[.]” 99 Die Genese des Begriffs wird auf den rhetorischen Begriff der Trope gebracht. Den Begriff der Trope konstituiert die gleiche Operation, die den Tropierungsvorgang in der Genese des Begriffs umreißt: “Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat.” 100 Die Konsequenz aus der Funktionsäquivalenz der Operation, die die Begrifflichkeit der Tropik und die Tropik der Begrifflichkeit generiert, zieht Nietzsche bereits in der Rhetorikvorlesung des Wintersemesters 1872/ 3: Als wichtigstes Kunstmittel der Rhetorik gelten die Tropen, die uneigentlichen Bezeichnungen. Alle Wörter aber sind an sich und von Anfang an, in Bezug auf ihre Bedeutung, Tropen. … In summa: die Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer ‘eigentlichen Bedeutung’, die nur bei speziellen Fällen übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein. 101 Paul de Man (1919-1983), eine der Galionsfiguren des dekonstruktiven Denkens, übernimmt Nietzsches sprachtheoretisches Basalaxiom der tropischen Grundverfasstheit der Sprache: Tropen sind weder ästhetisch, als Ornamente, noch semantisch, als figurative Bedeutung, die sich von buchstäblichen, eigentlichen Benennungen herleiten, zu verstehen. Eher ist das Umgekehrte der Fall. Die Trope ist keine abgeleitete, marginale oder anormale Form der Sprache, sondern das linguistische Paradigma par excellence. Die figurative Struktur ist nich ein Sprachmodus unter anderen, sondern sie zeichnet die Sprache insgesamt aus. 102 Jacques Derrida, analog zu Nietzsche und de Man, schreibt in Die weiße Mythologie gegen die Vorstellung an, dass es “eine Reinheit der anschaulichen Sprache am Ursprung der Sprache gegeben habe und daß das etymon eines einfachen Sinnes noch immer, obwohl verdeckt, bestimmbar sei.” 103 Das Sprachmodell, das sich der epistemologischen Nobilitierung und Totalisierung des Metaphorischen verschreibt, reicht diskurisv weit hinter Nietzsche zurück, den die poststrukturalistische Theoriebildung zu ihrem philosophischen Gewährsmann erkürt. 104 Schon in Jean Pauls (1763-1825) Vorschule der Ästhetik ist zu lesen: Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 15 Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. 105 An der Rhetorizität der rhetorischen Terminologie, von Gotthold Ephraim Lessing 106 (1729-1781), über Nietzsche 107 bis zu Nelson Goodman 108 (1906-1998), lässt sich beobachten, wie sich der Einsicht in die tropische Unhintergehbarkeit der Sprache die Einsicht in die tropische Unhintergehbarkeit der Tropologie zur Seite stellt. Die Leitdifferenz von ‘ordo naturalis’ und ‘artificialis’ innerhalb der ‘elocutio’, dem dritten der fünf rhetorischen Performanzstadien, stellt heraus, dass der antiken Rhetorik genau diese Pointe verschlossen bleibt. Der ‘ornatus’ des ‘ordo artificialis’ wird in Formen des Redeschmucks unterteilt, die aus Wortverbindungen (‘ornatus in verbis coniunctis’) einerseits und aus Einzelwörtern (‘ornatus in verbis singulis’) andernteils bestehen. Über die Änderungskategorien der ‘adiectio’ (Hinzufügung), ‘detractio’ (Weglassung), ‘transmutatio’ (Umstellung) und ‘immutatio’ (‘Ersetzung’) tritt die ornative Architektur in die Phase ihrer weiteren Systematisierung: Dadurch stehen die Tropen dem Redeschmuck in der Wortverbindung, dem ornatus in verbis coniunctis gegenüber, als welchen man gewöhnlich die Wortfiguren bezeichnet. Die abstrakteste Bestimmung eines Tropus ist nun die, daß ein Wort im Textzusammenhang durch ein anderes Wort ersetzt wird. Es ist bei den Tropen also endlich die vierte Änderungskategorie wirksam, die Ersetzung. Die Differenz zwischen der Kategorie der Ersetzung und den anderen drei Änderungskategorien der Hinzufügung, der Umstellung und der Weglassung, nach welchen sich die Wortfiguren einteilen lassen, macht im Grunde auch den vieldiskutierten Unterschied von Tropen und Figuren überhaupt aus. Das ersetzte Wort wird im Lateinischen als verbum proprium bezeichnet, als eigentlicher Ausdruck, und das ersetzende Wort als tropischer, als uneigentlicher oder als übertragener Ausdruck. … Die zehn Tropen sind also nichts anderes als zehn verschiedene Namen für unterschiedliche Weisen der Ersetzung. Sie bezeichnen aber nicht so sehr den Akt der Ersetzung, sondern benennen und regeln vielmehr das Verhältnis zwischen ersetzendem und ersetztem Wort. Das ersetzte Wort verschwindet ja nicht einfach, sondern bleibt über das ersetzende, neue Wort weiterhin semantisch aktiv und ›begründet‹ so erst die tropische Nuancierung. Wenn es wirklich nur ›ersetzt‹ würde, gäbe es keinen Grund mehr, von einem Tropus zu reden. Tropen sind Differenzbegriffe. 109 Die differenzielle Energie des Tropus bringt sich zunächst als Effekt in der Differenzterminologie 110 zur Anschrift, die seine Periphrase produziert. In Wolfram Groddecks Bezeichnung der Tropen als “Differenzbegriffe” ist ‘in nuce’ enthalten, was diesen Effekt motiviert: die Strukturaffinität des Tropus zum sprachlichen Zeichen. Sprachliche Zeichen sind Differenzgebilde. Tropen sind “Differenzbegriffe” deshalb, weil sie sprachliche Zeichen sind. Ein Vergleich der ihrem Kern nach von Aristoteles (384-322 v. Chr.) begründeten Substitutionstheorie der Metapher 111 , derzufolge “die Metapher ein eigentlich gemeintes Wort [substituiert] und … ohne Bedeutungsverlust gegen das eigentliche Wort ausgetauscht werden [kann]” 112 - eine Vorstellung, der Groddeck zu Recht entgegen hält -, mit der in der Scholastik entwickelten, ebenfalls auf Aristoteles zurückgehenden Definition des Zeichens als ‘Stellvertreter’ (‘aliquid stat pro aliquo’) führt vor Augen, dass der Tropus mit dem (sprachlichen) Zeichen die wichtigste Eigenschaft teilt: die Eigenschaft nämlich, etwas (Absentes) präsent zu machen, ohne dieses etwas selbst zu sein. 113 Der Unterschied zwischen der Bilateral- und der Tropendifferenz des sprachlichen Zeichens, womit der sechste Differenztyp benannt ist, besteht darin, dass die Relation von Bezeichnendem und Bezeichnetem arbiträr, die tropische Christophe Bourquin 16 Relation von ‘Ersetzendem’ und ‘Ersetztem’ bei allen Tropen, das Symbol im rein rhetorischen Sinne als Neukodierung des Zeichens unter dem Gesichtspunkt der Konventionalität ausgenommen, semantisch motiviert ist. Die Systematisierung des semantischen Bezugs der Metapher als ‘µ ’ “entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine andere durch Analogie” 114 im aristotelischen oder von ‘Beseeltem’ auf ‘Beseeltes’, von ‘Unbeseeltem’ auf ‘Unbeseeltes’, von ‘Unbeseeltem’ auf ‘Beseeltes’ im quintilianischen Sinne 115 und die Umschreibungen der Tropen generell, etwa der Metapher und Metonymie als ‘Sprung-’ und ‘Grenzverschiebungs-’, ‘Similaritäts-’ und ‘Kontiguitäts-’, ‘Ähnlichkeits-’ (‘similitudo’) und ‘Nachbarschafts’trope (‘vicinitas’) sind das (tropologische) Geschäft der Übertragungs- und Tropentypologien. Die Strukturverwandtschaft von Bilateral- und Tropendifferenz ist, in der nochmaligen Rückblendung auf Nietzsche, eine genetische. Die Trope konstituiert die gleiche Operation wie den Begriff: das “Gleichsetzen des Nicht-Gleichen”. In der Operation findet nicht nur die Vergleichstheorie der Metapher ihre Grundlage, die Quintilian 116 (35-96) im Anschluss an Aristoteles’ (384-322 v. Chr.) berühmten Vergleich des Vergleichs und der Metapher anhand von Achilles und dem Löwen 117 aus dem zwanzigsten Gesang der Ilias 118 ausbaut 119 und die die rhetorische Genese der Metapher aus dem Vergleich durch die Ellipse der Vergleichspartikel und des ‘tertium comparationis’ herleitet, sondern auch die Spekulationen über die Genese der Metapher infolge der Insuffizienz des Lexikons, wie sie von Cicero 120 (106-43 v. Chr.) formuliert werden: “Anfangs sind Metaphern geschaffen worden, weil der Mangel und die Armut (an Worten) dazu zwang. Später haben sie sich verbreitet wegen ihres angenehmen und erfreulichen Wesens. Denn wie die Kleidung anfangs erfunden wurde, um uns gegen Kälte zu schützen, dann aber auch benutzt wurde, um den Körper zu schmücken und ihm Würde zu verleihen, so wurde auch die Übertragung eines Wortes aus Not eingeführt und dann zum Vergnügen wiederholt.” 121 Quintilian knüpft daran an: “die Blumen dürsten, der Wald stirbt - was sollten wir sonst sagen? ” 122 Von Quintilian zu Nietzsche ist nur ein Schritt: “Man sieht einen Menschen gehen: nennt es “gehen”. Jetzt einen Affen, Hund: sagt auch “gehen”. [“was sollten wir sonst sagen? ”]” 123 2.2.1 Ab- und Anschluss Es verbleibt die Frage, was die (Optionalität der) Tropierung des sprachlichen Zeichens konstituiert. Uwe Spörl sieht in allen Modi des rhetorischen ‘ornatus’ eine “(bewußt herbeigeführte und inszenierte) Abweichung von der sprachlichen Normalform, die auf der Ebene der Semantik als Austausch (immutatio) beschrieben werden kann: Ein eigentlicher Ausdruck ‘a’ wird durch einen uneigentlichen Ausdruck ‘b’ ersetzt.” 124 Die Argumentation operiert sowohl vor dem Hintergrund der Differenz von ‘ordo naturalis’ (“Normalform”, “eigentlicher Ausdruck”) und ‘ordo artificialis’ (“immutatio”, “uneigentliche[r] Ausdruck”) als auch den Implikaten der Stilometrie. Die Rückbindung der Leitdifferenz der klassischen Rhetorik an die stilometrische Differenz von Dominanz und Devianz, wobei sich die semantische Dominanz, über die ein sprachliches Zeichen, der Theorie zufolge, verfügt, in Form quantitativ messbarer Frequenz niederschlagen soll, greift zum einen zu kurz, weil sie die Relativität des Standortes ausblendet, von dem aus das sprachliche Zeichen in Augenschein genommen wird. Damit wird die Kontingenz des kontextuellen Feldes marginalisiert, das auf der Achse der Diachronie der stilometrischen Bewirtschaftung anheim fällt; sie greift zum andern zu kurz, weil sie übersieht, dass die Emergenz semantischer Konventionalisierung selbst ein Effekt tropischer Demergenz ist. Was Nietzsche, um ihn noch einmal zu Worte kommen zu lassen, Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 17 in metatropologischer Form als Antwort auf die Frage nach dem Begriff der “Wahrheit” gibt, gilt ebenso für das Begriffspaar der ‘(Un)Eigentlichkeit’: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. 125 Unter diachronem Gesichtspunkt erweist sich tropische Demergenz, das “[E]ntfärben” der “Metapher” “zum eigentlichen Ausdruck” in Jean Paul’scher Diktion 126 , als Bedingung der Möglichkeit der Emergenz semantischer Konventionalisierung, worunter auch die Emergenz der rhetorischen Trope fällt. “Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer ‘eigentlichen Bedeutung’, die nur bei speziellen Fällen übertragen würde, kann [nur dann] die Rede sein”, wenn “deren eigenste Natur” 127 “vergessen” bzw. eine konventionalisierte Semantik 128 erinnert wird. Nicht unähnlich zu Uwe Spörl definiert Gerhard Kurz die Metapher als “eine Abweichung … vom dominanten Gebrauch eines Wortes”, votiert im gleichen Schreibzug allerdings dafür, dass “die metaphorische Bedeutung dabei nicht einfach aus der wörtlichen Bedeutung abgeleitet [wird], sondern aus dem Verständnis der ganzen Situation, des ganzen Kontextes” 129 erzeugt wird. Der Nachsatz steht im Kontext einer Metapherndiskussion, die unter dem Signet der Interaktionstheorie in den 60er und 70er Jahren einigen Staub aufwirbelt. 130 Die Interaktionstheorie kündigt der Substituions- und Vergleichstheorie der Metapher ebenso die Gefolgschaft auf, wie sie mit der Vorstellung bricht, dass Tropen zum ‘ornatus in verbis singulis’ gehören. Ein singuläres sprachliches Zeichen, z.B. ‘Herz’, so das einleuchtende Argument, ist weder eine Trope noch keine. Die Frage, ob das Wort ‘in der Bedeutung’ eines Pumporgans zur Aufrechterhaltung der Blutzirkulation oder als Bezeichnung für die/ den Geliebte(n) ‘steht’, ist kontextabhängig. Die linguistische Bezugsgröße, von deren Seite man sich die Beantwortung der Frage verspricht, ist der Satz. 131 Paul Ricoeur (1913-2005): “Die Metapher gehört zur Semantik des Satzes, noch bevor sie die Semantik des Wortes betrifft; die Metapher stiftet Sinn nur innerhalb einer Aussage; sie ist selber ein Phänomen der Prädikation.” 132 Die Überlegung lässt sich vor dem Hintergrund der entwickelten Differenztypologie formalisieren. Unter differenztheoretischem Gesichtspunkt ist der Kontext, in dem ein sprachliches Zeichen figuriert, das Milieu seiner Heterodifferenzialität. Die Bedingung der Möglichkeit der Tropierung des sprachlichen Zeichens liegt in seinem heterodifferenziellen Umfeld begründet. Eine Stelle aus Nietzsches Zarathustra (Von den Dichtern) erbringt den Aufweis: “Seit ich den Leib besser kenne, - sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger - ist mir der Geist [1] nur noch gleichsam Geist [2]; und alles da “Unvergängliche” - das ist auch nur ein Gleichniss.” 133 Im Übergang vom “Geist [1]” zum “Geist [2]” leitet sich die Tropierung von letzterem in die Wege. Bedingung dafür, dass “Geist [2]” als lat. ‘phasma’ (‘Gespenst’) und nicht als lat. ‘animus’ gelesen wird, ist “Geist [1]”, den die Lektüre, gerade im heterodifferenziellen Verbund mit der für die abendländische Tradition wirkmächtigen Leitdifferenz von ‘corpus’/ ‘animus’ (“Leib”/ “Geist”), im letzteren Sinne semantisiert. Nietzsches Satz, der nicht umsonst in einem poetischen Text steht, ist unter tropologischem Gesichtspunkt ein Spezialfall. Der figurale Kontext erzwingt die Tropierung des sprachlichen Zeichens “Geist [2]”. Die Christophe Bourquin 18 Anapher generiert die Energie, die sich im tropischen ‘Sprung’ vom “Geist” (‘animus’) zum “Geist” (‘phasma’) freisetzt. Die Abklärung der Mechanismen, die Tropierungsereignisse im sprachlichen Selektionsgeschehen in Gang setzen, und die Frage nach der Beschaffenheit der Kontexte, entlang derer die Lektüreinstanz die Tropierung eines sprachlichen Zeichens einleitet oder nicht oder gar einzuleiten gezwungen ist, wie hier, verlangen nach einer gesonderten Analyse. Die Abschlussbemerkung kann hier nicht mehr als die Anschlussstelle für eine solche Untersuchung markieren. Sie hätte die sechs Ebenen der Differenz, die dem Rahmen des sprachlichen Zeichens eingezogen sind - Bilateral-, Hetero-, Partial-, Auto-, “différance”- und Tropendifferenz - nicht mehr unter dem Gesichtspunkt einer heuristischen Systematik in den Blick zu nehmen, sondern unter der Systematik, die diese Heuristik entfalten lässt. Anmerkungen 1 N. Luhmann: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Ders.: Aufsätze und Reden. O. Jahraus (Hg.). Stuttgart 2004, 262; Für einen grundsätzlichen Vergleich der beiden Paradigmen vgl. O. Jahraus: Theorieschleife: Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie. Wien 2001, 49: “Als Hypothese für den Vergleich zur Systemtheorie läßt sich formulieren: Die Systemtheorie löst ein Programm der Dekonstruktion ein - aber auf eine Weise, die sich die Dekonstruktion nicht hätte träumen lassen, aber mit weitreichenden theoriebautechnischen Konsequenzen.” 2 M. Luserke-Jaqui: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Göttingen 2002, 19. 3 L. Somani: Semiotik und Hermeneutik im interkulturellen Rahmen: Interpretationen zu Werken von Peter Weiß, Rainer Werner Fassbinder, Thomas Bernhard und Botho Strauß. Frankfurt a.M. 1998, 70: “Hegel und Heidegger folgend betont Gadamer, daß die hermeneutische Erfahrung auf der “Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung” beruht und auf der dem sozialen Leben entsprechenden “Gesprächsgemeinschaft”, von der nichts ausgeschlossen werden kann. Der dritte Teil von “Wahrheit und Methode” skizziert eine “Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache”: Zwar ist der menschliche Sprachgebrauch endlich, da er immer durch eine bestimmte Situation bedingt ist, aber die verbale Sprache besitzt eine potentielle Unendlichkeit in der Sinnentfaltung. In dieser logozentrischen Auffassung, die auf Augustinus zurückgeht, wurzelt Gadamers These des Universalitätsanspruchs der Hermeneutik.” Vgl. auch J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: Ders.: Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M. 1985, 331ff. 4 J. Derrida: De la grammatologie. Paris 1967, 142. 5 H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 3 1972, 478. 6 E. Holenstein: Von der Hintergehbarkeit der Sprache. Kognitive Unterlagen der Sprache. Frankfurt a.M. 1980, 11: “Seit gut zwei Jahrzehnten spricht man in der Philosophie von einer “linguistischen Wende”. Die Wende basiert auf der These, daß die Sprache nicht mehr nur als ein Gegenstand der Philosophie neben anderen, etwa der Natur, der Geschichte, der Kunst, der Mathematik, anzusehen ist, mit denen sich sogenannte Bindestrich- Philosophien, philosophische Disziplinen zweiten Ranges, befassen mögen, sondern als eine Bedingung von Erkenntnis überhaupt als erster Gegenstand einer prima philosophia. Im deutschen Raum hat sich für diese transzendentale Rolle der Sprache ein angeblich auf Nietzsche zurückgehendes Wort durchgesetzt, für das man in anderen Sprachen Mühe hat, ein konzises Äquivalent zu finden. Es geht die Rede von der Nichthintergehbarkeit der Sprache.” 7 R. Schustermann: Vor der Interpretation: Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus. Übers. v. B. Reiter. Wien 1996, 87ff. 8 D. Bachmann-Medick: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1996, 9f.: “Kultur gilt in der interpretativen Kulturanthropologie nicht mehr nur als einheitliches Gesamtgefüge, das in der Summe von Normen, Überzeugungen, kollektiven Vorstellungen und Praktiken aufgeht. Kultur ist vielmehr eine Konstellation von Texten, die - über das geschriebene oder gesprochene Wort hinaus - auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen usw. verkörpert sind. Solche Ausdrucksformen sind höchst aufschlußreich, wenn es darum geht, das Netzwerk historischer, sozialer, geschlechtsspezifischer Beziehungen im Licht ihrer kulturellen Vertextung, Symbolisierung und Kodierung zu rekonstruieren.” Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 19 9 Ein erster Höhepunkt der ‘writing culture’-Debatte dürfte die Tagung vom April 1984 im amerikanischen Santa Fe bzw. der zwei Jahre später erschienene Tagungsband (J. Clifford, G. Marcus (Hgg.): Writing culture. The poetics and politics of ethnography. Berkeley 1986) gewesen sein; Vgl. H. Turk: Philologische Grenzgänge. Zum Cultural Turn in der Literatur. Würzburg 2003. 10 I. Bystøina: Semiotik der Kultur: Zeichen - Texte - Codes. Tübingen 1989; J. Bernard, G. Withalm (Hgg.): Kultur und Lebenswelt als Zeichenphänomene: Akten eines Internationalen Kolloquiums zum 70. Geburtstag von Ivan Bystøina und Ladislav Tondl. Wien, Dezember 1994. Wien 1998; H.J. Silverman (Hg.): Cultural semiosis. Tracing the signifier. New York 1998; U. Wirth: Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce. Frankfurt a.M. 2000; M. Fleischer: Kulturtheorie: systemtheoretische und evolutionäre Grundlagen. Oberhausen 2001, 67: “Roland Posner geht in seinem Ansatz generell von zwei Disziplinen aus, in denen der Kulturbegriff und aber auch der Gegenstand als solcher eine zentrale Rolle spielen … Eine semiotisch orientierte Kulturforschung beginnt - so Posner - mit Ernst Cassirer in den 20er Jahren mit den Arbeiten über symbolische Formen als Gegenstand einer Semiotik.” E. Bisanz: Kulturwissenschaft und Zeichentheorien. Zur Synthese von Theoria, Praxis und Poiesis. Münster 2004. 11 C. Lenk: Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur. In: R. Glaser, M. Luserke (Hgg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Darmstadt 1996, 116: “Mit den frühen achtziger Jahren begann sich in den Kulturwissenschaften (genauer: in den sich als solche verstehenden Disziplinen wie Volkskunde, Kulturanthropologie, Ethnologie) ein Verständnis von Kultur durchzusetzen, das verkürzt als ein kultursemiotisches bezeichnet werden darf.” 12 Vgl. H. Schalk: Umberto Eco und das Problem der Interpretation: Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik. Würzburg 2000, 59ff. 13 H. Sottong, M. Müller: Zwischen Sender und Empfänger. Eine Einführung in die Semiotik der Kommunikationsgesellschaft. Bielefeld 1998, 19ff. 14 M. Fleischer: Kulturtheorie: systemtheoretische und evolutionäre Grundlagen. Oberhausen 2001, 307. 15 Zit. n. H. Schalk: Umberto Eco und das Problem der Interpretation: Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik. Würzburg 2000, 67. 16 L.O. Resnikow: Erkenntnistheoretische Fragen der Semiotik. Übers. v. W. Winkler. Berlin 1968, 13; Vergleichbar mit Y. Tobin: Semiotics and linguistics. New York 1990, 6: “Semiotics includes visual and verbal as well as tactile and olfactory signs (all signs or signals which are accessible to and can be perceived by all our senses) as they form code systems which systematically communicate information or messages in litteraly every field of human behaviour and enterprise.” 17 Vgl. T.A. Sebeok: Theorie und Geschichte der Semiotik. Übers. v. A. Eschbach. Reinbek bei Hamburg 1979, 79ff. 18 E. Waniek: Was bedeutet Bedeutung? Beiträge zu einer transdisziplinären Semiotik. In: Dies. (Hg.): Bedeutung? Für eine interdisziplinäre Semiotik. Wien 2000, 9. 19 Auf diese kulturelle Textmetaphorologie hinweisend, schreibt Doris Bachmann-Medick: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1996, 10: “Ziel ist es, im Horizont der Metapher von Kultur als Text Zugang zu den Selbstbeschreibungsdimensionen einer Gesellschaft zu gewinnen. Erst indem man auch Handlungen, Ereignisse und soziale Situationen als “Texte” betrachtet, werden sie - über ihre Situationskontingenz hinaus - für den kulturellen Prozeß der Objektivierung von Bedeutungen erschlossen.” 20 Vornehmlich selbstredend “Deep play”: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: C. Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1993, 202ff. 21 Vgl. P. Wiechens: Das Prinzip Überschreitung. Clifford Geertz und die Konstitution der Interpretativen Anthropologie. Karlsruhe 2000, 10, Fn. 1. 22 Vgl. C. Lenk: Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur. In: R. Glaser, M. Luserke (Hgg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Darmstadt 1996, 118f.: “Die Idee, daß soziale Handlungen sich wie Texte lesen und hermeneutisch deuten lassen, übernimmt Geertz dabei von Paul Ricoeur. … Anders als Ricoeur geht Geertz aber noch einen Schritt weiter. Kultur, so seine Folgerung, kann nicht nur wie ein Text gedeutet und von ihrer Struktur her verstanden werden, sondern ist ein Text, den jene schreiben, die innerhalb dieser Kultur handeln. Geertz trifft sich in dieser Hinsicht mit der Kultursemiotik, deren Konstituens, so Günter Bentele, darin gesehen werden kann, “daß alle kulturellen Prozesse Zeichenprozesse sind und daß alle kulturellen Produkte als Texte betrachtet werden können”.” Die Kultur-Text-Analogie lässt sich weit hinter Ricoeur zurückführen, auf Herder (vgl. das in Anlehnung an Campanellas Il mondo è il Christophe Bourquin 20 libro entstandene Gedicht Die Welt und die Bücher (Die Welt, ein Buch, darinn der ewige / Verstand selbsteigene Gedanken schrieb, / Ist ein lebendiger Tempel, worinn Er / Gesinnungen und Handlung, droben, drunten / Worinn sein Vorbild Er uns selbst gemahlt. / Les’ und betrachte Jeder diese Kunst …)), ins Mittelalter (“Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum”, heißt es bei Alanus ab Insulis (1120-1202), vgl. U. Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. Übers. v. G. Memmert. München 1991, 105), ja, mit Benjamin gesprochen, an die Anfänge der Literatur: “Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen.” W. Benjamin: Über das mimetische Vermögen. In: Ders.: Gesammelte Schriften in sieben Bänden, unter Mitwirkung von T.W. Adorno, G. Scholem. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser (Hgg.). Frankfurt a.M. 1977. Bd. 2.1, 213; Generell zum Komplex der Lesbarkeit der Kultur vgl. H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981. 23 K.R. Scherpe: Kanon - Text - Medium. Kulturwissenschaftliche Motivationen für die Literaturwissenschaft. In: W. Schmidt-Dengler, A. Schwob (Hgg.): Germanistik im Spannungsfeld zwischen Philologie und Kulturwissenschaft. Beiträge der Tagung in Wien 1998. Wien 1999, 22: “Mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho bin ich der Meinung, daß es nicht unproblematisch ist, den Kulturbegriff als Substitutionsbegriff für den Textbegriff (der balinesische Hahnenkampf ‘als Text’‘) zu verwenden, also zum Beispiel Kultur überhaupt als Text zu verstehen. Wenn dies geschieht, wird der Textbegriff quasi als Metapher verwendet und der unterschiedliche mediale Charakter der ‘Texte’ wird ignoriert.” H. Böhme, P. Matussek, L. Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 2000, 136: “In dieser Angleichung des Verstehens von Kulturen an das Lesen von Texten beruft sich Geertz auf Paul Ricoeur, in dessen Programm einer hermeneutischen Grundlegung der Sozialwissenschaften Kultur und soziales Handeln als “Text-Analog” aufgefaßt wird werden (Ricoeur 1971). Die Kritik an Geertz hat aber zeigen können, daß er dazu neigt, den bei Ricoeur stets prekären Status der Text-Analogie zur resoluten Lektüre von “Kultur als Text” zu vereinfachen (Berg/ Fuchs 1993a, S. 55). Zweierlei ist am durchschlagenden Erfolg dieser Formel als programmatischer Losung der Kulturwissenschaft (vgl. Bachmann-Medick 1998) problematisch. Zum einen führt die Einebnung der Differenz zwischen dem metaphorischen, universalisierten und dem engen, auf schriftliche Quellen beschränkten Textbegriff leicht in methodologische Aporien. Der Versuch, die nur in einem schriftlichen Text überlieferte kulturelle Praxis unmittelbar einer deutenden Lektüre zu unterziehen, neigt dazu, die Eigenlogik des Textes, der sie dokumentiert, zu unterschätzen.” 24 R. Posner: Kultur als Zeichensystem: Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: P. Rusterholz, M. Svilar (Hgg.): Welt der Zeichen - Welt der Wirklichkeit. Referate der Münchenwiler Tagung und der Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Sommersemester 1992. Bern 1993, 10f.: “(1) Die einfachste Art des kulturellen Zeichenprozesses nennen wir ‘Indikation’. Dabei wird ein Sachverhalt von jemandem (dem Empfänger) aufgrund besonderer Randbedingungen (Kontext) als Anzeichen (indikatives Zeichen, Index) für das Vorliegen eines anderen Sachverhalts (des Angezeigten, Referenten) aufgefasst; die Annahme dieses anderen Sachverhalts ist die ‘Botschaft’ (‘message’) des indikativen Zeichens. So kann einem Seefahrer (Empfänger) auf dem Meer (Kontext) das Auftreten von Landvögeln (Zeichen) die Botschaft bringen: ‘Hier ist Land in der Nähe.’ (2) Etwas komplexer ist der Zeichenprozess, den wir ‘Signifikation’ nennen. In ihm wird dem Empfänger die Ermittlung einer Botschaft aus einem Zeichen durch die Kenntnis eines Kodes (eines Systems von Zuordnungsregeln) ermöglicht, der bestimmten Signifikanten bestimmte Signifikate zuordnet. So kann unser Seefahrer, wenn er auf hoher See ein Stück Stoff auffischt, die Tatsache, dass es schwarz ist, zwei Ärmel hat sowie auf der einen Seite in zwei schwanzartige Fortsätze ausläuft und auf der anderen rechtwinklig abgeschnitten ist, als Signifikanten auffassen, dem das Signifikat ‘Frack’ entspricht. Dadurch wird das Fundstück für ihn zu einem signifikativen Zeichen, mit dem er aufgrund seiner Kenntnis des Kleiderkodes in diesem Kontext die Botschaft verbinden kann: ‘Hier in der Nähe ist ein Kleidungsstück für Männer ins Wasser gefallen’ (unter Einbeziehung spezieller Umstände kann er daraus dann weitergehende Schlüsse ziehen). Die Zuordnungsregeln eines Kodes können einerseits wie hier Konventionen sein, die sich im Verhalten zwischen Lebewesen herausgebildet haben …; sie können aber auch konstante Programme sein, wie der genetische Kode von Lebewesen oder die Maschinenkodes von Computern. Die Prozesse der Signifikation, mit denen wir es zu tun haben, beruhen auf konventionellen Kodes. (3) Indikation und Signifikation unterscheiden sich voneinander in bezug auf die Einbeziehung von Kodes. Ihnen ist aber gemeinsam, dass sie als Zeichenbenutzer nur einen Empfänger voraussetzen; sie erfordern nicht das Vorhandensein eines Senders, der dem Empfänger die Botschaft mitteilen will. Letzteres ist nun in Zeichenprozessen der Fall, die wir ‘Kommunikation’ nennen. Dabei produziert jemand (der Sender) etwas in der Absicht, dass ein anderer (der beabsichtigte Empfänger, d.h. der Adressat) dies als Zeichen erkennt, das eine Botschaft trägt, die er (der Sender) ihm mitteilen will. So kann unser Seefahrer, wenn er am Horizont ein Schiff sieht, das eine schwarz-rot-gold Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 21 gestreifte Flagge setzt, daraus entnehmen, dass der Kapitän dieses Schiffes ihm die Botschaft mitteilen will: ‘Dies ist ein deutsches Schiff’. In diesem Fall bedient sich der fremde Kapitän des Flaggenkodes in der Annahme, dass auch sein Adressat ihn kennt. Kommunikation ist allerdings auch ohne Dazwischentreten eines Kodes möglich, zum Beispiel wenn der eine Kapitän dem andern durch ostentativ schnelles Zufahren auf dessen Schiff die Botschaft mitteilt: ‘Mach mir Platz’ (ob der Adressat damit dieser Aufforderung folgt, ist für das Vorliegen von Kommunikation unwichtig).” 25 Ikonizität fällt aufgrund ihrer, in der Terminologie Posners, Kodebundenheit in den Bereich der Signifikation. Die Frage bleibt, ob das Kriterium der Kodegebundenheit für Signifikation stichhaltig ist. 26 Letztlich rückführbar auf C.E. Shannon, W. Weaver: The mathematical theory of communication. Urbana 1949. 27 F. Hartmann: Mediologie. Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften. Wien 2003, 95: “Der Begriff Medien als Vermittler oder Verbreitungsmittel von Informationen konnotiert bislang ein Kommunikationsmodell, das einen Sender über einen Kanal mit einem Empfänger verbindet. Ein nach Flusser ebenso verharmlosendes wie idiotisierendes Modell (vgl. 1996, 270f.), das gleichwohl Standard im Mainstream der Kommunikationstheorie geblieben ist.” Das ‘Verharmlosende’ besteht einmal mehr in einer selten durchschauten Rhetorik. Das Übertragungsmodell operiert über den Begriff der ‘Übertragung’ metaphorisch, genau genommen metametaphorisch, weil die Metapher, deren es sich bedient, die Metapher der Metapher selbst ist; Vgl. H. Siever: Kommunikation und Verstehen. Der Fall Jenninger als Beispiel einer semiotischen Kommunikationsanalyse. Frankfurt a.M. 2001, 42ff. 28 Vgl. die Aussagen von Humberto Maturana: “Daß es in alltäglicher Sprechweise akzeptabel erscheint, von einer Übertragung von Information zu sprechen, hat seinen Grund darin, daß der Sprecher stillschweigend voraussetzt, der Hörer sei mit ihm selbst identisch und besitze folglich den gleichen kognitiven Bereich wie er selbst (was nie der Fall ist).” Bzw.: “Jede Person sagt, was sie sagt, und hört, was sie hört, gemäß ihrer eigenen Strukturdeterminiertheit; daß etwas gesagt wird, garantiert nicht, daß es auch gehört wird. Aus der Perspektive eines Beobachters gibt es in einer kommunikativen Interaktion immer Mehrdeutigkeit. Das Phänomen der Kommunikation hängt nicht von dem ab, was übermittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht. Und dies hat wenig zu tun mit ‘übertragener Information’.” Zit. n. D. Jaegle: Das Subjekt im und als Gedicht: eine Theorie des lyrischen Text-Subjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1998, 75f. 29 Information sei kognitionstheoretisch verstanden als das Wahrnehmen einer Differenz, bzw. - pluralisch - als Wahrnehmung von Differenzen (vgl. N. Luhmann: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Ders.: Aufsätze und Reden. O. Jahraus (Hg.). Stuttgart 2004, 269: “Ein alternatives differenzorientiertes Konzept von Erkennen konstituierte sich in den späten sechziger Jahren aus ganz unterschiedlichen Quellen. Gregory Bateson, um bei ihm anzusetzen, definiert Information als “a difference that makes a difference.””), unabhängig vom Medium, das das Unterscheidungspotential bereitstellt, in dem diese Differenzen figurieren. Medien seien im Anschluss an Martin Seel (M. Seel: Medien der Realität und Realität der Medien. In: S. Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M. 1998, 248) definiert als “Zugänge, die etwas gegeben sein lassen”. Sie stellen Differenzen bereit, in Bezug auf welche wiederum mit Differenzen eingetreten werden kann. 30 Für die Systemtheorie ein evolutionsgeschichtliches Emergenzphänomen; Vgl. I. Wittenbecher: Verstehen ohne zu verstehen: soziologische Systemtheorie und Hermeneutik in vergleichender Differenz. Münster 1999, 77: “Kommunikation kommt nur zustande, wenn diese (…) Differenz [von Information und Mitteilungsverhalten …] beobachtet, zugemutet, verstanden und der Wahl des Anschlußverhaltens zu Grunde gelegt wird.” Ebd.: “… die Kommunikation [organisiert sich, wit], wenn man so sagen darf, vom Verstehen aus; und sie ist im Evolutionsprozeß vermutlich auch durch verstehensmäßige Raffinierung von Verhaltensbeobachtungen entstanden.” 31 D.h. Information, der kommunikative Intentionalität unterstellt wird; Ob Intentionalität tatsächlich vorliegt, ist irrelevant; Vgl. G. Kiss: Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie, 21: “Im Unterschied zu Habermas spricht Luhmann nicht vom “kommunikativen Handeln”, dem irgendeine Verständigungsabsicht unterstellt wird: Weder Intentionalität noch selbst Sprachlichkeit soll in seinem Kommunikationsbegriff enthalten sein: “Statt dessen stellen wir auf jenes Differenzbewußtsein ab: auf die in alle Kommunikation eingebaute Differenz von Information und Mitteilung. Die Kommunikation prozessiert sozusagen diese Differenz” (1984: 209).” Luhmann bringt ein Beispiel, das demjenigen von Posner vergleichbar ist: “Rasches Gehen kann in diesem Sinne als Zeichen für Eile beobachtbar sein … es kann aber auch als Demonstration von Eile … aufgefaßt und mit der Absicht, eine solche Auffassung auszulösen, auch produziert werden.” Der Kommentar von Kiss, ebd., 22: “Information als selektive Behandlung von Differenzen besteht dann, daß “der Christophe Bourquin 22 Erlebende Ereignisse gegen einen Horizont anderer Möglichkeiten projiziert” und “dies und nicht das” festlegt. Wie die Information beim Informierten ankommt, hängt von dessen selbstreferentieller Informationsverarbeitung ab, wie er die Information nachvollziehen oder verstehen kann, “wie Input in ihm als Information wirkt und wie er seinen Output (das, was er sagt, z.B.) an die eigene Informationsverarbeitung wieder anschließt” (1982: 28); Kommunikation ist zwar ohne Mitteilungsabsicht möglich, aber Mitteilung als Anregung muß als Selektion (Selbstfestlegung einer Situation) interpretierbar sein (1984; 208f.).” 32 Semiotisierung als semantisches Relationieren ist sowohl kulturrelativ als auch kulturdependent, vgl. A. Roesler: Medienphilosophie und Zeichentheorie. In: S. Münker, A. Roesler, M. Sandbothe (Hgg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a.M. 2003, 51f.: “Ohne Bedeutung, wie bereits gesagt worden ist, gibt es für uns keine Phänomene. Sie wären absolute Singularitäten und daher nicht kategorisierbar und bestimmbar. Wir wüssten nicht, womit wir es zu tun hätten. … Die dritte These zieht die Konsequenz daraus, dass es für uns kein “rohes Sein” gibt, wie es bei Merleau-Ponty und dem frühen Foucault heißt. Das “rohe Sein”, das von keinerlei Bedeutungszuschreibung berührte “Etwas”, die “vorprädikative Erfahrung” bei Husserl entspricht dem “Gegenstand” ohne seine Relationen zu Medium und Interpretant. Das “rohe Sein” ist ein Gedanke, der von allem Angewiesensein auf Medien abstrahiert. Wir können ihn denken - aber nicht ohne Medien.” 33 Vgl. Fn. 29. 34 Schwerverständlich ist, was durch die Einengung von Indexikalität auf Folge- und Wenn-dann-Verhältnisse gewonnen wird, vgl., im Anschluss an Peirce, A. Linke, M. Nussbaumer, P.R. Portmann: Studienbuch Linguistik. Tübingen 3 1996, 20: “Etwas sinnlich Wahrnehmbares wird zum indexikalischen Zeichen, wenn wir es als Folgeglied in einem Wenn-Dann-Verhältnis auffassen und aus dem Vorliegen der Folge auf das (nicht unmittelbar ersichtliche) Vorliegen des Grundes schließen.” Warum sollte indexikalische Semiotisierung nicht die Gesamtheit aller möglichen Formen von semantischen Relationierungen - nebst konsekutiven, konditionalen und kausalen also etwa konzessive, adversative, assoziative etc. - umfassen können, die eine kulturelle Formation zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stellt? 35 Dass die Systemtheorie die Differenz von Information und Indexikalität, mithin die Differenz von Nicht-Zeichen und Anzeichen, nicht fokussiert, wird bei Iris Wittenbecher deutlich: “Werden Mitteilung und Information nicht unterschieden, wird beispielsweise das Nicken des Kopfes nicht als Zustimmung verstanden, sondern als ein nervöses Zucken, dem keine Bedeutung (kein Sinn! ) beizumessen und entsprechend keine Information zu entnehmen ist, dann kommt keine Kommunikation zustande. Es bleibt bei einer Wahrnehmung, einer Verhaltensbeobachtung.” (I. Wittenbecher: Verstehen ohne zu verstehen: soziologische Systemtheorie und Hermeneutik in vergleichender Differenz. Münster 1999, 81) Dagegen wäre einzuwenden: Tritt das Nicken des Kopfes über den Status einer bloßen Wahrnehmung, d.h. kognitiver Information, wird es bereits semiotisiert. Wittenbecher demonstriert geradezu die vorgeschlagene Differenz: “Zustimmung” als kommunikative Semiotisierung, das “nervöse[ ] Zucken” als indexikalische Semiotisierung, dem damit nicht einfach “keine Bedeutung (kein Sinn! )” zukommt. 36 E. Benveniste: Problèmes de linguistique générale. Paris 1966. Bd. 1, 5: “La nouveauté du point de vue saussurien, un de ceux qui ont le plus profondément agi, a été de prendre conscience que le langage en lui-même ne comporte aucune dimension historique, qu’il est synchronie et structure, et qu’il ne fonctionne qu’en vertu de sa nature symbolique.” 37 Zur Vorgeschichte der Differenzziehung vgl. T. Todorov: Symboltheorien. Übers. v. B. Gyger. Tübingen 1995, 5ff. 38 Platon: Sämtliche Werke. Bd. 3: Kratylos, Parmenides, Theaitetos, Sophistes, Politikos, Philebos, Briefe. U. Wolf (Hg.). Übers. v. F. Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 34 2004, 16. 39 F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. C. Bally, A. Sechehaye (Hgg.). Übers. v. H. Lommel. Berlin 2 1967, 76, im Folgenden abgekürzt mit ‘Cours’: “Für manche Leute ist die Sprache im Grunde eine Nomenklatur, d.h. eine Liste von Ausdrücken, die ebensovielen Sachen entsprechen. … Diese Ansicht gibt in vielerlei Beziehung Anlaß zur Kritik.” 40 im Sinne eines mentalen Erfahrungskorrelats. Der Umweg von Platon zu de Saussure geht über Aristoteles, der in De interpretatione / Peri hermeneías dem ‘ ’ Hermogenes’ einerseits Folge leistet, andererseits darauf hinweist, dass der Bezug zwischen Wort und Sache, Sprache und Seiendem durch die Erleidnisse der Seele (“ µ ” (16a3ff.)) vermittelt ist; Vgl. J. Hennigfeld: Geschichte der Sprachphilosophie. Antike und Mittelalter. Berlin 1994, 114: “Aristoteles betont, daß es sich nicht um eine direkte Beziehung handelt; der Bezug von Wort und Ding ist vermittelt durch die seelischen Eindrücke, welche die Dinge in uns hinterlassen.” Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 23 41 Cours, 77f.; Der Begriff “Lautbild”, französisch “image acoustique”, ist explikationsbedürftig. De Saussure sieht sich zu erläutern veranlasst (ebd., 77: “Dieses letztere ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich etwas Physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses Lautes, die Vergegenwärtigung desselben auf Grund unserer Empfindungswahrnehmungen. … Der psychische Charakter unserer Lautbilder wird ganz klar, wenn wir uns selbst beobachten. Ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen, können wir mit uns selbst sprechen oder uns im Geist ein Gedicht vorsagen. Gerade deshalb, weil die Worte der Sprache für uns Lautbilder sind, sollte man nicht von den Lauten als Phonemen sprechen, aus denen sie zusammengesetzt sind. Denn dieser Ausdruck deutet auf mündliche Sprechtätigkeit und paßt nur zum gesprochenen Wort, zur Verwirklichung des inneren Bildes in der Rede. Man muß sich stets daran erinnern, daß es sich nur um das innere Bild der lautlichen Erscheinung handelt.”), auch die Herausgeber melden sich, noch vor ihm, in einer der ganz seltenen Fußnoten des Cours zu Wort (ebd., 77: “Der Terminus “Lautbild” könnte vielleicht als zu eng gefaßt erscheinen, weil neben der Vorstellung von dem Laut eines Wortes auch diejenige seiner Artikulation, die Bewegungsgefühle des Lautgebungsaktes bestehen. Jedoch ist für F. de S. die Sprache im wesentlichen ein Vorrat, etwas von außen Empfangenes (vgl. S. 16). Das Lautbild ist in erster Linie die natürliche Vergegenwärtigung des Wortes als Sprachbestandteil ohne Rücksicht auf die Verwirklichung durch das Sprechen. Die motorische Seite kann also mit inbegriffen sein oder allenfalls eine untergeordnete Stellung im Vergleich zum Lautbild haben. (Die Herausgeber.)”). Das Problem, dem de Saussure erliegt, ist dem vergleichbar, was Jacques Derrida zu Beginn seines différance-Aufsatzes anmahnt: dass die Phonetik eine Wissenschaft ist, die die mediale Bedingung ihrer Möglichkeit, die Schrift (die IPA-Symbole sind eine Lautschrift.), vergessen hat, dass das Phonem nie als Phon, sondern immer nur als Graphem beschreibbar wird (J. Derrida: Die différance. Übers. v. G.R. Rigl. In: P. Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien 1988, 31: “Unhörbar ist die Differenz zwischen zwei Phonemen, die allein ihr Sein und Wirken als solche ermöglicht. Das Unhörbare eröffnet die zwei präsenten Phoneme, so wie sie sich präsentieren, dem Vernehmen. Gibt es also keine rein phonetische Schrift, so weil es keine rein phonetische phone gibt. Die Differenz, welche die Phoneme aufstellt und sie, in jedem Sinne des Wortes, vernehmbar macht, bleibt an sich unhörbar.”). Von “Lautbild[ern]” kann nur deshalb die Rede sein, weil die Wörter der Sprache für uns ‘Schriftbilder’ sind: “Denn dieser Ausdruck deutet auf [schriftliche] [Sprech]tätigkeit und passt nur zum [geschriebenen] Wort, zur Verwirklichung des inneren Bildes in der [Schreibe].” Die Medientheorie bringt das Phänomen auf den Begriff der aisthetischen Neutralisierung, vgl. S. Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren. In: S. Münker, A. Roesler, M. Sandbothe (Hgg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a.M. 2003, 81: “Medien wirken in Latenz. Wo immer wir gewöhnlich mit Medien umgehen, richten wir uns auf das, was Medien vermitteln und vorstellig machen: ob wir dies nun ›Gehalt‹, ›Botschaft‹ oder ›Sinn‹ nennen. … Medien werden ihrer Funktion umso besser gerecht, je mehr sie uns vergessen lassen, dass es Medien sind, durch die wir etwas zu sehen oder zu hören bekommen. Medien bleiben der blinde Fleck in unserem Wahrnehmen und Kommunizieren. Sie wirken gewöhnlich unterhalb der Schwelle unserer Wahrnehmung; im Gebrauch ›entziehen‹ Medien sich durch eine Art ›aisthetischer Neutralität‹: Nur im Rauschen, das ist aber in der Störung, bringen Medien sich selbst in Erinnerung, rücken sie ins Zentrum der Wahrnehmung. Medien kommen einer Reflexionsfigur entgegen, die, was ›Vermittlung‹ ist, so entfaltet, dass dabei der Eindruck einer ›Unmittelbarkeit‹ entsteht.” 42 Cours, 143f. 43 Oberhalb des Bruchstrichs figurieren die Signifikate, darunter die Signifikanten; Vgl. P. Grzybek: Studien zum Zeichenbegriff der sowjetischen Semiotik. Bochum 1989, 165ff. 44 = Präfixe, Suffixe, Circumfixe. 45 Etwa ‘laudabam’ in ‘laud-a-ba-m’. 46 Zur Ära Bloomfield bzw. zum sprachwissenschaftlichen Axiom ‘Form ist alles, Bedeutung ist nichts’ vgl. O. Szemerényi: Richtungen moderner Sprachwissenschaft: von Saussure bis Bloomfield 1916-1950. Heidelberg 1971, 142: “Der Sieg seiner [sc. Bloomfields] Gedanken und Methoden war fast total. Man kann zwar auf ein paar Schüler und Nachfolger von Sapir hinweisen, man hat sogar von einer Yale School gesprochen, da ja Sapir und Bloomfield und nach des letzteren Tod sein Schüler Bloch an der Universität Yale wirkten. Aber es ist nicht zu leugnen, daß ein Vierteljahrhundert lang, etwa von 1933 bis 1957, dem Erscheinungsjahr von Chomskys Syntactic Structures, fast alle tonangebenden und richtungsweisenden Linguisten Amerikas sich zur Lehre Bloomfields bekannten, Bloomfieldianer waren. Das Kennzeichnende für diese Epoche ist, daß Bloomfieldsche Ideen entfaltet, weiterentwickelt werden, hauptsächlich in der Phonologie, aber auch in der Morphologie, wogegen die Syntax eher vernachläßigt wird. Die Ausschaltung der Bedeutung wird immer strikter verfolgt, sie wird sogar zu einem wissenschaftlichen Ideal erhoben.” Christophe Bourquin 24 47 C. Ohno: Die semiotische Theorie der Pariser Schule. Bd. 1. Würzburg 2003, 69: “Algirdas Julien Greimas (1917-1992), der Gründer der Pariser Schule, ist einer der Hauptvertreter des Strukturalismus Saussurescher Provenienz in Frankreich neben Roland Barthes, Gérard Genette, Tzvetan Todorov und vor allem Claude Lévi- Strauss, dessen anthropologische und mythologische Untersuchungen Aufsehen erregten.” Ebd., 78: “Zur Zeit seines Erscheinens (1966) stellte Sémantique structurale einen Meilenstein in der Entwicklung der Semantik dar. Es braucht eigentlich nicht mehr darauf hingewiesen zu werden, dass die Linguistik sich mit ihren semantischen Analysen in einem Engpass befand, da die Forschungsanstrengungen in dem Bemühen um Beweisbarkeit und Stringenz der Untersuchungsergebnisse vorwiegend syntaktischen und formalen Aspekten der Sprache gegolten hatten. Eine Bedeutungsanalyse schien einen bloß intuitiven, intersubjektiv nicht überprüfbaren Wert zu haben.” 48 Vgl. A.J. Greimas: Strukturale Semantik. Übers. von J.F. Ihwe. Braunschweig 1971. 49 Für weitere Ausführungen zum wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang vgl. P. Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I. München 1974; Bzw. R. Baum: Dependenzgrammatik; Tesnières Modell der Sprachbeschreibung in wissenschaftsgeschichtlicher und kritischer Sicht. Tübingen 1976. 50 Von Nikolaj Kruszewski inauguriert (N. Kruszewski: Prinzipien der Sprachentwicklung, 3. Artikel. In: Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft 3 (1886), 145ff.), von de Saussure mit einer zu diskutierenden Einschränkung übernommen und schließlich von Roman Jakobson ausgebaut (R. Jakobson: Two aspects of language and two types of aphasic disturbances. In: Ders.: Selected writings II. The Hague 1971, 237ff.). Über die Linguistik hinaus wird das Zweiachsenschema berühmt, als es Jacques Lacan (1901-1981) auf die beiden wichtigsten Operationen des ‘Unbewussten’, die Verdichtung und die Verschiebung, appliziert. Die Zwei-Achsen-Theorie der Sprache wird ausführlich besprochen bei E. Holenstein: Linguistik, Semiotik, Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie. Frankfurt a.M. 1976, 76ff. 51 Damit gegen E. Holenstein: Linguistik, Semiotik, Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie. Frankfurt a.M. 1976, 76: “Die paradigmatische Achse der Selektion gründet auf Ähnlichkeitsbeziehungen, die syntagmatische Achse der Kombination auf Kontiguitätsbeziehungen. Entsprechend wird die erste Achse von Jakobson als metaphorische, die zweite als metonymische Achse bezeichnet.” Die Bezeichnungen “metaphorisch[ ]” bzw. “metonymisch[ ]” sind tropologisch! 52 R. Jakobson: Linguistics and poetics. In: T.A. Sebeok (Hg.): Style in language. New York 1960, 350ff. 53 Vgl. S. 7. 54 G. Deleuze: Differenz und Wiederholung. Übers. v. J. Vogl. München 1992. 55 Zit. n. M. Stegu: Postmoderne Semiotik und Linguistik: Möglichkeiten, Anwendungen, Perspektiven. Frankfurt a.M. 1998, 38. 56 Zur systemtheoretischen These der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation vgl. N. Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, 26: “Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, obwohl wir sie jeden Tag erleben, praktizieren und ohne sie nicht leben würden. Diese unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit gilt es vorab zu begreifen.” Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster und zweiter Teilband. Frankfurt a.M. 1997, 190: “Sieht man einmal davon ab, daß ein Gesellschaftssystem faktisch bereits existiert und Kommunikation durch Kommunikation reproduziert, ist ein solcher Sachverhalt extrem unwahrscheinlich.” Ebd., 191: “Wie soll jemand auf die Idee kommen, einen anderen, dessen Verhalten ja gefährlich sein kann oder auch komisch, nicht nur schlicht wahrzunehmen, sondern es im Hinblick auf die Unterscheidung von Mitteilung und Information zu beobachten? Wie soll der andere erwarten und sich darauf einstellen können, daß er so beobachtet wird? Und wie soll jemand sich ermutigt fühlen, eine Mitteilung (und welche? ) zu wagen, wenn gerade das Verstehen des Sinnes der Mitteilung den Verstehenden befähigt, sie abzulehnen? Geht man von dem aus, was für die beteiligten psychischen Systeme wahrscheinlich ist, ist also kaum verständlich zu machen, daß es überhaupt zu Kommunikation kommt.” 57 Ob Information dabei allerdings den Umweg über eine indexikalische Semiotisierung nehmen muss oder direkt kommunikativ semiotisiert werden kann, müsste genauer abgeklärt werden. 58 Vgl. S. 7. 59 Gesprochen sei in der Semantik der Veränderung, da sie eine gewisse ‘Neutralität’ des Ausdrucks zum Ausdruck bringt, eine Neutralität, die das poststrukturalistische Jargon durch eine subversivere Diktion gelegentlich neutralisierte, wenn von ‘dekonstruktiver Sinnentstellung’, von ‘parasitärer Kontamination’ etc. die Rede war. Zu einem Gutteil dürfte die Auslegung der Dekonstruktion als Destruktion diesem revoltierenden Vokabular zuzuschreiben sein. 60 Die Wiederholung von Signifikanten ist eine rein syntaktische und keine semantische Operation. Deshalb ist technische Datenverarbeitung kein Zweig der Sprachtheorie; Vgl. N. Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins. Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 25 München 1991, 127f.: “Die Semantik der Kommunikation ist für die Technik der Datenverarbeitung irrelevant; es kommt also darauf an, Information nicht mit Bedeutung zu verwechseln - ein bit zeigt ja lediglich an, welche der gleichwahrscheinlichen Alternativen gewählt wurde. Datenverarbeitung ist kein Kapitel der Sprachtheorie; sie prozediert durch Algorithmen.” 61 G.W. Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion: Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie. München 2002, 16: “Alle KommentatorInnen scheinen sich einig darin, dass das Werk Jacques Derridas die bedeutendste Fundierung dekonstruktiven Denkens geleistet hat.” 62 Die Pointierung von Nietzsches (1844-1900) Bemühungen als “eine[r] Kritik der Philosophie als aktiver Indifferenz der Differenz gegenüber, als System von a-diaphoristischer Reduktion oder Repression”, lässt sich für Derridas eigene Schriften in den Dienst nehmen; J. Derrida: Die différance. Übers. v. G.R. Rigl. In: P. Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien 1988, 43; Im Folgenden abgekürzt mit ‘différance’. 63 différance, 31f. 64 Ebd., 34. 65 Ebd., 37. 66 Ebd., 37. 67 Ebd., 38. 68 Ebd., 40. 69 Ebd., 47. 70 Ebd., 51. 71 Ebd., 33f. 72 Sowohl topologisiert im Sinne von ‘A nach B’ als auch temporalisiert im Sinne von ‘jetzt auf später’. 73 Auch Derrida nimmt sofort die bereits besprochene Stelle aus dem Cours in den Blick, derzufolge es in der Sprache nur Differenzen und keine Positivitäten gibt, différance, 36: “Das Prinzip der Differenz berührt, als Bedingung der Signifikation, die Totalität des Zeichens, das heißt, die Seite des Signifié und die des Signifiant zugleich. Die Seite des Signifié ist die Vorstellung, die ideale Bedeutung; und das Signifiant das, was Saussure “Bild”, “psychischen Ausdruck” eines materiellen, physikalischen, zum Beispiel lautlichen Phänomens nennt. Wir wollen hier nicht auf alle Probleme dieser Definitionen eingehen. Zitieren wir Saussure nur in dem Punkt, der uns interessiert[.]” Es folgt die besagte Stelle. 74 P.V. Zima: Die Dekonstruktion: Einführung und Kritik. Tübingen 1994, 52: “So kann Saussure beispielsweise behaupten, daß “es in der Sprache nur Differenzen gibt”. Er erklärt: “Innerhalb einer und derselben Sprache begrenzen sich gegenseitig alle Worte, welche verwandte Vorstellungen ausdrücken: Synonyma wie denken, meinen, glauben haben ihren besonderen Wert nur durch ihre Gegenüberstellung; wenn meinen nicht vorhanden wäre, würde sein ganzer Inhalt seinen Konkurrenten zufallen.” Obwohl er Saussures These über die wechselseitige Bedingtheit der linguistischen Einheiten akzeptiert, lehnt Derrida die komplementäre These des Genfer Linguisten ab, derzufolge ein Wort wie denken im Zusammenhang mit den differierenden Einheiten, die sein semantisches Feld bestimmen, eindeutig bestimmbar ist. Dem Dekonstruktivisten erscheint diese These als ein zugleich rationalistischer und logozentristischer Versuch, die Sinngegenwart als transzendentales Signifikat (signifié transcendental, Derrida) zu retten. Derrida vertritt nun die den meisten Rationalisten nicht ganz geheuere Ansicht, daß die Sinnpräsenz nicht zu verwirklichen ist, weil jedes Zeichen unabläßig auf andere, vorausgegangene oder nachfolgende Zeichen verweist und dadurch den Zerfall der eigenen Identität und der Sinnpräsenz bewirkt.” Ebd., 54: “Der Saussureschen Linguistik, deren im Rationalismus verankerten Logozentrismus und Phonozentrismus er kritisiert, wirft Derrida vor, die metaphysische Tradition fortzusetzen und das gesprochene Wort zu privilegieren, das für die Gegenwart des Sinnes und des transzendentalen Signifikats, d.h. der platonischen Idee, bürgt.” Bzw. A. Köpper: Dekonstruktive Denkbewegungen: Zu Lektüreverfahren Jacques Derridas. Wien 1999, 25: “Die differentielle Seinsweise der sprachlichen Zeichen, die nicht positiv durch ihren Inhalt bestimmt werden kann, läßt den Wert der Präsenz für alle Elemente von Sprache und Schrift problematisch werden. Von dieser Überlegung ausgehend, führen Derridas Gedanken weit über Saussure hinaus. Zwar ist auch der dekonstruktive Diskurs gefangen in der Metaphysik, doch treibt Derrida die Arbeit der Verschiebung unerbittlich voran, indem er im Unterschied zu Saussure das Differenzprinzip als ausschließlich und radikal annimmt. Saussure sucht im Gegensatz zu Derrida noch Zuflucht zu einem “letzten”, “transzendentalen Signifikat” als einem möglichen Endpunkt (Sinnpräsenz) …” 75 différance, 40. 76 Ebd., 34. 77 Ebd., 38. 78 Ebd., 51. Christophe Bourquin 26 79 Ebd., 40. 80 Ebd., 41. 81 Bzw. ‘il n’y a pas de ‘il n’y a pas de ‘il y a’’’. 82 Ebd., 37. 83 Ebd., 47. 84 Ebd., 32. 85 Ebd., 38. 86 Vgl. dazu die Arbeiten von Jean Piaget, Konrad Lorenz, Gerhard Vollmer, Rupert Riedl, Franz M. Wuketits, Humberto R. Maturana, Francisco Varela, Heinz v. Foerster, Paul Watzlawick, Gerhard Roth, Ernst von Glaserfeld; Zu den geistigen Vätern des radikalen Konstruktivismus vgl. auch R.F. Weidhas: Konstruktion - Wirklichkeit - Schöpfung: das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens im Dialog mit dem radikalen Konstruktivismus unter besonderer Berücksichtigung der Kognitionstheorie H. Maturanas. Frankfurt a.M. 1994, 40. 87 ”Der Ausgangspunkt dieses Kalküls […] ist das Setzen einer Unterscheidung. Mit diesem Urakt der Trennung scheiden wir Erscheinungsformen voneinander, die wir dann für die Welt selbst halten. … nämlich die Unterscheidungen, die wir machen - und sie beziehen sich viel mehr auf den Standpunkt des Beobachters als auf die wahre Beschaffenheit der Welt, die infolge der Trennung von Beobachter und Beobachtetem immer unerfaßbar bleibt. Indem wir der Welt in ihrem bestimmten So-Sein gewahr werden, vergessen wir, was wir unternahmen, um sie in diesem So-Sein zu finden …” F. Varela: A calculus for self-reference. In: Internat. Journal of General Systems 2 (1975), 22, hier zit. n. V. Riegas, C. Vetter: Gespräch mit Humberto R. Maturana. In: Dies. (Hgg.): Zur Biologie der Kognition. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes. Frankfurt a.M. 1990, 300; Ähnlich H. Maturana: Was ist erkennen? München 1994, 53: “Wir müssen uns also mit der Grundbedingung anfreunden, im Akt des Unterscheidens nicht gegebene Differenzen bloß festzustellen und zu bestätigen, sondern das Unterschiedene selber aktiv zu konstruieren, hervorzubringen oder zu erzeugen.” 88 Darüber, worauf ‘Sinnesorgane’ reagieren, lässt sich nichts sagen. Darüber, was sie produzieren, jedoch sehr wohl: Ausschließlich Differenzen. Es handelt sich hierbei um eine Denkfigur, die die Kognitionstheorie so beschreibt: Die ‘Realität’ erzeugt eine Wirklichkeit, ohne in letztgenannter aufzutauchen; Vgl. G. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit: kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a.M. 1994, 324: “Ich habe davon gesprochen, daß das Gehirn die Wirklichkeit hervorbringt und darin all die Unterscheidungen entwickelt, die unsere Erlebniswelt ausmachen. Wenn ich aber annehme, daß die Wirklichkeit ein Konstrukt des Gehirns ist, so bin ich gleichzeitig gezwungen, eine Welt anzunehmen, in der dieses Gehirn, als Konstrukteur, existiert.” Ebd., 329: “Daraus folgt: Dasjenige Gehirn, das mich hervorbringt, ist mir selbst unzugänglich, genauso wie der reale Körper, in dem es steckt, und die reale Welt, in welcher der Körper lebt. Daraus folgt zugleich: Nicht nur die von mir wahrgenommenen Dinge sind Konstrukte in der Wirklichkeit, ich selbst bin ein Konstrukt. Ich komme unabweisbar in dieser Wirklichkeit vor. Dies bedeutet, daß das reale Gehirn eine Wirklichkeit hervorbringt, in der ein Ich existiert, das sich als Subjekt seiner mentalen Akte, Wahrnehmungen und Handlungen erlebt, einen Körper besitzt und einer Außenwelt gegenübersteht.” 89 Denn alles, was gesagt wird, wird über die Operation Beobachtung gesagt. Humberto Maturana definiert den Beobachter als Menschen, “wie er spricht, und dabei Unterscheidungen trifft und Beschreibungen anfertigt.” V. Riegas, C. Vetter: Gespräch mit Humberto R. Maturana. In: Dies. (Hgg.): Zur Biologie der Kognition. Ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes. Frankfurt a.M. 1990, 58. 90 I. Wittenbecher: Verstehen ohne zu verstehen: soziologische Systemtheorie und Hermeneutik in vergleichender Differenz. Münster 1999, 64: “Die Beobachtung von Beobachtungen kann die Unterscheidung, die einer beobachteten Beobachtung zugrunde liegt (z.B. Autor/ Text), mit Hilfe einer weiteren (anderen) Unterscheidung (z.B. literarische Produktion/ Rezeption) unterscheiden und bezeichnen. Sie ist demnach sachlich auf einer höheren Abstraktionsebene angesiedelt, was nicht heißt, daß sie höherwertig ist, im Sinne von besser, wahrer, richtiger oder wahrhaftiger. Denn auch die Beobachtung zweiter Ordnung vollzieht sich als Einheit der beiden Komponenten Unterscheiden und Bezeichnen.” 91 différance, 47. 92 Ebd., 37. 93 Vgl. S. 7. 94 Vgl. J.H. Hulstijn: Das fremdsprachliche Wort im bilingualen Lexikon. In: W. Börner, K. Vogel (Hgg.): Kognitive Linguistik und Fremdsprachenerwerb: das mentale Lexikon. Tübingen 2 1997, 174: “Form und Bedeutung sind manchmal metaphorisch als die zwei Seiten einer Münze vorgestellt worden (De Saussure 1916; Zur Differenzialität des sprachlichen Zeichens 27 Aitchison 1987). Diese Metapher, wie sinnbildlich sie auch ist, hat den Nachteil, daß in ihr Form und Bedeutung eines Wortes untrennbar sind.” Bzw. A. Koeder: Von Ferdinand de Saussure zu einer formalen diachronen Semantik. Konstanz 1999, 98. 95 Cours, 88. 96 Die auch als Grenzverschiebungstrope kurrent ist, vgl. W. Groddeck: Reden über Rhetorik: zu einer Stilistik des Lesens. Frankfurt a.M. 1995, 209f. 97 F. Nietzsche: Sämtliche Werke. KSA. G. Colli, M. Montinari (Hgg.). München 1980. Bd. 1, 879f.; Im Folgenden abgekürzt mit ‘KSA’. 98 KSA 7, 542. 99 KSA 7, 481. 100 KSA 7, 498. 101 F. Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. KGW. G. Colli, M. Montinari (Hgg.). Berlin 1967ff., Bd. 2, 426f. 102 P. de Man: Rhetorik der Tropen. In: Ders.: Allegorien des Lesens. Übers. v. W. Hamacher, P. Krumme, mit einer Einl. v. W. Hamacher. Frankfurt a.M. 1989, 148. 103 J. Derrida: Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. Übers. v. G. Ahrens. In: P. Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien 1988, 206. 104 Vgl. W. Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Essays von Georges Bataille, Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Michel Foucault, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Pautrat. Berlin 2003. 105 J. Paul: Werke. N. Miller, G. Lohman (Hgg.). Bd. 1-6. München 1959ff., Bd. 5, 184. 106 G.E. Lessing: Anti-Goeze. In: Ders.: Werke. G. Göpfert et al. (Hgg.). Bd. 1-8. München 1970ff. Bd. 8, 195: “Aber wie lange und genau muß man denn auch eine Metapher oft betrachten, ehe man den Strom in ihr entdecket, der uns am besten weiter bringen kann! ” 107 KSA 1, 879: “Er [der Sprachbildner] bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.” 108 N. Goodman: Sprachen der Kunst: Entwurf einer Symboltheorie. Übers. v. B. Philippi. Frankfurt a.M. 1997, 79: “Eine Metapher ist eine Affaire zwischen einem Prädikat mit Vergangenheit und seinem Objekt, das sich unter Protest hingiebt.” 109 W. Groddeck: Reden über Rhetorik: zu einer Stilistik des Lesens. Frankfurt a.M. 1995, 208f. 110 ’eigentlich’ (‘ µ ’, ‘verbum proprium’) gegenüber ‘uneigentlich’ (‘ µ ’, ‘verbum improprium’), ‘wörtlich’, ‘buchstäblich’ gegenüber ‘übertragen’ - allesamt Tropen! 111 Die spezialisierte Bezeichnung ‘Metapher’ für eine der Tropen ist nacharistotelisch, vgl. H. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Mit einem Vorwort v. A. Arens. Stuttgart 3 1990, 283; Aristoteles nennt die Tropen in seiner Poetik insgesamt ‘metaphora’, vgl. K. Ae-Ryung: Metapher und Mimesis: Über das hermeneutische Lesen des geschriebenen Textes. Berlin 2002, 22: “Die Metapher ist für Aristoteles nicht nur eine Figur der Sprache, sondern die Figur überhaupt, sie umfaßt den ganzen Bereich der Begriffsübertragung.” 112 U. Poch: Metaphernvertrauen und Metaphernskepsis: Untersuchungen metaphorischer Strukturen in neuerer Lyrik. Frankfurt a.M. 1989, 31f.: “Nach einer alten, auf Aristoteles zurückgehenden Erklärungsweise gilt die Metapher als uneigentliche Redeform. Entweder fungiert sie als sprachlicher Notbehelf für einen mangelnden eigentlichen Ausdruck, oder sie ist Redeschmuck. Die Auffassung der Metapher als uneigentliches Wort mit übertragener Bedeutung wird als Substitutionstheorie bezeichnet. Nach dieser Theorie substituiert die Metapher ein eigentlich gemeintes Wort und kann ohne Bedeutungsverlust gegen das eigentliche Wort ausgetauscht werden.” 113 A. Linke, M. Nussbaumer, P.R. Portmann: Studienbuch Linguistik. Tübingen 3 1996, 17f.: “Gibt es etwas, was all diesen Zeichen gemeinsam ist? Wenn da etwas Gemeinsames zu benennen ist, so wahrscheinlich dies, dass diese Zeichen alle in einer speziellen Beziehung zu etwas anderem zu stehen scheinen, dass sie - in welcher Art auch immer - etwas repräsentieren oder anzeigen können. In der Scholastik wurde diese Charakteristik in einer letztlich auf Aristoteles zurückgehenden Definition als Stellvertreter-Funktion beschrieben. Von einem Zeichen ist demnach zu sprechen, wenn etwas für etwas anderes steht, dann also, wenn gilt: aliquid stat pro aliquo. Die auffälligste und sichtbarste Eigenschaft von Zeichen jeder Art ist, dass sie einem Zeichenbenutzer etwas präsent machen können, ohne selbst dieses etwas zu sein.” Christophe Bourquin 28 114 Poet. 21.7; Zit. n. Ø. Andersen: Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike. Übers. v. B. Mannsperger, I. Tveide. Darmstadt 2001, 76. 115 Vgl. G. Ueding: Rhetorik des Schreibens: eine Einführung. Frankfurt a.M. 3 1991, 69. 116 I. Zielke: Text und Metapher: Studien zur Prosa Ivan Bunins. Hamburg 2001, 23f.: “Dieser Ansatz geht auf die Definition von Quintilian zurück, die das Metaphernproblem auf die folgende kurze Formel bringt: Die Metapher ist ein verkürzter Vergleich (metaphora est brevior similitudo).” 117 Rhet. 3.4.1 118 Il. 20.161ff. 119 Zit. n. G. Ueding: Rhetorik des Schreibens: eine Einführung. Frankfurt a.M. 3 1991, 69: “Im ganzen aber ist die Metapher ein kürzeres Gleichnis und unterscheidet sich dadurch, daß das Gleichnis einen Vergleich mit dem Sachverhalt bietet, den wir darstellen wollen, während die Metapher für die Sache selbst steht. Eine Vergleichung ist es, wenn ich sage, ein Mann habe etwas getan ‘wie ein Löwe’, eine Metapher, wenn ich von dem Mann sage: ‘er ist ein Löwe’.” 120 De orat. 3.155f. 121 Zit. n. Ø. Andersen: Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike. Übers. v. B. Mannsperger, I. Tveide. Darmstadt 2001, 77. 122 Inst. orat. 8.6.4ff. 123 Vgl. S. 14. 124 U. Spörl: Basislexikon Literaturwissenschaft. Paderborn 2004, 87. 125 KSA 1, 880f. 126 Vgl. S. 14. 127 Vgl. S. 14. 128 der das Funktionieren der (Alltags)Sprache maßgeblich geschuldet ist. 129 G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 5 2004, 17. 130 Literaturangaben zu den wichtigsten Vertretern finden sich gesammelt ebd., 7, Fn. 3. 131 I. Zielke: Text und Metapher: Studien zur Prosa Ivan Bunins. Hamburg 2001, 26: “In der neuzeitigen Metaphernforschung setzte sich die Tendenz zu einer prädikativen, satzsemantisch orientierten Metaphernbetrachtung durch, die unter dem Begriff ‘Interaktionstheorie’ subsumiert wird. Die Metapher ist danach eine eigentliche Redeweise, bei deren Betrachtung von der semantischen Gleichrangigkeit aller am metaphorischen Ausdruck beteiligten Elemente ausgegangen wird.” 132 P. Ricoeur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache. In: Ders., E. Jüngel (Hgg.): Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache. München 1974, 47. 133 KSA 4, 163. Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure Potential und Aporien zwischen Sprachphilosophie und Linguistik Lars Meyer Die heute dominanten grammatiktheoretischen Konzeptionen des Formalismus (Chomsky 1995, Legendre 2001 u.a.) und des Funktionalismus (Lockwood et al. 2000, Halliday 2004 u.a.) haben ihre Genese in Positionen des frühen Strukturalismus, wiederum gründend in der Sprachphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts. Beide modernen Positionen sind das Resultat einer Zergliederung ursprünglicher Dualismen und einseitiger Rezeption der Vorgänger; sie erschöpfen sich - häufig - in prinzipieller Opposition und gegenseitigen Legitimationsbemühungen: “ein echter Kirchenstreit, bei dem beide Seiten sich auf dieselben Heiligen Schriften beziehen, um sich dann besser die Köpfe im Namen von Sankt Humboldt einschlagen zu können” (Trabant 1998). Mangelnde Rezeption sowohl der frühen Schriften Humboldts (1820 u.a.) als auch des Nachlasses Saussures (1891-1911) jenseits des “Cours linguistique générale” begünstigen diesen Zustand: Beide Schulen vergessen ihren gemeinsamen begrifflich-konzeptionellen Ursprung und fokussieren nur je eine Seite des linguistischen Gegenstandes, ob nun ergon oder energeia, competence oder performance. Aporien und jeweils begrenztes explanatives Potential beider Ansätze liegen hierin begründet. Zu selten beachtete, gleichwohl in ihrer Nichtbeachtung frustrierende These ist, dass “There is no a priori incompatibility between adopting a functional point of view on the one hand, and trying to apply a consistent system of formalization on the other.” (Bolkestein 1993). Diese Arbeit zeigt, welche fundamentalen Probleme die sich als polar betrachtenden Grammatikmodelle bewahrt haben, ausgehend von Entwicklungen des generativ-formalen Paradigmas in der Folge Bloomfields (1933) einerseits und des extern-funktionalistischen in derjenigen Trubetzkoys (1939) andererseits. Versucht wird zu zeigen, auf Grund welcher inhärenten Anknüpfungspunkte sich der Zweiklang von Minimalistischem Programm und Optimalitätstheorie einer Funktionalen Grammatik zur Wiedergewinnung der komplementären Konzeption von Sprachbetrachtung annähern könnte - et vice versa - und sollte. Einleitung Die Linguistik zerfällt in zwei Lager - den Beginn der Frontenbildung findet man spät, irgendwo zwischen dem Aufkommen des Kognitivismus und der bald folgenden Pragmatischen Wende. Das Trennende der Konzeptionen des Funktionalismus und des Formalismus ist ihr Sprachbegriff und ihre Uneinigkeit darüber, von welcher Seite man den damit bezeichneten Gegenstand befüllt und betrachtet. Zentrale Vorläufer der Disziplin, die Sprachphilosophien Humboldts und Saussures, haben die Trennung innerhalb des Sprachbegriffs K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Lars Meyer 30 nicht als solche behandelt: Vielmehr herrschen hier noch harmonische Dualismen vor, im Werk Humboldts eher als in dem seines Nachfolgers, bei dem die Begriffe schon deutlicher auseinander driften. In den beiden ersten Teilen soll anhand der Primärtexte kritisch diese mehr oder weniger einheitliche begriffliche Basis dargestellt werden. Im dritten und vierten Teil werden die Resultate der Zergliederung der ursprünglichen Dualismen kritisch untersucht. Deutlich werden sich dabei in beiden Fällen isolierte Elemente der beiden sprachphilosophischen Konzeptionen der ersten beiden Teile wiederauffinden lassen. Geschieht dies, wird das Potential zu einer Ausdehnung der einseitigen Begrifflichkeit und ihrer methodischen Resultate ausgelotet. Die These, dass die beiden verfeindeten Lager sich nicht prinzipiell inkompatibel ausnehmen, sondern meist nur - oft aus einer zu engen Vorstellung des linguistischen Gegenstandes - so dargestellt werden, soll im Endteil anhand der Analysen der Grammatikmodelle belegt werden. Die zentralen Hindernisse und Lösungsmöglichkeiten der oppositionellen Schulen durchziehen die Zeilenzwischenräume der gesamten Arbeit und werden abschließend erneut exponiert. 1 Eine Dichotomie Wilhelm von Humboldts: ergon und enérgeia Begibt man sich im Werk Humboldts auf die Suche nach mit der im zweiten Absatz besprochenen Konzeption korrespondierenden Termini, drängt sich das Bild einer Hydra auf: Ist ein Begriff erst einmal interpretiert, wird plötzlich und scheinbar sorglos in gleichem oder ähnlichem Sinnzusammenhang ein neuer, traditionell vorbelasteter eingeführt. Am Besten in die heute verbreitete Sicht der Dinge passt die hier verwendete Dichotomie, auch wenn sie weder immer korrekt angewandt wird noch polar zu nehmen ist. Zu jedem Begriff Humboldts ließe sich eine Tabelle mit Synonymen anlegen; oft erzeugen Reste romantischen Überschwanges Analogien, die, präzise gehandhabt, tückische Implikationen mit sich führen (vgl. Borsche 1989: 49f). Meine Interpretation versucht, die im terminologischen Dickicht verborgenen, modernen Gedanken Humboldts näher zu beleuchten. 1.1 Das ergon Einer der Pole der genannten Dichotomie muss, so scheint es, ein festes System 1 sein, der andere seine flexible Anwendung. Gibt es überhaupt so etwas wie jenes, so den Begriff der Form 2 , der erst in den späteren Schriften Humboldts deutlich hervor tritt und weiterer Entwicklung durch frühe Interpreten bedurfte. Dass Humboldt aber das Vorhandensein einer Form i.S. eines - wie auch immer gearteten - Gerüsts jeder Einzelsprache und sogar aller Einzelsprachen gemeinsam postuliert, wird an mehr als einer Stelle deutlich: (1) “[…] Die Identität, […] so wie die Verwandtschaft der Sprachen muß auf der Identität und der Verwandtschaft ihrer Formen beruhen. […] Die Formen mehrerer Sprachen können in einer noch allgemeineren Form zusammenkommen, und die Formen aller tun dies […] daß man […] sagen kann, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Sprache […] besitzt […].” (Humboldt 1836a: 42) Auch wenn solche Ausführungen stets durch vielerlei ‘Hecken’ abgemildert werden, wird hier doch die Form der Sprache nicht nur auf die jeweilige Einzelsprache, sondern im zweiten Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 31 Schritt auf alle Sprachen überhaupt angewandt. Schon früher äußert Humboldt sich sinngemäß, auch wenn hier die Form noch keine Rolle spielt 3 : “Es lässt sich […] ein solcher Mittelpunkt aller Sprachen suchen, und […] finden, und es ist nothwendig, ihn […] nicht aus den Augen zu verlieren […].” (Humboldt 1820: 25). Klarste Erwähnung findet die Form im Hauptwerk (Humboldt 1836a), wo Humboldt seine berühmte Definition abgibt: (2) “Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). […] streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im […] wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. […] Das Zerschlagen in Wörter und Regeln ist nur ein totes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung 4 […].” (ebd. 36) Beherzigt man dies, wird die auch hier vorgenommene polare Sichtweise von einem festen sprachlichen System auf der einen und dem einzelnen Sprechakt auf der anderen Seite eine Fehlinterpretation, da sie die Untrennbarkeit und wechselseitige Bedingung der Begriffe auflöst. Mit dem frühen Humboldt ließe sich dem späten hier vermeintlich widersprechen: “Die Sprache liesse sich nicht erfinden, wenn nicht ihr Typus schon in dem menschlichen Verstande vorhanden wäre […].” (Humboldt 1820: 19). Doch sind spätere Formulierungen nicht der Abschied Humboldts von etwas einem grammatischen System zu Grunde Liegendem: zunächst sind sie nur das Bekräftigen seines virtuellen Charakters 5 . Nimmt man den hier verwendeten Begriff des Typus in Kombination mit folgender Stelle, wird eine intrinsische Interpretation möglich: (3) “Darum aber darf man sich die Sprache nicht als etwas fertig Gegebenes denken, da sonst ebensowenig zu begreifen wäre, wie der Mensch die gegebene verstehen, und sich ihrer bedienen könnte. Sie geht nothwendig aus ihm selbst hervor […] so, dass ihr Organismus nicht zwar, als eine todte Masse, im Dunkel der Seele liegt, aber als Gesetz die Functionen der Denkkraft bedingt, […].” (ebd. 20) Das feste, systemhafte ist hier das Gesetz, zu verstehen als eine geistige Anlage, dem Denken und der Sprache zu Grunde liegend (vgl. Borsche 1989: 57): Eine erste Form, die den Formen der einzelnen Sprachen zu Grunde liegt und die Art festlegt, in der jede einzelne Sprache das Streben nach der ihr eigenen zweiten Form verwirklicht (vgl. Di Cesare 1988: 40). Die möglichen Formen der Einzelsprachen sind so zu einem gewissen Grad vorgegeben 6 . Die Art, von der eine solche geistige Anlage wäre, beschreibt Humboldt mit dem Begriff des intellektuellen Instinkts, mit welchem er die Sprache zumindest vergleicht 7 : (4) “Wenn sich daher dasjenige mit etwas andrem vergleichen lässt, so kann man an den Naturinstinct der Thiere erinnern, und die Sprache einen intellectuellen der Vernunft nennen […].” (ebd. 20) Eine ähnlich biologistische Metaphorik kennzeichnet eines der vermeintlichen Substitute der Form in den frühen Schriften; hier findet der Vergleich der Sprache mit einem biologischen Organismus statt, den Humboldt im Gegensatz zu manchem seiner Vorläufer auch nur als Vergleich verwendet: (5) “Der Organismus der Sprachen entspringt aus dem allgemeinen Vermögen und Bedürfniss des Menschen zu reden […]. Der Organismus gehört zur Physiologie des intellectuellen Menschen, die Ausbildung zur Reihe der geschichtlichen Entwicklungen.” (ebd. 16) Die Form liegt ’tiefer’, und dient als Fundament der äußerlich erkennbaren Gestalt der Sprache und der Sprachen. So liest sich der Organismus als ein oberflächlicheres Phänomen Lars Meyer 32 und bezeichnet die Verwobenheit und das Zusammenwirken der einzelnen Elemente der Einzelsprache: Er meint die grammatische Struktur 8 ; innerhalb derer jedes Element das andere bedingt. Metaphorisch gesehen sind ihre Teile denen eines biologischen Organismus durchaus analog: (6) “Unmittelbarer Aushauch eines organischen Wesens […], theilt sie [die Sprache, L.M.] darin die Natur alles Organischen, dass Jedes in ihr nur durch das Andre […] besteht […]. Aber auch die Mundart der rohesten Nation ist ein zu edles Werk der Natur, um […] der Betrachtung fragmentarisch dargestellt zu werden. Sie ist ein organisches Wesen, und man muss sie, als solches, behandeln.” (ebd. 12ff) Auch im biologischen Organismus ist der Teil in Form und Funktion auf die übrigen bezogen, erst ihr gemeinsamer teleologischer Charakter eint sie. Der Gedanke, dass ein Teil der Sprache die anderen relational bedingt, ist einer der modernen Aspekte im Werk Humboldts, der den Strukturalismus und die Semiotik des zweiten hier besprochenen Autors vorweg nimmt: “Wir haben Grund, von einem “humboldtianischen Strukturalismus” zu sprechen” (Coseriu 1979: 3). Wie aus der hylomorphistischen Geschichte der Form bekannt ist, muss sie immer Form für etwas, genau genommen eine Substanz, nicht ganz so genau genommen auch ein Stoff sein: (7) “Der wirkliche Stoff der Sprache ist auf der einen Seite der Laut […], auf der andren die Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke und selbsttätigen Geisteseindrücke, welche der Bildung des Begriffs mit Hülfe der Sprache voraus gehen.” (ebd. 41) Wie diese Stelle zeigt, ist es nicht nur eine Substanz, für die die Sprache eine Form liefert; vielmehr ist es zum einen der Laut, dem durch den Phonemschatz einer Einzelsprache eine Struktur gegeben wird. Zum anderen aber wird der Gesamtheit der Erscheinungen der äußeren Welt, der Phänomene in der Sprache erst die Möglichkeit einer Strukturierung gegeben: (8) “Die intellectuelle Thätigkeit […] wird durch den Ton […] wahrnehmbar für die Sinne, und erhält durch die Schrift einen bleibenden Körper […]. Die intellectuelle Thätigkeit ist an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Ton einzugehen, das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden […].” (ebd. 191) Ohne Sprache wäre die äußere Welt demnach nur nicht-abstrahierte Masse, ein holistischer Eindruck 9 . Bereits die Bildung von Begriffen, die in diesem Denken Analogien auf die sinnlich erfahrene Welt darstellen, ist also im Ursprung auf die Sprache angewiesen, die innere Welt auf die sprachliche Präzisierung. Der sprachliche Organismus, die Sprache als Netz von Relationen steht so nicht in einem arbiträren, sondern analogen Verhältnis zur äußeren Welt 10 , “indem sie den inneren Zusammenhang erfaßt, der ein Objekt mit dem anderen und dem Ganzen verbindet […]” (Di Cesare 1996: 283). Die sprachliche Analogie 11 stellt damit eine Hypothese über das Aussehen der Welt dar (vgl. Di Cesare 1989: 69f). Damit besitzt die Sprache Welt gestaltende Funktion, und als Konsequenz ergibt sich die Annahme einer je Einzelsprache eigenen Perspektive auf die Welt: Da die Welt sprachlich gebildet wird, ist sie je nach Sprachgemeinschaft eine andere (vgl. Wittgenstein 1921: 86f) - was bis heute ein häufig anzutreffendes Dogma ist (vgl. Jäger 1994: 308f). (9) “Die Sprache ist aber durchaus kein blosses Verständigungsmittel, sondern der Abdruck des Geistes und der Weltansicht der Redenden […].” (Humboldt 1827: 135) und “Das Denken ist Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 33 aber nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten.” (Humboldt 1820: 24) Humboldt bewertet dies positiv; alle Sprachen zusammen bilden für ihn ein Prisma der Weltansichten: “die Sprachen in ihrer Verschiedenheit, sind die Mittel, die Wahrheit zu entdecken” (Trabant 1990: 47). Es ist des Weiteren nicht so, dass das einzelne Subjekt in seiner Weltansicht vollständig durch einen Konsens determiniert wäre; da jeder Mensch die Welt zum einen individuell sinnlich wahrnimmt, darin zum anderen aber durch die Sprachgemeinschaft sprachlich determiniert ist, befindet sich der Organismus in einem Wechselspiel von kollektiver und individueller Konstitution. Die kollektiv-objektive Welt bleibt damit immer offen für die individuell-subjektive, die hypothetische Analogie wird laufend modifiziert, durch Analogiebildungen des Subjektes. (10) (“Die Sprache ist aber kein freies Erzeugniss des einzelnen Menschen, sondern gehört immer der ganzen Nation an […]. Der durch die Sprache bedingte Mensch wirkt aber wieder auf sie zurück […] (Humboldt 1820: 26f) Soweit der Versuch, die Form, das dem Organismus und dem Gebrauch der Sprache - dessen Betrachtung folgt - zu Grunde liegende System zu skizzieren. Der Organismus i.S. des grammatischen Systems ist so als virtuelle Größe, die Form als seine Basis und, modern gesprochen, mentale Anlage zu verstehen. 1.2 Die enérgeia Dieser Abschnitt behandelt, wie Humboldt die Sprachverwendung in seine Sprachphilosophie einbettet 12 . Wichtig dabei ist immer, dass das im letzten Teil besprochene System, des Organismus als ein virtuelles vorgestellt wird, nach meiner Interpretation basierend auf der Form, die, wenn unbedingt ein Pol gesucht wird, der eine ist - sein Gegenstück ist die enérgeia, die Tätigkeit. Die Sichtweise der Sprache als einer solchen ist für Humboldt immer zentral und “Symbol der Humboldtschen Wende in der Geschichte der Sprachphilosophie” (Di Cesare 1988: 31). (11) ”Wie genau und vollständig man aber auch die Sprachen in ihrem Organismus untersuche, so entscheidet, wozu sie vermittelst desselben werden können, erst ihr Gebrauch.” (Humboldt 1820: 18) und “Die Sprache wird durch Sprechen gebildet […].” (Humboldt 1836a: 134) Das Sprechen, genauer der einzelne Akt hat so immer Priorität, die Tätigkeit Vorrang vor der Potenzialität. Im Hauptwerk (ebd. 167ff) ist diesem Akt ein eigenes Kapitel gewidmet - exemplarisch dafür z.B. “Wie ich es hier […] getan habe, kann man diesen Akt überhaupt den Akt des selbsttätigen Setzens durch Zusammenhang (Synthesis) nennen.” (ebd.). Der sprachliche Organismus wird durch jeden einzelnen, zum einen schöpferischen 13 , zum anderen durch das Prinzip der Analogie in gewissem Grad vorgegebenen Akt modifizierbar. Der Akt ist dabei als Setzen einer Bezeichnung - für einen innerlich oder äußerlich sinnlichen Eindruck - zu verstehen: (12) “[…] keine Gattung der Vorstellungen kann als ein reines Beschauen eines […] Gegenstandes betrachtet werden. Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reisst sich die Vorstellung los, wird […] zum Object, und kehrt […] aufs neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. […] in ihr […] kehrt das Erzeugniss desselben zum eignen Ohre zurück. […]” (ebd. 195f) Lars Meyer 34 Damit erfährt die hypothetische Welt respektive die Analogie darauf in jedem Sprechakt Erneuerung, Bestätigung oder Modifikation. Materiell, d.h. Objekt wird die Synthesis für das äußernde Subjekt erst, wenn sie einem zweiten gegenüber artikuliert wird: Das sich sprachlich artikulierende Subjekt benötigt immer ein Ziel der Artikulation, der Mensch den Dialog, um sich selbst als Individuum zu bilden und zu entfalten 14 . Eine Objektivierung der Begriffe, die auf die Resonanz anderer Subjekte einer Sprachgemeinschaft angewiesen und ohne die eine Verständigung nicht möglich ist, kann nur sprachlich erfolgen (vgl. Di Cesare 1996: 280). (13) “Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der […] der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur […] mit sich, wie mit einem Andren […] die Möglichkeit des Sprechens […] wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. […] der Mensch sehnt sich […] zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen.[…].”(Humboldt 1927: 137f) Diese Funktionen und die Ansicht, dass die spezifisch menschliche Fähigkeit des Denkens sprachlich gestaltet ist, legen für Humboldt die Verwendung eines weiteren biologischen Ausdrucks nahe, desjenigen des Organs: “Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken.” (Humboldt 1836b: 191). Im Gegensatz zum zweiten hier behandelten Autor wird damit der Begriff des Instruments gemieden; es scheint so, als wäre der Begriff des Organs im Gegensatz zu dem des Organismus weit weniger metaphorisch zu nehmen. Diese Interpretation stützt der folgende Absatz, in dem die wörtliche Lesart weit ausgeführt wird: (14) “Da das intellektuelle Streben nicht bloß den Verstand beschäftigt, sondern den ganzen Menschen anregt, so wird auch dies vorzugsweise durch den Laut der Stimme befördert. Denn sie geht, als lebendiger Klang, wie das atmende Dasein selbst, aus der Brust hervor, begleitet, auch ohne Sprache, Schmerz und Freude, Abscheu und Begierde, und haucht also das Leben, aus dem sie hervorströmt, in den Sinn, der sie aufnimmt, […]” (1836a: 47) Tatsächlich verweist das menschliche Subjekt nicht nur auf eine von der Sprache unabhängige Welt, erfasst die Welt nicht nur sinnlich, sondern eben auch gedanklich, mit der Sprache als Organ. Dass die Welt damit für Humboldt nur bestimmt und letztendlich überhaupt vorhanden ist, so lange sie sprachlich erfasst ist, wurde oben bereits ausgeführt und passt zur wörtlichen Verwendung des Begriffs. 1.3 Ein Zwischenfazit Trägt man von außen die dichotomisch-polare Konzeption eines ruhenden sprachlichen Systems und einer fließenden sprachlichen Verwendung an die Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts heran, wird man meinen, dass sowohl Organismus als auch Form jenes, die Tätigkeit oder der Akt oder das Sprechen dieses darstellen. Für den Begriff der Form - der damit dem ergon entspräche - ist dies stimmig, doch stellt auch dieser nicht einen Ideenhimmel dar, aus dem einzelne sprachliche Äußerungen aktualisiert werden, sondern, wie oben gezeigt wurde, eine mentale Fähigkeit - auch wenn hier, gerade bei der Beachtung des im letzten Absatz gefallenen Terminus des Organs, Zweifel aufkommen könnten, was aber wiederum der fehlenden Trennschärfe der Terminologie Humboldts geschuldet ist. Genauso wenig, wie aber das Auge als Organ isoliert Bilder verarbeiten kann, kann die Sprache ohne eine gewisse geistige Voraussetzung ihre Funktion erhalten, eine Form bzw. einen Typus, der dem Organismus als Vorlage dienen kann (vgl. Borsche 1989: 48); auch gegen die Kritik an der Vernachlässigung der oft postulierten semiotischen Konstitutionsbedingung menschlicher Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 35 Kognition (etwa Jäger 1994: 314f) sei dies betont. Der Organismus ist innere Form, während die Form eine äußere Form (vgl. Borsche 1989: 55) ist. In diesem Sinne kann die Konzeption Humboldts am ehesten mit einer zweistufigen Type-Token-Relation beschrieben werden (vgl. Dezsö 1988: 42f und 47ff). Der Begriff des Organismus ist damit nicht synonym mit dem der Form zu sehen. Der Organismus ist im Sinne des - bei Humboldt immer als virtuell begriffenen - grammatischen Systems der einzelnen Sprache zu verstehen, welches nur als identisch mit der Gesamtheit des Sprechens korrekt lokalisiert ist. Hieraus wird verständlich, dass die Sprache enérgeia, Tätigkeit, ist; diese Interpretation vertritt auch Di Cesare (1988: 38), wenn sie “eine universelle […], eine historische […] und […] eine individuelle Ebene” ansetzt. Im folgenden Teil soll nun überprüft werden, ob und, wenn ja, wie sich die drei zentralen Strukturmerkmale der Sprachphilosophie Humboldts im Werk eines zweiten, jüngeren und nicht minder intensiv rezipierten Autors wiederfinden lassen. 2 Eine Dichotomie Ferdinand de Saussures: langue und parole Die hier zu besprechende Dichotomie Saussures gehört sicher zu den meist diskutierten - und instrumentalisierten - in der Geschichte der Linguistik. Hier soll sie möglichst authentisch den Schriften Saussures (1891-1911) und seiner Editoren (Saussure 1916) entnommen werden 15 . Des weiteren sollen, wie schon im letzten Kapitel, weit greifende, moderne Auslegungen vermieden und die verwendeten Schriften, Notizen und Manuskripte intrinsisch gelesen werden, nicht jedoch ohne die offensichtlichsten Parallelen zum zuerst behandelten Autor aufzuzeigen. Die folgenden beiden Abschnitte sind der Natur der Sache nach zwar schärfer voneinander abgegrenzt als die korrespondierenden im ersten Teil, ebenfalls der Natur der Sache nach ist eine eindeutige und ausdifferenzierte Behandlung mit entsprechenden Definitionen aber kaum möglich, da auch Saussures Begriffe stark miteinander verwoben sind - m.E. ist an ihren Auslegungen und vermeintlichen Implikationen vieles Meinung. 2.1 Die langue Die langue wird in den deutschen Übersetzungen mit dem Begriff der Sprache übersetzt - so auch im Folgenden - und bei Saussure vom Begriff der parole, deutsch und im Folgenden Sprechen 16 , getrennt 17 . Wie bereits die Einleitung des Cours de linguistique générale - im Folgenden Cours - darlegt, ist jene der eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft. Will man solche betreiben, müsse man (15) ”sich von Anfang an auf das Gebiet der Sprache begeben und sie als die Norm aller andern Äußerungen der menschlichen Rede gelten lassen.” (Saussure 1916: 11) Die langage 18 oder menschliche Rede nun, die in dieser Konzeption als Pendant zum Begriff der äußeren Form bei Humboldt interpretiert werden kann, ist nach Saussure für den Sprachwissenschaftler nicht zentraler Gegenstand der Betrachtung, Sprache ist “die menschliche Rede abzüglich des Sprechens” (Saussure 1916: 91). Dieser eigentliche Gegenstand wird von weiteren für den Autor randständigen Feldern der sprachwissenschaftlichen Forschung 19 geschieden - zum einen ist die Sprache von ihrem akustischen Auftreten getrennt zu betrachten, denn der Laut ist Lars Meyer 36 (16) “[…] nur das Werkzeug des Gedankens und existiert nicht für sich selbst. […] der Laut, eine zusammengesetzte akustisch-stimmliche Einheit, bildet seinerseits mit der Vorstellung eine zusammengesetzte Einheit, die physiologisch und geistig ist.” (Saussure 1916: 10) In diesem Sinne ist der Laut (bzw. das image acoustique, Lautbild, das als mentaler Inhalt zu verstehen ist und nicht mit dem akustischen Laut zusammen fällt) dem im eigentlichen Sinne sprachlichen Zentrum des Zeichens lediglich neben geordnet und zunächst zu vernachlässigen 20 . Wie die Sprache nun nicht gleich dem Laut ist, und dieser nicht eigentlicher Gegenstand ihrer Betrachtung, so ist auch das Denken es nicht und die Sprache nicht isomorph demselben: Sie ist Zwischeninstanz und vermittelt zwischen Denken und Äußerung, gibt jenem eine Form vor, die sich in dieser zeigt: (17) “Die Sprache hat also […] die Rolle […], als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen […]. Psychologisch ist unser Denken […] nur eine gestaltlose und unbestimmte Masse […] , und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt […]. Die Sprache ist ferner vergleichbar mit einem Blatt Papier: Das Denken ist die Vorderseite und der Laut die Rückseite 21 . […]; diese Verbindung schafft eine Form, keine Substanz.” (ebd. 133f) Der Begriff der Form nun wird von Saussure häufig gebraucht, seine Definition jedoch erscheint nicht immer deutlich - die gängige Interpretation (vgl. Coseriu 1975: 235f und Stetter 2005: 190) siedelt sie auf der Seite der menschlichen Rede an. An anderen Stellen aber liest sie sich wieder als Bezeichnung für das Netz aus Relationen, das die einzelnen sprachlichen Zeichen innerhalb der Sprache unterhalten: (18) “Wie die Sprache nun aber einmal ist, kann es in ihr, von welcher Seite man auch an sie herantritt, nichts Einfaches geben; überall und immer dieses selbe beziehungsreiche Gleichgewicht von Gliedern, die sich gegenseitig bedingen. Mit andern Worten: die Sprache ist eine Form und nicht eine Substanz.” (ebd. 146) Will man beide Lesarten zur Deckung bringen, muss das System der Sprache ein Ausdruck der Form, die die menschliche Rede vorgibt, darstellen. Sieht man, wie oben gesagt, von den genannten physischen und psychischen Faktoren ab, bleibt diese Basis. Als Form ist sie zu verstehen i.S. einer “[…] rezipierenden und koordinierenden Fähigkeit, wodurch sich bei den sprechenden Personen Eindrücke bilden, die schließlich bei allen […] die gleichen sind.” (ebd. 16) 22 , als “psychische Formation im Bewußtsein der sprechenden Subjekte” (Stetter 2005: 190) also. Die Sprache als Ausdruck der menschlichen Rede nun besitzt ein inneres System, eine innere Struktur 23 , deren Gestaltung ihren Begriff in der modernen Sprachwissenschaft vielleicht am nachhaltigsten geprägt hat: (19) “Die Sprache […] stellt ein innerlich in all seinen Teilen geordnetes System dar, […].” (Saussure 1891-1911), “Eine Sprache bildet ein System. […] dieses System ist ein komplizierter Mechanismus.” (Saussure 1916: 86) Um dieses innere System der Sprache zu fassen, verwendet Saussure verschiedene Metaphern, teils die des Mechanismus, teils die des Organismus 24 : “Selbstverständlich kann eine Maschine, ein Mechanismus, nicht eher als ein Organismus zum Vergleich dienen” (Saussure 1891-1911: 371). Konstituierendes Merkmal des einen wie des anderen ist, das ein jeweils Ganzes aus Bestandteilen, deren jedes in seiner Funktionsweise auf die übrigen abgestimmt und angewiesen ist et vice versa. In der Veränderung wird dies offenbar: Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 37 (20) “Es ist, als ob einer der Planeten […] Dimension und Gewicht änderte: dieses Einzelereignis würde allgemeine Folgen haben und das Gleichgewicht des ganzen Sonnensystems beeinträchtigen. […] Die Umgestaltungen vollziehen sich niemals am System als Ganzem, sondern an einem oder dem andern seiner Elemente […]. Allerdings hat jede Umgestaltung ihre Rückwirkung auf das System […]” (Saussure 1916: 100ff) Das so gebildete System ist nicht im Sinne eines Fundus fest definierter Teile zu verstehen, eines Systems von Inhalten, als wären die einzelnen Teile des Systems positive Entitäten. Vielmehr sind sie als Knoten in einem Netz aus Oppositionen zu denken, und ihre Definition ist eine relationale, negative; “[…] denn die Sprache ist ein System von bloßen Werten, das von nichts anderem als dem augenblicklichen Zustand seiner Glieder bestimmt wird.” (ebd. 95). Dieses Gefüge wird in der Folge, so etwa bei Brinker (1977: 12), häufig als Regelsystem einer Sprache interpretiert. Saussure selbst verwendet diese Formulierung nicht, verwehrt sich an anderer Stelle 25 sogar explizit gegen diese Interpretation: (21) “Wenn man sagt, daß sie [die Werte, L.M.] Begriffen entsprechen, so deutet man […] an, daß diese […] durch Unterscheidungen bestehen, die nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Gliedern […] definiert sind. Ihr bestimmtestes Kennzeichen ist, daß sie etwas sind, was die andern nicht sind.” (Saussure 1916: 139f) Der Wert des einzelnen sprachlichen Zeichens liegt so nicht in seinem positiven, sondern seinem distinktiven Gehalt, in der Opposition zu den übrigen Zeichen 26 : “Element und Merkmal […] sind dasselbe.” (Saussure 1891-1911: 380). Dieser Punkt wird an mehreren Stellen durch weitere Analogien hervorgehoben 27 . Das relationale System i.S. der Repräsentation eines menschlichen Potenzials ist kein angeborenes; unterstrichen wird das Verständnis von der Sprache als einem (22) “[…] Schatz, den die Praxis des Sprechens in den Personen, die der gleichen Sprachgemeinschaft angehören, niedergelegt hat, ein grammatikalisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert. […] sie ist das Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert.” (ebd. 16) Dies kann nicht als Plädoyer für ein genetisches Sprachverständnis gewertet werden; diese Stelle betont vielmehr, das gerade das grammatikalische System der sozialen Konstitution bedarf 28 . Für Dresselhaus (1979: 51) ist die Sprache zwar logisch unabhängig von letzterer denkbar: “Die Langue könnte […] existieren, ohne jemals realisiert worden zu sein.” Zur Konstitution aber ist das Sprechen “[…] historisch betrachtet […] das zuerst gegebene Faktum.” (Saussure 1916: 22): (23) “Sie [die Sprache, L.M.] ist der soziale Teil der menschlichen Rede und ist unabhängig vom Einzelnen, welcher für sich alleine sie weder schaffen noch umgestalten kann; sie besteht nur kraft einer Art Kontrakt zwischen den Gliedern der Sprachgemeinschaft. Anderseits muss das Individuum sie erst erlernen, um das Ineinandergreifen ihrer Regeln zu kennen […].” (ebd. 17) Den Aspekt der sozialen und konventionellen Konstitution hebt Saussure an vielen Stellen hervor. Um das Zustandekommen der Sprache in sozialer Weise - “Ihre soziale Natur gehört zu ihrem inneren Wesen.” (ebd. 91) - als ein konventionelles System zu definieren, wird stets auf die Möglichkeit der Produktion und Reproduktion rekurriert 29 : Lars Meyer 38 (24) “Sie [die Sprache, L.M.] ist zu gleicher Zeit ein soziales Produkt der Fähigkeit zu menschlicher Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen […] Zwischen allen Individuen, die so durch die menschliche Rede verknüpft sind, bildet sich eine Art Durchschnitt aus - alle reproduzieren […] dieselben Zeichen, die an dieselben Vorstellungen geknüpft sind.” (ebd. 11ff) Die Sprache als kollektive Einheit kann als ein nicht mehr abstrakter, sondern durch den innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft relativ festen Charakter des zweiseitigen sprachlichen Zeichens durchaus konkreter Gegenstand analysiert werden. Dass dies trotz allem problematisch ist, liegt auf der Hand, denn die Sprache ist für den Betrachter immer nur anhand des Sprechens beobachtbar, und so als Gegenstand lediglich virtuell zu fassen (vgl. Albrecht 2000: 31). Nach Saussure (1916: 23) aber besteht sie als ganzheitlicher Gegenstand (25) “[…] in der Sprachgemeinschaft in Gestalt einer Summe von Eindrücken, die in jedem Gehirn niedergelegt sind, ungefähr so wie ein Wörterbuch, von dem alle Exemplare, unter sich völlig gleich, unter den Individuen verteilt wären.” (ebd. 23) Das Wesen dieses konkreten Gegenstandes kann nicht einseitig als das einer festen Setzung begriffen werden; vielmehr ist er gerade durch seine Konstitution im Sprechen dem steten Wandel unterworfen. Es besteht ein Dualismus, gleichsam aus dem Sein der Sprache und ihrem Werden im Sprechen. Sie ist einerseits im Fluss, andererseits im Beharren befindlich: (26) “[…] das Beharrungsstreben der Menge von Sprachgenossen steht sprachlichen Neuerungen im Wege.” (ebd. 86), “[…] während es in Wirklichkeit nie […] ein […], stabiles Gleichgewicht gibt. Wir setzen also das Prinzip des unablässigen Wandels der Sprachen als absolut.” (Saussure 1891-1911: 259) Betont werden sollte, dass die Diskussion des Cours mit der Konstitution der Sprache im Sprechen jene als individuelleres Phänomen begreift (vgl. z.B. Hiersche 1972: 10), da jedes Individuum in seinem Leben unterschiedliche Manifestationen des Sprechens rezipiert und sich damit eine individuelle Sprache heraus bildet; diese Interpretation geht aber möglicherweise zu weit, da das, was Saussure Sprache nennt, kollektiver Besitz ist 30 . Es “existiert […] in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen; denn die Sprache ist in keinem derselben vollständig, vollkommen existiert sie nur in der Masse.” (Saussure 1916: 16). Soweit zur grundlegenden Gestalt des Begriffs der Sprache bei Ferdinand de Saussure. Da dieser stets in einem Atemzug mit dem des Sprechens verwendet wird und beide nur durch enge, sich gegenseitig bedingende Relationen charakterisierbar sind, folgt nun der Abriss des zweiten Gliedes der Dichotomie, des Sprechens 31 . 2.2 Die parole Wenn man, wie oben erwähnt, die Sprache als kollektiven Besitz einer jeweiligen Sprachgemeinschaft versteht, als ein - wenn auch virtuelles - System, so kann das Sprechen vielleicht am ehesten als das kreative und individuell-willentlich verfügbare Prinzip 32 - […] “die Ausübung […] ist immer individuell und das Individuum beherrscht sie; wir werden sie das Sprechen […] nennen.” (Saussure 1916: 16) - diesem gegenüber gestellt werden, deren stete Produktion und Rezeption die Sprache ausbildet: (27) “Andererseits erlernen wir unsere Muttersprache nur, indem wir andere sprechen hören; sie kann sich nur infolge unzähliger Erfahrungen in unserem Gehirn festsetzen. Endlich ist es auch das Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 39 Sprechen, was die Entwicklung der Sprache mit sich bringt: die Eindrücke, die man hört, gestalten unsere Sprachgewohnheiten um. Es besteht also eine gegenseitige Abhängigkeit von Sprache und Sprechen; dieses ist zugleich das Instrument und das Produkt von jener.” (Saussure 1916: 23) Wo die Sprache sich, wie oben erwähnt, eher auf eine passive Art durch das Sprechen konstituiert - dieses ist immer “Ort der sozialen Arbeit am […] System” (Stetter 1996: 429) -, wird das Sprechen i.S. des einzelnen Sprechaktes als aktiv beschrieben: (28) “Das Sprechen ist […] ein individueller Akt des Willens und der Intelligenz, bei welchem zu unterscheiden sind: 1. die Kombinationen, durch welche die sprechende Person den code der Sprache in der Absicht, ihr persönliches Denken auszudrücken, zur Anwendung bringt; 2. der psycho-physische Mechanismus, der ihr gestattet, diese Kombinationen zu äußern.” (Saussure 1916: 17) Diese Aktivität hat, wie so viele der Begriffe Saussures, wieder zwei Seiten: Zum einen stellt sie die psychische Fähigkeit dar, aus dem Teil der Sprache, über den das sprechende Individuum verfügen kann, eine Kombination, etwa einen Satz 33 , zu erzeugen. Zum anderen muss ein weiterer Teil, ein Bindeglied zwischen dem mentalen Inhalt sowohl des Satzes als auch der ihm zugeordneten Lautbilder, und dem physischen Akt der Äußerung der letzteren vorhanden sein. Eine weitere Stelle unterstreicht den Dualismus: (29) “Es [das Sprechen, L.M.] ist eine Summe von allem, was die Sprachgenossen reden, und umfaßt: a) die individuellen Kombinationen, welche abhängig sind von dem Willen der Sprechenden, b) die Akte der Lautgebung, welche gleichermaßen vom Willen bestimmt werden und notwendig sind zur Verwirklichung jener Kombinationen. Also ist beim Sprechen nichts kollektiv; die Auswirkungen sind individuell und momentan.” (Saussure 1916: 23) An dieser Stelle erscheint aber auch das Sprechen als kein rein individueller Vorgang; zumindest bezeichnet der Begriff nicht nur den einzelnen Sprechakt. Es liest sich hier so, als wäre wiederum die Gesamtheit der im einzelnen immer individuellen Sprechakte innerhalb einer Sprachgemeinschaft das, was das Sprechen als Gegenstand bezeichnet. Wie Dresselhaus (1979: 44) hierzu versöhnlich schreibt, ist eine strikte Korrespondenz jedes der Begriffe zu entweder einer sozialeren oder individuelleren Seite nicht gegeben: “Die Parole und die Langue können sowohl unter dem sozialen, als auch unter dem individuellen Gesichtspunkt betrachtet werden” 34 . Für die Beschreibung des Rückwirkens einzelner Sprechakte auf die Sprache nun ist einmal mehr nur eine dualistische Konzeption adäquat, die sich im Begriff der Analogie 35 ausdrückt und ein auf der einen Seite bewusstes und individuelles, auf der anderen unbewusstes und sozial bedingtes Prinzip darstellt: (30) “[…] das Phänomen der Analogie […]. Man kann sich davon […] nicht besser Rechenschaft geben, als wenn man einem drei- oder vierjährigen Kind zuhört. Sein Sprache […] ist ein wahrhaftes Gewebe von analogischen Bildungen […]. In einem Sinn ist es nicht eine Transformation, sondern eine Kreation, aber letztlich ist es nur eine Transformation […] Es wird also nie eine Schöpfung ex nihilo geben, sondern jede Erneuerung wird nur die neue Anwendung von Elementen sein, die vom vorangehenden Sprachzustand […] geliefert werden.” (Saussure 1891-1911: 250) Das Prinzip der Analogie bleibt für Saussure, bei allem sozialen Anteil daran, Stetter (1996: 427) das “[…] Prinzip sprachlicher Kreativität schlechthin.” Dabei bleibt festzuhalten, dass keinesfalls jede der individuell gebildeten Analogien Eingang in die Sprache findet: Lars Meyer 40 (31) “Im Sprechen […] ruht der Keim aller Veränderungen: Jede derselben ist zunächst von einer gewissen Anzahl von Individuen aufgebracht worden, ehe sie in Gebrauch kam. […] (Saussure 1916: 17) und “Nichts wird in die Sprache aufgenommen, ohne vorher im Sprechen ausprobiert zu sein; alle Entwicklungserscheinungen wurzeln in der individuellen Sphäre […]. Keineswegs alle analogischen Neuerungen haben diesen Erfolg. Jeden Augenblick stößt man auf Kombinationen, die keine Zukunft haben […].” (Saussure 1916: 201) Eine Sprachgemeinschaft sanktioniert in diesem Sinne jede Neuerung, die von ihren Mitgliedern erzeugt wird: “Die Sprache […] muß, um sich dem Geist des Individuums aufzudrängen, zuerst die Sanktion des Kollektivs haben.” (Saussure 1891-1911: 385) 36 . So weit auch der Abriss einer der bekanntesten und einflussreichsten der Dichotomien Ferdinand de Saussures, der nun noch einmal in verdichteter Form wiedergegeben wird. 2.3 Ein zweites Zwischenfazit Die Sprache wurde in ihrer äußeren und inneren Gestalt dargestellt, und ihre Interaktion mit dem Sprechen wurde umrissen. Das Sprechen wurde, so weit möglich, gegen die Sprache abgegrenzt und zu ihr in Beziehung gesetzt, dabei die Frage erörtert, welcher der Begriffe sich eher unter Einfluss des autonomen Willens, und welcher sich eher kollektiv konstituiert. Wie klar geworden sein sollte, ist die oben versuchte, eindeutige Trennung der beiden Begrifflichkeiten Sprache und Sprechen nicht nur auf den ersten Blick nicht sonderlich scharf, und die Frage nach dem dominanteren Partner gleicht derjenigen nach Huhn und Ei. In der Literatur finden sich Belege, meist aus dem Cours, die mit solchen aus dem Nachlass widerlegt werden können und werden - wobei der Cours, vielleicht auf Grund seiner Editionsgeschichte, den homogeneren der Texte darstellt. Auch Dresselhaus (1979: 44f) weist vor diesem Hintergrund darauf hin, dass im Hinblick auf den Verlauf der Vorlesungen Saussures nicht immer klar zu sagen ist, ob es nun eindeutig die Sprache ist, die durch die Möglichkeit der Analogiebildung das Sprechen jeweils neu erzeugt, oder ob es der kreative Sprechakt ist, aus dem ein rein virtueller Gegenstand Sprache resultiert. Die Wahrheit nämlich, dass es “hinter dem Sprechen eine Sprache” (Stetter 2005: 168) als ein System von types gibt, die den token (vgl. Peirce 1906-1908: 83f) des Sprechens zu Grunde liegen, ist zumindest an dem Punkt, an dem Saussure sich befindet, eine lediglich intuitive und induktiv nicht erzeugbare, trotz aller Setzung der Sprache als vorgeblich nichtabstrakten Gegenstand. Weiterhin auffällig ist, dass die Trennung zwischen den Begriffen der Sprache und der menschlichen Rede oft an Schärfe zu wünschen übrig lässt, gerade, wenn die vorbelastete Form in ihrer Vorbelastung parallel zu jener auftritt. Hier wird folgender Interpretation gefolgt: “Man muß in der Sprache (langage) drei Ebenen unterscheiden: die universale Ebene der Aktivität des Sprechens, die historische Ebene der Einzelsprachen und die besondere Ebene des Diskurses (oder des “Textes”)” (Coseriu 1975: 242). Damit wird aber deutlich, dass die Sprache keineswegs als festes, psychisches System gelten kann, sondern eine Repräsentation der menschlichen Rede darstellt. Nur diese könnte, falls dies von Saussure so intendiert ist, den Status eines solchen Systems einnehmen. Nach der Herausarbeitung der begrifflichen Inhalte bei den beiden hier besprochenen Sprachphilosophen sollte zum einen deutlich geworden sein, dass ihre zweigliedrigen Begriffskonzeptionen sehr ähnlich, teils nahezu parallel sind. Der bei beiden vorhandene dritte Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 41 Begriff, die äußere Form bei Humboldt, menschliche Rede bei Saussure, ist weniger deutlich korrespondierend; gerade um die menschliche Rede spielt sich eine ausgedehnte Diskussion ab; es ist z.B. nicht klar, ob auch der jeweils dritte der Begriffe als offen für Veränderungen gedacht ist und wie genau er strukturell bzw. repräsentationell mit dem Organismus bzw. der Sprache zusammenhängt. Wohl zeigt sich aber deutlich, dass bei vielen der Ideen, gerade in Bezug auf ein abstraktes sprachliches System und seine interne Struktur starke Übereinstimmungen bestehen. Besonders die soziale und funktionale Art der Konstitution des sprachlichen Systems ist ein wiederkehrender Gedanke. Bei aller in den letzten Teilen herausgestellten Ähnlichkeit ist aber wichtig zu betonen, dass der Einfluss Humboldts auf Saussure trotz der starken Ähnlichkeiten in ihren Konzeptionen schwer zu belegen ist (vgl. Stetter 1995: 36). 3 Die Polarisierung Mit vielen Zwischenstationen 37 führen die besprochenen, ursprünglich untrennbar zweiseitigen Konzeptionen 38 in einen Gegensatz und offenen Konflikt zwischen stets um die eigene Legitimation bemühten Theorien, den Anhängern einer funktionalistischen Erklärung von Sprache auf der einen, denjenigen einer formalistischen 39 auf der anderen Seite. Nach dem bisher Gesagten verfahren beide jedoch selektiv bei der Eingrenzung ihrer Gegenstandsbereiche, und somit ist der Vorwurf genereller Inadäquatheit an jeden der Ansätze ein falscher: Es ist vielmehr so, dass die Theorien ursprünglich nur für ihren genuinen Gegenstand aufgestellt wurden und taugen können - “what unites both positions is […] their unfailing reductionism” (Givón 1995: 19). Funktionalistische Grammatiktheorie beschreibt mit Humboldt die energeia, den Akt, oder mit Saussure das Sprechen, und kann mit ihrem präsupponierten Sprachverständnis auch nichts anderes tun. Für den Gegenpol einer wie auch immer gearteten formalistischen Grammatik gilt das Umgekehrte; das ergon, der Typus oder die äußere Form mit Humboldt und menschliche Rede mit Saussure sind hier zentral. Die jeweiligen Beschreibungsmittel nun scheinen zu beschränkt, um Aussagen über beide Aspekte machen zu können. Einseitig argumentierende Funktionalisten und Formalisten reden so nicht gegeneinander, sondern aneinander vorbei: “Es ist ein echter Kirchenstreit, bei dem beide Seiten sich auf dieselben Heiligen Schriften beziehen, um sich dann besser die Köpfe im Namen von Sankt Humboldt einschlagen zu können” (Trabant 1998: 193). Dass die sprachwissenschaftliche Beschäftigung aber in Dichotomien verfahren muss, fodert der sowohl von Humboldt als auch von Saussure erkannte Charakter ihres Gegenstandes. Fraglich ist so nicht die Existenzberechtigung eines der beiden Pole der Grammatiktheorie, sondern wie ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche zu einander stehen, wie also der Repräsentationsmodus beider Medaillenseiten beschaffen ist. Um nun zu zeigen, dass “There is no a priori incompatibility between adopting a functional point of view on the one hand, and trying to apply a consistent system of formalization on the other.” (Bolkestein 1993: 339) 40 , wird in den nächsten beiden Abschnitten das Potential der Komplementarität der opponierenden Positionen ausgelotet. Lars Meyer 42 3.1 Der Funktionalismus Der Weg zu einer funktionalistischen Erklärung von Sprache und einer deskriptiven Grammatik des Sprechens 41 führt nun nicht direkt von der energeia Humboldts bzw. dem Sprechen Saussures zu ihren Reflexen bei Dik (1978 und 1993), Zifonun et al. (1997) oder Halliday (2004). Als Zwischenstationen können auf Seiten der Linguistik Trubetzkoy (1939) oder Jakobson (1969) gelten, auf Seiten der Sprachphilosophie Wittgenstein (1921) und Bühler (1934), Sprechakttheoretiker wie Austin (1962), Arbeiten zur Informationsstruktur (vgl. Bolkestein 1993: 339) und solche zur Theorie der Perspektive (z.B. Dürscheid 2004) 42 . Die Implementation einer umfassenden Kontexttheorie hingegen hat nur ansatzweise stattgefunden, am ehesten noch bei Zifonun et al. (1997: 410ff). Allen funktionalistischen Ansätzen ist gemein, dass sie die Entstehung der menschlichen Sprachfähigkeit und der individuellen sprachlichen Äußerung aus ihrer primären Funktion als ein “instrument in communication, that is, in verbal interaction between human beings” (Bolkestein 1993: 340) herleiten 43 . Als Variablen, die das Sprechen bedingen, sind bei einem Teil der Autoren soziale und kommunikative zentral, die außerhalb des Einflusses der sprechenden Subjekte stehen. Givón (1995: xv) argumentiert versöhnlich und stärkt die Intentionalität: “the natural parameters […] cognition and communication, the brain and language processing, social interaction and culture, change and variation, acquisition and evolution” 44 . Eine grammatische Äußerung müsste “the most orderly or efficient means of conveying information, the desirability of foregrounding or backgrounding events in the discourse, the speaker’s desire for economy, the hearer’s demand for clarity” (Newmeyer 1998: 10f) verbinden. Ein Teil der funktionalistischen Forschung führt die Interaktionsmuster menschlicher Gesellschaften und die als isomorph gedachten, aus ihnen resultierenden wie sie bedingenden sprachlichen Muster auf eine “universality of function” (Givón 1995: 18) zurück 45 . Über die Natur dieser funktionalen Universalien herrscht Uneinigkeit (vgl. Haspelmath 2006: 18f), doch werden sie meist “derived from scales of processing difficulty” (Haspelmath 2006: 19), d.h. Ökonomieprinzipien (vgl. Deacon 1998). Dies wäre nach Humboldt aber damit zur Deckung zu bringen, dass der einzelne Sprechakt die Offenheit der bestehenden, kollektiven Analogie für immer neue Analogien anzeigt, dass mit jedem Sprechakt eine erneute Synthese durchlaufen wird (vgl. Simon 1971: 108). Auch wäre wiederum nach der - mentalen, psychischen, neurophysiologischen - Repräsentation der Kenntnis von Ökonomieprinzipien zu fragen, wie auch nach der Möglichkeit, durch neue gesellschaftliche Anforderungen an die Sprache Modifikationen an diesen vornehmen zu können. Ein Vorteil des Ansatzes scheint zu sein, dass er einen plausiblen Rahmen für die Beschreibung des Sprachwandels bietet; für Givón (1995: 10), “rise and subsequent change of grammatical structures is always functionally motivated”. Ob jedoch die gemäß der Prämisse von Sprache als kommunikativ konstituiertem Mittel primären sozialen Faktoren die ausschlaggebenden für den Wandel von Sprache sind, ist umstritten; Labov etwa (1987: 319) argumentiert entgegengesetzt anhand phonetischer Wandelerscheinungen: “The data available so far shows that the need to communicate information is a persistent but weak constraint on the development of linguistic form.” Nach dieser Schilderung der Prämissen soll nun ihr Niederschlag in der Architektur einer Grammatik, als jüngster derjenigen Hallidays (2004) kritisch umrissen werden. Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 43 3.1.1 Hallidays Funktionale Grammatik Halliday begreift die Genese der höheren kognitiven Fähigkeiten, unter die er das grammatische bzw. lexikogrammatische System subsumiert 46 , als “evolution of the organism’s resource for constructing reality” (Halliday 2000: 222): Menschliche Sprache ist damit Konstituens des introspektiven Bewusstseins - ähnlich wie bei Humboldt 47 . Das lexikogrammatische System einer Sprache, “its syntax and vocabulary, together with any morphology” (ebd. 221), m.a.W. das virtuelle sprachliche System Saussures, stellt damit wieder eine hypothetische Analogie auf die Realität, erneut im Sinne Humboldts, dar 48 . Damit ist auch die Funktionale Grammatik, implizit kognitivistisch orientiert (vgl. Newmeyer 1995: 14) 49 . Der Analogiecharakter bestimmt auch den Satzbegriff der Grammatik wesentlich mit, der neben den Sprecherintentionen und Dialogerfordernissen auf einem realitätsrepräsentationellen Aspekt fußt; dieser determiniert somit das einmal mehr postulierte System 50 der language, das im Sinne des lexikogrammatischen Systems als Ordnungsinstanz einer Bedeutungsebene charakterisiert wird (vgl. Halliday 2004: 21). Einseitig nun ist der Gedanke, dass sich dieses System erst im Kontakt mit einer gesellschaftlichen Realität bilden kann: “infants’ protolanguage […] has yet no grammar at all” (ebd. 24). Auf die Frage nämlich, warum das kindliche Gehirn danach strebt, ein lexikogrammatisches System herauszubilden - “What features of cognitive architecture enable the evolution of a mental lexicon? ” (Levelt 1998: 169) - und welche Muster den Erwerb reglementieren (vgl. Atchinson 1997, Jusczyk 1997, Guasti 2002), wird keine Antwort gegeben. Für eine Grammatik sind dies vielleicht nebensächliche Fragen, doch ist dies eine deutliche Positionsbestimmung. Ist das lexikogrammatische System Ordnungsinstanz der Bedeutungsebene, stellt sich die Frage nach der Architektur der Semantik, der Ebene, von der aus der Prozess der Erstellung einer syntaktischen Form 51 stattfindet. Das lexikogrammatische System als Objekt dieser Grammatik, als Mittel und Resultat der Abbildung von und Kommunikation über Realität 52 - die uns nicht nur verbal, sondern in weit größerem Maße auf anderen perzeptuellen ‘Kanälen’ erreicht - muss aber, wenn es Repräsentation der Realität sein soll, durch einen linguistisch höchst relevanten semantischen Bündelungsprozess konstituiert werden, der die syntaktische Form in entscheidender Weise beeinflusst. Die Einbettung dieser semantischen Ebene wird mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen verworfen (Halliday 2004: 588); es werden lediglich aus dem lexikogrammatischen System des Englischen heraus vermeintliche Aspekte semantisch repräsentierter Information postuliert, wie auch an anderer Stelle syntaktische Konstellationen auf induktiv gewonnene, in ihnen repräsentierte Vorgangsmuster zurück geführt. Dass in der Folge dann aber konzeptionell die semantische Ebene als Resultante der Sprachgenese verstanden und darauf reduziert wird (vgl. ebd. 31) ist nicht ein Kompromiss, sondern eine reduzierte und nach Ergebnissen aus der Primatenforschung 53 falsche Perspektive. Wenn funktionalistisch argumentiert wird, können nicht verbale Daten und das beobachtbare Verhalten bei ihrer Rezeption und Produktion als alleiniges Konstituens von Bedeutung und ihrer Repräsentation in Sprache gesetzt, sondern muss die Bandbreite an perzeptuellen Mitteln nebst ihrem kognitiven Anhang als einflussreich begriffen werden: Nicht nur die Funktion der Sprache determiniert ihre Gestalt, sondern auch die der übrigen menschlichen Rezeptions- und Produktionssysteme und deren vorsprachliche Bündelung. Mit dieser Schilderung der Eckpunkte und auffälligsten Aussparungen wird deutlich, dass diese Grammatik durchaus nicht einem extremen Funktionalismus - der dann auch eher in der Lars Meyer 44 Sprachphilosophie des späten Wittgenstein (1953) zu Hause ist und nur selten auf die Linguistik übertragen wurde - zugerechnet werden kann. Mit dem repräsentationellen Charakter des lexikogrammatischen Systems auf der einen und dem Gedanken der analogischen Struktur von Kognition und Sprache auf der anderen Seite ist das Sprechen zwar situiert, nicht aber als hermetisch und solipsistisch gesetzt. Nach diesem Abriss folgt nun ein zweiter, der die Grundelemente des Formalismus und einer fortgeschrittenen formalistischen Grammatik zum Gegenstand hat. 3.2 Der Formalismus Auch die formalistische Sprachbetrachtung lässt sich nicht direkt von ihren Ahnherren auf die heutigen Ausprägungen zurück führen - neben der Sprachphilosophie des Europäischen Strukturalismus 54 (z.B Hjemlslev 1968) sind linguistische Vorläufer der Amerikanische Deskriptivismus (z.B. Bloomfield 1933) und Behaviorismus; Resultate sind u.a. der Generativismus und der kognitivistische Zweig (z.B. Lakoff 1987), der heute in intensiver Interdisziplinarität mündet. Ziel formalistischer Sprachbetrachtung ist das Auffinden der postulierten grundlegenden Regeln, die die wohlgeformten Sätze einer Einzelsprache determinieren. Ziel ist also die Modellierung der äußeren Form Humboldts, und nicht, wie Stetter (2005: 169ff) kritisiert, die der Sprache Saussures. Der wohl prominenteste Vertreter, der Generativismus 55 , setzt die Gesamtheit dieser Regeln als ein - mehr oder weniger vermitteltes - Abbild der menschlichen Sprachfähigkeit, als “device that specifies the well-formed sentences of the language and their structures” (Newmeyer 1998: 9; vgl. Chomsky 1986). Der Erwerb dieser Fähigkeit wird als Ausformung genetischer Anlagen unter gegebenen Umweltbedingungen verstanden - bei Chomsky (1993) als Fixierung eines Anfangs variablen mentalen Zustandes, als Aussteuerung bestimmter universaler Parameter (Meisel 1995), bei Prince et al. (1993) als Festsetzung ihres Interaktionsschemas. Die Universalienforschung liegt also bereits in den Prämissen des generativen Paradigmas bedingt, wobei zum einen die Erfolgsaussichten gespalten sind und zum anderen bis heute keine umfassende Auflistung der Parameter oder Constraints der Universalgrammatik stattgefunden hat; wie Haspelmath (2006: 6) schreibt, ist der primäre Grund hierfür wohl, dass “most of them are not easy to isolate form the assumptions about UG in which they are embedded, and these differ substantially from author to author and from year to year.” Auch ist nicht klar, ob die Universalien einer Grammatik in diesem Sinne lexikonextern und morphosyntaktisch oder vielmehr lexikonintern, die Syntax nur als Resultat begreifend, zu beschreiben sind (vgl. Haspelmath 2006: 10). Im Gegensatz zu funktionalistischen Ansätzen, die die Ausprägung der individuellen Sprachfähigkeit im Spracherwerb nur induktiv setzen 56 und kontingent mit neurolinguistischen Befunden zum statistischen Lernen (vgl. Breitenstein 2003) korrelieren können, werden innerhalb des Generativismus Ansätze zur Modellierung derjenigen Anlagen, die statistische Verfahren ermöglichen, erstellt; dass den Spracherwerb Restriktionen eindeutig physiologischer Natur reglementieren, zeigt schon Pinker (1989): Das Paradox der tabula rasa, das der funktionalistischen Erklärung des Spracherwerbs anhaftet, wird vermieden. Der Generativismus ist laut einer verbreiteten Kritik dazu gezwungen, den Sprachgebrauch von der Sprachfähigkeit 57 zu scheiden. Da er sprachliche Äußerungen sämtlich auf zu Grunde liegende menschliche Anlagen zurückführen will, wird der Sprachgebrauch hier degradiert als die “jeweilige Art der stimmlichen Aktualisierung einer rein “mentalen” Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 45 Sprachkompetenz, die “Aufführung” der Sprache” (Simon 1971: 104): “constructions are considered to be wholly epiphenomenal.” (Newmeyer 1995: 11). Eine einseitig formalistische Grammatiktheorie will, so die häufige Kritik, die äußere Form ohne Rücksicht auf Sprechen und Sprache erklären; das “Äußern und Verstehen von Sätzen im Vollzug von Sprechhandlungen ist in genuin linguistischer Perspektive lediglich als der theoretisch uninteressante Gebrauch eines zugrundeliegenden und wissenschaftlich allein relevanten Kenntnissystems zu verstehen.” (Jäger 1994: 294) 58 . Diese Kritik ist reflexhaft und kann sich, wie im folgenden gezeigt wird, im Kern nur auf ältere generative Modelle beziehen. Der Vorwurf der relativen Statik und Hermetik gegenüber dem Einwirken des konkreten Sprachgebrauchs auf Veränderungen an der Sprachkompetenz jedoch ist stichhaltig und soll weiter unten diskutiert werden. Zunächst aber möchte ich kurz auf ein aktuelles formalistisches Grammatikmodell eingehen, um dann mit einer abschließenden Diskussion Probleme und Potential beider beschriebener Herangehensweisen zu erörtern. 3.2.1 Die Optimalitätstheorie Das heute fortgeschrittenste und meist diskutierte formalistische Grammatikmodell in der Folge des Modells der Prinzipien und Parameter (Chomsky 1993) ist die Optimalitätstheorie (Prince et al. 1993, Müller 2000, Legendre 2001 u.a.). deren syntaktische Formulierung meist im Rahmen des Minimalistischen Programms (Chomsky 1995a) verfährt 59 . Die Optimalitätstheorie übernimmt die genuin generative These einer Universalen Grammatik und aus dieser abgeleiteter Einzelgrammatiken. Arbeitet das Modell der Prinzipien und Parameter noch mit der Annahme eines universalen Sets binärer Parameter 60 , die die Menge der wohlgeformten syntaktischen Strukturen der jeweiligen Einzelsprache determinieren, nimmt die Optimalitätstheorie ein universales Set von Constraints, die zum Aufbau wohlgeformter syntaktischer Strukturen führen, an 61 , deren je individuelle Hierarchie eine Einzelsprache charakterisiert. Für die Typologie bedeutet dies, dass “To propose a constraint ranking for one language in OT is to claim that all possible rerankings of these constraints yield all and only the possible human languages” (Legendre 2001: 15). Aus verschiedenen Gründen 62 wird angenommen, dass nicht alle möglichen Hierarchien auch Realisierung finden (vgl. Samek- Lodovici 2001: 321ff). Typologische Untersuchungen vor dem Hintergrund des Vergleichs von Constrainthierarchien zur Absicherung der Thesen sind dabei jedoch selten (vgl. aber Vikner 2001); für Haspelmath (2006: 12) “the skeptical reader cannot help being struck by the contrast between the ambitious rhetoric and the typically much more modest results.” Die Festlegung der Constrainthierarchie wird als Vorgang, der sich im Spracherwerb vollzieht, verstanden. Wie Jäger (2004: 264ff) zeigt, ist, wenn von einem statistisch-stochastischen Spracherwerb (vgl. Breitenstein 2003) - in Kombination mit einer gewissen neurophysiologischen Determination (vgl. Pinker 1989) desselben - der Erwerb von Constraints und Constrainthierarchien im Rahmen eines kumulativen Vorganges durchaus möglich. Führt in der Theorie der Prinzipien und Parameter die Verletzung der durch einen Parameter erzeugten Restriktion zur Ungrammatikalität, können die Constraints der Optimalitätstheorie verletzt werden, wenn eine hierarchisch höhere Restriktion dadurch befriedigt wird. Für den formalen Rahmen des Minimalistischen Programm gilt, dass die realisierte syntaktische Oberflächenstruktur als Output das optimale Resultat eines Sets von Kandidaten als Input ist: Eine gegebene Tiefenstruktur erzeugt ein Set von Kandidaten 63 , von denen derjenige an der Oberfläche realisiert wird, der die wenigsten oder hierarchieniedrigsten Constraints verletzt 64 . Lars Meyer 46 In revidierten Versionen (vgl. Blutner 1999) ist die Struktur des Modells bidirektional: Auch für die Interpretation einer sprachlichen Äußerung, auf dem Weg von der syntaktischen Ebene auf die semantisch-konzeptuelle (vgl. Wilson 2001: 493) wird ein Set möglicher Interpretationen erzeugt, dass nach Prinzipien der Optimalität verarbeitet wird: “So it seems that the mapping of linguistic forms to interpretations requires optimization both in the parsing and in the generation direction.” (Jäger 2000: 43): Die Constraints der Interpretation sind vor allem von den Ökonomieprinzipien der Sprechakttheorie beeinflusst (vgl. Blutner 1999: 6f). Das hohe Interesse an der Optimalitätstheorie und ihrer Anwendung auf die Syntax zeigt jedoch auch ihre derzeitigen Schattenseiten: Wie Haspelmath (2006: 12f) kritisiert, wächst die Menge der zur Erklärung schon grundlegender Probleme benötigten Constraints stetig über die ursprünglichen Annahmen hinaus: Die Anzahl und Art der Transformationsbeschränkungen ist bisher unklar, wie auch ihre Hierarchie derzeit Gegenstand intensiver Diskussion ist. 4 Kritik, Hinweise und Diskussion Es sollen nun die beiden im letzten Teil beschriebenen Systeme der Sprachbetrachtung und Grammatik sowohl intern kritisiert als auch einander gegenübergestellt werden. Zentrale Schwachstellen und Probleme sollen dabei ebenso herausgestellt werden wie Punkte, an denen die Positionen einander nahe liegen. Grob ist der Abschnitt in einen Teil zum funktionalistischen und einen zum formalistischen Ansatz gegliedert, wobei Überschneidungen erwünscht sind. 4.1 Erneut der Funktionalismus Bereits auf den ersten Blick drängt sich auf, dass für eine Grammatik funktionalistischer Prägung Kreativität und Intentionalität des sprechenden Subjekts sekundär sind: “In this account, pragmatics has in a sense priority over semantics ‘proper’ and syntax” (Bolkestein 1993: 345). Die Struktur konkreter sprachlicher Äußerungen wird damit als “a vessel […] for conveying a semantic structure which for some reason is selected as appropriate by the speaker in a certain pragmatic situation, on the basis of his assumptions about the interlocutor at that point in the interaction, and in view of his own communicative goal” (Bolkestein 1993: 1940). Dass dies impliziert, dass jeder Sprecher die genannten äußeren Faktoren bei der Erzeugung seiner Äußerung mit einkalkuliert haben muss, setzt aber eine zu Grunde liegende, zunächst konzeptuell gesättigte Struktur voraus 65 , die aber innerlich und damit mit funktionalistischen Mitteln nicht beschreibbar ist; ein Paradox bleibt. Eine Reaktion auf gegebene Umweltfaktoren, eine Abstimmung einer sprachlichen Äußerung auf ihren kommunikativen Zweck fußt auf einer internen Repräsentation; ohne eine solche und ohne das - implizite - Wissen darum, welches Mittel wie zu verwenden ist, kann keine gerichtete Kommunikation erfolgen. Auch die Abhängigkeit der syntaktischen Abfolge und des Umfangs sprachlicher Äußerungen von der Informationsstruktur wird (vgl. Bolkestein 1993: 342ff) auf Erfordernisse ihrer Funktion zurückgeführt. Dass dieser Einfluss besteht, ist unbestritten, doch greift auch hier wieder das beschriebene Paradox: Verwendet ein Sprecher eine bestimmte syntaktische Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 47 Struktur, und sei es, um bestimmte Konstituenten zu fokussieren, muss hierfür eine - bewusste oder unbewusste - Begründung vorliegen 66 . Die kommunikative Notwendigkeit der Anwendung sprachlicher Mittel resultiert primär aus der Notwendigkeit, einen bestimmten Inhalt zu kommunizieren: Möchte ich verstanden werden, muss ich eine semantisch konsistente Interpretation ermöglichen, unter allen Umständen 67 . Primäre Funktion des Sprechens, so trivial das erscheint, ist der Informationsaustausch 68 , die optimale Abstimmung einer Äußerung auf diese Funktion bleibt Mittel zu genau diesem Zweck. Der außersprachliche Kontext der verwendeten informationsstrukturellen Gliederung und die Diskursstränge verwendeter Begriffe ermöglichen nicht nur etwa die Reduktion des verbalen Anteils in einem Teil der Fälle, sondern erzwingen auch seine gesteigerte Redundanz in anderen. In beiden Fällen, sei es in der gesprochenen Sprache in umfangreichem, sei es in der geschriebenen in nichtvorhandenem bzw. unmittelbar im Text vorhandenem Kontext muss Kohärenz geschaffen werden: “one is to treat coherence not only as a methodologically useful observable artifact of the external text, but also as a cognitive phenomenon in the mind that produces and comprehends the text” (Givón 1995: 343). Am Anfang sowohl der Produktion von Text als auch derjenigen von Äußerungen 69 steht eine semantisch gesättigte, kohärente mentale Repräsentation (vgl. Givón 1995: 346). Ihre Umsetzung in der Kommunikation verwendet aber nicht nur sprachliche Mittel; die Beschreibung der Bandbreite sowohl sprachlicher Mittel der Erzeugung von Kohärenz als auch ihrer kognitiven Basis beschreibt Givón (1995: 341ff). Der Fokus fällt dabei weit breiter aus als der bei Halliday (2004) verwendete. Auf deskriptiver Seite eröffnen die Modelle jedoch durch ihren empirischen Ansatz - der mit Ausnahme einiger slawischer Sprachen anhand des Englischen konzipiert wurde - auf für den Mitteleuropäer exotischere Sprachen angewandt, Vorteile (vgl. Givón 1995: 73ff): Ein Phänomen wie die Informationsstruktur, die nicht in allen Sprachen im traditionellen Sinne syntaktisch markiert ist (vgl. Dürscheid 2004: 119) kann hier allgemeiner beschrieben werden: Die Herleitung von Grammatik erhält einen weiteren Fokus als den rein syntaktischen: “grammatical typology is the study of the diversity of structures that can perform the same type of function.” (Givón 1995: 76). Was aber jedoch wieder - methodisch bedingt - fehlt, ist eine Antwort auf die Frage nach der psychischen Repräsentation etwa einer Fokussetzung, gibt man diese nicht, beschreibt man Kontingenzen. Prideaux (1987: 298) kann hier als exemplarisch für die funktionalistische, nach dem eben Gesagten deskriptive und damit äußere Perspektive gelten, wenn er die psychischen Verarbeitungsmomente von Sprache nur als “analogues of certain notions developed by the Prague School functionalists” vernachlässigt. Wie Dürscheid (2004: 122) schreibt, kann eine Modellierung dieser repräsentationelle Ebene und der kognitiven Anlagen, die Sprachverwendung ermöglichen, nur in einem formalistischen Rahmen erklärt werden, formalistisch in dem Sinne, dass die zu Grunde liegende Form - im Sinne der äußeren Form Humboldts - zum eigentlichen Gegenstand gemacht, gewissermaßen eine Rückkehr in das Subjekt auch für den Funktionalismus vollzogen wird. Es lässt sich sagen, dass funktionalistische Sprachbeschreibung ein großes deskriptives Potential hat und vielerlei sprachliche Phänomene relativ unabhängig beschreiben kann. Werden diese aber einseitig auf äußerliche Faktoren zurückgeführt und das intentionale Subjekt und vernachlässigt, werden Kontingenzen beschrieben. Ohne Modellierung der Verarbeitungsschritte ist jede Beschreibung Mutmaßung. Möchte der Funktionalismus des weiteren den Kontext und die Kontextgebundenheit von Sprache und Sprechen fokussieren, muss er seinen Kontextbegriff ausdifferenzieren und nicht zuletzt die kognitiven Grundlagen Lars Meyer 48 der Einflussnahme und Interaktion außersprachlicher Faktoren auf und mit sprachlichen (vgl. Altmann 1988) greifbar machen. 4.2 Erneut der Formalismus Wie oben bereits gesagt wurde, ist die Rückführung der Sprachfähigkeit auf das menschliche Genom hoch problematisch, da Kommunikative Anforderungen an ein Mittel menschlicher Interaktion sich mit sozialen und kulturellen Strukturen wandeln, unvorhersehbar und in relativ hoher Geschwindigkeit: Wäre die Menge möglicher Grammatiken genetisch verankert, wäre die Anpassung eines sprachlichen Systems an eine neue gesellschaftliche Form nur mit großer Verzögerung - Veränderungen des Genoms verlaufen träge - möglich. Hier setzt auch die berechtigte Kritik Haspelmaths (2006) an, mit der er die Vorgehensweise der generativistischen Universalienforschung rügt: Werden der Fundus speziell syntaktischer Constraints empirisch gewonnen und nicht auffindbare Hierarchien als nichtmögliche Sprachen disqualifiziert, versperrt sich das Modell möglicherweise dem Sprachwandel oder setzt ihm zumindest zu enge Grenzen. Auch dieser Vorwurf ist häufig - gewinnt aber die formalistische Grammatiktheorie ihre Theorien letztlich anhand des Sprechens und nur adäquat dafür, betreibt sie in gewissem Sinne, wie Jäger (1994: 296) schreibt, “spekulativen Mentalismus”. Im Gegensatz dazu, “For functionalists, unattested languages may simply be improbable, but not impossible” (Haspelmath 2006: 15). In gewissem Sinne ermöglicht die funktionalistische Methodik hier größere Offenheit. Wollte die Optimalitätstheorie diese ebenfalls einarbeiten, müsste das Postulat der endlichen Menge möglicher Grammatiken aufgegeben werden, die Menge der Constraint als variabel gedacht oder zumindest die Möglichkeit der Variabilität einzelner Constraints über längere Zeitraum anerkannt werden: Auch die äußere Form Humboldts muss als variabel gedacht werden. Die Syntax, wird in den verschiedenen Stufen formaler und speziell generativer Theorie als ein psychisches Modul begriffen, letzten Endes als eine im menschlichen Genom verankerte Universalgrammatik. In dieser universalen Grammatik ‘gedachte Äußerungen’, deren “Extension […] neuronale Tatbestände” (Stetter 2005: 195) wären, sind damit in den Gehirnen aller Mitglieder der Gattung Mensch ermöglicht, d.h. die Sprache hinter den Sprachen wäre letztlich zerebrale Biochemie, die in eine formale Syntax übersetzbar sein müsste. Letztere aber bleiben die Fürsprecher formaler Sprachtheorie bis heute schuldig, womit der syntaktischen Modellierung auch hier eine untere Ebene der Repräsentation fehlt. Wird diese formuliert, geschieht dies stets, etwa in einem Ansatz wie dem Wierzbiczkas (z.B. 2002: 41ff) 70 , in einer Einzelsprache, hier dem Englischen 71 ; dies sind aber lediglich “empirische Universalien” im Sinne Coserius (1975: 234ff). Das Fehlen einer “nicht ambiguen theoretischen Sprache” (Stetter 2005: 197) bleibt stets eine Schwachstelle formaler und speziell der generativen Grammatik: Das Problem der Repräsentation bleibt damit der missing link. In diesem Zusammenhang sei auf die in der formalistischen Diskussion nach Bloomfield (1933) stets gegenwärtige Hypothese von einer Autonomie der Syntax eingegangen: Diese wird als von ihrer Semantik und besonders der Pragmatik getrenntes, autonomes Modul 72 verstanden, was eine modulare Sicht der Kognition impliziert. In der Entwicklung des Generativismus jedoch wurde die in ihrer starken Version heute als strukturalistisches Relikt zu bezeichnende These immer weiter geöffnet. Eine heute adäquate Sicht verwendet die konstruierte Autonomie der Syntax lediglich, um die Möglichkeit der Betrachtung eines abstrakten, hypothetischen Systems, das der Introspektion mit genuin linguistischen Methoden verschlossen bleibt, zu wahren. Sie akzeptiert aber den resultativen Charakter der Syntax Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 49 als in Wechselwirkung mit der konzeptuellen Ebene stehend: “the idea that syntax has been shaped in part by conceptual constraints is fully compatible” (Newmeyer 1998: 36) mit der Autonomiehypothese (vgl. Kuno 1993) 73 . Generative Ansätze unterscheiden sich demnach eher nach dem Grad der angenommenen Wechselwirkungen von Syntax, Semantik und Pragmatik, was tatsächlich, wie Newmeyer (1998: 33) exemplarisch aufführt, so weit geht, dass bestimmte constraints auf diskursbasierte Faktoren zurückgeführt werden - spezifische Transformationen können bei Vorliegen bestimmter Diskurskonstellationen zulässig sein, bei ihrer Abwesenheit jedoch nicht 74 : “More importantly, the second way in which some OT authors have moved towards functionalists is that they have allowed functional considerations to play a role in their theorizing.” (Haspelmath 2006: 13). Dieses Potential der Optimalitätstheorie, umfassend die Repräsentation syntaktischer Strukturen in Abhängigkeit auch von der Pragmatik zu leisten, widerlegt etwa die Kritik Jägers (1994: 292ff) am Generativismus 75 : Kann eine Transformationsbeschränkung Ausdruck einer sprachfunktionalen Gegebenheit sein, und werden spezifische Constraints erst bei Vorhandensein bestimmter, pragmatische Effekte auslösender sprachlicher Mittel aktiv, ist der Weg zu einer Erklärung formalsyntaktischer Mittel durch funktionale Faktoren gangbar. Die Syntax wäre zwar ein - autonomes - Regelwerk, dabei aber offen für Veränderungen in Folge von Anforderungen an seinen Gebrauch. Auch legen Ergebnisse der Kognitionswissenschaften (vgl. Rumelhart et al. 1986) nahe, dass für die kognitive Linguistik Netzwerkmodelle modularen Ansätzen wie der autonomen Syntax des Generativismus gegenüber Vorteile aufweisen und adäquater erscheinen (vgl. Ford-Meyer 2000: 256ff). Der Konnektionismus hat jedoch bislang kein umfassendes grammatisches Modell vorgelegt. Wollte man die Repräsentationen der Optimalitätstheorie entsprechend Netzwerkmodellen gestalten, wäre die Ebene der syntaktischen Repräsentation soweit zu öffnen, dass nicht mehr nur syntaktische Einheiten Positionen einnehmen können. Das Inventar sprachlicher Mittel (vgl. Dürscheid 2004: 122f) umfasst intonatorische oder auch gestische, das Inventar der Kognition eine Vielzahl. Wollte man ein netzwerkartigen Strukturen nahe kommendes Grammatikmodell entwerfen, wären die Repräsentationsebenen der hier beschriebenen Modelle stark zu öffnen, die der funktionalistischen wiederum weitaus stärker als die der formalistischen. 5 Abschlussplädoyer Ich möchte zunächst einen Bogen zum Anfang der Arbeit spannen; hierzu stelle ich als Quintessenz der Sprachkonzeption Humboldts ein dreistufiges Modell von Akt, Organismus und äußerer Form heraus. Auch Saussures Konzeption ist mehrstufig, Sprechen und Sprache sind dominant, weniger menschliche Rede. Beiden Autoren ist gemein, dass Organismus bzw. Sprache nicht als manifester, sondern aus Abstraktion gewonnener Gegenstand gedacht wwerden: Die Sprache ist kein psychisches System, sonder virtuelle Repräsentation einer biologischen Anlage und kreativer Veränderungen. Die Medaillenseiten, denen sich Formalismus auf der einen und Funktionalismus auf der anderen Seite verschrieben haben, sind manifeste Sprachfähigkeit und manifester Sprechakt als materielle Gegenstände. Dem Funktionalismus fehlt die Berücksichtigung der äußeren Form, ohne die der Spracherwerb unerklärbar ist; auch verfällt er einem Paradox, wenn er kontingent Situation, Funktion und Intention beschreibt; verarbeitet und kommuniziert der Mensch Welt, sind diese Vorgänge innerlich, ergo repräsentiert. Auch ist Sprachgebrauch Lars Meyer 50 kontextgebunden, fließt die Perzeption der Sprechsituation mit in die Bildung sprachlicher Ausdrücke ein (vgl. Ford-Meyer 2000, Obermeier 2007, McKoon et al. 2007). Dies berührt die problematische Beziehung von Welt, Kognition und Zeichensystem (Deacon 1998), die in Teilen der funktionalistischen Forschung nur dogmatisch beschrieben wird. Der Formalismus zeigt Nachbesserungsbedarf in Bezug auf das Sprechen: Würden token gesprochener Syntax als optimale Vertreter eines bestimmten Kandidatensets erklärt, wären umfangreichere und komplexere Hierarchien anzunehmen - die, wird der Anspruch kognitiver Adäquatheit erhoben, Verarbeitungsfaktoren sowie Äußerungskontext und Perzeption gleichermaßen enthalten müssten. Auch ist das Rückwirken des Sprechens auf die äußere Form i.S. der Modifikation einer Constrainthierarchie zu erklären: Wie passt sich die Sprachfähigkeit an neue Aspekte von Welt an? Die Antwort, dass Kommunikation nur soweit möglich ist, wie vorgefundene Constraints es erlauben, ist unbefriedigend: Es ist davon auszugehen, dass die menschliche Sprachfähigkeit dem Wandel unterworfen ist. Ein weiteres Problem für beide Theorien ist das Fehlen einer Algebra der Kognition, die etwa Sprache und Wahrnehmung verrechnen könnte und Netzwerkmodellen der Kognition adäquater wäre 76 . Die hier beschriebenen Modelle wären hierzu stark zu öffnen, funktionalistisches weit stärker als formalistisches. In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, welche Aspekte und Probleme der Sprachphilosophien Humboldts und Saussures sich verschiedene Versuche der Modellierung sprachlicher Kommunikation bis heute bewahrt haben. Ersichtlich ist dabei, dass keines der Modelle isoliert dem schon philosophisch nur im Ansatz umgrenzten Gegenstand gerecht werden kann. Ein integriertes Modell ist notwendig, das sowohl die Sprachverwendung durch die menschliche Sprachfähigkeit im Rahmen der Kognition erklärt, als auch die Rückwirkungen der reaktiven und kreativen Aspekte von Perzeption und zeichenhafter Bestimmung von Welt auf die Gestalt der sprachlichen Potentialität. Dass aber, um mit einer Wertung zu enden, die vermehrten Anstrengungen der Forschung im Rahmen der Optimalitätstheorie diesem Ideal näher kommen als ihr Widerpart, kann nicht geleugnet werden. Dank Für Anregungen und Kritik vielen herzlichen Dank an Prof. Dr. Chris Bezzel und Dr. Gisella Ferraresi sowie die Teilnehmer der StuTS-AG auf der 29. Jahrestagung der DGfS. Anmerkungen 1 Hierzu und zur Abgrenzung von parallel verwendeten Begriffen siehe Ehlich (1995: 953ff); Coseriu (1988: 3) führt dazu aus, dass der Systembegriff Humboldts den - dynamisierten - modernen Strukturbegriff meint. 2 Eine kurze Einleitung zur sprachphilosophischen Vorgeschichte des Begriffs gibt Borsche (1989: 47ff). 3 Die Funktion der Sprache als “Form der Gedanken” (Humboldt 1820: 22) findet bereits früh Erwähnung, dort jedoch ohne so weit reichende Pointe. 4 Nicht nur die Verwendungsweise der Form in Kombination mit dem Begriff des Organs lässt Reflexe Kants erkennen, sondern auch Stellen wie diese; zum Einfluss des Deutschen Idealismus auf Humboldt s. Stetter (1971: 25ff) Simon (1971: 108ff) und Borsche (1989: 52ff). 5 Zur Konstitution desselben vgl. “[…] so konnte die Erfindung nur mit einem Schlage geschehen […]. So wie man wähnt, dass dies […] stufenweise […] geschehen […] könne, verkennt man die Untrennbarkeit des menschlichen Bewusstseyns, und der menschlichen Sprache […].” (Humboldt 1820: 20). Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 51 6 Vgl. “Der innere Sprachsinn ist das die Sprache von innen heraus beherrschende, überall den leitenden Impuls gebende Prinzip.” (Humboldt 1836a: 199) oder die “Einerleiheit des Sprachvermögens” (Humboldt 1820: 26); empirische Anwendung findet der Gedanke in Humboldt (1827: 143ff); vgl. Borsche (1981: 80f). 7 Wie viele der Gedanken Humboldts wird auch dieser im Vorfeld von Herder (1772: 20ff) weit ausgeführt, zum Einfluss dieses auf jenen siehe Aarsleff (1983: 338ff), Gaier (1996: 215ff) sowie Stetter (1989: 25ff). 8 Vgl. “Es ergibt sich […], daß unter Form der Sprache hier durchaus nicht bloß die sogenannte grammatische Form verstanden wird.” (Humboldt 1836a: 40). 9 Dass Humboldt mit diesem Einbezug der Sprache in die sinnlich-geistige Synthese über Kant hinaus geht, nach dem sich der Erkenntnisprozess im Zusammenwirken der sinnlichen Empfindung mit den Formen des Verstandes erschöpft, thematisiert Di Cesare (1988: 29ff und 38f sowie 1996: 278ff). 10 Der Begriff der Analogie besitzt bei Humboldt zwei Lesarten; zum einen diese, zum anderen als grundlegendes Prinzip der Bildung sprachlicher Neuerungen; vgl. Humboldt (1836a: 171f und 73f). 11 In der gemeinten Verwendung ist der Begriff tatsächlich äußerst selten, z.B. ohne weitere Erläuterung in Humboldt (1820: 26); dem Gedanken nach identisch ist “Die ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen der Welt und dem Menschen, auf welcher die Möglichkeit aller Erkenntnis der Wahrheit beruht, wird also auch auf dem Weg der Erscheinung stückweise und fortschreitend wiedergewonnen.” (Humboldt 1820: 28). Zur Problematik der Möglichkeit der Transzendenz einer solchen sprachlichen Analogie s. Simon (1971: 10ff). 12 Problematisch schon in diesem Satz, so könnte man anmerken, dass er wieder ein zu Grunde liegendes sprachliches System impliziert. Ein streng polares Denken macht die korrekte Interpretation aber unmöglich. 13 Das schöpferische Moment wird von Humboldt - als Kind des Deutschen Idealismus - dabei stets betont, vgl. auch Textstelle 4 im Zusammenhang mit “Der Instinct des Menschen aber ist minder gebunden, und lässt dem Einflusse der Individualität Raum […].” (Humboldt 1820: 20). 14 Vgl. zu diesem Gedanken die Betonung des Diskursiven bei Saussure (1891-1911: 374ff sowie 1916: 13ff) sowie Roggenbuck (1998: 138ff). 15 Auf die Schilderung der in Hinblick auf Authentizität freilich nicht ganz unproblematische Geschichte der letzteren wird hier nicht eingegangen, vgl. dazu Hiersche (1972: 6f) und Stetter (1995: 35f). 16 Die beiden Begriffe, und das ist hier wichtig, werden immer in Bezug auf spezifische Einzelsprachen verwendet. Andere Interpretationen sind, wenn man Saussure als Quelle verwendet, bloße Projektion (vgl. Stetter 2005: 188ff). 17 Die terminologischen Übersetzungsprobleme speziell der beiden zentralen Begriffe greift der Autor im Cours selbst auf - sie könnten sogar als Argumente für die Arbitraritätsthese her halten - hier sollen der Verweis auf Saussure (1916: 17) selbst sowie derjenige auf die Diskussion bei Albrecht (2000: 30f) genügen. 18 In den frühen Schriften Saussures (z.B. 1891-1911: 284) scheint die Trennschärfe der Begriffe geringer, speziell menschliche Rede steht teilweise parallel zu discours bzw. Rede und beide wiederum zu Sprache, die wiederum von langues, Sprachen, getrennt wird. Die menschliche Rede gewinnt im späten Denken wohl an Gewicht; dazu der Verweis auf die Einleitung des Herausgebers in Saussure (1891-1911: 17ff) sowie Stetter (2005: 190). 19 Stellenweise (z.B. Saussure 1916: 27) wird die Betrachtung der Sprache als innere Sprachwissenschaft, die der übrigen Gebiete der menschlichen Rede als äußere Sprachwissenschaft bezeichnet. 20 Auffällig auch ist an dieser Stelle, dass der Terminus des Werkzeugs Verwendung findet; auf denjenigen der menschlichen Rede wendet Saussure (z.B. 1891-1911: 284) denjenigen des Organs an, auf jenen der Sprache denjenigen des Instruments. Humboldt (z.B. 1836b: 191) würde zwar Platons (z.B. Platon 2004: 549) Begriff des Organon nicht verwenden, aber jenen des Organs in einer ähnlichen, sich auch auf den Laut beziehenden Weise. 21 Und das Medium, also das Blatt Papier selbst, ist analog der Sprache. 22 Hier wird erneut die Schwierigkeit der Trennung der Form von der menschlichen Rede deutlich, die nach der gängigen Interpretation (vgl. z.B. Coseriu 1975: 234f) das ist, was bei Saussure parallel zum Begriff der Form bei Humboldt steht. 23 Zur Problematik der Gleichsetzung dieser Begriffe - der letztere ist für das Denken Saussures adäquater, erscheint dabei aber “ganz humboldtisch” (Trabant 2003: 273). Ob dieser Aspekt es dann auch war, der den Strukturalismus und seine Nachfolger alleinig begründete, wird bei Albrecht (2000: 17ff) ausführlich diskutiert. 24 Für Stetter (1995: 522) ist dies eine deutliche Anspielung auf Humboldt, auch wenn Saussure den Implikationen des Begriffs wohl eher gespalten gegenüber steht. Humboldts (z.B. 1820: 17) Terminus findet eine ausführlichere Verwendung in Bezug auf die Sprache bei Schleicher (z.B. 1850: 2), der ihn aber stark biologistisch verwendet (vgl. Dresselhaus 1979: 28ff und 52). Lars Meyer 52 25 Vgl. “Je mehr man die Sprache […] studiert, um so mehr kommt man dazu, sich von der Tatsache zu überzeugen […], daß sie aus Tatsachen und nicht aus Gesetzen besteht, daß alles, was in der Sprache […] organisch erscheint, in Wirklichkeit kontingent und völlig zufällig ist.” (Saussure 1891-1911: 248). 26 Obwohl es an mancher Stelle im Cours scheint, als hielte Saussure zumindest eine geringe Anzahl positiver, also motivierter Teile des Systems bzw. Zeichen für notwendig, um einen festen Kern für die Herausbildung von Oppositionen zu haben - z.B. “In der Tat beruht das ganze System der Sprache auf dem irrationalen Prinzip der Beliebigkeit des Zeichens, das ohne Einschränkung angewendet, zur äußersten Kompliziertheit führen würde; aber der Geist bringt ein Prinzip der Ordnung und Regelmäßigkeit in einen Teil der Zeichen, und das ist die Rolle des relativ Motivierten […]. Es gibt keine Sprache, in der nichts motiviert ist.” (Saussure 1916: 158). 27 Am häufigsten und treffendsten die des Schachspiels, vgl. “Der Wert der einzelnen Figuren hängt von ihrer jeweiligen Stellung auf dem Schachbrett ab, ebenso wie in der Sprache jedes Glied seinen Wert durch das Stellungsverhältnis zu den anderen Gliedern hat […].” (Saussure 1916: 105ff). 28 Was sich für das genetische Verständnis erst mit der Parametertheorie denken und linguistisch erfassen lässt; dass Saussure bereits so weit denkt, kann nicht belegt werden. 29 Unter diesen Vorzeichen geht der Cours an mancher Stelle so weit, die Sprachwissenschaft als eine sozialwissenschaftliche Disziplin begreifen. 30 Wie Hiersche (1972: 10ff) schreibt, ist der private, individuellere Teil der Konzeption Saussures die menschliche Rede. 31 Sehr selten (z.B. Saussure 1891-1911: 272) findet sich als ein mit Sprechen übersetzbarer auch der Begriff des parler, der dann aber eher wieder parallel zu dem der Sprache verwendet wird. 32 Auch wenn Saussure auch dies einschränkt, wohl auf Grund der sozialen Konstitutionsweise der Sprache und der damit verbundenen sozialen Abhängigkeit auch des Sprechens und des einzelnen Sprechaktes, hier l’acte linguistique; vgl. “[…] von allen Akten, die man aber vergleichen kann, hat der sprachliche Akt […] die Eigenschaft, am wenigsten reflektiert, am wenigsten überlegt zu sein, ebenso wie er der unpersönlichste aller Akte ist.” (Saussure 1891-1911: 250). 33 “Denn der Satz existiert nur in der Rede [hier unverständlicherweise statt Sprechen als Übersetzung für parole gewählt, L.M.], in der diskursiven Sprache […]” (Saussure 1891-1911: 374); auch wenn Albrecht darauf hinweist, dass dies nur auf den konkret geäußerten Satz und nicht auf das “Muster, nach dem er gebildet wurde” (Albrecht 2000: 32), zutrifft. 34 An gleicher Stelle vertritt Dresselhaus die Position, dass das Sprechen der eigentlich dominantere Teil in der Konzeption Saussures ist, da es die Sprache eben konstituiert. 35 Vgl. Stetter (1996: 427). 36 Hierzu ist, wie schon bei Humboldt, der Dialog, unabdingbar: Wie Roggenbuck (1998: 139f) jedoch schreibt, wird bei Saussure nicht weiter auf die möglichen Probleme der Übertragung Bezug genommen und damit implizit der intentionale Aspekt des Sprechens stillschweigend überbetont und “die Seite der Rezeption weitreichend durch Passivität charakterisiert” (ebd. 141). Hieraus wird dort eine Dominanz der Sprache abgeleitet. 37 Vgl. hierzu das Diagramm in Dirven et al. (1987: xi), welches eine Rückführung vollzieht. 38 Vgl. Coseriu (1988: 3) “Wir sind nun der Meinung, daß keine der beiden Richtungen der humboldtianischen Linguistik entspricht.” 39 Zur Begriffsklärung vgl. Newmeyer (1998: 7ff). 40 Vgl. auch Newmeyer (1998: 10). 41 Objekt der funktionalistischen Sprachbetrachtung ist m.E. gerade nicht, entgegen den Ausführungen Bolkesteins (1993: 340), “the language system”, sondern eben das Sprechen im Sinne Saussures. 42 Einen hinreichenden Abriss der Tradition geben - kürzer - Daneš (1987) und - ausführlicher - Givón (1995: 1ff). 43 Für die Genese der menschlichen Sprachfähigkeit ist diese größten Teils unstrittig, vgl. “the evolution of language must have been an interactive […] process […] the interaction between random mutation, adaptive behaviour and natural selection has been accepted even by main-stream neo-Darwinians.” (Givón 1995: 394). 44 Die Ansichten darüber, welche Faktoren, ob nun dem Subjekt primär äußerliche, soziale oder möglicherweise auch innerliche, dann wieder formale Faktoren bei der Beschreibung in Betracht gezogen werden sollten, divergieren erheblich, vgl. dazu die treffende Analogie bei Newmeyer (1995: 13).. 45 So auch Halliday (2005: 168ff) mit der Gestaltung des Repräsentationscharakters seines Satzbegriffs. 46 Es ihnen m.E. mit seiner verbalzentrierten Perspektive aber wiederum unterordnet; vgl. Textstelle 9. 47 Vgl. Textstellen 8 und 9. Funktionalismus und Formalismus im Rekurs auf Humboldt und Saussure 53 48 Die phänomenologische Dimension dieses Gedankens wird erkannt, und Reflexion auf Grammatik nicht mit Reflexion auf Realität gleichgesetzt - zumindest nicht explizit; es bleibt dies aber eine Abkehr vom semiotischen Dogma der Arbitrarität. 49 Grob gesagt könnte der Anknüpfungspunkt zur kognitiven Linguistik hier darin liegen, dass Kognition selbst als Reaktion, im Denken Hallidays - m.E. durchaus i.S. Humboldts - als reaktive Analogiebildung begreifbar wäre. 50 Welches “a virtual thing” ist, wie Halliday (2004: 27) richtig erkennt. 51 Die instantiation (ebd. 21). 52 Nebenbei noch als “acting out our social relationships.” (Halliday 2004: 29). 53 Nach Levelt (1998: 177) besitzen z.B. Schimpansen reiche Konzeptschätze. 54 Der dem Vorwurf des einseitigen Formalismus wohl am ehesten Angriffsfläche bietet.. 55 Wie Newmeyer (1998: 11ff) schreibt, sind in der Folge wiederum zwei Gruppen von Ansätzen entstanden, hier wird diejenige der Generativen Grammatik Chomskys (z.B. 1993 und 1995a) als exemplarisch betrachtet. 56 Für die Unzulänglichkeit solcher Erklärungsansätze vgl. Grewendorf (1995: 114). 57 Ich verwende diese Begriffe an Stelle von Competence und Performance, da die Rückführung dieser auf die oben gesetzten sprachphilosophischen Dualismen, speziell bei Saussure, eine nicht-exakte darstellt. 58 Für traditionelle Kritiker wie Jäger (1994: 292) bedeutet die Entstehung der formalistischen bzw. kognitivistischen Sprachwissenschaft eine “‘Entsubstanzialisierung’ des Erkenntnisobjektes Sprache” - was nach den Ergebnissen des ersten Teils schon begrifflich nicht richtig ist, da Sprache ein virtueller und damit im Gegensatz zum Sprechen nie substantieller Gegenstand sein kann; eine Nicht-Substanz kann nicht entsubstantialisiert werden. 59 Das im Ursprung für phonologische Zwecke gedachte Modell findet in unterschiedlichen Syntaxmodellen Anwendung, vgl. Legendre (2001: 3). 60 Die Anzahl der postulierten Parameter schwankt in der Literatur zwischen ca. 20 und der Menge der Elemente im chemischen Periodensystem, vgl. Haspelmath (2006: 5). 61 Die nach manchen Autoren nicht zwangsweise binär sein müssen, vgl. Prince et al. (1993: 75f). 62 S. Samek-Lodovici (2001: 326), wo das Prinzip des “harmonic bounding” auf die Typologie übertragen wird “Harmonic bounding can reduce an infinite number of candidates to a finite number of potential winners, providing an effective tool to exploit the crosslinguistic predictive power of OT.” (Samek-Lodovici 2001: 341). 63 Das Set der Kandidaten ist prinzipiell unbegrenzt, wird aber durch Mechanismen wie das Prinzip des “harmonic bounding” (Samek-Lodovici 2001: 320) ab einem gewissen Punkt - grob gesagt durch sich wiederholende Muster der Constraintverletzung durch Kandidaten - begrenzt. 64 Nach Einschätzung Jägers (2000: 42) ist dies eine Frage der Ökonomie: “On a somewhat more abstract level, the OT philosophy can be described by the idea that only the most economical candidates of a given candidate set are legitimate linguistic objects; less economical competitors are blocked.” 65 Wenn der Sprecher nicht ursprünglich wüsste, was er eigentlich sagen möchte, wären einem Determinismus Tür und Tür geöffnet. 66 Vgl. zur Gegenposition in Bezug auf die Informationsstruktur die Kritik Bolkesteins (1993: 344). 67 Hier wörtlich zu nehmen. 68 Andere Formen - wie die phatische Kommunikation - sind für meinen Zweck irrelevant. 69 Halliday (2004: 3) setzt diese dann auch bereits in seiner Einleitung gleich. 70 Einen historischen Abriss der wichtigsten Versuche zur Entwicklung einer Universalsprache gibt Salmon (1995: 916ff); vgl. dazu auch Tovar (1988: 25ff): Zur Kritik von Theorie und Methodik der Universalienforschung s. Coseriu (1972: 186ff, 1975: 233ff und 1988: 227f). 71 Dass elementare Bausteine, hier der Natural Semantic Metalanguage, bereits in vielen Sprachen nachgewiesen wurden, beweist hier nichts: Die Arbitraritätsthese Saussures konsequent zu denken bedeutet doch anzuerkennen, dass z.B. das mit sein bezeichnete Konzept des Deutschen - dem Paradigma der strukturalen Semantik nach - nicht mit dem des englischen (to) be identifizierbar - da der Organismus der beiden Sprachen nicht identisch ist. 72 Zur Differenzierung der These vgl. Newmeyer (1998: 26f). 73 Wollte man die Autonomiehypothese heute in ihrer ursprünglichen, starken Bedeutung ob nun für die Syntax oder das gesamte grammatische System weiterhin verteidigen, wäre dies nur möglich, wenn man die Sprachfähigkeit mit der Kognition gleichsetzte, vgl. Newmeyer (1998: 78). 74 Ein positives Grammatikalitätsurteil für einen englischen Satz wie “John said that liver he would never eat.” könne durch “[…] so-called ‘root-transformations’ [that, L.M.] can apply only in clauses that make assertions.” Lars Meyer 54 (Newmeyer 1998: 33f) erklärt werden. Eine Vielzahl weiterer Beispiele finden sich in Jäger (2000), Legendre (2001), Blutner (2004), Benz (2005) und Haspelmath (2006). 75 Oder, wie Jäger (1994: 299) es nennt, “kognitivistischen Mentalismus”. 76 Obwohl speziell in der Computerlinguistik in engem Einklang mit experimentellen Arbeiten auf diesen Feldern erhebliche Fortschritte gemacht werden, vgl. Anderson (1993), auch wenn sich auch die hierfür notwendigen Faktoren stetig vermehren, vgl. Vasishth et al. (2006). Eine auf genuin sprachlichen Faktoren fokussierende Grammatik wird und muss früher oder später an ihre Grenzen stoßen, ansonsten wäre sie ein Modell der menschlichen symbolischen Kommunikation selbst. 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KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Werbung ist heute meist Teil einer breiter angelegten Gesamtstrategie; bei größeren Kampagnen werden gezielt mehrere Medien genutzt. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, das Zusammenspiel der Werbemittel innerhalb von aktuellen und historischen Reklamefeldzügen zu analysieren. Die Untersuchung orientiert sich hierbei an folgenden Leitfragen: Welche Aussagen lassen sich zur so genannten „Mehrmedialität“ im Rahmen einer Gesamtwerbestrategie machen? Wie werden die Medienspezifika (u. a. Darstellungsmittel, Rezeptionssituation, Funktion) genutzt? An die eingehende Analyse schließen sich Bewertung und erste Verbesserungsvorschläge im Hinblick auf einen optimierten Medieneinsatz an. Eine Beurteilung der Markenkommunikation eines Unternehmens ist im Rahmen der Firmen- und der damit verbundenen Werbegeschichte zu sehen und wird exemplarisch vorgeführt. Sandra Reimann MEHRmedialität in der werblichen Kommunikation Synchrone und diachrone Untersuchungen von Werbestrategien 2008, X, 433 Seiten, 40 farbige Abb., zahlr. Tab., €[D] 68,00/ SF r 115,00 ISBN 978-3-8233-6264-7 Sign Systems - Reference Systems Rodica Amel 1. The Call of Principium If one could imagine a starting point to the extended semiosis, within which man lives, then the question that philosophy should answer would be: on which premise can the whole semiotic covering of life be conceived of as being ‘naturally’ rooted in cognitive need? A valid premise would be that of the deep fusion between perception and semiosis, constitutive for consciousness development. Focused on Polanyi’s, Dewey’s, Peirce’s, Bühler’s and Cassirer’s philosophy, R.Innis’s book (1994) enlightened this idea by a comprehensive and nuanced commentary, displayed in contrastive terms. Another option could be that of admitting a transcendental premise, which is the choice of the present study. The ontological condition of being-in-the-world, understood as a global relation of togetherness, a whole “où tout se tient”, is consubstantial with man’s own possibility of being part of the whole. The implicit law of the world is originally projected in the being of consciousness, and this interactive virtuality, because it is ontological, constitutes the basis of cognitive inherence. Nevertheless, being-in-the-world is a condition that obscures its original cause 1 and so each intelligible representation engenders a fundamental why? By resuming the intelligible position of being-in-the-world on the capacity of rendering the world explicit and meaningful, we have reached the starting moment of language. In this quality, language is a ‘way of being’, of being rationally involved in what-it-is. We are still at the beginning, when ‘rational’ means the human capacity to discover world coherence in sensible forms. By speculating on the deeper movement of cognition, one notices the power language has to approach the obscure. The infinity of the original indetermination is handled and ‘translated’ into equivalents of finiteness. These special kinds of meaning activators are called signs. In traditional semiotics, that sustains the conventional nature of signs, sign definition says that something present and perceivable re-presents something absent and unperceivable. This is a definition that perpetuates the Scholastic formula, aliquid stat pro aliquo, which now seems to give less emphasis to the idea that the intelligible function of sign was originally more like a call, the call of principium, coming from infinity towards finiteness. “Die Sprache spricht als das Geläut der Stille.” (Heidegger, Sprache, 1985: 27) Our concern about the ‘final cause of signs’ compels us to choose a definition adequate for the ‘hearer’s’ intention of associating a sense to the respective call, and, therefore: each sign signifies more than the object it represents. Such a definition of a sign, as an original signal, performs a shift from semiotics of representation to semiotics of imagination. In conformity with the respective approach, a sign implies the ‘cause’ of the object it represents as an object and, because of this, it implies its own cause of being a sign. Here we shall bring two parallel K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Rodica Amel 60 signs, with the intention that the second one could enforce in the former the perception of this ‘more than itself’. The ‘sign-clock’ signifies the human idea of time, which is the cause of the clock. The clock, in Dali’s painting The persistence of memory, does not measure time; it is no more the ‘sign’ of our usual idea of time, but re-presents the duration of time. By an allusion to Bergson, the idea of time is anamorphotically extended - in the doughy form of clocks - and ironically suspended. By emphasizing that a sign is ‘more than itself’, our definition points at the interpretative dimension of semiosis, not exactly as Peirce did it, but more precisely in a transcendental sense. 2 The intelligible ground of signs is constituted through an originally interpretative semiosis. What a sign re-presents, while standing for a ‘piece’ of reality, is the original experience (interpretation) of Being of the respective reality. In progressive steps of transcendence, signs intermediate between contingent and principium in an imaginative way. That which originally was a world-call is now instituted in a sign, the meaning of which can be perceived due to an a priori projection of the world-design in man’s mental space. During the effort of re-presenting this design, man uncovers the transcendent reality through signs. This is the call. It seems very important to put the entire sign-institution, and respectively the signfunction, under the headline of a ‘reasonable determination of the principium’. In this way we come closer to logos itself. By raising this aspect, we proceed to an enquiry into the ‘possibility condition of a cultural sign’. A cultural sign, in contradistinction to a pragmatic sign, is the result of a second-degree semiosis, which has justificative power. All signs are pragmatic, namely life-oriented, and all signs are culturally marked. Our thesis regarding the justificative finality of signs does not exclude the thesis of semiotic perception, but implies it. Therefore, we oppose a powerful concept of cultural sign, ontologically founded, to a common one. From this perspective, contingent perception and cultural sign establish two different levels of intelligibility. Given the premise that the generative cause of language is established on the transcendental level of consciousness, the subjective origin of signs troubles us less because of its relativity. Consequently, at this level, the principle of intelligibility, which governs human semiosis, is less organic than it seems. Even if through semiosis man’s expressive need is spontaneously delivered, ‘ohne warum’ 3 , in his speech speaks already a divine voice 4 which man tries to make explicit. The innate knowledge of principium is the divine voice that gives access to the sense of the obscure. Language (=signs) exists in order to permit this access. In what follows, we shall explain the inherence of signs; after that, we shall try to argue that signs constitution cannot be dissociated from Being. During signs constitution the noumenal (=intelligible) reality of Being institutes its own transcendence in the form of a relational substance. The ‘relational substance’ supports the world-design, and “is” the virtual condition that makes from the world we are living in a whole “où tout se tient”. 2. Intelligible Inherence Through an original extension of language, we are involved in an uninterrupted semiosis. “Die Sprache ist das Haus des Sein. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.” (Heidegger, Humanismus, 1957: 24) When Heidegger says “Language is the house of Being” 5 , he means that Being is intelligible in organic solidarity with what-it-is. The contingent thing brings Being into full disclosure Sign Systems - Reference Systems 61 ( ). Heidegger speaks about Being comprehension under the guidance of language, and this philosophical approach determined him to perform the ontological turn of hermeneutics. 6 From a philosophical point of view, the “linguisticality of understanding” 7 is not a discursive attitude, but rather a pure semiotic one, closer to the presocratic source of , than to our sense of language. The semiotic constitution has the value of a creative act. Comprehension is a semiotic act, if we may say so, in an attempt to translate Heidegger’s idea of an original speech. Heidegger’s deconstruction of classical metaphysics 8 with its Scholastic roots influences our semiotic approach. Four of Heidegger’s ideas are fundamental to our topic: 1. The solidarity between Sein and Seiendes is constitutive for our definition of a sign. Infinity is experienced during semiosis (in Dali’s clock one ‘feels’ the duration of time). 2. Comprehension, as well as language, is a way-of-being-in-the-world; due to the transcendental inherence of language, the principle of intelligibility 9 is connected to consciousness and not to ratio. 3. Comprehension is a way of being-in-a-dialog with the world: Thinking is a listening to the grant. “Denken ist ein Hören der Zusage” (Sprache, 1985: 170). 10 4. Heidegger’s idea concerning the ontological dialog emphasizes the interaction between the language of Being ( ) and cultural semiosis. The principle of intelligibility, homogeneous in both cases, supports our hermeneutical approach to semiotics. The main hermeneutical problem regards the original relationship between comprehension and interpretation. For Heidegger, understanding projects its own possibilities through interpretation, an approach that does not contradict our transcendental premise. Because Heidegger considers interpretation an ‘adequate’ modality of being, intelligibility becomes a saturated condition of the ontological dialog. In this moment, we step aside from the Heideggerian frame. Even if we transpose the transcendental dimension of comprehension in an ontological ‘dialogical scheme’, we argue that comprehension, although it is re-constitutive, needs interpretation, 11 and interpretation needs explicit forms. We do not want to restore classical metaphysics, but the metaphysics of the dominant relationships that govern the sensible world. Semiotic acts are ‘performed’ in/ by consciousness, in the same way that flowers bloom “ohne warum”. Once signs are instituted, the principle of intelligibility leads consciousness beyond immanence. This principle demands proof to ground the meaning of signs. Logic is invoked not only as an original experience, but also as a justificative procedure. Why do we speak instead of remaining silent? Heidegger would answer: because speaking means dwelling within the house of Being in an intelligible way. However, our answer will sound differently: because we are not sure that we are within this house. 3. Original Proof How can we prove that we are within the house of Being or at least that we are on the way to this house? Is language a ‘phenomenon”, the showing-itself-in-itself, or an ‘appearance’ of a hidden referent? Why, actually, does human intelligible power demand such a proof? Rodica Amel 62 3.1 Heidegger’s claim concerning the original universality of language extends the intelligible function of signs without needing such proof. Comprehension is a state of grace of consciousness. is undoubted (“fraglos”). Our thesis, which sustains the justificative finality of signs, on the contrary, demands proof that the relational meaning is posed on the original level of consciousness, otherwise meaning has no ontological support. When meaning - whatever its nature may be: textual, conversational or original - is under question, there is a generalized requirement: it must be proved by pertinence. Pertinence 12 is the means by which interpretation, in our case that of consciousness, becomes a determinant procedure. Here interpretation, which has neither a semantic nor a pragmatic sense, but represents the original experience of dominant relationships, points towards the formative principle, on which the cultural experience is grounded. 13 From a phenomenological point of view, consciousness is the ‘space’ of the ontological immediateness. The dominant position of Being is experienced as relational meaning, by sense-giving acts. 14 Concomitantly, the original experience of consciousness can be considered a ‘probatory device’. Sense-giving acts follow the transcendental logic, which by its nature supplies original proof: the transcendental logic, semiotically framed, underlines the ontological acquisition of meaning. a. The transcendental ego introduces a horizon of transcendence, and b. The transcendent horizon is experienced by consciousness through sense-giving acts. The explanation regarding the two features of consciousness, intentional and reductive, needs extension. 1. While consciousness is intentionally oriented towards reality, it is oriented towards the structure of reality in itself; during the absolute perception, things are objectified only when the abstract image of dominant relationships is uncovered and classes, categories and principles are constituted. The meaning of transcendence is experienced as categorical proof. A 90-year-old woman, pursuing the elaboration of an essay about “The tree of Jesse”, is not only the sign of a sensible reality, but the sign of a supersensible reality: for instance, it could be the sign of intellectual devotion, etc. 2. Regarding the phenomenological reduction, it can be considered a valorizing procedure. This is the moment when reference systems are (re)constituted from the a priori (virtual) scheme that validates the reduction. Through synthetic operations, the transcendence is conceptually instituted in categories of value. In contrast to Heidegger, for whom the intelligibility of “fraglos”, we argue that consciousness is problematically oriented towards transcendence. Causa prima, the ontological sense of this ‘being-there’ is obscure. 15 While the sense is posed in consciousness, it has both justificative and formative power. Therefore, we advance the thesis about the interpretative intentionality of consciousness. Instead of being interested in the ontological turn of hermeneutics, we shall speak about the hermeneutical turn of semiotics. 3.2 Reference-systems represent the axiological modality of determination. It is not wrong to say that a reference system represents the transcendent principle of determination under the form of supersensible relationships of any order. The reference system is reducible to a category of value. Due to reference systems, meanings of particular signs are coordinated, they can be defined and founded. 16 Reference systems are not given, but synthesized through reflective judgments, which follow the transcendental logic. In the hermeneutical field of Being, reference systems establish the ‘possibility conditions’ of the ontological meaning of Sign Systems - Reference Systems 63 a contingent sign. The respective particular sign is projected within its own transcendence and its meaning becomes pertinent under the dominance of the categorical meaning. Because a reference system introduces the transcendent principle of a sign, it becomes the justificative basis for the respective sign. Intuitively, any cultural exegesis appeals to reference systems. Both a renewed interest in the question of the sign’s meaning and the hermeneutical turn of semiotics require an explicitly semiotic approach to reference systems. The transcendental logic is a possible option. But when the reference system is defined as a ‘condition of possibility’ of the onto-logical meaning, some arguments become problematical: Is a reference system exclusively (re)constituted by original synthesis, or the historical experience of cultural signs cannot be avoided? How can the determinative function of a reference system be established in opposition with the same function of a sign system? 3.2.1 The categorical position of reference systems is conceptually constituted and hierarchically disposed. The transcendence that is experienced in a sensible object is posited in consciousness as a meaning. This supersensible reality, assumed and conceived in its supersensible nature, is experienced through sensible features, which are separately considered, until the cause being such and such is reached. When the sign is more than the sign of a contingent object, and opens itself to the IDEA of its own being, the infinity displays the amplitude of the categorical profusion. The relational/ categorical meaning, posited in consciousness, equates an ontological certitude, a belief, a PROTODOXA (see Husserl, 1931: 301). For instance, in Van Gogh’s painting, The chair, we contemplate the image of a contingent object, a chair, and we see in it ‘the mystery of being an object’, and “more than that’: the stern and inevitably rude solitude of an individuality. In this hypostasis, the chair becomes a sign that uncovers the ‘condition’ of individuality. Consciousness can assume the IDEA that a particular thing discloses. In our example, consciousness assumes the sense of individuality, as stubbornness and solitude. Sign constitution goes concomitantly with the institution of their structuring (reference) meaning. Until this point, our argument seems essentially not different from the morphological thesis that emphasizes the formative power of expressiveness. At a better look, one can judge that our hermeneutical issue is concentrated on the semiotic constitution of the transcendent IDEA, and is less oriented towards the subject’s expressive will. What makes the meaning of a sign ontologically pertinent is the categorical meaning, which can be posited in consciousness and experienced as an autonomous Being due to an a priori scheme of transcendence. When reason tries to consolidate in a concept the IDEA’s re-constituted identity, the cultural memory interferes and opens a horizon of time for the original experience. The disputed problem of conceptualization (“Begrifflichkeit”) cannot be avoided and hermeneutics raises this topic at several opportunities. The Platonism of our point of view does not disconnect the reference systems from the traditionally acquired entities referred to them. Our argument emphasizes the logic through which the reference systems are constituted: on one hand, original belief, on other hand, mental abstraction, which is possible through historical impact. The finality of culture is to establish the noumenal autonomy of reference systems within a tradition. 3.2.2 The first reference system of a sign is the sign system itself. For instance, the sign of an ‘axe’ can be referred to the paradigm of edged-objects. A sign system is constituted based on Rodica Amel 64 sensible properties of signs, the systemic relevance of which is proved by alleging theoretical premises or conventional codes. Any reference to sign systems assures the epistemic determination of individual signs. Axe, sword, scythe, knife, scissors, etc. compose the paradigm of edged objects, within which ‘an axe’ versus ‘a lot of axes’ is an opposition determined by the rational category of quantity. Alternatively, an ‘axe’ and a ‘knife’ establish a functional opposition: ‘to split’ versus ‘to cut’, etc. On a higher level, a reference system assures ontological determination of value meanings. In our opinion, reference systems emphasize a particular value, a category of quality, and the meaning of the respective value is ontologically relevant. In F.Arman’s sculpture, ‘a lot of axes’ means a fall of edges, many in one edge. The ontological value of the contingent ‘fall of edges’ might be that of destiny, etc. What matters is that the stroke of a movement in decline and the sharpness should be perceptible. Being is originally assumed by consciousness in hierarchical stages of abstraction, and it is, respectively, objectified in a hierarchical disposition of reference systems. Bollnow’s extended commentary about human organization of space in architecture (Mensch und Raum, 1963) makes explicit man’s own relationship with himself and with society, as a pragmatic being. However, when a door opens to openness of transcendence, as in Magritt’s painting Poison, a cloud, still belonging to the sky, penetrates inside, casting its shadow on the wall. We reach a higher understanding of the sign ‘home’. ‘Home’ considered in itself, makes us think about the soul’s own spatiality. 3.2.3 The justification power of reference systems can be demonstrated by hermeneutical logic, which, in our interpretation, is a kind of transcendental logic. Hermeneutical logic is not an ad-hoc term, used to emphasize the reasonableness of meaning constitution. After Bollnow’s evaluation of Misch and Lipps’s contribution to hermeneutics (1983, vol. II), the term gets philosophical legitimating. In this respect, our argument concerning reference systems can be considered a contribution to hermeneutical logic. We consider transcendental logic suitable for the interpretation of Being. We want to formulate here three axioms on which our approach to transcendental logic is based: a. The original experience is a valorizing act. The meaning of a particular sign is constituted within the category of quality, which has ontological support. “Value” here means the vectoriality of Being. b. In contrast to Husserl, we consider that transcendental consciousness is not a tabula rasa. The IDEAS of value are virtually registered in consciousness as non-thematic categories of togetherness. c. Original experience is not valid in itself. It is permanently challenged by the historically constituted cultural memory. Because the categorical meaning of reference systems is experienced through a particular thing and is not a priori legitimated, it demands validation. The validation is dialectically confirmed. The transcendental logic, while supplying original proof, is questioning the cultural tradition. In this way, one can interpret Nietzsche’s reversal of values (“Umwertung aller Werte”) as an inquiry into tradition and appeal to original proof. Although the subject’s self-reference proof is original, it is the relative way of validation that logic could offer. Therefore, reference systems are de-constructed by reduction and reconstructed by transcendental synthesis. The validation of reference systems belongs to the Sign Systems - Reference Systems 65 doxastic field and its specific dialectic. Through reference systems, cultural signs can be both transcendentally and socially grounded. By reflective thinking, reference systems are progressively structured, proved and reproved. As that demands a special argumentative space (developed by us in 1999), we emphasize here only the importance of discursive ways to reach the “house of Being”. 4. Conclusion: Hermeneutical Circle The goal of our argumentation was to refer semiotics to axiology and to establish, in semiosis, the dominance of supersensible perception on the sensible sign (which translates the idea that ‘a sign is more than itself’). The supersensible perception (Being experience) grounds the meaning of the sign-function. By starting with a transcendental premise, the intention was to introduce an objective basis within categorical reference and to make logically acceptable the role of the formative principle, during the ontological interpretation, on the axiological and not on the expressive level of semiotics. Consequently, our argument differs from both that of Heidegger and Cassirer. Two features of hermeneutical logic engender a fallacy of determination: a) Hermeneutical paradox: Signs institute the categorical meaning through which they are defined. One comprehends the transcendent IDEA that governs a particular thing by experiencing its particularity in an absolute sense. In spite of the absolute value of the original proof, the hermeneutical procedure leads to errors of categorization. For instance, consider the example of the 90-year-old woman, the respective sign could be interpreted with reference to several IDEAs: that of stubbornness, of intellectual devotion, or of existential sublimity. The concurrence is between a psychological, a moral and a spiritual reference system. Another example, that evinces the vicious power of the hermeneutical uncertainty, is the theme of the sectioned objects in Arman’s sculpture: is the piano, sectioned by two motorcycles (La chute des courses), a sign of deconstruction or of construction? Are art and beauty demolished or affirmed, when consciousness is confronted with the destructive condition? In Dali’s painting, fundamentally ironical, judging the persistence of memory, on a higher level, we are not sure whether within the question: ‘What a clock is? ’ sounds the anamorphotic principle in its universality or not. b) Hermeneutical circle: “Alle Auslegung bewegt sich ferner in der gekennzeichneten Vorstruktur. Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben.” (Heidegger, 1960: 152). 17 Both from Heidegger’s and from our point of view, interpretation presupposes a priori structures. Heidegger calls them “potentialities-for-Being” (Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff). We call them non-thematic categories of value, which, during interpretation, are thematized, proved by self-reflective acts and conceptualized. The transcendent IDEAs are partially disclosed by conceptualization. As far as SELF is an infinite object, self-reflective acts of consciousness are unable to consider that the ‘sense’ of SELF is disclosed, but in disclosure. That is the reason we are confronted with a hermeneutical paradox. The distance between original and discursive language is never completely covered, and the opposition between originally given and acquired language is never clear. Rodica Amel 66 During sense-giving acts, consciousness reaches moments of self-saturation and substitutes valorizing acts by normative ones. When language becomes ‘The Institution of Being’, the sense of an IDEA is substituted by an idea in a concept that does not have an ontological but a rhetorical charge. Inevitably, each act of reference to the IDEA of Being is a reference to a preconceived idea. All understanding is prejudicial. The ‘hermeneutical circle’ is ‘structurally’ susceptible to be distorted by the vicious movement of petitio principi. Trivial commentaries concerning the intelligible deadlock could be ignored, by raising arguments against the two vices of determination: a) Being as Knowing is a condition developed from inherence. Each act of conceptualization, even if it brings a provisional understanding, allows the intelligible participation in Being’s condition of transcendence. b) Being as Knowing is a condition of transgression. A prejudice can be eliminated and a vicious circle can be cut down not by alternative prejudices, but by transgression towards a higher level of reference. If we want to translate the noumenal dynamics of consciousness in semiotic terms, the subjective inherence of language is only a partial explanation. During self-reflective acts of consciousness, language, historically acquired, approaches the House of Being by implicit or explicit transgression, but the house is never reached. Notes 1 In ontology, ‘cause’ has the sense of ‘principle’, and not that of ‘reasonable explanation’. ‘Original cause’ means causa prima, a concept originated in Scholastic. Aristotle, in Metaphysics, speaks about a ‘science’ interested in the first principles and causes. He established four causes of a phenomenon: generative, formative, material and final. 2 With Peirce begins the interpretative orientation of semiotics that enabled semioticians to place semiosis at the center of perception. See R.Innis’s book (1994) and all the references he introduces. Here we ought to stress the distinction we make between contingent and original interpretation. The contingent experience of “being-in-theworld” is collected by cultural memory that the original interpretation inquires in its privileged moments. 3 This is an allusion to Heidegger’s quotation from Angelus Silesius’ poem “Das Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet” (see Heidegger, Grund, 1957: 68-69) and to his commentary in Der Satz vom Grund: “Die Rose ist zwar ohne Warum, aber sie ist doch nicht ohne Grund. ‘Ohne Warum” und ‘ohne Grund’ sind nicht das Gleiche” (idem: 72). 4 ‘Divine’ means here ‘a priori’, and has no proper sense as in U. Eco’s inquiry into the divine origin of language (1999). 5 See also Heidegger’s Unterwegs zur Sprache. There is a great similarity between Heidegger’s formula and Antisthenes’s oikeios logos ( ). We commented the possible influence, in “Dreapta potrivire a numelor” (“The correctness of names, Plato, Cratylos”), 2007. 6 Founded by W.Dilthey, in Critique of Historical Reason (Kritik der historischen Vernunft), as an alternative to analytical and epistemic sciences, hermeneutics is now considered the field of humanistic sciences (“Geisteswissenschaften”, intentioned to constitute a “Lebensphilosophie”). Heidegger was the first who put hermeneutics under the claim of universality, by turning the hermeneutical interest towards the sense of Being: “Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet.” (Heidegger, 1960: 37) Gadamer’s approach to hermeneutics is similar to that of Heidegger: “Par ‘herméneutique’ je comprends la théorie de cette expérience effective qui est la pensée” (1976: 19). 7 We use Bleicher’s English translation of Heidegger’s German syntagma: “die Sprachlichkeit des Verstehens” (1983). Sign Systems - Reference Systems 67 8 Heidegger’s question of Being: “Bleibt sie lediglich oder ist sie überhaupt nur das Geschäft einer freischwebenden Spekulation über allgemeinste Allgemeinheiten - oder ist sie die prinzipiellste und konkreteste Frage zugleich? ” (1960: 9) does, actually, not oppose metaphysics, but “aufhebt” it. See, also Pöggeler’s commentary: “Läßt Heideggers Denken sich etwa begreifen als Vollendung und Ende der Metaphysischen Tradition, vor allem der neuzeitlichen Metaphysik? Walter Schulz hat zu zeigen versucht, daß Heideggers Denken, dem Selbstverständnis Heideggers entgegen, nicht gegen die neuzeitliche Metaphysik steht, sondern aus ihr zu verstehen ist” (1983: 202). 9 From our point of view, the principle of intelligibility establishes, in the field of meaning, the grounding conditions, as the principle of reason does in epistemology. Both are universal principles of cognition, but they belong to different fields. Actually, our interpretation of the principle of intelligibility is ontologically conceived, in the way Heidegger approaches the philosophy of principium rationis. See Der Satz vom Grund: “Sein und Grund gehören zusammen. Grund und Sein (<sind>) das Selbe, und nicht das Gleiche, was schon die Verschiedenheit der Namen Sein und Grund anzeigt.” (1957: 93). The quoted words give a clear account of the note 3, here above: “Alles hat einen Grund, nur der Grund ist ohne Warum”, because “Der Satz vom Grund ist ohne Grund”; “Sein ist der Ab-Grund”, says Heidegger. 10 The ontological dialog, about which Heidegger speaks frequently (Was ist das - die Philosophie? , Unterwegs zur Sprache, Holzwege), means, in his interpretation, the ontological condition of “adaequatio”, that of harmonizing or tuning (Ent-sprechen; Stimmung, Be-stimmung, Über-einstimmung) oneself to the language of Being. 11 M.Dascal, in his pragmatic works, sustains the same dependence. 12 Pertinence, in structural linguistics, means the value of an entity within a system of oppositions. In pragmatics and dialog studies, pertinence (or relevance) is a maxim of dialogical adequateness. 13 See R.Innis’s commentary about the centrality of the formative principle in Cassirer’s philosophy, a theme that opposed Cassirer to Heidegger: “To Cassirer’s horizon of form Heidegger opposes the horizon of time”. (1994, note 16: 126) 14 “Prendre conscience ne signifie pas autre chose que tenter d’établir réellement le sens ‘lui-même”. (Husserl, 1957: 13) 15 “Das Leben ist unergründlich und unerschöpflich, das ist das immer wiederkehrende Thema aller Lebensphilosophie”. (Bollnow, 1983, II: 33) The impossibility of finding a ground for Being (“Being ist ohne warum”) is both a topic in Heidegger’s philosophy and a problem that concerns us. However, while in Heideggerian philosophy, this issue leads to hermeneutics: “Der Sinn von Sein kann nie in Gegensatz gebracht werden zum Sein oder als tragenden ‘Grund’ des Seienden, weil ‘Grund’ nur als Sinn zugänglich wird, und sei er selbst der Abgrund der Sinnlosigkeit” (1960: 152), in our approach, it motivates the justificative finality of semiosis. 16 Within the frame of the present study, there is no sufficient room to develop a debate neither about our conception of value, nor about the relationship between the determinative and justificative function of reference systems. 17 “Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ‘empfinden’, heißt das Verstehen von Grund aus mißverstehen” (Heidegger, 1960: 153). References Amel, Rodica, “Doxastic Dialectic: the Persuasive Truth”, in Revue Roumaine de Linguistique, XLIV, 1-4, 1999, pp. 3-12. 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SPRACHKÖRPER Für eine phonologische Poetik Chris Bezzel In dieser Arbeit wird für die Zusammenführung von Semiotik, Phonetik und Poetik plädiert, um das Phänomen der abendländischen Lyrik von der Sappho bis heute angemessener beschreiben zu können. Meine These ist: Gedichte der abendländischen Tradition sind als Produkte oraler Gestik Sprachkörper, und ich möchte zeigen, daß der Begriff Sprachkörper weniger metaphorisch ist, als man zunächst denken könnte. Der poetische Text ist artikulierte Realität eigener Art, er ist ein Respirations-“Ding”, ein Objekt. Das ist die semiosische Basis der Referenz(illusion). Die Referenzabsichten des Autors sind das eine. Das andre ist das Produkt dieses Bemühens, das immer “verselbständigt” ist, seine eigene Wirklichkeit im physikalisch-physiologischen Sinn besitzt. Anthropologisch/ physiologisch Nach einer neuen Idee zur phylogenetischen Sprachentstehung hat sich die Sprache des homo sapiens aus dem Spiel von Kindern mit kommunikativen Lautäußerungen entwickelt (Spektrum der Wissenschaft, Mai 2002), die Erfindung der Objektbenennung wäre also eine spielerische Erfindung. Nimmt man zu dieser (jedenfalls reizvollen) Idee die Tatsache, daß Kommunikation durch Lautäußerungen bereits bei Wirbeltieren bekannt ist, hinzu, dann läßt sich Sprache als Probehandeln bereits in der menschlichen Frühzeit als auch ästhetisch verstehen. Man bestreitet damit den marxistisch gedachten Zusammenhang von Sprache und Arbeit keineswegs, denn anthropologisch wird man zwischen menschlichem Bedarf und der anwachsenden Fülle von Bedürfnissen differenzieren wollen. Wichtig ist Roman Jakobsons These der Universalität der poetischen Funktion, durch die Dichtung gegenüber der Alltagssprache nur zu einem spezialisierten Fall wird. Phylogenetisch interessant für die Literaturanthropologie ist die Magie als eine der Wurzeln von Dichtung. Wenn man mit Bertholet (Petzoldt 1978: 117ff.) imitative von kontagiöser Magie als Ausdruck von Ähnlichkeit bzw. Berührung unterscheidet, kann man sagen, daß Zaubersprüche in ihrer phonetischen Struktur eine frühe Entfaltungsstufe der poetischen Funktion darstellen. Aber die orale Aktion (wie essen, kauen, spucken usw.) und die damit verbundene und aus ihr entwickelte orale Gestik und Mimik in einem weiten Sinne sind zunächst Tatsachen des Lebens und Überlebens. Die magische Ähnlichkeitsauffassung entspricht der Lautwiederholung, die Koartikulation der Berührung. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Chris Bezzel 70 Ich sehe z.B. ich in dem anonymen mhd. i- Gedicht Du bist mîn (siehe Textanhang und Bode 2000! ) einen Rest magischer Evokation in seiner fast manischen Exaltation, die sich durch das gespannte lange i ausdrückt, bei dem sich der Zungenkörper immer neu “steil bis zur extremen Hochlage in Richtung nach vorn-oben aufrichtet.” (Wängler 1974: 91) In der magischen Zeichenauffassung werden Zeichen für eine Sache als die Sache selbst aufgefaßt. Da lag es nahe, die Sache durch Zeichen zu beeinflussen, zu handhaben. Mit Baudrillard kann man die abendländisch vorherrschende repräsentative Sprachauffassung als Quasi-Säkularisierung der magischen beschreiben, mit dem Prinzip der Ähnlichkeit von Zeichen und Sache (seit dem Mittelalter und vielleicht gipfelnd im Barock mit der Verdopplung des Objekts durch die Zeichen. Vgl. Baudrillard 1982 und Foucault 1974) Und selbst der Sprachauffassung der modernen Lyrik bis zur dadaistischen, experimentellen und konkreten Poesie spricht man zurecht noch “alchemistische” Züge zu. Die Materialität des Zeichens (nach Saussure zur parole gehörig) spielt also in unterschiedlichen Formen in der Entwicklung der abendländischen Lyrik von der Sappho bis heute eine entscheidende Rolle: Gedichte überschreiten grundsätzlich die Propositionalität, sie müssen als Sprachkörper aufgefaßt werden. Der Begriff der “notwendigen Form” (Emil Staiger) aus werkimmanenter Zeit bezieht sich auf die Einheit von Sinn und Form. Lyrische Texte stellen einen Versuch der Balance oder Dialektik der drei Sprachebenen Phonetik, Syntax und Semantik dar, was als je spezifische Korrelation, nicht als Harmonisierung zu verstehen ist, Lyrik ist nicht Sprache im dekorativen Zustand, so wenig sie pauschal der emotiven Funktion zugesprochen werden kann. Ebenso ist Dichtung nicht Somatisierung eines unkörperlich Semiotischen, sondern in ihr wird die grundsätzliche artikulatorische Körperlichkeit der Sprache sinnfällig und genußvoll erfahren, während sie in der alltäglichen Kommunikation infolge der Dominanz der sog. Information und der Automatisierung und Geschwindigkeit eher verborgen ist (so schmerzhaft sie im Lärm des Geredes und im Gebrüll der Lautsprecher erlitten wird). Die Universalität der poetischen Funktion nach Jakobson wird im alltäglichen Reden kaum bewußt, wird aber sofort virulent, wenn - auch zufällig - poetische Strukturen auftreten. In Rhetorik, Werbung und Dichtung werden sie aktiviert, in der Werbewelt der sogenannten Spaßgesellschaft ins Lächerliche übertrieben. Ziel der Lyrik ist der vollkommen physisch-geistige Genuß, die Einheit von Artikulation und Reflexion. Lyrik ist Sprache als Fest; ihr gegenwärtiger geringer gesellschaftlicher Stellenwert spiegelt die Unfähigkeit, Feste zu feiern. In unserer visuell tyrannisierten westlichen Welt scheint das Auditive der Lyrik, ja der Literatur überhaupt, ebenso vergessen zu sein wie die Tatsache, daß Dichtung als komplex gegliederte tönende Ausatmung, als modifizierter und modulierter Respirationsprozeß bestimmbar ist. Das Gedicht hat - wie jeder Sprechakt - immer eine illokutive Rolle (nicht nur als politisches oder als Liebesgedicht), doch zuerst und zuletzt hat es ästhetische Funktion, und sein ästhetischer Wert entscheidet über die Dauer seiner Wirksamkeit in einer Kultur. Grundlage des Lebens, aber auch der Phonation ist die Atmung. Einatmen impliziert Muskelspannung und Anhebung von Rippen und Brustbein, also eine Bewegung von unten nach oben. Ausatmen bedeutet Muskelspannung und Senken von Rippen und Brustbein von oben nach unten. Bei der stummen oder ruhigen Atmung sind beide Akte fast gleich lang, aber die Einatmung ist stärker. Sprachkörper 71 Die Phonationsatmung ist wesentlich unterschieden von der stummen Atmung, sie verkürzt die Einatmung und verstärkt/ verlängert die Ausatmung (vgl. Wängler 1974: 64f.) Das bedeutet, daß das Sprechen einen rein physiologischen Prozeß verändert. (Ebenso ist der Kehlkopf, phylogenetisch gesehen, aber auch heute, nicht in erster Linie Stimmorgan (ib. 65) Es gibt kein abgegrenztes Sprechorgan, erst durch das Zusammenwirken “vieler verschiedener Körperfunktionen” (Wängler 1974: 48) wird Sprechen möglich. Zugleich ist es physikalische Einwirkung auf die Umwelt und den Hörer: wer spricht, produziert eine Molekularbewgeung der Luft, die sich im Raum fortpflanzt (ib. 77) Das bei aller Phonation realisierte Spektrum umfaßt Geräusche, Laute, Sprechlaute und Sprachlaute. Der Sprachlaut ist nur “eine Klasse hörbarer Lautmerkmale, die in einer gegebenen Sprache als Einheit gewertet wird…(und) das Phonem ist diese Funktionseinheit.” (ib. 30) Für die Dichtung kann man schon von hier aus sagen, daß sie materialisierte Bedeutung schafft und ist, d.h. zwischen Materie und “Geist” (was immer das sein mag) hin- und herschwingt, nicht “vermittelt” im Sinn des bloßen Transzendierens. Sprechen ist Modifikation des beim Ausatmen entstehenden Luftstromes. Die Teilakte des Sprechens sind: - Kontraktion des Brustkorbs und des Zwerchfells - Auseinandertreibung der Stimmlippenränder durch den Luftstrom - Vibration der Stimmbänder - Rhythmisches Schwingen und Klingen der Luft - Modifikation dieses Klangs im Mundraum durch Lippen, Zunge und Unterkiefer. Brustkorb und Zwerchfell ermöglichen die Atmung, der Kehlkopf die Stimmbildung, der Mundraum die Artikulation. Trotz der Leichtigkeit der erlernten Sprachartikulation und der entsinnlichenden Hypertrophie des menschlichen Geredes - extremisiert durch die akustischen Medien - sind wir sprechend mit unserer Physis verbunden durch Muskelaktivität (Zunge, Lippen, Unterkiefer) und durch die Aus-Atmungsmodifikation mithilfe des Kehlkopfs, die eine Rückwirkung auf die Lunge hat. Weitere Kennzeichen der Sprechtätigkeit sind: - die sehr genauer Feinmotorik von Lippen, Zunge, Stimmbändern und Brustkorb; - genaue Atemkontrolle (zb. b vs p) - periodische Schließbewegungen der Glottis. Die entscheidende Wichtigkeit der Zunge für die Phonation drückt sich im griechischen Wort glotta/ glossa aus, das 1. Zunge, 2. Sprache, Sprachausdruck (nicht: Wort) bedeutet. Pindar sagt (in der ersten Pythischen Ode): chalkeue glottan: schmiede die Zunge/ Rede. Für phonetisch-poetologische Analysen wird man sich intensiv mit der Rolle der Zunge beschäftigen müssen, und es wird sich ziegen, daß dieZunge eine Art artikulatorische “Ich” darstellt, was psychodynamisch zu interprtieren sein wird. Die Anatomie stellt fest: Chris Bezzel 72 “Die Zunge ist ein von Schleimhaut umhülltes Muskelorgan, welches für das Kauen und Sprechen wichtig ist. (…)Wir unterscheiden an der Zunge eine motorische Innervation der Muskulatur, eine sensible Innervation für Tast-, Tiefen-, Temperatur- und Schmerzempfindungen… Der wichtigste in die Zunge einstrahlende Muskel ist der fächerförmige Kinn-Zungen- Muskel (M. genioglossus), welcher die Zunge als Ganzes nach vorne zieht und den Zungenrükken abflacht. In der Zunge selber laufen die Bündel quergestreifter Muskelfasern in allen drei Richtungen des Raumes.” (Faller 1972. 117) Phonetisch grundlegend ist für die Zunge: “Die Zunge ist das aktivste Sprechorgan. Ihre große Beweglichkeit, besonders die Fähigkeit des komplizierten Muskelsystems, sich in verschiedenen Teilen (vorn, Mitte, hinten) zu heben und zu senken, macht sie zum Hauptakteur der Lautbildung.” (Wängler 1974: 70). Macht man sich klar, daß eine phonetische Poetik zusätzlich und anthropologisch mit der objektiven gestischen Symbolik zu tun hat, wird klar, welche Aufgaben vor dieser interdisziplinären Disziplin stehen. Bei jeder poetologische Artikulationsanalyse muß man sich bewußt bleiben, daß die objektiven Analogien des Sprechens zu allen anderen Aktionsmöglichkeiten der Zunge bestehen bleiben, unabhängig von unserem Bewußtsein. Für die Phonation wichtig ist es, daß bei den Vokalen die Zungenspitze “so gut wie niemals aktiv an ihrer Bildung beteiligt ist und in der Mittellinie des Gaumens keine Zungenberührung zustandezukommen pflegt” (Wängler 1974: 41) Die entscheidende Rolle spielt der Zungenkranz, und die vordere, mittlere und hintere Zungeoberfläche sind Artikulationsorgane. Bei den Vokalen handelt es sich daher um ein andres Bildungsprinzip als bei den Konsonanten, sie dienen der “Resonanzraumgestaltung” (ib.), die zu den vokalischen Klanfarben führt. Es geht bei der Vokalbildung um die Lage der Zunge, was zur Systematisierung des sogenannten Vokaldreieckes in der Phonetik geführt hat. Die Zunge bildet bei Vokalen als Resonanzraumgestalterin Umgebung, bei Konsonanten Hemmstellen (wenn auch nicht bei allen (zb. r, l, n und k), dagegen bei p und m). Gestisch zu interpretieren wird es für die Artikulationsbasis auch sein, daß im Deutschen die Lippenhaltung eine relativ größere Aktivität als im Englischen besitzt. Generell wird eine poetologische Phonetik zeigen müssen, in welcher Form die Grundgrößen Artikulationsstelle, artikulierendes Organ und Artikulationsmodus in der tradierten Lyrik je einer Sprache spezifisch und ästhetisch lustvoll korreliert werden. Trotz der biologischen Basis werden - nach der Kulturtheorie von Malinowski (1975: 118ff.) - bereits das Sauerstoffbedürfnis und die Atemtechniken kulturell geprägt, d.h.modifiziert. Malinowski geht von “einfachen Impulsen” aus. Zwar ist das Sprechen ein Respirationsphänomen (d.h. betont gegenüber dem Einatmen), aber auch hier führt “kulturbestimmtes Atmen” zur Abweichung vom rein physiologischen Vorgang (ib. 119). Aus dem beseelten Körper kommt der Bewegungsantrieb und das unmittelbare und zunächst unreflektierte Bedürfnis nach Bewegung und Ausdruck, völlig analog zum Hunger als dem Impuls nach Nahrung. Lyrik ist der Versuch, ursprünglich körperlich-seelische Impulse 1. über die orale Gestik zu verkörpern, wiederholbar zu materialisieren, und zwar in sprachlch-gesellschaftlicher Form (zB. nicht glossolalisch); 2. das Produkt mitzuteilen und sozialem Genuß zuzuführen. 3. dient die Verkörperung also nicht nur der Realisation, sondern zugleich der sozialen Haltbarkeit, also der Einbettung in eine Kultur (gegenüber spontan-diskursivem Poetisieren). Sprachkörper 73 Das gelungene Gedicht kann, muß aber nicht, einem direkten mimetischen Impuls entspringen, wofür die erste Zeile des Gedichts “Der römische Brunnen” von C.F. Meyer (vgl. Bode 2000) ein Beispiel ist: Das erste Wort aufsteigt in “Aufsteigt der Strahl” vollzieht in jeder Silbe ein artikulatorisches Aufsteigen vom basalen a des Mundbodens aus, es bildet also zweimal objektiv die Fontänenbewegung nach (siehe Textanhang). Doch in den meisten Fällen arbeitet Lyrik nicht mimetisch, sondern metaphorisch-geistig mit unbewußt bleibenden Analogien, die es zu analysieren gälte. Wir haben es mit folgenden drei Dimensionen zu tun: der physisch-physiologischen oralen Aktion, der generellen einzelsprachlich kodierten oralen Gestik (z.B. Zahl und Qualität der benützten Vokale) und der individuellen oralen Gesamtgestik eines Gedichts. Ästhetisch ist zu sagen, daß nur dort, wo die Mentalisierung dem Körperlichen entspringt und zu ihm zurückkehrt, bedeutende Kunst denkbar ist. (Auch die concept art ist materialisiert, wie immer reduziert.) Die Sprechtätigkeit des Menschen ist ein Teil seines “universe of actemes” (Zipf 1935: 303 ). Die sprachlichen Handlungsmuster basieren auf den physiologisch-physischen, sie sind als bewußte und freie Aktivität eingebettet in und abhängig von automatisierten Handlungsmustern, wie sie der Mensch zum Leben und Überleben braucht. Atmen, esssen und sprechen haben z.B. gemeinsam, daß sie modifizierte Formen des Öffnens und Schließens der beteiligten Organe sind, sie sind mechanisch miteinander verwandt, ja sie können teilweise synchron betrieben werden. (Man kann beim Sprechen zwar nicht schlucken, aber kauen, und beim Sprechen und Singen wird zugleich geatmet). Zipf (1965: 292) spricht vom “gesture complex” und gibt eine sehr weite Definition der Sprechelemente: “Any speech-element represents an anormous complex of gestures including not only the peculiarly linguistic gestures of the conventional vocal organs… but also the essential acts of living process, such as the acts of respiration, alimentation, and the like.” (292). Und er definiert: “a person is … a universe of actemes” (303). Dabei gibt es einen stufenlosen Übergang von Mustern zu Gewohnheiten zu bewußten Handlungen. Anthropologisch sind die Sprachunterschiede relativ, aber nicht zu vernachlässigen, was die Artikulationsbasis, nämlich die Ruhelage der Artikulationsorgane und ihre Grundhaltung beim Sprechvorgang betrifft. Die “allgemeine Artikulationsaktivität” ist nach Wängler im Deutschen größer als im Englischen, aber kleiner als im Französischen (bezogen auf Zunge, Lippen, Unterkiefer und Velum) (Wängler 1974: 167). Die orale Gestik ist im Deutschen gekennzeichnet durch eine “vorgerückte Zungenlage” (ib. 167), die in Koartikulation verstärkt wird (ib. 168). Die Zungenspitze hat fast immer Kontakt mit der Innenfläche der Unterzahnreihe, die Grundhaltung der Zunge ist konvex gewölbt (ib.). Davon gehen alle Artikulationsbewegungen aus (im Unterschied zur Erwartung der Nahrungsaufnahme, wo die Zunge konkav ist.). Jeder Sprachlaut wird mit mehreren, mit mehr als einem Sprechwerkzeug produziert, ist also eine physiologisch-physisch-dynamische Kooperation. Von den tiefsten zu den höchsten Vokalen, von u zu i, handelt es sich um eine Frequenzbereichserweiterung, d.h. in den höheren Vokalen sind die Frequenzen der tieferen enthalten, im i: also frequenzmäßig alle anderen. die Skala nach unten ist langes ü, kurzes i, ü, langes e, ö, e, ä, Schwa. a, langes a, kurzes o, o, u, langes u. Während der Luftstrom bei den Vokalen frei ist, werden alle Konsonanten im Deutschen durch die unterschiedliche Behinderung des Luftstroms gebildet. Eigentliche Konsonanten sind Geräuschlaute (stimmhaft oder stimmlos) oder Sonanten ohne Geräuschlaute (wie m, n, ng) Chris Bezzel 74 Orale Gestik Ich spreche von oraler Gestik, weil Sprechen beschrieben werden kann als Abfolge von Gebärden im Mund- und Rachenraum, weitgehend unbewußte oder vorbewußte Gebärden. Dazu paßt es, daß nach neuen Ergebnissen Gebärdensprache und Wortsprache wahrscheinlich die gleiche linguistische Verarbeitung “in den zentralen, höheren Ebenen des Gehirns” haben; sie haben “große neurale Bereiche gemeinsam” (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2001: 53). Wie das sprachliche Zeichen ist die orale Gestik zunächst abstrakt-arbiträr, soweit sie zur Zeichenartikulation führt. Aber ihre physiologische Basis ist funktional: die geschlossenen Lippen halten z.B. beim m fest, das englische th zeigt die Zunge. Vielleicht kann man von einer komplexen Kooperation vom Visuellen der Gebärdensprache über die exspiratorisch-muskuläre orale Gestik zur Akustik der Wortsprache sprechen. Ich definiere orale Gestik als sprachspezifische unbewußte Ausdruckshaftigkeit, die in der Dichtung zum Material wie zum Werkzeug wird, wobei auch hier der Grad des Bewußtheit des Dichters unerheblich ist. Die Ausdruckshaftigkeit ist zugleich kulturspezifisch (nicht nur einzelsprachlicht realisiert), so daß, trotz der unterschiedlichen Phonetik etwa der europäischen Sprachen, die Ähnlichkeit lyrischer Stile keineswegs nur semantisch erklärbar sind. Die Mundraumgestik (Phoneme und “artikulatorische Subgesten” nach Zipf 1965.) ist zum größten Teil unbewußt: Den vielen Generationen zb., denen das Sprichwort “Hochmut kommt vor dem Fall” als nicht nur moralisch richtig, sondern auch ausdrucksstark erschien, war sicher die tatsächliche artikulatorische Bewegung im Mundraumvon hinten oben zur hinteren Mitte nach unten nicht bewußt (o u o o e a), d.h. die artikulatorisch-symbolische Ausdruckshaftigkeit. Die artikulatorische Bewegung läßt - überwiegend unbewußte - motorische Empfindungen und Bilder entstehen, die in der alltäglichen Kommunikation kaum eine Rolle spielen, im und durch das Gedicht aber intensiviert und vom Dichter (ebenfalls meist unbewußt) orchestriert werden. Die orale Gestik ist einzelsprachspezifisch, woraus sich auch die Unübersetzbarkeit von Lyrik erklärt. Zur ästhetischen Wirkung gehört, was Zipf schon 1935 (in Zipf 1965) psychobiologisch so formuliert hat: “Any phoneme can be viewed as a complex or configuration of articulatory sub-gestures in sequential arrangement.” (Zipf 1965: 59) Trabant hat in seinem Buch über Giambattista Vico darauf hingewiesen, daß die altgriechische Bedeutung von poietai als Macher im weiten Sinn noch bei Vico gilt, der die Poeten “criatori”nennt, nach Trabant “kreative Zeichen-Macher,…Sematurgen”. Sie “zeigen und deuten ‘Körper’ (corpi), Gegenstände der Welt, indem sie ihnen “Seele” geben…” (Trabant 1994: 47) Nach dieser Vorstellung überschreiten die Lyriker die bloße lexikalisch-semantische Worthaftigkeit der Sprache, sie kombinieren Redekunst mit der quasi skulpturalen Technik der Artikulation. Gedichte als Sprachkörper umfassen demnach das gesamte Spektrum aller Artikulationsebenen: Text, Satz, Wort, Morphem, Phonem und artikulatorische Subgesten. Das linguistisch noch nicht zufriedenstellend gelöste Problem der Textualität betrifft den Ausgangspunkt, den Kern und das Ende jeder poetologischen Analyse. Sie steht diesseits, weil sie gezielt unterhalb des Semantisch-Informatorischen im Körperlichen der Artikulationsbewegungen anzusetzen ist; jenseits, weil es ihr um einen übergreifenden SINN geht, der Sprachkörper 75 die drei sprachlichen Ebenen integriert. (Vgl. dagegen Jakobson, bei dem trotz aller Verdienste um die poetische Sache nicht deutlich wird, ob er mit dem Theorem der russischformalistischen Deautomatisierung nicht doch heimlich ästhetizistisch denkt.) Schon Platon nennt (in Symp. 205 bc) Musik und Dichtung zugleich: “ten mousiken kai ta metra” (Schmitt 1986: 267). Arbitrarität Ich gehe davon aus, daß die immer neuen Versuche der Widerlegung oder Einschränkung des saussuresches Prinzips der Arbitrarität vergeblich sind: Das Zeichen per se drückt zunächst und zuletzt weder semantisch (concept) noch phonematisch (image acoustique) das Objekt aus. Arbitrarität darf nicht nur genetisch verstanden werden, also sich auf die Bildung neuer Zeichen beschränken. Sie gilt strikt in jedem Kommunikationsakt, nach Maturana, radikal konstruktivistisch ausgedrückt: “Wörter sind keine symbolischen Entitäten, noch auch konnotieren oder denotieren sie eigenständige Objekte” (von Glasersfeld 1998: 221)) Von Platons “Kratylos” (der sich jedoch nicht festlegt) bis heute muß sich die Sprachphilosophie und die Linguistik - trotz Saussure - immer neu emanzipieren von der allerdings starken alltäglichen Illusion der “Motiviertheit” sprachlicher Zeichen. Einer der ideengeschichtlichen Gipfel der sprachmetaphysischen Illusion liegt in der Mystik von Jakob Böhme vor, bei dem man lesen kann: “an der äußerliche Gestaltniß aller Creaturen, an ihrem Trieb und Begierde, item, an ihrem ausgehenden Hall, Stimme und Sprache, kennet man den verborgenen Geist. dann die Natur hat jedem Dinge seine Sprache nach seiner Essentz und Gestaltniß gegeben, dann aus der Essentz urständet die Sprache oder der Hall, und derselben Essentz Fiat formet der Essentz Qualität, in dem ausgehenden Hall oder Kraft, den lebhaften im Hall, und den essentialischen im Ruch, Kraft und gestaltniß: Ein jedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung.” (Gaier 1971: 21) Lyrik hingegen - jedenfalls die bedeutende - fällt nicht zurück in die Fiktion einer Natursprache, sondern produziert durch die spezifische Sinnlichkeit ihrer textuellen Artikulation in phonetischer, syntaktischer und semantischer Bedeutung des Wortes körperhaft-gesellschaftliche “Natur”. Den scheinbaren Mangel der Arbitrarität (der in Wirklichkeit Grundbedingung der Semiose ist) gleicht das Zeichen durch die über einen genügend langen Zeittraum stabile Verbindung von Signifikant und Signifikat, ja deren Untrennbarkeit, aus.Vielleicht kann man sagen: die grundsätzliche Beliebigkeit wird durch die kommunikative Verläßlichkeit ausgeglichen. Dichtung ist das Mirakel, daß trotz dieser Zeichenlage sozusagen in the end, nämlich in der Kon-Artikulation des Textes, eine Versöhnung von Zeichen und Objekt auf-scheint, zwar iterierbar, aber immer nur augenblickshaft. (In solchen Momenten hat das Schulkind subjektiv recht, das im Aufsatz formulierte: “Das Schwein trägt seinen Namen zurecht, denn es ist auch eines.”) Im gelungenen Gedicht (also selten) werden arbiträre Zeichen mit andren arbiträren so (das ist das Handwerk) komponiert, daß ein spezifischer humaner Ausdruck entsteht. Dichtung wäre also ein glückliches Arrangement, in dem aus der Komposition arbiträrer Elemente (Phoneme, Morpheme, Wörter, Sätze im prosodischen Zustand) suggestiver Ausdruck wird. Das Gedicht hat eine “Physiognomie”. Chris Bezzel 76 Der Dichter hat nur das arbiträre Material wie jeder Sprechende, die Grenzen seiner Sprache sind die buchstäblichen (phonematisch-konzeptuellen) Grenzen seiner Welt (Wittgenstein). Aber sein Talent läßt ihn Wege finden, innerhalb dieser Grenzen diese quasi zu sprengen: implosiv (statt expandierend); denn im Gedicht übernimmt die artikulatorische Bewegung dort den “Ausdruck” via Sinnlichkeit, wo die abstrakt/ propositional/ semantisch ab-bildende Tätigkeit des Satzes ans Ende gekommen ist. Nennende Zeichenbildung (Satz) und Satzzeichen (im Begriff des Wittgensteinschen “Tractatus”), Sinn und Form schießen zusammen. Kunst ist generell paradox: Sie erhöht mit der “Spürbarkeit der Zeichen” die “Dichotomie von Zeichen und Objekt” (Jakobson1979: 93), doch mit dem Ergebnis, daß durch den sinnlichen Ausdruck die genaueste Verbindung von Zeichen und Objekt, eine Versöhnung hergestellt zu werden scheint. (Und dieser Schein ist der ästhetische Genuß.) Linearität Die unabweisliche Linearität der Sprache ist zunächst nicht zu diskutieren, aber mir scheint wichtig, daß der Begriff metaphorisch und ungenau ist. Er geht von der Schrift und einer spatialen Zeitvorstellung aus, die den Raum entwertet. In Wirklichkeit ist das Sprechen ein raumzeitlicher physikalischer Prozeß. Linearität benennt das irreversible zeitliche Nacheinander, die artikulatorische Sequenz auf kosten der drei anderen Dimensionen. Dazu kommt, worauf Fónagy schon 1965 (Fónagy 1965: 243ff.) hingewiesen hat, daß - jenseits der doppelten Artikulation Morphem/ Phonem - die phonematische und darstellungsrelevante Ebene (nach Bühler) eine Abstraktion ist, zu der realiter die ausdrucksrelevante des jeweiligen Sprechers (als individuelle) hinzukommt. “Die Rede ist daher eigentlich nie linear, nie einschichtig.” (ib. 244) Poetologisch entscheidend ist die grundsätzliche Aufhebung der Linearität durch die textuelle Kon-Artikulation des Gesamtgedichts, die essentiell unabdingbare Ergänzung durch die Vertikalität: Von Gedichten als Sprachkörpern zu sprechen, bekommt dadurch einen, über das Physiologisch-Artikulatorische hinausgehende Bedeutung. Die alltagssprachlich gegebenen Phänomene der sequentiellen Artikulation werden im Gedicht komplex “überlagert”, wobei der Effekt eine Ergänzung/ Erweiterung/ Komplettierung der Linearität in Richtung auf eine “vertikale” Verräumlichung ist, die den lyrischen Text zu einem (immer dynamischen, weil nur im Artikulationsvollzug existierenden) Körpergebilde macht (was im Idealfall zu einer subjektiven Identifizierung mit ihm führt). Kommunikation Alltägliche Sprache ist zunächst nur kommunikatives Mittel zum Zweck, was durch die Sprachspieltheorie von Wittgenstein akzentuiert wird. Aber lange vor der Schrift wurde Sprache bis zu einem gewissen Sinn zum Selbstzweck: Dichtung ist (in anderer Weise als die Metasprache) die Konzentration auf die sprachliche Wirklichkeit selbst bei beigehaltener Mitteilungsfunktion. Sprachkörper 77 Man kann auch sagen: Dichtung gewichtet alle drei Komponenten gleichzeitig und gleich stark. In der poetischen Kommunikation gilt eben nicht, was den Normalfall der alltäglichen Kommunikation bestimmt: “Hauptsache, du verstehst mich.” Das alltagssprachliche Sprachspiel zielt auf die Wirklichkeit und deren Veränderung. Die Sprachform, ja die sprachliche Wirklichkeit, ist quasi vergessen, sobald der Zweck erreicht ist. (Siehe die Paraphrase, vgl. “Er sagte sinngemäß”.) Dagegen ist die poetische Rezeption das reflektierende und ästhetische Verweilen bei der sprachlichen Wirklichkeit, den Zeichenträgern. Gedichte sind nicht nur aus Gründen der Artikulation als ihrer notwendigen und einzigen Existenzform Sprachkörper, sondern auch, weil wir sie als solche Sprachkörper verstehen und genießen -, und zwar beliebig oft. Dichtung ist zunächst unabhängig von Schrift. Durch das Aufschreiben wird ihre unaufhebbare Linearität zunächst betont. Aber die Zweideutigkeit der Schrift bewirkt dann, daß die zweite, die vertikale Dimension zum Vorschein kommt, betrachtbar, reflektierbar wird. Allerdings ist das aufgeschriebene Gedicht nur ein Abbild, ein Schatten seiner dreidimensionalen Körperlichkeit. Durch Sprache wirken Menschen keineswegs nur kommunikativ-semantisch aufeinander ein, sondern - das wird oft genug zum Problem - auch physisch: der Hörprozeß ist ein Erleidensprozeß; was da alles passiert, kann man im Physiologie- und Phonetikbuch nachlesen (vgl. Wängler 1974: 77f.) Semantik Ein Gedanke kann wahr, schön und gut sein, er kann bedeutend, ja genial sein. Sein sprachlicher semantisch-propositionaler Ausdruck macht ihn aber noch nicht zum Gedicht. Der Begriff “Gedankenlyrik” drückt die Grenze aus. Im poetischen Kontext bekommen Laute erst ihren (eventuell symbolischen) Sinn, vor jeder Polysemie kommt die Semierung, insofern es von der abstrakten Zeichenbedeutung zu einer Lautbedeutung kommt. Das Gedicht ist ein Akt (Handlung und actus: Vollzug) der phonatorischen Semierung, d.h. der Aktivierung von Lautbedeutungen; denn der normale Prozeß ist die semantische, konzeptuelle Signifikation, bei der Syntax und Phonetik nur Medium, Hilfmittel sind. Sprachkörper Die Verkörperung der Dichtung liegt 1. in der physiologischen Phonation (gilt auch für die Alltagssprache), 2. in der konkreten Korrelation der drei Ebenen (realisatorisch), 3. in der Produktion eines Textes, durch den die Linearität/ Horizontalität ergänzt wird um die räumliche Vertikalität: die Konartikulation. Das Gedicht existiert nur als Konartikulationsprodukt. Allgemein sprachlich gilt: Raum vor Zeit (Sichtbarkeit/ Hörbarkeit vor Ablauf), wie auch Wahrnehmung am Raum ansetzt, nicht an der Zeit. Deshalb gibt es mehr lokale Deiktika. Was sichtbar, hörbar, tastbar usw. ist, ist primär. Chris Bezzel 78 Dichtung affirmiert im akustischen Medium die Räumlichkeit auf der Basis ihrer eigenen spatialen, der Mundraum-Artikulatorik. (Man könnte sagen: Zunge = Ich = “Hand” des Mundes, das Hauptinstrument). Wenn STIL im weiten Sinne die Ausdrucksweise ist und diese “l’homme même”, dann sind Gedichte als ausgedrücktes, als lebendes Produkt Analogien zum Körper, wobei diese Vergegenständlichung überindividuell ist: der Sprachkörper Gedicht ist jedenfalls gedacht als quasi kollektiver, und in der gelebten Kultur ist er es auch. “Im Styl”, sagt Novalis, “herrscht…das Wort, die Gestalt, Genesis oder der caracter des Worts.” (Novalis 1978: 201) Noch bevor (in einem nicht-zeitlichen Sinn) das Wort zum saussureschen mentalen zweiseitigen Zeichen aus concept und image acoustique wird, zum Bestandteil der langue, ist es physiologischer Laut, Zeichenkörper der parole. Der saussuresche Signifikant ist, weil rein mental, nicht zu verwechseln mit dem artikulatorisch-rhythmischen Schallereignis des Zeichenkörpers. In Bezug auf Klopstock hat das Winfried Menninghaus so ausgedrückt: “Der Derealisierung der Zeichen zu bloßen Bedeutungsträgern kommt die Bewegungsenergie der Wortbewegung buchstäblich zuvor: sie ist schneller, wirkt schneller und ‘geradezu’.” (Menninghaus 1989: 313) Hier verbindet sich die Poetik des movere (des 18. jahrhunderts) mit der poetischen Funtion von Jakobson, unter der wir darauf eingestellt sind, die sogenannte Botschaft als sprachlich-physiologisches Ereignis zu rezipieren. Lyrik als Sprachkörper aufzufassen, bedeutet nicht, die trotz aller Physik bleibende Metaphorik des Begriffs zu übersehen, dh. die Analogien dürfen nicht verdinglicht werden, trotz der Basis, daß lebende Körper wie Gedichte nur als Bewegung und in Bewegung anzutreffen sind. Vokale sind nicht Fleisch, Konsonanten nicht Knochen, obwohl sie nicht selten so anmuten. Es geht bei lebenden wie poetischen Körpern um Multifunktionalität. Sie verbindet sich durchaus mit der vielgenannten Polyvalenz oder poetischen Vieldeutigkeit, die der gefährlichen Vieldeutigkeit abstrakter, z.b. politischer Begriffe (wie “Gleichheit”) als produktiv gegenüberzustellen ist. Die poetische Vieldeutigkeit potenziert und sprengt die (rationalistische) Logik der Begriffe, indem sie rationale und intuitive Erkenntnis, Erfahrung und Phantasie, Wahrnehmung und Assoziation verbindet. Die populäre, aber falsche Herleitung des Worts “dichten” von verdichten trifft doch die Sache, indem Gedichte in jedem Fall, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, unwahrscheinliche Häufigkeitsverteilungen darstellen, die als “Abweichungen” zu beschreiben allerdings leicht in die Irre führen kann. Das Unaussprechliche Von Klopstocks Poetik der Wortbewegung gibt es eine Verbindung zum ästhetischen Zeigen, wie man es Wittgensteins “Tractatus” entnehmen kann: Insofern Kunst allgemein eine Priorität des Ästhetischen setzt, ohne das Semantische abzuwerten, transzendiert sie das Sagbare. Klopstocks Begriff der “Empfindung” ist ganz in diesem Sinne nicht psychologistisch mißzuverstehen, wenn er sagt: “Der Dichter kann diejenigen Empfindungen, für welche die Sprache keine Worte hat…durch die Stellung und die Stärke der völlig ausgedrückten ähnlichen, mit ausdrücken.” (Menninghaus 1989: 171) Dabei verweist “Stellung und Stärke” auf die poetisch-prosodischen Verfahrensweisen, die eine poetologische Phonetik (oder phonetische Poetik) zu analysieren hätte. Die Zeichenkörper bekommen eine physiognomische Bedeutung, “statt nur Zeichen für eine intellegible Sprachkörper 79 Bedeutung” (Mennighaus 1989: 314) zu sein. “Überhaupt”, sagt Klopstock, “wandelt das Wortlose in einem Gedicht umher, wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehnen Götter” (ib. 172). Bei Klopstock kommt die Wortbewegung nicht nur vor der Bedeutung, sondern sogar vor dem Klang. (ib. 37f.) So weit muß man der idealistischen Poetik ja nicht folgen, ohne die revolutionäre Innovation Klopstocks aufzugeben.(vgl. Menninghaus 1989: 315)) Wendet man den “Tractatus” auf die Poetik an, hat man es mit der grundlegenden Unterscheidung von SAGEN und ZEIGEN zu tun, und zwar auf allen drei linguistischen Ebenen, weil das Gedicht als ästhetisches Gebilde den Bereich des SAGENS, also der Produktion von nach Wittgenstein “sinnvollen Sätzen”, übersteigt: Poesie wäre nach dem Tractatus (paradox) textuelle Produktion von “Unaussprechlichkeit”. Oder anders: Kunst wäre eine Form des verbalen “Schweigens”. Was Wittgenstein übrigens über die Musik formuliert hat, die er 1931 deshalb “die raffinierteste aller Künste” nannte, weil sie “die ganze unendliche Komplexität besitzt, die wir in dem Äußeren der anderen Künste angedeutet finden”, und die sie “verschweigt” (WA 8, 462). Novalis sagt: “Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Er ist der Sinn für das Eigenthümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare etc.” (Novalis 1978: 840 ) Syntaktisch zeigen (im Sinne des “Tractatus”) poetische Texte, insofern hier die Wortstellung die Bedeutungen mitbestimmt und nicht beliebig, nie paraphrasierbar ist. Eine Paraphrase des Gedichts “Schlußstück” von Rilke (siehe Textanhang! ) ergibt kaum mehr als einen altbekannten Gedanken, der schon in einem uralten Kirchenlied ausgedrückt ist: “Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen…” Und den lachenden Tod kennen wir aus mittelalterlichen Totentänzen. (Zusätzlich ist die Formulierung “lachenden Munds” syntaktisch zweideutig und kann sich auf “wir” wie auf den Tod beziehen.) Allgemein zerstören Paraphrasierungsversuche bei Gedichten die Sinnschichten, die ihnen wesentlich sind. (Ebenso kommt die essentielle Unübersetzbarkeit von Gedichten daher.) Phonetisch zeigen poetische Texte, insofern der Textklang entscheidend mitbestimmt: die Artikulation als - auch musikalische - Wortbewegung. In der Poesie wird aktuell, was im rein semantischen Satz-Bild der Standardsprache logisch keine Rolle spielt, weil es zur den Gedanken verkleidenden Form, zum Sprachkleid gehört (T 4.002): “In der Wortsprache ist ein starkes musikalisches Element”, formuliert der “Zettel” 161 von Wittgenstein (W 8, 304). Im Gedicht von Rilke erweisen sich die Reime Seinen, meinen und weinen als bedeutungstragend in der Richtung, daß sie das thematischen Weinen konnotativ erweitern. Und in dem für den Reimperfektionisten Rilke auffälligen unreinen Reim Munds mit uns steckt - objektiv - das doppelte t von “Tod”. Das Gedicht “Mattina” von Ungaretti verwendet fast nur Dauerlaute, die Konsonanten m, l, n und s, wobei nur das s nicht sonor ist.; es zeigt artikulatorisch durch die Sinn-Bildlichkeit der Lippen- und Zungenbewegungen der Geminate ll, durch m und n: Nach der Schließung der Lippen beim m der letzten beiden Silben menso öffnet sich der Mund durch das offene e weit, und das folgende n und s sorgen für eine Verlängerung der Mundöffnung, sie “zeigen” artikulatorisch das genannte “Unermeßliche”. Dabei findet ein Tonhöhenanstieg von u zu offenem e statt. Chris Bezzel 80 Als weitere zeigende artikulatorische und semantische Einzelheiten sind zu nennen: Die Wörter sind alltagssprachlich, weshalb die Überstezung “Unermeßliches” von I. Bachmann nicht glücklich ist. Das Gedicht enthält nur einen Dental, die stimmhaften Sonorlaute m, l und n drücken hier Offenheit und Endlosigkeit aus. Der Titel des Gedichts realisiert mit der ersten Silbe ma mundraumsymbolisch-artikulatorisch die Basis, die Ebene aus, von der aus sich die poetische Vorstellung erhebt. Der Schritt von u zu e ist eine artikulatorische Geste der Öffnung, der Schritt von ll zu mm ist eine Bewegung vom Lateralengelaut zur völligen Öffnung nach Verschluß. M, n und ll etablieren einen ungehinderten Phonationsstrom. Der Vokalwechsel i u i o i e o stellt eine mehrfache Ausmessung des Tonhöhenraums hoch-tief dar, der mit dem Artikulationsraum hinten-oben zu vorn-oben korreliert. Die Klangfarbe von u ist tief, von e mittelhoch. Das Gedicht von Juan Ramón Jiménez (vgl. Siebenmann et. al. 1999) basiert auf der artikulatorischen Ausnutzung von mu-ndo und mu-jer. Für die Präposition en ist wichtig, daß sie weniger erotisch-direkt ist als das deutsche “in”, weil es auch eine instrumentale Bedeutung hat. (Daher ist das Gedicht m.E. nicht als “tagelied” zu verstehen.) Der Reim -er/ -er fällt frappierenderweise zunächst nicht auf, vermutlich wegen des rhythmisch abgesetzten vokativischen mujer. Die Wörter man˜ ana, mundo und mujer bilden alliterativ eine integrierende Reihe. m und n stehen in einem Wechselspiel, und auch der Titel gehört zur Alchemie der Gedichtlaute. Die Integration von mundo und boca drückt sich in den einzigen beiden o des Gedichts aus. 28 der 36 Laute des Gedichts sind weich (m, n, l, b, d). Das Muster der betonten Vokale ist: a e u e o e Durch die beiden hinteren Vokale u (hinten oben) und o (hinten-Mitte) in Spannung zum e wird der reale Mundraum akzentuiert. Der Übergang von besa zu boca stellt eine vokalartikulatorische Bewegung ins Mundinnere dar, was schon bei mundo durch den labialen Anlaut der Fall ist. Der Sinnspruch von Angelus Silesius zeigt den christlichen Dualismus von Mensch/ Welt und Wesen/ Bestehen auch artikulatorisch durch die Opposition von langem e und offenem, kurzen e: werde/ wesentlich/ geht (in vergeht)/ Wesen/ besteht gegenüber Mensch/ Welt/ ver (in vergeht)/ fällt/ weg/ . Die Welt muß, christlich gesehen, in ihrer Nichtigkeit vergehen, damit das Wesen erscheint. Bereits der Alexandriner eignet sich mit seiner rhythmischen Zäsur in der Mitte besonders gut für Dualismen. Der Wechsel von langem e und kurzem ä (orthographisch auch e) ist fast genau durchgeführt. Bei ver-geht haben wir ihn sogar in einem Wort. Dazu kommt lautgestisch die artikulatorische (Mundraum-)Erhöhung zum langen e. Von den 6 langen e sind 5 betont, von den 6 ä 4. Das ä hat größere Schallfülle und steht an dritter Stelle der statistischen Vokalhäufigkeit, langes e erst an achter; auch dieses Faktum ist zugunsten der lautsymbolischen Aussage des Gedichts interpretierbar. Da sich ä und das viermal vorkommende Schwa lautlich nahe sind, ist die Gesamtzahl der die Vergänglichkeit der Welt artikulierenden e-Laute 10. Sprachkörper 81 Lautsymbolik muß von textueller Symbolwirkung durch den Artikulationsprozeß selbst unterschieden werden. Im Gedicht An die Phillis von Hofmann von Hofmannswaldau entsteht parallel zur Textbedeutung eine Symbolisierung dadurch, daß die Silben auf den hohen Hügeln ein Ansteigen der vokalischen Artikulation im Mundraum realisieren, mit einem Abfallen im letzten Wort sterben. Der sexuelle Tabubruch wird also symbolgestisch und artikulatorisch real verstärkt. Auf der Basis der (unumstößlichen primären) Arbitrarität können sich doch Ansätze von Lautsymbolik im Sprachgebrauch herausbilden -, relativ. Besonders im Gedicht vollzieht sich auf der letzten, der Ebene des gesamten Textes eine Verstärkung von Lautsymbolik. Insofern ist (fast) jedes Gedicht ein Akt der relativen Motivierung, während einzelne Laute keine festlegbare symbolische Bedeutung haben (sie haben nur vieldeutigen Ausdruck, der der oralen Basis-Gestik der Phonation entspringt. (Im englischen und spanischen / th/ wird die Zunge gezeigt, was kulturspezifisch noch keine gestische Bedeutung hat.) Das der Sappho (vgl. Wirth 1963) zugesprochene Gedicht aus nur 32 Silben (pro Zeile 8) scheint durch das erst in der 23. Silben vorkommende lange o, das von einem langen, einem kurzen und einem langen o (Omega)gefolgt wird (in ora, ego, mona und kateudo) die Trauer des einsamen Wartens auszudrücken. Da ora (Stunde) auch Lebenszeit bedeuten kann, könnte sich das Spät-Sein unterschwellig auch auf das Leben beziehen. Bei dem Gedicht von Paul Celan wäre phonetisch zu diskutieren, ob nicht die Häufung von sch-Lauten bei den letzten vier Wörtern (beschwerst, Steinen, geschriebenen Schatten) ausgehend vom langen e in beschwerst artikulatorisch das Ausbalancieren des imaginären Schattennetzes ausdrückt, d.h. eine Schwebe realisiert. Dazu käme, in scheinbarem Widerspruch die “ausmessende” Vokalbewegung e, ai, langes i, a, deren Artikulation von der Mundmitte nach unten, ganz nach oben und ganz nach unten geht. Das “naturgedicht” von Jandl ist sowohl ein lakonisches Anti-Naturgedicht als auch ein extrem reduziertes “Stimmungsgedicht”, das artikulatorisch mit seiner Bewegung von / hoi/ zu / ze: / sommerliche Heuhaufen und die Stille eines Sees “beschreibt”. Artikulatorisch-konkret “stellt” heu Anstieg, also Vertikalität, see (durch die Längung) die Fläche, Horizontalität “dar”. Eine Übersetzung ins Spanische verdeutlicht das: montones de heno lago. Der Gleichklang durch das End-o ereicht nicht den Kontrast der zwei deutschen Silben und nicht die “Horizontalität” des langen e in / ze: / . Im Englischen könnte das Gedicht lauten: haystacks lake. Dabei bliebe es bei semantischer Sachlichkeit ohne Versinnlichung der Stille. Das Gedicht von Gerard Manley Hopkins läßt sich als religiös-exaltierter Preis der vielfältigen Schönheit der sogenannten Schöpfung kennzeichnen, den der Dichter semantisch durch Nennung, prosodisch durch die rhythmische Struktur und artikulatorisch durch die spezifische Verteilung von Vokalen und Konsonanten realisiert. Semantisch ist bei diesem Gedicht sehr auffällig, daß es dominant visuell beschreibt, keine akustischen und keine Geruchsphänomene nennt, was man aber infolge der sehr komplexen Bildhaftigkeit wie der starken Klanglichkeit des Gedichts lange Zeit nicht bemerkt. Hopkins Chris Bezzel 82 läßt das Sichtbare klingen durch seine poetische Verfahrensweise. Mittels der aufzählenden phonetisch-prosodischen Inszenierung geht es nicht um die Visualisierung des Aufgezählten im realen Raum z.B. einer Landschaft, sondern insofern um die Konstruktion eines Superzeichens, als das Gedicht exemplarisch die ganze Buntheit und Vielfalt des Irdischen exemplarisch zeigen will. Hopkins preist also nur die Form-Vielfalt der sogenannten Schöpfung. Eine nähere phonetische Analyse hätte zu erklären, warum wir dennoch zu hören, schmecken und riechen glauben, und die Antwort liegt in Richtung der versteckten Analogien des Akustischen zu den anderen Wahrnehmungskanälen. (Vgl. Fonagy 1963) Nennt man das, was das Gedicht semantisch-poetisch aktiviert, ein imaginatives Tableau, dann gehört dazu die zweite seiner Ausmessungen: vom Entferntesten (skies) über das Überschaubare (landscapes) geht es zum Einzelnen, zum Materiell-Dinglichen, ja zum Detail am Einzelnen (finches’ wings). Das alles wird quasi potenziert durch analogisierende Benennungen, die ihrerseits zum Thema des Gedichts geschlagen werden: fresh-fire-coal chestnutfalls, dessen Metaphorik schwer ausschöpfbar ist, was eine “thick description” poetologisch jedoch zu leisten hätte. Durch die Metaphorik werden Dinge zusammengebracht: Rosen mit Forellen, brennende Kohlen mit Kastanien, ja, das Gedicht bezieht durch sein Verfahren die Sprache selbst ein durch Synonymenreihung: pied, brinded, dappled, in stipple, plotted, pieced, counter, original, spare, strange, fickle, freckled. Die Aufzählung zeigt, daß es sich auch und sogar um eine textspezifische Synonymisierung an sich nicht synonymer Wörter handelt. Die steigernde Kurzaufzählung durch die 6 Adjektive in Zeile 9 (swift, slow usw.) nennt zwar weitere Dimensionen, wirkt aber zugleich wie eine thematische Variation, ein Effekt, der insgesamt durch die überreiche Zahl von Alliterationen erzielt wird: Gleichheit und Ähnlichkeit im Lautlichen wie Semantischen bürgt für die Buntscheckigkeit der gepriesenen Welt. Neben Himmel, Tieren und Pflanzen gehören zu den Aufzählungen auch örtliche Gegebenheiten (fold, fallow, plough), aber auch Gegenstände (gear, tackle, trim). Ästhetisch stört die dreimalige Nennung Gottes insofern areligiöse Leser nicht, die Ideologie spielt dadurch keine Rolle, daß der Leser mit der unabschließbaren Betrachtung der beschriebenen Welt vollauf beschäftigt ist. (Dazu kommt phonetisch, daß es das o von God kein zweites Mal im Gedicht gibt; andererseits kommt der Diphthong ei von praise noch viermal vor (in landscapes, trades, strange und change).) Von Aufzählung in der Aufzählung muß semantisch insofern gesprochen werden, als die thematische Buntscheckigkeit nur zum Teil durch pflanzliche und tierische Buntheit beschrieben wird, zum andern durch aufgezähle Ensembles (z.B. trades). Was Hopkins selbst “an emphasis on structure” genannt hat (Hopkins 1966: 85), dazu gehört hier auch das Lexikalisch-Semantische. Verkürzt man eine auszuführende Gesamtinterpretation des Gedichts propositional, dann läßt sich formulieren: Die wandellose Schönheit der Welt liegt in ihrer bewegten unendlichen Vielfalt in jeder Dimension.Wandel selbst ist - paradox - wandellose Schönheit. Novalis hat formuliert, daß uns in der Natur das “Grelle, das Ungeordnete, Unsymmetrische, Unwirthschaftliche nicht misfällt und hingegen bey allen Kunstwerken Milde, schickliches Verlaufen, Harmonie und richtige, gefällige Gegensätze unwillkürlich gefodert werden.” (sic) (Novalis 1978: 835). Hopkins dagegen führt das “Grelle” etc in die Lyrik selbst ein, und er realisiert es semantisch, syntaktisch und, was das Phonetische betrifft, durch seine Konsonanten-Komposition. Sprachkörper 83 Syntaktisch ist das Gedicht gekennzeichnet durch die aufzählende Reihung (for…), wobei eine zunehmende syntaktische Verkürzung auffällt, die in Zeile 10 extrem ist, was semantisch einem verdichtenden Hinweis auf unendlich Vieles gleichkommt. Phonetisch ist zunächst auf die der Exaltation entsprechende schnelle und prosodische Schärfe hinzuweisen, was auch durch den “paeonischen Sprungrhythmus” (Hopkins 1973: 186) erreicht wird. Unter anderm die syntaktische Verkürzung bewirkt eine Beschleunigung des Vortrags ebenso wie die Häufung von Alliterationen. Viele Leser werden erst nach längerer Beschäftigung mit dem Gedicht bemerken, daß es gereimt ist nach einem komplizierten Reimschema: a b c a b c d b c d c. Daß man die Reime zunächst nicht hört, paßt dazu, daß Hopkins die Harmonie der gepriesenen Vielfalt versteckt hinter einem zunächst hart erscheinenden Konsonantismus. Während im Gedicht von Rilke die Reime konstitutiv, ja thematisch sind, ist das Verstecken der Reime bei Hopkins erstens ein Hinweis auf verborgene Harmonie, zweitens ein Zeichen des quasi fortreißenden Rhythmus, für den die Reime zu Haltepunkten werden konnten. Nach von Essen (1979: 97) bestimmen die Vokale insgesamt die “klangspektrische Struktur”, die Konsonanten die “artikulatorische Gestaltung”. Versteht man intuitiv Vokale mit Novalis als “Buchstabenseelen” ( 1978: 606), wird man bei Betrachtung des Vokalismus, des Vokalmusters des Gedichts nach der spezifischen gestischen Ausrichtung gerade dieser Lautverteilung fragen. Das Gedicht enthält, was die betonten Silben betrifft, 16 i, davon 12 ungespannte kurze und 4 gespannte lange; 34 helle, 20 dunkle Vokale (inklusive au), wobei u fast ganz fehlt. Gegenüber der statistischen Vokalverteilung, bei der das i ebenfalls quantitativ hochrangig ist und kurzes u wie oi an letzter Stelle stehen, fällt das Gedicht nicht auf, wobei allerdings die gespannten zu den ungespannten Vokalen im Verhältnis 28 zu 20 vertreten sind. Der vokalische Gesamtklang entspricht also der im Englischen erwartbaren Verteilung, die als Harmonie empfunden werden dürfte, allerdings nicht als betonte, emphatisierte Harmonie wie häufig in der abendländischen Lyrik. Insofern gilt, was Hopkins als poetisches Prinzip benannt hat: “current language heightened” (Hopkins 1973: 218). Die poetische Betonung, ja die Methode des Gedichts liegt klar in seinem Konsonantismus, in Auswahl und Verteilung der sonoren wie nichtsonoren Konsonanten, die sich u.a. durch ihren “Geräuschanteil durch verschiedengradige und verschiedenartige Behinderung des Luftstroms im Ansatzrohr” (Wängler 1974: 118) unterscheiden. Dabei reicht die Bildungsmethode von Engebildungen bis zu Verschlüssen (ib.). Zusätzlich poetologisch relevant ist natürlich die Tatsache, daß die sonoren Konsonanten (wie m, n und ng) den Vokalen verwandt sind, also einen Übergang bilden, was sich bei besonders “wohlklingenden” Gedichten an ihrer Häufung zeigt. Das Gedicht von Hopkins ist, konsonantisch gesehen, eine Plosiv-Frikativ-Komposition, bei nur wenigen sonoren Konsonanten dominieren die 113 von mir gezählten Obstruenten. Der Text enthält, an- und inlautend, 14 f und 14 p, gegenüber dem im Englischen besonders häufigen t, das nur 19mal vorkommt. Das ist sehr prominent, da nach der Lautstatistik von Delattre (1965: 95) das t an erster Stelle, f und p aber an 15. bzw. 16. stelle stehen. Demgegenüber entsprechen die 16 stimmlosen s der Häufigkeitserwartung. Der stimmlose aspirierte labiale Verschlußlaut p besitzt eine große “Verschlußspannung” (Wängler 1974: 125): “Das Gaumensegel ist gehoben, die Atemluft wird im Mundraum leicht und zunehmend komprimiert, bis der Verschluß unter Sprenggeräusch gelöst wird.” (v. Essen 1979: 99) Gestisch-symbolisch paßt es gut, daß das thematische Gedichtwort praise ebenfalls Chris Bezzel 84 mit p anlautet. Man kann wohl behaupten, daß das häufige p, “angeführt” vom thematischen praise, eine explosiv-haptische Wirkung hat, ein bursting out darstellt, das aber zugleich, mit den anderen stimmlosen Verschlußlauten, besonders dem k, auch vom Wahrnehmungskanal her, also dem Taktilen, verstanden und dem Visuellen des Gedichts gegenübergestellt bzw. hinzugefügt werden muß. Beim denti-labialen stimmlosen Reibelaut f streicht der Phonationsstrom “durch die zwischen Oberzahnreihe und Unterlippe gebildete Enge.” (Wängler 1974: 140) Die Öffnung beim Reibelaut bringt ihn in eine gewissen Nähe zu den Vokalen (von Essen 1979: 106). Ästhetisch könnte man feinstrukturell das p dem f insofern gegenübersetzen, als seine Bildung nur kurz dauert, während das nur im Anlaut vorkommende f die Exspiration betont, also ein Strömen zeigt. Sonorität (m, l, n) ist mit 20 Lauten ein Binnenwortphänomen bei diesem Gedicht, im Anlaut kommen sie nur zweimal vor (moles, landscapes), während sie statistisch an 8. (m) bzw. 4.(l) Stelle stehen (Delattre 1965: 95). Das Gedicht zeichnet sich also durch starke vokalische und schwache konsonantische Sonorität aus, wobei es m.E. bei einer wesentlich stärkeren nichtsonoren konsonatischen Wirkung bleibt. Besonders signifikant ist konsonantisch die Fügung “fresh-firecoal chestnutfalls”, bei der man von Kompression in semantischer, syntaktischer und eben auch phonetischer Hinsicht sprechen muß. An diesem “Nukleus” läßt sich auch ermessen, was eine weiterentwickelte phonetische Poetik feinstrukturell zu entwickeln hätte; denn seine gestischsymbolische Bedeutung reicht in tiefenpsychologische Dimensionen, wobei semantisch mit falls nicht nur Farbdifferenzen, sondern auch Bewegungsmomente zusammengebracht werden. Insgesamt impliziert die gestische Auffassung von Sprache, von sprachlicher Artikulation, mögliche Analogien von Außenraum (als im Gedicht beschriebenem) und Mundraum. Zu prüfen ist, ob der Lyriker dargestellte Verhältnisse phonetisch-artikulatorisch nachgebildet hat. Auch hier gilt zunächst der Grundsatz der Arbitrarität, die textspezifisch nur eingeschränkt werden kann, jedenfalls solange Lyrik syntaktisch wohlgeformt bleibt. Das Gedicht von Hopkins enthält im Anlaut achtmal die hinten im Mundraum artikulierten Verschlußlaute g und k, und zwar in den Zeilen 1-7. Durch die Folgelaute wird also im Mundraum die weiteste Bewegung von hinten nach vorn artikuliert, Raum hergestellt. Der Laut h, der nur viermal, in den Schlußzeilen 8, 10 und 11, vorkommt, ist ein “unlokalisierbarer Öffnungskonsonant” (Wängler 1974: 159) im Kehlkopfbereich. Diese Häufung (bei Fehlen in den Zeilen1-7) könnte es nahelegen, die phonetisch-objektive Gestik seiner Artikulation geistig-semantisch im Sinne des Gott preisenden Lyrikers zu interpretieren, denn beim / h/ ist “letzten Endes … die Form des ganzen Ansatzrohrs mitbestimmend” (ib. 159), vgl. das negativ totalisierende verächtliche “Ha! ” im Deutschen und Englischen. Für das mit “praise” (Zeile 11) wegen der Reimworte swimm, trim und dim gleichstark prosodisch zu artikulierende letzte Wort him gilt physiologisch-semantisch die weitere Bestimmung der h- Artikulation: “Die Glottis ist geöffnet. Der Luftstrom durchstreicht das Ansatzrohr und erzeugt ein Geräusch sanfter Reibung, einen Hauch.” (ib. 160) Erst genaue Analyse kann zeigen, wie die artikulatorische Feinbewegung des Gedichts sich lautgestisch darstellt, wenn man nicht nur die Anlaute, sondern alle Laute einbezieht, was ich anglistischen Phonetikers überlassen muß. Die geistige Aussage macht schließlich den ganzen Gedichtkörper Hopkins’ zum akustischen Exempel des Themas, die Illokution (glory be, praise) wird durch die artikulatorische Bewegung des Gedichts selbst vom Vortragenden vollzogen. Ebenso werden die vielen Sprachkörper 85 Alliterationen hineingerissen, weil sich auch an ihnen in der Koartikulation (vgl. tackle gegenüber trim) die gepriesene Heterogenität festmacht. Wenn ein Standardtext semantisch eindimensional oder einstimmig genannt werden kann (auch wenn er mehrere Themen enthält), dann ist jeder poetische Text mehrdimensional oder mehrstimmig, und das “Unaussprechliche” ästhetischer Texte liegt dann in der sozusagen dreidimensionalen Komposition, in der Gleichberechtigung der semantischen, syntaktischen und phonetischen Komponente. Im Tractatus vergleicht Wittgenstein “Namen” (die sogenannten “Urzeichen”) mit Punkten, Sätze mit Pfeilen (T 3.144). Man kann die Reihe so fortsetzen: Kreative Alltagstexte gleichen Pfeilfigurationen. Poetische Texte sind gleichsam dreidimensionale Körper, Textkörper.) In der neuen Lyrik (nach 1945) geht es zunehmend um etwas, das man die Dynamisierung der Sprachformen nennen kann: alle Möglichkeiten werden sozusagen auskomponiert, zueinander in Beziehung gesetzt. “Bilder” (im Sinn von Wittgenstein) werden konstruiert und destruiert, und jede Totalität wird in einer realisatorischen Schwebe gehalten (Beispiele: Franz Mon, Helmut Heißenbüttel und andere). Der Text, soweit er noch akustisch ist, bleibt notwendig linear, aber die Mittel des Zeigens des Unaussprechlichen erzeugen eine nicht mehr beschreibbare “Texträumlichkeit” im metaphorischen Sinne. Zu solcher ästhetischen Texträumlichkeit führt Wittgensteins Theorie des Unaussprechlichen in poetischer Hinsicht, wenn man sie weiterdenkt. (Vgl. Bezzel 1996) Bedeutungsmusik Mein Begriff “Bedeutungsmusik” soll die Schwebe der Dichtung zwischen Musik und Alltagssprache bezeichnen. Die Idee drückt bereits Herder aus mit seiner Formulierung , die Poesie sei “eine lyrische Muse ohne Lyra.” (in Menninghaus 1989: 326) Umgekehrt spricht Rilke in seinem Gedicht “An die Musik” die Musik so an: “Du Sprache wo Sprachen enden.” (sic) In diesem Sinne ist Sprache als Kunst jenseits der Wortsprache. Daß man bei der abendländischen Lyrik in nicht wenigen Fällen von “latenter Mehrstimmigkeit” analog zu den Solostücken für Violine und Cello von Johann Sebastian Bach sprechen kann, kann hier nicht gezeigt werden. Zu verweisen ist jedoch auf die sehr eingehende Studie von Clemens Fanselau (Fanselau 2000). Diese Arbeit könnte zum Ausgangspunkt einer endlich konkreteren Analyse des Zusammenhangs von musikalischer und lyrischer Struktur werden, die auch das scheinbar unlösbare Grundproblem der semantischen Musikinterpretation in einem neuen Licht zeigen dürfte. Das Gedicht verstärkt auf seine eigene komplexe Weise, was nach Zipf (1965) psychobiologisch für Sprache generell gilt, nämlich als System die Tendenz zu haben, den Zustand des Gleichgewichts (“condition of equilibrium” ( 1965: 80) ) zu erhalten. Für die Lyrik gilt, daß sie ein textuell höheres Gleichgewicht erzeugt, das nicht mit ornamentaler Harmonie verwechselt werden darf. Festzustellen ist beim gelungenen Gedicht eine konartikulierende Aufhebung der alltäglichen Wahrscheinlichkeitsverteilung von Lauten in Richtung auf siginfikanter Unwahrscheinlichkeit. Darin sehe ich die Basis der Parallelismus-Thematik von Jakobson. Chris Bezzel 86 Der Musiksemiotiker Karbusicky (1986: 151) hat die Wiederholung in Musik und Sprache grundsätzlich auf ein “Spielprinzip” zurückgeführt und mit dem Nachahmungstrieb verbunden, wie er sprachlich in den Onomatopoiien erscheint, die - siehe “kuckuck” - häufig als Lautwiederholungen erscheinen. Ich komme durch die Analyse von Gedichten der abendländisachen Tradition zu dem Ergebnis, daß das Dilemma zwischen saussurescher Arbitrarität und phonetischer Motivation auf der poetischen Ebene lösbar ist, gelöst ist, ja sich auflöst, insofern zur arbiträren Systemgebundenheit eine Systematik der Vokalisation im einzelnen poetischen Text kommt, so daß orale Gestik bis zur artikulatorischen Symbolik (bewußt wie unbewußt) realisiert wird - im gefühlten Kontrast zur statistischen Lautverteilung im alltagssprachlichen Sprechen. Damit sind “auditory icons” , wie sich Roman Jakobson ausdrückt nicht mehr ontologisch, sondern textuell verankert, funktionieren also nur von Fall zu Fall. Man kann mit Dell Hymes (Sebeok 1964: 113) von einem “temporary effect” sprechen, insofern für die Ausdruckshaftigkeit gilt, daß die Laute “induce a sense of appropriateness in speakers.” Poetisch wird also sozusagen der Schein zur Wirklichkeit. Einen Text, dessen Elemente nicht zufällig (und nur aus syntaktischen und semantischen Gründen) ko-okkuriereren, so daß er jederzeit ohne Bedeutungsverlust paraphrasiert werden könnte, einen Text, dessen Glieder eine sich gegenseitig stützende notwendige Einheit, ein kleines materialisiertes “System” bilden, einen solchen Text nenne ich einen Textkörper. Auch hier sage ich fast nur das Alte; denn Dichtung als versus (‘Wendung, Wiederkehr’) wird schon in der antiken Rhetorik der prosa (von provorsa ‘nach vorn gerichtete Rede’) entgegengesetzt (Lausberg 1967: 151) Eine Sprache ist phonetisch, prosodisch, syntaktisch und semantisch ein Artikulationssystem, eine System der selektiven Gliederung und des Ausdrucks, die Ambiguität des Begriffs “Artikulation” ist festzuhalten. Ein Gedicht ist im Kontrast zu alltagssprachlichen Äußerungen eine Art Modell der Sprache, ein Mikrosystem, es übersteigt in jedem gelungenn Fall die Partikularität, auch des Themas. (Ein Liebesgedicht ist nie nur der Ausdruck eines Liebesverlangens, im Unterschied zum druchschnittlichen Liebesbrief.) Goethe hat in einem physikalischen Vortragsschema geschrieben: “Durch Worte sprechen wir weder die Gegenstände noch uns selbst aus. Durch die Sprache entsteht gleichsam eine neue Welt, die aus Notwendigem und Zufälligem besteht.” (Ueding 1994: 85) Für die Literatur kann daraus gefolgert werden: Die poetisch nicht relevante Literatur, also die große Mehrheit alles literarisch Publizierten, besteht sozusagen dominant aus “Zufälligem”. Gelungene Dichtung dagegen versteht es, die Sprache in einem hohen Grade “notwendig” zu machen, Form selbst sprechen zu lassen durch hochkomplexe Verfahrensweisen, in denen keineswegs das Phonetische als das Klingende allein herrscht, sondern die je spezifische Integrantion aller drei sprachlichen Ebenen: der phonetisch-prosodischen, der syntaktischen und der semantischen. Für eine phonologische Poetik gilt, daß das Phonetische nicht direkt und unmittelbar nutzbar gemacht werden kann. Es sind keine phonetisch-poetischen “Universalien” denkbar, die Poetizität realisiert sich auf der Ebene der einzelsprachlichen Textualität. Die physikalisch-physiologischen Fakten sind Befunde, die poetologisch erst interpretiert werden müssen, wie stark sie auch intuitiv-unbewußt beim poetischen Genuß wirksam sind. Dabei ist der Wechsel von direkt räumlicher Beschreibung des Motorischen und die unabdingbare Metaphorik der phonetischen Begriffe ein schwieriges Problem, das es im Einzelfall genau abzuwägen gilt. (Ein Beipiel wäre die “hintere Höhe” der Artikulationsstelle beim u bei gleichzeitiger relativer “Tiefe” der Tonfrequenz etwa zum i.) Sprachkörper 87 Die sprachliche Wirklichkeit ist die Wirklichkeit der Sprache, die Sprache selbst in ihren zusammenwirkenden Dimensionen als Klang, als Form, als Bedeutung. Lyrik ist reflektierter Genuß sprachlicher Wirklichkeit und hat Erkenntnisfunktion. Die Sprache existiert nur in actu: als physiologisch-kognitiver Artikulationsprozeß. Das gerät durch die Automatisierung im kulturellen Fortgang schnell in Vergessenheit. Die heutige Digitalisierung der Sprache (in einem weiten metaphorischen Sinn) erklärt zum Teil die scheinbare Entkörperlichung, den Schein der Entkörperlichung - entgegen der sog Ästhetisierung des Alltagslebens bis ins unbedeutende Detail von Gebrauchsartikeln. Vortrag, gehalten am 19.7.2002 auf dem 10. Internationalen Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. in Kassel Literatur Bezzel, C. 1996: Wittgenstein zur Einführung. Hamburg (3. Auflage) Bode, D. (Hgg.) 2000: Deutsche Gedichte. Eine Anthologie. Stuttgart Celan, P. 19777: Gedichte in zwie Bände. Zwieter Band. Frankfurt/ Main Delattre, P. 1965: Comparing the Phonetic Featueres of English, French, German and Spanish: An Interim Report. 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Angelus Silesius Mensch, werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht, So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht. C HRISTIAN H OFMANN VON H OFMANNSWALDAU An die Phillis. DEr und jener mag vor mir Das gelobte land ererben; Laß mich / Phillis / nur bey dir Auf den hohen hügeln sterben. Sprachkörper 89 C ONRAD F ERDINAND M EYER Der römische Brunnen Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht G ERARD M ANLEY H OPKINS Pied Beauty Glory be to God for dappled things - For skies of couple-colour as a brinded cow; For rose-moles all in stipple upon trout that swim; Fresh-firecoal chestnut-falls; finches’ wings; Landscape plotted and pieced - fold, fallow, and plough; And áll trádes, their gear and tackle and trim. All things counter, original, spare, strange; Whatever is fickle, freckled (who knows how? ) With swift, slow; sweet, sour; adazzle, dim; He fathers-forth whose beauty is past change: Praise him. (Gescheckte Schönheit Ehre sei Gott für gesprenkelte Dinge - Für Himmel zwiefärbig wie eine gefleckte Kuh; Für rosige Male all hingetüpfelt auf schwimmender Forelle; Kastanien-Fall wie frische Feuerkohlen; Finkenflügel; Flur gestückt und in Flicken - Feldrain, Brache und Acker; Und alle Gewerbe, ihr Gewand und Geschirr und gerät. Alle Dinge verquer, ureigen, selten, wunderlich; Was immer veränderlich ist, scheckig (wer weiß wie? ) Mit schnell, langsam; süß, sauer; blitzend, trüg; Was er hervorzeugt, dessen Schönheit wandellos: Preis ihm. U. Clemen und F. Kemp) R AINER M ARIA R ILKE Schlußstück Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen Lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. G IUSEPPE U NGARETTI Mattina M’illumino d’immenso Chris Bezzel 90 J UAN R AMÓN J IMÉNEZ La fusión (Die Verschmelzung Al amanecer, Bei Tagesanbruch el mundo me besa Küßt mich die Welt en tu boca, mujer. In/ mit deinem Mund, Frau.) P AUL C ELAN In den Flüssen nördlich der Zukunft werf ich das Netz aus, das du zögernd beschwerst mit von Steinen geschriebenen Schatten H ELMUT H EISSENBÜTTEL Einsätze I überall : immer und überall : je und je : morgens mittags und abends sogar im Büro : ein dies dies ist ein : wasfürein : wie am wenn auf oder in das heißt als was andersartiger als : und das was wenn nichts als dies und so fort : Fixierung fixiert : in der Lage ich man leit in genau ins man : chanisch chanisiert pfern : meta fern : Domizil mizivil zivil : ein Zel mir griffig mir greifend mir Kiel […] E RNST . J ANDL naturgedicht heu see Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene in “Die Zeit und das Zimmer” von Botho Strauß Martin Siefkes Neben den bekannten Formen der Kommunikation, wie sie von John Searle in den fünf Sprechakten Deklaration, Direktiv, Assertiv, Expressiv und Kommissiv klassifiziert wurden, gibt es “kommunikative Randphänomene” wie mehr oder weniger unkooperative Kommunikation, Simulation, Manipulation, ‘Herbeireden’, Selbstgespräche, Lüge und Selbstbelügung. Da diese Phänomene an der Peripherie des gewöhnlich als “Kommunikation” Bezeichneten liegen, können sie von den üblichen Beschreibungsmechanismen nicht ohne weiteres erfasst werden. In dieser Arbeit werden Textstellen aus einem Theaterstück von Botho Strauß zum Anlass genommen, um kommunikative Randphänomene zu analysieren. Hierbei wird zum einen die von Emanuele Arielli entwickelte Theorie der Unkooperativität angewendet, zum anderen das von Roland Posner entwickelte semiotische Kommunikationsmodell, welches ausgehend von grundlegenden Zeichentypen die fünf Sprechakte von Searle formal erfasst. Dabei gelingt es einerseits, die Praxistauglichkeit beider Theorien in der Textanalyse zu demonstrieren, wobei einige theoretische Schwierigkeiten geklärt werden. Zum anderen kann exemplarisch die Bedeutung der kommunikativen Randphänomene für den dramatischen Schreibstil von Botho Strauß gezeigt werden. Die semiotische Kommunikationstheorie bewährt sich damit zugleich als eine Methode der Literaturwissenschaft. 1. Einleitung Ein faszinierender Aspekt der Theaterstücke von Botho Strauß besteht darin, dass sie ungewöhnliche Kommunikationssituationen darstellen und in ihrer Logik durchspielen. Immer wieder stoßen sie uns auf Kommunikation, die schon fast keine mehr ist: Die Menschen reden aneinander vorbei; sie reden manchmal eher mit sich selbst als über sich selbst; sie verstehen sich falsch, und zwar oft so entschieden, dass es wie absichtlich aussieht, was aber hieße, dass sie sich sehr wohl verstanden hätten; und bisweilen sind es nicht einmal nur die Menschen, die reden … doch dazu später. Einige dieser ‘kommunikativen Randphänomene’, wie ich diese unterschiedlichen Erscheinungen in ihrer Gesamtheit bezeichnen möchte, sollen in dieser Arbeit analysiert werden. Dabei beziehe ich mich auf zwei semiotische Ansätze, die die exakte Erfassung solcher Phänomene ermöglichen: Das von Prof. Roland Posner entworfene semiotische Kommunikationsmodell 1 und die von Emanuele Arielli in seiner Dissertation vorgelegte Theorie der “Unkooperativität in der Kommunikation”. 2 Die Arbeit wird versuchen, diese beiden Theorien auf ein literarisches Werk anzuwenden. Dabei sollen nicht gezielt solche K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Martin Siefkes 92 Phänomene ausgesucht werden, auf die bestimmte theoretische Gesichtspunkte exakt zutreffen (die z.B. den Tatbestand der Unkooperativität eindeutig erfüllen); vielmehr möchte ich einige besonders auffällige und interessant erscheinende Passagen des Stückes herausgreifen und dann erproben, ob mit Hilfe der genannten Theorien Erkenntnisse zu gewinnen sind. Im folgenden sollen einzelne Gesprächssituationen aus dem 1988 veröffentlichten Stück “Die Zeit und das Zimmer” 3 untersucht werden. Die gründliche Analyse der Passagen macht eine Einordnung in eine Gesamtinterpretation des Strauß-Stückes in diesem Rahmen unmöglich. Diese Vorgehensweise erscheint auch deshalb möglich und sinnvoll, weil das Stück als ‘Collage’ angelegt ist, 4 worin die Einzelszenen als in sich geschlossene Einheiten die stärkste Wirkung entfalten, während der übergreifende Hintergrund vage bleibt. Da aber der unverkennbare Stil, der die Werke von Botho Strauß auszeichnet, viel mit den genannten Phänomenen zu tun hat, sind die hier gewonnenen Erkenntnisse auch für die Strauß-Forschung relevant. 2. Unkooperativität 2.1 Zwei auf der Suche Die folgende Textpassage aus “Die Zeit und das Zimmer” ist kennzeichnend für das, was man den ‘Kommunikationspessimismus’ von Botho Strauß nennen könnte. Er zeigt häufig eine Kommunikation, die mehr ein Kampf als ein Miteinander genannt werden muss. Diese Stelle soll exemplarisch für viele andere stehen: 5 Der Türbrummer geht. Die Ungeduldige tritt auf und durch die rechte Tür steckt Der Mann ohne Uhr seinen Kopf. a1: D IE U NGEDULDIGE : Ich wollte Sie wiedersehen. b1: D ER M ANN OHNE U HR tritt herein. Was für ein Zufall! Ich kam her, um nach etwas zu suchen, das ich verloren habe. Wie geht es Ihnen? a2: D IE U NGEDULDIGE : Gut. Ich habe sehr unruhig geschlafen. b2: D ER M ANN OHNE U HR : Ich auch. Irgend etwas war. Ich spürte, daß ich etwas verloren hatte, als ich heute früh aufwachte. a3: D IE U NGEDULDIGE : Ich glaubte, etwas gewonnen zu haben. b3: D ER M ANN OHNE U HR : Ich wachte auf und wollte auf meine Uhr sehen. Da merkte ich, daß sie nicht neben mir auf dem Nachttisch lag. […] Es ist deutlich erkennbar, dass die beiden über verschiedene Dinge sprechen. a interpretiert das Gespräch als Beziehungsdialog oder (da es wohl noch keine Beziehung gegeben hat) als Flirtsituation. b dagegen scheint sich der Tatsache nicht bewusst zu sein, dass a ganz offenbar ,etwas von ihm will’. In a1 äußert die Frau, dass sie die Absicht hatte, b wiederzusehen. Da sie ihm in diesem Augenblick bereits gegenübersteht (und die Absicht somit, als selbständiges Handlungsziel, keine Rolle mehr spielt), wird es zu einer reinen Aussage über ihre Gefühle für b. Wenn man die drei Aussagen der verschiedenen ,turns’ zusammennimmt, könnte man sagen, sie flirtet. Allerdings handelt es sich nicht um erotische oder kokette Flirtversuche, sondern um emotionale. Sie wirft sozusagen ihre Gefühle in die Waagschale und hofft, Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 93 dadurch sein Interesse zu wecken bzw. ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er Chancen bei ihr hat: f 1 : In a1 drückt sie den Wunsch aus, ihn wiederzusehen; sie gibt also einen inneren Zustand wieder (Expressiv). f 2 : In a2 berichtet sie, dass sie schlecht geschlafen habe, d.h., sie teilt ein (prinzipiell objektiv verifizierbares) vergangenes Geschehen mit (Assertiv). f 3 : In a3 drückt sie wieder einen inneren Zustand oder eine Erkenntnis (“ich glaubte”) aus (Expressiv). In a1 und a3 ist f also ein Expressiv, in a2 ein Assertiv. Im Zusammenhang gesehen ist jedoch auch in der Aussage, dass sie schlecht geschlafen habe, ein Expressiv impliziert: Sie hat schlecht geschlafen, weil sie noch an den Abend vorher denken musste. Man kann daher sagen: In a1 vollzieht sie einen Expressiv mit Hilfe eines Expressivs. (“Mir liegt an Ihnen.” wird ausgedrückt durch “Ich wollte Sie wiedersehen.”) In a2 vollzieht sie einen Expressiv mit Hilfe eines Expressivs, der wiederum mit Hilfe eines Assertivs vollzogen wird. (“Sie bedeuten mir sehr viel.” wird ausgedrückt durch “Ich war heute nacht emotional aufgewühlt, weil ich an den Abend vorher denken musste”, was wiederum ausgedrückt wird durch “Ich habe heute nacht schlecht geschlafen.”) In a3 vollzieht sie einen Expressiv mit Hilfe eines Expressivs. (“Ich glaube, dass wir füreinander in der Zukunft bedeutsam sein werden.” wird ausgedrückt durch “Ich hatte gestern nacht das Gefühl, etwas gewonnen zu haben.”) Alle drei Ereignisse f 1,2,3 zusammengenommen lassen beim Leser den Schluss zu, dass sie verliebt ist, der sich als einzige gemeinsame Begründung für die unterschiedlichen Ausdrucks-Inhalte “Mir liegt an Ihnen”, “Sie bedeuten mir sehr viel”, “Ich glaube, dass wir füreinander in der Zukunft bedeutsam sein werden” ergibt. So lässt sich erklären, dass der Leser bereits nach diesen drei ,turns’ schlussfolgern kann, dass a mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in b verliebt ist, obwohl dies keiner der drei ,turns’ für sich genommen rechtfertigen würde. 2.1.1 Varianten der Unkooperativität Betrachten wir nun das Verhalten von b. Drei Interpretationen dafür sind denkbar: 1) b hat die Ereignisse des vorigen Abends ,nicht mehr präsent’, weil er ganz mit der Suche nach der Uhr beschäftigt ist; 2) b hat den vorigen Abend anders interpretiert als a, die offenbar eine sich anbahnende Liebesbeziehung erlebt zu haben glaubt; 3) b will die Ereignisse des Vorabends leugnen. Welche der drei Interpretationen zutrifft, lässt sich jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig feststellen, da wir keine Hinweise auf den Verlauf des Vorabends von ihm erhalten und daher die Aussagen der Frau nicht relativieren können. Klar ist jedoch: b verhält sich unkooperativ gegenüber a, indem er auf ihre Flirtversuche nicht eingeht. Die Unkooperativität liegt dabei jedoch nicht in seiner Ablehnung ihrer Martin Siefkes 94 Werbung, sondern vielmehr im Ignorieren ihres Äußerungsziels: Unkooperativität als Missachtung der Wollens-Erwartung des anderen, die dieser mit der Kommunikation verbindet. b1: Nichtbeachtung (ihres Kommunikationsziels) durch Ausbeutung (ihrer Aussage) 6 b2: Nichtbeachtung durch Ausbeutung b3: Nichtbeachtung durch Nichtbeachtung In b1 u. b2 gelingt es ihm noch, sich formal auf ihre Äußerung einzulassen, wobei er aber sorgfältig darauf achtet, die von ihr verfolgte Absicht (ein Gespräch über den vorigen Abend bzw. ihre Gefühle) zu durchkreuzen: er beutet ihre Aussage zu dem Zweck der Nichtbeachtung ihres Kommunikationsziels aus. In b3 gelingt es ihm nicht mehr, an ihre Aussage anzuknüpfen; er fährt stattdessen fort, als hätte sie gar nichts gesagt (in b2 beendet er den Bericht mit seinem Aufwachen; in b3 führt er ihn mit einer Wiederholung dieses Punktes weiter fort). Könnte man nicht auch in allen drei Fällen von Sabotierung des Kommunikationsziels sprechen? Nein; denn eine Sabotierung würde eine offene Missachtung des Kommunikationsziels bedeuten, während hier immer noch auf formaler Ebene so getan wird, als ob er dieses nicht wahrnehmen würde. 7 So könnte man sich vorstellen, dass die Frau, um ihn zur Beachtung ihrer Aussagen zu zwingen, sagen würde: a3 fiktiv : D IE U NGEDULDIGE : Mir liegt sehr viel an Ihnen! Wenn b nun weiterhin sein Ziel verfolgen wollte, sich nicht auf ein Gespräch über den vorigen Abend/ über ihre Gefühle einzulassen, müsste er zum Mittel der Sabotierung greifen und z.B. sagen: b3 fiktiv : D ER M ANN OHNE U HR : So viel, dass Sie mich jetzt in Ruhe meine Uhr suchen lassen? (Sabotierung durch Ausbeutung) oder gar: b3 fiktiv *: D ER M ANN OHNE U HR : Lassen Sie mich jetzt doch bitte meine Uhr suchen! (Sabotierung durch Nichtbeachtung) Beides wären Fälle von Sabotierung, da er ihre Aussage benutzt, um ihr Kommunikationsziel offen abzulehnen. Interessant ist, dass in beiden Fällen Unkooperativität vorliegt, sie aber sehr verschieden wahrgenommen wird. In der fiktiven Variante nimmt man die Unkooperativität von b als Grobheit wahr. Die in der Textvariante verwendete Nichtbeachtung durch Ausbeutung (b1,b2) wird man ihm dagegen wohl als formal kooperativ durchgehen lassen; bei b3 (Nichtbeachtung durch Nichtbeachtung) könnte man von ‘formaler Unaufmerksamkeit’ sprechen. (Das Wort ‘formal’ verwende ich hier für ein Phänomen der Sprachoberfläche, das zwar leicht als Strategie durchschaubar ist, aber gewissermaßen auf der Oberfläche der Kommunikation die Abwesenheit von Unkooperativität bedeutet, denn auch eine Unaufmerksamkeit ist noch keine Unkooperativität.) Ein Mittel wie die ‘Nichtbeachtung durch Ausbeutung/ Nichtbeachtung’ ist schon deshalb gesellschaftlich akzeptiert, weil es möglich sein muss, den Kommunikationszielen anderer auszuweichen und auf formal kooperative Weise deutlich zu machen, dass man über eine Sache nicht sprechen will. Das Vorgehen in der fiktiven Variante (Sabotierung durch Ausbeutung/ Nichtbeachtung) gilt dagegen als Grobheit (d.h., als nicht gesellschaftlich akzeptiert), Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 95 weil es offene Unkooperativität bedeutet und damit die Kooperation auch formal beendet. Dadurch wird aber die ganze Kommunikation sinnlos; tatsächlich ist das einzige Mittel, das nach einem solchen Schritt bleibt, ein Appell der anderen Seite, zur Kooperation zurückzukehren. Wird es nicht angewendet, ist das Ende der Kommunikation erreicht. Diese offene Unkooperativität wird schon deshalb von uns als grob (d.h. als gesellschaftlich nicht akzeptabel) wahrgenommen, weil sie äußerst gefährlich ist. Wie oben erläutert, macht sie ein Ende der Kommunikation fast unvermeidlich bzw. legt die Entscheidung, ob diese fortgeführt wird, ganz und gar in die Hand des Gesprächspartners. Dies aber kann in ernsthafteren Konflikten als dem vorliegenden schnell den Übergang zur Gewalt bedeuten. 2.1.2 Die Bedeutung der formalen Kooperativität Sowohl in der Textvariante als auch in der fiktiven Variante wird deutlich, dass die Ausbeutung der Aussage einen Sonderstatus besitzt: b1 und b2 sind weniger unhöflich als b3, da sie sich formal auf die Aussage der Frau einlassen. Ebenso in der fiktiven Variante: b3 fiktiv ist weniger unhöflich als b3 fiktiv *, es wirkt eher wie ein verzweifelter Versuch, sich ihrem Werben zu entziehen (vor allem, wenn der Mann dabei lächelt, könnte er es als einen unvermeidlichen Akt der Unhöflichkeit markieren, zu dem er wider Willen von a durch ihre zu große Offenheit genötigt wurde). Im Falle der Textvariante dient die Ausbeutung der Aussage einer Nichtbeachtung, in der fiktiven Variante einer Sabotierung; daher scheint die Ausbeutung der Aussage unabhängig davon, wozu sie verwendet wird, weniger unhöflich zu sein als die Nichtbeachtung der Aussage. Darauf stützt sich die hier verwendete Terminologie, worin die Ausbeutung der Aussage als ‘formal kooperativ’ bezeichnet wird (sie geht formal auf die Aussage des Gesprächspartners ein, wenn sie sie auch zu eigenen Zwecken verwendet, also ausbeutet). Formale Kooperation bei tieferliegender Unkooperativität ist, wie oben erläutert, ein wichtiges Mittel zur Gesprächssteuerung; wäre sie nicht akzeptabel, müsste die Kommunikation sehr viel vorsichtiger vollzogen werden, da jede Aussage zu einer Nötigung des Gegenübers werden könnte, was die Kommunikation ständig gefährden würde (nämlich immer dann, wenn die Nötigung für den Gesprächspartner unangenehmer ist als die Beendigung der Kommunikation). Eine an diesem Punkt ansetzende Untersuchung verschiedener Kulturen würde vermutlich zu dem Schluss führen, dass die Anwendung der formalen Kooperation bei zugrundeliegender Unkooperativität verschieden häufig ist. Vor allem in bestimmten traditionellen arabischen und asiatischen Kulturen dürfte sie gängiger sein als z.B. in Deutschland, was zu dem Missverständnis gegenüber diesen Kulturen führen kann, dort würde ‘freundlich getan’ oder ‘um den heißen Brei herumgeredet’. Tatsächlich dürfte der Grund in unterschiedlicher Toleranz gegenüber offener Unkooperativität zu suchen sein; dort, wo offene Unkooperativität (z.B. ein Satz wie: “Das kommt gar nicht in Frage! ”) als sehr unhöflich empfunden wird, muss notwendigerweise die nur formale Kooperation eine größere Rolle spielen. Martin Siefkes 96 2.2 Unkooperativität als Strategie Direkt im Anschluss an die oben zitierte Stelle nimmt das Gespräch folgenden Verlauf: a4: D IE U NGEDULDIGE Und? Haben Sie sie wiedergefunden? b4: D ER M ANN OHNE U HR Nein. Ich bin gar nicht sicher, ob es hier war, wo ich sie verloren habe. a5: D IE U NGEDULDIGE Merkwürdig. Sie sind ganz anders zu mir als gestern abend. b5: D ER M ANN OHNE U HR Ja, gestern war ich noch sehr zurückhaltend - a6: D IE U NGEDULDIGE Aber nein! Sie waren gar nicht zurückhaltend. Im Gegenteil. Sie haben sich um mich bemüht. Sie haben mich förmlich überfallen mit Ihren Komplimenten. b6: D ER M ANN OHNE U HR Inzwischen bin ich Ihnen etwas nähergekommen und nehme mir gleich zuviel heraus, so ist es nun mal. a7: D IE U NGEDULDIGE Und mir macht es den Eindruck, als wüßten Sie gerade jetzt nichts Rechtes mit mir anzufangen. Als langweilte ich Sie. Sie tun nicht das gleiche wie gestern abend. b7: D ER M ANN OHNE U HR Ich muß Ihnen äußerst aufdringlich erscheinen. a8: D IE U NGEDULDIGE Nein, gerade nicht. Ich hatte es eigentlich erwartet. b8: D ER M ANN OHNE U HR Seltsam. Und ich hatte das Gefühl: Jetzt gehst du zu weit. Jetzt wirst du ihr lästig. a9: D IE U NGEDULDIGE Ach, Sie bleiben weit hinter gestern zurück. b9: D ER M ANN OHNE U HR Tatsächlich? Wie spät haben Sie übrigens? Deutlich ist, dass die Unkooperativität gegenüber dem ersten Teil des Gesprächs noch zugenommen hat. Der Mann ignoriert weiterhin (wie auch schon anfangs), dass sie sich über sein verändertes Verhalten gegenüber dem Vorabend wundert (a5). Sie macht zunächst sehr deutlich, dass sie sein Verhalten am Abend als ganz anders erlebt hat (a6, a7) als er es behauptet (b5). Schließlich sagt sie auch noch explizit, dass sie sein energisches Verhalten vom Vorabend als angenehm empfunden hat und es gerne weiterhin so hätte (a8, a9). Die Unkooperativität liegt wieder beim Mann: b5: Hier verhält er sich ausbeutend, da er aufgrund von a1, a2, a3 und a5 schon wissen muss, dass sie ihn am Abend vorher nicht als zurückhaltend erlebt hat. Er benutzt ihre indirekte Ausdrucksweise in a5 (“ganz anders”), um ihre Aussage in eine Richtung umzudeuten, die sie ganz offensichtlich nicht gemeint haben kann, die jedoch seiner Absicht entspricht. Er beutet ihre Aussage aus, um ihr Kommunikationsziel gezielt zu sabotieren: Sabotierung durch Ausbeutung. b6/ b7: Hier verhält er sich nichtbeachtend. Er vermeidet es gezielt, auf die Aussagen der Frau einzugehen: Sabotierung durch Nichtbeachtung. Wieso kann man hier von Sabotierung (durch Ausbeutung/ Nichtbeachtung) sprechen, während wir bei den ersten drei ‘turns’ (siehe Abschnitt 2.1) von Nichtbeachtung ausgegangen sind? Im Gegensatz zu dort ist hier eine Strategie des Mannes erkennbar, die darauf zielt, Ansprüche der Frau oder auch Vorwürfe wegen seines ‘Stimmungswandels’ abzuwenden, indem er vorgibt, die Situation ganz anders erlebt zu haben. 8 Er tut einfach so, als sei er am Vorabend (noch) zurückhaltender gewesen als heute. Dass dies nicht stimmen kann, sondern vielmehr als Strategie zu werten ist, lässt sich belegen: Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 97 - b6/ b7: Würde er wirklich glauben, am Vorabend zurückhaltender als jetzt gewesen zu sein, dann dürfte man spätestens hier Nachfragen oder einen Ausdruck der Verwunderung erwarten. Stattdessen gibt er sich Mühe, ihre Aussagen möglichst zu ignorieren. - Seine Beteuerung, die Situation anders erlebt zu haben, kann nicht ehrlich sein, da sie maßlos übertrieben durchgeführt wird. Würde er einfach ableugnen, am Vorabend ‘interessiert’ gewesen zu sein, könnte es glaubwürdig sein; doch er behauptet ja, heute morgen zudringlich zu sein, obwohl er die ganze Zeit nur seine Uhr sucht und dabei die Frau loszuwerden trachtet. Dabei benutzt er mehrere Varianten der Unkooperativität: 1) kommunikativ unkooperativ a) Sabotierung durch Ausbeutung (b5) b) Sabotierung durch Nichtbeachtung (b6/ b7) 2) kommunikativ kooperativ, jedoch gesellschaftlich unkooperativ (b8/ b9): Hier zeigt er jeweils, dass er die Aussage der Frau verstanden hat, weigert sich jedoch, auf ihr Anliegen (mit ihm über den vorigen Abend zu sprechen) einzugehen. 9 Für sich genommen, sind einige Äußerungen des Mannes nicht verständlich, scheinen teilweise sogar unsinnig zu sein; seine Entschuldigungen dafür, heute morgen aufdringlich zu sein (b6 - b8), werden allzu deutlich durch die Situation widerlegt. Nur durch die Annahme einer das ganze Gespräch bestimmenden Strategie, die verschiedene Varianten der Unkooperativität für ein Kommunikationsziel benutzt, sind auch diese Äußerungen sinnvoll erklärbar. 2.3 Unkooperativität - oder nur ein Missverständnis? a1: D ER M ANN OHNE U HR Ich habe gehört: Es soll dir sehr schlechtgegangen sein. b2: M ARIE S TEUBER Du hast davon gehört? Ich kann es dir auch selbst erzählen, wenn du willst. 10 Der Mann ohne Uhr vollzieht hier eine eher konventionelle Gesprächseröffnung; er macht Marie das Angebot, über ihre Krankheit zu sprechen. Er meint mit seiner höflich formulierten Aussage wohl etwa: “Ich bin bereit, mit dir über deine schwere Krankheit zu sprechen; aber wenn du nicht ganz offen sprechen möchtest, kannst du auch einfach sagen: ‘Die Leute übertreiben, so schlimm war es gar nicht.’” (Die hier formulierte Bedeutung der Aussage des Mannes besteht aus Denotation und den wichtigsten Konnotationen der wörtlichen Aussage des Mannes, wobei von der wahrscheinlichsten Variante ausgegangen wird. Natürlich könnte es auch sein, dass der Mann ohne Uhr Hintergedanken bei seiner Aussage hat.) Marie jedenfalls geht offenbar von einer unfreundlichen Einstellung des Mannes aus: Sie interpretiert seine Aussage etwa in der Art von (a) 1) “Ich habe mich schon über dich informiert! ” oder 2) “Du kannst nicht so tun, als sei deine Krankheit harmlos gewesen.” Ihre Reaktion fällt dementsprechend aus; ihre Aussage bedeutet in etwa: (b) 1) “Du brauchst gar nicht hinter mir herzuspionieren, ich hätte es dir auch selbst erzählt.” 2) “Ich habe gar nicht die Absicht, etwas zu verschweigen; ich rede offen darüber.” Martin Siefkes 98 Aber natürlich sagt sie das so nicht, da ihre Antwort dann unsinnig wirken würde. Vielmehr wählt sie eine Art ‘Rückübersetzung’ in das Höflichkeitsniveau, das sie beim Mann annimmt, und sagt es eben ‘durch die Blume’. Trotzdem ist leicht zu erkennen, dass sie Hintergedanken beim Mann vermutet. Zu beachten ist also, dass hier eine teilweise unkooperative Kommunikation stattfindet, die jedoch auf der Oberfläche kooperativ bleibt. Rein formal geht Marie auf die Aussage des Mannes (“Ich habe von deiner Krankheit gehört.”) und, was ebenso wichtig ist, auch auf die Kommunikationsabsicht (Eröffnung eines Gesprächs über Maries Krankheit) ein. Die Unkooperativität liegt auf einem tieferen Level. Auf welche Art ist Marie unkooperativ? Sie verändert die Relevanz der Aussagen “Ich habe gehört: ” und “Es soll dir sehr schlechtgegangen sein”, indem sie die erste der beiden als die wichtigere nimmt und vor allem darauf eingeht; während dieses “Ich habe gehört” vom Mann ohne Uhr vermutlich nur als relativierende Floskel, als höfliches Betonen der Indirektheit seines Wissens über sie gemeint war. Interessant ist auch die Überlegung, ob Marie die Aussage wie oben beschrieben versteht oder nur so tut, als ob sie sie so verstünde. Im ersteren Falle könnte von einer bewussten Unkooperativität nicht die Rede sein; Marie wäre dann Opfer ihrer Überempfindlichkeit. Sie würde dann quasi eine der unter (a) beschriebenen Bedeutungen (d.h. in meinem Sinne: Denotation + Konnotationen) tatsächlich hören und völlig kooperativ (wenn auch leicht gereizt) darauf reagieren. Im letzteren Falle würde sie genau dieses simulieren; es würde sich um einen Täuschungsversuch handeln. Auch denkbar ist die noch komplexere Variante, worin sie aus purer Gereiztheit so reagiert, als hätte sie eine der Bedeutungen in (a) tatsächlich gehört, obwohl sie weiß, dass ihr Gesprächspartner dieses nicht glauben wird. Dies ist ein raffinierter gesprächstaktischer Zug, der jedoch gar nicht so selten ist. Er zwingt den Mann dazu, etwas abzuleugnen, von dem er sowieso weiß, dass keiner der beiden daran glaubt (nämlich, dass er seine Aussage wie in (a) gemeint hat). 11 Hat Marie Recht mit ihrer Interpretation der Aussage des Mannes? Das ließe sich nur aus dem Kontext klären; aus der Vorgeschichte des Mannes, dem Tonfall und Gesichtsausdruck während seiner Aussage, seinem Charakter - Informationen, die wir nicht haben. Für den Leser bleibt nur die Vermutung, dass es sich hier um die Beschreibung eines Phänomens handeln könnte, das man immer wieder bei Kranken beobachten kann: Die große Empfindlichkeit gegenüber Aussagen, die als Anspielen auf die eigene Schwäche empfunden werden. Somit wird für die Interpretation der Stelle die Wahrscheinlichkeit, dass Marie hier überempfindlich reagiert, größer zu bewerten sein als die Variante des sie absichtlich quälenden Mannes, da es hierfür keine weiteren Anhaltspunkte gibt. 3. Ist das noch Kommunikation? 3.1 Signalisier-Handlung b1: D ER VÖLLIG U NBEKANNTE Sie wissen nicht, wer ich bin? a1: D IE ANDEREN Nein. b2: D ER VÖLLIG U NBEKANNTE Sie sprechen mit einer Stimme. Das sollte mich überzeugen. Ich wüßte nicht, was ich mit ihr gemacht hätte. Ich wüßte wirklich nicht, wozu ich imstande gewesen wäre - Ektoplasma? a2: D IE ANDEREN Wie? Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 99 b3: D ER VÖLLIG U NBEKANNTE Ektoplasma? Sagt Ihnen nichts? a3: D IE ANDEREN Nein. b4: D ER VÖLLIG U NBEKANNTE Na gut. Dann wissen Sie wirklich nicht, wer ich bin. 12 Was geschieht, wenn a das Wort “Ektoplasma” in den Raum wirft? Er erwartet nicht, dass die anderen wissen, mit welchem Hintergedanken er dieses Wort ausspricht. Vielmehr geht er davon aus, dass sie darauf automatisch irgendwie auf eine erkennbare Art reagieren; die Tatsache, dass sie nichts damit anfangen können, beweist, dass sie ihn wirklich nicht kennen. Von einer Kommunikation kann hier nicht die Rede sein; nach der Klassifikation von Zeichen-Typen von Posner 13 handelt es sich vielmehr um eine Signalisier-Handlung: (1) T(b,f) I(b, E(f) T(a,r)) Die Formel drückt aus, dass das Ereignis f von b (dem Sender) verursacht wird und dass b beabsichtigt, dass das Eintreten von f dazu führt, dass a (der Empfänger) wiederum die Handlung r durchführt. 14 Das Aussprechen des Wortes “Ektoplasma” ist das Signal f: (2) E(f) T(a,r) T(a,r) ist der Interpretant (d.h. die Reaktion des Empfängers a des Signals f), den b beabsichtigt. Aus b’s Worten können wir den Schluss über die Annahmen ziehen, die ihn zu diesem Handeln veranlassen: Annahme (1): Das Wort “Ektoplasma” ‘gehört’ gewissermaßen ‘zu ihm’ (es könnte sich beispielsweise um sein Forschungsgebiet handeln). Annahme (2): Wer dieses Wort hört und einmal von ihm gehört hat, der erkennt ihn wieder. Diese beiden Annahmen kann b durch seinen Test nicht auf die Probe stellen; sie sind Prämissen des Tests, den er durchführt. Was ist jedoch der Interpretant T(a,r), den er beim Empfänger a hervorrufen will? Ist es das Wiedererkennen von b? Nein, denn dies ist nur ein mögliches Ergebnis des Tests; für den Erfolg des Tests kommt es jedoch nur darauf an, dass a eine Reaktion r zeigt, aus der b ablesen kann, ob a weiß, wer er ist. Der Interpretant T(a,r) besteht also darin, dass a offenbart, ob er b kennt oder nicht. Da b die Prämissen (1) und (2) für erfüllt hält, rechnet er in b4 damit, dass er die in a1 gegebene Antwort verifiziert hat. 3.2 Simulation und Manipulation Im folgenden Textabschnitt führt der ‘Mann ohne Uhr’ mit Marie Steuber ein Gespräch über ihre zurückliegende, offenbar psychosomatische Erkrankung. 15 a1: D ER M ANN OHNE U HR Ich habe gehört: Es soll dir sehr schlechtgegangen sein. b1: M ARIE S TEUBER Du hast davon gehört? Ich kann es dir auch selbst erzählen, wenn du willst. […] Martin Siefkes 100 a2: D ER M ANN OHNE U HR Man kann es ausleben, das Übel. Mit den Jahren. So wie ein Baum eine Wunde von seinem Organismus isoliert, abschließt und doch als ein verholztes, totes Ende immer bei sich bewahrt. Er wächst darüber hinweg - und du wächst auch. b2: M ARIE S TEUBER Ich habe es zweimal versucht. Ich habe mein Bestes getan. Ich kann nicht leben. Ich werde es auch ein drittes Mal versuchen, wenn die Zeit kommt und ich noch Kraft genug habe. Das da drinnen, der Elefant, der mich zertrampeln will, wurde nur mit Betäubungsmitteln beschossen und wacht irgendwann im Zoo wieder auf. Der Mann ohne Uhr geht zu der Ungeduldigen. c1: D IE U NGEDULDIGE Sie haben sich mit Marie unterhalten? Mein Gott, ich trau mich gar nicht, mit ihr zu sprechen. Wie spricht man denn mit jemandem, der so etwas hinter sich hat? a3: D ER M ANN OHNE U HR Ich glaube, ich hatte ihr etwas zu sagen. Wahrscheinlich wird sie jetzt darüber nachdenken. Ich habe ihr einen Begriff von ihrer Krankheit gegeben, mit dem sie leben kann. Man muß vernünftige Worte wählen. Vollkommen vernünftig sein. Das strahlt positiv ab auf solch labile Menschen. c2: D IE U NGEDULDIGE Das könnte ich nie. Sie zündet sich hastig eine Zigarette an. Die überraschende Wendung der Textstelle besteht darin, dass der Mann ohne Uhr scheinbar recht plötzlich Marie stehen lässt und zu der Ungeduldigen geht. Ihr gegenüber, die ein Gespräch mit Marie für schwierig hält und es sich selbst nicht zutraut (c2), gibt er sich souverän; er erläutert ihr genau seine Methode bei solchen ‘Krankengesprächen’ (a3). Deutlich wird, dass ihm diese längere Erläuterung seines Gesprächs gegenüber c (in a3) offenbar wichtiger ist als die eigentliche Mitteilung an Marie (in a2). Das lässt sich daraus entnehmen, dass er sich auf Maries detaillierte Antwort in b2 gar nicht einlässt, obwohl sie seinen vorhergehenden Allgemeinplätzen widerspricht (sie geht nicht von einem einfachen Heilungsprozess, ein natürliches ‘Ausleben’ und ‘Auswachsen’ des ‘Übels’ aus, sondern fürchtet ein erneutes Ausbrechen der Krankheit). Stattdessen geht er zu der Ungeduldigen und lässt Marie alleine. Ginge es dem Mann ohne Uhr in a2 vordergründig um Marie, müsste er auf b2 reagieren. Sein Schweigen stellt eine Missachtung ihres Gesprächsbeitrags b2 dar und sabotiert ihr Kommunikationsziel durch Nichtbeachtung ihrer Aussage (Sabotierung durch Nichtbeachtung). 16 Für die hier vorzunehmenden Überlegungen gehe ich aufgrund dieser Hinweise im Text davon aus, dass der Mann seine ‘guten Ratschläge’ in a2 mit dem Hintergedanken gibt, dass c sie auch hört und entsprechende Rückschlüsse auf ihn selbst zieht: Er möchte ihr etwas über sich selbst (sagen wir: seine ‘psychologischen Fähigkeiten’) mitteilen. Man könnte daher zunächst vermuten: Hier wird mit Hilfe eines Assertivs, den b an a richtet, ein Expressiv von b gegenüber c durchgeführt. Doch damit wird man dem Tatbestand nur teilweise gerecht; zeigt doch die Formel des Assertivs, dass b daran glauben muss, dass seine Aussagen gegenüber a auch wirklich etwas bewirken: (3) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]] 17 Erläuterung: 18 Die erste Zeile der Formel besagt (etwas verkürzt wiedergegeben), dass b f tut und die Absicht (Intention) hat, dass a aufgrund von f glaubt, dass b f mit der Absicht getan Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 101 habe, dass a die Proposition p glaube. b tut also f mit der Absicht, a zu erkennen zu geben, dass er ihn dazu bringen will, p zu glauben. Die zweite Zeile der Formel drückt aus: b glaubt, wenn f a dazu bringe zu glauben, dass b f mit der Absicht getan habe, dass f a dazu bringt, p zu glauben, dann werde f a auch tatsächlich dazu bringen, p zu glauben. 19 Wenn man aber annimmt, dass der eigentliche Zweck dieses Gesprächs darin besteht, dass a später vor c mit seinem psychologischen Verständnis und seiner Feinfühligkeit renommieren kann - dann können wir nicht davon ausgehen, dass dieser Glauben, wie er in der zweiten Zeile der Assertiv-Formel ausgedrückt wird, wirklich bei b existiert. Für diesen Zweck würde es völlig reichen, wenn b, wie es in der ersten Zeile ausgedrückt ist, die Absicht hat, dass f a dazu bringt zu glauben, dass b f mit der Absicht getan habe, dass f a dazu bringt, p zu glauben: (4) E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p))) Dies ist nicht zufällig die Gelingensbedingung (sekundäre Erfolgsbedingung) des Assertivs; sie bedeutet, dass f beim Adressaten a dazu führt, dass er versteht, dass der Sender b mit der Produktion von f eine bestimmte Primärhandlung vollzogen hat. Dies ist deshalb auch hier notwendig, weil b ja nicht möchte, dass a nachfragt (“Was meinst du? ”); er müsste dann nur noch weiter erklären, während sein eigentliches Ziel ja darin besteht, hinterher zu c zu gehen. Die folgende Formel beschreibt daher die in a2 vollzogene ‘Kommunikation’ (man könnte von einer Mischform aus einem simulierten 20 Assertiv gegenüber a mit einem Expressiv gegenüber c sprechen): (5) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] I[b, G[c, G(b, (E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))) (E(f) G(a,p)))] G(c, Z(b))] Handelt es sich um Kommunikation? In der ersten Zeile lesen wir, dass b f tut mit der Absicht, dass der Assertiv gegenüber a gelingt. In Zeile 2 steht bei der gewöhnlichen Assertiv-Formel (siehe oben unter (3)), dass b folgendes glaubt: (6) [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)] Dies ist die Kommunikationsbedingung des Assertivs. 21 Charakteristisch für Kommunikation ist, dass der Sender (beim Assertiv) die Anzeige einer Anzeige-Handlung dazu verwendet, diese Anzeige-Handlung wirklich durchzuführen. 22 Dies drückt sich in der Kommunikationsbedingung aus. Die zweite Zeile unserer variierten Formel (5) enthält die Kommunikationsbedingung des Assertivs, eingebettet in eine zusätzliche Bedingung der Art: I(b, G(c … Es ist mithin die Absicht von b, dass c glaubt, dass die Kommunikationsbedingung erfüllt wird; b’s Glaube selbst braucht dies nicht notwendigerweise zu sein. b könnte beispielsweise aus früheren Gesprächen mit a genau wissen, dass sie auf seine Argumente gar nicht hört (es ist ja auch tatsächlich zweifelhaft, ob bei einer offenbar langen und schweren psychischen Erkrankung weise Worte der Art “Man kann es ausleben, das Übel.” wirklich angebracht sind). Es ist also gut möglich, dass b selbst nicht an die Kommunikationsbedingung glaubt; er beabsichtigt jedoch, dass c glauben wird, dass er sie glaubt. Dies drückt die 2. Zeile von (5) aus. Martin Siefkes 102 Dies wiederum soll dazu führen, dass c gewisse Rückschlüsse auf b’s inneren Zustand ziehen soll (etwa, ihn für psychologisch geschickt und sensibel zu halten). Dies drückt die 3. Zeile aus; hier zeigt sich die Expressivkomponente gegenüber c. Die Kommunikationsbedingung drückt die Tatsache aus, dass das Gelingen der Kommunikation zu ihrem Erfolg führt. Reicht es aus, wenn nicht der Sender, sondern eine dritte Person die Kommunikationsbedingung glaubt (Zeile 2)? Wohl kaum; denn im eben überlegten Falle, dass a tatsächlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit b’s Worte als hohle Worthülsen ansieht und dass darüber hinaus b dies auch weiß, wäre der Glauben von c ja eine reine Illusion, die auf einer Täuschung durch b besteht. Aber findet nicht eine Kommunikation mit c statt? Nein; hier handelt es sich um eine bloße Manipulation: 23 (7) T(b,f) I(b, E(f) G(a, Z(b))) Dies ist eine Ausdrucks-Handlung, die Vorstufe eines Expressivs, der gegenüber diesem allerdings mehrere Reflexionsstufen fehlen; denn weder weiß c um die Absicht von b, noch ist es b’s Absicht, dass sie es wisse. Z(b) bezeichnet hier b’s Interesse für Marie und seinen ‘Mut’, mit ihr zu sprechen, oder, allgemeiner gesagt, seine ‘Sensibilität’ - die unter Beweis zu stellen er offenbar für nötig hält. b simuliert also eine Kommunikationshandlung mit a und manipuliert gleichzeitig c mittels einer Signalisier-Handlung. Wir könnten im Falle von dem, was die Formel (5) beschreibt, von einer ‘pervertierten Kommunikation’ oder einer ‘Pseudo-Kommunikation’ sprechen. 4. Deklaration 4.1 Die Deklaration und ihre Grenzen Die Deklaration (Handlung mittels Anzeige einer Handlung) ist die Grundform aller Kommunikation, aus dem als Spezialformen die anderen Typen von Kommunikationsakten ergeben, wie sie bereits Searle 1979 vorgeschlagen hat. 24 Zugleich ist die Deklaration selbst (d.h. eine Deklaration, die nicht zugleich ein Direktiv ist) nicht allzu häufig. Dass mittels Anzeige einer Handlung gehandelt wird, ohne dass ein reagierendes System dazwischen tritt, finden wir wohl vor allem im rechtlichen und politischen Bereich. Ähnlich wie beim Schamanen- Beispiel 25 könnte man auch in unserem Kulturkreis bei Akten, die kraft eines Amtes, eines Gesetzes o.ä. durchgeführt werden (d.h. insbesondere rechtlichen oder politischen Handlungen), von Deklarationen sprechen. Wenn jemand seine Unterschrift unter ein Dokument setzt oder einen geschäftlichen oder politischen Vertrag unterschreibt, dann ist keine Reaktion von anderen vonnöten, um diesen Akt rechtlich gültig werden zu lassen: D.h., es handelt sich nicht um einen Direktiv, der mit der Erwartung geschieht, dass jemand anderes etwas Bestimmtes tut. Kann man jedoch, wenn jemand beispielsweise sein Testament unterschreibt, von Kommunikation sprechen? Der Unterschied zum Fall des Schamanen besteht in der zeitlichen Verzögerung. Ein Testament wird unterschrieben und damit gültig, kann aber jahrelang im Tresor liegen, bevor es jemand zu sehen bekommt. Dennoch handelt es sich um eine gewöhnliche Deklaration, bei Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 103 der man beabsichtigt, dass das eigene Unterschreiben (E(f)) beim Leser des Testaments dazu führt, dass er glaubt, dass man beabsichtigte, ein gültiges Testament zu machen (E(e)) - man beabsichtigt die Gelingensbedingung der Kommunikation: (1) E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e))) Gelingensbedingung 26 Ebenso glaubt man in der Regel daran, dass das Gelingen der Kommunikation dazu führt, dass man durch sein Unterschreiben (E(f)) wirklich sein Testament gemacht hat (E(e)) - man glaubt die Kommunikationsbedingung: (2) (E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))) (E(f) E(e)) Kommunikationsbedingung 27 Aus der Beabsichtigung der Gelingensbedingung beim Tun T (b,f) und dem gleichzeitigen Glauben der Kommunikationsbedingung ergibt sich die Formel der Deklaration: (3) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] [E(f) E(e)]] 28 Erläuterung: Die erste Zeile der Formel besagt, dass b f tut und die Absicht (Intention) hat, dass a aufgrund von f glaubt, dass b f mit der Absicht getan habe, dass dieses das Eintreten des Ereignisses e bewirke. b tut also f mit der Absicht, a zu erkennen zu geben, dass er mit dem Tun von f das Ereignis e bewirken will. Die zweite Zeile der Formel drückt aus, dass b etwas Bestimmtes glaubt, nämlich die Kommunikationsbedingung der Deklaration: b glaubt, wenn f a dazu bringe zu glauben, dass b f mit der Absicht getan habe, dass f zum Eintreten von e führe, dann werde das Eintreten von f auch tatsächlich dazu führen, dass e eintrete. Nehmen wir an, ein alter Mensch, dessen Krankheit sich verschlimmert hat, hat seine Unterschrift so krakelig unter das Dokument gesetzt, dass er zweifelt, ob man es als seine Unterschrift anerkennen wird. Er fürchtet, dass die Tatsache, dass die anderen nicht glauben werden, dass er wirklich die Signalisier-Handlung des Unterschreibens T(b,f) I(b, E(f) E(e)) vollzogen hat, dazu führen könnte, dass seine Unterschrift nicht dazu führt, dass er sein Testament gemacht hat: E(f) -E(e) Die abgewandelte Formel für diesen Fall lautete dann: (4) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] G[b, [E(f) -G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] [E(f) -E(e)]] Vorstellbar ist auch, dass jemand in einem Land lebt, das - z.B. aufgrund eines Staatsstreichs - im Chaos versinkt. Die Putschisten stehen im Ruf, sich die Vermächtnisse wohlhabender Menschen selbst anzueignen, selbst wenn ein einwandfreies Testament vorliegt. Der Mann hat sein Testament unterschrieben, aber glaubt nicht daran, dass es wirksam werden wird: (5) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] -G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] [E(f) E(e)]] Allerdings könnte der Betroffene sich damit trösten, dass er ja trotz allem ein Testament in gültiger Weise macht; damit wäre der Kommunikationsakt eben doch eine gewöhnliche Martin Siefkes 104 Deklaration. Er würde damit zwischen der rechtlichen Gültigkeit des Testaments und der tatsächlichen Ausführung unterscheiden. In diesem Fall würde E(f) E(e) eintreten; das Testament würde rechtlich gültig werden; und die Formel wäre die unter (3) dargestellte. Er hätte sein Testament korrekt gemacht, und dies hätte auch dazu geführt, dass es gültig wird (E(f) E(e)); und wenn sich einer nicht daran hält, ist das eben Rechtsbruch. Tatsächlich kann es unter bestimmten Umständen schwierig sein, festzustellen, wie ein solcher Fall genau zu bewerten ist. Um uns dies klarzumachen, verändern wir unser Szenario und stellen uns vor, es handle sich nicht um einen Putsch, sondern Gesetze seien beispielsweise durch eine Revolutionsregierung verändert worden. In der Anfangsphase der neuen Regierung herrscht in Teilen der Bevölkerung der Glaube, es handele sich schlicht um Putschisten; eine bereits durchgeführte Wahl wird von den Anhängern des alten Regimes als manipuliert dargestellt. Der Mann macht sein Testament in der alten Weise, ohne Berücksichtigung der neuen Gesetze. Möglicherweise sähen sich später die Gerichte damit konfrontiert, klären zu müssen, ob der Mann glaubte, sein Testament korrekt gemacht zu haben, wodurch es als Deklaration zu werten wäre (3) und wie ein vor dem Regierungswechsel gemachtes Testament behandelt werden müsste; oder ob er nur aus Sturheit oder politischem Ärger über die neue Regierung sich geweigert hätte, die neuen Gesetze anzuerkennen (5). Das Gericht könnte dann argumentieren, dass es sich nicht um eine Kommunikation gehandelt habe, sondern nur um die Simulation einer Kommunikation. 29 Man sieht also: die Frage, ob der Sender die Kommunikationsbedingung für erfüllt hält oder nicht, kann eine sehr konkrete Rolle spielen. In (5) glaubt der Mann nicht daran, dass die Kommunikationsbedingung erfüllt ist; man kann daher von der Simulation einer Kommunikation sprechen. Das Gericht hätte unter Umständen zu klären, ob der Mann wirklich glaubte, dass die Regierung unrechtmäßig sei; denn dann gälte wiederum eine veränderte Formel: (6) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] -[E(f) E(e)]] Der Mann hätte also sein Testament gemacht im Glauben, die anderen würden seine Absicht verstehen: E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e))). Die Kommunikation wäre damit gelungen. Allerdings würde, wie die zweite Zeile es ausdrückt, das Verstehen der Absicht nicht dazu führen, dass man sie umsetzt: E(f) E(e), die primäre Erfolgsbedingung, würde nicht eintreten. Er wäre im Glauben gestorben, dass man wüsste, dass er ein korrektes Testament gemacht hätte, aber sich nicht nach seinen Anweisungen richten wird (d.h. im Glauben an die Erfolglosigkeit seiner Kommunikation). Im Gegensatz zu (5) handelt es sich jedoch eindeutig um eine Kommunikation (und nicht um eine Simulation), und das Gericht würde wohl zum Schluss kommen, dass sie entsprechend zu werten wäre. 4.2 Die Kraft der Worte Kehren wir jedoch zu unserem Strauß-Text zurück und betrachten folgende Textstelle: 30 b1: M ARIE S TEUBER halb aus dem linken Fenster blickend. Zwischen den Menschen knirscht es und hält durch sie hindurch die Große Maschine an. Da, sie purzeln vorwärts durcheinander, sie stürzen kopfüber aus ihrem geraden Lauf. Dann eiserne Stille. Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 105 a1: J ULIUS Sie reden es herbei. Vorsicht! b2: M ARIE S TEUBER Manch einer rückt noch seinen Tisch vors Fenster oder seinen Schrank neben das Bett. Sie rücken noch einmal ein bißchen in ihrer Wohnung herum und tragen frische Wäsche von einem Raum in den anderen. Oder huschen geduckt unter den Spiegeln vorbei. Dann wird es ganz still. a2: J ULIUS Sie reden es herbei, Sie reden es herbei … Julius befürchtet, dass Marie durch ihre düsteren, fast apokalyptischen Visionen reales Verhängnis herbeiführt. Ein solcher Glauben an die wirklichkeitsschaffende Kraft der Worte ist gar nicht so selten, wenn er sich auch gewöhnlich weniger deutlich als in dieser Textstelle artikuliert. Beispielsweise gibt es den umgangssprachlichen Ausdruck “Beschreien wir’s mal nicht! ”, der ausdrückt, dass über eine bestimmte, nicht zu wünschende Sache so wenig wie möglich geredet werden soll. In eine ähnliche Richtung geht die weit häufigere Aussage: “Reden wir lieber nicht davon.” Am deutlichsten ist die hier von Julius geäußerte Furcht in der Redewendung “Wenn man den Teufel nennt, kommt er gerennt” ausgedrückt. Kann man hier von einer Deklaration sprechen? Man kann es dann, wenn man annimmt, dass Marie die von Julius befürchtete Wirkung tatsächlich hervorbringen möchte. Dafür spricht einiges: Während wir uns über Julius plötzliche Befürchtung in a1 wundern, lässt Marie sich gar nicht irritieren. Hielte sie seine Einwürfe für gänzlich falsch, würde sie wohl widersprechen; und auch die Überraschung, die den Leser angesichts einer solchen Deutung ihrer Worte befällt, scheint sie nicht zu teilen. Man kann also davon ausgehen, dass sie zumindest mit der Möglichkeit des ‘Herbeiredens’ spielt, wenn sie vielleicht auch nicht ganz fest daran glaubt. Ihre Redebeiträge, zusammen mit den Einwürfen von Julius, die sie ganz unbeachtet lässt, erwecken zumindest den Eindruck, als ob ihre düsteren Reden auch in der Art gemeint seien, wie Julius sie versteht. (7) T (b,f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e)))] [E(f) E(e)]] Wenn wir Maries Redebeiträge als Deklarationen verstehen, dann stellt sich eine interessante Frage: Wer nämlich ist der Empfänger a? Handelt es sich um die Zuhörerschaft (also Julius und die anderen Personen, die sich zur der Zeit im Raum befinden) oder um eine Art ‘höheres Wesen’? Diese Frage ist recht komplex; wir wollen sie mit Hilfe des Schamanen-Beispiels zu klären versuchen. 31 4.3 Probleme der Deklaration Ein interessanter Aspekt bei der Deklaration ist, dass es unterschiedliche Meinungen dazu geben wird, wie nun eigentlich diese “Handlung durch Anzeige einer Handlung” genau funktioniert; dies wollen wir uns kurz verdeutlichen. In unseren Augen besteht E(e), die beabsichtigte Primärwirkung (‘diese beiden sind nun ein Paar’), in einer gesellschaftlichen (und auch juristischen) Realität; für den Schamanen selbst, und wohl auch seine Anhänger, ist E(e) dagegen eine metaphysische Realität, die zu leugnen blasphemisch, aber auch sinnlos wäre, weil eine solche Leugnung ja nichts am Tatbestand ändern würde. Martin Siefkes 106 Heißt das aber nicht, dass wir verschiedene Empfänger ‘a’ der Deklaration vermuten? Dann wäre a für den Schamanen ein ‘höheres Wesen’, für uns dagegen seine Anhängerschaft? Dies wäre jedoch ein Irrtum, der davon ausgehen würde, dass a für das Eintreten von E(e) verantwortlich ist; die Formel zeigt jedoch deutlich, dass dies nicht der Fall ist. Das Eintreten von E(e) geschieht nicht durch eine Handlung von a, sonst hätten wir es ja mit einem Direktiv mit der Erfolgsbedingung E(f) T(a,r) zu tun. Dennoch hängt die Deklaration von a ab; die Gelingensbedingung E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) E(e))) sagt aus, dass die Deklaration nur dann gelingt, wenn a glaubt, dass b f mit der Absicht tut, dass f dazu führt, dass die beiden ein Paar werden. Sobald dies gegeben ist, tritt E(e) ein. Der Empfänger der Deklaration a ist also in jedem Fall die Anhängerschaft des Schamanen. Trotzdem besteht Raum für die unterschiedlichen Interpretationen, die ein ‘westlicher’ Beobachter und der Schamane selbst von dem Vorgang haben. Der Unterschied liegt in der Interpretation von E(e). Für den Schamanen selbst, und auch für seine Anhänger, ist E(e), der Tatbestand der Vermählung, eine metaphysische Realität. Zugleich ist jedoch auch die Tatsache wichtig, dass die Menschen von der Absicht des Schamanen, die Vermählung vorzunehmen, Kenntnis haben, wie es die Gelingensbedingung ausdrückt. Ist diese erfüllt, d.h. haben die Anhänger des Schamanen verstanden, dass der Schamane die Vermählung E(e) beabsichtigt, hängt es nicht mehr von ihnen ab, ob diese vollzogen wird oder nicht: E(f) E(e) Das entspricht wohl durchaus der Auffassung dieser Menschen, die sicherlich nicht glauben würden, dass die Vermählung selbst nur in ihren Köpfen stattfindet. Für einen ‘westlichen’ Zuschauer dagegen bedeutet dieses Vermählt-Sein die Tatsache, dass alle Anhänger an die erfolgreiche Vermählung glauben; es handelt sich um eine gesellschaftliche Realität. Wenn man trotzdem von einer Deklaration sprechen möchte, muss man E(e) daher als “gesellschaftliche Realität” einer Vermählung definieren. Es ist jedoch schwer einzusehen, warum es sich dann nicht um einen Assertiv handelt; schließlich würde für einen westlichen Beobachter der Erfolg der Vermählung davon abhängen, ob die Anhänger diese anerkennen: E(f) G(a,p) Eine erfolgreiche Vermählung jenseits ihrer Anerkennung, d.h. die metaphysische Realität des Geschehens, könnte er wohl nicht erkennen, und es ist daher nicht einzusehen, wie er die logische Notwendigkeit von E(f) E(e) begründen sollte: Denn diese suggeriert ja eine unabhängig vom Empfänger a eintretende Primärwirkung E(e), die jedoch (die Gelingensbedingung zeigt es! ) davon abhängt, dass a die Absicht verstanden hat, die sich mit E(f) verbindet! Dieser Tatbestand ist im Verständnis des Schamanen dadurch erklärt, dass eine solche Vermählung öffentlich, vor den Menschen stattfinden muss (die Menschen müssen sie verstehen), aber dennoch letztlich nicht von ihnen abhängt. Wie ein rationalistisch eingestellter Beobachter diesen Widerspruch auflösen soll, ohne von einem Assertiv auszugehen, wobei die Tatsache der Vermählung eben doch von der Anerkenntnis derselben durch die Anhängerschaft abhängt, ist dagegen nicht klar. An dieser Stelle wirft die Deklaration also noch Fragen auf. 4.4 Die Rolle der Zuhörer Wie sich gezeigt hat, hat die Problematik der beabsichtigten Primärwirkung E(e) in Relation zum Empfänger a zu einem grundsätzlichen Problem der Deklaration geführt. Doch zurück zu unserer Textstelle: Zunächst ist deutlich geworden, dass a auf keinen Fall ein ‘höheres Wesen’ sein kann; sonst handelte es sich um einen Direktiv. a sind also auch im Falle von Maries unheimlichen Aussagen die Zuhörer, die sich grade im Zimmer befinden. Doch wie wir gesehen haben, geht es ganz ohne die Annahme eines (von Marie geglaubten) meta- Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 107 physischen Wirkungszusammenhangs auch nicht, sonst hätten wir es mit einem Assertiv zu tun, bei dem Marie gedenkt, den anderen Angst zu machen, d.h., sie an unheimliche Vorgänge vor den Fenstern glauben zu lassen. Wenn wir hier also eine Deklaration annehmen, dann müssen wir davon ausgehen, dass Marie einerseits die Anwesenheit der Personen und ihr Verständnis, dass sie etwas ‘herbeireden’ will, für entscheidend hält, andererseits jedoch das Eintreten der beabsichtigten Primärwirkung von ihnen unabhängig sieht: E(f) E(e) Das heißt also, sie muss davon ausgehen, dass ein ‘höheres Wesen’ oder eine Kraft irgendeiner Art den simplen Kausalprozess E(f) E(e) dann und nur dann durchführt, wenn a verstanden hat, dass b beabsichtigt, ihn durchzuführen. Diese Bedingungen sind so widersprüchlich, dass sie eine Deklaration zunächst unwahrscheinlich machen; allerdings nur, bis man sich klarmacht, dass es sich um ein allgemeines Problem der Deklaration handelt. Machen wir uns das Problem noch einmal klar: Genau wie auch beim Schamanen-Beispiel erscheint es denkbar, dass eine Wirkung unabhängig von den Zuhörern (bzw. Zuschauern) beabsichtigt ist. Man könnte vermuten, dass der Schamane sein schlichtes Hochzeitsritual unabhängig von Zuschauern und selbst von dem Bewusstsein der Getrauten selbst für gültig hält; dieser Fall scheidet jedoch aus, weil es sich dann um gar keine Kommunikation handeln würde. Man könnte auch vermuten, dass der eigentliche Empfänger a des Rituals für den Schamanen gar nicht die Zuschauer sind, sondern ein ‘höheres Wesen’; doch auch dieser Fall ist hier nicht relevant, da es sich um einen Direktiv handeln würde. Dies macht die seltsame Konstruktion nötig, die wir auch im Fall der besprochenen Textstelle ansetzen mussten. 5. Kommunikation als Merkmal 5.1 Zwei Ausgestoßene begegnen sich Die Szene, aus der nun zitiert werden soll, gehört sicherlich zu den Höhepunkten des Stücks; zeigt sie doch, wie Strauß dazu in der Lage ist, kleine, eigengesetzliche Gedankenspiele (oder sollte man sagen: Welten? Paradigmen? ) auf engstem Raum zu schaffen, deren Regeln und Konsequenzen dann ausgelotet und durchgespielt werden; zugleich gelingt es ihm, umwerfend komisch zu sein. 32 Marie Steuber lehnt an der Säule und blickt zum Fenster hinaus. a1: M ARIE S TEUBER Ich wohne inmitten der Stadt und mitten im tosenden Verkehr umgeben mich die großen stillen Räume, in denen niemand zuhaus ist. Nicht einmal mein Brot, mein Tisch, mein Radio, meine Zuckerdose. Wir alle sind hier lediglich vergessen worden. Stehen- und liegengelassen. Nicht aufgeräumt. Hals über Kopf Vermachtes, das sind wir, mein Zeug und ich. Ich wohne: Ich teile die unendliche Passivität meines Tischs. Meiner Zuckerdose, meines Radios. Ich höre, ich weile. b1: D IE S ÄULE Jahr um Jahr tiefer und tiefer. Um soviel wie die Glücklichen wachsen. a2: M ARIE S TEUBER Du redest? Wie kannst du reden? b2: D IE S ÄULE Alles spricht. So auch ich. a3: M ARIE S TEUBER Sprich nicht! b3: D IE S ÄULE Wenn man so lange schwieg, findet man nicht gleich die passenden Worte. a4: M ARIE S TEUBER Keine passenden - gar keine Worte! Sprich nicht! Du bist meine Zuflucht. Deine Stille suche ich. Du bist das Ding, an dem ich lehne, wenn mich alle Kräfte verlassen haben. Vertreib mich nicht mit Sprecherei! Martin Siefkes 108 b4: D IE S ÄULE Zu spät … a5: M ARIE S TEUBER Du hast die Jahre nur geschwiegen? Du schwiegst? b5: D IE S ÄULE Ja. a6: M ARIE S TEUBER Du hättest immer eine Antwort gehabt - und schwiegst? So war alles nur Schweigen und niemals Dingruhe - letzte Stille? b6: D IE S ÄULE Ich die Säule der Pfahl. Männlich weiblich. Schmerzlich. Ich habe es versucht. Ich fand den Ton. Ich war in den Worten. Es war die Hölle. a7: M ARIE S TEUBER Viel Unglück weißt du von mir. Aber jetzt ist ein Unheil geschehen. b7: D IE S ÄULE Verzeih mir, Mensch. Ich bin aus dem Herzen der Dinge verstoßen. a8: M ARIE S TEUBER Jahr um Jahr tiefer um tiefer, um soviel wie die Glücklichen wachsen. Marie empfindet sich inmitten des geschäftigen Treibens und des endlosen Beziehungsgeflechts einer Großstadt als vereinsamt (a1), was sich im Zusammenhang des Stückes aus ihrer Krankheit mit einem längeren Klinikoder, wahrscheinlicher, Psychiatrieaufenthalt erklärt. 33 Doch aus a5 ergibt sich, dass Marie offenbar auch schon jahrelang zuvor das Bedürfnis hatte, sich aus der menschlichen Gemeinschaft zurückzuziehen (a4) und jemandem ihr Unglück zu klagen (a7). Warum aber spricht die Säule - was doch recht ungewöhnlich ist? Offenbar hat sie dieselben Gründe, die Kommunikation mit dem Menschen zu suchen, die auch Marie zum Reden mit einem “Ding” (a4) bewogen haben: Sie ist “aus dem Herzen der Dinge verstoßen” (b7). Der Schmerz (b6), der sich später als der Schmerz des Ausgestoßenseins erklärt, macht Reden zu einer Notwendigkeit. Die Säule hat mit der Kommunikation eine Asymmetrie aufgehoben. Während zuvor nur Marie ihr Leid klagte und die Säule, wider alles Erwarten, offenbar tatsächlich zuhörte (dass sie auch zuvor schon hören konnte, was Marie sagt, bestätigt sie indirekt in b5), ist jetzt durch die Aufnahme einer Kommunikation eine Symmetrie hergestellt; jeder der beiden hat die Möglichkeit, von sich zu erzählen und sein eigenes Schicksal mit einem Gegenüber zu teilen (a1, a4; b6, b7). Dabei stellt sich jedoch eine neue Asymmetrie in einem anderen Bereich her; um sie zu verstehen, müssen wir die Motivationen beider Gesprächspartner genauer betrachten. 5.2 Was Säulen wünschen … Zwar besteht für jeden der beiden, die aus ihrem jeweiligen Bereich verstoßen sind, 34 der Trost darin, sich an den anderen zu wenden. Dabei ist jedoch für Marie wichtig, dass sie nicht kommuniziert (a3; a4), für die Säule dagegen scheint es zu einem Bedürfnis geworden zu sein, sich auszudrücken. Beide tun also das Gegenteil von dem, was sie in ihrem Bereich gewöhnlich zu tun haben: Marie möchte nicht kommunizieren, sondern ihr Leid klagen und dabei nur “Dingruhe” als Antwort empfangen. Sie möchte sich ausdrücken, ohne dass jemand von ihrem Unglück erfährt (a4), sie will keine Antwort. Für die Säule jedoch, so können wir schließen, ist durch das lange Zuhören das Reden als Mittel der Erleichterung verständlich geworden; sie hat einen Weg gefunden, zu sprechen, obwohl es ihr sehr schwer gefallen ist (b6). Die Säule also möchte kommunizieren, wenn sie Marie trifft; ist es doch das, was sie im Reich der Dinge nicht tun kann. Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 109 Weder die Säule noch Marie zeigt ein besonderes Interesse an der Welt des anderen; Marie erkundigt sich nicht nach dem Leben der Säule im “Herzen der Dinge” (b7) und dem Grund für ihr Ausgestoßen-Sein von dort; und auch die Säule fragt nicht weiter nach Maries Lage, wie sie diese in a1 beschreibt. Es geht beiden beim Kontakt mit dem jeweils anderen (dem “Mensch” (b7); dem “Ding” (a4)) offensichtlich nur um die veränderte Kommunikationssituation: Für die Säule ist es ihr erstes Gespräch; für Marie ein Ausruhen von dem ewigen, sinnlosen Reden voller Missverständnisse, wie es exemplarisch wieder in der direkt folgenden Szene 35 deutlich wird. So hat die Säule die Asymmetrie des Sprechens und Zuhörens zugunsten einer ausgewogenen Kommunikation verändert. Dabei hat sie jedoch eine neue Asymmetrie hergestellt: Maries Wollens-Erwartung wird ja gerade durch eine Kommunikation nicht mehr erfüllt, da sie die “Dingruhe” der Säule, einen Ansprechpartner, der nicht antwortet, gesucht hat; die Wollens-Erwartung der Säule dagegen besteht in einem Gespräch. Beide möchten, als Linderung ihres Ausgestoßen-Seins aus der jeweils eigenen Welt der Menschen (a1) bzw. der Dinge (b7), die Kommunikation bzw. Nicht-Kommunikation, die das Reich des anderen charakterisiert. Deshalb können sie nicht ‘zusammenkommen’, deshalb ist hier kein erfolgreicher Austausch möglich. Trotz ihrer offensichtlichen Komik 36 hat die Situation daher auch etwas Tragisches. Beide möchten ja gerade Urlaub von ihrem ‘Mensch-Sein’ (mit ständiger “Sprecherei”; a4) bzw. ‘Ding-Sein’ (wo der Versuch, zu sprechen, offenbar “die Hölle” ist; b6). Wenn die beiden sich nicht ausgerechnet den Aspekt der Kommunikation bzw. Nicht-Kommunikation als das ausgesucht hätten, was sie an der Menschenbzw. Dingwelt am meisten interessiert, dann wäre ein erfolgreicher Austausch (kommunikativ) bzw. ein erfolgreiches Beisammensein (nicht-kommunikativ) vielleicht möglich. So jedoch ist das Scheitern unvermeidlich. Es handelt sich bei dieser kurzen Szene um eine Abwandlung der Fabel; wenn dort (wider alle Erfahrung) die Tiere sprechen können, ist es hier ein Ding. Und wie bei der Fabel lässt sich auch hier eine Moral ablesen. Wenn Marie das altertümlich-schwergewichtige Wort “Unheil” gebraucht, dann könnte man das so verstehen: Es gibt Schwellen, die nicht überschritten werden dürfen; und die Schwelle zwischen einer Welt der Nicht-Kommunikation und der Kommunikation gehört dazu. Tut man es doch, dann ist die mindeste Konsequenz die, dass die vorige Gemeinschaft der Säule mit Marie, in der jeder seiner Welt angehörte (Marie sprach; die Säule schwieg), unwiederbringlich zerstört ist. Denn wie soll Marie, die doch die Einsamkeit sucht, noch ihr Leid klagen können; war doch gerade die Voraussetzung dafür die “Dingruhe” (a6) der Säule? In diesem Sinne meint sie es wohl, wenn sie von “Unheil” spricht (a7); und auch die Säule sagt “zu spät” (b4). Wenn die Säule auch wieder schweigen würde; das Wissen darum, dass sie hören und reden kann, kann nicht mehr ausgelöscht werden. 5.3 Selbstgespräche: ein ‘Randphänomen’ Schließen wir die Analyse dieser unkonventionellen Stelle mit einer kurzen formelbezogenen Überlegung ab. Es sei t 2 der Zeitpunkt, an dem die Säule überraschend zu sprechen beginnt; weiterhin sei f 1 das Sprechen von Marie in der Nähe der Säule zu einem Zeitpunkt t 1 vor t 2 , und f 3 das Sprechen von Marie mit der Säule zu einem Zeitpunkt t 3 nach t 2 : (1) T (b,f 1 ) -I[b, E(f 1 ) G(a, T(b,f 1 ) I(b, E(f 1 ) G(a,p)))] -G[b, [E(f 1 ) G(a, T(b,f 1 ) I(b, E(f 1 ) G(a,p)))] [E(f 1 ) G(a,p)]] Martin Siefkes 110 (2) T (b,f 3 ) I[b, E(f 3 ) G(a, T(b,f 3 ) I(b, E(f 3 ) T(a,r)))] G[b, [E(f 3 ) G(a, T(b,f 3 ) I(b, E(f 3 ) G(a,r)))] [E(f 3 ) T(a,r)]] Zu (1): Da Marie, wenn a1 als exemplarisch angenommen wird, Tatsachen über ihr Leben berichtet, kann man für f 1 die Formel des Assertivs zugrundelegen; dort, wo sie über sich spricht (“Ich höre, ich weile.” (a1)), können wir die Formel des Expressivs zugrundelegen, worin der Primärprozess ein Ausdruck ist: E(f 1 ) G(a,Z(b)) Führt Marie eine Handlung durch? Betrachten wir die Formel für die Handlung: T(b,f 1 ) I(b, E(f 1 ) E(e)) Mit ihrem Sprechen ohne Zuhörer verfolgt Marie wohl kaum die Absicht, dass ein Ereignis E(e) eintritt. Zwar möchte sie sich wahrscheinlich ‘das Herz erleichtern’; doch dies betrifft keinen bestimmten äußeren Kausalprozess, wie er durch E(f) E(e) beschrieben wird. Von einer Handlung kann daher nicht gesprochen werden. Vor allem aber glaubt sie nicht, zu kommunizieren. Die Kommunikationsbedingung des Assertivs ist: [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p))] [E(f) G(a,p)] Marie glaubt zum Zeitpunkt t 1 nicht, dass sie erfüllt ist: -G[b, [E(f 1 ) G(a, T(b,f 1 ) I(b, E(f 1 ) G(a,p)))] [E(f 1 ) G(a,p)]] Zu (2): Hier als Beispiel den (zum Zeitpunkt t 1 noch nicht möglichen) Fall eines Direktivs, worin der Primärprozess ein Signal ist: E(f 3 ) T(a,r) Was tut Marie zum Zeitpunkt t 1 ? Kommuniziert sie? Sicherlich nicht. Simuliert sie eine Kommunikation? Auch das nicht, denn auch dafür ist ein Gegenüber erforderlich. 37 Tatsächlich findet auch unsere Umgangssprache keinen präzisen Ausdruck dafür, wenn Menschen ohne ein Gegenüber sprechen; wenn sie (durchaus ein literarisches Topos) den Sternen, den Bäumen oder, wie in Schuberts ‘Schöner Müllerin’, dem Bach ihr Leid klagen; oder wenn sie einfach nur mit sich selbst sprechen. Mit Abwandlungen wie unter (1) der von Posner vorgeschlagenen Formeln für die Sprechakte lässt sich ein solcher Sachbestand jedoch präzise wiedergeben. Es scheint durchaus möglich, dass dies auch für manch andere nichtkommunikative, aber kommunikationsverwandte Verhaltensweisen von Menschen gelingt. 6. Lügen und andere Unstimmigkeiten 6.1 “Belüg mich doch bitte! ” In der letzten Textstelle hatten wir es mit einer explizit fiktiven Situation zu tun. Doch auch im Bereich realen menschlichen Verhaltens gelingt es Botho Strauß immer wieder, ungewöhnliche Kommunikations-Situationen auf exemplarische Weise einzufangen. Sein Stilmittel ist dabei meistens eine Übertreibung und Zuspitzung des beobachteten Phänomens, über dessen Realitätsnähe man sich jedoch dadurch nicht täuschen lassen sollte. So auch im folgenden Falle: 38 Im Nebenzimmer läutet das Telefon. […] a1: O LAF Wer war es? b1: J ULIUS Ansgar. Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 111 a2: O LAF Und? Hat er mich grüßen lassen? b2: J ULIUS Hat er vergessen. a3: O LAF Hm. Hat mich nicht einmal grüßen lassen. Bin ich also Luft für ihn. b3: J ULIUS Nun mußt du nicht gleich wieder trübsinnig werden. a4: O LAF Warum hat er nicht ein einziges Wörtchen für mich übrig? Er weiß doch, wie sehr ich mich freue über einen kleinen Gruß, ganz nebenbei. b4: J ULIUS Er hat dich so oft grüßen lassen, und es war dir piepegal. […] a5: O LAF […] Im übrigen hättest du mich vor dieser neuerlichen Belastung bewahren können, indem du mir nämlich nichtsdestotrotz seine Grüße ausgerichtet hättest, obwohl er dir nun einmal keine aufgetragen hatte. Nur um des lieben Friedens willen, verstehst du? Es wäre eine Frage des Feingefühls gewesen. Eine Geste. b5: J ULIUS So etwas tue ich nie. a6: O LAF Das ist eben deine Art Aufrichtigkeit, die keine Rücksicht auf den Mitmenschen nimmt. Du nimmst es lieber in Kauf, dass ich eine Stimmungsniederlage erleide, anstatt mir mit einer kleinen Gefälligkeitslüge darüber hinwegzuhelfen. b6: J ULIUS Jetzt hast du es mit deinem Herumbohren in der Wunde immerhin soweit gebracht, dass, falls er wieder anruft und dir wirklich Grüße ausrichten läßt, und ich sag’s dir dann, du sowieso nicht daran glaubst und mir erklärst, ich kenn dich doch, in deinem abgrundtiefen Mißtrauen, es handle sich wohl nur um eine Gefälligkeitslüge meinerseits […] Olaf (a) verlangt in (a5) von Julius (b), ihn in bestimmten Situationen zu belügen. In diesem Fall hätte er gerne auf seine Frage in a2, ob der Anrufer ihm habe Grüße ausrichten lassen, eine bejahende Antwort gehabt. a erwartet also einen Assertiv von b, dessen Aufrichtigkeitsbedingung G(b,p) nicht erfüllt ist: -G(b,p) Einen solchen Assertiv mit nicht erfüllter Aufrichtigkeitsbedingung nennt man sinnvoller Weise Lüge. 39 a will also, dass b ihn belügt. Wie lässt sich der Sachverhalt einer Lüge formelbezogen darstellen? Zunächst noch einmal die Formel des Assertivs: (1) T (b, f) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]] b belügt a: (2) T (b, f) -G(b, p) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]] Martin Siefkes 112 Doch die Sache verhält sich ja komplizierter: A verlangt von b, ihn zu belügen. Um zu komplizierte Formeln zu vermeiden, soll der Expressiv von a, der den Wunsch, belogen zu werden, ausdrückt, mit S (a, r) ausgedrückt werden. In diese Formel können wir (2) einsetzen: (3a) S (a, r) I (a, r (Formel 2)) Setzen wir (Formel 2) ein, erhalten wir: (3b) S (a, r) I[a, r [T (b, f) -G(b, p) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]]]] Lässt sich b darauf ein, dann folgt jedoch aus dieser Formel, dass a weiß, dass b ihn belügen wird: (4a) G(a, (Formel 2)) Setzen wir (Formel 2) ein, erhalten wir: (4b) G[a, [T (b, f) G(b, p) I[b, E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] G[b, [E(f) G(a, T(b,f) I(b, E(f) G(a,p)))] [E(f) G(a,p)]]]] Aus dieser Formel ergibt sich jedoch, dass die Kommunikation nicht erfolgreich sein kann. Wenn nämlich a erkennt, dass b gar nicht p glaubt, sondern eine Lüge beabsichtigt, wird die Erfolgsbedingung E(f) G(a,p) nicht erfüllt werden: -(E(f) G(a,p)) (5) G(a, (Formel 2)) -(E(f) G(a,p)) Es ist zu beachten, dass dies nichts über a’s Glauben bezüglich p aussagt. Es könnte sein, dass er p sogar für wahr hält: G(a,p), aber trotzdem davon überzeugt ist, dass b ihn belügen will. Möglich ist auch, dass a nicht weiß, ob p nun wahr ist oder nicht: -G(a,p) -G(a, -p) Entscheidend ist hier nur, dass der Assertiv mit nicht erfüllter Aufrichtigkeitsbedingung (d.h., die Lüge) nicht erfolgreich sein kann, wie in (5) ausgedrückt. Wie gesagt, folgt (5) aus (4), und (4) aus (3). Kombinieren wir jedoch (5) mit (3), erhalten wir einen Widerspruch: (6) S (a, r) I(a, r (Formel 2)) G(a, (Formel 2)) (E(f) G(a,p)) Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 113 Der erste Teil der Formel (Zeile 1-2) drückt aus, dass a von b erwartet, ihn zu belügen, wobei zu einer solchen Lüge notwendig auch der Glaube an ihre Erfolgsaussicht gehört (Zeile 3). Zugleich ergibt sich aus Zeile 6 bereits die Erfolglosigkeit der Lüge. 6.2 Selbstbelügung Wie kann man den Widerspruch lösen? Die Konsequenz, dass sich aus dem Glauben an eine Lüge beim zu Belügenden deren Erfolglosigkeit ergibt, ist eine zwingende logische Notwendigkeit; daher müsste man a Unfähigkeit zum logischen Denken unterstellen, wenn er nicht daran glaubte, wie es die folgende Formel ausdrückt: (7) S (a, r) I(a, r (Formel 2)) -G(a, G(a, (Formel 2)) -(E(f) G(a,p))) Zeile 3 drückt jetzt aus, dass a nicht daran glaubt, dass sein eigener Glaube an die Lüge die einzig logische Konsequenz hat, nämlich die Lüge erfolglos zu machen. Wahrscheinlicher, als dass a gleich das logische Denken über Bord wirft, wie in (7) ausgedrückt, ist jedoch, dass er beabsichtigt, wieder zu vergessen, dass b ihn belügen wird. Er denkt vielleicht: Meine Forderung nach einer kleinen “Gefälligkeitslüge” (a6) dann und wann bezieht sich ja auf die Zukunft; und ich werde ja niemals sicher wissen, ob b nun gerade zur Gefälligkeitslüge greift oder nicht. Im Einzelfall werde ich gar nicht davon ausgehen können, dass ich belogen werde. (8) S (a, r) I(a, r (Formel 2)) G(a, -G(a, (Formel 2)) -G(a, -(Formel 2))) Wie wir in Zeile 3 im Vergleich mit der Formel (6) sehen, kann die Lüge so immer noch nicht erfolgreich sein, da ja a trotz allem jederzeit damit rechnen muss, belogen zu werden. Um G(a,p) zu ermöglichen, muss er schon explizit die Absicht haben, nicht an eine Lüge zu glauben, und sich im speziellen Fall einreden, dass ihn jetzt gerade der andere nicht belügt: (9) S (a, r) I(a, r (Formel 2)) I(a, -G(a, (Formel 2)) (E(f) G(a,p))) Nun bedeuten Zeile 1-2, dass a b dazu auffordert, ihn zu belügen; und Zeile 3 gibt die Absicht von b wieder, später nicht daran zu glauben, so dass die Lüge erfolgreich sein wird. Das klingt merkwürdig genug; dennoch wissen wir, dass Situationen wie die in der Textstelle beschriebene gar nicht so unrealistisch sind, wie man denken sollte (hätte der Autor nicht so einen marginalen Anlass für a’s Wunsch gewählt, würde die Stelle noch realistischer wirken). Martin Siefkes 114 Den in (9) in Zeile 3 ausgedrückten Sachverhalt kann man als “Selbstbelügung” bezeichnen. Es handelt sich um einen Spezialfall von Selbsttäuschung. Als distinktives Merkmal für die “Selbstbelügung” ist die folgende Struktur anzusehen: (10) I(a, -G(a, (Formel 2)) (E(f) G(a,p))) Dabei drückt (Formel 2) den Sachverhalt einer Lüge gegenüber a aus. Charakteristisch für die Selbstbelügung ist damit die Absicht, nicht daran zu glauben, dass man belogen wird, sondern stattdessen, soweit irgend möglich, den minimalen Propositionsgehalt p zu glauben. Da aber Glauben nicht ausschließlich vom Willen abhängt, 40 ist eine Selbstbelügung nur dann möglich, wenn man nicht explizit weiß, dass man belogen wird; diese Bedingung ist jedoch in diesem Fall gegeben, wie es sich in (8) ausdrückt. 6.3 Streit um den Kooperationsbegriff Jetzt erkennen wir, warum die Forderung von a an b, ihn zu belügen, beim Leser Schmunzeln hervorruft. Denn was man intuitiv sofort erkennt - dass nämlich a auf seine Autosuggestionskraft (9), Vertrauensseligkeit oder sogar, wie in Formel (7) dargestellt, Unfähigkeit zum Ziehen logischer Schlüsse angewiesen ist, um die Forderung an b überhaupt stellen zu können -, lässt sich nun im Detail nachvollziehen. a kann natürlich, bezogen auf den vorliegenden Fall, nichts mehr erreichen. Er benutzt jedoch die Gelegenheit, um b zum Vorwurf zu machen, seine Wollens-Erwartung (nämlich, in dieser Frage belogen zu werden) nicht erfüllt zu haben. Damit wirft er b vor, unkooperativ gewesen zu sein. Diesem Vorwurf liegen verschiedene Vorstellungen davon zugrunde, wie weit Kooperation zu gehen hat. b geht davon aus, dass a seine Wollens-Erwartung auch dann erfüllen muss, wenn diese eine Lüge enthält. Wir können vermuten, dass a nicht absichtlich unkooperativ gewesen ist; er dachte vielmehr, dass Kooperation nicht so weit geht, wie b sie definiert. Auch er ging davon aus, dass Kooperation die Erfüllung der Wollens-Erwartung des anderen bedeutet; doch er setzte die Grenze dahingehend, dass eine Lüge zur Erfüllung dieser Wollens-Erwartung nicht nötig ist, um kooperativ zu bleiben. Für den umstrittenen Sachverhalt, nämlich eine zum Zwecke der Erfüllung der Wollens- Erwartung des anderen vorgenommene Lüge, erfindet a den Begriff der “kleinen Gefälligkeitslüge” (a6); er hätte auch “kleine Kooperationslüge” dazu sagen können. (Klein bezieht sich ganz offenbar darauf, dass es sich um unwichtige Dinge wie einen Gruß handelt, der aufgetragen oder nicht aufgetragen wurde; in entscheidenden Punkten, bei denen eine Lüge erhebliche Konsequenzen haben könnte, erwartet b scheinbar keine Lüge. Auch für ihn haben die Anforderungen an die Kooperation ihre Grenzen, jedoch zieht er sie anders als a.) b sagt deutlich, dass er niemals zu einer Lüge greifen würde (“So etwas tue ich nie.” (b5)). Die Grundsätzlichkeit dieser Aussage lässt den Rückschluss zu, dass er die Lüge nicht in den Bereich der Kooperationsverpflichtungen rückt, denn dies wäre ein Argument für die Möglichkeit der Lüge. Zwar wäre es trotzdem denkbar, dass b sie prinzipiell ablehnt, er würde dann aber wohl etwas sagen wie: ‘Ich lüge grundsätzlich nicht, lieber stoße ich mein Gegenüber vor den Kopf/ lieber bin ich unkooperativ.’ Wir können daher schließen, dass b sich nicht für unkooperativ hält. a hingegen erwartet geradezu die Lüge; er macht b für seine “Stimmungsniederlage” verantwortlich (a6). Er scheint die “Gefälligkeitslüge” für ein Gebot der Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 115 Kooperation zu halten. Beide streiten sich also eigentlich über die Extension der kommunikativen Kooperation. 7. Fazit Als “kommunikative Randphänomene” habe ich zu Beginn dieser Untersuchung jene Stellen bezeichnet, mit denen ich mich auseinandersetzen wollte. Wie sich gezeigt hat, lassen sich einige dieser Situationen mit Unkooperativität erklären, auf die anderen lassen sich die Formeln des semiotischen Kommunikationsmodells in jeweils abgewandelter Form anwenden. Die vorgenommenen Abwandlungen sind in der Lage, einige jener Merkwürdigkeiten zu erklären, die in der menschlichen Kommunikation immer wieder auftreten, ja möglicherweise in ihrem vielfältigen und manchmal widersprüchlichen Wesen schon angelegt sind. Interessant ist die Frage nach der Häufigkeit solcher Phänomene, wie sie uns Botho Strauß so wunderbar zugespitzt präsentiert. Jene kommunikationsnahen Formen, bei denen die Standardformeln für die Sprechakte Deklaration, Direktiv, Assertiv, Expressiv und Kommissiv in veränderter Form angewandt werden müssen, sind möglicherweise alltäglicher als man vermuten könnte. Nur ein Beispiel zeigt dies: Eine Situation, in der ein Mensch (a) ‘laut denkt’ (sagen wir, er spricht über seine Gefühle), aber durchaus den Hintergedanken hat, dass ein anderer (b) daraus seine Schlüsse zieht, lässt sich mit der Standardformel des Expressivs eindeutig nicht korrekt wiedergeben. Schließlich beabsichtigt a gerade nicht, dass b erkennt, dass er ihm etwas mitteilen will; er möchte es vielmehr offen lassen. Ähnliches gilt für Eltern, die wissen, dass ihr Kind an der Tür horcht, und ihr Gespräch darauf einstellen. Insbesondere konnte eine Ausdrucksform für die Lüge sowie eine differenzierte Beleuchtung des Phänomens der “Selbstbelügung” gefunden werden. Ein innerer Widerspruch bei der Deklaration scheint auf ein tieferliegendes Problem dieses Sprechakts und seiner Definition hinzuweisen. Es bleibt zu hoffen, dass die zugleich poetische und treffsichere Phantasie und die realistische Eleganz von Botho Strauß bei der formelreichen analytischen Annäherung nicht auf der Strecke geblieben sind. Zwar kann die Analyse mit Hilfe der semiotischen Kommunikationstheorie, wie sie hier exemplarisch gezeigt wurde, nur spezifische Dialogphänomene erfassen; in diesem Bereich erbringt sie jedoch lohnende Ergebnisse, da sie die genaue Struktur und Funktionsweise der getätigten Kommunikation offen legt. Bei einem Autor wie Botho Strauß, für dessen Stücke Unkooperativität und andere “kommunikative Randphänomene” charakteristisch sind, ist die Analyse dieser Phänomene mehr als nur eine Spielerei: Sie zeigt uns, auf welche Art der Autor die spezifischen Wirkungen an bestimmten Dialogstellen erzeugt, welche Mechanismen dabei wirken, und welche Abweichungen von den ‘normalen’ Formen der Kommunikation uns präsentiert werden. Genau diese Abweichungen sind es jedoch, die die Stücke von Botho Strauß so eindrucksvoll machen. Sie werden in einer Dichte und analytischen Zuspitzung präsentiert, in der sie uns sonst nicht begegnen. Daher kann die semiotische Kommunikationstheorie tatsächlich eine Antwort auf die spannende Frage geben, warum wir ins Theater gehen, um uns etwas vorführen zu lassen, was uns im Alltag doch schon beständig umgibt: nämlich Kommunikation! Die semiotische Kommunikationstheorie bewährt sich damit zugleich als eine literaturwissenschaftliche Methode, die beanspruchen kann, neben andere solche Methoden (wie Strukturalismus, Psychoanalyse, Dekonstruktion, feministische oder postkoloniale Literaturanalyse) gestellt zu werden. Martin Siefkes 116 Anmerkungen 1 Posner 1994. Dies ist eine gekürzte deutsche Fassung von Posner 1993, welche jedoch die für die vorliegende Arbeit wesentlichen Teile vollständig enthält. Mit kleineren Korrekturen ist sie erneut erschienen als Posner 1996. 2 Arielli 2005. 3 Strauß 1991. 4 Faber 1994. 5 Strauß 1991: 323. 6 Siehe hierzu und zu dem folgenden: Arielli 2005: Abschnitt 5.2.2; 143ff. 7 Arielli zufolge (Arielli 2005: Abschnitt 5.2.2., insbesondere 5.2.2.1) ist für die Kategorie der Nichtbeachtung entscheidend, dass b das Kommunikationsziel von a gleichgültig ist, während bei der Sabotierung eine absichtliche Durchkreuzung vorliegt. Damit würde er hier vermutlich von ‘Sabotierung’ sprechen; ist doch aus dem weiteren Verlauf des Gesprächs eindeutig genug entnehmbar, dass b gezielt versucht, sich vor dem Gespräch über die Gefühle von a zu drücken, welches sie beabsichtigt (siehe Abschnitt 2.2). Im Gegensatz zu Arielli bevorzuge ich eine ‘externe’ Deutung, die darauf verzichtet, die wahre Absicht des Sprechers herauszufinden, und sich auf die Wirkung der Kommunikation bezieht. Deshalb spreche ich hier von ‘Nichtbeachtung’, da dem Sprecher a zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachzuweisen ist, dass er gezielt vorgeht. Die Vorteile dieser Abwandlung bei einer interpretierenden Anwendung der Theorie liegen auf der Hand. Die bei Arielli verwendeten Formeln, z.B. für die Nichtbeachtung: T(b, f) I(b, E(g)) G(b, W(a, T(b, h))) -(E(f) E(h)), sind natürlich unverändert gültig; allerdings wären sie nicht im Sinne einer inneren Realität der Gesprächspartnern, sondern im Sinne der durch einen aufmerksamen Zuhörer zum Zeitpunkt des Sprechens feststellbaren Wirkung zu verstehen. Damit entkommt man dem Dilemma, Aussagen über den inneren Zustand einer Person machen zu müssen, der weder von außen noch von der Person selbst definitiv festgestellt werden kann; Aussagen, die sich im übrigen noch sehr viel später als falsch erweisen können, was aber für eine Analyse der Kommunikation keine Relevanz hat. Zur schlüssigen Analyse eines Gesprächs reicht es aus, die Wirkung einer Aussage zu demjenigen Zeitpunkt zu analysieren, an dem der Gesprächspartner eine Antwort darauf gibt. 8 Rückwirkend können wir zwar darauf schließen, dass er diese Strategie auch schon bei den ersten drei ‘turns’ angewendet hat; doch sinnvoller Weise sollte man sich (wie oben angemerkt) auf die Wirkung konzentrieren. Andernfalls könnte man niemals sicher vor rückwirkenden Schlüssen auf den inneren Zustand der Person sein, der jede endgültige Analyse unmöglich machen würde. Daher ist es sinnvoll, bei b1-b3 von Nichtbeachtung zu sprechen. 9 Könnten wir statt von gesellschaftlicher Unkooperativität auch von ‘formaler Kooperation’ (siehe Abschnitt 2.1.1) sprechen? Beide Phänomene haben gemeinsam, dass sie auf der Oberfläche kooperativ erscheinen. Doch die ‘formale Kooperation’ ist eine Erscheinung kommunikativer Unkooperativität, wie oben am Beispiel von b1/ b2 gezeigt werden konnte, wobei es sich um ‘Nichtbeachtung durch Ausbeutung’ handelte. Gesellschaftliche Unkooperativität dagegen ist kommunikativ kooperativ. In b8 lässt sich der Mann durchaus auf die Aussage der Frau ein; mit “Seltsam” macht er deutlich, dass er diese zur Kenntnis nimmt. Trotzdem wird die Bemerkung im Zusammenhang als Teil seiner Strategie zur Durchkreuzung ihres Kommunikationsziels deutlich; daher macht die Bezeichnung als ‘gesellschaftlich unkooperativ’ Sinn. 10 Strauß 1991: 324. 11 Warum muss er dann überhaupt darauf eingehen? Er muss es, weil er sonst der Frau eine wunderbare Möglichkeit offen ließe, ihn weiter zu piesacken: Sie könnte so tun, als ob er ihre Implikation aus gutem Grund überhört hätte, und weiter auf ihrer ‘Interpretation’ seiner ersten Aussage bestehen - obwohl beide wüssten, dass es nicht der Fall ist! Es handelt sich dann um eine reine ‘Als ob’-Kommunikation (Arielli 2005: Abschnitt 6.1.3.2; 172ff). Dass sie möglich ist, verweist darauf, dass die Oberfläche einer Kommunikation unter Umständen unabhängig von den geglaubten Tatsachen beider Teilnehmer sein kann, so wie sich beispielsweise in einem Abenteuerspiel beide Teilnehmer so verhalten, als ob man reale Waffen verwendete. Was im letzteren Falle eine Regel zu nennen ist, kann bei gewöhnlichen Gesprächen als Konvention bezeichnet werden: Es ist zwar möglich, einfach zu sagen: “Hör mal, wir beide wissen doch, dass du meine Aussage absichtlich falsch interpretiert hast.” Wie im Falle des Spiels ist dieser ‘Sprung auf die Metaebene’ notwendig, und dieser führt nur dann nicht zu einem Abbruch der Kommunikation, wenn beide Partner ihn gleichzeitig vollziehen. In bestimmten Gesprächen (z.B. Beziehungsgesprächen) kann geradezu ein Kampf darum entbrennen, ob der Sprung auf die Metaebene vollzogen wird oder nicht; so könnte sich Marie, wenn der Mann entsprechend reagieren würde, weigern, ihre ungerechtfertigte Interpretation seiner ersten Aussage als solche anzuerkennen, obwohl etwa beide Unkooperativität und andere kommunikative Randphänomene 117 wissen, dass sie in Stresssituationen öfters dieses Mittel anwendet. Man sieht daran auch die reale Schutzfunktion der Indirektheit der Kommunikation: Würde alles immer so gesagt, wie es gemeint ist und durchaus auch verstanden werden soll, fiele die Möglichkeit weg, bei Bedarf abzuleugnen, dass es diese tiefere Ebene überhaupt gab. So kann z.B. jemand, der eine Geschichte über sich selbst mit den Worten “Ich kenne jemanden, dem ist folgendes passiert” eröffnet, jederzeit noch ableugnen, dass es sich um ihn handelt - sogar wenn dies für beide offensichtlich ist und die Fiktion auch vom Erzähler als durchschaubar gedacht wurde. 12 Strauß 1991: 329. 13 Posner 1994 und 1996. 14 T ist ein zweistelliger Prädikator, dessen erstes Argument ein Verhaltenssystem ist, das die intentionalen Zustände ‘Glauben’ (G) und ‘Intendieren’ (I) realisieren kann, dessen zweites Argument eine Handlung ist und der die Durchführung der Handlung durch das Verhaltenssystem bezeichnet. I ist ein zweistelliger Operator, dessen erstes Argument ein Verhaltenssystem und dessen zweites eine Proposition ist und der die Absicht des Verhaltenssystems bezeichnet, die Proposition zu verwirklichen. (Posner 1996: 1661.) In diesem Fall ist die Proposition ein Kausalprozess, der in allgemeiner Form durch die Formel E(f) E(e) beschrieben werden kann (Posner 1996: 1660) und dessen Wirkung wiederum in der Durchführung einer Handlung durch ein Verhaltenssystem besteht. 15 Strauß 1991: 325. 16 Arielli 2005: 5.2.2.2; 148ff. 17 Posner 1996: Abb. 2 (1666), Stufe 2b com / Spalte III. Eckige Klammern werden hier gleichbedeutend mit runden Klammern verwendet; sie sollen einer größeren Übersichtlichkeit dienen. Daher werden nur bei starker Klammerschachtelung die äußeren Ebenen der Klammerung mit eckigen Klammern vorgenommen. 18 In dieser Erläuterung und auch später im Text wird der Inhalt der Formeln gerafft wiedergegeben und damit der Alltagssprache soweit angenähert, dass er leichter verständlich ist. Man sollte das Besprochene jedoch anhand der Formeln nachvollziehen. Dies geht am einfachsten, wenn man für die verwendeten Prädikatoren und Operatoren je eine sprachliche Umschreibung präsent hat. Im folgenden sei eine Lesehilfe für die Bestandteile der Formel (3) in der Reihenfolge ihres Auftretens gegeben: “T(b,f)” - ‘b tut f’; “ ” - ‘und’; “I(b, …)” - ‘b hat die Absicht (Intention), dass …’; “E(f) …” - ‘das Eintreten des Ereignisses f führt zu …’; “G(a, …” - ‘a glaubt, dass …’. Die ganze Formel (3) liest sich somit als: ‘b tut f und b hat die Absicht, dass das Eintreten von f dazu führt, dass a glaubt, dass b f tut und dass b die Absicht hat, dass das Eintreten von f dazu führt, dass a die Proposition p glaubt. Außerdem glaubt b, dass der (in Klammern stehende) Sachverhalt, (dass das Eintreten von f dazu führt, dass a glaubt, dass b f tut und dass b die Absicht hat, dass das Eintreten von f dazu führt, dass a die Proposition p glaubt), dazu führt, dass das Eintreten von f [auch tatsächlich] dazu führt, dass a die Proposition p glaubt.’ Das sprachliche Element “auch tatsächlich” ist nicht in der Formel repräsentiert, kann aber verwendet werden, um die in der Kommunikationsbedingung ausgedrückte ‘Ebenenreduktion’ zu verdeutlichen, bei der ein Ereignis einen Glauben betreffend seinen Verursacher und dessen Absichten verursacht und gerade dadurch diese Absichten Realität werden lässt. Nach demselben Prinzip können auch die später verwendeten Formeln gelesen werden. 19 Vgl. die Herleitung der Formel des Direktivs in Posner 1996: 1671f, aus der sich durch Einsetzen von G(a,p) für die drei Vorkommen von T(a,r) die Formel des Assertivs ergibt (vgl. Posner 1996: Abb. 2 (1666), Zeile 2b com / Spalten II und III). 20 Entsprechend der Verwendung des Begriffs “Simulation” in Posner 1996: Abb. 2 (1666), Stufe 2b. 21 Posner 1996: Abb. 3 (1678), Zeile 12/ Spalte III. 22 Posner 1996: 1673 und 1681f, Punkt (12). 23 Entsprechend der Verwendung des Begriffs “Manipulation” in Posner 1996: Abb. 2 (1666), Stufe 1b. 24 Posner 1996: 1673. 25 Posner 1996: 1672. 26 Posner 1996: Abb. 3 (1678), Zeile 9/ Spalte I. 27 Posner 1996: Abb. 3 (1678), Zeile 12/ Spalte I. 28 Posner 1996: Abb. 2 (1666), Zeile 2b com / Spalte I. 29 Posner 1996: Abb. 2 (1666), Stufe 2b. 30 Strauß 1991: 328. 31 Posner 1996: 1672. 32 Strauß 1991: 341f. 33 Strauß 1991: 324f. Martin Siefkes 118 34 a1 verweist auf Maries Einsamkeit inmitten der geschäftigen Stadt, die in ihrer Betriebsamkeit und Komplexität für die Gemeinschaft der Menschen steht; in b7 spricht die Säule über ihre Verstoßung aus dem “Herzen der Dinge”, was möglicherweise auf ihre Sprechversuche (b6) zurückzuführen ist, aber natürlich auch deren Anlass gewesen sein könnte. 35 Strauß 1991: 342ff. 36 Bei einer Aufführung des Stücks, die ich im Sommer 2002 erlebte, wurde in dem an Humor nicht armen Stück gerade hier besonders gelacht. 37 Posner 1996 (1666): Abb. 2, Stufe 2b. 38 Strauß 1991: 352f. 39 Deklaration und Direktiv besitzen keine Primärbotschaft und damit auch keine Aufrichtigkeitsbedingung, da letztere ja darin besteht, dass der Sender die Primärbotschaft glaubt (d.h., für wahr hält). Ab der Ebene des Assertivs sind Lügen möglich; Expressiv und Kommissiv sind ja in der Tat auch als Spezialfälle des Assertivs anzusehen. (Posner 1996: Abb. 3 (1678)) 40 Menschen, die sich mit religiösen Fragen beschäftigt haben, werden dies häufig bestätigen. Literaturverzeichnis Arielli, Emanuele (2005): Unkooperative Kommunikation. Eine handlungstheoretische Untersuchung. Münster: Lit. Zugl.: Diss., Technische Universität Berlin, 2002. Faber, Marlene (1994): Stilisierung und Collage. Sprachpragmatische Untersuchung zum dramatischen Werk von Botho Strauß. Frankfurt a.M. u.a.: Lang. Posner, Roland (1993): “Believing, Causing, Intending: The Basis for a Hierarchy of Sign Concepts in the Reconstruction of Communication”. In: René J. Jorna, Barend van Heusden und Roland Posner (Hg.): Signs, Search and Communication. Semiotic Aspects of Artificial Intelligence. Berlin u.a.: de Gruyter. 215-270. Posner, Roland (1994): “Zur Genese von Kommunikation - Semiotische Grundlagen”. In: Karl-Friedrich Wessel und Frank Naumann (Hg.): Kommunikation und Humanontogenese. Bielefeld: Kleine. 384-429. Posner, Roland (1996): “Sprachphilosophie und Semiotik”. In: Marcelo Dascal u.a. (Hg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin u.a.: Walter de Gruyter. 1658-1685. Strauß, Botho (1991): “Die Zeit und das Zimmer”. In: Theaterstücke. Bd. II. München u.a.: Hanser. 319-357. Rotes Blut und rote Blüten Vergewaltigung und Lustmord im Spiegel der Lyrik * Dagmar Schmauks Gedichte geben beliebige Erfahrungen und Vorstellungen in kondensiertester Form wieder. Es liegt also nahe, dass manche auch Straftaten aus der Perspektive von Täter, Opfer oder Zeuge darstellen. Dieser Artikel konzentriert sich auf ein bestimmtes Thema, nämlich auf Vergewaltigungen und Lustmorde im Spiegel der Lyrik. Eine Sichtung einschlägiger Beispiele ergibt, dass dichterische Darstellungen solcher Sexualdelikte im Laufe der Zeit immer expliziter geworden sind. Goethe bemüht in seinem “Heideröslein” die Metapher des Blumenpflückens, während die Autoren des 20. Jahrhunderts auf solche Beschönigungen verzichten. Beabsichtigt ist keine umfassende literaturhistorische Aufarbeitung des Sexualdelikt-Motivs, sondern eine kursorische Bestandsaufnahme anhand einiger einprägsamer Beispiele von der Antike bis heute. Ein interessantes Motiv quer durch alle Epochen hierbei ist die Beziehung der weiblichen Opfer zu Pflanzen, insbesondere zu roten Blüten. Bei Ovid werden sexuell bedrängte Nymphen (Daphne, Syrinx) in Pflanzen verwandelt, in der Moritat ist der Wald ein beliebter Ort der Schändung, und auch das Heideröslein klingt noch einmal zynisch an, wenn in Nick Caves Ballade “Where the wild roses grow” der Mörder seinem toten Opfer eine scharlachrote Rose zwischen die Zähne steckt. 1. Einleitung Dieser Artikel versucht, Literaturwissenschaft und Kriminologie zu verknüpfen, die als weit voneinander entfernte Wissenschaften gelten. Als Brückenwissenschaft zwischen ihnen dient die Semiotik, die in allen Einzeldisziplinen ähnlich strukturierte Zeichenprozesse nachweisen kann. Da nämlich Gedichte beliebige Erfahrungen und Vorstellungen wiedergeben, gibt es auch lyrische Darstellungen von Gewalttaten, die man zum Wissensbestand der Kriminologie in Beziehung setzen kann. Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich auf Vergewaltigung und Lustmord in der Konstellation <männlicher Täter/ weibliches Opfer>. Sexualdelikte von Täterinnen bleiben also ebenso ausgeklammert wie die von homosexuellen Tätern. Gewalt in den Medien ist natürlich kein Problem der Moderne. Auch die Bibel, die Odyssee, die Sagen und Märchen aller Völker stellen das ganze Spektrum zwischenmenschlicher Gewalt mitunter sehr drastisch dar. Auf die Frage, warum so viele Menschen gerne gewalttätige Texte, Bilder und Filme rezipieren, liefert die Psychologie zahlreiche einander ergänzende Antworten. Zum Beispiel lässt sich die eigene Angst vor realer Gewalt und realem Sterben im “beschützten” Raum der medialen Darstellung gut aushalten und vielleicht sogar mildern. Dies gilt in verstärktem Maße für ehemalige Opfer realer Gewalt, die gewalttätige Texte zur Selbsttherapie benutzen können. Im Unterschied zum Ausgeliefertsein gegenüber der realen Tat und späteren automatischen Erinnerungen (“Flashbacks”) ist Lesen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 120 nämlich ein weitgehend selbstbestimmter Prozess, bei dem man Szenen überblättern oder sie (im Sinne einer Desensibilisierung) so oft lesen kann, bis sie ihr angstauslösendes Potential verlieren. Zahlreiche Untersuchungen beschäftigen sich mit der Beziehung medialer und realer Gewalt. Vor allem im Hinblick auf Jugendschutz-Fragen wird das Thema “Gewalt in den Medien” sehr kontrovers diskutiert. Allgemeingültige Resultate sind schon darum schwer zu gewinnen, weil grundlegende Begriffe unterschiedlich definiert werden. So wird “Aggression” in der Psychologie oft neutral definiert (= zupackendes Verhalten), in der Mediendiskussion hingegen rein negativ (= zerstörerisches Verhalten). Die Grundfrage ist, wie sich die Rezeption von medialer Gewalt auf das reale Handeln auswirkt, wobei zu beachten ist, dass es hier um Vergewaltigung und Lustmord geht und nicht um typische Jugenddelikte wie Vandalismus oder Ladendiebstahl. Einige grundlegende Thesen sind: • Katharsisthese: Gewaltdarstellungen leiten aggressive Impulse in sozial unschädlicher Weise ab, • Habitualisierungsthese: die häufige Rezeption von Gewalt stumpft ab und erhöht die eigene Gewaltbereitschaft und • Imitationsthese: durch Medienkonsum werden vor allem aggressive Verhaltensweisen gelernt, da sie häufiger gezeigt werden als nicht-aggressive. Als derzeitiges Fazit darf gelten, dass der Konsum gewalttätiger Darstellungen (Texte, Bilder, Filme, Computerspiele) nicht monokausal und zwangsläufig zu entsprechenden Handlungen führt. Rezipierte Gewalt scheint nur dann zu ähnlichen realen Taten aufzustacheln, wenn sie auf bereits bestehende Bedürfnisse trifft. Für biographisch vorgeschädigte Rezipienten, die erbliche Defizite aufweisen oder in der Kindheit vernachlässigt wurden, kann ein Text zur Keimzelle eines Tatskripts werden, das sie zum Handeln aufreizt. Wenn die erste Tat erfolgreich war, also etwa einen Zuwachs an Selbstwertgefühl bewirkt hat, kommt es zu neuen Taten unter Verfeinerung des Ausgangsskripts (zur typischen Biographie von Serienmördern siehe Robertz 2004a: 26ff). Analog hat auch die Produktion gewalttätiger Beschreibungen zahlreiche Motive. Man kann dem Autor eines Kriminalromans kaum unterstellen, er würde im Text sublimieren, was er sich real zwar wünscht aber nicht zu tun wagt. In seltenen Fällen kann es natürlich vorkommen, dass jemand in Texten spätere Taten einübt. Wer hingegen die These vertritt, man könne nur solche Taten überzeugend darstellen, die man selbst begehen möchte, behauptet zugleich, unsere großen Dichter seien in ihrem Herzen alle Mörder, Frauenschänder oder Brandstifter gewesen. Die Beziehungen zwischen der Darstellung gewalttätiger Sujets und eigenen Phantasien oder gar Handlungen sind sicherlich wesentlich komplexer. Es lassen sich nämlich auch ganz andere Antriebe finden, etwa dass es einen Autor im Gegenteil reizt, sich in eine Person einzufühlen, deren psychische Struktur ihm gänzlich fremd ist. Im Zentrum dieses Artikels steht nicht die psychologische Frage “Warum stellt der Autor ein Sexualdelikt dar? ”, sondern eine Reihe eng verflochtener Fragen, die durchaus beantwortbar sind: • Wessen Perspektive übernimmt der Autor (Täter, Opfer, Zeuge)? • Ist die Darstellung (für Laien/ für Kriminologen) psychologisch schlüssig? • Welche sprachlichen Mittel werden eingesetzt (realistische vs. verblümte Sprache usw.)? Rotes Blut und rote Blüten 121 Nachgeschaltete Interpretationsebenen werden nicht berücksichtigt, etwa die vielen Arbeiten, die das Tun von (Serien-)Mördern mit dem Tun von Wissenschaftlern oder Künstlern vergleichen, die ein lebendiges Ganzes durch ihren analytischen Blick zerstückeln (exemplarisch etwa Bronfen, Büsser und Hoffmann-Curtius). Zu beachten ist, dass Termini wie “Vergewaltigung” und “Lustmord” kultur- und epochenspezifisch definiert werden (zur kulturellen Konstruktion von Sexualdelikten siehe insbesondere Lamott 1999, Lindner 1999 und Schetsche 2004). In der römischen Antike etwa war der erzwungene Koitus mit eigenen Sklavinnen keiner Erwähnung wert und der mit fremden Sklavinnen lediglich Sachbeschädigung (falls sie wegen Verletzung oder Schwangerschaft als Arbeitskräfte ausfielen, musste der Verursacher den Schaden ersetzen). Im Krieg ist die Vergewaltigung “feindlicher” Frauen bis heute ein geläufiges Mittel, sie und ihre Partner zu demütigen. Und die “Vergewaltigung in der Ehe” wurde erst 1997 strafbar (Strafgesetzbuch § 177). Bereits beim Aufspüren einschlägiger Gedichte stellte sich heraus, dass in ihnen oft Blumen auftreten, die doch in der Alltagsvorstellung als die unschuldigsten aller Lebewesen gelten. Weil diese enge Beziehung der weiblichen Opfer zu Pflanzen ein epochenübergreifendes Detail der Darstellung ist, werden zunächst in Abschnitt 2 grundlegende Facetten der Beziehung zwischen Menschen und Pflanzen skizziert. Die anschließenden Abschnitte analysieren in chronologischer Reihenfolge einige Gedichtkomplexe zu Vergewaltigung und Lustmord. Sie beginnen in der Antike mit Ovids Metamorphosen (Abschnitt 3) und schreiten fort über Goethes “Heideröslein” vs. “Gefunden” (Abschnitt 4) und einem Exkurs in die Moritat (Abschnitt 5) bis ins 20. Jahrhundert (Abschnitt 6). Abschnitt 7 skizziert einige Verflechtungen von Schönheit, Gewalt und Tod, und ein Fazit in Abschnitt 8 rundet die Darstellung ab. 2. Rote Blüten zwischen Liebe und Tod Menschen haben zu Pflanzen vielfältige und widersprüchliche Beziehungen. In großen Dimensionen werden Pflanzen vernichtet, in kleinen gehegt. Sie gelten als fast leblos oder als Urbild des Lebens, als Zeichen für schnelles Verblühen oder ewiges Wachstum. Die heiligen Bäume der Vorzeit wurden durch das gegenwärtige Waldsterben zu Zeichen des bedrohten Lebens. Schmauks (1997) erarbeitet eine durch Krampen (1994) inspirierte und auf Peirce basierende Typologie, die Umgangsweisen mit Pflanzen nach ihrer Zeichenfunktion gliedert. Pflanzen können die Tageszeit, Jahreszeit oder Himmelsrichtung angeben, Erinnerungen wecken oder zu Handlungen auffordern. Wenn man ihnen stereotyp bestimmte Eigenschaften zuschreibt, entsteht eine Pflanzensymbolik mit “stolzen Rosen” und “bescheidenen Veilchen”. Im Folgenden wird sich immer wieder zeigen, wie eng die Beziehungen zwischen Blumen und Frauen sind. So hat die jungfräuliche römische Göttin Flora (“die Blühende”), die den Frühling bringt und immer zusammen mit Blumen dargestellt wird, dem ganzen Pflanzenreich ihren Namen gegeben. Im Zentrum dieser Arbeit steht ein sehr spezielles Pflanzensymbol, nämlich die blutrote Rose im Zusammenhang mit Verbrechen. Als Bewohner einer mit Bildern überfluteten Welt machen wir uns selten klar, wie “wenig bunt” und insbesondere “arm an Rot” die meisten Naturlandschaften sind. Blauer Himmel, grüne Pflanzen und gelb-braune Erde, aber nur selten das fokale Rot, das wir von den visuellen Medien gewohnt sind. Da Rot wegen seiner Seltenheit einen hohen Aufmerksamkeitswert hat, wird “rot” nach “schwarz” und “weiß” in Dagmar Schmauks 122 allen Sprachen als dritte Farbe kodiert (vgl. Berlin und Kay 1969). In der Welt des Unbelebten sind nur wenige Dinge rot, etwa einige Kristalle (“rubinrot”) und vor allem das Feuer, das als heimeliges Herdfeuer mit Leben, als rasender Waldbrand mit Vernichtung assoziiert wird. Und auch das flammende Rot eines Sonnenuntergangs ist physikalisch gesehen nur die durch die irdische Atmosphäre erträglich gemachte Sonnenglut. Die meisten roten Dinge jedoch sind organischer Art. Ein paar verlockende Beispiele listet René Carol in seinem Schlager “Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein” auf, der 1952 eine Goldene Schallplatte erhielt. Im Tierreich sind nur wenige Arten (etwa Marienkäfer) und tierische Produkte rot (“korallenrot”, “purpurrot”), hingegen weisen viele Blüten und Früchte das prototypische Rot auf. Dies belegen zahlreiche Farbadjektive wie “mohn-“, “himbeer-“, “kirsch-“, “tomaten-“ und auch “weinrot”. Selbst bei “rosenrot” denken wir spontan an das fokale Rot, obwohl Wildrosen eher rosa (! ) sind und Zuchtrosen in allen Rottönen sowie in Weiß und Gelb vorkommen. Beim Menschen sind rote Haare vergleichsweise selten (Deutschland: unter 2%) und ambivalent besetzt, insbesondere gelten rothaarige Frauen oft als Hexe oder Femme fatale. Die extremsten Emotionen aber löst das rote Blut aus, das wir meist nur indirekt zu sehen bekommen. Bei manchen Krankheiten (“scharlachrot”) und bei heftigen Gefühlen (“rot vor Wut”, “schamrot”) errötet die (Gesichts-)Haut, was bei hellhäutigen Menschen besonders auffällt. Da auch sexuelle Erregung zum Erröten führt, hat der Ausdruck “flammende Liebe” eine handfeste physiologische Basis. Wenn man in der Stammesgeschichte noch weiter zurückgeht, kann man rote Blumen als Liebesgruß sogar bis zu der in der Brunst geröteten Genitalregion vieler Säugetierweibchen zurückverfolgen. Das Blut selbst wird mit Gefahr und Tod assoziiert, da es nur bei Verletzungen und der tabubelasteten Menstruation sichtbar wird. Dies gilt in verstärktem Maße für das leuchtend rote arterielle Blut als Anzeichen lebensbedrohlicher Verletzungen. Aus diesem Grund erinnert in der katholischen Kirche das “Kardinalsrot” an das vergossene Blut der Märtyrer. Eine Besonderheit des Menschen ist ferner das Blutvergießen bei der Entjungferung. Es entsteht durch eine merkwürdige Asymmetrie in der Topologie der Geschlechter, die dazu führt, dass der erste Koitus nur bei der Frau irreversible körperliche Spuren hinterlässt - und nur bei ihr als Ehrverlust gelten kann, vgl. die Moritaten in Abschnitt 5. In Gedichten und anderen Darstellungen wird folglich die Farbe Rot außerordentlich ambivalent besetzt, sie steht einerseits für glühende Liebe und gesteigertes Leben, andererseits für Gefahr, Gewalt und Tod. Und in beiden Fällen treten blutrote Blüten als vermittelnde Symbole auf. “Blut” und “Blüten” - die Sprache macht hier pseudo-etymologische Scherze. Die griechische Mythologie leitet das typische “Rosenrot” explizit vom Blut ab. Aphrodite, die Göttin der Liebe, wird zusammen mit weißen Rosen aus dem Schaum des Meeres geboren. Später wird ihr Geliebter Adonis (vgl. Abschnitt 3) während einer Jagd von einem rasenden Keiler getötet (der vielleicht der verkleidete Kriegsgott Ares ist, ein eifersüchtiger weiterer Geliebter). Auf dem Weg zum sterbenden Adonis tritt Aphrodite in die Dornen der Rosen und ihr Blut färbt die Blüten rot - darum symbolisieren weiße Rosen reine Liebe und rote Rosen verhängnisvolle Leidenschaft. Oskar Wilde greift dieses antike Motiv in seinem Kunstmärchen “Die Nachtigall und die Rose” ironisch gebrochen wieder auf. In ihm presst eine Nachtigall absichtlich einen Dorn in ihr Herz, um eine Rosenblüte rot zu färben. Sie will damit einem Studenten helfen, seine Liebste zu erobern, aber diese zieht ihm nach dem Opfertod der Nachtigall einen Kammerdiener vor, der ihr Juwelen schenkt. Auch Friedrich Hebbel verknüpft rote Rosen in seinem Gedicht “Sommerbild” mit Blut und Tod: Rotes Blut und rote Blüten 123 Ich sah des Sommers letzte Rose stehn, Sie war, als ob sie bluten könne, rot; Da sprach ich schauernd im Vorübergehn: So weit im Leben ist zu nah am Tod! In den folgenden Abschnitten geht es schwerpunktmäßig um den Zusammenhang zwischen Blumen und den weiblichen Opfern von Sexualdelikten. Aber Blumen können auch bei anderen Straftaten eine ganz reale Rolle spielen. So tritt in der Ballade “Die Tulipan” (Lulu von Strauß und Torney) die titelgebende Tulpe als stumme Zeugin eines Raubmordes auf. Der Kern der Geschichte ist schnell erzählt: Auf der Walz erzählt ein Gärtnergeselle einem Schmiedegesellen leichtsinnig von seinen Ersparnissen und wird daraufhin von diesem erschlagen, beraubt und verscharrt. Allerdings übersieht der Täter die kostbare Tulpenzwiebel, die sein Opfer im Tod umkrallt. Im nächsten Frühling entfaltet sich eine unbekannte - blutrote! - Blüte: Draußen am Straßenrande wacht heimlich Leben auf: Es hebt sich ein grüner Finger aus dürrem Laub herauf, Der Finger reckt sich höher, wie wenn er droht, Es bricht aus seiner Spitze ein dunkeltiefes Rot! Die Dorfbewohner sehen in der Blume ein böses Omen, aber der Pfarrer lässt sie vom Sohn des Messners für seinen Garten ausgraben. Die furchtbare Entdeckung des Jungen ist der Höhepunkt der Ballade: Er kommt im letzten Abendschein schreiend heimgerannt: “Es wächst die Blume Tulipan aus einer Knochenhand! ” Die Leiche des Opfers wird ausgegraben und bestattet, der Täter verrät sich selbst und wird enthauptet, der Raubmord ist also gerächt. Was hier schicksalhaft zur Aufdeckung der Tat führt, ist die Neuheit der Pflanze, die im Boden überlebte. Ja, es ist sogar ihr unbeabsichtigtes Vergraben, das ihr Weiterleben erst möglich machte. Diese zyklische Lebensform von Pflanzen machte sie im Christentum zum Symbol der Hoffnung auf Auferstehung. 3. Ovids Metamorphosen Ovids Metamorphosen sind ein frühes Beispiel von Lyrik, die auch arglistige Verführungen und (versuchte) Vergewaltigungen beschreibt. Manchmal ist es der Täter, der seine Gestalt in täuschender Absicht wechselt. So verführt Jupiter zahlreiche Frauen in Verkleidung: Leda als Schwan, Danae als goldener Regen, Antiope als Satyr und Europa als Stier. Im umgekehrten Fall wird das Opfer durch eine Verwandlung gerettet. Die Struktur dieser Erzählungen ist sehr stereotyp, es wird jeweils eine bedrängte Nymphe oder Frau auf ihr Flehen hin in etwas verwandelt, das im Verfolger keine Begierde mehr auslöst. In manchen Erzählungen ist das “Zielobjekt” der Verwandlung ein Tier. Philomela etwa wird von ihrem Schwager Tereus vergewaltigt und zum Schweigen gebracht, indem er ihr die Zunge abschneidet. Während Tereus sie als Lustsklavin hält, webt Philomela das Geschehen in ein Tuch und lässt es ihrer Schwester Prokne bringen, die die Botschaft entziffert. Als Rache schlachten die Schwestern Proknes Sohn Itys und setzen ihn seinem Vater als Speise vor. Als Tereus dies erkennt und die Frauen töten will, verwandeln sich alle drei in Vögel, und zwar Tereus in einen Wiedehopf (mit spitzem Schnabel und blutroten Flecken auf dem Dagmar Schmauks 124 Gefieder), Prokne in eine immerfort klagende Nachtigall und Philomela in eine stammelnd zwitschernde Schwalbe (manchmal werden die Vögel den Schwestern auch umgekehrt zugeordnet). In den bekanntesten Metamorphosen Ovids jedoch werden die Frauen in Pflanzen verwandelt. So wird die Baumnymphe Daphne von Apoll verfolgt, fleht die Götter um Beistand an und wird in einen Lorbeerbaum verwandelt. Ganz ähnlich wird die Naiade Syrinx von Pan verfolgt und von ihren Schwestern in ein Schilfrohr verwandelt - woraufhin Pans Seufzen das Schilf zum Tönen bringt und ihn zur Panflöte inspiriert. Myrrha wird wegen einer Ritualverletzung von Aphrodite dazu verdammt, ihren eigenen Vater Kinyras zu begehren und verführt ihn durch eine List. Nach Erkennen des von ihm nicht gewollten Inzests verfolgt Kinyras die schwangere Myrrha solange, bis Zeus sie in einen Myrrhenbaum verwandelt. Dieser gebärt den Adonis (vgl. Abschnitt 2), dessen Blutstropfen später auch Pflanzen werden, nämlich Adonisröschen (volkstümlich auch “Blutströpfchen” oder “Teufelsauge”). Zu beachten ist jeweils der Doppelaspekt der Verwandlung, denn das weibliche Wesen in seiner bisherigen Gestalt hört zwar auf zu existieren, wird aber als verwandeltes gerettet. Interessanterweise entstehen bei diesen Verwandlungen keine “typischen” Blütenpflanzen, sondern immergrüne Gewächse mit unscheinbaren Blüten. An Stelle der Betörung durch sichtbare Schönheit sind aber jeweils andere Merkmale getreten, durch die die Pflanze wertvoll wird: Aus dem immergrünen Lorbeer werden Siegeskränze gewunden, das Schilfrohr erzeugt als Panflöte anrührende Klänge, und das kostbare Harz der Myrrhe wird als duftendes Räucherwerk verwendet. In den meisten Metamorphosen kennen und begehren die männlichen Verfolger ihre weiblichen Verfolgten und wollen sie keineswegs töten. Da jedoch die Frauen einen sexuellen Kontakt ablehnen, erzwingen die Männer ihn durch List (Verkleidung) oder bedrängen die Frauen so hartnäckig, dass diese in menschlicher Gestalt nicht mehr leben wollen. In heutigen Termini könnte man darum die Episoden am ehesten als (einen Versuch von) “date rape” bezeichnen, denn eine zunächst freundliche Begegnung eskaliert durch das Drängen des Mannes zur (versuchten) Vergewaltigung. 4. Goethe: “Heideröslein” vs. “Gefunden” Eines der bekanntesten deutschen Gedichte ist Goethes “Heideröslein” (zu seiner Vorgeschichte siehe das Kapitel “Der wilde Knabe und andere Pflanzenschänder”, Singer 2004: 216-233). Es gilt als besonders gemütvoll, wurde von Franz Schubert volksliedhaft vertont und fehlt in keiner Gedichtanthologie für die Schule. Beim Lesen des Dialogs zwischen Knabe und Heideröslein wird schnell klar, dass die Blume ein Mädchen vertritt, das sich gegen seine Entjungferung wehrt. Allerdings vergeblich, denn seine “Stachligkeit” ist der “Wildheit” des Knaben nicht gewachsen, der es unbedingt “pflücken” will. Und der wilde Knabe brach ‘s Röslein auf der Heiden; Röslein wehrte sich und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt es eben leiden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden. Rotes Blut und rote Blüten 125 Angesichts der Tatsache, dass hier eine Vergewaltigungsszene nur schwach floral verschlüsselt wird, klingt des Dichters lakonisches Fazit “Musst es eben leiden” wie eine Anwendung der fatalistischen Lebensregel “Wo gehobelt wird, fallen Späne”. Noch befremdlicher wirkt in diesem Zusammenhang der Refrain mit seiner viermaligen Wiederholung von “Röslein”, welcher die Beschreibung einer Gewalttat zum Tralala verkommen lässt. Dass eine voreheliche Entjungferung euphemistisch als Blumenpflücken beschrieben wird, ist sachlich gut begründbar. Der evolutionäre Zweck von Blüten ist das Anlocken von Insekten oder anderen Tieren, die sie bestäuben und so ihre Vermehrung gewährleisten. Dass auch Menschen pralle Knospen und vom Tau benetzte junge Blüten verlockend finden, spielte in der Interaktion zwischen Pflanzen und Insekten erst dann eine Rolle, als der Mensch (zunächst nur an seinen Nahrungspflanzen) die Prinzipien der gezielten Züchtung erarbeitet hatte. Das Abbrechen von Blüten tilgt diese aus der Generationenfolge, da nun keine Befruchtung und Fruchtentwicklung mehr stattfinden kann (dies gilt natürlich nicht für kommerziell angebotene Schnittblumen, die bereits als solche - und mit jährlich wechselnden Trendfarben - gezüchtet werden). Die kurzfristige Befriedigung des Schönheitsstrebens vereitelt also sowohl das Vermehrungsstreben der Pflanze selbst als auch deren spätere praktische Nutzung durch den Menschen. Oder konkret und artspezifisch: Wer im Frühling alle Rosen bricht, hat im Winter keine Hagebuttenmarmelade. In einem traditionellen patriarchalischen Weltbild hat auch die Schönheit eines jungfräulichen Mädchens einen primär reproduktiven Zweck, denn sie lockt potentielle (Ehe-)Partner an und dient so der Erzeugung der nächsten Generation. Außerhalb der Ehe jedoch ist Entjungferung mit dem gesellschaftlichen Tod gleichzusetzen und löscht das Mädchen aus der legitimen Generationenfolge. Dass Goethe diese Zusammenhänge sehr wohl kennt, belegt sein Gedicht “Gefunden” als klarer Gegenentwurf zum “Heideröslein”. Während sich nämlich das Heideröslein vergeblich auf seine eigene Kraft verlässt, appelliert hier das Blümlein erfolgreich an die Großmut des Ich-Erzählers: Ich wollt es brechen, Da sagt es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein? Ich grub’s mit allen Den Würzlein aus. Zum Garten trug ich’s Am hübschen Haus. Und pflanzt es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so fort. An Stelle von Schändung und Deklassierung treten also hier Eheschließung und legitime Fortpflanz(! )ung. Unterschwellig wird Mädchen mitgeteilt, eine demütige Bitte um Schonung sei erfolgreicher als die eigene selbstbewusste “Stacheligkeit”. Der Mann erscheint als grundsätzlich überlegen, und die Verkleinerungsformen “Blümlein”, “Äuglein” und “Würzlein” drücken dieses Machtgefälle sprachlich aus. Dagmar Schmauks 126 5. Sexualdelikte in der Moritat Eine auch heute im Zeitalter von Musikvideos noch bekannte Moritat ist “Lenchen ging im Wald spazieren” mit ihrer eingängigen Leierkastenmelodie. Die beiden ersten Strophen lauten: Lenchen ging im Wald spazieren, Und sie war allein. Doch da stellt sich zum Verführen Gleich ein Jüngling ein. Ja, ja, ja, ach ja, S’ist traurig aber wahr. Nein, nein, nein, ach nein, Von einem Mal kann es nicht sein! Unter eine grüne Eiche Hat er sie gebracht. Sie war bleich wie eine Leiche Als es war vollbracht. Ja, ja, ja, ach ja… Da Mitteleuropa bis in die frühe Neuzeit von dichten Wäldern bedeckt war, wird vor allem dieser undurchdringliche Mischwald als wilde “(Ur-)Natur” der befriedeten, durch Ackerbau und Siedlungen gekennzeichneten “Kultur” gegenüberstellt (zum Motiv des Waldes im Märchen vgl. Schmauks 2005). In Wäldern kann man sich verirren und bösen Wesen begegnen, deren Bandbreite von wilden Tieren über außersoziale Menschen (Räuber, Mörder) bis zu übernatürlichen Personen (Hexen, Riesen) reicht. Auch heute noch gelten Mädchen und Frauen als leichtsinnig, wenn sie alleine durch die Wälder streifen, obwohl in Wirklichkeit die eigene Wohnung bzw. die Wohnung von männlichen Bekannten die gefährlichsten Orte auf Erden sind. Statistiken zufolge ist der oft beschworene hinter Büschen (sic! ) lauernde “Triebtäter” äußerst selten, vielmehr stammen bei Sexualdelikten mehr als 90 % der Täter aus dem sozialen Nahbereich. So verwundert es nicht, dass auch Lenchen in ihr Unglück läuft, als sie alleine im Wald spazierengeht, und es ist ausgerechnet die symbolbeladene deutsche Eiche, unter der sie geschändet wird. Ähnlich wie im “Heideröslein” klingt das Motiv des gesellschaftlichen Todes an, denn nach der Tat ist sie “bleich wie eine Leiche”. Und wie so viele Vergewaltigungsopfer muss Lenchen sich auch noch den Vorwurf der Mitschuld gefallen lassen. Denn nicht nur hat sie fahrlässig allein den Wald als klassischen Ort der Schändung aufgesucht, sondern sie hat dies, wie der perfide Refrain behauptet, gar mehrfach (also spätestens ab dem zweiten Mal absichtlich! ) getan. Eine zweite Moritat übermittelt die Warnung, dass jungfräuliche Mädchen nicht nur im “vorkulturellen” Wald gefährdet sind, sondern bei jeder Überschreitung der ihnen zugewiesenen Grenzen. Tanzvergnügen ohne elterlichen Schutz begünstigen Fehltritte, weil die überall lauernden männlichen Jäger jede Schwäche wahrnehmen und ohne Zögern ausnutzen (in Heinrich von Kleists Novelle “Die Marquise von O.” wird die Titelheldin sogar während einer Ohnmacht vergewaltigt und geschwängert). Rotes Blut und rote Blüten 127 Sie war ein Mädchen voller Güte Und naschen tat sie auch sehr gern, Bekam so manche Zuckertüte Von einem hübschen jungen Herrn. Da rief sie: |: Heimat, süße Heimat, Wann werden wir uns wiedersehn? : | Da kam der Leutnant von der Garde Und lud sie ein zum Maskenball: Bei uns ist heute Maskerade, Und du sollst meine Tänz’rin sein. Da rief sie… Vom vielen Tanzen war sie müde, Sie legt sich nieder auf ein Bett, Da kam der Leutnant von der Garde Und raubte ihr die Unschuld weg. Da rief sie… Wieder besteht eine gehässiger Gegensatz zwischen den Strophen und dem Refrain, denn dass ein soeben vergewaltigtes Mädchen melodisch nach ihrer Heimat ruft, erinnert doch stark an allbekannte Stammtischreden vom “Vergewohltätigen” von Frauen. Dahinter steht ein Geflecht trüber Motive, etwa die Angst vor der “männerverschlingenden” Macht der Frau, die Furcht vor ihrer Rache für jahrtausendelange Unterdrückung, und vielleicht auch die gleich wieder verdrängte Einsicht, dass man (Mann) selbst gerne eine derart verlockende weibliche Schwäche ausnutzen würde (lustvoll erhitzt! im verführerischen Abendkleid! hilflos auf dem Bett! ). Die Sprache dieser Moritat ist noch schlüpfriger und zweideutiger als “Lenchen”. Selbst die zunächst wohlwollend klingende Charakterisierung “Mädchen voller Güte” erscheint rückblickend als Abwertung, denn das unschuldig-arglose “Gutsein” erweist sich in der unerfreulichen Welt des Faktischen als verhängnisvoller Mangel an “gesundem” (! ) Misstrauen. Darüber hinaus wird ein unausgesprochener Kalauer nahegelegt: ein Mädchen, das gern (kindlich) “nascht”, wird schließlich selbst “vernascht”, also zur gierig einverleibten und dann schnell vergessenen Süßigkeit. Und als sie wegen ihrer Schwangerschaft ins Wasser gehen will, muss sie sich vom Vater ihres Kindes auch noch verspotten lassen: […] Mein liebes Kind, Mit dem Ertrinken mußt du warten, Bis daß die Wasser offen sind. 6. Das zwanzigste Jahrhundert Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehen zahlreiche Kunstwerke, die besonders düstere Seiten der Realität darstellen. Insbesondere Wasserleichen werden nun zum Topos von Gedichten, weil sie die Tabus um Tod und Verwesung in besonders drastischer Weise unterlaufen. Inspiriert durch Arthur Rimbauds Gedicht “Ophélie” (1870) entstanden im deutschen Expressionismus zahlreiche Wasserleichen-Gedichte (siehe Glöckner 2002). So erregte Gottfried Benns Gedicht “Schöne Jugend” (wie der ganze Morgue-Zyklus) bei seinem Erscheinen 1912 großes Aufsehen und zerbrach bisherige Vorstellungen von Ästhetik: Dagmar Schmauks 128 Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. […] Schockierend wirken die Beschreibungen der Fraßwunden (“angeknabbert”, “löcherig”) und der Autopsie (“als man die Brust aufbrach”) sowie die auffallende Vermenschlichung der Ratten, die als Aasfresser angstauslösende Ekeltiere sind (“in einer Laube”, “ein kleines Schwesterchen”). Dieser Realismus des Arztes Benn steht in scharfem Gegensatz zu den vielen “schönen” weiblichen Wasserleichen in der Malerei (siehe Abschnitt 6). Heute, nach zwei Weltkriegen mit Millionen von Opfern, und angesichts der Abstumpfung durch tägliche Morddarstellungen in Film und Fernsehen, vermögen einzelne Leichen kaum noch dermaßen zu schockieren. In den 1950er Jahren preist Gerhard Rühm in seinen “Gedichten im Wiener Dialekt” die tast- und riechbaren Eigenschaften von Wasserleichen (was m.E. einen glücklichen Mangel an einschlägigen realen Erfahrungen bekundet) und identifiziert sich sogar mit ihnen (möglichst wörtliche Übersetzung von DS): ich lig so gean ich liege so gern auf wossaleichn auf Wasserleichen di san so wach und doch so menschlich die sind so weich und doch so menschlich und ia geruch und ihr Geruch eainnad mich aun s mea erinnert mich ans Meer da krig ich eine sensuchd da krieg ich eine Sehnsucht waun i selbsd wenn ich selbst so eine wossaleichn wäa so eine Wasserleiche wäre daun wäa ich schon so weid geschwomman dann wäre ich schon so weit geschwommen obgleich mich nimaund middgenomman hädd obwohl mich niemand mitgenommen hätte […] […] Jetzt werden auch Sexualdelikte zum Sujet von Künstlern, so entstehen etwa die Gemälde “John, der Frauenmörder” von George Grosz (1918) und “Der bedrohte Mörder” (1926) von René Magritte (vgl. Hoffmann-Curtius 1993 und 2004 sowie Müller-Ebeling 2004). Im Bereich der Lyrik sind Gedichte zu Vergewaltigung und Lustmord oft sarkastisch-verfremdend und von Moritaten inspiriert. Bertolt Brechts “Macky Messer” begeht seine Verbrechen geplant, nämlich mit Handschuhen, und in so großer Zahl, dass man ihn schon als “Serientäter” bezeichnen kann (zur Definition von Serientätern siehe Lindner 1999: 277ff und Robertz 2004a: 16ff). […] Jenny Towler ward gefunden mit ‘nem Messer in der Brust und am Kai geht Mackie Messer der von allem nichts gewußt. […] Und die minderjährige Witwe deren Namen jeder weiß wachte auf und war geschändet - Mackie, welches war dein Preis? Rotes Blut und rote Blüten 129 Seit Jack the Ripper und dem Kannibalen Fritz Haarmann beschäftigen Serientäter die Phantasie vieler Menschen, weil sie scheinbar irrational handeln und die dunklen Seiten ausleben, vor denen man sich fürchtet - auch und vielleicht vor allem in sich selbst. Weil hier im Gegensatz zu einsichtigen Mordmotiven wie Habgier, Rache oder Eifersucht die Beziehung zwischen Täter und Opfer zunächst nicht erkennbar ist, wirken Serienmorde als Manifestationen eines “schlechthin Bösen” - vor allem, wenn sie weitere Tabus brechen, also sadistische, kannibalistische oder nekrophile Handlungen umfassen (siehe Robertz 2004a und b sowie Thomas 2003 und 2005). Auch unbeteiligte Beobachter möchten das zugrundeliegende Muster erkennen, um die Konsistenz des eigenen Weltbildes zu retten. Ein speziell semiotischer Ansatz deutet Serienmorde als “Erzählungen des Täters”, die er in anderen Medien nicht artikulieren kann (Thomas 2003; Rezension dazu: Schmauks 2003b). Die Faszination des Serienmordes betrifft alle Medien: Filme wie “Das Schweigen der Lämmer” und “Sieben” waren Kassenschlager, und gerichtsmedizinische Romane wie die von Kathy Reichs und Patricia Cornwell haben eine große Fan-Gemeinde. Ein lyrisches Beispiel ist H.C. Artmanns Gedicht “blauboad I” im Wiener Dialekt (1958, möglichst wörtliche Übersetzung von DS) 1 : i bin a ringlgschbüübsizza ich bin ein Karusselbesitzer und hob scho sim weiwa daschlong und habe schon sieben Weiber erschlagen und eanare gebeina und ihre Gebeine untan schlofzimabon fagrom. unterm Schlafzimmerboden vergraben. heit lod i ma r ei di ochte heute lade ich mir die achte ein zu einem libesdraum - zu einem Liebestraum - daun schdöl i owa s oaschestrion ei dann schalte ich aber das Radio ein und bek s me n hakal zaum! und erschlage sie mit dem Beil! so fafoa r e med ole maln so verfahre ich mit allen Mädeln wäu ma d easchte en gschdis hod gem - weil mich die erste zurückgewiesen hat - das s mii amoe darwischn wean daß sie mich einmal erwischen werden doss wiad kar mendsch darlem! das wird kein Mensch erleben! i bin a ringlgschbüübsizza ich bin ein Karusselbesitzer (und schlof en da nocht nua bein liacht (und schlafe in der Nacht nur bei Licht wau i mi waun s so finzta is weil ich mich wenn’s so finster ist fua de dodn weiwa fiacht…) vor den toten Weibern fürchte…) Artmann liefert hier ein schlüssiges “Täterprofil”, denn er beschreibt zum einen den Auslöser des frühesten Mordes, nämlich kränkende Zurückweisung durch die erste Geliebte, zum anderen ebenso präzise seine Vorgehensweise, die Kriminologen “modus operandi” nennen: Der “Blaubart” lädt ein Mädel zu sich nach Hause ein, schaltet das Radio an, erschlägt sein Opfer mit einem Beil und vergräbt es unter dem Schlafzimmerboden (vgl. Abschnitt 6). Ähnlich wie in Moritaten (vgl. Abschnitt 5) werden Sexualdelikte auch in modernen Liedern thematisiert (zahlreiche Detailanalysen in Kemper 2004). Ein Vorläufer heutiger Duette zwischen Täter und Opfer ist das amerikanische Volkslied “Banks of Ohio” mit den bekannten Zeilen […] she cried, “Oh, Willie, don’t murder me, I’m not prepared for eternity.” Dagmar Schmauks 130 Falcos Song “Jeannie” verursachte 1985 einen Skandal, weil er die Vergewaltigung eines Schulmädchens beschreibt. Als letztes Beispiel soll Nick Caves Ballade “Where the wild roses grow” (aus dem Album “Murder Ballads” von 1996) untersucht werden, weil in ihr das “Heideröslein” noch einmal zynisch anklingt. Noch deutlicher als bei Goethe handelt es sich um ein Zwiegespräch zwischen Mann und Frau. Bereits in der ersten Strophe des Mannes tauchen blutrote Rosen auf, deren Farbe sich in den Lippen der Frau wiederholt (wobei in den blutroten Lippen sowohl sexuelle Erregung als auch bereits das später vergossene Blut anklingt). From the first day I saw her I knew she was the one As she stared in my eyes and smiled For her lips were the colour of the roses They grew down the river, all bloody and wild Der Mann wird der erste Liebhaber der Frau, schenkt ihr wilde Rosen und lockt sie zum Flussufer, um ihr den Rosenstrauch zu zeigen. Dort erschlägt er sie mit einem Stein und steckt seinem toten Opfer eine scharlachrote Rose zwischen die Zähne. On the third day he took me to the river He showed me the roses and we kissed And the last thing I heard was a muttered word As he stood smiling above me with a rock in his fist On the last day I took her where the wild roses grow And she lay on the bank, the wind light as a thief As I kissed her goodbye, I said, “All beauty must die” And lent down and planted a rose between her teeth Die Rose nimmt also eine ganz andere Rolle im Gedicht ein. Goethe lässt das Röslein ein Mädchen vertreten, das vergeblich seine Unschuld verteidigt, weil die unverschlüsselte Darstellung einer Vergewaltigung für seine Zeitgenossen nicht tragbar gewesen wäre. Bei Cave hingegen wird die Eskalation des Geschehens von der ersten Begegnung über das Verführen bis zum Erschlagen sehr ausführlich geschildert, und die Rose im Mund des Opfers bewirkt eine reale Verbindung zwischen der toten Frau und der Rose, die das Motiv des Täters erhellt. Für Frauen und Rosen gilt nämlich gleichermaßen “all beauty must die” - eine Einstellung, die im folgenden Abschnitt genauer erläutert wird. 6. Schönheit, Gewalt und Tod Die hier ausgewählten Gedichte decken das ganze Spektrum sexueller Gewalt ab. Daphne und Syrinx werden sexuell bedrängt, aber auf ihr Flehen hin noch vor vollzogenem “date rape” in Pflanzen verwandelt. Beim “Heideröslein” hingegen wird trotz Gegenwehr die Vergewaltigung vollendet. Artmanns “blauboad” schließlich mordet serienmäßig, und zwar in einem sexualisierten Szenario, aber aus einem nicht-sexuellen Motiv, nämlich Rache. Man kann allerdings kaum behaupten, die in Gedichten beschriebenen Gewalttaten seien im Laufe der Zeit generell immer brutaler geworden. So ist bereits Ovids Geschichte von Philomela (Abschnitt 3) ein grausames Geflecht von Vergewaltigung, Verstümmelung, Kindesmord und einer Art von “untergeschobenem” Kannibalismus. Rotes Blut und rote Blüten 131 Interessant ist ein Vergleich der jeweils dargestellten Perspektiven. Ovid und die Moritaten beschreiben die Taten jeweils aus Perspektive eines nicht beteiligten Beobachters. Goethe hingegen zitiert das Zwiegespräch zwischen Knabe und Heideröslein, verleiht dem Opfer also (ebenso wie dem Blümlein in “Gefunden”) zumindest eine Stimme. Als Steigerung dieser Personalisierung ist Caves Ballade ein echtes Zwiegespräch in wörtlicher Rede, bei dem sich Täter- und Opferperspektive abwechseln. Allerdings ist die letzte Strophe des Opfers notwendigerweise fingiert, denn niemand kann seine eigene Ermordung beschreiben durch die Zeilen And the last thing I heard was a muttered word As he stood smiling above me with a rock in his fist Aufschlussreich sind hier die unterschiedlichen Zählweisen der Tage. Denn da niemand weiß, wann er etwas zum letzten Mal erlebt, bezeichnet die ahnungslose Elisa den Tag ihrer Ermordung als “third day”, während der planende und wissende Täter ihn “last day” nennt. Das einzige Gedicht mit durchgehender Ich-Perspektive ist also Artmanns “blauboad”. Es entspricht kriminologischen Befunden, denn es liefert nicht nur ein schlüssiges Täterprofil (vgl. Abschnitt 5), sondern der Karussellbesitzer bestreitet auch wie viele reale Täter seine Schuld. Weil seine erste Freundin ihn zurückwies, ist sie seiner Meinung nach nicht nur an ihrer eigenen Ermordung schuld, sondern auch an allen Wiederholungstaten. Ferner artikuliert der Täter die gängige Überlegenheitsphantasie, niemand könne ihn je aufspüren, und erheischt sogar Mitleid für sein eigenes Trauma - er kann nur noch bei Licht schlafen, weil er sich bei Dunkelheit vor den toten Frauen so sehr fürchtet! In der Malerei wurden Lustmorde auch von einigen Malerinnen dargestellt (Hoffmann- Curtius 1993: 42ff). Frida Kahlo verleiht dem Opfer in ihrem Gemälde “Ein paar kleine Dolchstiche” (1935) sogar Züge ihrer selbst. Im mir vorliegenden Gedicht-Corpus hingegen gibt es (aus welchen Gründen auch immer) kein Gedicht einer weiblichen Autorin, das ein Sexualdelikt aus Perspektive eines weiblichen Opfers darstellt. Abschließend soll der Zusammenhang von Schönheit, Gewalt und Tod skizziert werden. In Abschnitt 4 wurde bereits erläutert, dass man Blüten pflückt, um sich an ihrer Schönheit zu erfreuen, sie aber damit zum vorzeitigen Welken verurteilt. Zahllose Stillleben der abendländischen Kunstgeschichte zeigen Blumensträuße, deren lebende Modelle gepflückt und später weggeworfen wurden, jedoch nun im Gemälde verewigt sind. In ihrer materialreichen Monographie “Nur über ihre Leiche” zeichnet Bronfen (1994) einen ganz ähnlichen Zusammenhang zwischen Tod und weiblicher Schönheit nach. Die Frau ist das “Andere” der Kultur, sie steht der Natur näher als der Mann und ist daher für ihn sowohl Verlockung als auch Gefahr. Zahlreiche Detailanalysen von Gemälden und Texten belegen, dass die schöne Frau sterben muss, damit der Mann sie in Kunstwerken verewigen und damit eigenen Ruhm gewinnen kann. Auch der Betrachter bzw. Leser ist zufrieden, denn er sieht zwar einen Tod, dieser ist aber nicht sein eigener und er kann seine eigene Todesangst weiter verdrängen. Bei Cave wird dieser Zusammenhang zwischen weiblicher Schönheit und Tod am unverblümtesten (sic! ) mitgeteilt: Schönes muss sterben, um schön zu bleiben. Diese Ansicht hat eine beklemmende innere Logik, die sich wie folgt ausformulieren lässt: Jede jugendliche (“blühende”! ) Schönheit ist naturgesetzlich durch Alter und Verfall (“Verwelken”! ) gefährdet. Nur wenn Frauen und Blumen jung sterben, kann ihre Schönheit für immer bewahrt werden (man denke etwa an das scheintote - also gleichsam “konservierte” - Schneewittchen in seinem gläsernen Sarg sowie an Dornröschen in seinem 100jährigen Schlaf, in dem es nicht altert). Da aber junge Frauen und frischerblühte Knospen (“morgenschön” ist das Heideröslein) nicht von selbst sterben, muss man sie zunächst töten bzw. pflücken. So gewonnene Dagmar Schmauks 132 “schöne Leichen” werden dann materiell oder medial verewigt (zur Typologie von Motiven und Methoden siehe Schmauks 2003a). Unverweste echte Leichen von Naturmumien wie “Ötzi” über einbalsamierte Pharaonen bis zu den modernen Plastinaten der “Körperwelten” faszinieren viele Menschen. Fotos, Gemälde und Skulpturen stellen Leichen in der Regel in der schmalen Zeitspanne dar, in der die Verwesung noch nicht sichtbar eingesetzt hat. Faktisch hat diese Einstellung zu weiblicher Schönheit selbst ein paar Schönheitsfehler. Zum einen orientiert sie sich einseitig an einigen Vorteilen junger Frauen. Diese sind fruchtbarer und daher aus evolutionärer Sicht vorzuziehen, ferner noch formbar und daher weniger angstauslösend. Als Alternative ließe sich Schönheit aber auch so definieren, dass Frauen in jedem Alter “schön” sein können. Ähnlich könnte man im Pflanzenreich auch verwelkende Blüten wertschätzen und nicht nur “pflückfrische”. Wenn Van Gogh seine Sonnenblumen in allen Stadien des Verfalls malt, so stellt diese Gemäldeserie genau denjenigen Bogen aus dem Kreis des Werdens dar, den wir so gerne verdrängen. Im Bereich menschlicher Beziehungen ist der Gegenpol zur Zerstörung der jugendlichen Geliebten die lebenslange Liebe, und auch sie hat ein Vorbild bei Ovid: Das greise Paar Philemon und Baucis darf zum Dank für seine Gastfreundschaft nach seinem Tod als nahe beieinander stehende Bäume weiterleben. Ferner hängt das Aussehen eines soeben Verstorbenen von vielen Faktoren ab. Das Gesicht kann von einem schweren Todeskampf gezeichnet sein, aber auch eine typische “Verklärung” aufweisen. Ein Paradebeispiel einer “schönen Leiche” ist das Gemälde “Ophelia” von John Everett Millais (1852): eine unversehrte junge Frau ohne Schürfwunden, Fraßspuren und Verwesungszeichen treibt auf dem Rücken liegend in einem idyllischen Bach, umrahmt von einem verstreuten Blumenstrauß und blühenden Büschen. Auch hier hat jede Blütenart eine symbolische Bedeutung, so bedeuten die Gänseblümchen Unschuld, die Nesseln Schmerz und die Trauerweide steht für verschmähte Liebe (siehe Tate o.J.). Eine weitere weltbekannte Wasserleiche ist die “Inconnue de la Seine”, deren Totenmaske im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in zahllosen Repliken verbreitet war, weil das unbekannte junge Mädchen eine Projektionsfläche für Phantasien im Spannungsfeld zwischen “Unschuld” und “Verführtsein” bot (vgl. Bronfen 1994: 294ff). Auch im Film wurden schöne weibliche Wasserleichen gerne melodramatisch inszeniert, wobei die als “ideale arische Frau” in vielen NS-Propagandafilmen auftretende Kristina Söderbaum sogar den Spottnamen “Reichswasserleiche” erhielt. Weil anonym angetriebene Wasserleichen auch heute noch eine makabre Faszination ausüben, ist der “Friedhof der Namenlosen” in Wien eine Touristenattraktion. Auch bei Suizid durch Medikamente kann die Leiche dem Euphemismus des Schlafs entsprechen. Gewalttaten hingegen zerstören in der Regel die Schönheit des Opfers. Das Heideröslein wird “zum Welken gebrochen”, und Caves Täter erschlägt seine “wild rose” mit einem Stein. Die bisherige Schönheit bleibt also nur im Gedächtnis derer bestehen, die sie zu Lebzeiten kannten. Dies gilt insbesondere für den Täter, allerdings nur insofern es ihm gelingt, eine Überlagerung der “schönen” Erinnerung durch die Eindrücke seiner eigenen Tat und der Leiche zu verhindern. 7. Fazit Die Sichtung der Gedichte über Sexualdelikte lässt viele Fragen unbeantwortet. Insbesondere bedarf die allgemeine Bekanntheit und Beliebtheit von Goethes “Heideröslein” m.E. einer Erklärung. Warum steht im Zentrum der deutschen Innigkeitslyrik ausgerechnet ein Gedicht, Rotes Blut und rote Blüten 133 das eine Vergewaltigungsszene als Blumenpflücken beschönigt und durch formale Mittel wie den gewollt volksliedhaften Refrain bagatellisiert? Interessanterweise stammen einige sehr einfühlsame und psychologisch präzise Porträts vergewaltigter und misshandelter Frauen im Roman ausgerechnet von einem männlichen Autor, der vielen als Produzent von plakativem Schrecken gilt, nämlich von Stephen King. Sowohl Rose (sic! ) in “Das Bild” als auch Beverly in “Es” werden von ihren sadistischen Partnern jahrelang systematisch gequält, bevor sie sich von ihnen befreien. Komplementär zu Artmann, der ein schlüssiges Täterprofil liefert, gibt es bei King eine differenzierte Opferpsychologie. Er stellt nämlich nachvollziehbar dar, wie Frauen aufgrund von erworbenen Minderwertigkeitengefühlen und Strafbedürfnissen die Demütigungen und physischen Aggressionen ihres Partners erdulden, bis sie sich endlich zu Flucht oder Gegenwehr durchringen. Jedes realistische Menschenbild muss davon ausgehen, dass jeder von uns zum Opfer und bei passender Auslösesituation auch zum Urheber von Gewalttaten werden kann. Nur dieses Wissen versetzt uns in die Lage, nach außen und innen wachsam zu bleiben. Joseph von Eichendorff hat diese illusionslose Einsicht in seiner Novelle “Das Schloß Dürande” einprägsam formuliert. Die Erzählung endet in Blutvergießen und Feuersbrunst - einem Meer von Rot also! -, nachdem der Jäger Renald den vermeintlichen Verführer seiner Schwester Gabriele erschossen und dessen Schloss in die Luft gesprengt hat. Der letzte Satz lautet: “Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt”. Man müsste allerdings noch hinzufügen “…daß es nicht […] dich selbst oder andere zerreißt”. Anmerkungen * Keimzelle dieses Artikels war ein stärker gerichtsmedizinisch ausgerichteter Vortrag auf dem Symposium “sex - art - crime. Erkundungen in Grenzbereichen”, das am 4.6.2005 aus Anlass des 60. Geburtstages von Friedemann Pfäfflin in der Abteilung Forensische Psychotherapie der Universität Ulm stattfand. Eine Kurzfassung des Textes ist unter dem Titel “Blutrote Rosen” im Essayband Semiotische Streifzüge (Schmauks 2007: 175-192) enthalten. 1 Im Hinblick auf dieses Gedicht wurde ich von zwei Muttersprachlern unterstützt, bei denen ich mich herzlich bedanke. Jeff Bernard (Institut für Sozio-Semiotische Studien Wien) hat mich bei der Übersetzung beraten und etymologische Detailfragen geklärt. Reinhard Eher (Universitäts-Klinik für Psychiatrie Wien) hat in Ulm den Vortrag des Gedichts übernommen und mich damit vor peinlicher Dialekt-Stümperei bewahrt. 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Thomas, Alexandra (2004): “Memento mori - Serienmord als Akt der ‘Selbstbewerkstelligung’ und Kommunikation”. In: Robertz und Thomas 2004: 500-514. Review Article Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld Dagmar Schmauks Hartmut Heller (ed.): Gemessene Zeit - Gefühlte Zeit. Tendenzen der Beschleunigung, Verlangsamung und subjektiven Zeitempfindens. Wien und Münster: LIT 2006. 360 Seiten, 29,90 , ISBN 3-8258-9588-2. Seit 1976 finden jährlich in Matrei (Osttirol) die “Matreier Gespräche für interdisziplinäre Kulturforschung” statt, um die Sichtweisen unterschiedlicher Wissenschaften zu kulturellen Phänomenen zusammenzutragen und zu systematisieren. Als Brückenwissenschaft dient die Kulturethologie, die ihr Begründer Otto Koenig (1914-1992) in Kultur und Verhaltensforschung (1970: 17) definierte als “Spezielle Arbeitsrichtung der Vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie), die sich mit den ideellen und materiellen Produkten (Kultur) des Menschen, deren Entwicklung, ökologischer Bedingtheit und ihrer Abhängigkeit von angeborenen Verhaltensweisen sowie mit entsprechenden Erscheinungen bei Tieren vergleichend befaßt”. Bisher wurden rund 30 Tagungen veranstaltet und in rund 20 Tagungsbänden publiziert. Der vorliegende Band vereinigt 18 Vorträge der Matreier Gespräche von 2004 zum Thema “Gemessene Zeit - Gefühlte Zeit”. In fünf Themenkreisen (die hier den Abschnitten entsprechen) untersuchen Wissenschaftler aus Natur-, Geistes- und Ingenieurswissenschaften, in welchen Bereichen der Gegenwart eine Zeitbeschleunigung auszumachen ist, welche Folgen für Individuen und Gesellschaften sie hat und wo es eventuell gilt, ihr entgegenzusteuern. Unter dem Titel “Tempus fugit” führte Hartmut Heller in das Tagungsthema ein. Zeit wird als gerichtetes Phänomen erlebt und in vielen Modellen visualisiert, etwa als auf- und absteigende “Lebenstreppe”. Die ursprüngliche Orientierung an natürlichen Rhythmen wie den Tages- und Jahreszeiten wurde durch künstliche Zeitmessung präzisiert und immer stärker von konventionellen Rhythmen (Kirchenjahr, Arbeit vs. Freizeit) überlagert. Heute folgen nicht nur technische Neuerungen, sondern auch soziale Veränderungen immer schneller aufeinander. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 136 1. Endlichkeit - Unendlichkeit Der erste Themenblock “Endlichkeit - Unendlichkeit” untersuchte die Beziehungen zwischen zeitlichen und überzeitlichen Phänomenen. Einleitend stellte Gustav Reingrabner in seinem Vortrag “… zeitlich und ewiglich wohl verdienet …” die theologische Dimension des Zeitverständnisses dar. Nur Lebewesen können Zeit erleben, und nur der Mensch fasst Zeit als begrenzte Ressource auf, die man mehr oder weniger gut nutzen kann. Spezifisch religiös ist die Vorstellung von heiligen Zeiten, in denen das Ewige “in die Zeit kommt”. Christen etwa deuten die profane Geschichte als Heilsgeschichte, die mit der Schöpfung begonnen hat und wieder in Gottes Händen enden wird. Unter der Leitfrage “Warum altern wir? ” untersuchte Eckart Voland die biologische Evolution der Vergänglichkeit. Die durchschnittliche Lebensdauer hängt entscheidend davon ab, wie stark äußere Faktoren eine Art bedrohen. Bei typischen Beutetieren wie Mäusen investiert die Evolution nicht in ein langes Leben, sondern in eine möglichst frühe starke Vermehrung. Der Mensch ist weit weniger gefährdet und daher sehr langlebig. Besonders erklärungsbedürftig ist, warum Frauen nach der Menopause noch mehrere Jahrzehnte leben. Offenbar konnte die Evolution den schon vorgeburtlich festliegenden Eizellenvorrat von Mädchen nicht der steigenden Lebenserwartung anpassen. Die These, dass so die Rolle der hilfreichen Großmutter entstand, wird durch eine demographische Untersuchung ostfriesischer Familien des 18. und 19. Jahrhunderts relativiert. Ein verblüffendes Ergebnis war: Wenn Großmütter in derselben Gemeinde wohnen, steigern Großmütter mütterlicherseits die Überlebenswahrscheinlichkeit von Säuglingen, während Großmütter väterlicherseits sie erkennbar senken. Eine Erklärung könnte sein, dass Frauen eigene Töchter bei der Kinderaufzucht unterstützen, während die Beziehung zu Schwiegertöchtern konfliktreicher ist. Schwiegermütter kontrollieren die jungen Frauen, um die Vaterschaft ihrer Söhne zu sichern, und beuten sie zugunsten eigener Nachkommen aus. Das schadet der Gesundheit der Schwiegertöchter und führt zu Früh- und Totgeburten sowie zu erhöhter Säuglingssterblichkeit. Walther L. Fischer analysierte auf Grundlage der mathematischen Diagramme von Ruhe, Bewegung und Beschleunigung die “Formen des Verlaufs kultureller Prozesse”. Als Präzisierung von Redensarten wie “Halbwertszeit des Wissens” betont er, dass ein Basiswissen erhalten bleibt (etwa die Klassische Mechanik im Alltagshandeln), dass aber immer mehr spezielle Wissensarten hinzukommen. Ferner gibt es Sättigungseffekte und Paradigmenwechsel sowie Stile und Moden des Wissens. Beschleunigungen werden immer durch Kräfte verursacht. Im Bereich der Kultur wirken sich vor allem interkulturelle Kontakte als beschleunigende Kraft aus. Dieser Effekt ist umso deutlicher, je weiter Kulturen auseinanderliegen; man vergleiche etwa die Weltbilder, die dem Deutschen und dem Chinesischen zugrundeliegen. 2. Zeit im Kopf des Menschen Der zweite Themenblock begann mit Eilo Hildebrands Vortrag “Die zeitliche Ordnung biologischer Prozesse und unsere subjektive Zeitempfindung”. Zeit wird, da spezielle Organe fehlen, immer indirekt wahrgenommen. Das menschliche Zeiterleben beruht auf mindestens vier Mechanismen, die sequentiell und hierarchisch geordnet sind. Jede höhere Stufe setzt die tieferen Stufen voraus, beinhaltet aber eine neue Qualität. Die Wahrnehmung von (Un-) Gleichzeitigkeit ist modalitätsspezifisch. Die zeitliche Auflösung des Hörens liegt bei 3 ms, Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld 137 die des Sehens bei 50 ms. Ungleichzeitigkeit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Wahrnehmung einer zeitlichen Ordnung; diese erfordert einen Reizabstand von 25-40 ms. Die subjektive Gegenwart, das “Jetzt”, liegt in allen Kulturkreisen bei 2-3 Sekunden und spiegelt sich in der Struktur des Sprechens (Gedichtzeilen) und Musizierens (Takte). Trotz dieser “Stückelung” erleben wir Zeit als kontinuierlich, da aufeinander folgende Bewusstseinsinhalte semantisch verknüpft sind. Die Schätzung der Dauer längerer Zeitabschnitte hängt ab von Menge und Struktur der Information, vom Gedächtnis sowie von Aufmerksamkeit, Motivation und Gemütszustand. Die bekannte Empfindung, dass die Zeit mit zunehmendem Alter immer schneller vergeht, wird durch zwei Hypothesen erklärt. Arithmetisch gesehen macht ein Jahr einen immer kleineren Teil des bereits erreichten Alters aus (mit 10 Jahren 10%, mit 80 Jahren 1,2%). Zum anderen verläuft ein Jahr für alte Menschen oft einförmig, ist wenig mit Erlebnissen gefüllt und erscheint daher im Rückblick als kurz. Manfred Wechsberg bot Einblicke in “Nanochemische Vorbedingungen für menschliches Zeitempfinden”. Die Reizfortleitung in Nervenfasern erweist sich als große Leistung der Evolution, die keine metallischen Leiter (mit Lichtgeschwindigkeit) zur Verfügung hatte. Raffinierte Einzellösungen wie Ionenpumpen, Fettisolierung und Neurotransmitter zur Überwindung des Synapsenspalts erlauben Signalgeschwindigkeiten bis zu 100 Metern pro Sekunde. Überlebenswichtige Reflexe sind mit wenigen Millisekunden die schnellsten motorischen Reaktionen. Sie unterstehen nicht dem bewussten Willen, da höhere kognitive Funktionen wegen des hohen Vernetzungsgrades mehr Zeit benötigen. Dass wir Gesichter und andere komplexe Objekte in Sekundenbruchteilen erkennen können, beruht auf der parallelen Arbeitsweise des Gehirns. Lage, Farbe, Bewegung usw. werden getrennt verarbeitet, um Gedächtnis- und Gefühlskomponenten ergänzt und wieder integriert. Zeitökonomie scheint eine Grundkonstante der Evolution zu sein, wobei die chemisch-hormonelle Signalausbreitung bewirkt, dass unsere Gefühlswelt träger ist als das neuronal basierte Denken. Bernhard Ruso stellte anhand der “Wahrnehmung von Jahreszeiten” die evolutionäre Bedeutung biologischer Mechanismen dar. Alle Lebewesen nehmen Jahreszeiten wahr, v.a. anhand der Tageslichtdauer. Strategien der Anpassung an wechselnde Temperaturen und Wassermangel reichen vom Laubabwurf der Laubbäume über den Winterschlaf bis zu saisonalen Wanderungen. Auch der menschliche Körper ist jahreszeitlichen Rhythmen unterworfen, so sind im Winterhalbjahr Empfängnisbereitschaft, Schlafbedürfnis, Körperfettgehalt und Blutdruck höher. Ferner ist das Immunsystem weniger leistungsfähig und die Zahl der Todesfälle steigt. Weil der Mensch körperlich an die Savanne (also an niedrige Breitengrade) angepasst ist, sieht man die sog. “Winterdepression” als Indiz mangelhafter Anpassung an verkürzte Tageslängen. Saisonale Bräuche wie Sonnwendfeiern gehören zum ältesten Kulturgut. Und obwohl sich der Mensch durch Klimaanlagen und globalen Handel weitgehend von jahreszeitlichen Zwängen befreit hat, scheint er doch ein Bedürfnis nach Saisonalität zu haben. Anderenfalls würde es z.B. dem Handel nicht gelingen, immer neue Feste wie Valentinstag und Halloween einzuführen. Alfred K. Treml und Michael Weigel umrissen unter dem Titel “rhythmos - kairos - chronos” die pädagogische Bedeutung von Zeiterfahrungen. Wenn man Zeit in bewusster Abgrenzung von rationalistischen Ansätzen als Produkt der organischen und kulturellen Evolution sieht, muss man drei Zeitbegriffe unterscheiden. “Rhythmus” als biologischer Terminus bezeichnet die Anpassung von Lebewesen an wiederkehrende Umweltereignisse, etwa durch eine innere Uhr. Der psychische Terminus “Kairos” bezeichnet Augenblicke, die Dagmar Schmauks 138 durch starke Emotionen ausgezeichnet sind. Während es in der Antike nur um den rechten Augenblick (Glück, Erfolg) ging, zählen hier auch Momente der Enttäuschung und des Leids zum Kairos. Der soziale Begriff “Chronos” schließlich bezeichnet Zeit als abstrakte Bezugsgröße und Maßeinheit, abgelöst von konkreten Erfahrungen. Alle drei Begriffe sind auch in der Pädagogik wichtig, können aber kollidieren. Stundenpläne und Curricula sollten den Biorhythmen von Jugendlichen entsprechen. Kairos-Erlebnisse, also fruchtbare Augenblicke, lassen sich nicht herbeizwingen, man kann ihnen lediglich günstige Rahmenbedingungen schaffen. Gruppenunterricht ist immer ein Kompromiss zwischen einzelnen Lernvorlieben (Rhythmus) und Zeitökonomie (Chronos). 3. Die Bedeutung der Zeit in verschiedenen sozialen Kontexten Andreas Mehl untersuchte “Gefühlte, gedeutete und gemessene Zeit bei Griechen und Römern”. Auch antike Ausdrücke belegen, dass die inhaltlich gefüllte und bewertete Zeit für menschliches Weltverständnis grundlegender ist als die gemessene. Zeitspannen bis zu einem Jahr waren durch naturnahe Arbeiten verständlich, längere Dauern wurden nur ungenau angegeben. Erst Heldenchronologien machten Zeitangaben wichtig - interessanterweise gleichzeitig mit ersten Landvermessungen. Erst als die Christen nicht mehr glaubten, Christus würde noch zu ihren Lebzeiten wiederkehren, wurden Abschätzungen der Zukunft nötig. Zukunft als Differenz zwischen gesamter und bereits verstrichener Zeit musste sorgfältig genutzt werden. Einerseits wollte man die Schrecken der Endzeit weit hinausschieben, andererseits möglichst schnell durch sie hindurch das Paradies gewinnen. Im Gegensatz zu neuzeitlichen Fortschrittsvorstellungen sahen unsere Vorfahren die Geschichte als ständigen Abstieg, man denke an Hesiods Menschengeschlechter. Eine Detailanalyse zeichnet die Geschichte der Stunde nach. Sonnenuhren als früheste Zeitmesser haben grundlegende Nachteile: sie geben nur bei Sonnenschein die Stunden an und deren Länge wechselt jahreszeitlich. Dennoch behaupteten sie sich in einer landwirtschaftlich geprägten Welt noch lange gegen die aufkommenden Wasseruhren. Jürgen Zwernemann analysierte “Die Zeit bei westafrikanischen Völkern”. Wie in allen agrarischen Kulturen sind Tag, Mondphasen und Jahreszeiten grundlegende Zeiteinheiten. Der 24-Stunden-Tag beginnt bei den untersuchten Völkern bei Sonnenuntergang, der lichte Tag mit dem ersten Hahnenschrei. Die Einteilung des Tages orientiert sich am Verhalten von Tieren und an menschlichen Handlungen (Besuch des Marktes). Die festliegenden Markttage einzelner Orte liefern Bezeichnungen für Wochentage (“Markt von Bogu”). Monate beginnen mit Erscheinen der neuen Mondsichel und haben keine festgelegte Länge. Sie orientieren sich an Naturprozessen (Regenvs. Trockenzeit, Stand bestimmter Sternkonstellationen) und entsprechenden Handlungen wie dem Säen, Hacken und Ernten bestimmter Früchte. Der Mondmonat kann von einem Ritualmonat überlagert werden, der Götter- und Ahnenkulte regelt. Während Jäger- und Sammlerkulturen ihre Toten schnell vergessen, tradieren sesshafte Gruppen ihre Genealogien. Hierbei kommen Manipulationen vor, man übertreibt etwa ruhmfördernde Ereignisse und überspringt Personen, die dem Ansehen der Herrscherfamilie geschadet haben. Ausgehend von eigener Lebenserfahrung stellte Roland Girtler den “Zeitbegriff in der alten bäuerlichen Kultur und sein[en] Wandel” dar. Während Bauern früher weitgehend autark waren und sich an Jahreslauf und Wetter orientierten, sind heutige Bauern spezialisierte und erfolgsorientierte Unternehmer. Bis zur Zeit Cäsars begann das offizielle Jahr im Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld 139 März, der Zeit der Aussaat. Im bäuerlichen Jahr galt dies weiterhin, so war im christlichen Heiligenkalender zwischen den Stichtagen Josefi (19. März) und Michaeli (19. September) die Hauptarbeit zu tun. Zahlreiche Bauernregeln, in denen das Erfahrungswissen vieler Generationen gespeichert ist, legen den Beginn bestimmter Arbeiten fest und sagen Wetterlagen vorher. Freizeit war unbekannt, es gab nur heilige Sonn- und Feiertage, saisonale Feste (Maibaumaufstellen) und Feste zu bestimmten Anlässen (Hochzeit). Felder wurden durch Feldarbeiten gemessen, so ist “ein Joch” die Fläche, die an einem Morgen mit einem Joch (= zwei) Ochsen gepflügt werden kann. Die alte bäuerliche Kultur war eine Kultur der Langsamkeit. Man gab Pflanzen und Tieren die ihnen eigene Zeit, war zu Fuß unterwegs und hatte genug Muße, um Entgegenkommende zu grüßen und mit ihnen zu plaudern. Zusammen mit den Fußwegen, die zu allen wichtigen Zielen führten, ist auch diese “Kultur der Wege” verschwunden. Hartmut Heller sprach “Über die Vielgestaltigkeit von Zeit und Geschwindigkeit im 90- Minuten-Spiel Fußball”. Kulturethologische Analysen von Spielen decken viele ins Unblutige transponierte Verhaltensweisen unser jägerischen Vorfahren auf, so entspricht der Ball der Waffe, das Tor dem Beutetier, das Foul der Ahndung von Tabubrüchen. Seit Jahrtausenden gibt es Ballspiele, die der Körperertüchtigung oder kultischen Zwecken dienen. Fußball bekam 1863 ein Regelwerk, das auch die Zeitstruktur festlegt: 90 Minuten in zwei Halbzeiten (Lateralsymmetrie! ). Der Schiedsrichter wacht wie Gott Chronos bis zum Schlusspfiff über das Geschehen, das Spiel zeigt ständige Tempowechsel, und das Publikum wird mit rund 2.000 Ballkontakten je Spiel (= 26 pro Minute) optimal gefordert. Fußball wurde zu einer Metapher unserer Zeit, die viele gesellschaftliche Prozesse von Ökonomisierung und Internationalisierung bis zur Emanzipation der Frau anschaulich macht. Wichtige Spiele beinflussen das gesamte Handeln, sogar der Gang zur Toilette muss in die Halbzeitpause gelegt werden. Durch Einsatz mehrerer Kameras ist der Zuschauer nicht nur live dabei, sondern sieht auch alles aus mehreren Perspektiven. Ein mediengeschichtlicher Exkurs belegt die ständig zunehmende Beschleunigung der Bilder. Aber auch das Spiel selbst ist durch Optimierung von Training, Ernährung, Ausrüstung und medizinischer Betreuung immer schneller geworden. So legten Spieler 1985 schon durchschnittlich 10 km pro Spiel zurück, während die “Helden von Bern” (1954) es nur auf 3 km brachten. 4. Beschleunigungen in der Kulturtechnik Otto Schober untersuchte den “Aspekt der Geschwindigkeit in der Kulturgeschichte des Lesens”. Im Mündlichen sind Sprechen und Hören mit je rund 125 Wörtern in der Minute synchron. Das Schreiben ist etwa zehnmal langsamer als das Sprechen, und die Geschwindigkeit des Lesens hängt von vielen Faktoren ab, wobei wie überall in der Wahrnehmung eindeutige Muster wichtig sind. Erst allmählich entwickelte das Schriftsystem konsistente optische Hilfen, die eine beschleunigte visuelle Wahrnehmung erlauben. Die heutige Schrift als Mittelding zwischen Laut- und Begriffsschrift begünstigt ein rasches stilles Lesen von bis zu 1.000 Wörtern pro Minute. Wichtige Visualisierungsmittel sind die eindeutige Erfassbarkeit des Wortstamms (unabhängig von der Aussprache), Leerzeichen, Großbuchstaben, Zeichensetzung und Worttrennung. Die Rechtschreibreform führte in manchen Bereichen zu einer Variantenschwemme, die den Schreiber eher verunsichert als ihn unterstützt. Sascha Möbius belegte die “Beschleunigung von militärischen Bewegungen im 18. Jahrhundert am Beispiel der preußischen Taktik in den Schlesischen Kriegen”. Die Quellen Dagmar Schmauks 140 beschreiben zwei wichtige Ausbildungsziele, nämlich schnelles Schießen und Laden (was entsprechende Waffen voraussetzt) sowie schnelle Angriffe mit dem Bajonett. Letztere sollten den Feind in Angst versetzen und in die Flucht schlagen, setzten aber ein geordnetes Vorrücken der Linien voraus (“Lineartaktik”). Erhöhte Geschwindigkeit minimierte also eigene Verluste und hatte zugleich eine psychologische Wirkung auf den Gegner. Eine Analyse der Schlachten zeigt, dass ein solides elementartaktisches Grundwissen es trotz mangelnder Kommunikation auf dem Schlachtfeld erlaubt, der Situation entsprechend flexibel und erfolgreich zu handeln. Voraussetzung ist allerdings permanenter Drill und folglich eine verlässliche Finanzierung. Unter dem (wunderbar mehrdeutigen) Schlagwort “Kampf mit der Uhr” analysierte Matthias Rogg “Zeit, Strecke und Geschwindigkeit im I. Weltkrieg”. Geäußerte Hoffnungen, durch neue Techniken würden moderne Kriege in kürzester Zeit entschieden, erfüllten sich nicht, da dieselbe Technologie auch lang anhaltende Verteidigung möglich machte. Truppenbewegungen und Nachschub wurden immer schneller (Eisenbahn), Waffen immer zerstörerischer (Maschinengewehr, Gas), und neue Erfindungen wie die Gewinnung von Stickstoff aus der Luft machten lange Kämpfe möglich. Fernsprecher und Telegraph gewährleisteten die immer exaktere Koordinierung der einzelnen Gefechtshandlungen, Filme eine schnelle Kriegsberichterstattung und -propaganda. Die hohen Verluste zu Kriegsbeginn führen zu extrem verkürzten Ausbildungszeiten und folglich zu schlecht ausgebildeten Soldaten. Während frühere Schlachten meist nur einen Tag dauerten, brachte der moderne Stellungs- und Abnutzungskrieg ganz neue Zeiterfahrungen mit sich. Der Tag-/ Nachtrhythmus wurde umgekehrt, heftige Kämpfe wechselten mit Phasen quälender Langeweile, und der einfache Soldat hatte keine Möglichkeiten der Zeitgestaltung. Der Zwang zu exakter Zeitmessung führte dazu, dass sich im Verlauf dieses Krieges die Armbanduhr massenhaft verbreitete. Klaus Nagel fragte: “Wo bleibt die Zeit? Computer werden immer schneller! Was machen wir mit der gesparten Zeit? ” Die Geschwindigkeit von Rechnern wird gesteigert, indem man Taktfrequenzen erhöht, mehr Teilaufgaben je Takt erledigt oder mehrere Rechner parallel an derselben Aufgabe arbeiten lässt. Auch die Miniaturisierung der Schaltungen - von Röhren über Transistoren zu Halbleiterchips - machte Rechner schneller. Heutige PCs sind bzgl. Speicherplatz und Geschwindigkeit für Alltagsaufgaben überdimensioniert: Als Paradoxon ist die Anzeige von Uhrzeit und Datum aufwändiger das Eingeben des Textes selbst. Höchstleistungsrechner braucht man für die Darstellung bewegter Bilder (Computerspiele) und vor allem für Untersuchungen komplexer Zusammenhänge von der Klimasimulation bis zur Erdölsuche. 5. Begrenztes Leben - vermehrtes Wissen Ausgehend von einer Analyse der Termini “Geschwindigkeit” und “Beschleunigung” illustrierte Walter Klinger die “Akzelerierende Wissenskumulation in der Naturwissenschaften - aufgezeigt am Beispiel der Physik”. Da der Mensch ein “Lineardenker” ist, übersteigt exponentielles Wachstum sein Vorstellungsvermögen. Zwischen 1945 und 2003 ist das physikalische Wissen exponentiell angestiegen, wenn man folgende Maßeinheiten verwendet: Anzahl der physikalischen Veröffentlichungen (sowohl der Artikel als auch der Monographien), Neugründung von Fachzeitschriften, Seitenzahl von Physical Review sowie Zahl wissenschaftlicher Tagungen - allerdings hat sich die Beschleunigung ab 1970 verlang- Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld 141 samt. Gründe für diese Zuwächse sind die Förderung physikalischer Forschung, die Verbesserung der Messtechnik sowie die Entwicklung ganz neuer Forschungsgebiete (etwa Kernphysik und Laseroptik). Auf qualitativer Ebene führt der Veröffentlichungsdruck (“publish oder perish”) dazu, dass auch kleinste Wissenszuwächse sofort und möglichst mehrfach publiziert werden, was zu einer unüberschaubaren Anhäufung zusammenhangloser Wissenssplitter führt. Angesichts dieser Wissenskumulation werden Datenbanken, Informationsdienste und der “Science Citation Index” immer wichtiger. Das Studium sollte grundlegende Theorien vermitteln, deren Kenntnis das Einprägen vieler Einzeltatsachen überflüssig macht. In Allgemeinbildenden Schulen muss Physik als Studium Generale gelehrt werden, das Einblick in Denk- und Arbeitsweisen des Physikers gewährt. Sein Ziel ist ein qualitatives Verständnis physikalischer Sachverhalte, das zur Lebensbewältigung beiträgt. Bärbel Weber referierte über “Die Beschleunigung menschlicher Entwicklung durch organisiertes Lernen - Der Begriff des ‘Vergeschwinderns’ bei Pestalozzi und seine Konsequenzen für eine veränderte Konzeption von Unterricht”. Pestalozzi konnte in seinen jahrzehntelangen Untersuchungen zeigen, dass Bildung natürlichen Gesetzen folgt, die der Unterricht sorgfältig beachten sollte. Jeder Lerninhalt muss den drei Naturanlagen Physis, Intellekt und Sittlichkeit entsprechen und der Unterrichtsverlauf sich an Entwicklungsstand und -tempo des Schülers anlehnen. Das Elternhaus, das von einer natürlichen Bindung an die Kinder ausgehen kann, schafft die Grundlagen einer Elementarbildung, auf der die Schule systematisch aufbaut. Konkrete Erfahrungen werden über die Stufenfolge “beobachten - in Tätigkeit bringen - reden - zeichnen - schreiben” zu Lerninhalten, wobei sich der Erfahrungsradius immer mehr ausdehnt. Geordnete und individualisierte Übungen, die natürliche Entwicklungsschritte spiegeln, bewirken ohne Überforderung eine Beschleunigung des Lernens (“Vergeschwindern”). Max Liedtke untersuchte den “Beschleunigungfaktor ‘Lernen’” hinsichtlich evolutionstheoretischer und kulturethologischer Aspekte. Der gesamte Funktionskreis der Erziehung - von Brutfürsorge und Brutpflege bis zum institutionalisierten Unterricht - baut wie alle Aspekte kultureller Evolution auf biologischer Evolution auf. Für jeden Organismus ist es von Vorteil, wenn er “weiß”, wo er Ressourcen findet, sei dieses Wissen nun genetisch fixiert oder gelernt. Während “Lernen” rund 1 Milliarde Jahre in unsere Stammesgeschichte zurückreicht, beginnt “Erziehung” als sozial vermitteltes Lernen erst vor 300 Millionen Jahren. Jüngste Forschungen ergaben, dass bereits Kraken durch Imitation lernen können. Durch diese Fähigkeit, eigene Erfahrungen weiterzugeben und umgekehrt fremde zu übernehmen, wird Kultur überindividuell und das Gesamtwissen wächst immer schneller an (ein Sonderfall sind genetische Kenntnisse, durch die der Mensch in seine eigene Evolution einzugreifen beginnt). Die Abschätzung der Geschwindigkeiten ist schwierig, da sie disziplinspezifisch sind und rein quantitative Messungen unbefriedigend bleiben. Unabhängig von der Frage, ob die Menge des Wissens begrenzt ist, wird Forschung in der Praxis durch ihre Finanzierbarkeit begrenzt. Das rasche Wachstum des Wissens hat neben unbestreitbaren Vorteilen auch Nachteile. Den enorm angewachsenen technischen Möglichkeiten steht nämlich keine entsprechende Verfeinerung kognitiver oder gar emotionaler Fähigkeiten gegenüber, wir handeln also weiterhin aufgrund eines Kanons von Antrieben und Wertungsmustern, der zu Beginn der Menschheitsgeschichte längst ausgebildet war. Die Philosophie bezeichnet diesen Befund oft als “wachsende Kluft zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen”. Dagmar Schmauks 142 Zusammenfassung Der Tagungsband trägt zahlreiche Facetten zum Thema “Zeit” zusammen und spannt dabei den Bogen von biologischen Grundlagen bis zu Detailuntersuchungen in Alltagskultur und Wissenschaft. Er liest sich sehr gut, da dichte theoretische Abhandlungen sich mit sehr griffigen Darstellungen abwechseln, die aus eigener Lebenserfahrung der Autoren erwachsen sind. Auch die Mischung von historischen Darstellungen und Analysen der Gegenwartskultur ist abwechslungsreich und damit leserfreundlich. In der Zusammenschau zeichnet sich die Ambivalenz von Wissenszuwachs deutlich ab und der Band endet sehr durchdacht mit der Feststellung, dass wir zwar fraglos immer mehr wissen, aber zugleich immer weniger verbindliche Vorstellungen darüber haben, wie wir mit diesem vielen Wissen etwas für alle Sinnvolles bewirken wollen. Der Untertitel des Tagungsbandes stellt “Beschleunigung” und “Verlangsamung” gleichberechtigt nebeneinander, in den Artikeln wird leider die Verlangsamung sehr wenig thematisiert. Hier könnte man auf einer Folgetagung auch Ansichten zu Wort kommen lassen, in denen Termini wie “Entschleunigung”, “Slow Life” und deren Sonderfälle wie “Slow Food” zentral sind. Wunderlich und korrekturbedürftig wirkt die Geschlechterverteilung, und zwar sowohl bei den Teilnehmern als auch bei den Themen: Achtzehn männlichen Autoren steht eine einzige Autorin gegenüber, und keiner der Beiträge untersucht das geschlechtstypische Eingebundensein in die Zeit. Ist dieser blinde Fleck etwa noch ein Nachhall der auf Seite 206 zitierten Ansicht von Otto Koenig, das weibliche Geschlecht sei “traditionell mehr dem Innendienst verpflichtet”? Dann ist es Zeit (! ), dies zu ändern. Das spezifisch weibliche Zeitverhalten ist ein sehr ergiebiger Untersuchungsbereich, da auch hier eine zunehmende Abkopplung von biologischen Rhythmen vorliegt, v.a. durch Hormonzufuhr (Empfängnisverhütung, Herauszögern der Menopause). Reizvoll wären auch Analysen typischer Frauenzeitschriften, deren Rubriken alle Zeitbegriffe aufgreifen, etwa Modetrends (Rhythmus), Styling für ein erfolgreiches Date (Kairos) und die Logistik der Weihnachtsvorbereitung, beginnend mit der Bestellung der Öko-Gans im Frühjahr (Chronos). Das Format ist handlich und der Satzspiegel gut lesbar, sehr wünschenswert wären allerdings einige informative und auflockernde Abbildungen (es gibt lediglich einige Diagramme). Auch Querverweise wären hilfreich, da Themen wie die “innere Uhr” und die verschiedenen Messverfahren für den Wissenszuwachs von mehreren Autoren detailliert abgehandelt werden. Eher banal, aber dennoch ärgerlich ist das höchst eigenmächtige Handeln des Trennungsprogramms - insbesondere, weil auf S. 228 die Wichtigkeit der Worttrennung als Dekodierungshilfe betont wird! Es produziert allerlei Unsinn wie • “Ges-taltung” (26) • “Anth-ropologin” (49) und • “demonst-riert” (89, vgl. 301). Einen Erkenntnisblitz bewirkt allerdings die Trennung “Beg-riffe” (74, vgl. 224) - man sieht es deutlich vor seinem geistigen Auge, wie das hoffnungsfroh zu großer Fahrt ausgelaufene Forschungsschiff auf gefährliche Untiefen (eben die Beg-Riffe) aufläuft. Bei Beseitigung solch spaßiger Idiosynkrasien sollte man dem Trennungsprogramm auch gleich abgewöhnen, einzelne Vokale und Diphtonge unschön abzutrennen wie in Alles hat seine Zeit, und Zeit ist Geld 143 • “E-pochen” (144) • “Ü-berwindung” (154) • “Ä-gypter” (195) und • “Au-sentfaltung” (317). Als Hohe Schule der Leserfreundlichkeit könnte man dann noch missverständliche Trennungen wie “Messer-gebnis” (300) vermeiden, was natürlich ein kluges Menschenauge voraussetzt. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Eva Neulands Einführungs- und Übersichtswerk macht mit dem sprachwissenschaftlichen Gegenstandsfeld „Jugendsprache“ vertraut. Im Zentrum steht die Beschreibung und Analyse des Sprachgebrauchs Jugendlicher im deutschen Sprachraum unter Einbezug aktueller Fragestellungen der germanistischen Soziolinguistik. Grundlagen und Entwicklungen sowie theoretische Konzepte der Jugendsprachforschung werden aufgezeigt und Entwicklungsetappen deutscher Jugendsprachen in Geschichte und Gegenwart vorgestellt und beispielreich illustriert. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf Jugendsprachen in Schule und Unterricht. Eva Neuland Jugendsprache Eine Einführung UTB 2397 M 2008, XII, 210 Seiten, zahlreiche Abb. und Tabellen €[D] 16,90/ SFr 31,00 ISBN 978-3-8252-2397-7 Review Article Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums: Facetten des Raumerlebens Dagmar Schmauks Hartmut Heller (ed.): Raum - Heimat - fremde und vertraute Welt. Entwicklungstrends der quantitativen und qualitativen Raumansprüche des Menschen und das Problem der Nachhaltigkeit. Wien und Münster: LIT 2006. 384 Seiten, 29,90 , ISBN 3-8258-0040-7. Die seit 1976 jährlich stattfindenden “Matreier Gespräche für interdisziplinäre Kulturforschung” analysieren kulturelle Phänomene auf der Basis der Kulturethologie. In seinem Vorwort zum vorliegenden Band knüpft der Herausgeber Hartmut Heller an die Tagung 2004 an, deren Vorträge unter dem Titel “Gemessene Zeit - Gefühlte Zeit” zahlreiche Phänomene der Zeitbeschleunigung und -verlangsamung in verschiedenen Disziplinen, Epochen und Kulturräumen untersuchten (s. die Rezension von Schmauks in diesem Heft von Kodikas/ Code, S. 135-143). Schwerpunkt der Folgetagung 2005 war komplementär das Erleben von Räumen unterschiedlichster Art unter der Leitfrage, inwieweit Nähe und Heimat auch im Zeitalter von Globalisierung, Weltraumforschung und Nanotechnologie noch eine Bedeutung haben. Die 20 Beiträge sind in vier Gruppen gegliedert, die im Folgenden den Abschnitten entsprechen. 1. Ontogenetische, epochenspezifische und kulturvariante Bedingungen von Raumbewusstsein Einleitend skizzierte Otto Schober die “Entstehung und aktuelle Bedeutung der Proxemik”. Die Proxemik wurde in den 1960er Jahren vom amerikanischen Anthropologen Edward T. Hall begründet und untersucht, wie Menschen in kulturabhängiger Weise unterschiedliche Räume empfinden und nutzen. Menschen haben nicht nur feste Territorien wie viele Tiere, sondern um ihren jeweiligen Standort herum auch einen persönlichen Raum mit vier geschachtelten Distanzzonen (intime, persönliche, soziale und öffentliche Distanz). Der zweite Teil des Vortrags zeichnete nach, wie die Annahmen der Proxemik durch eine detaillierte Talkshow-Analyse von Christine Kühn belegt werden und sich das Nonverbale als gleichberechtigt zum Verbalen erweist. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 146 Bärbel Weber untersuchte “Raumwahrnehmung: Die Veränderungen in der Ontogenese und die Konsequenz für die Gestaltung von Lernprozessen”. In traditionalen Gesellschaften hat der Säugling ständig Hautkontakt mit der Mutter und wird lange gestillt. Nach dem Laufenlernen erobert sich das Kind schrittweise die Nachbarschaft, lebt mit Kindern aller Altersstufen zusammen und übernimmt altergemäße Aufgaben, die in Subsistenzkulturen unverzichtbar sind. Das Jugendalter endet mit der Initiation, der Aufnahme in den Erwachsenenstatus. Moderne Kulturen bieten weniger körperliche Nähe (Kinderbett) und folglich Ersatzobjekte (Schnuller, Kuscheltiere). In Städten kann der Aktionsradius nicht gefahrlos wachsen, und die hochspezialisierte Arbeitswelt macht eine Ausbildung allein durch Beobachtung unmöglich. Folglich bietet die heutige Umwelt zwar viele Herausforderungen und Chancen, hemmt aber auch natürliche Entwicklungsschritte. Extrem lange Jugendphasen führen zu eigenständigen Jugendkulturen und folglich zu Generationskonflikten. Abschließend wird gezeigt, wie die vier von Rupert Riedl unterschiedenen Anschauungsformen in einem Unterricht gefördert werden können, der sich an natürlichen Entwicklungsschritten orientiert. Andreas Mehl sprach über “Griechen und Römer in neuen Lebensräumen: die Frage nach der Anpassung”. Die Griechen drangen seit Alexander dem Großen bis Zentralasien mit seinem küstenfernen Kontinentalklima vor. Die Römer kamen bis nach Britannien, also in viel kühlere und feuchtere Gebiete. Die jeweilige Anpassung an neue Raumbedingungen betrifft alle Grundbedürfnisse, vor allem Nahrung, Kleidung und Wohnung. Während Weinstöcke auch weit nördlich der Alpen gedeihen, braucht der Ölbaum das Mittelmeerklima. Da jedoch Olivenöl als Grundnahrungsmittel galt, musste es für die römischen Soldaten in alle Provinzen exportiert werden. In kühleren Klimazonen ergänzte bzw. ersetzte man Tunika, Toga und Sandalen durch Kapuzenumhänge, lange Hosen, warme Unterwäsche und geschlossene Schuhe. Die römische Bautechnologie mit Fußbodenheizung und (Doppel-)Glasfenstern war auch für kalte Gebiete geeignet. Die Beispiele zeigen also, dass Menschen sich nicht nur durch ihr Verhalten (Kleidung, Ernährung) dem neuen Lebensraum anpassen, sondern umgekehrt auch Teile der neuen Umgebung ihren Bedürfnissen anpassen (Bau geschlossener heizbarer Gebäude). Diese Umkehr der natürlichen Anpassungsrichtung ist der Hauptzweck menschlicher Technik. Sie eröffnet dem Menschen erhebliche Freiräume, führt aber auch dazu, dass künftige Generationen sich an die von Menschen geschaffenen Umstände anpassen müssen. Jürgen Zwernemann analysierte “Raum und Raumvorstellungen bei westafrikanischen Savannenvölkern”. Die untersuchten Völker unterscheiden zwischen vertrauter Umgebung und fremder Umwelt, haben aber keinen abstrakten Raumbegriff. Traditionell bewohnt eine erweitere Familie ein Gehöft mit festliegender Struktur. Frauenhäuser haben einen 8-förmigen, Männerhäuser einen rechteckigen Grundriss. Die Anordnung der Gebäude folgt dem Weg der Sonne und bildet zugleich den Lebenslauf ab: Ganz im Osten liegt das Haus der Frau (und der Geburten), ganz im Westen liegen die Gräber der Ahnen. Das dorfnahe Familienfeld wird von allen gemeinsam bearbeitet, ferner liegende Buschfelder können den Nutzer wechseln. Das gesamte besiedelte Land gehört übernatürlichen Mächten, die es den ersten Siedlern durch Vertrag überlassen haben. Jenseits dieser Kulturlandschaft beginnt die fremde Umwelt, der Busch, die Wildnis. Bekannt sind nur seine dorfnahen Teile, in denen die Frauen Holz und Früchte sammeln, und die Pfade zu Nachbardörfern. In den unbekannten Busch, in dem es gefährliche Tiere und feindliche übernatürliche Mächte gibt, wagen sich nur Jäger, die Gegengifte besitzen und sich durch Amulette schützen. Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums 147 Thema von Christa Sütterlin waren “Denkmäler als Orte kultureller Erinnerung im öffentlichen Raum”. Denkmäler sind zunächst nur Orte des derzeitigen öffentlichen Raumes, die erst durch zusätzliche Hinweise (Namen, Inschriften, Jahreszahlen) zu Erinnerungsorten werden. Antike Hermen markierten Wege und Grenzen, dienten also dem Schutz nach Außen. Ihre Gestaltung als Phallus leitet sich aus dem Drohimponieren von Primaten her. Denkmäler hingegen, die an identitätsstiftende Ereignisse erinnern, befinden sich im Inneren oder gar Zentrum eines Territoriums. Sie gehen oft auf Ereignisse zurück, die ihrerseits einen Anspruch auf Raum erhoben haben. Gruppenidentität definiert sich nur in Frühzeiten rein räumlich-territorial, mit dem Wachsen der Gemeinschaften entstehen immer mehr identitätsstiftende Symbole (Gründungsakte, Landeswappen, Fahnen, Uniformen usw.). Diesen Ablauf illustriert ein Abriss der Denkmälerkultur Wiens, die vier Hauptschichten aufweist, nämlich das Heilige Römische Reich deutscher Nation, den deutschsprachigen Kulturraum, die Österreichische Republik und die Wiener Stadtgeschichte mit ihren Lokalheiligen. Annette Scheunpflug referierte über “Lernen in der Globalisierung? Anmerkungen aus anthropologischer Perspektive”. Der heutige Mensch ist mit kognitiven Programmen ausgestattet, die auf die Lösung von Problemen zugeschnitten sind, die sich in der Frühzeit unserer Stammesgeschichte stellten. Dieses sog. “privilegierte Lernen” reagiert auf sinnliche Eindrücke, konkrete Gefahren, Zusammenhänge im Lebenskontext und soziale Beziehungen mit Anwesenden. Die zunehmende Globalisierung hingegen stellt neue komplexe Probleme wie rasanten sozialen Wandel, enormes Wohlstandsgefälle zwischen reichen und armen Ländern sowie ständig steigenden Ressourcenverbrauch. Ferner hat ein weltumspannendes Kommunikationsnetz bewirkt, dass Vertrautheit nicht mehr an räumliche Nähe gebunden ist. Diese Situation bedarf eines ganz anderen abstrakten Lernens, das es folglich zu fördern gilt. Es baut zwar auf privilegiertem Lernen auf, löst sich aber durch die Schrift und andere Symbole vom Konkreten. Bernhart Ruso und Markus Mayer untersuchten “Evolutionäres Webdesign” unter der Leitfrage: “Wie findet sich der Jäger und Sammler des Pleistozäns im World-Wide-Web zurecht? ” Für die Wahrnehmungsmechanismen des Menschen, der ursprünglich an Savannen angepasst ist, sind virtuelle Räume wie die von Fernsehen und Computer eine große Herausforderung, die ein überlegtes Design erleichtern kann. Die Struktur komplexer Websites wird bereits beim Überfliegen verstanden, wenn sie den Gestaltgesetzen entsprechen, die sich auf Gleichheit, Geschlossenheit, Nähe und Symmetrie beziehen. Qualitätskriterien sind die klare Trennung von Navigations- und Inhaltsbereichen, die leichte Lernbarkeit und Konsistenz der Symbole, transparente Möglichkeiten der Benutzerkontrolle sowie Fehlerrobustheit. Ein interessanter Sonderfall sind virtuelle Landschaften von Computerspielen, die dieselben emotionalen Reaktionen hervorrufen wie reale Landschaften. So wie unsere Vorfahren solche Landschaften bevorzugten, die Ressourcen, Deckung und Überblick boten, schätzen Benutzer Websites mit mittelhoher Informationsdichte, die kohärent und leicht lesbar sind, aber auch eine ausreichende Menge verborgener Information (“mystery”) versprechen. 2. Auseinandersetzungen mit der Bergwelt Der zweite Themenblock war als Hommage an den in den Hohen Tauern gelegenen Tagungsort Matrei gedacht und untersuchte die zwiespältigen Beziehungen von Menschen zu Gebirgen. Diese werden einerseits als Orte von Gefahr und Bewährung aufgefasst, während sie andererseits ein zeitweiliges Eintauchen in die frühere harmonische Einheit von Mensch und Dagmar Schmauks 148 Natur zu versprechen scheinen. Aber gerade diese “Ursprünglichkeit” von Gebirgen geht durch ihre zunehmende Verwandlung in kommerzialisierte “Erlebniswelten” immer mehr verloren. Roland Girtler charakterisierte “Die Heimat der Bergbauern: Sehnsucht und Geschäft”. Feldforschungen in Bergdörfern ergeben ein facettenreiches Konzept von Heimat im Spannungsfeld zwischen dem vertrauten Ort samt seinen Symbolen (Dialekt, Tracht, Bauweise usw.) und der gezielten Vermarktung einer nostalgisch inszenierten Kulisse. Für frühere Dienstboten war Heimat ein Wunschort, der ein stilles Glück mit selbstbestimmter Arbeit versprach und nur selten etwa durch Einheirat wirklich erworben wurde. Ein literarischer Topos ist der Mensch, der nach zahlreichen Abenteuern in der Fremde endlich in seine Heimat zurückkehrt, und nach Homers Odysseus nennen wir solche Irrfahrten “Odyssee”. Seit der Industrialisierung entwickelte sich eine nostalgische Verklärung des einfachen bäuerlichen Lebens, die das Konzept “Urlaub auf dem Bauernhof” erfolgreich machte. Dem ökologisch interessierten Urlauber wird dabei oft eine Lebensform mit gemischtem Viehbestand, Trachten und Heimatabenden vorgeführt, die real längst untergegangen ist. Vor allem die Alm wird für städtische Sehnsüchte zur “Erlebniswelt”, zum “Refugium von Tradition und Nostalgie”. Ein abschließender Exkurs diskutiert das Problem Heimat für die Nachkommen verbannter Österreicher in Siebenbürgen. Im 18. Jahrhundert siedelten sich dort österreichische Protestanten an, die man wegen ihrer Religion vertrieben hatte. Doch auch diese neue Heimat zerbrach, als nach dem Ende des Kommunismus die jungen Leute ihr Glück im Westen suchten. Die zurückgebliebenen älteren Menschen fühlen sich von den Weggezogenen verraten, die sich nun in Deutschland und Österreich mit Siebenbürger Trachten und Gebräuchen als besonders heimatverbunden darstellen. In seinem öffentlichen Abendvortrag fragte Alfred K. Treml “Warum steigen Menschen (freiwillig) auf die Berge? ” Evolutionstheoretisch betrachtet scheint Bergsteigen sinnlos zu sein, denn der Bergsteiger nimmt wissentlich erhebliche Anstrengungen und Gefahren auf sich, nur um in lebensfeindlichen Regionen unterwegs zu sein. Eine genauere Betrachtung ergibt jedoch zwei evolutionäre Vorteile. Im Kontext der natürlichen Selektion kann Bergsteigen angeborene Bewegungsprogramme unter realen Bedingungen (Gelände, Wetter) in optimaler Weise üben und verfeinern. Dieses Motiv wurde erst in der Moderne wichtig, als es galt, den beruflichen Bewegungsmangel in der Freizeit zu kompensieren. Extrembergsteigen als Sportart hauptsächlich von jungen Männern wird im Kontext der sexuellen Selektion verständlich, denn die Ausübenden zeigen sowohl potentiellen Sexualpartnerinnen als auch Konkurrenten, dass ihre Fitness und überschüssigen Reserven gute Gene versprechen. Neuere Entwicklungen relativieren diesen Befund, denn heute ist (Expeditions-)Bergsteigen so teuer geworden, dass vor allem ältere Männer teilnehmen, die nicht mehr für ihre genetische Überlegenheit werben müssen. Viktor Ladstätter leitete eine Exkursion ins Defreggen und untermauerte sie geschichtlich unter dem Titel “Periodische Abwesenheit und Heimatverlust: Defregger Wanderhandel, gegenreformatorische Protestantenvertreibung und moderner Tourismus”. Die Geschichte des Tales ist durch eine besondere Spannung zwischen Heimat und Fremde gekennzeichnet. Ab dem 16. Jahrhundert konnte die Landwirtschaft die wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren, so dass sich die Bauern im Winter einen Zusatzverdienst durch Hausierhandel verschafften. Dessen allmähliche Ausweitung machte Lager, bessere Transportmittel und eine Anpassung an städtische Bedürfnisse nötig. Zum Sortiment zählten zunächst nur heimische Produkte (Birnmehl, Zirbenholzschüsseln), später vor allem Decken, Handschuhe und Strohhüte. Zur Hochblüte des “Kompaniewesens” Ende des 18. Jahrhunderts bestanden Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums 149 Handelsbeziehungen bis nach Vorderasien, Ägypten und Amerika. Mit zunehmender Industrialisierung waren die in Heimarbeit hergestellten Waren nicht mehr konkurrenzfähig und “stehende Geschäfte” lösten den Warenvertrieb durch Hausierer ab. Einige Strohhuthändler schafften den Übergang zum Fabrikanten, bis der Erste Weltkrieg und die hutlose Mode diesem Wirtschaftszweig ein Ende setzten. Ein besonderes Kapitel ist die Ausweisung der Protestanten 1666-1725, die sich teils in Süddeutschland ansiedelten, teils ihrem Glauben entsagten und zurückkehrten. Diese Vorgänge wurden lange totgeschwiegen, ihre gemeinsame Aufarbeitung führte erst 2002 zu einer Versöhnungsfeier. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Bergsteiger ins Defreggen und der Tourismus wuchs durch bessere Verkehrsanbindungen und Unterkunftsmöglichkeiten ständig. Diese Entwicklung hat auch Schattenseiten, da dem einsetzenden Bauboom auch kulturell wertvolle Bauernhäuser und ertragreiche landwirtschaftliche Nutzflächen zum Opfer fielen. Man setzte einseitig auf Tourismus, dessen Höhepunkt heute vielleicht schon überschritten ist. 3. Selbstbestimmte und unfreiwillige Lebensräume Unter der Leitfrage “Wie viel Wohnung braucht der Mensch? ” formulierte Hartmut Heller einige “Eingangsbemerkungen zum Größenwandel der Privatsphäre”. Im Jahr 2005 bewohnte jeder Deutsche 40,5 qm - eine Fläche, die im Vergleich mit anderen Epochen und Kulturen sehr groß ist. Im Mittelalter waren die Räume für Vieh und Vorräte größer als die eigentliche Wohnung, die nur eine heizbare Stube, Küche und Kammer umfassten. Erst viel später kamen Kinderzimmer und Innentoiletten hinzu. Während wohlhabende Familien immer geräumiger wohnten, brachte das 19. Jahrhundert für manche Gruppen besondere Elendsverhältnisse mit sich. An den Dorfrändern entstanden Tagelöhnersiedlungen und in den Großstädten lichtlose Mietskasernen, in deren überbesetzten Räume oft schichtweise geschlafen wurde. Die im 20. Jahrhundert einsetzende Stadtflucht führte zu Eigenheimen in Gartenstädten, aber auch zu Flächenzersiedlung und steigendem Verkehrsaufkommen. Diesen mitteleuropäischen Verhältnissen stehen Megastädte in anderen Weltgegenden gegenüber, in deren Slums zahllose Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Als Fazit ist festzuhalten, dass auf der Stufe des Dahinvegetierens die Raumansprüche des Einzelnen sehr tief liegen. Erst bessere wirtschaftliche Bedingungen lassen Vorstellungen von größeren, differenzierteren und schöneren Räumen entstehen. Max Liedtkes Vortrag “Der Platz für Schüler” untersuchte “Kulturethologische Aspekte in der Entwicklung der schulischen Sitzmöbel”. Schulen in unserem Sinne gibt es seit Beginn der sumerischen und ägyptischen Hochkulturen etwa 3000 v.Chr. Ganz am Anfang dürften die Schüler auf dem Boden gesessen haben, dann verlief die Entwicklung (wie wir vor allem aus bildlichen Quellen wissen) von antiken Lehm- und Steinbänken über Hocker und lehnenlose Holzbänke des Mittelalters bis zu vielsitzigen sog. “Subsellien”. Diese hatten bereits Rückenlehnen, abgeschrägte Schreibflächen, Abstellplätze für das Tintenfass sowie Fächer für Bücher und Hefte, aber auch entscheidende Nachteile: Die Schüler konnten weder ohne Störung ihrer Nachbarn aufstehen noch vom Lehrer individuell betreut werden, die Größe der Bänke war normiert und der Fußboden schwer zu reinigen. Ab etwa 1870 wurden daher zweisitzige Schulbänke in mehreren Größen eingeführt, die in einer kippbaren Variante auch die Bodenreinigung erleichterten. Jedes neue Sitzmöbel hatte also Vorteile für den Unterricht, aber auch höhere Entstehungs- und Folgekosten (höherer Raumbedarf, folglich mehr Klassenräume und Lehrpersonal). Sobald sich die Zweierbank durchgesetzt hatte, entstanden zahl- Dagmar Schmauks 150 reiche aufwändig gestaltete Varianten (“Luxurierung”). Das Artefaktpaar <Schulbank und Tintenfass> illustriert kulturelle Ko-Evolution sehr anschaulich, da etwa die kippbare Bank ein neues ausgeklügeltes Tintenfass-Design nötig machte. Abschließend ist zu bemerken, dass auch Schulmöbel dazu beitragen, dass der moderne Mensch ein “sitzender Mensch” geworden ist, was die bekannten orthopädischen und physiologischen Probleme mit sich bringt. Matthias Rogg untersuchte “Geschlossene Räume in der geschlossenen Gesellschaft: Das ‘Objekt’ Kaserne in der Nationalen Volksarmee der DDR”. Zu den Insignien des Militärs zählt neben Uniform und Gewehr vor allem die Kaserne. Sie trägt zur Disziplinierung und Militarisierung von Gesellschaften bei und ist “der in Stein gemauerte Anspruch des Staates auf das Gewaltmonopol”. Bereits im Altertum gab es feste Truppenunterkünfte, was eine ständige Präsenz von Soldaten, eine gute Infrastruktur und ausreichende finanzielle Mittel einer Zentralgewalt voraussetzte. Die Konzentrierung von Soldaten in Massenquartieren steigert nicht nur die Qualität der Ausbildung, sondern auch die Kontrollmöglichkeiten. Diese Zusammenhänge lassen sich am Beispiel der NVA belegen. Da Berufssoldaten auch nach Dienstschluss ständig erreichbar sein mussten, war ihr privater Aktionsbereich äußerst begrenzt. Heimfahrten waren nur selten möglich und das ghettoähnliche Wohnen in Einödstandorten erschwerte Kontakte zu Zivilisten. Die in der Propaganda betonte “klassenlose Gesellschaft” der DDR erweist sich schnell als Mythos, denn während Führungskader auf Kosten der Armee zu privaten Häusern und Reisen kamen, lebten die Mannschaften unter ständiger Kontrolle und Schikanen in Kasernen mit oft miserablen Sanitäreinrichtungen. Folglich waren Gewaltdelikte und Alkoholexzesse häufig, was die Zivilbevölkerung aber nur durch Flüsterpropaganda erfuhr, weil offiziell das überhöhte Bild einer “sozialistischen Soldatenpersönlichkeit” gepflegt wurde. Hartmut Heller stellte unter dem Titel “Stratigraphie des Heimatbegriffs” die wichtigsten Bedeutungsschichten vor. Im Mittelalter bezeichnete “Heimat” vor allem Grundbesitz; diese “Heimstatt” bewirkte Geborgenheit (emotionale Komponente). Sein Gegenbegriff war das “Elend” der Landlosen. Durch die unverzichtbare Einbindung der Heimstätten in größere Gemeinschaften hat Heimat eine soziale Komponente. Als im Barock die irdische Heimat unter dem Eindruck von Kriegen und Seuchen brüchig wurde, konzentrierte sich die Sehnsucht der Menschen auf eine unzerstörbare Heimat im Jenseits (spirituelle Komponente). Die Romantik fügt eine retrospektive Komponente hinzu, da sie Vergangenheit zu einer “guten alten Zeit” verklärt. Die Gründerjahre dehnten die Handelsbeziehungen aus und beschleunigten alle Lebensabläufe, folglich erhielt Heimat als Schutzinsel in einer fremden Welt eine exklusive Komponente. Eine agrarromantische Komponente entstand, als Dorf und Kleinstadt mit zunehmender Verstädterung wieder geschätzt wurden. Die NS-Zeit vermischte diese Einstellung mit einer Rassenlehre und entwickelte unter dem Schlagwort “Blut und Boden” eine aggressive Komponente. In der Nachkriegszeit fanden zahllose “Heimatvertriebene” eine “neue Heimat” und belegten so, dass sich der Mensch nacheinander an mehrere Orte binden kann (polyvalente Komponente). Die Nostalgiewelle der 1970er Jahre mit ihrer neuen Wertschätzung des Alten erzeugte eine folkloristische Komponente, die aber nur in Nahraum und Freizeit wirkt (Altstadtfeste, Kochrezepte, Trachten usw.). Die Gegenwart kennzeichnet ein ungewisses Heimatgefühl (fraktionale Komponente): Deutsche besitzen Ferienhäuser oder Altersdomizile im Ausland und umgekehrt viele Arbeitsmigranten und Aussiedler eine neue Heimat in Deutschland. Insgesamt hat die Sehnsucht nach Heimat eine doppelte Richtung, denn man möchte sich nach außen abgrenzen und selbst in der Mitte befinden. Wie weit man dabei den Radius zieht, hängt von vielen Erfahrungen ab, als Tendenz assoziieren jedoch die meisten Menschen mit “Heimat” kleine Räume wie den Wohnort. Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums 151 Marie-France Chevron sprach über “Die Stadt als Heimat. Zu den Grundproblemen eines fragwürdigen Verhältnisses”. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist ambivalent, denn während Heimatfilme oft die anheimelnde Landschaft der hektischen Großstadt gegenüberstellen, leben faktisch die meisten Menschen der Industrienationen in Städten. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich, wenn man die Stadtentwicklung evolutiv betrachtet. Die Stadt als relativ späte Entwicklung ist charakterisiert durch zunehmende Berufsspezialisierung und neue Raumorganisation. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts erzeugte einen weltweiten Entwicklungsschub in Richtung von “Megastädten”. Weil sie zahllose heterogene Kristallisationspunkte enthalten, an die sich das Zugehörigkeitsgefühl der unterschiedlichen Gruppen bindet, werden vor allem Städte mit Heimatverlust assoziiert. Heimatgefühl ist nämlich an einen klar definierten Raum und die damit verbundenen Symbole gebunden. Nur überschaubare Kulturlandschaften (im Gegensatz zur “Wildnis”, aber auch zu Megastädten) können als Heimat gelten. Förderlich für ein Heimatgefühl ist das Gleichgewicht zwischen Stadt und Land, das heute zugunsten von Beziehungen zu anderen Weltstädten oft verlorengeht. Auch Umweltzerstörung, Überbevölkerung sowie extreme Verschiedenheit der Symbolik führen zu chaotischen Zuständen und zu einem Verlust des Heimatgefühls. Burgis Heller untersuchte “Heimatlieder. Herzenslandschaften, Klischeebilder und geographische Beliebigkeit”. Eine Sichtung oft gesungener Lieder ergibt, dass sie zwar oft konkrete Landschaften nennen (“Thüringerlied”, “Westfalenlied”), diesen Bezug aber so vage halten, dass jeder in den idealtypischen Landschaften - stilles Tal, dunkler Wald, Stadt am Strom usw. - seine eigene Heimat wiedererkennen kann. Ein sehnsuchtsvoller oder gar schwärmerischer Text wird mit eingängigen Melodien verknüpft, die man leicht behalten und mitsingen kann. Häufige Themen sind die Schönheit der Heimat, das Heimweh in der Fremde und die Hoffnung auf glückliche Heimkehr, wobei manche Lieder unter den extremen Bedingungen von Krieg, Gefangenschaft oder Arbeitslager entstanden sind. Die Kategorie “Heimatlied” umfasst aber nicht nur eigentliches Volksgut, sondern auch allgemein bekannte Kunstlieder, Musical- und Operettenmelodien sowie Gassenhauer. Bundes- und Landeshymnen sind Heimatlieder, insofern sie die Schönheit des Landes und die Treue der Bevölkerung preisen. In Verbindung mit Nationalstolz und Kampfbereitschaft entstehen martialische Lieder bis hin zu solchen, die den Opfertod verherrlichen. In den letzten Jahrzehnten sind neue “Heimatlieder” gedichtet worden, die das regionale Identitätsgefühl stärken und zur touristischen Vermarktung eines Gebietes beitragen sollen (“Rennsteig-Lied”, Kufstein- Lied”). 4. Vorstöße des Menschen in abstrakte Raumvorstellungen Gustav Reingrabner fragte “Heilige Stätte - heiliger Ort - heiliger Raum: eine Entwicklung? ” Einleitend werden drei Beispiele für die “Verheiligung von Orten” vorgestellt: Taizé in Frankreich, das “Haus des Petrus” am See Genezareth und die Taufstelle Jesu am Jordan haben alle keine spirituelle Tradition, sondern wurden innerhalb weniger Jahrzehnte als sakrale Orte etabliert. Solche Entwicklungen verlaufen in bestimmten Stufen. Ausgangspunkt ist immer ein bestimmter abgegrenzter Ort, an dem die Gegenwart einer Gottheit erlebt worden ist. Oft handelt es sich um Quellen, Flüsse, besondere Bäume oder Felsen sowie Höhlen. Der Platz wird gesichert, abgesondert und damit tabuisiert, manchmal werden Altäre errichtet oder Ausschmückungen angebracht. Die Offenbarung wird beschrieben und als Kultlegende tradiert. Wenn lokale Kulte sogar nach einem Religionswechsel weiter bestehen, Dagmar Schmauks 152 führt man dies auf einen “Ort besonderer Kraft” zurück (“Erdstrahlenkreuzung” oder dgl.). Wallfahrtsorte sind oft mit sehr profanen Interessen verbunden: sie präsentieren die herrschende Kirche, überzeugen Abtrünnige, domestizieren Untertanen und stärken die Macht lokaler Institutionen. Heilige Stätten können sich weit ausdehnen, wenn man zu ihnen heilige Pilgerstraßen mit “sekundär heiligen” Etappenzielen baut. So entsteht eine Vielfalt spezialisierter und hierarchisch geordneter heiliger Orte (etwa “Patrona Bavariae” vs. lokale Marienheiligtümer). Umgekehrt verlieren heilige Orte ihre Bedeutung, wenn ein Heiliger im Alltag nicht mehr wichtig ist (Vieh-, Pestpatron) oder ein Ort in einem Ballungsraum verschwindet. Walther L. Fischer untersuchte “Raumformen - Formen im Raum. Zur Geschichte geometrischen Denkens: Von der Höhlenmalerei zur nacheuklidischen Geometrie” Schon Tiere müssen sich im Raum orientieren, und die apriorische Raumanschauung des Menschen stammt aus den Erfahrungen (dem Aposteriori) unserer tierischen Vorfahren. Das begriffliche Erfassen von Raumformen und Formen im Raum hingegen ist durch etliche Stufen historisch gewachsen. In der Phase der Prä-Geometrie nimmt der Mensch die Formen seiner Umwelt wahr und beginnt sie in Plastiken und Bildern nachzuahmen, die vor allem magische Funktion haben. Diese Abbilder von Tieren und Menschen werden oft mit ideogrammartigen Ritzungen und Schraffuren versehen. Die Entwicklung verläuft von Linien(scharen), Rechtecken, Ovalen und Dreiecken bis zu Netzen und Spiralen. In der Phase der Proto-Geometrie wird das Repertoire der geometrischen Figuren ausdifferenziert und verfeinert. Bauliche Konstruktionen wie das megalithische Newgrange spiegeln ein präzises astronomisches Wissen wider, das jahrhundertelanger Beobachtung entstammt. Auf der Stufe der naiven Geometrie werden die Formtypen alltagssprachlich benannt (etwa das Trapez als “Ochsenkopf”) und rechnerisch behandelt. Die empirische Geometrie der Babylonier und Ägypter diente der Landvermessung sowie dem Hoch- und Tiefbau. Man fertigte Grund- und Aufrisse an und vermittelte alle Kenntnisse bereits in Schulen. Die Geometrie als theoretische Wissenschaft begann mit Thales von Milet (um 600 v.Chr.), der einige elementargeometrische Sätze formulierte. Euklid (etwa 365-300 v.Chr.) gründete die axiomatisch-deduktive Mathematik, die Grundbegriffe explizit definiert und alle Sätze nach Schlussregeln aus Grundannahmen (Axiomen) ableitet. Die nach-euklidische Geometrie hat sich in viele Teilgeometrien aufgefächert, die zunehmend abstrakter werden und sich vom Raum der alltäglichen Erfahrung weit entfernt haben. Eine ähnliche Auffächerung und Abkopplung vom Alltagshandeln zeigt “Der Raum in der modernen Mathematik”, dessen Vielfalt Klaus Nagel nachzeichnete. Das Register mathematischer Handbücher enthält eine große Vielfalt von Räumen, die dem Laien oft gar nichts sagen wie “Affiner Raum” oder “Kompakter Raum”. Der dreidimensionale Raum unserer Anschauung hat Eigenschaften wie Volumen, Abstand, Dimension, Linearität, Unendlichkeit und Gleichartigkeit (Isotropie), und es ist zu klären, wie die mathematischen Räume mit diesem Anschauungsraum zusammenhängen. Die Aufstellung zeigt, dass die genannten Eigenschaften in den verschiedenen Räumen in je spezifischen Kombinationen gefordert werden. Wenn etwa nur Volumen gemessen werden soll, so erhält man Maßräume. Ein prominentes Beispiel ist der Wahrscheinlichkeitsraum, der alle möglichen Ausgänge eines Versuchs in systematischer Ordnung aufzeichnet. Im metrischen Raum kann man Entfernungen messen und im linearen Raum lineare Operationen (Addition, Multiplikation) ausführen. Im topologischen Raum hingegen geht es nur um Nachbarschaftsbeziehungen. Da diese auch bei Verzerrungen erhalten bleiben, ist das automatische Erkennen von Handschriften eine alltagsrelevante Anwendung der Topologie. Zwischen den vielen Räumen bestehen also deut- Vom Heimatdorf in die Tiefen des Weltraums 153 liche “Familienähnlichkeiten”, was eine Subsumierung unter den Oberbegriff “Raum” rechtfertigt. Abschließend stellte Walter Klinger unter dem Titel “Von Parsec- und Nanoräumen” die “Spannweite der Raumdimensionen in der Physik” vor. Die Begrifflichkeit des dreidimensionalen Raumes erfordert ein Bezugssystem, und dieses ist in Phylo- und Ontogenese zunächst egozentrisch. Obwohl schon in der Antike das geozentrische Weltbild manchmal bezweifelt wurde, bewirkte erst Kepler den endgültigen Durchbruch des heliozentrischen Modells. Da mit bloßem Auge nur die Planeten und wenige helle Sterne sichtbar sind, verbesserte erst die Erfindung des Fernrohrs astronomische Beobachtungen. Optische Teleskope und später Radio-, Infrarot- und Röntgenteleskope dehnten das bekannte Universum immer weiter aus, so dass wir heute einen Bereich von über 30 Milliarden Lichtjahren mit etwa 100 Milliarden Galaxien “überblicken”. Die beobachtete Ausdehnung des Universums wird durch die Urknalltheorie zu erklären versucht. Parallel zu dieser Ausdehnung des Makrokosmos wuchs auch der uns zugängliche Mikrokosmos. Lupen und später Licht-, Elektronen- und Rastertunnelmikroskope drangen immer tiefer in die Materie ein, so dass wir heute auch atomare und subatomare Strukturen erkennen. Eine Anwendung ist die Nanotechnologie, von der man sich u.a. neue medizinische Diagnose- und Therapieverfahren sowie selbstreinigende Oberflächen verspricht. Zusammenfassung Die 20 Beiträge tragen Facetten der Raumwahrnehmung aus vielen Disziplinen zusammen und fördern damit die Einsicht, dass “Raum” ein höchst vielschichtiger Terminus ist. Da jedoch immer herausgearbeitet wird, wie die analysierten Räume mit alltäglicher Raumerfahrung zusammenhängen, entsteht im Kopf des Lesers kein zusammenhangloses Sammelsurium, sondern eine geordnete Struktur, in deren Zentrum nach wie vor der dreidimensionale Wahrnehmungsraum steht (ein linguistischer Beleg wäre etwa, dass wir auch nach Jahrhunderten im heliozentrischen Weltbild hartnäckig von “Sonnenaufgang” reden). Kriege, Naturkatastrophen und Armutsmigration führen dazu, dass heute zahllose Menschen entweder ihre Heimat verlassen müssen oder mit dem Fremden in der eigenen Heimat konfrontiert werden. Dies ist auch kulturethologisch gesehen eine schwierige Aufgabe, da unsere emotionalen und kognitiven Programme an überschaubare Gruppen und Räume angepasst sind. Der Tagungsband ist sehr leserfreundlich, weil die Beiträge nicht nur inhaltlich, sondern auch methodologisch sehr verschieden sind. Griffige Zusammenfassungen des aktuellen Forschungsstandes (von der Proxemik bis zur Astrophysik) wechseln mit historischen Aufarbeitungen und materialreichen eigenen Feldforschungen. Im Unterschied zu Gemessene Zeit fehlt leider ein Inhaltsverzeichnis, was nicht nur das Auffinden einzelner Texte, sondern auch den Einblick in deren logischen Zusammenhang erschwert. Erfreulicherweise gibt es nun deutlich mehr Autorinnen, nämlich fünf. Da räumliche Phänomene anders als zeitliche sinnlich wahrnehmbar sind, enthält dieser Band zahlreiche informative Abbildungen, die auch Fachfremden den Einstieg in die Themen erleichtern. Die Sprache ist durchgehend klar und vermeidet unnötige Fremdwörter; nur ganz selten stößt man auf sprachliche Ungenauigkeiten wie “Mitkonkurrenten” (153) und “anthropogen verursacht” (281). Auf Seite 198 oben hat sich ein entstellender Tippfehler eingeschlichen, es müsste “Mitte des 19. Jahrhunderts” heißen; und auf Seite 369 unten wünscht man sich eine “seriösere” Quelle als Wikipedia. Anfechtbar ist ferner die Charakterisierung der gemeinsamen Geschichte von Schülergraffiti Dagmar Schmauks 154 und deren Abwehr als “Ko-Evolution” (233). Es wäre begrifflich klarer, den Ausdruck “Ko- Evolution” für Artefaktpaare zu reservieren, die untrennbar zusammengehören (Pfeil und Bogen, Dose und Dosenöffner). Der Zusammenhang von Graffiti und “Anti-Graffiti” wäre besser als “Rüstungswettlauf” zu beschreiben, da er in einem Kontext von Gegnerschaft stattfindet. Wie in Gemessene Zeit hat das Trennungsprogramm die Sache mit dem “st” nicht verstanden (Ges-talt, 279 und 284), trennt einzelne Vokale unschön ab wie “ü-bereinstimmen” (337, vgl. 252) und macht eigenmächtige Späßchen: Aust-ralien (30), sak-ral (74), Symmet-rie (115), Beg-riff (262 und 338), Af-rika (297) und zent-ral (360). Da für ausführliche Kommentare zu jedem Beitrag kein Platz ist, wähle ich exemplarisch den öffentlichen Abendvortrag von Treml, der als solcher einen besonderen Stellenwert hat und mir als Bergwanderin innerlich besonders liegt. Angesichts der einleitend betonten Gefährlichkeit des Bergsteigens scheinen mir die Ausführungen über Bergsteigen als wirksame Form sexueller Werbung ergänzungsbedürftig, denn Frauen bevorzugen doch wohl einen Mann, der sich auch für mindestens 20 Jahre an Aufzucht und Erziehung beteiligt. Folglich wäre es evolutionär klüger, den häufig abwesenden und ständig von frühem Tod bedrohten Extrembergsteiger nur als Spender seiner brillianten Gene zu benutzen und im Alltag auf einen sozialen Vater mit weniger heroischen aber familienverträglicheren Hobbies zu setzen (dieses Verhalten ist sogar empirisch belegbar - man schätzt, dass rund 4% der Geburten aus solchem “gene shopping” stammen). Auch Ersatzstimulantien wie riskantes Autofahren, Alkohol und Drogen sind zwar als Folge unserer Lebensweise verständlich, die keine echten Herausforderungen mehr bietet, machen aber aus einem Mann noch kein Objekt weiblichen Begehrens. Frauen ist nämlich die beabsichtigte Werbefunktion des “technologischen Pfauenradschlagens” durchaus bewusst (im Gegensatz zur Unbewusstheits-Vermutung auf Seite 143 und 153! ), denn die boshafteren unter ihnen nennen leistungsstarke PKWs mit häufig aufheulenden Motoren nicht gerade damenhaft aber ethologisch sehr treffend “Akustikpimmel”. Als Frau Mitte 50 (und damit klares Gegenbild zum “typischen” Bergsteiger! ) finde ich eine weitere kulturelle Funktion des Bergsteigens viel wichtiger: Je mehr mit dem Alter die Einsicht in die Ambivalenz von “Fortschritt” wächst, desto intensiver weiß man Räume zu schätzen, in denen die zweischneidigen Errungenschaften unserer Zivilisation noch weniger deutlich sind. Und das sind in Mitteleuropa nun einmal insbesondere die Gebirge. Review Article Sprache und Recht Neue Studien zur Rechtskommunikation Ernest W.B. Hess-Lüttich Die Rechtssemiotik gilt als zwar junger, aber heute etablierter Forschungszweig und weist (vor allem im angelsächsischen Raum) mit eigenen Zeitschriften, Lehrstühlen und Konferenzserien alle Merkmale wissenschaftlicher Institutionalisierung auf. Im deutschsprachigen Raum sind dabei zuweilen die philologischen Traditionen des Forschungsfeldes und die darin gesetzten neueren Schwerpunkte etwas aus dem Blick geraten. Während z.B. in der Germanistik die Beschäftigung mit der Thematisierung des Rechts (und der Rechtsprechung, der Gesetze und Urkunden) in literarischen und semi-literarischen Zeugnissen eine lange Tradition hat (cf. Hess-Lüttich 2008 a), hat die (sprach-)kritische Diskursforschung mit der Rechtslinguistik einen vergleichsweise jungen Zweig der Erforschung institutioneller Fach- und Fach-/ Laien-Kommunikation hervorgebracht (cf. Hess-Lüttich 2008 b). Dabei hat die interdisziplinäre Betrachtung des Verhältnisses von Sprache und Recht eine lange Tradition. Die klassische Rhetorik etwa hat schon vor über zweitausend Jahren die Gerichtsrede (das genus iudicale) ins Zentrum ihres Interesses gerückt. Oder man denke, in jüngerer Zeit, an die berühmten rechtssprachhistorischen Arbeiten von Jacob Grimm und die Tradition sprachkritischer Beschäftigung der Juristen selber mit ihrem eigenen Sprachgebrauch. Heute jedenfalls ist das Thema (wieder) aktueller denn je, und neue Studien sind ihm gewidmet. Ich greife drei davon exemplarisch heraus und werfe zur Einstimmung zunächst einen Blick auf eine aktuelle Einführung in den Gebrauch der deutschen Rechtssprache. 1 Das Arbeitsbuch soll laut Eigenwerbung der Verbesserung der Ausdrucksfähigkeit ausländischer Juristen in der deutschen Rechtssprache dienen, vor allem für berufliche Verhandlungen. In seiner Einleitung spricht G ERALD S ANDER das Problem der Rechtssprache als einer Fachsprache zwar an, verzichtet indes auf eine Diskussion des in der einschlägigen Literatur durchaus umstrittenen Verhältnisses (cf. Busse 1998: 1383). Eher interessiert ihn die Frage der ‘Übersetzung’ zwischen Texten aus unterschiedlichen Rechtssystemen, zumal in Fällen, in denen wichtige Begriffe in der Zielsprache fehlen oder mehrere Äquivalente haben. In solchen Fällen sieht er drei Möglichkeiten, die sich freilich ihrerseits leicht als problematisch erweisen können: Beibehaltung des ursprünglichen Begriffs, Umschreibungen oder Neologismen. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 156 Die Besonderheiten der Rechtssprache können auf wenigen Seiten kaum differenziert dargestellt werden: viele Nominalkonstruktionen, zusammengesetzte Substantive und Passivformen - das weiß auch der Laie; eine linguistische Analyse der deutschen Rechtssprache, wie der Titel suggeriert, darf der Leser nicht erwarten. Die Stärke des Bandes liegt eher in seinem Übungsmaterial, das dem Erlernen juristischer Formulierungen dienen soll. Demgegenüber sucht eine andere aktuelle Einführung das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Sprachwissenschaft zu erhellen, ebenfalls ohne Grundkenntnisse der beiden Disziplinen vorauszusetzen, aber anschaulich belegt durch Beispiele aus der forensischen Linguistik. 2 M ONIKA R ATHERT führt z.B. einige der den Laien besonders verwirrenden Fälle vor, in denen sich die Rechtssprache des Vokabulars der Alltagssprache bedient, die aber in ihrer rechtssprachlichen Terminologisierung eine ganz andere Bedeutung erlangen. Wieviel genau ist etwa eine “geringe Menge”? Für den Linguisten ist der Ausdruck vague, dem Juristen bietet er einen dem jeweiligen Einzelfall angemessenen Auslegungsspielraum. Auch in die Betrachtung von Besonderheiten der institutionellen Kommunikation vor Gericht wird am Beispiel von Gerichtsshows im Fernsehen und unter Bezug auf schon ‘klassisch’ gewordene Leitstudien (z.B. Hoffmann 1983) anschaulich und praxisnah eingeführt. Ein Spezialgebiet der forensischen Linguistik wird (unter dem Titel ‘Kriminalistik’) mit der experimentalphonetischen Analyse von Stimm- und Textproben zur Sprecheridentifikation bzw. Autorerkennung vorgestellt. In der elektronischen Datenverarbeitung und internetbasierten Kommunikation (in Form von Wikis, Blogs und RSS) werden Fragen des rechtlichen (und verrechtlichten) Umgangs mit sprachlichen Daten noch erheblich an Bedeutung gewinnen. Der komplexen Problematik des Übersetzens und Dolmetschens im juristischen Kontext wird das gebotene theoretisch-methodische Rüstzeug nicht immer ganz gerecht. Schwierigkeiten tauchen dabei keineswegs nur bei kulturell weit voneinander entfernten Sprachen auf, sondern werden oft gerade bei benachbarten Sprachen virulent. In diesem Zusammenhang hätte man sich noch eine intensivere Auseinandersetzung mit Problemen der Rechtskommunikation in der zunehmend multikulturell geprägten Gesellschaft gewünscht, also mit der Frage, wie der kulturelle Hintergrund einer Person nicht nur Auswirkungen auf ihren Sprachgebrauch hat, sondern auch auf ihr Rechtsverständnis. Zum guten Schluß bietet das Buch noch einen kurzen Überblick zur Forschung über ‘Sprache und Recht’ im deutschsprachigen Raum (Schlichtung, visuelle Rechtskommunikation, künstliche Intelligenz). Insgesamt eine anregende Kurzeinführung, in der allerdings wichtige Bereiche der Rechtssprache, der Kommunikation vor Gericht im interkulturellen Kontext, der verschiedenen Rechtskodifizierungen etwas zu kurz kommen. Einen deutlich weiteren Überblick - wenn auch nur über deutschsprachige Studien - gewinnt der einschlägig interessierte Leser durch einen neuen Sammelband, den D OROTHEE H ELLER und K ONRAD E HLICH kürzlich zusammengestellt haben. 3 Der erste Teil des Bandes beschäftigt sich mit der Sprachlichkeit des Rechts im Lichte öffentlicher Interessen. M ARKUS N USSBAUMER setzt sich in seinem Beitrag (geschrieben aus der Sicht eines Redaktors von Gesetzestexten in der Schweizerischen Bundeskanzlei zu Bern) mit der Frage auseinander, welche Funktionen Gesetzestexte zu erfüllen haben. Dabei unterscheidet er eine Klärungsfunktion im Prozeß der Textentstehung, eine Katalysatorfunktion im politischen Gesetzgebungsprozeß, eine Fixierungsfunktion, eine Integrations- und Orientierungsfunktion in Fällen von Rechtsunsicherheit oder Rechtsstreit, eine kommunikative Funktion und eine Informationsfunktion gegenüber der Öffentlichkeit, eine Funktion, die sich immer wieder bewußt zu machen keinem Juristen schaden kann, der an der Formulierung von Gesetzen und Sprache und Recht 157 Bestimmungen beteiligt ist. Denn damit ist die Frage verknüpft, was die Verständlichkeit von Gesetzestexten behindert und was sie fördert. Dazu zeigt der Verf. praxisnah, wie im Hinblick auf die Funktionen Verständlichkeit juristischer Texte zu erzielen ist. K ATRIN L UTTERMANN widmet ihren gewichtigen Beitrag der Mehrsprachigkeit am Europäischen Gerichtshof und dem Referenzsprachenmodell für ein Sprachenrecht der Europäischen Union. Sie erachtet m.E. in diesem Zusammenhang zu Recht “die Lösung der Sprachenfrage [als] die wichtigste Aufgabe unserer Zeit” (S. 48). Sie belegt die Behauptung mit statistischen Fakten und historischen Einsichten. Der traditionelle Gebrauch der Verfahrenssprache Französisch wird seit der Osterweiterung dem aktuellen Verhältnis der in der EU vertretenen Sprachen nicht mehr gerecht. Deshalb plädiert die Verf. für das Referenzsprachenmodell, bei dem es nach demokratischem Mehrheitsverhältnis zwei Referenzsprachen - gegenwärtig wären dies Englisch und Deutsch - methodisch angemessen zu ermitteln gilt. Die beiden Referenzsprachen bilden “rechtssprachenvergleichend den einheitlichen Standard für das Europarecht”, das dann entsprechend in die einzelnen Amtssprachen der Mitgliedstaaten zu übersetzen sei (S. 75). Dies würde gewährleisten, daß der muttersprachliche Zugriff auf das Gemeinschaftsrecht für die Unionsbürger und die Organe in allen Mitgliedstaaten verbindlich gewahrt wäre. Der zweite Teil des Bandes widmet sich mit vier Beiträgen der einzelsprachlichen Umsetzung textartengebundener Konventionen der Rechtskommunikation und entsprechenden Handlungszusammenhängen. Der Romanist B ERND S PILLNER erörtert Divergenzen von Rechtsverordnungen im Sprachvergleich Deutsch-Französisch. Er bietet in seinem kurzen Beitrag etliche Beispiele, die dem Leser ermöglichen, in den Textpassagen selbst Divergenzen zu ermitteln. Im Vergleich ergeben sich zahlreiche sprachliche, stilistische, textuelle und fachorientierte Kontraste, dazu kommen die interlingual differenten terminologischen Besonderheiten von Textsorten. Denn Rechtstexte sind nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell von der Gemeinschaft eines Staates geprägt: “Rechtssysteme, Fachtraditionen, Verwaltungskonventionen, gesellschaftliche und rhetorische Entwicklungen können eine Rolle spielen. Sie sind bei der Rechtsvergleichung zu berücksichtigen” (S. 107). Grundlage des Beitrags von A LESSANDRA L OMBARDI ist die Übersetzung einiger Aufsätze zur Strafrechtsphilosophie von Klaus Lüderssen vom Deutschen ins Italienische, die nicht nur terminologische, sondern vor allem phraseologische Probleme aufwirft. Im Deutschen streng definierte Doppel- und Mehrwortlexeme wie Straftat z.B. haben im Italienischen eine Vielzahl von Entsprechungen, die in der juristischen Terminologie jeweils präzise belegt sind. Deshalb sei eine funktional adäquate (transkulturelle) Übersetzung eines Rechtstextes nur mit spezifischem Fachwissen über die Rechtskultur der Zielsprache möglich. Einen intralingualen Beitrag liefert demgegenüber D ORIS H ÖHMANN mit ihrer Analyse des Modalverbs sollen in Rechtstexten, in der sie zu dem Schluß kommt, daß eine pauschale Gegenüberstellung von alltäglichem und fachsprachlichem Sprachgebrauch kaum haltbar sei, weil grundsätzlich alle sprachlichen Mittel fachsprachliche Bedeutung gewinnen könnten. Für sie ist Rechtssprache somit per definitionem Fachsprache; das Problem der Verständlichkeit von Rechtstexten bleibt dabei allerdings außer Betracht. Redewiedergaben in Gerichtsurteilen unterschiedlichster Rechtssysteme untersucht D AVID M AZZI in seinem Beitrag, der im interkulturellen Vergleich etwa zwischen (kontinental-)europäischem Recht und dem Common Law veranschaulicht, wie stark die Rechtssprechung kulturell gebunden ist. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Verf. der argumentativen Funktion von gerichtlichen Entscheidungen im Kontext der Polyphonie der Rechtssprechung und den damit verbundenen Argumentationsrollen. Ernest W.B. Hess-Lüttich 158 J AN E NGBERG und N INA J ANICH widmen sich im dritten Teil des Bandes dem Thema fachkommunikativer Sprachkompetenz am Beispiel der juristischen Kommunikation und plädieren für eine Weiterentwicklung der Fachsprachentheorie unter besonderer Berücksichtigung des Kompetenzbegriffs, den sie in mehrere Teilkompetenzen (wie Kontextualisierungskompetenz, kreative Kompetenz, transsubjektive Kompetenz, metakommunikative Kompetenz) entfalten, und dafür, Fachsprache nicht isoliert zu betrachten, sondern die “integrative und handlungsorientierte Entwicklung einer umfassenden fachbezogenen Sprachkultiviertheit” anzustreben (S. 232). Die Vermittlung rechtssprachlicher Kompetenzen in der akademischen Bildung ist Gegenstand im vierten Teil des Buches. W ILHELM G RIESSHABER grenzt sich ab vom verbreiteten Urteil über die Unverständlichkeit der deutschen Fachsprache des Rechts, wenn es um deren Vermittlung als Fremdsprache gehe, denn diese Diagnose beziehe sich auf die Kommunikation zwischen Experten und Laien, und nicht auf die “zwischen Experten des zielsprachigen Rechtssystems und Experten eines anderssprachigen Rechtssystems, die sich Kenntnisse des zielsprachigen Rechtssystems aneignen möchten” (S. 239). Dem trage das Münstersche Fachsprachvermittlungskonzept des Sprachenzentrums systematisch Rechnung, das Konversationsübungen und Hörverständnis, Leseverstehen und Schreibkompetenz voneinander abgrenze und auf bestimmte Eigenschaften der deutschen Rechtssprache eingehe, die für Nicht-Muttersprachler besondere Schwierigkeiten mit sich bringen. S USANNE B ALLANSAT und G UNHILT P ERRIN erläutern die Verknüpfung von Sprache und rechtlichem Wissen am Beispiel der Vorbereitung von Studierenden auf die Übersetzung von Rechtstexten. Ihre Untersuchung beruht auf einem Experiment an der Universität Genf, bei dem die Studierenden zugleich juristisch und linguistisch geschult wurden, sodaß im Hinblick auf das Übersetzen von juristischen Texten die linguistische Analyse das Verständnis der juristischen Zusammenhänge erleichtere und umgekehrt das Erkennen sprachlicher Phänomene für das Verständnis des juristischen Inhalts hilfreich sei (S. 263). Den Band beschließt der Beitrag von H EIDRUN K ÄMPER , in dem sie anhand von Ausschnitten aus den Akten des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (auch non-verbale) Verhaltens- und Handlungsmuster aufzeigt, die sich in den Redebeiträgen der Angeklagten vor Gericht beobachten lassen, wenn sie über ihre Beiträge an nationalsozialistische Gewaltverbrechen sprechen. Ihre forensischen Handlungsmuster seien dadurch gekennzeichnet, daß sie einer Normenkonkurrenz unterliegen - die Frage der Beteiligung werde stets im Referenzrahmen des demokratisch-rechtsstaatlichen Normensystems verneint, Fragen betreffend den Sachverhalt im Referenzrahmen des nationalsozialistischen Normensystems genau ausgehandelt: wer leugne, sich distanziere oder gestehe, kommuniziere mit Bezug auf das demokratisch-rechtsstaatliche Werte- und Normensystem, wer expliziere, normalisiere, fragmentiere, kommuniziere mit Bezug auf die nationalsozialistischen Normen und Werte (cf. S. 314). Ein fesselnder Beitrag auch zu Argumentationsstrategien vor Gericht allgemein. Der Interferenzbereich der beiden Disziplinen Sprachwissenschaft und Rechtswissenschaft bietet, wie die drei hier besprochenen Bücher zeigen, ein weites Feld für Untersuchungen und Forschungsfragen. Mit dem Band von Monika Rathert gewinnt man einen ersten Einblick in dessen Vielseitigkeit. Gerald Sander beackert das Feld der deutschen Rechtssprache als einer Fremdsprache mit vielen praktischen Übungen auf schmaler theoretischer Grundlage. Dorothee Hellers und Konrad Ehlichs Studien zur Rechtskommunikation bieten den vergleichsweise perspektivenreichsten Beitrag zum Diskurs ‘Sprache und Recht’ und regen an zu weiteren Forschungen. Sprache und Recht 159 Anmerkungen 1 Sander, Gerald G. 2004: Deutsche Rechtssprache. Ein Arbeitsbuch, Tübingen/ Basel: Francke. 2 Rathert, Monika 2006: Sprache und Recht (= Einführung in die germanistische Linguistik 3), Heidelberg: Winter. 3 Heller, Dorothee & Konrad Ehlich (eds.) 2007: Studien zur Rechtskommunikation (= Linguistic Insights. Studies in Language and Communication 56), Bern etc.: Peter Lang. Literatur Busse, Dietrich 1998: “Die juristische Fachsprache als Institutionensprache am Beipiel von Gesetzen und ihrer Auslegung”, in: Hoffmann, Lothar et al. (eds.) 1998: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Sprachenforschung und Terminologiewissenschaft (= HSK 14.2), Berlin/ New York: de Gruyter, 1382-1391 Heller, Dorothee & Konrad Ehlich (eds.) 2007: Studien zur Rechtskommunikation (= Linguistic Insights. Studies in Language and Communication 56), Bern etc.: Peter Lang Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2008 a: “Pannen vor Gericht. Sprache, Literatur und Recht in einem frühen Hörspiel von Friedrich Dürrenmatt”, in: Elke Gilson, Barbara Hahn & Holly Liu (eds.), Literatur im Jahrhundert des Totalitarismus. Festschrift für Dieter Sevin, Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms, 149-170 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2008 b: “Angeklagte Ausländer. Interkulturell-Institutionelle Kommunikation vor Schweizer Gerichten”, in: Achim Eschbach, Mark A. Halawa, Jens Loenhoff (eds.), Audiatur et altera pars. Kommunikationswissenschaft zwischen Historiographie, Theorie und empirischer Forschung. Festschrift für H. Walter Schmitz, Aachen: Shaker, 304-336 Hoffmann, Ludger 1983: Kommunikation vor Gericht, Tübingen: Gunter Narr Rathert, Monika 2006: Sprache und Recht (= Einführung in die germanistische Linguistik 3), Heidelberg: Winter. Sander, Gerald G. 2004: Deutsche Rechtssprache. Ein Arbeitsbuch, Tübingen/ Basel, Franke Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de The publication covers media discourse, an online-dictionar y of football terms, metaphors, the grammar of football commentary, emotions, football chants and football terms as multilingual ecosystems. Contributions from Sweden to Nigeria show how language operates in football. Would you know where footballing terms in Arabic come from? How does the German coach Otto Rehagel communicate with the Greek players? Which language did Materazzi use when insulting Zidane? Which special words do German, Polish and Igbo have for running, dribbling, penalty area and foul? In which country do the Canaries play the Roaring Lions? Where are famous footballers enshrined in a >>Hall of Fame<<? Which metaphors do Swedish, German and Russian football commentators tend to use? Are the British really less emotional than the Spanish when it comes to football commentating? And why are commentators from Russia to Italy speechless as soon as emotions really run high? That and much more is covered in this first wide-ranging compilation on the topic of football and language. Timed to coincide with EURO 2008, this book puts football on the map of current linguistics. Eva Lavric / Gerhard Pisek / Andrew Skinner / Wolfgang Stadler (eds.) The Linguistics of Football Language in Performance, Band 38 2008, 450 Seiten, €[D] 78,00/ Sfr 132,00 ISBN 978-3-8233-6398-9 Reviews Origines du langage: Une encyclopédie poétique. Sous la direction de Olivier Pot. Paris 2007 Introduction Le thème de cet ouvrage est d’une importance capitale puisque traitant d’un fait, d’une réalité, d’un vécu ou phénomène naturel dont la recherche implique une multitude de tendances et de croyances qui chacune à son niveau cherchent à justifier les prémisses de leur doctrine, dogme ou théorie. En cela, tout exposé et point de vue reste à un certain niveau subjectif. C’est justement cette diversité de subjectivité qui fait le charme de la science qui cherche à découvrir la vérité. Loin de vouloir réveiller d’autres débats, en évoquant la notion de vérité, je me contenterai de rester dans la droite ligne de ce volume pour faire ressortir quelques points saillants de ce thème et de donner à mon humble niveau une contribution que suscitent les différents axes des publications ici mentionnées. Retrouver les “origines du langage”, c’est avant tout sonder l’histoire de l’humanité même. A ce niveau, les visions sont partagées entre religieux, philosophes, hommes politiques et de lettres etc. A travers récits bibliques, coraniques et autres écritures révélées, fables, mythes et autres, l’origine de l’humanité est thématisée permettant ainsi d’avoir une vue synoptique des “origines” des langues et par là du langage. Parler donc d’origine au pluriel, c’est faire mention des différentes tendances explicatives de l’origine de l’humanité et donc du langage, parce que sans le premier le dernier n’aurait vu le jour. De toutes les interventions faites, il ressort que celles-ci tendent à accorder du crédit aux récits bibliques sur l’origine de l’espèce humaine, des langues et du langage. En cela, toutes les pensées peuvent être résumées en eux, puisqu’elles les prennent pour point de départ de leurs propres réflexions et analyses ou trouvent leur confirmation (explication) en ceux-ci. Ainsi n’y aurait-il pas de différences fondamentales ou de contradictions profondes entre ces récits ou croyances et cette conception monothéiste de la création du monde. Il convient de résumer et de dire que toutes ces visions du monde ou philosophies concernant l’humanité trouvent leur “origine” dans les récits bibliques: Origine ne saurait signifier le début, la genèse de toute chose, puisque certains mythes et croyances existaient bien avant la confection de la Bible elle-même 1 . Ce qu’il convient de comprendre et de retenir du terme “origine” est contenu dans l’exposé philosophique que Wolfgang Pross a fait en s’appuyant sur un écrit de Herder. Pour lui, l’origine absolue serait inaccessible, et il démontre par la suite qu’avant que l’on puisse observer un phénomène, il y a une phase, un commencement invisible qui a lieu. Au moment où l’on aperçoit la chose, elle a bien pris le temps de se former quelque part. L’origine, ce serait donc l’état de ce qui est constamment en devenir. Pour ma part, cette invisibilité au-delà du factuel, du concret, de l’évidence même et qui demeure insondable est ce que la religion désigne sous le nom de Dieu. Dieu, comme Créateur de l’univers, reste une réalité métaphysique, d’ordre spirituel, et donc insaisissable pour sa créature. Cela voudrait dire en d’autres termes que le genre humain surtout (c’est lui qui est selon les saintes Écritures créé à l’image de Dieu) est incapable d’expliquer Dieu quelle que soit l’intelligence dont il est doté, sinon il sera considéré comme créateur au même titre que Lui. Les secrets de la création suggèrent la limite de l’Homme face à Dieu ou, pour emprunter un vocabulaire propre aux idéalistes allemands avec Hegel, sa “finitude” vis-à-vis de “l’Absolu”. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 31 (2008) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Reviews 162 Pour le sens commun, ce qui reste inexpliqué, Dieu relève de la nature. Mais comme nous le voyons dans cet ouvrage avec Spinoza, tout ce que l’homme peut faire naturellement se passe avec l’assistance intérieure de Dieu. On ne saurait identifier l’homme comme étant créature divine et parler de ses facultés naturelles. C’est quoi donc la nature? Le naturel c’est le divin. Il est par conséquent indispensable de faire recours à cette réalité incontournable qu’est l’Absolu ou “l’Un en tant qu’il est le tout des choses” de James Harris. C’est pourquoi il faut revenir à cette vérité pour comprendre le monde. C’est elle et en elle seule que nous devrions chercher les réponses à nos interrogations. Le pourquoi de l’intérêt aux récits bibliques De tous les exposés, qu’ils soient philosophiques, mythologiques ou scientifiques, aucun ne donne une réponse assez claire, plausible et convaincante de l’origine du langage. Dans toutes les cultures du monde, il se trouve des fables et contes dans lesquels les hommes et les animaux pouvaient se parler, se comprendre. On pourrait se demander quelle langue ceux-ci employaient-ils et à quelle époque de l’Histoire avait existé cette entente parfaite? Nos différents récits ne nous donnent pas de précisions à ce sujet. Ce qui laisse croire que la communication entre hommes et bêtes n’a jamais existé ou est le produit de l’imagination des hommes. Mais ces écrits fictionnels ont bien de fonctions sociales qu’on ne saurait nier. Par ailleurs, l’hypothèse d’une langue commune entre les espèces humaine et animale n’est pas à exclure. Nous y reviendrons un peu plus tard. Aussi dans la mythologie grecque avons-nous connaissance de ce que les hommes et les bêtes s’adressaient directement aux dieux dans une langue qui était déjà là, qui n’était ni la propriété ou l’invention des dieux ni des hommes. A quand situer alors ces “il était une fois”, “il y a très longtemps” ou encore “il fut un temps” qui marquent le début des histoires du temps où tous les êtres vivants sans exception pouvaient communiquer? Pour l’heure, aucune découverte scientifique ne permet de répondre à ces interrogations. C’est pourquoi il convient de se tourner vers la Bible tant mentionnée par les exégètes pour y tirer des éléments de réponses. La langue originelle (adamique): Langue de Dieu? La langue dans laquelle s’exprimait Adam peut être interprétée comme étant celle de Dieu ou celle d’Adam (des hommes) que Dieu crée et lui donne pour pouvoir communiquer avec sa descendance. Toujours est-il que toutes les deux sont de Dieu, mais la deuxième option paraît plus justifiée par la suite de l’histoire des hommes. Cette interprétation est en conformité avec l’origine invisible de la création de la langue dans la mesure où ni Adam ni sa descendance ne sauront expliquer d’où leur vient cette langue. Ils sont nés en trouvant une langue toute faite: C’est le phénomène de la langue maternelle que nous parlons sans l’apprendre et sans savoir d’où elle nous vient. Ou disons qu’elle vient de nos parents qui ne l’ont pas conçue et qui la tiennent de leurs parents. Mais la seule différence avec la langue d’Adam est que nous savons qu’elle vient de Dieu qui en est le concepteur. Dieu donc comprend cette langue parlée par Adam et donne à ce dernier aussi le pouvoir de déchiffrer Sa langue à Lui. Il perdra cette grâce ou prérogative qui il lui est faite suite à son péché. Il ne faut pas oublier aussi que Dieu a donné à Adam le pouvoir de donner son nom à chaque espèce animale sur la surface de la terre et même dans les eaux. Ce qui fait de l’homme (Adam) un innovateur, mais ce pouvoir n’est comparable à celui de Dieu. Que faut-il comprendre? Quand tous les hommes après Babel furent dispersés sur toute la surface de la terre, chaque peuple, donnera à chaque espèce rencontrée un nom dans la langue parlée par lui: ce qui nous mène à un arbitraire entre le signifiant et le signifié d’une langue à l’autre. De l’homme et de l’animal Lors de la tentation que le diable, déguisé en serpent, fait subir à Eve, la femme d’Adam, nous remarquons un fait d’une importance capitale et qui suscite des interrogations donnant des pistes et des éclaircissements sur ce qui est supposé être la première langue du monde. Il est rapporté que Reviews 163 le diable vint sous une forme de serpent et s’adressa à Eve. Celle-ci ne prit pas peur mais s’engagea plutôt dans un dialogue avec l’effroyable reptile, qui l’entraîna à la chute. Cette attitude d’Eve vis-à-vis du serpent, bien que surprenante de nos jours, montre qu’au début Dieu faisait communiquer les hommes et les animaux. II ressort de cet état de fait que les animaux aussi s’expriment. Mais pourquoi n’arrivonsnous plus à saisir leur message? L’harmonie originelle voulue par Dieu est rompue dès le péché originel. A partir de ce moment, la première division des langues s’opère entre Dieu, l’Homme et les animaux: Dieu se retire peu à peu des hommes, les animaux ne communiqueront plus jamais ni avec Dieu ni avec les hommes. Il ne s’agit pas ici de montrer qu’il existe une certaine égalité entre les hommes et les animaux qui utilisent une langue commune. Loin de là! Dès la création, toute chose a été balisée par Dieu qui donne le pouvoir à Adam de gouverner toute la créature. En outre, Dieu crée l’Homme à son image, c’est-à-dire Il le dote d’intelligence; ce qui sera le point de démarcation avec les animaux. L’intelligence de l’Homme doublée de son insatiabilité et de son éternelle insatisfaction (désirs infinis) le pousse à aller toujours de l’avant en innovant. Les besoins et ces exigences de l’Homme doivent pouvoir s’exprimer aussi dans son langage. Etant donné le fait que les exigences diffèrent d’un lieu à un autre, nous aurons un développement de la langue et du langage à multiple vitesse. C’est pourquoi le vocabulaire de certaines contrées est limité 2 , comme l’est aussi celui des animaux. C’est la diversité qui fait suite aux manquements des premiers hommes et qui est devenu le nouvel ordre de la vie. Dès cet instant, chaque groupe, chaque peuple, chaque espèce animale (à un degré moindre) a droit à la différence. Cependant, notre nature d’être insatisfait, et voulant à tout prix tout comprendre et tout gouverner, pousse les uns à ne pas avoir d’égard pour les autres et à vouloir même les appréhender à la mesure de nos propres modèles. Il faut reconnaître à chacun sa spécificité, les animaux y compris. Sinon comment expliquer les facultés dont ceux-ci sont dotés qui étonnent tant les hommes. Il est rapporté ici dans maints récits des capacités que les animaux possédaient et qui transmises aux hommes leur donnaient des pouvoirs inouïs comme celui de prédire l’avenir par exemple. Autant la diversité existe chez les hommes, autant elle l’est chez les animaux qui ne sauraient constituer une entité homogène. Pour revenir à la langue et au langage, il faut retenir que l’Homme, pour les besoins de son existence toujours en devenir, est obligé de modeler son langage. L’animal, par contre, reste à sa nature puisqu’il n’a pas la liberté, l’intelligence d’aller au-delà de ce qui lui est donné comme instinct. Ainsi, la langue et le langage seraient-ils liés à la liberté. Babel ou la malédiction divine? Beaucoup sont les chercheurs qui se sont intéressés au récit sur la tour de Babel et la dispersion des langues. Il en ressort que pour les uns et les autres, cette intervention de Dieu, suite à son injonction aux hommes de croître et de se multiplier, ce qui ne fut pas suivi à la lettre pour ces derniers, ne saurait signifier une malédiction puisqu’elle va toujours dans le sens de ce que l’Être suprême aurait prescrit: La multiplicité et la diversité. Loin s’en faut! Remplir la terre en ne parlant qu’une seule langue, ce qui est synonyme d’entente parfaite malgré les distances qui auraient séparé les hommes, voilà ce que Dieu aurait prévu. Les hommes choisissent de défier Dieu de deux manières: D’abord en refusant de remplir la terre, et, ensuite en voulant se faire un nom pour pérenniser leur existence, ce qui de droit doit revenir au Créateur. Partant de ce point de vue, la dispersion des langues à Babel est certes l’accomplissement obligé du bon vouloir de Dieu de voir les hommes remplir toute la surface des terres, mais aussi et surtout une malédiction pour les hommes qui sont condamnés à ne pas se comprendre. Il est inutile de rappeler les diverses incompréhensions et conflits qu’engendrent les différentes langues, même de nos jours. A partir de cet instant, les hommes passeront pour tous les moyens pour essayer de retrouver cette unité linguistique perdue. Tous ces efforts resteront vains, car, en dépit du fait que certaines langues aient le monopole sur d’autres, ce qui veut dire une uniformi- Reviews 164 sation des langues et par ricochet une parfaite entente mondiale, il n’en demeure pas moins que ces langues soient influencées par les espaces qui les accueillent. En définitive, parler la même langue ne revient pas à dire qu’on ait le même langage. Conclusion Les “origines du langage” trouvent leur fondement dans l’histoire de l’Humanité et se trouvent ainsi liées à l’apparition de la première langue. Sur ce sujet, plusieurs légendes et mythes rivalisent. Notre tentative a été de montrer que tout tend à privilégier les origines bibliques de la vie sur terre et de faire du langage un don divin avec une marge de liberté attribuée aux humains. Mais à partir du moment où le religieux demeure toujours quelque chose de dogmatique, il va s’en dire que rechercher l’Origine du langage ne sera rien d’autre qu’une entreprise chimérique. C’est pourquoi il faut revenir au titre de l’ouvrage pour prôner la pluralité de “non-donnés” pour expliquer la seule réalité que représente le langage, car comme le dit Wolfgang Iser: “Il faut du non-donné pour comprendre le donné, du symbole pour avoir accès aux donnés empiriques.”. En privilégiant la pluralité, l’ouvrage laisse valoir cette boutade avec laquelle il convient de clore tout commentaire: “A chacun sa vérité! ”. Notes 1 Malgré sa rédaction qui se situe longtemps après des mythes grecs, des écrits philosophiques antiques etc., la Bible ne relate pas moins d’histoires et d’événements se déroulant bien avant ceux-ci. 2 Cette opinion s’insurge contre l’idée selon laquelle l’absence de mots abstraits de certaines langues témoigne du manque de raisonnement chez ces peuples-là. Ignace Djama Allaba (Bern) Micha Brumlik: Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot. 2., überarbeitete Auflage. Philo Verlag, Hamburg 2006, 149 Seiten, 18,00 . Verfahren der Kulturgenese Micha Brumlik eröffnet kulturgeschichtliche Wege aus dem Bilderverbot Vielleicht ist es sogar gut, dass der Verlag den geplanten Auslieferungstermin von Micha Brumliks Buch im Sommer 2006 nicht einhalten konnte. Denn die besonnene Stimme des dünnen Bändchens wäre im medialen Getöse des weltweiten Streits um die Mohammed-Karrikaturen vermutlich untergegangen. Brumlik vertritt in dem Text die These, dass Kulturen und ihr Selbstverständnis wesentlich im Modus ihrer Reflexion angelegt sind: “Je nachdem, ob sich eine Kultur im Modus der Rede und Wechselrede, des Lesens und Schreibens oder des Bildens und Schauens versteht, wird sich ihre Haltung zu Zeit und Geschichte, zu Sinn und Moral sowie zu ihren Gottes- und Menschenbildern ausprägen.” Hierin liegt die eigentliche Sprengkraft des Bilderverbots. Vor diesem Hintergrund ist es aber umso bedauerlicher, dass der Publikationsdruck, der wohl dem Versuch politischer Aktualität geschuldet war, nicht die Zeit für ein Kapitel zum Bilderverbot im Islam gelassen hat. So bleibt mit Erscheinen der zweiten schon gleich das Desiderat einer dritten, vervollständigten Auflage. Trotz dieser Leerstelle ist Micha Brumliks Buch aber von politischer Relevanz. Nicht nur, weil es die kulturgeschichtliche Tiefe des biblischen Bilderverbots darstellt, sondern vor allem, weil es deutlich macht, wie produktiv das Denken war, das daraus hervorgegangen ist. Die Überzeugung von der Undarstellbarkeit Gottes war keine geistige Sackgasse, sondern eher ein Ausgangspunkt, von dem aus sich das griechische, christliche und jüdische Denken entwickelt und je spezifische Wege aus der Bilderlosigkeit gefunden haben. Dies verdeutlicht Brumlik an der jüdischen Tradition, oder besser gesagt: an seiner eigenen jüdischen Traditionsbildung. Denn Brumliks Blick ist von der Philosophie Emmanuel Lévinas’ und der Grammatologie Jacques Derridas geprägt und entfaltet das Judentum von der tal- Reviews 165 mudischen Tradition über die antike jüdische Gelehrtheit insbesondere Philo von Alexandriens sowie Abraham Abulafias kabbalistische Mystik hin zu Lévinas’ Ethik des Antlitzes als eine “Lebensform der Schrift”. Gemeint ist damit eine Hermeneutik, die von einer ursprünglichen Abwesenheit Gottes ausgeht, die in dessen Bildlosigkeit repräsentiert ist und den Menschen zur Interpretation der Weisung, zur Auslegung der Schrift ermächtigt. Insofern sei “das Denken des rabbinischen Judentums weniger als Geschichtsdenken und Messianismus denn als Ethik und Lehre kommunaler Freiheit” zu verstehen. Einerseits legt Micha Brumlik mit dieser Perspektivierung jüdische Grundlagen eines postmodernen Denkens dar, das Jacques Derrida in seiner Lektüre von Franz Kafkas Parabel “Vor dem Gesetz” entfaltet hat: Der Mensch kann nicht ‘in’ Gottes Gesetz sein, er kann sich ihm nur stets annähern, er ist verurteilt zur Freiheit. Andererseits ist Brumliks Interpretation der jüdischen Tradition so sehr von Derridas schriftbasierter Dekonstruktion inspiriert, dass sie wohl kaum von orthodoxen jüdischen Gesetzesdenkern geteilt würde. Wenn die schrifttypologischen Bemerkungen des Autors zu den ägyptischen Hieroglyphen (die sich nicht “in einer vereinfachten Abbildrelation unmittelbar auf die Welt beziehen”) problematisch sind, so ist sein Verweis auf die Buchstabenschrift für die Entstehung des jüdischen Monotheismus doch zentral. Während Jan Assmann in seinem Buch Moses der Ägypter (1998) vor allem den Vorwurf der Idolatrie, des Götzenkultes, gegen die äußerlich bildhaften Hieroglyphen als Moment jüdischer Identität betont hat, so hebt Micha Brumlik hervor, dass ein Konzept des Schreibens des Nicht-Bildhaften, Abwesenden überhaupt erst durch die Entstehung der nordsemitischen Konsonantenschriften im 17. Jahrhundert v. Chr. möglich wurde. Hier zeigt sich im Konkreten Brumliks Konzeption menschlicher Modi, die nicht Ausdruck eines Denkens, sondern symbolische Formen sind, die diesen Ausdruck, also Kultur, erst ermöglichen. In der Festschreibung einer Kultur auf ein generatives Verfahren läge natürlich eine unvorstellbare Essentialisierung. Man denke etwa an Ernest Renans Vorstellung von der “semitischen Sprachrasse”, in der das monotheistische Denken und die arabisch-jüdische Gesetzeskultur - letztlich ein ganzer Kulturkreis - auf die Struktur weitgehend vokalloser Schriften zurückgeführt werden. Doch dieser Gefahr sitzt Brumlik gleich in mehrfacher Hinsicht nicht auf. So zeigt er, dass die Durchsetzung des lange umstrittenen Bilderverbots einhergeht mit der politischen und kultischen Zentralisierung des israelischen Königreichs und erst im 4. Jahrhundert v. Chr., nach dem babylonischen Exil, als Judentum kodifiziert wurde. Ähnlich verhält es sich im Christentum, das sowohl das griechisch-platonische als auch das jüdisch-religiöse Konzept der Nicht-Darstellbarkeit Gottes beerbt hat. Brumlik erzählt in einer guten Darstellung den byzantinischen Streit zwischen Ikonoklasten und Befürwortern einer volksnah-pädogischen Bilderkultur. Im Kern der von Konzil zu Konzil ausgetragenen Streitigkeiten stand die Frage nach der Natur Jesu. Erst spät, im 8. Jahrhundert n. Chr., setzten sich die Befürworter der Bildhaftigkeit und damit die Lehre von der Fleischwerdung des Wortes durch. Die Problematik des Bilderverbots zeigt sich in der Geschichte des Judentums wie des Christentums also als identitäres Ringen und als Geschichte ständiger Durchdringung. Das exemplifiziert Baruch de Spinoza, der Bild und Schrift gleichermaßen geschmäht und die Vorstellung eines in einer “Geistchristologie” erfahrenen “unmittelbaren Gottes” entwickelt hat. In dieser Erkenntnis liegt die größte politische Tragweite des Buchs. Deshalb ist es bedauerlich, dass der Autor bisweilen doch auf die zu einfache Opposition zwischen christlichem Logozentrismus und jüdischer Schriftkultur, zwischen philosophischer Subjektzentriertheit und einem jüdischen Denken des Anderen zurückgreift. Reibungsvolle Lektüren etwa des Herderschen Hörens auf die Welt oder der dialogischen Erkenntnistheorie Wilhelm von Humboldts, die bereits auf den Anderen und damit in Richtung einer Ethik des Antlitzes weisen, hätten durchaus aufschlussreich sein können. Dennoch ist Micha Brumliks Büchlein eine sehr lesenswerte Befragung unserer kulturellen Grundlagen. Markus Meßling (Paris) Reviews 166 Dagmar Schmauks, Semiotische Streifzüge: Essays aus der Welt der Zeichen. Berlin, Lit Verlag, 2007, pp. 250. Dagmar Schmauks’ Semiotische Streifzüge ist eine Essaysammlung, die durch ihre thematische Vielfalt beeindruckt. Vom Unbelebten über Pflanzen, Tiere und Menschen bis hin zu Toten, von Technik über Lyrik, Tanz und Malerei bis hin zum Schimpfwort wird die Zeichenhaftigkeit der Welt skizziert. Die Themenvielfalt macht das Buch geeignet als semiotische Einstiegslektüre, die das Zeug dazu hat, bisher unbewanderte Leser für die Semiotik zu interessieren, denn auch in diesem Wissenschaftsbereich gilt, dass das, was einen praktischen Bezug zur Lebenswelt und nebenbei auch noch seine lustigen Seiten hat, bereitwilliger gelernt wird als trockener Stoff. Eine Einführung in die Semiotik ersetzt das Buch freilich nicht, wie die Autorin im Vorwort betont und wie es auch nicht der Zweck einer Essaysammlung sein kann. Durch die im Inhaltsverzeichnis angedeutete thematische Ausrichtung wird dennoch ein gewisser Anspruch auf semiotische Bezüge erhoben, etwa zur Kultursemiotik, zur Zoosemiotik oder zur Semiotik der Kommunikation. Jedoch will die Autorin laut eigener Ankündigung (S. 6) weitgehend auf eine wissenschaftlich-textuelle Bezugnahme und Untermauerung verzichten und auch keine Terminologie verwenden, die dem Leser zu schwierig sein könnte. Fraglich ist, ob das Buch so funktionieren kann, denn durch die willentliche Entscheidung für ein solches Manko wird zweierlei Problemquellen Vorschub geleistet. Zum einen zeigt sich im Laufe der Lektüre, dass nicht selten Beispiele konstruiert wurden, die sachliche Unstimmigkeiten enthalten. Das direkte Beziehen auf Sekundärliteratur hätte Fehler reduziert, konkrete Literaturangaben hätten der Kritik vorgebaut und den Beispielen zu Validität verholfen. Zum anderen wird durch den weitgehenden Verzicht auf Theorie und Terminologie die Schwierigkeit geschaffen, wie das Buch dem in Titel und Inhaltsverzeichnis proklamierten semiotischen Anspruch gerecht werden soll. Die trotz seiner lobenswerten Grundausrichtung leider vorhandenen Schwächen des Buches sind großteils auf diese vermeintlich leserfreundlichen Beschränkungen zurückzuführen. Im Folgenden soll die dadurch entstehende Problematik an konkreten Textstellen der Semiotischen Streifzüge aufgezeigt werden. Eine tiefere theoretische Auseinandersetzung mit den Inhalten durch Bezugnahme auf den semiotischen Kanon fällt schwer, da das Buch selbst nur sporadisch auf ebendiesen Kanon zurückgreift. Schon im Kleinen stolpert der Leser darüber, dass Gedankengänge nur unzureichend begründet und damit nicht plausibel oder dass die angeführten Beispiele nicht schlüssig sind. So hatte z.B. der Frühmensch durchaus keinen Grund, “neidisch” die arbeitsteilige Jagd von Wölfen zu beobachten (S. 104), denn bereits die dem Frühmenschen vorausgegangenen Australopiticinen jagten arbeitsteilig (vgl. Burenhult 2004). Sollten sie sich Jagdstrategien abgeschaut haben, dann allenfalls die von Raubtieren der afrikanischen Steppe und nicht die des Wolfes. Als der Homo Erectus Afrika verließ, war er bereits ein mit allen Wassern gewaschener Großwildjäger. Ebensowenig trifft es zu, dass das Sprichwort “jemandem die Hölle heiß machen” im Kontext von Wut verwendet wird (S. 161). Laut dem Wörterbuch der deutschen Idiomatik bedeutet es lediglich, jemandem heftig zuzusetzen (Duden Bd. 11 2008, 368); zu Wut besteht kein ursächlicher Zusammenhang. Besonders verwunderlich ist es, dass im Buch von Wörtern mit “zwei gleichbetonten Silben” (S. 163) die Rede ist und als Beispiele etwa “Scherzkeks” oder “Hanswurst” angeführt werden. Auch ohne ein Studium der Linguistik ist durch Aussprechen feststellbar, dass ein zweisilbiges Wort im Deutschen eine betonte und eine unbetonte Silbe hat, niemals jedoch zwei gleichbetonte. Gerade in diesem Fall wäre ein Überprüfen besonders einfach gewesen. Im Deutschen Universalwörterbuch von Duden ist die Betonung beider Wörter als auf der ersten Silbe liegend angegeben (Duden 2006, 759 u. 1455), in anderen Nachschlagewerken ist “Hanswurst” auf der zweiten Silbe betont oder beide Betonungsmöglichkeiten sind angegeben. Zu achten ist auch auf die korrekte Schreibweise von Eigennamen: Brechts Mackie Messer schreibt sich nicht “Macky” (S. 186), wie man in der Dreigroschenoper nachlesen kann (Brecht 1968, 7). Es ließe sich argumentieren, dass solcherlei Detailfehler zwar keinen guten Eindruck mach- Reviews 167 ten, aber nicht von besonderer Wichtigkeit seien, zumal sie nur die Beispiele und nicht den theoretischen Kern betreffen. Dieses Buch ist aber ein besonderer Fall: Es lebt fast ausschließlich von Beispielen, ja sie machen nicht das Bei-, sondern geradezu das Hauptwerk aus und sind der zentrale Bereich des Buches. Tauchen innerhalb der Beispiele immer wieder Unkorrektheiten auf, stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Inhalte. Ähnlich irritieren die oben erwähnten unplausiblen Gedankengänge. Wie soll der Leser nachvollziehen, dass die Zuschauer eines Straßenkünstlers laut Schmauks “wie Automaten” wirken (S. 225)? Allein deren passives Zuschauen ist keine rechte Begründung für einen solchen Vergleich. Wieso findet Schmauks, dass das Konzept “fallen” in Magrittes Gemälde Le soir qui tombe mit “positiven Assoziationen” (S. 212) aufgeladen sei? Die Erläuterung der angeblich positiven Assoziationen erschöpft sich darin, dass das Bild einen Witz darstelle und Neugier erzeuge. Die Grundlage für eine derartige Bewertung ist also ausgesprochen mager. Warum soll das Mitfahren auf Sattelschleppern und Eselskarren die soziale Kompetenz erhöhen (S. 140)? Die Aussage bildet nichts als ein Klischee ab und ist höchstens als Eigenlob der Autorin zu verstehen, die von sich berichtet, schon häufig mit den genannten Verkehrsmitteln gereist zu sein. Solcherlei Zufriedenheitsbekundungen mit sich selbst streut die Verfasserin recht häufig ein, was als weiterer kritikwürdiger Punkt betrachtet werden kann. Es liest sich nicht angenehm, wenn ein Autor durch sein gesamtes Buch hindurch nicht müde wird, sich selbst zu loben. Bereits im Vorwort schreibt Schmauks mehrfach, wie gut gelungen ihr vorliegendes Werk sei. Eigenwerbung wie diese gehört eher hinten auf den Einband; innerhalb des eigentlichen Textes jedoch wenig angebracht sind Kommentare wie der, das Buch sei “sehr leserfreundlich”, werde “viel Freude bereiten” (S. 6), umhülle die Theorie “mit saftigem empirischem Fleisch” oder hebe die “amüsanten Aspekte” der Themen hervor (S. 7). Ein besserer Stil wäre es, die Beurteilung dem Leser selbst zu überlassen und sie ihm nicht (im wahrsten Wortsinn) vorzuschreiben. Im Kapitel über Lebewesen inszeniert sich die Autorin als Anwältin der geschundenen Kreatur, die es sich zum Ziel gemacht hat, “die heutige Wahrnehmung von Tieren” durch eine “Hommage” an dieselben zurechtzurücken (S. 91f). Tiere würden heute gleichzeitig verkitscht, unter erbärmlichen Bedingungen gehalten und dämonisiert. Von ihrem selbstgebauten Podest herunter mahnt sie den Leser, er schulde den Tieren Respekt, ein Appell, der in einem analytischen Text zur Semiotik des Alltags fehlplatziert wirkt. Nebenbei verbirgt sich hier eine weitere Ungereimtheit: Eine solch subjektive Wahrnehmung von Tieren ist keineswegs sonderlich “heutig” - die ganze Menschheitsgeschichte hindurch wurden Tiere verklärt, verteufelt und benutzt, noch nie wurden Tiere so sachlich-wissenschaftlich gesehen wie gerade heute (vgl. Schenda 1995). Ebenfalls selbstdarstellerisch mutet es an, wenn die Autorin mit dem angeblich seltsamen Verhalten von “Zeichenkundigen” kokettiert, das für andere Menschen aussehe wie die Symptome des Tourette-Syndroms (S. 240). Über Fehler in Speisekarten - eines ihrer Beispiele - zu lachen, ist aber durchaus nicht den Mitgliedern einer Geheimwissenschaft vorbehalten, als welche Schmauks die Semiotik hier darstellt. Dem unbewanderten Leser wird ohnehin nicht klar, was an falschgeschriebenen Wörtern semiotisch sein soll. Die Frage bleibt unbeantwortet, da Schmauks lediglich Spekulationen zum Ursprung der falschen Repräsentamene liefert, aber zur Semiose dieser Zeichen nichts aussagt. Dem Leser bleibt das Semiotische daran, das sich nur aus einer Kenntnis der Theorie erschließen ließe, verborgen. Wie in vielen anderen Beispielen auch steht der fehlende theoretische Bezug einem wirklichen Verstehen im Wege. Damit kommen wir nach den Details nun zu den Schwachpunkten des Buches in der weiteren Perspektive. Das im Vorwort gelobte “saftige empirische Fleisch” zeigt sich als nahezu knochenlos. Damit ist es in der Tat sehr leicht zu konsumieren, wird aber nur durch wenig Theoretisches gestützt und gehalten. Schmauks berichtet hauptsächlich von amüsanten Fundstücken oder Begebenheiten aus ihrem Leben, erklärt aber nur hin und wieder deren Zusammenhang mit der Semiotik. Ein Buch, das das Adjektiv “semiotisch” im Titel Reviews 168 führt, sollte die Phänomene, die es beschreibt, zumindest flüchtig unter semiotischen Gesichtspunkten erläutern. Das vorliegende Werk beschränkt sich jedoch häufig darauf, in jedem Kapitel irgendwo zu erwähnen, dass das jeweils Besprochene etwa “in zahlreichen Kontexten als Zeichen wahrgenommen” wird (S. 83). Meist endet jedes Kapitel abrupt mit dem Ende der Beispielschilderung, die zwar unterhaltsam ist, aber ins Leere läuft. Eine schöne Ausnahme ist die kurze und treffende Zusammenfassung am Ende des Kapitels “Der Körper als Zeitaufzeichnungsgerät”, die es schafft, in nur vier keineswegs theorieüberlasteten Zeilen dem Leser den Sinn des Kapitels vor Augen zu führen (S. 118). Was aber z.B. soll am - zugegeben witzigen - Unterkapitel zu Intelligent Design (S. 112ff), welches als Gutachten der Examensarbeit eines gewissen G. Ott aufgemacht ist, semiotisch sein? Die Auseinandersetzung mit Sexualdelikten im Spiegel der Lyrik (S. 175ff) ist höchstens literaturwissenschaftlicher Art, die einzige Verbindung zur Semiotik besteht, wohlwollend betrachtet, in der Erwähnung von Symbolen. Ganze zehn Seiten sind der Jagd als Metaphernspender gewidmet, aber mit Ausnahme dessen, dass Spuren ein “sehr grundlegender Typ von Zeichen” (S. 33) seien, wird keine semiotisch interessante Erkenntnis gewonnen. Auch wenn der Hauptzweck der Semiotischen Streifzüge erklärterweise Spaß ist, sollte der Bezug zur Semiotik gewahrt werden. Schmauks’ Anmerkung im Vorwort, das vorliegende Werk sei nicht als Einführung zu verstehen, ist keine Generalentschuldigung dafür, dass der semiotische Gehalt der Empirie zu oft nicht erklärt wird. Selbstverständlich geht es hier im weitesten Sinne durchweg um Zeichendeutung, aber wo der Bezug nicht klargemacht wird, geht es ebenso semiotisch zu wie in jedem anderen Buch auch, in dem ja ebenfalls beständig Zeichen gedeutet werden. Die Autorin verschriftlicht zu einem großen Teil lediglich ihre eigenen Deutungen, ohne dazu nähere Erklärungen abzugeben. Besonders sichtbar wird das an Kapiteln wie dem zum Schatten, in dem auf dreieinhalb Seiten aufgelistet wird, welche Informationen sich aus Schlagschatten ziehen lassen (S. 48-52). Will man diese Vorgehensweise zur Verdeutlichung auf einen anderen Wissenschaftsbereich übertragen, bietet sich der Vergleich mit einem Ozeanologen an, der behauptet, sein Betätigungsfeld sei das Fischefangen. Um eine leichte Lektüre zu garantieren, gibt Schmauks ihren aus zahlreichen anderen Publikationen bekannten objektiven Ton auf und schießt damit über das Ziel hinaus. Ihr neues Werk würde nicht an Unterhaltsamkeit verlieren, wenn der Theoriegehalt erhöht würde - im Gegenteil könnte dieser dem Leser zu echten Erkenntnissen verhelfen. Trotzdem kann es sich lohnen, die Semotischen Streifzüge zu lesen. Stellenweise sind die Beschreibungen tatsächlich so lustig, dass man nicht umhin kann zu lachen. Damit hat das Buch auf jeden Fall schon einmal den Pluspunkt des Kurzweiligen. Im Lehrbetrieb könnte es sogar sehr nützlich sein, um anhand eines der zahlreichen Beispiele eine gerade durchgenommene Theorie zu erklären und ihren Alltagsbezug aufzuzeigen. Die Semiotischen Streifzüge sind also keineswegs unnütz. Schön wäre es, wenn die Essaysammlung bis zur nächsten Ausgabe auf sachliche Unrichtigkeiten durchgearbeitet und der Bezug zur Semiotik stellenweise deutlicher herausmodelliert würde. So geläutert wäre das Buch ein echter Gewinn. Literatur Duden. 2006. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim et al.: Dudenverlag Duden Bd. 11. 2008. Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Mannheim: Dudenverlag. Brecht, Bertolt. 1968 [geschrieben 1928]. Die Dreigroschenoper. Berlin: Suhrkamp. Burenhult, Göran. 2004. Menschen der Urzeit. Köln: Karl Müller. Hurth, G. & I. Eibl-Eibesfeld. 1975. Hominisation und Verhalten. Stuttgart: Fischer. Schenda, Rudolf. 1995. Das ABC der Tiere: Märchen, Mythen und Geschichten. München: Beck. Sarah Thelen (Dortmund) Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.) Eco-Semiotics. Umwelt- und Entwicklungskommunikation. Francke Verlag 2006, 409 S. 78,- , ISBN 978-3-7720-8184-2 Verständigung über “Umwelt” hat viele Hürden zu überwinden - angefangen von der Definition von “Umwelt” allgemein bis hin zu Sprachbarrieren Reviews 169 zwischen Fachleuten verschiedener Disziplinen oder zwischen Experten und Bevölkerung. Hess- Lüttich und die von ihm versammelten Autorinnen und Autoren spannen den Bogen zwischen Umwelt, Linguistik und Semiotik. Damit stecken sie den Rahmen einer Ökosemiotik ab, in dem “die transdisziplinäre Erforschung der zeichenhaften Wechselbeziehungen zwischen Organismen und deren Umwelt” angesiedelt sein könnte, wie Hess- Lüttich es in seiner Einführung beschreibt. Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt “Grundlagen” gibt es drei Beiträge, die auf die verschiedenen Aspekte des Themas Eco-Semiotics eingehen - Peter Finke: Wendezeit auch für die Semiotik? Ökosemiosen im Lichte der neuesten Entwicklung in der Kulturökologie; Wilhelm Trampe: Zur Notwendigkeit einer ökologischen Semiotik; Peter Plöger: Asymmetrien in der Kommunikation nachhaltiger Entwicklung. (Alle Autorinnen und Autoren werden übrigens am Ende des Bandes in Kurzportraits vorgestellt.) Der zweite Abschnitt “Umweltkommunikation” stellt fünf Fallstudien aus verschiedenen Fachbereichen vor. Im dritten Abschnitt “Entwicklungskommunikation” setzen sich vier Beiträge mit der sprachlichen (und zeichnerischen) Vermittlung von umweltrelevanten Sachverhalten auseinander. Der vierte Abschnitt “Medienkultur: Sprache, Literatur, Presse” verdeutlicht die Bedeutung von Sprache in verschiedenen Medien. Was ist nun das Besondere an dem Band, sowohl für Umweltwissenschaftler und für Mitarbeiter in der Entwicklungshilfe als auch für Semiotiker und für Sprachwissernschaftler? Zunächst sind die Fallbeispiele aus den Abschnitten 2, 3 und 4 zu nennen, aus denen die jeweiligen Fachleute Erfahrungen für ihre eigene Arbeit erhalten können. Die Beiträge des Bandes zeigen aber gleichzeitig - und sicher nicht erschöpfend - die Bandbreite der von Hess-Lüttich angesprochenen zeichenhaften Wechselwirkungen zwischen Organismen - hier im speziellen Fall des Menschen - und ihrer Umwelt auf. Darüber hinaus stellt diese Sammlung von Arbeiten eine Art Standortbestimmung der Ökosemiotik dar, wie Peter Finke es in seinem Grundlagen-Beitrag andeutet. Er stellt fest, dass die Ökologie - als ein Teil der Wortschöpfung “Ökosemiotik” - heute de facto ein weites wissenschaftliches Feld weit über die Grenzen der Biologie und der Naturwissenschaften, aus der sie hervorging, hinaus ist. Und er hält die Zeit für gekommen, dass sich die ökologische Sichtweise bereits auf die Semiotik auszuwirken beginnt. Seiner Meinung nach geht es bei der Ökosemiotik nicht nur um die Ausbildung einer neuen Teildisziplin, sondern auch um ein verändertes Verständnis von Semiotik insgesamt: “Dabei schließt das eine das andere nicht aus: Man kann sowohl die Ökosemiotik als eine vergleichsweise neue Teildisziplin der Semiotik entwickeln und betreiben und zugleich ein eher konservatives Wissenschaftsverständnis an den Tag legen (dies ist im wesentlichen die heutige Realität im Fach), als auch die Ökosemiotik als Lernfeld für ein tiefergehendes Verständnis der Probleme des Zusammenhangs von Ökologie und Semiotik nutzen, das später zu grundsätzlicheren Neuorientierungen führen kann.” (Finke, S. 35) In letzterem Sinne versteht sich übrigens die Sektion Ökosemiotik in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (www.semiose.de/ Ökosemiotik). Finke bezieht auch - über die Evolutionäre Kulturökologie - den Menschen in die Ökosemiotik ein: “Die Ökosysteme des Menschen sind seine Kulturen.” Das heißt: “Wir leben in kulturellen Ökosystemen wie die Tiere in ihren natürlichen.” (Finke, S. 45) Er verweist auf die Entwicklung von “Regeln oder Konventionen, die statt der strikt geltenden Naturgesetze den neuen Arten - und hier wiederum insbesondere dem Menschen - ein viel freieres Verhalten zu lernen ermöglichte: das zielgerichtete Handeln, dem es prinzipiell auch möglich ist, sich anders zu verhalten, als die jeweilige Regel sagt.” (Finke, S. 44) Es ist diese Fähigkeit, sich anders zu verhalten als gewisse Regeln vorschreiben, die in den auf Finke folgenden Beiträgen des Bandes in den verschiedensten Facetten zur Sprache kommt. Auch Trampe geht von der Ökologie aus und stellt dann die Verknüpfung zur Semiotik her. Ihm geht es darum, “welchen Beitrag eine angewandte ökologisch-semiotische Theorie der Lebewesen-Umwelt-Gefüge zur Lösung der ökologischen Krise leisten könnte.” (Trampe, S. 57) Und er sieht eine ökologische Semiotik als eine Art “Brückenwissenschaft” zwischen naturwissenschaftlicher und sozial-/ kulturwissenschaftlicher Betrachtung: “Ökologische Systeme kön- Reviews 170 nen in semiotischer Sichtweise als Zeichen-Welt- Systeme aufgefasst werden. Zeichen-Welt-Prozesse stellen die semiotischen Prozesse in Ökosystemen dar. Die Ökologie der Zeichen kann somit verstanden werden als die Lehre von den an Zeichenprozesse gebundenen Prozessen in Ökosystemen. Die semiotischen Prozesse stehen als Erkenntnisgegenstand also keineswegs isoliert, sondern sind eingebunden in das Beziehungsgefüge aller Einflüsse und Auswirkungen, von denen sie betroffen sind und welche sie selbst hervorrufen.” (Trampe, S. 65) Trampe konstatiert, dass alle bisherigen Bemühungen zur Überwindung der ökologischen Krise, die davon ausgingen, dass ökologische Probleme ein primär technisches Problem darstellten, versagt haben. Den Grund sieht er darin, dass monokausale Erklärungen und eindimensionale Lösungsversuche der ökologischen Krise zum Scheitern verurteilt sind, weil ökologische Probleme keine Disziplin-, aber auch keine Staats- und Sprachgrenzen kennen. “Ausgehend von der Vorstellung, dass es neben materiellen und energetischen Prozessen informationelle Prozesse sind, die die Dynamik ökologischer Gefüge bestimmen, erhalten semiotische Untersuchungen einen bedeutenden Stellenwert nicht nur für die Analyse und Bewertung von ökologischen Problemen, sondern auch für die Entwicklung von Lösungsstrategien.” (Trampe, S. 70) Plögers Ausgangspunkt ist der Begriff der Nachhaltigkeit und “sein Verweis auf eine Lebens- und Wirtschaftsweise, die die natürlichen, sozialen und ökonomischen Ressourcen dauerhaft reproduktionsfähig hält, mit anderen Worten auf eine zukunftsfähige Lebensweise” (Plöger, S. 77 zitiert nach Luks 2002) und er fährt fort: “Paradoxerweise werden nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsformen traditionell bis heute in Regionen gepflegt, die wir zu den Entwicklungsländern rechnen. … Der Versuch, eine nachhaltige Entwicklung global durchzusetzen, würde aber bedeuten, dass wir, nachdem wir jahrzehntelang ein ökonomisch sehr erfolgreiches, aber langfristig fatales Modell vorgelegt haben, es nun um einen Ansatz ergänzen, den bestimmte Kulturen in den Entwicklungsländern gerade im Begriff sind, endgültig aufzugeben.” (Plöger, S. 77/ 78) Hier führt er dann den Begriff asymmetrischer Verhältnisse zwischen industrialisierten und nicht-industrialisierten Kulturen ein und schreibt: “Tatsächlich ist der Aspekt der sozialen Asymmetrien unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ein zentraler Punkt im Nachhaltigkeitsdiskurs.” (Plöger, S. 78) Ihm geht es darum, kommunikative Asymmetrien im Bereich der Umwelt- und Entwicklungskommunikation zu finden, um dann Strategien zu entwickeln, wie sie vermieden oder ausgeglichen werden können. Als Quelle sozialer Asymmetrien macht Plöger Kompetenzgefälle und das sich dadurch konstituierende Experten-Laien-Verhältnis aus. Um trotz dieser Asymmetrien erfolgreich kommunizieren zu können, braucht es Glaubwürdigkeit und Vertrauen, die entscheidend von der Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe abhängt. Es muss also nach einer Alternative zur einseitigen Kommunikation nach dem Sender-Empfänger- Prinzip gesucht werden. “Eine Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte muß den sozialen und praktischen Kontexten, in denen sie benutzt werden sollen, Rechnung tragen.” (Plöger, S. 85) Angewendet auf das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung heißt das die Einbeziehung sozialer, ökonomischer, emotionaler und ästhetischer Bedürfnisse, die sowohl für die Menschen in den Industrieländern als auch diejenigen in der Dritten Welt gelten. Plögers Vorschlag, wie kommunikative Asymmetrien vermieden werden können, ist eine dialogische Kommunikationspraxis, die die Lebenswelt, Wahrnehmungen und Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt und einbezieht. Natürlich bringt jeder beim Lesen seine eigenen Vorerfahrungen ein, stimmt das Gelesene mit diesen ab, wägt ab, ob die neue Sichtweise “passt” oder ob sie “klemmt” und wo sie “klemmt”. Das führt also zu einem ständigen Dialog zwischen dem Leser und den verschiedenen Autorinnen und Autoren. Für mich war es dieser Dialog, der die Sammlung dieser Beiträge so spannend und anregend macht. Als Mitglied der Sektion Ökosemiotik in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik wünsche ich mir, dieses Buch als Grundlage für zukünftige Aktivitäten zu übernehmen. Die Beispiele, die in dem Band vorgestellt werden, können auf viele Bereiche unseres Lebens ausgedehnt werden - diese Herausforderung sollten wir annehmen. Monika Huch (Adelheidsdorf) Reviews 171 chris bezzel: kit. eine kindheit. Langenhagen: Anthemion 2007. 126 S., 7,90 , ISBN 978- 3-9811431-0-2 “die purpurroten steppdecken auf dem bett der eltern”, “das stöbern in allen schränken als lieblingsbeschäftigung” - mit rund 600 Mosaiksteinchen der Erinnerung lässt Chris Bezzel seine Kindheit in Kitzingen lebendig werden, wo er 1938-1952 bis zum Alter von 15 Jahren lebte. Trotz Bombenangriffen und einem lange abwesenden Vater wächst er mit seinen Schwestern in einem evangelischen Pfarrhaus vergleichsweise behütet auf, denn die Eltern halten Krieg und Politik weitgehend von den Kindern fern. Was ist nun semiotisch oder linguistisch interessant daran, von den Kriegs- und Nachkriegsjahren in einer fränkischen Kleinstadt zu erzählen? Es sollen drei Aspekte herausgegriffen werden, nämlich der Verzicht auf Narrativität, einige Einblicke in die Struktur des Gedächtnisses und der Wandel der Kindheit. Das eigene Leben wird meist als zusammenhängende Geschichte repräsentiert, die von der Geburt bis in die Gegenwart reicht, wobei die frühesten Erinnerungen meist von anderen stammen. Das gilt für ältere Autoren “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” ebenso wie für Medienstars, die schon in zartem Alter ihr pralles Leben niederschreiben. Bezzel hat einen anderen Weg gewählt, denn er überlässt es dem Leser, aus den Mosaiksteinchen ein Bild zusammenzusetzen. Jeder Eintrag umfasst nur wenige Zeilen, selten einmal eine halbe Seite. Manchmal skizzieren einige knappe Sätze eine kleine Szene wie das Herstellen eines Familienfotos. Häufiger ist der Eintrag nur eine Nominalphrase, die ein bestimmtes Objekt, einen Sinneseindruck oder ein Gefühl beschreibt. Zwischen benachbarten Einträgen gibt es keine Übergänge, sie sind lediglich durch Person, Ort und Zeitraum verbunden. Wer andere Texte dieser Struktur sucht, wird am ehesten in der Lyrik fündig. So geben auch Haikus einen abgeschlossenen Eindruck wieder, etwa ein Klassiker von Bashô: Abend im Herbst. Auf einem dürren Ast hockt eine Krähe. Moderne Beispiele sind Bertolt Brechts Gedichte Orges Wunschliste (“Von den Freuden, die nicht abgewogenen”) und Vergnügungen (“Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen”). Man schreibt Erinnerungen auf, um sie für sich selbst zu bewahren oder andere teilhaben zu lassen. Eine optimistische Zukunftsvision ist die rein technische Aufzeichnung des Gedächtnisinhaltes durch “Scannen des Gehirns”, die oft als Weg zur Unsterblichkeit beschworen wird. Kognitionswissenschaftler unterscheiden zwischen semantischem Gedächtnis, also Weltwissen im weitesten Sinn, und episodischem Gedächtnis, in dem biographische Fakten gespeichert sind. Mit begrenztem Weltwissen lässt sich ganz gut leben, aber das episodische Gedächtnis konstituiert die Person - wer seine eigene Vergangenheit verliert, verliert sich selbst. Unser Gedächtnis ist kein Datenträger, auf dem man mühelos mit einem Schlagwort googeln könnte. Manche Erlebnisse lassen sich zwar gezielt auffrischen, indem man externe Quellen hinzuzieht. Man besucht die Orte seiner Kindheit wieder, spricht mit Verwandten und früheren Mitschülern unter der Leitfrage “Weißt du noch? ” und vertieft sich in Fotoalben, Tagebücher und andere Zeitdokumente. Andere Erinnerungen hingegen “überfallen” uns ohne eigenes Zutun, so dass wir eine lange vergessene Szene mit allen Sinnen noch einmal erleben. Besonders mächtige Auslöser sind Geruchs- und Geschmackseindrücke, man denke an Prousts berühmte Madeleine. Wer Erinnerungen aufschreibt, muss eine Reihenfolge wählen. Das Anordnen “so, wie sie kommen” liefert einen den Zufälligkeiten des Erinnerungsvermögens aus. Eine exakt chronologische Anordnung scheidet aus, denn biographische Erinnerungen haben keine lineare Ordnung, so dass man wie bei einem Lied oder Gedicht immer genau “wüsste, wie es weitergeht”. Eine alphabetische Anordnung wie im Wörterbuch scheitert, weil Erinnerungen nicht mit einem Schlagwort versehen daherkommen, und eine Anordnung nach Dingsystemen wie im Thesaurus (“Familie”, “Schule”, “Spiele”…) wäre angesichts persönlicher Erinnerungen überspannt und für den Leser langweilig. Bezzel hat hier einen raffinierten Ausweg gefunden, nämlich eine Art bereinigte Zufälligkeit. Zwar scheint die Reihen- Reviews 172 folge der Splitter beliebig, es wurden aber unmittelbare Wiederholungen vermieden. Besonders Eindrückliches kommt in Wellen immer wieder, etwa Bombenangriffe sowie die Kriegsgefangenschaft und Heimkehr des Vaters. So entsteht die kognitive Karte einer Kindheit und wird um immer neue Tupfen ergänzt - eine pointillistische Geschichtsschreibung. Interessant ist, wie unterschiedlich Kinder und Erwachsene die Welt wahrnehmen. Was für Erwachsene deutlich in Wichtiges und Belangloses geschieden ist, steht für das Kind gleichwertig nebeneinander: Bombenangriffe und Zuckernaschen, Evakuierung und das Salzfass mit dem Silberlöffel. Die große Weltgeschichte erleben Kinder nur punktuell, wenn Tiefflieger auftauchen oder die Väter von Mitschülern als vermisst gelten. Vieles bleibt unverstanden, etwa der Anblick von Leuten mit gelben Sternen oder dass der früher geforderte Gruß “Heil Hitler! ” nach Kriegsende plötzlich verpönt ist. Rückblickend sind auch die Gedächtnislücken interessant, denn sobald man von ihnen weiß, kennzeichnen sie die Unterschiede zwischen eigener und intersubjektiver Geschichte. So weiß Bezzel nicht mehr, ob er eine Schultüte hatte, und erinnert sich nicht an die Kindersendungen im Radio. Größere Lücken entstammen der Strategie der Eltern, politische Ereignisse von den Kindern fernzuhalten, so dass es keine Erinnerungen an Judendeportationen oder die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gibt. Bezzels Erinnerungen bestätigen, dass sich Erlebnisse umso deutlicher einprägen, je stärker sie mit positiven oder negativen Emotionen verknüpft sind. Ferner legen sie einige Einteilungskriterien von Erinnerungen nahe, nämlich die nach verschiedenen Sinnesmodalitäten sowie die in persönliche Erinnerungen vs. familien- und epochenspezifische. Wer mit Zentralheizung aufgewachsen ist, wird erstaunt sein, wie viele metallene Griffe, Schlüssel und Treppengeländer eine geradezu feindliche Kälte ausströmten und dass man sich leicht die Zehen und Ohren anfror. Wärme war etwas Besonderes, das gute Zimmer wurde nur an Festtagen geheizt, und erst Wärmflaschen machten die eisigen Betten mollig. Übrigens erscheint einem die aus der Not des Krieges geborene Sparsamkeit heute am Ende des Ölzeitalters schon wieder ökologisch vorbildlich, etwa das ungeheizte Schlafzimmer, die weiter vererbte Kleidung und die Wiederverwendung des Wärmflaschenwassers. Da Wärme so angenehm ist, wird auch die schöne Formulierung verständlich, dass die Sonne im kleinen Hinterhof “schmerzhaft verschwand”. Weitere epochenspezifische Hauteindrücke sind die kratzigen Wollstrümpfe, der heftig über die Haut gezogene Radiergummi und das Gefühl, das Gesicht mit Mutters Spucke gesäubert zu bekommen. Und schließlich noch die Schmerzen, wenn einem der Lehrer das Ohr verdrehte. Beim Geschmack haben sich seltene Leckerbissen wie Rohrnudeln und das erste Eis nach dem Krieg tief eingeprägt, aber auch besonders Ekliges wie Lebertran und Lungenhaschee. In der vergangenen Geruchswelt gab es duftende Bleichwäsche, molkige Milchkannen, Nachttöpfe und den schalen Geruch abgekühlter Wärmflaschen. Welches heutige Kind weiß noch, wie Maikäfer und zerquetschte Ameisen riechen, oder findet den Duft der Ledersitze eines der seltenen Autos bemerkenswert? Der in den 60er Jahren geprägte Begriff “Klanglandschaft” bezeichnet die Gesamtheit dessen, was in einer Umgebung zu hören ist. Bezzels Beispiele legen nahe, diesen Begriff aufzufächern. Zum einen gibt es epochenspezifische Geräusche wie das Kratzen des Griffels auf der Schiefertafel, das Sirren der Telegrafenmasten und die vielen “Kriegsgeräusche” wie Sirenensignale und Lautsprecherwagen. Daneben steht der unverwechselbare Klangteppich des Elternhauses, zu dessen familiären Lauten das je typische Zuklappen von Dosen und Schränken sowie das Einklinken der Türgriffe gehören. Bei den Gesichtseindrücken sticht das Rot besonders hervor - die Farbe der Steppdecken, Christbaumkugeln und Postautos -, und das Schimmern des Christbaumes. Kindheitserinnerungen werden von verschiedenen Altersgruppen auch ganz verschieden gelesen. Etwa Gleichaltrige setzen ganz automatisch das Erzählte in Beziehung zu selbst Erlebtem und reagieren daher oft ganz parteiisch mit “Ja, genau so war es! ” oder mit “Das war bei uns aber ganz anders! ” Sie werden viele Schlüsselerlebnisse ihrer Alterskohorte wiedererkennen, etwa die sexuelle Aufklärung durch Lexika sowie die feste Struktur der Woche mit Waschtagen, dem sams- Reviews 173 täglichen Bad (alle in demselben Wasser) und der frischen Wäsche am Sonntag. Für heutige Jugendliche wird eine längst untergegangene Welt beschworen, in die man sich nur mit lebhafter Phantasie einfühlen kann. Sie lernen eine Fülle vergangener Geräte wie Schürhaken, Kochkiste, Griffelkasten und Strickliesel kennen und stellen fest, dass Kinder täglich mithelfen mussten, wobei das Kurbeln von Wäschemangel und Kaffeemühle lustvoll war und das Einsammeln von Kartoffelkäfern weniger. Folglich kann kit von Soziologen und Psychologen als Fallstudie zum Wandel der Kindheit benutzt werden. Als wesentlicher Unterschied zu heute fällt auf, dass Kinder täglich viele Stunden unbeaufsichtigt unter sich waren - sie “flogen unter dem Radar” der Erwachsenen. Eine Kleinstadt wie Kitzingen war im wörtlichsten Sinn überschaubar und ein einziger Abenteuerspielplatz, in dem aus heutiger Sicht zahllose Warn- und Verbotsschilder hängen müssten. Da gab es Mauern zum Balancieren, Treppen zum Heraufklettern, Geländer zum Herunterrutschen, Brunnen zum Wassermantschen und sogar Schleppkähne zum Mitfahren. Gespielt wurde oft in Verstecken, die von Erwachsenen selten betreten wurden. Die Häuser hatten Verschläge unter der Treppe, Dachböden voller Gerümpel und “sehr tiefe” Keller; mythische Orte außerhalb waren verbotene Gärten und die abenteuerlichen Ruinen. Immer wieder tauchen die Ausdrücke “herumlungern” und “stöbern” auf, die ein zielloses Erkunden in unverplanter Zeit bezeichnen. Diese Verhaltensweisen sind allen höheren Tieren eigen, ethologisch spricht man von “Spiel” und “Explorationsverhalten”. Inzwischen jedoch sind die Aktionsräume von Kindern und ihre wirkliche “Freizeit” erheblich geschrumpft, während die Beaufsichtigung zugenommen hat. Die reale Welt bietet immer weniger Geheimnisse und Abenteuer, und das früher übliche “Laufenlassen” gilt mancherorts schon als Kindesvernachlässigung. Dieser Prozess hat viele verflochtene Gründe. Weil die Familien kleiner und die Arbeitszeiten kürzer geworden sind, verbringt jedes Kind statistisch mehr Zeit mit seinen Eltern. Freunde wohnen weit verstreut, so dass anstelle von spontanen Spielen mit Nachbarskindern auf wändige Verabredungen getreten sind. Falls Eltern “nur Spielen” für Zeitvergeudung halten und ihren Kindern möglichst viel bieten wollen, erfordert der Besuch von Musikstunden, Ballett und Sportverein zahlreiche Fahrten und eine anstrengende Freizeitlogistik. Einer Untersuchung zufolge ist der sog. “Streifradius” von Grundschulkindern seit den 70er Jahren von 20 auf 4 Kilometer geschrumpft. Städte sind zwar gefährlicher geworden, weil der Verkehr stark zugenommen hat, aber darüber hinaus haben viele Eltern ein übertriebenes Gefahrenbewusstsein entwickelt, in dem Kindesentführungen und andere statistisch seltene Ereignisse einen großen Raum einnehmen. Folglich erwarten sie regelmäßige Rapporte per Handy oder liebäugeln gar mit einem implantierten Chip zur ständigen Überwachung ihrer Kinder. (Nach-)Kriegskinder hatten ein paar Kinderbücher, lauerten auf Lurchis Abenteuer und gingen manchmal ins Kino. Heute hat jedes Kind umfangreiche Medienerfahrungen, und Fernsehen und Computer ersetzen zunehmend das Spielen “draußen”. Angesichts von Schulanfängern, die nicht mehr auf einem Bein hüpfen können, entstehen allerlei Gegenbewegungen. In den USA ist gerade das Dangerous Book for Boys ein Kassenschlager, aus dem man lernt, wie man auf Bäume klettert und Schleudern baut. Andere vertrauen in einem geistigen Salto mortale darauf, man könne die Folgen des Bewegungsmangels, der durch Technik entsteht, mit neuer Technik bekämpfen. So will der Nationale Aktionsplan “In Form” (Juni 2008) die Computerspielindustrie dazu bewegen, mehr bewegungsfördernde Spiele herzustellen, etwa mit wii-Konsole und balance board. Der Leser gewinnt also nicht nur das sehr lebendige Bild einer Kindheit, sondern kann den Text auch als Illustration einiger derzeitiger Fachdiskussionen lesen. Bleibt noch zu erwähnen, dass Literatur sehr wohl ins Leben zurückwirkt. Bezzels Autobiographie hat zumindest dazu geführt, dass sein zwischenzeitlich verschollenes Kinderbuch vom Hühnchen Sabinchen zu ihm heimgekehrt ist. Dagmar Schmauks (Berlin) Reviews 174 Bernhard Chappuzeau: Transgression und Trauma bei Pedro Almodóvar und Rainer Werner Fassbinder, Stauffenburg: Tübingen 2005, 354 S., ISBN 978-3-86057-873-5 Bernhard Chappuzeaus Buch ist aus seiner Dissertation hervorgegangen und handelt von Sexualität und Identität, von Liebe und Gewalt in Zeiten faschistischer Diktaturen in Deutschland und Spanien, verdichtet in den Leitbegriffen Transgression und Trauma, exemplarisch veranschaulicht anhand einer einfühlsamen Interpretation von Filmen der Erfolgsregisseure Rainer Werner Fassbinder und Pedro Almodóvar. Beiden geht es in ihrem filmischen Werk nicht zuletzt um die traumatische Erfahrung homosexuellen Begehrens in heteronormativer, ja dezidiert homophober Umgebung. Diesem Lebensthema geht Chappuzeau nach unter den Suchkategorien genus, memoria und visum. Bezugspol der ersten Kategorie gender im Sinne der diskursiven Repräsentation von Geschlecht als Bestimmungsmoment der sexuellen Identität des Menschen ist Michel Foucaults Ansatz zur theoretischen Konzeptualisierung homosexueller Identität, wonach die gesellschaftlich funktionalisierte Codierung von Homosexualität in enger Verbindung stehe mit gesellschaftlichen Dispositiven der Macht und mit jenen individuell traumatischen Erfahrungen, wie sie in den Filmen von Rainer Werner Fassbinder und Pedro Almodóvar visuelle Gestalt gewinnen. In Foucaults posthum veröffentlichten Schriften Dits et écrits (1994) analysiert der Soziologe Handlungswirkungen der Macht und die traumatische Erfahrung von Gewalt in autoritären Gesellschaften. Die Sexualisierung des Körpers gehe mit einer Technik der Produktion von Wissen und Wahrheiten über den Körper einher; insofern werde sie zum Dispositiv der Macht und in den Zusammenhang der Unterwerfung unter die ‘herrschende’ Moral gestellt. Der literarische Diskurs zur Homosexualität, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Autoren wie Oscar Wilde und André Gide in Erscheinung tritt, hält Foucault für einen Ausdruck der Umwertung des Willens zur Wahrheit. Damit will Foucault eine andere Ökonomie der Körper und der Lüste mit ‘polymorphen Beziehungen’ feststellen, wobei Homosexualität und Masochismus als ein Angriff gegen die patriarchale Gesellschaft zu verstehen seien. Der Zusammenbruch des souveränen und konstitutiven Subjekts ermögliche genußvolle Praktiken der Unterwerfung, die die Sinnkonstruktionen des Patriarchats (Aufwertung der aktiven Sexualität des Mannes, Abwertung passiven Verhaltens) auflösten (cf. S. 35). Die strategische Unterdrückung der Homosexualität und die Art und Weise, wie homosexuelles Verhalten als Form einer erotischen Transgression in faschistischen Regimen wirkt, haben Autoren wie Georges Bataille, Roland Barthes, Gilles Deleuze, Felix Guattari oder Guy Hocquenghem gründlich und gültig reflektiert. Ihre Überlegungen setzt Chappuzeau in erhellenden Bezug zum filmischen Werk von Fassbinder und Almodóvar, aber auch zu anderen international erfolgreichen Filmen. Mit der zweiten Kategorie memoria öffnet der Verf. das Interpretationsfeld von Bewußtsein, Erinnerung und Erfahrung im Wechselblick von kulturwissenschaftlichen und klinischen Konzepten, in denen das Verhältnis von Homosexualität und Trauma im historischen Kontext der faschistischen Regime in Deutschland und Spanien als eine Umwertung autoritärer Machtverhältnisse von Dominanz und Unterwerfung gelesen wird. Chappuzeau deutet den Begriff memoria (mit dessen Ausweitungen false memory und desmemoria) als Hilfskonstruktion einer Reflexion unzugänglicher Erinnerung im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses. Mit dieser Terminologie sucht der Verf. individuelle Traumatisierungen im Kontext von Geschichtsprozessen zu beschreiben. Ausgangspunkt der kulturwissenschaftlichen Fassung von memoria ist hier Freuds Suche nach Erinnerungsspuren des traumatischen Ereignisses im sadomasochistischen Verhalten. Nach diesem (umstrittenen) tiefenpsychologischen Deutungsmuster besteht das ‘Leiden’ des Masochisten nicht im Genuß des körperlichen Schmerzes, sondern in der moralischen Selbstbestrafung. Foucault lehnt diese Sicht der Psychoanalyse ab, denn diese konstituiere und schütze den Wahrheitsdiskurs der Macht. Für ihn sei interessanter, die Machteffekte der Groteske zu untersuchen, um damit die Unvermeidbarkeit der Macht als Wesen der disqualifizierten Souveränität des Herrschers hervorzuheben und das gewaltvoll- Reviews 175 sexuelle Verhältnis als Dominanz-Submissions- Beziehung zu verstehen. Vor diesem Hintergrund konstruiert der Verf. einen Zusammenhang zwischen dem Umgang der nachfolgenden Generationen mit der Vergangenheit der Diktaturen in Deutschland und Spanien und den spezifischen Darstellungen von Körper, Geschlecht, Sexualität als unterschiedlichen Konzeptualisierungen von nationaler Identität: in der Gegenüberstellung des leidenden Körpers und des leidenschaftlichen Körpers werde der Blick frei auf nationale Identitätskonstruktionen, die in der Unvergleichbarkeit der spanischen Situation nach Franco und der deutschen Situation nach Hitler wurzelten. Die dritte Kategorie visum schließlich zieht die Traum- und Schattenbilder oder Visionen homosexuellen Begehrens zu einem neuen filmanalytischen Begriff zusammen. In der Interpretation von über 20 Filmen Fassbinders und Almodóvars Filmen zwischen 1969 (Götter der Pest) und 2004 (La mala educación) arbeitet Chappuzeau den Gender-Trauma-Komplex durch die Analyse von Schatten- und Traumbildern heraus. Fassbinders Film Faustrecht der Freiheit (1974) hat autobiografische Hintergründe und stellt den Zusammenhang her zwischen gay liberation und der Akzeptanz der eigenen Sexualität. Der Film illustriert zugleich die Fortschreibung von Klassenunterschieden und die Entstehung einer schwulen Subkultur. In Filmen wie Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) werde das Verhältnis von Dominanz/ Submission und Transgression/ Homosexualität mit der Kritik an faschistischen Machtstrukturen verschmolzen und heteronormative Vorstellungen von männlichem und weiblichem Verhalten in Frage gestellt. Auch der Film Zärtlichkeit der Wölfe (1973) sei ein Beispiel für die opake Ästhetik des Einfühlens in die Spannungsbalance von Marginalitätsbewußtsein und erotischer Aufladung, während Querelle - ein Pakt mit dem Teufel (1982) suggestive Prozesse der Fetischisierung mit der christlicher Schuld- und Sühnemetaphorik überhöhe. In Satansbraten (1976) will der Protagonist Walter Kranz, der bei der Züchtigung seines behinderten Bruders eine unerwartete Lust empfindet, in die Identität des homosexuellen Dichters Stefan George schlüpfen. Sein Versuch, sich wie sein Vorbild homosexuell zu verhalten, mißlingt indes kläglich, weil er den körperlichen Kontakt zu Männern eigentlich scheut. Besonders suggestiv ins Bild gesetzt seine Begegnung in der Bahnhofsklappe mit einem Mann, der ihm seinen Penis zur Berührung darbietet, und die anschließende Szene im Zimmer eines Stundenhotels: vom Stricher befragt, “Soll ich dich ficken? ”, schreit Kranz entsetzt auf, und als der Stricher ihm seinen Penis zum Munde führt, flüchtet dieser unter Würgen zum Waschbecken, in das er - man sieht es durch einen Spiegel - ausspuckend ruft “Tut mir leid, aber ich bin heut nicht in Form” (S. 108). Fassbinder spielt hier subversiv mit den gängigen Klischees des heterosexuellen Schauspielers, der in einer schwulen Rolle an die Grenze seiner ‘Toleranz’ gerät. Die Irritation erhöht sich noch, wenn sich am Ende herausstellt, daß die ganze Geschichte nur Theater war und die Darsteller in schallendes Gelächter ausbrechen. Fassbinder und Almodóvar nutzen bewußt überzeichnete Figuren wie Tunten und Transvestiten als Motive zur Destruktion patriarchaler Geschlechtsdiskurse: der karnevaleske Auftritt gerät zum grotesken Angriff gegen ästhetische Konvention und gesellschaftlichen Zwang. Die Exzentrizität der ‘Performance’ der Transvestiten, die parades, seien Ausdruck einer homosexuellen Ästhetik, die mit der Inszenierung eines vermeintlich authentischen subkulturellen Lebensstils zugleich als Angriff gegen politische Maßstäbe figuriere. Almodóvars Filme sind überdies durch die gegenkulturelle Bewegung La movida Madrileña in Spanien geprägt, in der lateinamerikanische Kultur sich mit Drogenerfahrung verbindet, das Verlangen nach Freiheit zur Imitation mit eklektischer Neubestimmung der Identität. Zeichen der Transgression sind Verkleidung und Selbstentblößung, inszeniert als gesellschaftlich tabuisiertes oder inkriminiertes Begehren und Bedürfnis nach ästhetischer Überschreitung in der Öffentlichkeit als Punk- oder Glam-Anhänger. Mit der Kleidung und den Gesten der Travestie inszeniert Almodóvar zugleich sich selbst wie im Film Laberinto de pasiones (1982), wo er auf der Bühne im Madrider Rock Ola als glamouröses Tuntenkabarett posiert oder in ¿Qué he hecho para merecer esto? (1984), wo er in Reviews 176 einer Travestie-Playback-Nummer auftritt. Die Tunten und Transen, ihre übertriebenen Gesten und glamourösen Ausstaffierungen, sind Variationen des Motivs von Dominanz und Unterwerfung wie die lesbische Verbindung zwischen Luci und Bob in Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón (1980). Im Zentrum des Films steht die Bitte des Mannes, der penetriert werden möchte. Almodóvars Unterscheidung von aktivem und passivem Analverkehr orientiert sich erneut am Muster des Machismo von Dominanz und Submission. Der Penis-Wettbewerb mit dem Slogan “erecciones generales” dient als ironische Anspielung auf die allgemeinen politischen Wahlen und pars pro toto für die ganze Bandbreite sexueller Lust-Erfahrungen außerhalb der Geschlechterkonventionen, die beim Filmbetrachter voyeuristisches Interesse weckt, das aber nicht gestillt wird. Der Film Todo sobre mi madre (1999) greift als Projekt der Feminisierung, als Aufforderung zum Ausleben einer marginalisierten Homosexualität mit der Gegenüberstellung der beiden Charaktere Agrado und Esteban/ Lola frühe Motive des Transvestismus wieder auf und erweitert und verdunkelt den Blick auf die negative Ökonomie von Homosexualität, Prostitution, Gewalt, Drogenabhängigkeit und Krankheit zum Tode: aus der Beziehung von Lola und Rosa wird ein mit A IDS infiziertes Kind geboren, Symbol der negativen Ökonomie von Sexualität und Zerstörung in religiöser Überhöhung. Das Buch von Bernhard Chappuzeau ist eine sehr verdienstvolle Analyse des filmographischen Werkes zweier herausragender Regisseure mit dem Instrumentarium des gender- und kulturwissenschaftlich ebenso wie psychoanalytisch und literaturtheoretisch geschulten Textwissenschaftlers, der dem Leser sein Material besonders im Hinblick auf Almodóvar durch seine profunden Kenntnisse der spanisch-lateinamerikanischen Kultur und zudem durch die zahlreichen bildhaften Beispiele anschaulich erschließt. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Robert S. Hatten: Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes. Mozart, Beethoven, Schubert, Bloomington/ Indianapolis: Indiana University Press 2004, 358 pp., ISBN 978-0- 253-34459-5 Hattens Untersuchung zur Bedeutungskonstitution in musikalischen Werken knüpft an sein früheres Buch Musical Meaning in Beethoven an und sucht einen synthetischen Zugang zur Musik. Der analytische Ansatz ist zwar ein gängiges Paradigma der traditionellen Musikwissenschaft, der Fokus auf einzelne musikalische Strukturelemente liefert aber in seiner isolierenden Methodik nur unzureichende Erklärungen von musikalischen Formen und Prozessen. Eine synthetische Perspektive auf musikalischen Gesten, Topoi und Tropen kann dagegen die emergenten Qualitäten musikalischer Einheiten hervorheben. Das bedeutet, daß die Einzigartigkeit eines Werkes nicht in der Summe seiner analytischen Teile zu suchen sei. Nach Hatten bietet eine Theorie der Synthese eine nützlichere Erklärung etwa dafür, wie Hörer separate Elemente zu bedeutungsvollen und selbständigen Entitäten des musikalischen Diskurses verbinden können. Hatten plädiert mit seinem synthetischen Ansatz im ersten Teil seines Buches zugleich auch für eine semiotische Zugangsweise zur Bedeutungsrekonstruktion. Diese Argumentation trägt dabei einerseits strukturalistische Züge, weil abstrakte Stiltypen thematisiert werden, die mit allgemeinen expressiven Bedeutungen korreliert sind. Andererseits liegt darin auch ein hermeneutisches Moment, denn musikalische Formen lassen sich auch als Strategien interpretieren, durch die die abstrakten types als konkrete token individualisiert und so einzigartige expressive Bedeutungen erzielt werden. Der semiotische Blick auf die Musik geht von der Prämisse aus, daß der Gehalt musikalischer Strukturen grundsätzlich auf generalisierten Stiltypen beruhe, jedoch im Rahmen dieser stilistischen Topik dennoch origineller Gehalt entstehe. Wo sich die Bedeutungen eigenständiger Topoi in ihrer Aktualisierung vermischen oder verschieben, spricht Hatten auch von musikalischen Tropen, die verschiedene, oft sogar inkompatible Muster zusammenfügen, um in ihrer Kollision oder Fusion eine einzigartige Bedeutung zu erschaffen. Der deviante Gebrauch Reviews 177 etablierter Topoi markiert ein musikalisches Ereignis erst als signifikant. Das Individuelle ist eine eigenständige Struktur im Hinblick auf die konstitutiven, stilistischen und strategischen Bedingungen eines historischen Kontextes; “the unique expressive synthesis of the movement begins to emerge” (p. 51). Dieses Prinzip demonstriert Hatten etwa am Beispiel der Sonaten des späten Beethoven, deren konventionelle Form erst in ihrer Aktualisierung expressive Bedeutung entfaltet. Auch Schubert kontrastiert das traditionell dramatische Genre der Sonate mit ländlichen Stilelementen, wodurch er gleichzeitig einen effektiven Tropus der frühen Romantik realisiert, indem er stilistische Einfachheit der dramatischen Komplexität gegenübergestellt. Andere Beispiele eines variierten Grundthemas lassen sich bei Bach, Schubert und Schumann finden. Bruckner tropisiert Polka und Choral, und Brahms dritte Symphonie bietet im Finale verschiedene Taktsysteme an, um seine Marschthematik tropisch zu verfremden. Den Kern von Hattens Buch bildet seine Theorie der musikalischen Geste, die er im zweiten Teil entwickelt. Hatten definiert die musikalische Geste als “significant energetic shaping of sound through time” (p. 95). Die Geste ist bei Hatten mehr als der körperliche Ausdruck einer Partitur, sie sei ein kognitives Muster, das erst uns erlaube, den expressiven Gehalt der Musik zu konstruieren. Insofern ist die Geste keine bloße Reaktion auf die Musik, sondern deren notwendige Bedingung als körperlich vorgestelltes Basisschema. Diese kognitive Kategorie verbindet erst musikalische Fragmente zu einem zeitlich ausgedehnten, markierten Ganzen. Die Geste ist in ihrer zeitlichen Kontinuität also prototypisch für das Konzept von Hattens Synthese, weil sie diverse musikalische Elemente zu umfassen vermag, womit sie einen direkten Zugang zur expressiven Bedeutung gewährleistet. Hatten zeigt in seinen Analysen der Wiener Klassik, wie die individuellen Gesten großer Komponisten die Konventionen ihrer Epoche originell adaptieren und erweitern. Gestische Vorgaben finden sich in der Partitur in der Akzentuierung der Notation bis hin zum Bindebogen, der in der Handbewegung am Piano umgesetzt wird. Für Hatten ist nun große stilistische Kompetenz gefragt, um diese gestischen Vorgaben richtig lesen zu können. Denn falsch verstandene Hinweise führten unmittelbar zu Ausdrucksfehlern. Diese Sicht wirft Fragen auf. Einerseits setzt Hatten nämlich stilistische Kompetenz voraus, um musikalische Gesten richtig deuten zu können. Andererseits definiert er aber Gesten als kognitive Basiskategorien, über die also auch der Laie verfügen muß. Daß diese Kategorien beim ungeschulten Hörer implizit bleiben, sagt noch nichts über ihre Wirksamkeit aus. Unreflektierte Interpretationen müssen nicht a priori falsch sein. Im letzten Teil will Hatten seine Resultate gleichzeitig relativieren und ergänzen, indem er zeigt, dass nebst tropischen Brüchen auch strukturelle Kontinuitäten als markiert und damit semantisch signifikant gelten können. Gerade die Klassik verfügt über deutlichere Satzpausen und mehr rhythmische Kontraste als etwa der barocke Stil, das bedeutet aber auch, daß jede gleichmäßige Bewegung auffallen muß und so dieses Muster als signifikant markiert. Zwar können tiefenstrukturelle Kohärenzen die oberflächlichen Brüche oft noch legitimieren und so Inkonsistenzen als Teile einer dramatischen Kontinuität auf höherer Stufe interpretiert werden. Doch die strategische Behandlung struktureller Kontinuität steht dann bezeichnend für den graduellen Übergang von Klassik zu Romantik. Beispiele von Mozart, Beethoven und Schubert zeigen das thematische Ideal der Kontinuität als Symptom eines Stilwechsels, wobei die Devianz von klassischen Vorgaben dabei die neue Norm des romantischen Stils und seiner traumartigen Stetigkeit motiviert. Hattens Theorie der musikalischen Geste postuliert einen direkten Zugang zur expressiven Bedeutung musikalischer Strukturen. Als “synthetic entities with emergent affective meaning” (p. 287) konzipiert, können Gesten phänomenologische Aspekte der Musik berücksichtigen, während der traditionelle Ansatz vor allem auf das stilistische Encodieren der tonalen Syntax fokussiert. Der gestische Ansatz konzentriert sich dagegen auf dynamische, synthetische Prozesse, womit er durchaus als nützliche Ergänzung zu den traditionellen Analysen gelten darf, denn er “puts us in the center of the action” (p. 290). Die definitorische Unschärfe der gestischen Theorie läßt freilich einige Fragen offen. Die Reviews 178 Vagheit des Terminus Geste speist sich aus seiner Ubiquität. Das gestische Spektrum reicht von spontanen, individuellen Gesten bis zur tropischen Synthese des Etablierten. Ob im subjektiven Ausdruck, im musikalischen Diskurs oder in der resultierenden Form, die Geste ist allgegenwärtig und daher sehr schwer fassbar. Der Vorteil der definitorischen Breite liegt sicher in der Flexibilität einer Theorie, die sich praktisch überall anwenden ließe. Als Nachteil muß hingenommen werden, dass auch die Resultate der Untersuchungen im Bezug auf ihren Inhalt leiden. Hattens verbindet semiotische und phänomenologische Aspekte der sinnhaften Interpretation. Sein Ansatz vermag die Genese musikalischer Gehalte zu erklären, das Konzept der emergenten Synthese muß aber im Bezug auf den Inhalt Abstriche machen. Das heißt, daß Hatten zwar erklären kann, wie musikalische Bedeutungen entstehen, nicht aber, was die Inhalte denn konkret bedeuten. Die Synthese tropischer Topoikonglomerate qua musikalische Geste etwa schafft tatsächlich originale Expressivität, die in ihrer Bedeutung über ihre fragmentierten Einzelteile hinauswächst, dieser semantische Gewinn verharrt aber in phänomenologischer Unmittelbarkeit, d.h. verschließt sich eben gerade einer analytischen Betrachtungsweise. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) David Lidov: Is Language a Music? Writings on Musical Form and Signification, Bloomington: Indiana University Press 2005, 256 pp., ISBN 978-0-253-34383-3 In der Einleitung zu seinem Buch, dessen Titel den eines seiner früheren variiert (Is Music a Language? ), weist Lidov auf die zahlreichen Parallelen zwischen Sprache und Musik hin: sie motivieren das Bemühen um die Entwicklung einer semiotischen Musikologie. Sprachlichen Struktureinheiten wie Morphemen, Wörtern und Sätzen stehen musikalische Elemente wie Noten, Phrasen und Motive gegenüber. Partituren laden zur Nuancierung beim Tempo und bei der Akzentuierung ein, ohne die Performanz voll zu determinieren. Es gibt natürlich auch Unterschiede: das musikalische Vokabular ist weniger fixiert als das linguistische, und seine Kombinationsregeln sind weniger allgemeingültig als beim sprachlichen Satzbau. Dieser Spielraum macht Musik aber noch nicht arbiträr, denn auch ihre Topoi sind historisch generiert, ihre Gestik leitet sich aus den Vorgaben des Körpers ab. Für Lidov bietet die Semiotik eine angemessene Perspektive auf das Verhältnis von Sprache und Musik - “not necessarily neutral, but embracing” (p. 2). Er möchte zeigen, daß die semiotische Theorie unsere Wertschätzung der Musik erhöhen kann, und daß das Studium der Musik umgekehrt seinen Teil zur Konstitution des semiotischen Modells beiträgt. Sein Buch will die Möglichkeiten und Grenzen musikalischer Repräsentation anhand verschiedener Bereiche aufzeigen, sei es in der Geste, der Partitur oder der Musiktheorie. Der erste Teil des Buches ist der strukturalistischen Perspektive auf die Musik gewidmet, obwohl die Idee eines musikalischen Flusses als Kette aus separaten Teilen im zweiten Teil wieder in Frage gestellt wird. Trotzdem sollen vorerst grundsätzliche Zusammenhänge zwischen musikalischen Strukturen und ihren Funktionen betont werden. So trägt z.B. die gebräuchliche Repetition eines Stilelements nicht nur zur Segmentierung und zum Aufbau struktureller Hierarchien bei, die Wiederholung struktureller Einheiten erfüllt auch eine syntaktische Rolle zur Identifikation eines Themas und zur Klärung des Stils. Als anderes strukturalistisch motiviertes Beispiel stellt Lidov ein Allegretto Beethovens vor, in welchem der Komponist Grammatik und Design des Werks funktional koordiniert. Mit dem Begriff ‘Grammatik’ ist dabei eine Ordnung durch ein abstraktes Regelsystem gemeint, während das ‘Design’ auf einen Idiolekt innerhalb des Systems verweist. Das Design geht über die reine musikalische Grammatik hinaus, indem es deren Regeln funktional interpretiert, jedoch können ähnliche Designs auch mithelfen, eine musikalische Grammatik zu festigen und sich z.B. in der Sonatenform zu sedimentieren. Im zweiten Teil bemängelt Lidov, daß die Zeichentheorie erst spät von der Musikologie nutzbar gemacht worden sei, während diese doch Anregungen aus Mathematik, Physik, Biologie und Psychologie dankbar aufgenommen habe. Reviews 179 Vor allem die Semiotik von Charles Sanders Peirce sei dabei im Schatten der Saussure-Rezeption viel zu lange vernachlässigt worden. Peirce selbst äußerte sich zwar als Zeichentheoretiker nur vereinzelt zu den Künsten (cf. Hess-Lüttich & Rellstab 2005), aber wer Repräsentation als einen sich kontinuierlich entwickelnden Prozeß im Sinne von Peirce betrachtet, kann daraus auch das Musikverständnis als zeitlich-phänomenalen Vorgang konzipieren (cf. Hess-Lüttich 2007). Mit der Adaption semiotischer Konzepte lenkt Lidov die Aufmerksamkeit von den starren Strukturen hin zu den dynamischen Qualitäten der Musik. Denn das musikalische Zeichen ist nicht statisch, sondern “a charged moment of interpretation” (p. 129), eine Definition, die in ihren post-strukturalistischen Zügen die Resultate des ersten Teils zu dementieren scheint. Der dritte Teil von Lidovs Buch erweitert die semiotischen Überlegungen um den expressiven Aspekt der musikalischen Geste. Ob beim klassischen Allegro (dt. Laufen) oder beim jazzigen Swing - Assoziationen zwischen Musik und körperlicher Erfahrung sind stets präsent. Musik ist nur als signifikant markiert, wenn wir die empfangene Klangbewegung mittels körperlicher Erfahrung identifizieren. Gesten umfassen demnach alle kurzen, expressiven Einheiten motorischer Aktivitäten, sie wirken als Entitäten, die mehrere musikalische Einheiten unmittelbar repräsentieren können: “Music is an action on and of the body” (p. 145). Im semiotischen Prozess werden Empfindungen und Impulse im Körper zu Geist transzendiert, und private, unaussprechliche Erfahrungen implizieren umgekehrt geteilte und meßbare biologische Reaktionen. Und wieder übersetzt Lidov diese Überlegungen in die Terminologie von Peirce, indem er den unmittelbaren Ausdruck als indexikalisches, den übersetzten oder formal transponierten Ausdruck als ikonisches oder gar als symbolisches Zeichen wertet. Im vorletzten Teil entfernt sich Lidov von der konkreten Partitur und versucht, die technischen Theorien von Komponisten ebenfalls als ästhetische Zeichen zu begreifen. Dieses Unterfangen soll jedoch nicht deren technischen Charakter bestreiten, sondern will zu ihrer tieferen Rezeption anregen. Zwischen der Musik und ihrer theoretischen Beschreibung existieren semiotische Parallelen der Struktur, Parallelen, die sich z.B. bei Komponisten des 20 Jahrhunderts theoretisch im Ideal des Möglichen äußern. Die Theorie ist ein ästhetisches Zeichen, das die Möglichkeit als ästhetischen Topos repräsentiert: “A theory is a specific representation of abstract possibility” (p. 197). Auch die Idee der Abstraktion kann die musikalische Theorie ästhetisch bereichern. Indem die Musiktheorie teilnehmende Mechanismen aufhebt, gewinnt der Rezipient mehr ästhetische Distanz zum Werk und versteht sich nun eher als Beobachter denn als Teilnehmer. Im letzten Teil will Lindov schließlich nach den Möglichkeiten nun auch die Grenzen der Repräsentation reflektieren und zeigen, daß musikalische Semiotik sowohl die Konstruktion wie auch den Verlust von Bedeutung berücksichtigen muß: “A musician needs no consistent or constant stance toward representation” (p. 225). Durch konstantes Neuaushandeln der Perzeption gerät die semiotische Inkonsistenz gar zum Zeichen der Kunst schlechthin. Als Beispiel nennt Lidov sein eigenes Werk “Voice mail”, in dem die Mischung aus dreizehn verschiedenen Stimmen zu einem strukturellen Idiolekt beiträgt, der sich gegen eindeutige Referenz und Interpretation zu sperren scheint. “Voice mail” spielt mit programmatischen Titeln und Anlehnungen an Genres, es bietet Vorstellungen an, nur um sie gleichzeitig zu untergraben und zu verdrehen. Lidov möchte mit seinem Stück keineswegs die semiotische Zugangsweise zur Musik unterlaufen, aber das Werk soll die Performanz von den Zwängen der Partitur befreien, zumindest sollen die Intentionen des Komponisten nicht dem Interpreten aufdrängt werden. “Voice mail” biete vielmehr nur Anreize zur Interpretation, man gebe der Partitur Sinn, indem man sie spiele, als ob sie konsistente Intentionen habe. Die Performanz soll die Resistenz der Partitur gegen Repräsentation bezwingen, dafür ist sie verantwortlich. Lidovs Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen einer semiotischen Musikologie überschaut ein weites Untersuchungsfeld. Besonders die dynamische Zeichenkonzeption lädt dazu ein, neue Aspekte in der Produktion und Rezeption musikalischer Ereignisse zu erkennen. Allerdings wird nicht immer ganz deutlich, ob der Autor Reviews 180 einer strukturalistischen oder eher einer poststrukturalistischen Position zuneigt, da immer wieder Typologien und Klassifikationen nach strengen Mustern auftauchen, die später indes zumindest teilweise wieder dekonstruiert werden. Insbesondere das letzte Kapitel argumentiert für eine Relativierung allzu starrer Zuordnungen, wobei das vorgestellte Werk “Voice mail” vielleicht nicht gar so außergewöhnlich ist, wie es Lidov suggeriert. Ist es nicht bei den meisten Musikstücken so, daß jeder Hörer auf andere Details fokussiert? Bleiben die ‘wahren’ Intentionen des Komponisten nicht stets weitgehend im Dunkeln? Steht nicht jedes neue Werk in einer Tradition (oder einer Šklovskijschen ‘Reihe’), die ein anderes (im Sinne der Prager Strukturalisten) ‘aktualisiert’ oder kontrastiert? Wäre damit nicht auch jede Interpretation ein Argument für die mögliche Repräsentation einer Partitur? Literatur Ernest W.B. Hess-Lüttich & Daniel Rellstab 2005: “Zeichen/ Semiotik der Künste”, in: Karlheinz Barck et al. (eds.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, vol. 7, Stuttgart/ Weimar: Metzler, 247-282 Ernest W.B. Hess-Lüttich 2007: “Sprache und Musik: Intermediale Relationen”, in: Henriette Herwig et al. (eds.), Übergänge. Zwischen Künsten und Kulturen. Internationaler Kongress zum 150. Todesjahr von Heinrich Heine und Robert Schumann, Stuttgart/ Weimar: Metzler, 161-182 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Martin Luginbühl, Thomas Baumberger, Kathrine Schwab & Harald Burger: Medientexte zwischen Autor und Publikum. Intertextualität in Presse, Radio und Fernsehen, Zürich: Seismo 2002, 248 S., ISBN 978-3-908239-84-0 Objektivität als wesentliches Kriterium angemessener journalistischer Berichterstattung wird bekanntlich unter anderem gewährleistet durch eine unparteiische Darstellung von Ereignissen und ihre faktenorientierte Präsentation ohne eigene Wertung durch den Berichterstatter (cf. Lorenz 2002: 83). Die Frage, wie ‘objektiv’ Medien nun aber tatsächlich berichten, ist Gegenstand der Mediendiskursforschung. Kunczik & Zipfel (2001: 277) z.B. sehen ‘Objektivität’ vielmehr als festen Bestandteil “des medienpolitischen Schimpfbzw. Kampfvokabulars”. Auch Renkema (2004: 266) hinterfragt die Objektivität in den Medien und betrachtet den Diskurs immer auch als Symptom der Intention des Sprechers: “He cannot do otherwise than, by making choices, present the information from a perspective, containing a vision, a focalization and empathy [...].” Mit anderen Worten: schon die Auswahl der Information führt zu einer Wertung und Perspektivierung des Dargestellten. Das immer wieder kontrovers diskutierte Problem der Objektivität (‘Objektivität’ im Sinne der neutralen ‘Abbildung’ von ‘Wirklichkeit’) ist es auch, das den Zürcher Germanisten, Linguisten und Medienforscher Harald Burger und sein Team motiviert hat, Textketten von Deutschschweizer Medien zu untersuchen. Der Fokus der Studie liegt auf der Intertextualität und darauf, wie diese auf Prozesse der Realitätskonstruktion einwirkt. Daß mit Medientexten Realität nicht ‘abgebildet’, sondern vielmehr konstruiert und inszeniert wird, erklären Luginbühl et al. in ihrer Einführung eben mit dem “intertextuellen Charakter medialer Texte” (S. 7). Es folgt ein kurzer Bericht über den Forschungsstand zum Konzept der Intertextualität, das ja ursprünglich aus der Literaturwissenschaft kommt und erst später auch von der Linguistik aufgegriffen wurde. Die Autoren schlagen angesichts der Vielfalt vorliegender Intertextualitätskonzepte einen ‘radikalen’ Begriff von Intertextualität vor und formulieren sechs Thesen, die empirisch überprüft werden sollen. Zusammengefaßt besagen diese Thesen, daß eigentlich gar kein konkreter Autor des Textes festzumachen sei, daß die üblichen Vorstellungen von ‘Textproduktion’ revidiert werden müßten, daß ein Text immer nur eine ‘Variante’ in einer Kette von Texten darstelle, daß ‘Redewiedergabe’ meistens nur dann transparent gemacht werde, wenn sie eine spezifische Funktion erfüllen solle, daß Realität ein Medienkonstrukt sei und daß es weder eine klar definierte Gruppe von Rezipienten noch eine eindeutige Rezeptionsweise gebe. Luginbühl et al. räumen ein, daß diese Thesen nicht sonderlich neu sind. Mit ihrer ‘radikalen’ Position formulieren sie für die Medien- Reviews 181 linguistik noch einmal in griffiger Prägnanz, was in Literaturwissenschaft und Semiotik (z.B. bei Roland Barthes: “Tod des Autors”, “chambre d’echos” usw.) schon seit Julia Kristeva immer wieder betont wurde und was übrigens keineswegs unumstritten war: zur kritischen Diskussion s. schon Broich & Pfister 1985 oder jetzt Hess- Lüttich 2009). Konerding (2005: 22) sieht Intertextualität als Bedingung dafür, daß ein Text überhaupt Bestandteil eines Diskurses werden könne: “Der betreffende Text - bzw. der einschlägige Teiltext - muss die gleiche oder doch sehr ähnliche Makro-Proposition wie die übrigen Texte (bzw. Teiltexte), die den Diskurs konstituieren, aufweisen.” Es ist daher schlüssig, daß auch der Textbegriff der Textlinguistik selbst einer kritischen Revision unterzogen und um Aspekte der Modalität und des Informationskanals erweitert wird. Weiter unterscheiden die Autoren verschiedene Arten von Realität in Medientexten. Je nach ‘Realitätsmodus’ (z.B. eine Naturkatastrophe als außermediale Realität oder eine Talkshow als innermediale Realität) verändere sich das Maß der ‘Texthaftigkeit’. Die verschiedenen Typen und Formen von Intertextualität und die unterschiedlichen Grade der Beziehung zwischen Medientext und Prätext werden dann an einem Beispiel aus der schweizerischen Nachrichtensendung Zehn vor Zehn illustriert. Wie sie ihre Thesen an empirischem Material überprüfen wollen, erläutern die Autoren im zweiten Kapitel des Buches. Ihr Corpus zum Vergleich zwischen den verschiedenen Medien und Medienprodukten umfaßt nicht weniger als 3200 Medientexte aus Zeitungen, aus Rundfunk und Fernsehen im Zeitraum von April 1997 bis Februar 1998 zu den beiden Themen “schweizerische Sozialversicherungen” und “Gentechnologie”, über die in diesem Zeitraum viel berichtet wurde. Aus diesem Corpus wählen sie sechs Themenketten für die genaue Analyse aus und ergänzen sie um Daten aus einer teilnehmenden Beobachtung von Redaktionen, einer mündlichen Befragung von Medienschaffenden und einer Rezipientenbefragung. Befunde der quantitativen und qualitativen Analyse werden dann in den folgenden Kapiteln ausführlich präsentiert. Leitend sind dabei insbesondere die Fragen: “Was tun die KommunikatorInnen der verschiedenen Medien, um Sachverhalte in ihrer Komplexität für die RezipientInnen durchschaubar zu machen? Diesbezüglich interessieren hier besonders die Markierungen der Autorschaft und Verweise auf Quellenangaben bzw. die zitierten Personen und Institutionen in den Medientexten. Wer kann - aus der Sicht der RezipientInnen - für die Gestaltung eines Medientextes verantwortlich gemacht werden? Wer und wie wird zitiert? ” (S. 44). Die Analyse ergibt unter anderem, daß bei 90% der Texte der Name oder das Kürzel des Autors angegeben werde, in elektronischen Medien allerdings meist nicht explizit. Die Zitationen seien in der Regel nachvollziehbar, der Anteil an zitierter Rede sei in Agenturmeldungen am größten. Während in den Printmedien eher indirekte Zitate verwendet würden, böten die elektronischen Medien lieber ‘O-Töne’. Der Intertextanteil sei oft größer als auf den ersten Blick ersichtlich, wobei oft ein expliziter Verweis auf einen Prätext fehle. Im vierten Kapitel geht es dann um die Fragen, wie und mit welchen sprachlichen Verfahren in Medientexten Bewertungen vorgenommen würden und ob einzelne Verfahren dabei in bestimmten Zusammenhängen (etwa in bestimmten Medien oder bestimmten Texttypen) gehäuft aufträten, woher die vorhandenen Bewertungen stammten, ob sie - unverändert oder transformiert - von einem Prätext übernommen (intertextuelle Textelemente) oder ob sie vom Journalisten hinzugefügt worden seien (auktoriale Textelemente) und wie konstant Bewertungen in umfangreicheren intertextuellen Ketten beibehalten würden (cf. S. 81). Die Resultate zeigen unter anderem, daß Bewertungen häufig aus Prätexten übernommen würden, wobei Metaphern ein beliebtes sprachliches Mittel der Bewertung seien. Zur Absicherung würden Bewertungen oft an Zitierte delegiert. In allen Medientypen seien implizite Bewertungen zentral, sodaß Textanalyseverfahren, die nur explizit bewertende Lexeme berücksichtigten, den massenmedialen Bewertungsverfahren kaum gerecht würden. Das fünfte Kapitel präsentiert ein Fallbeispiel zur Themenkette “Berichterstattung über eine staatliche Studie zu den Schweizer Sozialwerken.” Die quantitativen Befunde ergeben, daß die Nachrichtenberichterstattung nur knapp sei und Reviews 182 meist am Tag des Ereignisses stattfinde. Sie basiere häufig auf Agenturtexten - Eigenrecherche halte sich in Grenzen, meist werde der Text nicht neu formuliert, sondern aus verschiedenen Prätexten zusammenmontiert. In Zeitungen und Zeitschriften fänden sich viele markierte Zitate, wobei Parteien in der Themenkette zum Fallbeispiel häufiger zitiert würden als in den anderen Themenketten. Das markierte Zitieren fungiere als Inszenierung von Authentizität und Autorität, Zitate von Experten sicherten dominante Bewertungen ab. Eine explorative Rezipientenbefragung in halbstandardisierten Interviews mit über hundert Personen zwischen 11 und 85 Jahren soll (ohne Anspruch auf Repräsentativität) darüber Aufschluß geben, ob die Rezipienten wissen, wer die Autoren von (zuvor analysierten) Texten sind und woher die Informationen stammen. Die Befunde ergeben, daß über drei Viertel der Befragten sich nicht für den Autor des Textes interessieren, sondern allenfalls für die Herkunft der Information, daß Autorenkürzel kaum Beachtung finden, daß der Einfluss von Agenturen unterschätzt bzw. die Eigenleistung des Journalisten deutlich überschätzt werde. Implizite Bewertungen würden höchstes von überdurchschnittlich gebildeten Rezipienten erkannt, aber alle legten Wert auf ‘neutrale’, ‘ausgewogene’ Berichterstattung, die höher rangiere als Kriterien wie Sachlichkeit oder Wertfreiheit. Ingesamt erweist sich das Konzept der Intertextualität hier als sinnvolles Instrument zur Beschreibung von Medientexten und deren Wirklichkeitskonstruktion, die (wie schon Luhmann so genau wie lakonisch beschrieben hat) weniger aus der Wahrnehmung und Deutung der ‘Realität’ erwachse als aus der Auswahl und Zusammenstellung vorhandener Prätexte (nicht nur aus Agenturen, sondern auch aus PR-Systemen, die neben den Themen deren Bewertung gleich mitliefern): “Die mediale Realität [ist] kein einheitliches Konstrukt, das auf ein Individuum zurückgeht, sondern vielmehr eine Klitterung, eine Art ‘patchwork’ aus verschiedenen Realitäten, das Risse, Brüche, ja sogar Widersprüchlichkeiten aufweisen kann” (S. 217). Die Autornennung suggeriert irreführenderweise eine Eigenleistung auf Kosten der Transparenz auf die tatsächliche Quellenlage eines Medientextes, die Berichterstattung folgt konventionellen, ja ritualisierten Mustern. Harald Burger und sein Team liefern mit ihrer Untersuchung empirisch erhärtete Befunde zu einem brisanten Thema der Kommunikationswissenschaft und Medienlinguistik, die auch für angehende Medienpraktiker manch ernüchterne Information enthalten, wenn auch für Medienprofis keine neuen. Welche Folgerungen für die Praxis der medialen Textproduktion daraus zu ziehen seien, läßt die Studie freilich ebenso offen wie die Konsequenzen für das Konzept der Medienwirklichkeit, die mehr mit Marktwirklichkeit zu tun hat als mit individueller Wirklichkeit oder mit Gesellschaftswirklichkeit. Denn Medienunternehmen stehen nicht nur in nationaler und internationaler Konkurrenz, sondern auch in der intermedialen Konkurrenz eines expandierenden Mediensystems mit neuen (polycodierten) Medientextsorten und Textverwertungsprozessen (cf. Hess-Lüttich ed. 2006). Literatur Barthes, Roland 2000: “Der Tod des Autors”, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez & Simone Winko (eds.) 2000: Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam, 185-193 Broich, Ulrich & Manfred Pfister (eds.) 1985: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer Hess-Lüttich, Ernest W.B. (ed.) 2006: Media systems - their evolution and innovation (= Kodikas / Code Special Issue 29.4), Tübingen: Gunter Narr Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2009: “Textbegriffe der Sprach-, Literatur und Medienwissenschaften im Zeichen technischer Umbrüche”, in: Renate Riedner & Siegfried Steinmann (eds.) 2009: Alexandrinische Gespräche. Forschungsbeiträge ägyptischer und deutscher Germanist/ inn/ en, München: iudicium, 154-168 Konerding, Klaus-Peter 2005: “Diskurse, Themen und soziale Topik”, in: Claudia Fraas & Michael Klemm (eds.) 2005: Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt/ Main etc.: Peter Lang, 9-38 Kunczik, Michael & Astrid Zipfel 2001 [ 2 2005]: Publizistik, Köln / Wien: Böhlau Lorenz, Dagmar 2002 [ 2 2009 in Vorb.]: Journalismus, Stuttgart: Metzler Renkema, Jan 2004: Introduction to Discourse Studies, Amsterdam / Philadelphia: Benjamins Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Reviews 183 Wolfgang Steinig: Als die Wörter tanzen lernten. Ursprung und Gegenwart von Sprache, Elsevier / Spektrum Akademischer Verlag 2007, 456 S., ISBN 978-3-8274-2088-6 Passend zur Vorbereitung auf das ‘Darwin-Jahr’ 2009 bekommen wir ein Buch aus dem renommierten Spektrum-Verlag zur Besprechung auf den Tisch: Wolfgang Steinigs Überlegungen zu Ursprung und Gegenwart der Sprache. Darwin vermochte mit der natürlichen Selektion zu erklären, weshalb die Evolution ihre Einfälle und Ressourcen ökonomisch verwaltet: wenn die an Land gekrochenen Tiere nach und nach nur noch Luft atmen, dann werden sie ihrer Kiemen überdrüssig und sie verschwinden im Laufe der Zeit. Nach einem ähnlichen Prinzip wurde aus dem mittelhochdeutschen lamp im Neuhochdeutschen das bequemer auszusprechende Lamm - nach dem Motto: unnötiger Aufwand lohnt nicht. Würde Sprache freilich nur nach Prinzipien der natürlichen Selektion, der Ökonomie und Vereinfachung funktionieren, unterhielten wir uns dann heute noch in einer so komplexen Sprache wie dem Deutschen? Solche Fragen reizen den Siegener Germanisten, genauer nachzuhaken. Wie kam es, fragt er sich, daß wir uns freiwillig mit einem sperrigen grammatischen System und lautlichen Regelwerk mühen, wenn es uns im freien Lauf der Rede nicht selten zu inhibieren scheint, wenn wir über unsere eigenen Worte stolpern, mit allerlei Verzögerungslauten wie äh und ehm Zeit zum Nachdenken herauszuschlagen suchen, wenn uns Bilder oder Gefühle in angemessene Worte zu kleiden oft so schwer fällt? Steinig sucht und findet die Antwort auf diese Frage im Prinzip der sexuellen Selektion, die Darwin der natürlichen Selektion zur Seite gestellt hat. Sprache, so die These des Autors, funktioniere nach demselben Muster, das dem Pfau zu einem farbenprächtigen Federschweif verholfen habe. Wie konnte sich ein Merkmal evolutionär durchsetzen, das in gefährlichen Situationen eher hinderlich sein könnte? Weil es erhöhte Paarungschancen versprach. Die sexuelle Selektion gibt der erfolgreichen Weitergabe von Genen den Vorzug vor einem möglichst gefahrenlosen Leben. Und im Falle der Sprache vielleicht vor einer möglichst reibungslosen Verständigung? Den Nachweis für diese These sucht Steinig auf gut 450 Seiten zu führen, indem er seinen Ausgang nimmt von einer überraschenden Behauptung: die Grundlage für Sprache habe der archaische Mensch von rituellen Tänzen abgeschaut. Die These leitet ihn auf dem Weg zu einer originellen, aber stets argumentativ gut belegten und interdisziplinär abgesicherten Sprachentwicklungstheorie: er nennt sie das “Handicap- Prinzip” (S. 32): Möchte ein Individuum […], beispielsweise vor einem Kampf oder bei der Balz, demonstrieren, daß es ausreichend fit ist, um den Kampf siegreich zu bestehen oder als Geschlechtspartner hochwertige Gene für seinen Nachwuchs zu liefern, so muß es seine Botschaft glaubwürdig vermitteln können, damit Konkurrenten oder Umworbene davon überzeugt werden, daß es sich nicht um ein Täuschungsmanöver handelt. Dies gelingt nur, wenn das Individuum seine Grenzen auslotet, wenn es Risiken eingeht, wenn es Signale einsetzt, die einen besonders großen Aufwand erfordern - kurz, wenn es Handicaps in Kauf nimmt (S. 32). Mit anschaulichen Beispielen aus der Tierwelt - vom Ochsenfrosch über Bienen bis zur Gazelle - zeigt Steinig, daß Signale, die mit hohen Kosten produziert werden, im Hinblick auf Eigenwerbung und Statusmarkierung konkurrenzfähiger sind. Das Handicap-Prinzip leuchtet zunächst ein: wer eine gepflegte Sprache benutzt, markiert Status und Überlegenheit. Wer subtilere Höflichkeitsformen oder exotische Fremdwörter nicht geschickt einzuflechten weiß, habe Nachteile zu gewärtigen in der Konkurrenz der Sprachartisten. Sprachliche Virtuosität als das erfolgversprechendere Balzverhalten? Hier kommt neben dem Handicap-Prinzip die These vom Tanz ins Spiel, an dessen Entwicklung die Frau maßgeblichen Anteil habe. Das ‘Mängelwesen’ Mensch (Arnold Gehlen) sei aus Mangel an Instinkten auf vorhersehbare Abläufe einer gemeinsamen Kultur angewiesen, um ein sicheres Leben führen zu können. Auf Sicherheit angewiesen waren in der Zeit der ersten Menschen vor allem die Frauen. Steinig vermutet, daß der Reiz des Sexuellen nicht ausreichte, um die Männer auf Dauer an ihre Sexualpartnerinnen Reviews 184 zu binden und damit für ihr Wohl und das Wohl ihrer Nachkommen zu sorgen. Die Frauen mußten also eine Strategie entwickeln, um ihre Männer für längere Fristen an sich zu binden. Zunächst habe sich der Zyklus der Frau so eingestellt, daß die fruchtbaren Tage nicht mehr ohne weiteres schon von weitem erkennbar waren. Die Männer mußten sich auf zeitlich ausgedehntere Werbungen einstellen, um die Chance zu erhöhen, während des Eisprungs als Favorit erkannt zu werden. Indem sich die Frauen so einen gewissen Machtvorteil verschafften, konnten sie nun ihrerseits Forderungen erheben. Als aussichtsreicher Kandidat galt nun, wer die besten Ressourcen zur Versorgung seiner Nächsten aufbringen konnte, z.B. ein Mann, der sich besonders altruistisch verhielt. Um sich selbstlos zu zeigen, seien aufwendig inszenierte Rituale besonders geeignet. Wer sich in Tänzen, Opferritualen und Festen mit kulturell eingespielten Abläufen besonders hervorzutun vermochte, galt als Favorit. Dem Anreiz, das Handicap in der Disziplin des Tanzes stetig zu erhöhen, entspringt dem Gedankengang des Autors zufolge nicht nur der allmählich aufrechtere Gang des Menschen, sondern eben auch: das erste Sprechen. Denn mit dem Tanz kam der Gesang, mit dem Gesang die Wörter und mit den Wörtern eine Baustruktur für die Aneinanderreihung von Wörtern - die Grammatik: Die Bewegungsabläufe von Tanzschritten basieren - ähnlich wie die Bewegungen der Sprechwerkzeuge beim Erzeugen von Lautketten - auf einem generativen Prinzip: Mit einer relativ kleinen Menge möglicher Schritte können Schrittfolgen erzeugt werden und diese Schrittfolgen wiederum können sich zu größeren Schrittsequenzen formen, die sich schließlich zu einem speziellen Tanz zusammenfügen. Diese vier Ebenen […] stehen analog zu den vier sprachlichen Ebenen - der Lautebene, der Wortebene, der Satzebene und der Textebene. Diese erstaunliche Analogie kann kein Zufall sein. Das generative Prinzip der Grammatik konnte nur entstehen, weil das lange zuvor entwickelte generative Prinzip tänzerischer Bewegungen zum Transfer auf Sprache verfügbar war (S. 167f.). Für diese These argumentiert Steinig in den folgenden beiden Dritteln des Buches mit zahlreichen weiteren Beispielen aus der Tierwelt, aus dem Alltag und mit Erkenntnissen aus der Evolutionsforschung. Er unternimmt ausgreifende Ausflüge in die Sprachentwicklungsforschung, in die Psychologie und Soziologie, in die Biologie und sogar in die Literatur. Damit wird der Leser keineswegs ermüdet. Er erfährt gleichsam im Vorbeigehen einiges über Klicksprachen im Süden Afrikas, über Höhlenmalereien und Menschenopfer, über das Paarungsverhalten der Bonobo- Affen und typische Gespräche bei Klassentreffen, über Flirts in Strassencafés und hinduistische Mantras, über große Köpfe und hohe Stirn … Er wird vom Verf. schon im Vorwort jovial ermuntert - “Sie möchten sich also auf ein wissenschaftliches Abenteuer einlassen! ” (S. 11) - und lockend in sein ‘Zeit-Shuttle’ eingeladen - “Schnallen Sie sich an! ” (S. 15) -, mit ihm an die “unterschiedlichsten Orte” zu reisen, “in denen heute kommuniziert wird und vor Tausenden von Jahren kommuniziert wurde” (ibid.). Der lockere Ton verliert sich im Laufe der elf Hauptkapitel ein wenig und tritt erst im Schlußwort wieder hervor, das den Leser aus dem Zeit-Shuttle entläßt. Bei allem inhaltlichen Anspruch schreibt der Autor (er ist auch Didaktiker) erkennbar für den Leser, nicht nur, um sich selbst der Stringenz seiner Gedankenführung zu vergewissern. Ist der Leser Linguist, liest er das Buch mit Gewinn; ist er Laie, wird er es von Seite zu Seite spannender finden. ‘Der’ Leser? Pardon, manche Leserin wird an einigen Stellen biologistische Erklärungsmuster wittern, die tradierte Geschlechtsrollen zu zementieren drohen, aber wenn alltägliche Dinge wie das Gehen auf hohen Absätzen, das Lesen von Werken der Weltliteratur oder höfliches Grüßen im Treppenhaus als Entscheidungen für ein hohes ‘Handicap’ entlarvt werden mit dem Hintersinn, dem Umfeld sexuelle Attraktivität zu demonstrieren, wird sie ernüchtert Gewinn buchen an Weltwissen über ihres- und seinesgleichen. Eher untypisch für seine Zunft erhebt der Linguist Steinig keinen Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit seiner Theorie: “Ich habe Ihnen eine Geschichte vom Sprachursprung erzählt - eine Geschichte, nicht mehr, aber auch nicht weniger” (S. 454) bescheidet er sich, nicht ohne sich einen kleinen Seitenhieb auf die lieben Kollegen zu erlauben: deren Problem bestehe eben oft darin, daß sie ihre Geschichten in ihrer abgehobenen Reviews 185 Schreibart gar nicht mehr verständlich vermitteln könnten. Und daß es dem Leser deshalb verwehrt bleibe, sie selbst auf ihre Plausibilität überprüfen zu können. Das wird manchen dieser Kollegen gewiß zum Widerspruch reizen. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Bettina Hurrelmann, Susanne Becker & Irmgard Nickel-Bacon: Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel (= Lesesozialisation und Medien), Weinheim/ München: Juventa 2006, 413 S., ISBN 978-3-7799-1357-3 Das Buch über Lesekindheiten von Bettina Hurrelmann, Susanne Becker und Irmgard Nickel- Bacon entstand im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes, das der Lesesozialisation in der deutschen Mediengesellschaft gewidmet war (cf. <http: / / www.uni-koeln.de/ dfg-spp-lesesoz/ indexanfang.htm>). In ihrem Teilprojekt nehmen die Autorinnen eine diachrone Perspektive ein und untersuchen die Lesesozialisation in der Familie zu drei ausgewählten historischen Zeitpunkten: zur Biedermeierzeit um 1830, zur Kaiserzeit um 1900 und zur Zeit des Eintritts in die - wie man heute rückblickend sagt - (westdeutsche) ‘Mediengesellschaft’ um 1980. Betrachtet werden die Familienkulturen in bürgerlichen Familien des jeweiligen Zeitraumes aus historischer Sicht sowie ihre Lesekultur. Letzteres geschieht anhand dreier ausgewählter Quellengattungen. Es wurden Erziehungsratgeber, Kinderliteratur und Autobiographien herangezogen, um zu erfahren, welcher Umgang mit dem Lesen in den Familien gepflegt wurde. Die Entwicklung der Lesekompetenz bei Kindern wurde dabei in drei Phasen eingeteilt. Die erste umfaßt den mündlichen Umgang mit Lesestoff (‘prä- und paraliterarische Kommunikation’), die zweite die Alphabetisierung der Kinder und die dritte schließlich das selbstständige kindliche Lesen (cf. S. 29). Als Theorierahmen für die Studie wählten die Autorinnen das Konzept der ‘Ko-Konstruktion’. Es handelt sich dabei um eine entwicklungspsychologische Herangehensweise, die um eine gesellschaftliche und historische Perspektive erweitert wurde. Dieser Rahmen ermöglicht die Untersuchungen des Kompetenzerwerbs einer Person (in diesem Fall des Lesens) als Wechselwirkung zwischen sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Das erlaubt nach Auffassung der Autorinnen, die Lesesozialisation als Mehrebenen-Prozeß zu betrachten: “So sind für eine differenzierte Modellierung der Lesesozialisation zwischen der gesellschaftlichen Makro- Ebene und der Mikro-Ebene des Lesers bzw. der Leserin auf einer Meso-Ebene die Instanzen zu berücksichtigen, die den Erwerb kultureller Erfahrungen in face-to-face-Interaktionen ermöglichen” (S. 19). Als Ergebnis des wichtigen Schwerpunkts zur Erforschung Lesesozialisation fügt sich das vorliegende Buch in eine Reihe von Werken im Themenbereich Kindheit, Medien und Lesekompetenz ein: das Gesamtvorhaben wird in dem hier in K ODIKAS ebenfalls ausführlich besprochenen Buch (s. Hess-Lüttich 2004) über Lesesozialisation in der Mediengesellschaft von Norbert Groeben & Bettina Hurrelmann (2004) vorgestellt. Dort wird auch der hier applizierte Theorierahmen der ‘Ko-Konstruktion’ genauer skizziert (Groeben 2004). Den Hintergrund für das vorliegende Forschungsprojekt bildet die bereits vorliegende empirische Forschung zur Lesesozialisation in der Gegenwart. Diese habe gezeigt, daß der Umgang mit Sprache und Texten in der Familie die wichtigste Voraussetzung dafür ist, daß Kinder zum Lesen bewegt werden können. Wie Bettina Hurrelmann im Vorwort zum ersten Kapitel deutlich macht, ist die Familie für die Lesesozialisation noch heute das zentrale Moment, weshalb sie auch als Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung gewählt wurde (S. 13): Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die Familie als die bis heute wichtigste, weil früheste und wirkungsvollste Instanz der Vermittlung von Lesekultur an die junge Generation. Sie betrachtet das familiale Sozialisationsgeschehen und seine Rahmenbedingungen historisch, um das viel-verherrlichte, aber meist wenig bekannte ‘Früher’ sowie die bis zur Gegenwart und über sie hinausreichenden Veränderungsprozesse verständlicher zu machen. Das Ziel der Autoren besteht somit darin, durch einen vertieften Rückblick in vergangene Muster des Lesenlernens zu verstehen, aus welchem Reviews 186 Fundament die heutigen Lesekulturen in den Familien bestehen. Erst durch dieses Verständnis wird es möglich, zu erkennen, welchen Stellenwert das Lesen hatte und welchen Stellenwert es in der Mediengesellschaft hat oder zukünftig haben sollte. Mehrere Autorinnen des Buches haben ihre Forschungsschwerpunkte in der Lesesozialisation und (Deutsch-)Didaktik. So sollen die Ergebnisse dieses historischen Abrisses natürlich auch Möglichkeiten für die Förderung der Lesekompetenzen von Kindern im schulischen Umfeld aufzeigen. So lautet auch das Fazit von Bettina Hurrelmann, daß die Aufgabe der formellen Bildungsinstanzen sei, “für den Abbau der herkunftsbezogenen Chancenungleichheit zu sorgen”, da die Lesesozialisation auch im Medienzeitalter immer noch auf schichtspezifischen Unterschieden beruhe (S. 410). Der Schwerpunkt der Arbeit liegt aber dennoch auf der Familie als erster Instanz für das Entwickeln einer kindlichen Lesekompetenz: “Denn obwohl viele Eltern heute der Meinung sind, daß das Lesen im Wesentlichen eine Sache der Schule sei, stellt sich im empirischen Vergleich immer wieder heraus, daß die Familien nach wie vor das Entscheidendere zur Leseentwicklung der Kinder beitragen” (S. 15). Die angewandte Methode zeigt diese Rolle der Familie im historischen Kontext ebenso einleuchtend wie exemplarisch auf. Anhand einer großen Fülle geschichtlicher Quellen haben die Autorinnen einen wertvollen Überblick über verschiedene Arten der Lesesozialisation erarbeitet. Allein das Verzeichnis der ausgewerteten Quellen (für die Biedermeierzeit: S. 155-170, für die Kaiserzeit: S. 273-291 und für den Eintritt in die Mediengesellschaft: S. 390-399) ist ein Fundus für mögliche weiterführende Forschung. Ein von den Autoren selbst angesprochenes Problem der Untersuchung liegt in der Quellenauswahl. Jede Quellensorte hat einen “diskursiven Eigencharakter” (S. 33). Ratgeber z.B. sind normative Diskurstypen, Literatur sind fiktionale und Autobiographien selbstrekonstruktive Diskurstypen. Da sich die Autorinnen dieser Tatsache bewußt sind, verstehen sie es in der Auswertung, diese textimmanenten Struktur- und Funktionsbedingungen angemessen zu berücksichtigen. Die Diskussion der verschiedenen Quellensorten im ersten Kapitel ist aufschlußreich. Ihre jeweiligen Besonderheiten in Bezug auf den historischen Kontext werden von Hurrelmann überzeugend verdeutlicht (S. 40-49). Ein weiteres Problem der Untersuchung betrifft die bewußt gewählte Begrenzung des Fokus auf das bürgerliche Milieu bzw. (im letzten untersuchten Zeitraum) auf die Mittelschicht. Hurrelmann begründet diese Eingrenzung mit der schwierigen Quellenlage und stellt fest, daß “[d]ie wenigen, den ersten und zweiten Untersuchungszeitraum betreffenden Dokumente, die diesen soziokulturellen Umkreis überschreiten, [...] zwar interessante, aber eben untypische Ausnahmefälle dar[stellen]” (S. 34). Die Tatsache, daß Bücher im neunzehnten Jahrhundert auch für wohlhabende Familien teuer und dementsprechend keine Selbstverständlichkeit waren, ist eine weitere mögliche Erklärung für das Fehlen entsprechender Quellen aus dem Bauerntum oder dem Proletariat. Im letzten historischen Abschnitt um 1980 wäre es demgegenüber eher möglich, Selbstzeugnisse aus bildungsferneren Schichten zu erhalten. In Anbetracht der Tatsache, daß Chancenungleichheit in der Bildung noch immer wesentlich auf Bedingungen der Herkunft oder Schicht des Kindes fußt, ist das Desiderat, gerade in diesen Schichten noch genauer die Bedingungen für das Gelingen einer familialen Lesesozialisation zu erforschen, nachgerade nicht von der Hand zu weisen. Eine gute Voraussetzung dafür böte diese verdienstvolle Dokumentation der Ergebnisse eines ebenso theoretisch reflektierten wie praxisrelevanten Projektes. Literatur Groeben, Norbert 2004: “(Lese-)Sozialisation als Ko- Konstruktion. Methodisch-methodologische Problem-(Lösungs-)Perspektiven”, in: Groeben & Hurrelmann 2004: 142-168 Groeben, Norbert & Bettina Hurrelmann 2004: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick, Weinheim/ München: Juventa Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2004: “Lesen in der Mediengesellschaft”, in: K ODIKAS / C ODE . An International Journal of Semiotics 27.3-4 (2004): 319-322 Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Reviews 187 Christoph Jacke, Eva Kimminich & Siegfried J. Schmidt (eds.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen (= Cultural Studies 16), Bielefeld: transcript 2006, 361 S., ISBN 978-3-89942-394-5 Cultural Studies ist ein vergleichsweise junges (oft auch semiotisch sensibilisiertes) Forschungsfeld der Sozial- und Kulturwissenschaften, das erst in den 1980er Jahren entstand und in den 1990er Jahren auch in der deutschsprachigen Forschung schnell an Bedeutung gewann. Schon vorher war der Ansatz, wenn auch nur sehr vereinzelt, auch auf die Sprachforschung übertragen worden (z.B. Hess-Lüttich 1983 a, id. 1983 b). Der Boden dafür wurde indes schon früher bereitet, etwa in Arbeiten der britischen Forschung aus den späten 50er und frühen 60er Jahren (wie Hoggart 1957, Thompson 1963, Williams 1958 und id. 1961). Untersuchungen zur Jugendkultur wie Learning to Labour. How Working Class Kids Get Working Class Jobs (Willis 1978b) und Profane Culture von Paul Willis (Willis 1978a) wurden zu viel zitierten Leitstudien für spätere Jugendstudien im Zeichen von Cultural Studies. Bücher wie Subculture - The Meaning of Style und Hiding in the Light von Dick Hebdige avancierten zu den “einflußreichsten der ‘klassischen’ Jugendstudien der Cultural Studies” (S. 131). Seither ist nicht nur im angloamerikanischen, sondern auch im deutschsprachigen Raum ein zunehmendes Interesse an wissenschaftlicher Populärkulturforschung aufgekommen, wie Andreas Hepp schon 1999 in seiner Einführung in das Forschungsfeld im Rückblick resümiert (cf. Hess-Lüttich 2006). Höchste Zeit also, daß auch deutsche Verlage das Feld beackern. Seit 2001 gibt der Bielefelder transcript-Verlag sehr erfolgreich eine Reihe unter dem Namen Cultural Studies heraus. Der hier zur Besprechung vorliegende Sammelband Kulturschutt ist bereits der sechzehnte Titel dieser Serie (cf. <http: / / www. transcript-verlag.de/ main/ kul_cul.php> [24.06. 2008]). Auf dem programmatisch bereiteten Boden des von dem heute in Münster lehrenden Kommunikationswissenschaftler (und ehemaligen Siegener Germanisten) Siegfried J. Schmidt formulierten Konzepts von Kultur haben Christoph Jacke, Eva Kimminich und eben Siegfried J. Schmidt Beiträge von Vertretern der verschiedensten Disziplinen zu einem handlichen, aber substanzreichen Band versammelt. Dabei gingen sie von folgendem Grundsatz aus (S. 15 f.): Wir lassen unsere Autoren disziplinlos aus diversen Disziplinen (Medienkulturwissenschaft, Romanistik, Philosophie, Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Medienpädagogik, Rhetorik, Kunstpädagogik, Kunsttheorie, Design, Ethnologie) im vorgemischten […] Schutt und Müll der Kulturen - mal grundlagentheoretisch, mal exemplarisch - wühlen, um zu zeigen, daß Beobachtung von Kultur aus Kultur heraus zunächst möglichst entdramatisiert und weit gestreut geschehen soll. Diese schöne Zusammenfassung im Vorwort macht bereits deutlich, was den Leser des Bandes erwartet. Im ersten Teil Grundlagen enthält das Buch Beiträge, in denen fundierte Überlegungen zum Verhältnis von Kultur und Theorie angestellt werden. Ihren Autoren gehe es darum, “den Blick für Kultur als Theorie zu schärfen und zu ent-elitisieren” (S. 12). Zum Auftakt des Grundlagenteils begründet Siegfried J. Schmidt den Anspruch auf Transdisziplinarität und gibt dem Buch seinen theoretischen Rahmen, auf den mehrere Autoren sich in ihren Beiträgen beziehen (S. 21-33). Die Begriffsbestimmung von Kultur als Diskursfiktion, die als Programm verwendet werde, um kulturelle Phänomene zu erzeugen, zu beobachten und zu bewerten (S. 26), kennt man von Schmidt in vielfältig variierter Form und in gewohnt konzentrierter Diktion auch aus anderen Zusammenhängen. Den Bezug zum ‘Kulturschutt’ stellt er zum Schluß seiner Ausführungen her (S. 33): Mit anderen Worten, Müll und Schutt sind ‘diskursive’ Fiktionen, die eine bestimmte Differenz markieren, aber keine festen Identitäten. Wandeln sich die Diskurse, wandelt sich auch der Müll- und Schuttstatus der so behandelten Phänomene nach Maßgabe des Traditionsbewußtseins (in) einer Gesellschaft, das - wie nicht anders zu erwarten - kulturell programmiert ist. Der daran anschließende (und inhaltlich anknüpfende) Beitrag von Eva Kimminich (Romanistin in Freiburg/ Brsg. und Präsidentin der Deutschen Reviews 188 Gesellschaft für Semiotik) stellt dann den Zusammenhang her zwischen Kultur und Jugendforschung (S. 34-69). Vor dem Hintergrund der Jugend als einem gesellschaftlichen Konstrukt, das seit dem Aufkommen der Jugendforschung im 19. Jahrhundert existiert, fächert sie eine Begriffsbestimmung aus verschiedenen Blickwinkeln auf. Gleichzeitig bietet sie eine fundierte Analyse von Begriffen und Metaphern, die für das Stichwort Kulturschutt von Bedeutung sind und setzt sie in Zusammenhang mit bisherigen Untersuchungen (unter anderem der Cultural Studies) und andern Beiträgen zum vorliegenden Band. Weitere Studien im Kapitel Grundlagen bieten teilweise Einblick in verschiedene populärkulturelle Forschungsfelder der Cultural Studies, greifen die Müll-Metapher nochmals auf oder üben Kritik an bisherigen wissenschaftlichen Betrachtungen populärer Phänomene. Richard Shustermans Aufsatz ist ein flott formulierter philosophisch-historischer Abriß über den Wert und die Bedeutung von Unterhaltung von Plato bis Hannah Arendt (S. 70-96). Mit der Müll-Metapher setzt sich Sebastian Jünger auseinander (S. 97-113); er konstatiert (S. 109): […] [D]iese kreative Freiheit der Unwägbarkeit ist es, auf die sich die zeitgemäße Theorie einlassen muß und für die sie Dialog-, Diskurs-, und Darstellungsformen bereitzustellen hat. Die Metapher spielt hierbei selbstredend nur die Rolle eines Operativs unter vielen. Wenn sie aber als solches Klarheit in das Verhältnis zwischen ehemals Wertlosem und nun Wertvollem bringen soll wie auch in das zwischen ehemals Wertvollem und nun Wertlosen und deren Interferenz, dann muß das Theorienest der Metapher eine ‘Recyclingtheorie’ sein. Christoph Jackes kurzer Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, wie es sinnvoll sein kann, sich wissenschaftlich mit Pop zu beschäftigen (S. 114-123). Welche Forschungsmöglichkeiten im weiten Feld der Cultural Studies denkbar sind, zeigt Andreas Hepp in seinem Beitrag über “Deterritoriale Vergemeinschaftsnetzwerke” auf (124-147). In Zeiten der Globalisierung von Medienkommunikation, schreibt er, sei es zentral, daß Jugendkulturforschung in Zusammenhang mit transkultureller Kommunikation betrachtet werde. Den Abschluß des ersten Teils bildet eine Kritik von Mark Terkessidis an der deutschen Ausprägung der Cultural Studies. Er fordert eine “Mischung aus Parteilichkeit, Selbstreflexion, Kontextualisierung und Kritik”, um die “naive Distanz” der Forscher in Deutschland zum Gegenstand ihrer Forschung so zu verringern, wie das nach seiner Beobachtung bei den Gender Studies bereits der Fall sei (S. 160). Der zweite Teil verspricht unter Titel Case Studies die beispielhafte Anwendung der im ersten Teil entworfenen Theorien und aufgestellten Forderungen, denn er enthalte, so die Annoncierung der Herausgeber in ihrem Vorwort, empirische Fallstudien mit der Betrachtung “konkrete[r] Phänomene” (S. 14). Tatsächlich beschäftigen sich nur einige der Aufsätze exemplarisch mit solchen Phänomenen. Theo Hug erläutert beispielsweise die Ergebnisse eines internationalen Kooperationsprojekts zur Frage der Wahrnehmung globaler Medienereignisse von Jugendlichen und formuliert anhand mehrerer Beispiele vorläufige Hypothesen (S. 165-187). Am Beispiel einer Internetplattform für Mädchen (Lizzynet) untersuchen Angela Tillmann und Ralf Vollbrecht die Möglichkeit zur “Wirklichkeitserprobung” Jugendlicher im Internet (S. 188-206). Eine Mischung aus Beispielen und theoretischen Überlegungen im Feld des ‘Kulturschutts’ und des Recyclings ist im Beitrag von Joachim Knape zu finden. Er sieht am Beispiel eines Videoclips der Gruppe Alcazar genügend Grund zu der Entwarnung, daß diese Form der Fernsehinszenierung keine größere Gefahren berge, Realitätsverlust zu erfahren, als andere Handlungszusammenhänge (S. 207-222). Ein solcher anderer Zusammenhang ist im Beitrag von Christoph Jacke und Guido Zurstiege thematisiert (S. 223-234). Sie gehen der Frage nach, wie kommerzielle Fernsehspots von Jugendlichen eingeschätzt werden. Sie suchen exemplarisch zu belegen, daß Jugendliche einen durchaus differenzierten Umgang mit Werbung pflegten: “Werbung ist doof, aber der neue Nike- Spot ist geil” (S. 14). Birgit Richard zeigt am Beispiel der Gothics die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten jugendlicher Subkulturen auf, die der von Wiederverwendung alter Symbole in der Mode bis zur Inszenierung der eigenen Subkultur im Netz reichen (S. 235-256). Mode ist auch das Gebiet, Reviews 189 dem sich Silke Hohmann in ihrem Aufsatz zuwendet, um die Umnutzung von Symbolen am Beispiel von Tarnmustern zu beschreiben (S. 257-270). Auch bei digitalisierter Popmusik ist nach den Beobachtungen von Mercedes Bunz Recycling offenbar ein hervorstechendes Merkmal geworden, was die ‘Instabilität’ von Musik offenlege und die Frage nach Urheberrechten neu aufwerfe (S. 271-281). Die letzten vier Beiträge zu diesem Sammelband beschäftigen sich wiederum theoretisch mit dem Thema Schutt und Müll im metaphorischen Sinn, auch wenn sie konkrete Gegebenheiten der Gesellschaft als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen ansetzen. Jörg van der Horst fordert in einer scharfzüngigen Polemik (S. 282-306) ein “Theater der Wirklichkeiten” und findet, daß der “einzig legitime Grund für die Existenz des Theaters […] heute darin bestehen [müsse], sich selbst neu zu erfinden” (S. 301). In seinem “Plädoyer für eine neue Perspektive auf Gedächtnis, Erinnerung und Medien” (S. 310) erkennt Martin Zierold eine unzureichend explizierte Terminologie in diesem Bereich und wünscht sich ein ‘Recycling’ der bisherige Debatte darüber (S. 307-319). Das Thema der Wiederverwertung greift auch Katrin Keller auf und wirft einen Blick auf das Phänomen Retro (S. 320-332). Den Abschluß des zweiten Teils bildet der Aufsatz von Jochen Bonz, der im Sampling eine postmoderne Kulturtechnik Verwandlung und Umwandlung sieht (S. 333-353). Insgesamt bietet der Band eine originelle Sammlung von Perspektiven auf den dispersen Themenbereich Kultur, Kulturschutt, Müll und Recycling. Wer Anregungen für Forschungsvorhaben oder vielversprechende Theorieansätze im Feld der Cultural Studies sucht, wird hier fündig werden. Dafür hätte der Teil mit den Case Studies vielleicht empirisch noch ein wenig tiefer schürfen dürfen. Aber es ist gewiß eine Stärke des Bandes, daß er eine große Bandbreite möglicher Zugänge zu einen höchst heterogenen Forschungsfeld repräsentiert. Andererseits führt die eingangs von den Herausgebern beschworene Transdisziplinarität auch zu einem oft eher losen Zusammenhang zwischen den Themen, obwohl sich einige Autoren (besonders im ersten Teil) sichtlich bemüht haben, aufeinander Bezug zu nehmen. Aber ist das wohl der Tribut, der dem gewünschten “disziplinlosen Wühlen” gezollt werden muß, zu dem die Editoren ihre Autoren ja ausdrücklich ermuntert haben. Literatur Hebdige, Dick 1979: Subculture - The Meaning of Style, London: Methuen Hebdige, Dick 1988 [ 2 2002]: Hiding in the Light. On Images and Things, London/ New York: Routledge Hepp, Andreas 1999: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, Opladen: Westdeutscher Verlag Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1983 a: “Jugendpresse und Sprachwandel”, in: International Journal of the Sociology of Language (= Special Issue on Language and the Mass Media, ed. Gerhard Leitner) 40 (1983): 93-105 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1983 b: “Alternative Dialoge? Ästhetik und Illusion der Verständigung in jugendlichen Subkulturen”, in: Wolfgang Kühlwein (ed.), Texte in Sprachwissenschaft, Sprachunterricht, Sprachtherapie (= forum Angewandte Linguistik 4), Tübingen: Gunter Narr, 24-37 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2006 : “Media of the subculture. From the history of German alternative press since ‘68”, in: Ernest W.B. Hess-Lüttich (ed.), Media systems - their evolution and innovation (= Special Issue of K ODIKAS / C ODE . An International Journal of Semiotics 29.4), Tübingen: Gunter Narr, 351-378 Hoggart, Richard 1957: The Uses of Literacy. Aspects of Working-class Life, with Special References to Publications and Entertainments, London: Chatto & Windus Thompson, Edward Palmer 1963: The Making of the English Working Class, New York: Vintage Books Williams, Raymond 1959: Culture and Society. Coleridge to Orwell, London: Chatto & Windus Williams, Raymond 1961: The Long Revolution, London: Chatto & Windus Willis, Paul E. 1978 a: Profane Culture, London: Henley Willis, Paul E. 1978 b: Learning to Labour. How Working Class Kids Get Working Class Jobs, London: Farnborough Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Reviews 190 Eva Kimminich, Michael Rappe, Heinz Geuen, Stefan Pfänder (eds.): expressyourself! Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground, Bielefeld: transcript 2007, 250 S., ISBN 978-3-89942-673-1 Der Sammelband mit dem Aufmerksamkeit heischenden Titel expressyourself! will, wie der Untertitel verheißt, “Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground” untersuchen. Die Autoren stellen in ihrer Einleitung sofort klar, daß der “Begriff der Kreativität […] sich zunächst durch eine Verknüpfung mit zahlreichen Assoziationsfeldern und Erwartungen” auszeichne (S. 7); so finde man Kreativität nicht nur in künstlerischen Bereichen, sie lasse sich auch “über das lebenspendende Erzeugen, das gewinnbringende Erfinden bis zum problemlösenden Handeln” erfahren (ibid.). Zudem erweise sich Kreativität nicht nur “in Zeiten der Not als Motor der Überlebenskunst” (ibid.). Der Begriff der ‘Schöpferkraft’ gehe dem der ‘Kreativität’ voraus, und er sei der eigentliche Grund dafür, daß man sich heute nicht mehr nur philosophisch-ästhetisch damit befasse, denn der “Nutzen zur techn(olog)ischen Weltgestaltung und ökonomischen Gewinnpotenzierung” habe zur “Entmythologisierung und Demokratisierung” des Begriffs der ‘Schöpferkraft’ geführt (S. 8). Schöpferische Tätigkeit sei damit zur anthropologischen Selbstverständlichkeit und zum Untersuchungsgegenstand für die verschiedensten Wissenschaftsrichtungen geworden. Entsprechend trans- und interdisziplinär ist der Band angelegt. Die Autoren der zwölf Beiträge des Bandes stehen für die Vielfalt der Disziplinen - von der Kulturwissenschaft über (Musik)Pädagogik, Internationale Beziehungen, Medienkommunikation, Philosophie, Psychologie bis zur Romanistik -, die sich mit dem verschlungenen Verhältnis von Kultur und Kreativität, von Körpern und Künsten beschäftigen: “Kreativität, Kultur, Kunst und Körper stehen über ihre problematischen Konzeptualisierungen in einer ebenso spannungsvollen wie unauflösbaren Wechselbeziehung” (S. 7). Diese Wechselbeziehung aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Ansätzen auszuleuchten ist das erklärte Ziel der Herausgeber des Bandes. Die einzelnen Beiträge seien “aus der gemeinsamen Diskussion über die Entstehung und Wirkungsweisen pop-, sub- und jugendspezifischer Praktiken und Techniken zur Selbst(er)findung, Selbstdarstellung und Körpergestaltung, aber auch zur Bildung von Gemeinschaft und Common Sense sowie zur Wissenserzeugung bzw. -vermittlung entstanden […]” (S. 13). Zum Einstieg in diese Diskussion stellt der Klagenfurter Medien- und Kulturtheoretiker Rainer Winter in seiner kritischen Bestandsaufnahme des state of the art der Cultural Studies mit ihren genuin transdisziplinären Forschungsinteressen mit Genugtuung fest, daß in diesem Segment der Sozial- und Kulturwissenschaften die Zeit für eine explizite Methodendiskussion reif sei. Freilich gebe es da nicht die allein seligmachende Methodologie, weil für Untersuchungen im Zeichen der Cultural Studies der jeweilige Kontext des Gegenstandes im Zentrum stehe, d.h. sie folgten nicht einer globalen Theorie, einem geschlossenen Paradigma, vielmehr hingen die verwendeten Methoden von den jeweiligen Fragestellungen ab. So müßten in die Analyse eines einzelnen kulturellen Objekts eben immer auch dessen komplexe Beziehungen zu anderen kulturellen Objekten und gesellschaftlichen Kräften systematisch einbezogen werden. Die Erforschung ‘kreativer’ Prozesse sei daher per definitionem kontextsensibel. Christoph Jacke widmet sich solchen kreativen Prozessen in der Jugend- und Subkultur. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich der Begriff der ‘Subkultur’ aufgefaßt werden kann. Der Verf. skizziert mit prägnantem Strich, wie er mit dem der Jugendkultur verbunden ist und welche Rolle Kreativität bei der Erhaltung des ‘Sub-Status’ in Abgrenzung zum ‘Mainstream’ spielt. Er stellt verwundert fest, wie “uneins wissenschaftliche Beobachtungen zu diesen Gebieten sind”, und erhebt “die Forderung nach präziseren Grundlagenforschungen” in der Medienkulturwissenschaft (S. 45). Im Alter fortgeschrittenere Leser könnte dabei zuweilen das Gefühl des déjà lu beschleichen (cf. Hess-Lüttich 1983, id. 2003). Anschließend erläutert die Freiburger Romanistin Eva Kimminich, wie die HipHop-Kultur (insbesondere die Rap-Musik) und das Tattoo- Stechen als Selbst(er)findungs- und Selbstgestaltungstechniken funktionieren. Unter Rekurs auf Reviews 191 berühmte Stil-Definitionen von Ludwig Wittgenstein (1984) und Georg Simmel (1993) belegt sie mit illustrativen Beispielen die wichtige Rolle der Kreativität des Einzelnen. Mark Butler dagegen bezieht sich in seinem Beitrag über “Das Spiel mit sich” im Hinblick auf “populäre Techniken des selbst” vor allem auf Michel Foucault, der “die Art und Weise, wie ein menschliches Wesen sich zu einem Subjekt macht” (S. 75), gültig untersucht habe. Butler illustriert das veränderte Verhältnis zu sich selbst in der “fortgeschrittenen, kapitalisierten Moderne” am Beispiel von Musikstars wie Madonna oder Eminem, die sich durch erfolgreiche “Updates ihrer medialen Inszenierungen” regelmäßig “neu erfinden” (S. 80) - Selbstinszenierung also als eine andere (und offenbar sehr lukrative) Form von Kreativität in der Mediengesellschaft. Um die Vermittlung kulturellen Wissens und die Entwicklung kindlicher Kreativität geht es demgegenüber beim Beitrag von Christine Stöger, die sich fragt, welche Bedingungen “für den Umgang mit Kreativität in der Schule” gelten und “welche Strategien des Lernens und der Entwicklung kreativen Potenzials” sich außerhalb des “formalen Bildungsbereichs” finden ließen (S. 104). Darum geht es auch im darauf folgenden Beitrag von Ayhan Kaya: wie die HipHop- Bewegung jugendlichen MigantInnen außerhalb der Schule eine Plattform biete, “auf der die Unterlegenen zu Wort kommen”. Kaya gibt der schönen Hoffnung Ausdruck, daß eine zu entwickelnde ‘Rap-Pädagogik’ die Chance bieten könnte, in den Schulen den Schülern “eine Stimme zu geben, damit sie ihre Kritik an der dominanten Kultur formulieren und ihre eigene Subkultur, ihren eigenen Stil, ihren Diskurs, kulturelle Formen und Identitäten bilden können” (S. 133). Das wird sie dann im Glücksfalle sicher auch hinlänglich für einen Beruf oder ein Studium qualifizieren. HipHop- und Rap-Kultur scheinen überhaupt ein besonders wichtiges Element in “Europas kultureller Kreativität zwischen Markt und Underground” zu sein, denn ihnen gilt die besondere Aufmerksamkeit etlicher Autoren in diesem Band. Auch Michael Rappe, Professor für Geschichte und Theorie der Populären Musik an der Hochschule für Musik in der Domstadt Köln, bewegt sich routiniert im HipHop-Bereich, besonders in der Domäne des Breakbeats und der afroamerikanischen oral culture, in deren Tradition der Rhythmus steht. Er zeigt am Beispiel eines Videoclips der afroamerikanischen Rapsängerin Missy Elliot, wie Breakbeat zusammen mit Sound (Rap) und Visualisierungen (Graffiti, Mode, Tanzfiguren, Videoclips) “eine extreme Erweiterung des komplexen Zeichen-, Bewegungs- und Bedeutungsgefüges dieser oral culture” erzeugt und “auf der symbolischen Ebene ästhetische Erfahrungen intensiviert” (S. 145). Von Videoclips handelt auch Heinz Geuens Beitrag, der am Beispiel des Videos Afrika Shox von Chris Cunningham illustriert, “wie der Videoclip als spezifisch audiovisuelles Medium funktioniert” und wie sich darin “kulturelle Wissens- und Erfahrungsressourcen manifestieren” (S. 158). Wiederum um HipHop geht es in Bartolomae Rezutas Beitrag, allerdings nicht um afroamerikanischen, sondern um polnischen. Der sei nicht nur “ludisches Spektakel”, sondern auch “in den politischen und ökonomischen Diskurs verwickelt”, der von den “Aposteln” der Rapper geführt werde und die problematische Balance zwischen sozialistischer Vergangenheit und marktwirtschaftlicher Gegenwart behandle (S. 190). Stefan Meier interessiert sich als Medienwissenschaftler für “Graffiti als ‘typografisches’ Ausdrucksmittel sozialen Stils” (S. 193) und seine kommunikative Praxis. Dabei versteht er Graffiti “als ein Kommunikat, das sich aus unterschiedlichen Zeichenmodalitäten und Kodesystemen zusammensetzt” (S. 197). Das Graffito sei einerseits eigenständig, verweise aber auch (im Sinne Umberto Ecos) auf “eine kulturelle Einheit, die eine auf sozialen Konventionen beruhende Bedeutung beschreibt” (S. 198; cf. Eco 1991). Graffiti haben einen doppelten Adressatenkreis: sie wollen zugleich nach innen in die Subkultur der eigenen Peergroup kommunizieren als auch nach außen in die Öffentlichkeit der Mainstream-Gesellschaft. Den Sprayern geht es um Eigenwerbung und Imagepflege, dabei spielt auch eine wichtige Rolle, ob ein Graffito legal oder illegal gesprüht wurde. Als Ergebnis seiner Untersuchung zieht Meier den Schluß, daß “Graffiti zwar mittlerweile als jugendkulturelle Praxis in die Jahre gekommen” sei, “jedoch als Reviews 192 kreative Ausdrucksform weiterhin über gesellschaftskritisches und subversives Potenzial” verfüge (S. 207). Die Philosophin Heidi Salaverria bemüht keinen geringeren als Hegel und sein Verständnis von Anerkennung als Kampf, als “asymmetrisches Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis” (S. 209), um den Tanz - wie in den Tanzformen Krumping und Breakin - als das ästhetisch inszenierte Ringen um Respekt zu verstehen. Freilich könne man die anderen nicht zur Anerkennung zwingen, sondern nur dafür gewinnen, aber im Rekurs auf Kants ästhetischen Gemeinsinn, den Sensus Communis, gewinnt sie Überzeugung, daß “wir […] in unseren subjektiven ästhetischen Erfahrungen von Anderen […] anerkannt werden” (S. 224). Das sehen die Breakdancer sicher auch so. Der Soziologe Ronald Hitzler schließlich nimmt die posttraditionale Techno-Szene unter ökonomischen Aspekten unter die Lupe und fragt, wie ‘kreativ’ die Veranstalter und Organisatoren von Techno-Veranstaltungen heute sein müssen, damit der mittlerweile nicht mehr ganz so taufrische Hype in diesem Segment der Popkultur nicht vollends abflaut. Hitzlers Recherchen zeigen, daß dies vor allen Dingen durch Erweiterung des Event-Angebots und originelle Locations geschehe. Die Veranstalter böten an, was ihnen als Techno-Experten und Kennern der Szene selber auch gefallen würde und sind damit offenbar auch ökonomisch auf der sicheren Seite. In dem “spielerischen Unternehmertum”, das im Gegensatz zum zweckrationalen Handeln mit “Abwägen von Zweck, Mitteln, Kosten, Folgen und Nebenfolgen” stehe (S. 245), sieht Hitzler jedenfalls noch ein großes Potential. Dieses Schlußkapitel setzt mit seiner wirtschaftlich ausgerichteten Fragestellung und dem gelungenen Ausblick noch einmal einen etwas anderen Akzent und ist nicht wie die meisten anderen Beiträge auf den Bereich der HipHop- Kultur beschränkt. Deren Übergewicht erweckt streckenweise den Eindruck, daß die Community von HipHop, Rap und Breakdance etwas affirmativ ausschließlich mit Kreativität und deren Ausdrucksformen in Verbindung gebracht wird, nicht aber mit weniger erfreulichen Elementen wie dem in Teilen dieser Subkultur stilprägenden Machismo oder der primitiven Homophobie wie in den Songs unter anderen von Eminem, Massiv oder Bushido (dessen profunde Erkenntnisse, von einem Schreibhelfer zu Papier gebracht, die Bestsellerlisten anführen). Das reaktionäre Männerbild, wie es etwa im Gangsta-Rap kultiviert wird, will dem Rezensenten nicht gerade als Ausbund fortschrittlicher Kreativität erscheinen. Wenn der Rapper G-Hot in seinem populären Song “Keine Toleranz” (2007) zu Gewalt gegen “Schwuchteln” aufruft und sich dagegen verwahrt, von “Tucken” (wie dem Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit) regiert zu werden, wäre das gelegentlich auch mal einen kritischeren Blick auf die kommerziell in Deutschland erfolgreichste Szene wert, der es immerhin gelungen ist, das Wort schwul wieder als Schimpfwort durchzusetzen, mit dem einer aktuellen Untersuchung von Johannes Möhring (2008) zufolge 72 % der befragten Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren die Bedeutung “blöde, scheiße, uncool” verbinden, die das Wikipedia-Wörterbuch unter http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schwul [29.01.2009] mittlerweile als Zweitbedeutung verzeichnet. Literatur Eco, Umberto 2 1991: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München: Wilhelm Fink Hess-Lüttich, Ernest W.B. 1983: “Alternative Dialoge? Ästhetik und Illusion der Verständigung in jugendlichen Subkulturen”, in: Wolfgang Kühlwein (ed.), Texte in Sprachwissenschaft, Sprachunterricht, Sprachtherapie (= forum Angewandte Linguistik 4), Tübingen: Gunter Narr, 24-37 Hess-Lüttich, Ernest W.B. 2003: “Sprachwandel im Spiegel der Alternativpresse von Jugend-Subkulturen in Österreich und der Schweiz”, in: Eva Neuland (ed.), Jugendsprachen - Spiegel der Zeit, Frankfurt/ Bern/ New York: Peter Lang, 285-306 Möhring, Johannes: “Ey schwul, oder was? ”, in: Augsburger Allgemeine v. 9. April 2008 Simmel, Georg 1993: “Das Problem des Stiles” [1907], in: id., Gesamtausgabe, 24 vols., vol. 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 II, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 274-384 Wittgenstein, Ludwig 1984: Vermischte Bemerkungen [1949], in: id., Werkausgabe in acht Bänden, vol. 8., Franfurt/ M.: Suhrkamp Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern) Anschriften der Autoren / Addresses of Authors Ignace Djama Allaba 02 BP 801 Abidjan 02 s/ c Anatchy Siméon Côte D’Ivoire c/ o Studentenhaus Fellergut Mühledorfstrasse 28, 223 3018 Bern djignall@yahoo.fr Dr. Rodica Amel Hebrew Department Bucharest University Glinka Street 3B, ap. 14 RO-020211 Bucharest ollu@clicknet.ro Prof. Dr. Chris Bezzel Gabelsbergerstr.4 D-30163 Hannover chrisbezzel@htp-tel.de Dr. Christophe Bourquin Deutsches Seminar Universität Zürich Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich xenophanos@hotmail.com Prof. Dr. Dr. Ernest W.B. Hess-Lüttich Institut für Germanistik Universität Bern Länggass-Str. 49 CH-3012 Bern hess@germ.unibe.ch Dept. of Modern Foreign Languages University of Stellenbosch Private Bag X 1 Matieland, 7602, ZA South Africa Monika Huch, Dipl.-Geol. Wissenschafts-Journalistin Lindenring 6 D-29352 Adelheidsdorf mfgeo@t-online.de Dr. Markus Meßling Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) Centre de Recherches Interdisciplinaires sur l’Allemagne 54, boulevard Raspail F-75006 Paris messling@msh-paris.fr Lars Meyer Universität Potsdam Institut für Linguistik Pasewalker Straße 9 D-21493 Schwarzenbek lars.meyer@uni-potsdam.de Prof. Dr. Dagmar Schmauks TU Berlin Arbeitsstelle für Semiotik Sekr. FR 6-3 Franklinstr. 28/ 29 D-10587 Berlin dagmar.schmauks@tu-berlin.de Martin Siefkes Technische Universität Berlin Institut für Sprache und Kommunikation FR 6-3 Franklinstr. 28/ 29 D-10587 Berlin Martin_Siefkes@gmx.de Sarah Thelen Lehrstuhl Wissenschaftskommunikation und Semiotik Fakultät Kulturwissenschaften Universität Dortmund Emil-Figge-Str. 50 D-44221 Dortmund sarah.thelen@uni-dortmund.de Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift K ODIKAS / C ODE (ca. 10-30 S. à 2.500 Zeichen [25.000-75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2-3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarz-weiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3-5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für K ODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht (“…”). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im S PIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “normalen” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “[…] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “f.” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern […], Hinzufügungen durch Initialien des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “(Hervorh. im Original)” oder “(Hervorh. nicht im Original)” bzw. “(Hervorh. v. mir, Initial)” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “[sic]” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 195 werden in einfache Anführungszeichen gesetzt (“… ‘…’ …”). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet.” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “Fähe bedeutet ‘Füchsin’.” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “*Rettet dem Dativ! ” oder “*der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: […] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z.B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben”, in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1-2 (1999): 27-41 Duck, Donald 2000: “Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag”, in: Duck (ed.) 4 2000: 251-265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “und” oder “&” (bei mehr als drei Namen genügt ein “et al.” [für et alii ] oder “u.a.” nach 196 dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “etc.”): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u.a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘graue’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck (“Zürich: Diss. phil.”), vervielfältigte Handreichungen (“London: Mimeo”), Manuskripte (“Radevormwald: unveröff. Ms.”), Briefe (“pers. Mitteilung”) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis”, in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47-67 Duck, Daisy 2001 b: “Zum Rollenverständnis des modernen Erpels”, in: Ente und Gesellschaft 19.1-2 (2001): 27-43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “Schon wieder keinen Bock”, in: Franz Gans’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15.01.2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o.J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15.01.2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15.01.2009] Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten