eJournals

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2009
321-2
Gunter Narr Verlag Tübingen An International Journal of Semiotics KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica Volume 32 · No. Jan./ Jun. 2009 Page 1 - 248 1 / 2 KODIKAS/ CODE · Ars Semeiotica 32 : 1 - 2 (2009) 1 - 248 Themenheft / Special Issue Zeichenmaterialität, Körpersinn und (sub-)kulturelle Identität Herausgegeben von Ernest W. B. Hess-Lüttich, Eva Kimminich, Klaus Sachs-Hombach und Karin Wenz 032510 KODIKAS CODE 1-2 2009: 032510 KODIKAS CODE 1-2 2009 22.04.2010 10: 02 Uhr Seite 1 032510 KODIKAS CODE 1-2 2009: 032510 KODIKAS CODE 1-2 2009 22.04.2010 10: 02 Uhr Seite 2 KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 32 (2009) No. 1-2 Special Issue / Themenheft Zeichenmaterialität, Körpersinn und (sub-)kulturelle Identität Herausgegeben von Ernest W.B. Hess-Lüttich, Eva Kimminich, Klaus Sachs-Hombach und Karin Wenz Ernest W.B. Hess-Lüttich, Eva Kimminich, Klaus Sachs-Hombach und Karin Wenz Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 I Theoretische Überlegungen Mark A. Halawa Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C.S. Peirce . . . . . . . . . . . . . . . 11 Michael Hanke Text - Bild - Körper. Vilém Flussers medientheoretischer Weg vom Subjekt zum Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Nicolas Romanacci »Possession plus reference«. Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation Angewandt auf eine Untersuchung von Beziehungen zwischen Kognition, Kreativität, Jugendkultur und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Dagmar Schmauks Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier . . . . . . 47 Martin Siefkes Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II Kulturelle Ausdrucksformen Angela Krewani Technische Bilder: Aspekte medizinischer Bildgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Beate Ochsner Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild . . . . . . . . . . . . . 93 Ernest W.B. Hess-Lüttich Rap-Rhetorik. Eine semiolinguistische Analyse schweizerischer rap-lyrics . . . . . . . . 109 Inhalt 2 Eva Kimminich Poem und Präsenz: Primordiale (Inter)Medialität im Zeitalter der Postabstraktion . . . 123 Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk Drei Dimensionen der Slam Poetry: Performance, Ethos und Widerstand . . . . . . . . . 137 Mathias Spohr Videoloops - Zeichen ohne Aura? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Karin Wenz Machinima: Zwischen Dokumentation, Performanz und Abstraktion . . . . . . . . . . . . . 161 III Bildliche und sprachliche Performanz im Web 2.0 Julius Erdmann My body style(s) - Formen der bildlichen Identität im StudiVZ . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Stefan Meier Pimp your profile - Fotografie als Mittel visueller Imagekonstruktion im Web 2.0 . . 187 Daniel H. Rellstab “Aus Liebe zu dir”: Selbst- und Fremdrepräsentationen in Profilen auf Schweizer online-Partnerbörsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Franc Wagner Emoticons als metaphorische Basiskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Anschriften der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Publication Schedule and Subscription Information The articles of this issue are available separately on www.narr.de The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 118,- (special price for private persons 78,-) plus postage. Single copy (double issue) 62,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2010 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: NagelSatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen ISSN 0171-0834 Zeichenmaterialität, Körpersinn und (sub-)kulturelle Identität Einleitung Im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) 2008 in Stuttgart zum Thema “Das Konkrete als Zeichen” fanden sich die von den Herausgebern dieses Themenbandes geleiteten Sektionen Medienwissenschaft, Jugendkultur und Bildwissenschaft unter dem Titel “Zeichenmaterialität, Körpersinn und (sub-)kulturelle Identität” zu einer großen gemeinsamen Sektion zusammen. Aus der Fülle der darin gehaltenen Vorträge wurden einige für diesen Band ausgewählt und zu wissenschaftlichen Aufsätzen erweitert. (Die gekürzten Vortragsfassungen des gesamten Sektionsprogramms sollen nach Möglichkeit einmal in den vom Kongreßpräsidenten geplanten Tagungsakten dokumentiert werden). Der Band gliedert sich in einen theoretischen ersten Teil, einen zweiten Teil zum Thema “Kulturelle Ausdrucksformen” und einen dritten Teil zum Thema “Bildliche und sprachliche Performanz im Web 2.0”. Unter dem Titel “Zeichenmaterialität, Körpersinn und (sub-)kulturelle Identität” möchten wir die verwandten Forschungsbereiche der Bild-, Medien- und Kulturwissenschaften zur Diskussion der skizzierten körpereigenen, exemplifikatorischen bzw. expressiven Kommunikationsformen zusammenführen. Unser Interesse gilt insbesondere den Funktionen der eigenen Körper (bzw. der entsprechenden Bemalungen, Tätowierungen etc.) in Hinblick auf deren Möglichkeiten zur Herausbildung oder Verstärkung der jeweiligen (sub)kulturellen Identitäten. Gemäß der üblichen Differenzierung in Inhalt und Ausdruck besitzt jedes Zeichen einen (materiellen) Zeichenträger und ist mit Blick auf den Zeichenträger notwendig konkret. Unter der Vielzahl von unterschiedlichen Zeichenarten interessieren uns diejenigen, deren Materialität des Zeichenträgers nicht nur zur nötigen Klassifikation des jeweiligen Zeichens dient, sondern unmittelbar für den Prozeß der Bedeutungsbildung bzw. Verständigung erforderlich ist. Dies ist in eingeschränkter Weise bereits bei Bildern der Fall, die etwa nach der Einschätzung von Nelson Goodman individuelle Zeichen sind und daher nicht (wie die verschiedenen Inskriptionen z.B. des Buchstabens a) zu Klassen zusammengefaßt werden können. Zumindest bei den als ästhetisch wertvoll erachteten Bildern zählt demnach auch noch der kleinste (materielle) Unterschied. Bilder sind also in besonderer Weise auf ihre Materialität bezogen. Das gilt insbesondere für diejenigen Bilder, die sowohl auf jegliche Darstellungskonvention als auch auf einen gegenständlichen Darstellungsinhalt verzichten und die stattdessen eine Würdigung des Bildes als materiellen Gegenstand erzwingen, wie etwa in der abstrakten Malerei, die deshalb gern ausgerechnet unter dem Signum der Konkreten Kunst firmiert. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich, Eva Kimminich, Klaus Sachs-Hombach und Karin Wenz 4 Ein weiterer Bereich, für den in besonderer Weise die Materialität und die materiell bedingten Unterschiede der Zeichen wichtig sind, ist der Bereich der körpereigenen Kommunikationsformen. Vor allem Mimik und Bewegungsstile können als Typen des Zeichenhandelns betrachtet werden, die oft nicht code-gestützt verwendet werden oder zumindest in einigen Aspekten durch die exemplifikatorische Darstellung eines konkreten (Gesichtsbzw. Körper-)Ausdrucks anhand durchaus vorhandener Codes (wie dem sog. ‘Kindchenschema’) nicht hinreichend verstanden werden können. Im Fall der Mimik spielt vielmehr die Empathie zur Rekonstruktion des Verhältnisses von (materiellem) Ausdruck und (psychisch-emotionalem) Inhalt die entscheidende Rolle. Das Konkrete als eigentlicher Inhalt des Zeichens appelliert so generell an ein ‘unmittelbares’ Verständnis jenseits spezifischer Codierungen. Teil I dieses Bandes mit dem Thema “Theoretische Überlegungen” beginnt mit dem Beitrag von M ARK H ALAWA zur “Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose. Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C.S. Peirce”. Halawa geht davon aus, daß in der Ästhetik des 21. Jahrhunderts ein Unbehagen an der Semiotik entstanden sei. Dieses Unbehagen sieht er in den folgenden drei Kritikpunkten begründet: (1) Das Phänomen der spezifischästhetischen Erfahrung könne durch semiotische Theorien und Modelle nicht erfaßt werden. Daraus resultiert der Vorwurf der “Anschauungsvergessenheit”. (2) Der Ursprung semiotischer Ansätze liege in der Analyse der Sprache und sei damit im logozentrisch-rationalistischen Diskurs verankert. (3) Die Semiotik leide an einer “Körpervergessenheit”. Die Semiotik versuche künstlerische Artefakte hinsichtlich ihrer Struktur zu kategorisieren und scheine dabei Aspekte ästhetischer Erfahrung zu ignorieren. Dieser Kritik stehen nun die Arbeiten von Charles Sanders Peirce gegenüber. Seine semiotische Ästhetik zeigt, daß das Phänomen der spezifisch-ästhetischen Erfahrung mit semiotischen Kategorien durchaus erfaßbar ist. “Das Moment der dem Erkenntnisprozess notwendig zuvorkommenden Aisthesis wird in der Peirceschen Semiotik daher immer schon vorausgesetzt.” Halawa macht entsprechend deutlich, daß nach Peirce Semiosis nicht ohne Aisthesis gedacht werden kann, also auch nicht ohne Materialität und Anschauung. Der dann folgende Beitrag von M ICHAEL H ANKE illustriert unter dem Titel “Text - Bild - Körper. Vilém Flussers medientheoretischer Weg vom Subjekt zum Projekt” anhand anschaulicher Beispiele die Aktualität von Flussers Kommunikationstheorie, die nicht nur die zwischenmenschliche (dialogische) Verständigung analysiere, sondern gerade auch ihre verschiedenen medialen Formen. In der neuen Medienkultur sei der Mensch nicht Subjekt, sondern werde vielmehr zum ‘Projekt’. Wir seien nicht nur mit dem Entwerfen neuer Bildwelten konfrontiert, sondern auch dem von Objekten und Körpern. Der Körper markiere eine letzte Grenze des gestalterischen Eingriffs und der Selbstbestimmung. Der Körper werde zum Projekt, wenn der Mensch (wie etwa in der Gentechnologie) gestalterisch eingreife. Hanke zeigt, daß “das Entwerfen von Körpern, dessen Bedeutung Flusser schon früh aufgrund theoretischer Reflexion als Konsequenz der medialen Evolution prognostizierte, erst dabei [ist], die Aktualität zu erlangen, die Flusser schon früh erkannte”. Das kreative Potential der Gestaltung, das Hanke am Beispiel der Gentechnologie kritisch diskutiert, wird von N ICOLAS R OMANACCI im Zusammenhang mit der Jugendkultur positiv hervorgehoben. In seinem Beitrag “Possession plus reference. Nelson Goodman’s conception of exemplification. Applied to an investigation into some connections between cognition, creativity, youth-culture and education” diskutiert er Goodmans Konzept der Welterzeugung; und als Motor dieser Welterzeugung sieht er die Jugendkultur. Romanacci beobachtet ästhetisches Handeln von Jugendlichen, wobei er allerdings bemerkt, daß es sich in der “Komplexität der Bezugnahmeformen und dem möglichen Auftreten weiterer Symptome des Einleitung 5 Ästhetischen” von künstlerischen Formen unterscheide. Dies bedeute nicht, daß ästhetisches Handeln von Jugendlichen mit Kunst gleichzusetzen sei, aber die kognitiven und kreativen Aspekte sollten verglichen werden, um dies auch in Bildungsfragen zu berücksichtigen. Die Kreativität von Jugendlichen beim Zeichengebrauch, sei es in der Gestaltung von Kleidungsstilen, im Sprachgebrauch oder in der Gestik, generiere neue Verankerungen. Wenn die Kreativität, mit der Jugendliche ihre Welten aktiv erschüfen, auch als Faktor in unserem Bildungssystem anerkannt würde, könne dies zu wirklichen Reformen führen. Nicht eine Reform, aber ein tieferes Verständnis der Interaktion von Mensch und Tier ist das Anliegen von D AGMAR S CHMAUKS . In ihrem Beitrag “Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktion zwischen Mensch und Tier” untersucht sie die semiotischen Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung und versteht ihre Analyse als einen ergänzenden Beitrag zu psychologischen Untersuchungen. Eine wesentliche Rolle spielten nach ihrer Auffassung die unterschiedlichen olfaktorischen Fähigkeiten, die vokale Interaktion und die nonverbale Interaktion. Ihr Interesse gilt der innerartlichen und der zwischenartlichen Kommunikation. Bei der Domestizierung von Tieren bediene sich der Mensch der innerartlichen Kommunikationsmittel der Tiere selbst, um sie auf den Menschen zu prägen. Der Mensch übersehe dabei zumeist, daß Tiere weit mehr Zeichen wahrnehmen, als der Mensch intentional sendet, zum Beispiel gestische oder olfaktorische Zeichen, deren wir uns nicht bewußt sind oder die wir selber nicht wahrnehmen können. Als Grundbedingung der Kommunikation müssen sich die verwendeten Zeichensysteme der Kommunikationspartner überschneiden. Dabei spielt die Sinnesmodalität eine zentrale Rolle, denn die Lebenswelt von Tieren mit ihren z.T. ganz anderen Sinnesmodalitäten ist uns nur durch Analogieschlüsse zugänglich. Wie Dagmar Schmauks widmet sich auch M ARTIN S IEFKES ’ Beitrag über “Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen” dem Konkreten der Zeichenmaterialität, allerdings am Beispiel eines ganz anderen Untersuchungsgegenstandes. Der Verfasser zeigt, inwiefern Zeichenträger und Zeichenmaterie bei stilistischen Zeichen auf komplexe Art miteinander verbunden sind und plädiert für die stärkere Berücksichtigung der Materialität des Zeichens in der Stiltheorie. Im Unterschied zu Schmauks geht es hier nicht um Materialität im Sinne von Körpergebundenheit, sondern um die Materialität eines Zeichenträgers im weiten Sinne. Wir sprechen von Stil, “wenn Auswahl zum Zeichen wird”. Die Auswahl erfolge unter Anwendung von Regeln. Dabei sei zwischen den Anwendungsvoraussetzungen, den verlangten Eigenschaften und der Anwendungswahrscheinlichkeit zu unterscheiden. In einem ersten Zeichenprozeß würden Regeln codiert bzw. decodiert und die Menge der Auswahlregeln aus der Zeichenmaterie extrahiert. In einem zweiten Zeichenprozeß gehe es darum, auf diesen Regeln basierend zusätzliche Bedeutungen, Gefühle und weitere Wirkungen zu erzeugen. Die Auswahlregeln würden somit zum Zeichenträger. Die Zusammenhänge zwischen den Auswahlregeln werden zum Ausgangspunkt für den zweiten Zeichenprozeß. Siefkes’ Anliegen ist es, Stil als ein explizit semiotisches Phänomen zu analysieren, das wesentlich auf Zeichenverwendung beruht. Der zweite Teil des Bandes ist “Kulturellen Ausdrucksformensformen” gewidmet. Er beginnt mit dem Beitrag von A NGELA K REWANI über “Technische Bilder: Aspekte medizinischer Bildgestaltung”. Naturwissenschaftliche und speziell medizinische Bilder werden hier nicht nur als kulturelle Produkte begriffen. Vielmehr geht es der Autorin darum, die technischen und kulturellen Vorbedingungen der medizinischen Bildgestaltung in ihren theoretischen Überlegungen zu berücksichtigen. Die technischen Verfahren der Bildgestaltung beeinflußten nämlich eine Dynamik, die dazu führe, daß Bilder aus Medizin (und auch aus den Naturwissenschaften) in Filmen und Fernsehserien verwendet würden, die der Unterhal- Ernest W.B. Hess-Lüttich, Eva Kimminich, Klaus Sachs-Hombach und Karin Wenz 6 tung dienten. Dies bezeichnet Krewani als ‘Spektakel’. Ihre Beispiele sind Röntgenbilder, aber auch Endoskopie und Bilder der Nano-Medizin, die in Spielfilmen und Serien eingesetzt werden. Aber nicht allein der Einsatz von medizinischen Bildern zu Unterhaltungszwecken kann beobachtet werden, sondern auch die gegenteilige Dynamik: ein Einsatz von Bildern in der Nanotechnologie, die einem Science Fiction Film zu entspringen scheinen. Krewani weist darauf hin, daß die Durchlässigkeit der Bilder mit dem Status der Nanotechnologie in der Wissenschaft zu tun habe und die fehlende Kanonisierung der Repräsentationsformen widerspiegle. Auch B EATE O CHSNER s Beitrag handelt von Bildern. Unter dem Titel “Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild” zeigt sie Beispiele der Inszenierung von Körpern, die nicht einer Norm entsprechen und als ‘die Anderen’ wahrgenommen werden. Historisch liegt ihr Schwerpunkt auf der Photographie aus dem 19. Jahrhundert, die sie mit Beispielen zeitgenössischer Photographie vergleicht. Während seinerzeit Bilder monströser Körper mit Hinweis auf ihre medizinische Bedeutsamkeit aufgenommen und publiziert wurden, werden Repräsentation des ‘anderen’ Körpers in zeitgenössischen Modephotographien und Kunstphotographie provokant eingesetzt. Die Inszenierung des ‘anderen’ Körpers wirft die Frage nach dem Normalitätsdispositiv auf. Dies war die Aufgabe der Photographie als wissenschaftlichem Instrument bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn sie bietet “den stillgestellten Körper dem medizinischen und dem öffentlichem Blick an, der sich mit Hilfe der Bilder der/ des Anderen ihrer eigenen (körperlichen und moralischen) Normalität versichert”. E RNEST W.B. H ESS -L ÜTTICH richtet im Bestreben, einen Baustein zur “Rhetorik des Rap” beizusteuern, seinen Blick auf die HipHop-Szenen im deutschsprachigen Teil der Schweiz und unterzieht die Sprache in ihren ‘Liedern’ (rap lyrics) einer überwiegend linguistisch instrumentierten kritischen Analyse. Auf dem Boden kulturwissenschaftlicher Theoriebildung skizziert er die gruppensoziologischen Bedingungen und die szenespezifischen Ausprägungen einer umstrittenen Poesie als Ausdruck juvenilen Identitätsanspruchs und Gruppenbewußtseins. Dabei konzentriert er sich auf die Essenzen des Rap-Diskurses, die Themen der Songs, die darin vorherrschenden Sprechakttypen, die semiokulturellen Referenzen und die sich in spezifischen Sprachmustern niederschlagende Rap-Rhetorik. E VA K IMMINICH s Beitrag zu “Poem und Präsenz: Primordiale (Inter)Medialität im Zeitalter der Postabstraktion” diskutiert den Gegenstandsbereich Rap und Slam. Beide basieren einerseits auf mündlichen narrativen Kulturen und andererseits auf Performance. Kimminich beschreibt Rap und Slam als “Medien eines verkörperten Selbstausdrucks” von Jugendlichen mit den Kategorien Katharsis, Ethos und Kairos. Der Körper sei zentral in diesen Performances und fungiere als ‘Intermedium’, als Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Darstellung. Ebenso wie der Beitrag von Romanacci betont auch Kimminich Kreativität und Aisthesis als wesentliche Elemente der Performances der Jugendkultur: “personale wie kulturelle Identität [entfalten sich] nicht durch eine entkoppelte Anverwandlung auslösende Rezeption, sondern durch (re)kreative Partizipation, physische Präsenz und gemeinsames Erleben”. Durch dieses gemeinsame Erleben im Slam und Rap werde ein eigener Referenzbereich geschaffen, der als mögliche Welt fungiere. Innerhalb dieser möglichen Welt würden Identitäten geschaffen, die possible selves, und dadurch die Veränderbarkeit von Identität hervorgehoben. Identitäten, Selbstbilder, aber auch Weltbilder, würden so kritisch hinterfragt und überprüft. Ebenfalls dem Thema Slam ist der Beitrag von V ERA N IKOLAI , A DRIANA O RJUELA und N IKOLA S CHRENK gewidmet: “Drei Dimensionen der Slam Poetry: Performance, Ethos und Einleitung 7 Widerstand”. Er verweist auf die Nähe der Slam-Poetry zum Dichterwettstreit. Es handelt sich um eine inszenierte Performance von Bühnenpoesie. Slam-Poetry steht der Theaterimprovisation nahe und zeichnet sich inhaltlich aus durch intertextuelle Bezüge zu literarischen Vorbildern wie auch zur Performance des Vorredners. Ein wesentliches Element der Slam-Poetry sei die ‘Verkörperung’ des eigenen Textes in der Improvisation. Die Interaktion mit dem Publikum und den anderen Slammers wird von den Autorinnen als konstitutives Element des Slam hervorgehoben. Sie unterscheiden drei Performance- und Interaktionsstile, die sie als “Ich und der Text”, “Ich, der Text und das Publikum” und als “Ich und Publikum” beschreiben. Das “Ich” des Slammers ist in allen drei Stilen ein zentrales Element und verweist auf seine Selbstdarstellung und Selbstpositionierung. Diese wird mit dem Begriff des Ethos beschrieben, der die bewußte Positionierung des Slammers und die Wahl seiner spezifischen Kommunikationskomponenten (Textsorte, Körpersprache, Kleidung) umgreift. Dabei ist thematisch die Referenz auf sozialkritische und politische Themen ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung. Im Gegensatz zu den politischen Statements der Slammer sind die Videoloops, die M ATHIAS S POHR in seinem Text “Videoloops - Zeichen ohne Aura? ” beschreibt, ein “Zeigen ohne Sagen”. Ihre Sprach- und Wortlosigkeit scheint ein typisches Merkmal der Videoloops zu sein. Hierbei soll die Möglichkeit, nicht verstehen und interpretieren zu müssen, im Zusammenhang mit der Technomusik, die diese Loops begleiten, zu Entspannung und Trance führen. Die Videoloops, meint Spohr, dienten in ihrer ständigen Reproduktion als ein Beispiel für den Verlust der ‘Aura’. Er vergleicht diesen Auraverlust in den Loops mit demjenigen des Kinos. Die Wiederholung führe zu einem Nachlassen der Aufmerksamkeit und hebe die technische Bedingtheit des Loops hervor. Wie das Kino, das Benjamin in den 1930er Jahren beschreibt, sind Techno-Events (wie Love Parade und andere) Massenveranstaltungen. Sie stellen eine Gegenwelt zum Alltag dar, die zwar hochtechnisiert ist, aber zugleich von Zwängen befreit. Eine andere Form des Videos behandelt der Beitrag von K ARIN W ENZ mit dem Titel “Machinima: Zwischen Dokumentation, Performanz und Abstraktion”. Machinima oder Game-Videos nutzen Spielsequenzen eines Computerspiels als ‘real-time Video’, auf dessen Basis dann durch Nachbearbeitung in einer Gemeinschaft von Mitspielern und für sie neue Videos produziert werden. Die unterschiedlichen Funktionen dieser Videos werden dabei auf einer Skala von konkret zu abstrakt unter den folgenden Aspekten erörtert: (1) Datenbank/ Archiv, (2) Prinzipien der Modularität, (3) numerische Repräsentation und (4) Transcodierung als abstrakte Repräsentation. Über die Nutzung des Mediums zur Archivierung und Dokumentation hinaus kann es aufgrund seiner Modularität verschiedene Quellen zu neuen Ausdrucksformen zusammenführen oder Modifikationen auf unterschiedlichen Ebenen vornehmen (Textrepräsentation, Programmcode, Interface). Zum Schluß werden Antworten auf Fragen gesucht wie “Wer produziert Machinima? ” und “was ist die Funktion der Communities, in denen Machinima produziert werden? ”. Der dritte Teil des Bandes wendet sich der bildlichen und sprachlichen Performanz im ‘Web 2.0’ zu. Zunächst behandelt J ULIUS E RDMANN das Thema “My body style(s) - Formen der bildlichen Identität im StudiVZ”. Auf der Grundlage der Peirceschen Semiotik und der Betrachtungen zur Photographie von Roland Barthes untersucht Erdmann die Selbstdarstellung von Nutzern des StudiVZ anhand ihrer Photoalben und vor allem ihrer Portraits. Gegenstand der Untersuchung ist die Konstruktion einer Identität durch die Auswahl der Photos und die in den Profilen gebotenen Informationen. Der Körper wird von den Nutzern bewußt als Zeichen und Gestaltungsoberfläche eingesetzt. Durch Tattoos, Piercing, Schminke Ernest W.B. Hess-Lüttich, Eva Kimminich, Klaus Sachs-Hombach und Karin Wenz 8 und die Auswahl der Kleidung und Frisuren schaffen sich die Nutzer ihr Selbstbild. Die digitale Nachbearbeitung modifiziert das ursprüngliche Bild, wobei viele Nutzer Original und Modifikation in ihrem Photoalbum online nebeneinander stehen lassen. Durch das Sampling und das Spiel mit verschiedenen Perspektiven und Teilkörperausschnitten spielen sie mit verschiedenen Identitätskonstruktionen. Die Photos dienen den Jugendlichen als Symbole für die spezifischen Subkulturen, denen sie sich jeweils zurechnen. Identitätskonstruktion durch Photografie ist auch das Thema von S TEFAN M EIER : “Pimp your profile - Fotografie als Mittel visueller Imagekonstruktion im Web 2.0”. Sein Ziel ist es, durch einen Vergleich der unterschiedlichen social networks - wie StudiVZ, Facebook oder Myspace einerseits und Flickr andererseits - unterschiedliche Stilkonventionen herauszuarbeiten. Das Problem, valide Aussagen über die verschiedenen Stile zu machen, liegt in der Hybridität der social networks begründet. Nutzer verlinken Photos und Videos von einem Netzwerk zum anderen, was eine Aussage über spezifische Stile erschwert. Ein Schwerpunkt des Beitrags ist die Untersuchung der Photographien auf Flickr, einem Netzwerk, das dazu dient, Photos und Photoalben ins Netz zu stellen. Nutzer geben eine Bewertung der Photos ab, die unter unterschiedlichen Kategorien sortiert werden können. Es wird deutlich, daß Photos, die visuelle Artefakte in einem bestimmten Stil als fachliche Genrephotographie zeigen, bevorzugt positiv bewertet werden. Die Nutzer teilen also nicht nur ein Netzwerk, sie sind eine Art Wertegemeinschaft, die Ansichten zu Stilgebung und kultureller Funktion von Photographie teilen. Anerkennung und damit Status der Nutzer hängt von ihrer Professionalität und künstlerischen Ausdrucksform ab. Während bei Flickr die Photographie im Zentrum steht, hat sie in anderen social networks einen anderen Stellenwert. Photographie wird zur Selbstdarstellung der Nutzer eingesetzt (cf. auch den Beitrag von Julius Erdmann). Die unterschiedlichen Funktionen haben Auswirkungen auf die Auswahl der Photos als “visuelle Stellvertreter eines Images mit bildkommunikativer Kommentarfunktion”. D ANIEL H. R ELLSTAB s Beitrag beschäftigt sich ebenfalls mit der Selbstdarstellung in Profilen von Nutzern. “‘Aus Liebe zu dir’: Selbst- und Fremdrepräsentationen in Profilen von Schweizer online-Partnerbörsen” untersucht hingegen nicht nur Photos, sondern auch den Gebrauch von Screennames oder Nicknames und die von den Nutzern in diesen social networks verwandten Selbstbeschreibungen. Historisch und textsortentypologisch schließen die Online-Partnerbörsen an die in Printmedien bewährte ‘Kontaktanzeige’ an, bieten aber mehr Flexibilität und einen größeren Gestaltungsrahmen an. Die neuen Möglichkeiten bei der Partnersuche online gehen allerdings Hand in Hand mit neuen Anforderungen, die an die Nutzer gestellt werden. Während Printanzeigen auf standardisierte Textmuster zurückgreifen, besteht größere Freiheit bei der eigenen Gestaltung des Profils, allerdings fallen damit auch die Hilfestellungen bei der Erstellung weg. Die Analyse der unterschiedlichen Netzwerke berücksichtigt die multimodalen Bedingungen. Die strukturelle Architektur der jeweiligen Website begründet und leitet die Gestaltung des Profils. Die Nutzer sind freier in der Selbstbeschreibung. Die Wirkung ihres Profils hängt jedoch von der kompetenten Nutzung des Systems ab. Zeichenverwendung, allerdings im Sinne von Lakoff und Johnsons Metaphernkonzept, ist der Ausgangspunkt des Beitrags von F RANC W AGNER . Unter dem Titel “Emoticons als metaphorische Basiskonzepte” untersucht er die Funktionen von Emoticons im Schreiben Jugendlicher. Dabei berücksichtigt er vor allem die körperbasierten Bildschemata der Jugendlichen in ihren im Kontext des Projektes “Schreibkompetenz und neue Medien” geschriebenen Texten. Das Ziel des Projektes ist es, Veränderungen der Schreibkompetenz Jugendlicher zu erforschen, die durch Schreiben in neuen Medien in Gang gesetzt worden sind. Dabei Einleitung 9 werden Kommunikationsformen wie E-Mail, Chat, Instant Messaging oder Social- Networking-Sites wie Facebook oder StudiVZ berücksichtigt. Für Jugendliche hat die Kommunikation von Emotionen einen hohen Stellenwert. Das Interesse gilt daher den verschiedenen sprachlichen Mitteln, um Emotionen zu kommunizieren und den Funktionen, die sie in Texten Jugendlicher haben. Emoticons werden dabei als körperbasierte Bildschemata verstanden, insofern sie auf schematisierten Darstellungen von Gesichtern und Gesichtsausdrücken basieren. Dabei zeigt sich, daß Jugendliche Emoticons als Ad-hoc-Metaphern verwenden, die nicht nur als körperbasierte Bildschemata, sondern auch als metaphorische Basiskonzepte interpretiert werden können. Während besonders der erste Teil dieses Bandes zu theoretischen Überlegungen eine große Bandbreite von Themen und theoretischen Ansätzen vorstellt, widmet sich der zweite Teil den visuellen Ausdrucksformen und Körperbildern. Diese Ausdrucksformen werden dann im dritten Teil zugespitzt als Möglichkeit der Selbstdarstellung im Chat und in sozialen Netzwerken behandelt. Bern und Stellenbosch / Potsdam / Chemnitz / Maastricht, im Dezember 2009 Ernest W.B. Hess-Lüttich Eva Kimminich Klaus Sachs-Hombach Karin Wenz Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C.S. Peirce Mark A. Halawa For a large part of the 20 th century, it has almost been a scholarly commonplace to analyze many (if not all) aspects of culture from a semiotic perspective. In recent years, however, considerable discomfort towards this extensive semiotic approach has emerged, especially within contemporary aesthetics. A growing number of scholars accuse semiotics of losing sight of the nondiscursive and non-semiotic aspects, which are claimed to be particularly characteristic of aesthetic experience. As a consequence, a fundamental critique of the semiotic paradigm is expressed in a considerable number of recent studies, which aim to promote a performative aesthetics by focusing on aspects of materiality, presence, (hermeneutic) resistibility, and eventfulness. One of the most trenchant criticisms was formulated by philosopher Dieter Mersch, who, in the course of an aisthetic philosophy of perception, argues that the history of semiotics clearly proves oblivion for the essential eventful - and therefore non-semiotic - character of all aesthetic experience. This criticism of semiotics may indeed be justifiable if semiotics is narrowed down to a structural semiology or to the works of authors such as Jacques Derrida. On the basis of Charles Sanders Peirce’s theory of signs, the present essay, however, attempts to prove that the reproach of a total oblivion towards any material (and, therefore, eventful) aspects of aesthetic experience cannot be brought forward towards semiotics in general. It shall be shown that, on the one hand, all aspects that are central to a performative aesthetics (viz. materiality, presence, eventfulness, resistibility) can already be found in Peirce’s list of categories. On the other hand, the essay tries to prove that Peirce - especially in the context of his studies in abductive inference and perception - did not sublate (aufheben) resistant and eventful facets altogether (as opposed to Hegel). On the contrary, he regarded these aspects as equivalent, indispensable, irreducible, and even constitutive elements of semiosis. Therefore, the origin of semiosis can actually be found within the very phenomena that, according to the critics, are claimed to be entirely non-semiotic. War es lange ein Gemeinplatz, Kultur unter zeichentheoretischen Prämissen zu analysieren, macht sich seit einigen Jahren besonders in der Ästhetik großes Unbehagen über das semiotische Paradigma bemerkbar. Immer drängender und lauter wird der Semiotik vorgeworfen, durch ihr beständiges Streben nach symbolischer Ordnung und ihre unentwegte Suche nach Sinnstrukturen all jene nicht-diskursiven, nicht-semiotischen Aspekte aus dem Auge zu verlieren, die die ästhetische Erfahrung besonders auszeichnen. Vor allem in Arbeiten, die für eine performative Ästhetik werben, wird mit der Fokussierung auf Aspekte der Materialität, Präsenz, (hermeneutischen) Widerständigkeit und Ereignishaftigkeit von ästhetischen Artefakten und Erfahrungen zumeist auch explizit eine Kritik der Semiotik bezweckt. Eine der pointiertesten Semiotikkritiken wurde von Dieter Mersch formuliert, der im Rahmen einer aisthetischen Wahrnehmungstheorie die Geschichte der Semiotik insgesamt als ereignisvergessen charakterisiert. In Auseinandersetzung mit der Semiotik Charles Sanders Peirces möchte ich die These aufstellen, K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Mark A. Halawa 12 dass eben jener Vorwurf der Ereignisvergessenheit - so berechtigt er mit Blick auf Autoren wie etwa Jacques Derrida auch ist - nicht in Gänze auf die Geschichte der Semiotik vorgebracht werden kann. So soll zum einen gezeigt werden, dass sämtliche Aspekte, die in einer Ästhetik des Performativen von Bedeutung sind (Materialität, Präsenz, Ereignis, Widerständigkeit), in Peirces Kategorienlehre bereits mitgedacht sind. Zum anderen soll belegt werden, dass Peirce besonders in seinen wahrnehmungstheoretischen Überlegungen Facetten des Widerständigen und Ereignishaften eben nicht in einem Hegelschen Sinne durch den Begriff aufhob, sondern diese ganz im Gegenteil als kategorial gleichwertige, notwendige und gar konstitutive Elemente des Zeichenprozesses erachtete. Der Quellpunkt der Semiosis liegt demnach im Widerständigen, welches immer auch ein Unvordenkliches ist. 1 Das Unbehagen an der Semiotik Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Beobachtung, dass sich der Stellenwert der Semiotik innerhalb der sich mit ästhetischen Objekten befassenden Disziplinen in den vergangenen knapp 15 Jahren entscheidend gewandelt hat. Konnte Elmar Holenstein vor einiger Zeit noch selbstbewusst schreiben, dass die Semiotik als “der genuine Beitrag des 20. Jahrhunderts zur allgemeinen Ästhetik” (Holenstein 1992: 30; Hervorhebung im Original) anzusehen ist, zeigt die aktuelle ästhetische Debatte, dass sich diesbezüglich das Blatt deutlich gewendet hat. Obgleich Persönlichkeiten wie Roland Barthes, Christian Metz, Roman Jakobson, Julia Kristeva oder Charles William Morris zweifellos das ästhetische Denken des 20. Jahrhunderts enorm prägten, scheint für die prominentesten Vertreter der zeitgenössischen Ästhetik vor allem ein Gedanke ausgemacht zu sein: Um die Ästhetik zu ihrer eigentlichen Bestimmung gelangen zu lassen, gilt es, sie von der Semiotik regelrecht zu reinigen. Schließlich, so heißt es auf vielen Seiten, stehe die Semiotik schon auf einer grundlagentheoretischen Ebene dem Geist der Ästhetik fundamental entgegen. Nicht Sinn und Bedeutung hätten im Zentrum einer allgemeinen ästhetischen Theorie zu stehen, sondern das Nachdenken über das Phänomen der spezifischästhetischen Erfahrung - und über diese, so wird versichert, vermöge die Semiotik nichts zu sagen, ist sie doch, wie etwa der Kunsthistoriker Horst Bredekamp kritisiert, aufgrund ihrer eigentümlichen Begriffsversessenheit per se blind für den die ästhetische Erfahrung kennzeichnenden Aspekt der Anschauung: “[…] Kants Doppelbestimmung, daß es keine Anschauung ohne Begriff, aber auch keinen Begriff ohne Anschauung geben könne”, sei, so schreibt Bredekamp, im Kontext des durch die strukturalistische Semiologie fortgesetzten logozentrischrationalistischen Diskurses “nach der zweiten Seite hin so oft zitiert wie beiseite geschoben worden” (Bredekamp 2007: 9). 1 Neben dem Vorwurf der “Anschauungsvergessenheit” sind es, grob gefasst, noch mindestens zwei weitere Gründe, die das zu verzeichnende Unbehagen an der Semiotik motivieren. So legitimieren viele Kritiker ihre ablehnende Haltung damit, dass die Semiotik, wie beispielsweise der Philosoph Gernot Böhme behauptet, “ihren Ursprung in der Analyse der Sprache” (Böhme 1999: 27) habe und sie sich daher “als eine Art erweiterte Linguistik” (ebd.) begreifen lasse. Als eine Wissenschaft, die zunächst allgemeine Aussagen über das Wesen der Sprache treffe und diese ihren ästhetischen Untersuchungen unkritisch zugrundelege, unterdrücke die Semiotik von Grund auf mit der spezifisch-ästhetischen Erfahrung exakt das, womit sich aus Sicht von Böhme und vielen anderen Theoretikern eine ästhetische Theorie in erster Linie zu befassen habe. 2 In engem Zusammenhang mit Böhmes kritischen Anmerkungen steht ein weiterer Vorwurf - der Vorwurf der “Körpervergessenheit” -, der offenbar für eine Ästhetik abseits der Semiotik Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 13 zu sprechen scheint. Vorgebracht wird er vom Kunsthistoriker Hans Belting, der sich selbst als einen “dezidierte[n] Antisemiotiker” (Belting 2004: 120) bezeichnet und im Kontext der aktuellen bildtheoretischen Diskussionen davon überzeugt ist, dass eine semiotische Bildtheorie den Bildern unweigerlich “ihre physische, ihre mediale Leiblichkeit [nimmt]” (ebd.); schließlich, so Belting, “[knüpft] sie die Verständigung über Bilder an die Verständigung über Sprache” (ebd.). Belting argumentiert damit ähnlich wie sein Kunsthistorikerkollege Gottfried Boehm. “Bilder”, schreibt dieser, “[explizieren] ihren Sinn anders als Sprache”, sie gehören “zur Sphäre des Nicht-Propositionalen” und schöpfen ihre Kraft durch ein “das Gewebe des Sinns” zerreißendes “deiktisches Potential”, durch eine “Macht des Zeigens”, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich grundlegend von der Struktur der Sprache unterscheidet (Boehm 2007: 14 f., sämtliche Hervorhebungen im Original). Ob wir es nun mit der allgemeinen Ästhetik oder dem ästhetischen Sonderfall des Bildes zu tun haben, stets erscheint die Semiotik per se als unbrauchbar, weil mit ihr eine auf das Bestimmte abzielende Sinnästhetik einherzugehen scheint. Diese stehe im Gegensatz zu dem, was sich mit Martin Seel oder Hans Ulrich Gumbrecht als Präsenzästhetik bezeichnen lässt - d.h.: eine Ästhetik, die sich um eine Rehabilitierung der Momente der Unbestimmtheit bemüht, welche die ästhetische Erfahrung als das Erleben einer besonderen, singulären, konkreten und vor allem: begrifflich unfassbaren Erscheinung charakterisieren (cf. Seel 2003 sowie Gumbrecht 2004). 3 Gewiss widerspricht ein präsenzorientierter Ansatz grundlegend den Bemühungen, die sich Autoren wie z.B. Roman Jakobson oder Roland Barthes gemacht haben, als sie die unterschiedlichsten künstlerischen Artefakte hinsichtlich ihrer strukturellen Verfasstheit semiotisch zu kategorisieren versuchten, um den sich in ihnen manifestierenden Botschaften auf die Spur zu kommen und damit ein Verstehen des Kunstwerkes zu erreichen (cf. Jakobson 1992, 2005 sowie Barthes 1990). Vor allem im Werk von Roland Barthes erschienen Gemälde, Fotografien, Filme, Designobjekte, Romane, etc. vornehmlich als “Mythen des Alltags”, die es anhand der “semiologischen Methode” (die für ihn mit einer “wissenschaftlichen Methode” gleichbedeutend war) zu “entziffern” und “zum Sprechen zu bringen” gilt. Für Barthes hieß dies immer auch: sie zu “rationalisieren” und der (semiologischen) “Wissenschaft” zugänglich zu machen (cf. Barthes 1964). Wie sehr sich das Blatt in der ästhetischen Theorie gewendet hat, ersieht sich vor allem daran, dass die Mehrzahl der wortführenden Ästhetiker von einer solchen Art und Weise, Ästhetik zu betreiben, (freilich nicht zu Unrecht) nichts mehr wissen will. Doch so sehr nicht von der Hand zu weisen ist, dass vor allem innerhalb der strukturalistischen Semiologie tatsächlich Ästhetik unter dem Primat von Sinn und Bedeutung betrieben worden ist, so sehr soll im Folgenden in Frage gestellt werden, dass die Semiotik quasi en gros blind für sämtliche der hier genannten Facetten ist. Ästhetik unter semiotischen Vorzeichen zu betreiben muss nämlich gerade nicht bedeuten, ästhetische Objekte quasi instinktiv und damit unkritisch als kommunikative Phänomene zu begreifen, die sich mit Hilfe von Begriffen wie “Denotation”, “Konnotation”, “Code”, “Sinn” und “Bedeutung” beschreiben und verstehen lassen. Ganz im Gegenteil: Auch eine semiotische Ästhetik zeigt sich dazu in der Lage, das Phänomen der spezifisch-ästhetischen Erfahrung in eben dem Maße zu würdigen, wie es vielerorts angemahnt wird. Es soll nun im Folgenden gezeigt werden, dass insbesondere die Semiotik Charles Sanders Peirces geeignet ist, eben diese Leistung zu erbringen. Um diese These näher auszubreiten, erweist es sich aus meiner Sicht als sinnvoll, sich näher mit den Ausführungen des Philosophen Dieter Mersch auseinanderzusetzen. In ihnen findet sich nicht nur ein weiterer Mark A. Halawa 14 Vorwurf - der der “Ereignisvergessenheit” -, dem es sich zu stellen gilt, sondern zugleich einer der bedeutendsten jüngeren Beiträge für die Ästhetik und die Semiotik. Zunächst werde ich Merschs Vorwurf der “Ereignisvergessenheit” skizzieren, um diesen anschließend in Rekurs auf die Peircesche Semiotik einer kritischen Prüfung zu unterziehen. 2 Der Vorwurf der Ereignisvergessenheit Im Jahr 2002 veröffentlichte Dieter Mersch mit Was sich zeigt (2002 a) und Ereignis und Aura (2002 b) gleich zwei Monographien zur allgemeinen Ästhetik, in denen die Semiotik einer fundamentalen Kritik unterzogen wird. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das “Verschwinden von Materialität” (Mersch 2002 b: 42, Hervorhebungen im Original); dieses gründe, so Mersch, in einer “rückhaltlose[n] Totalisierung von Signifikation” (ebd.), welche ihren Höhepunkt mit dem Siegeszug des das 20. Jahrhundert dominierenden linguistic turn erreicht habe. Dieser “Triumph einer Immaterialisierung” (ebd.), der von Mersch mit einem “Fundamentalismus des Semiotischen” (Mersch 2002 a: 21) assoziiert wird, erweise sich insofern als problematisch, als sich mit ihm unweigerlich eine “Ereignisvergessenheit” (ebd.: 392) einstelle, die sowohl in fundamentalphilosophischer als auch in ästhetischer Hinsicht zu schweren Versäumnissen geführt habe. Nicht der Begriff des Zeichens ist es, von dem sich Mersch in Bezug auf erkenntnistheoretische und ästhetische Fragen befriedigende Antworten erhofft; sondern es sind grundlegend asemiotische Kategorien, die helfen sollen, dem Rätsel der Erkenntnis und des Ästhetischen auf den Grund zu kommen. So sei es die Konfrontation mit etwas Widerständigem, etwas (begrifflich) Unverfügbarem und damit der Semiotik nicht Zugänglichem, das die Erfahrung im allgemeinen wie im ästhetischen Sinne auszeichne. Mersch zieht daraus den für seine philosophischen Betrachtungen so wichtigen Schluss, dass es eine “Nichtsignifizierbarkeit” ist, die sich, wie er schreibt, “[…] am Grund (arché) der Signifikation [befindet]. Sie nennt den Ort, von dem her die Zeichen überhaupt sprechen oder ihre Bedeutungseffekte erzielen” (ebd.: 19). Die Quelle von Sinn und Bedeutung bzw. der Beginn des Zeichens entspringt folglich dem, “was sich nicht ausdrücken oder sagen läßt”, dem, “was sich der Bezeichenbarkeit sperrt” (ebd., Hervorhebung im Original). Nicht der Begriff markiert dieser Konzeption zufolge den Anfang einer jeden Erkenntnis, sondern stattdessen ein “elementare[r] Entzug” (Mersch 2002 b: 9), die Instanz eines “Zuvorkommenden, das sich dem Sinn, dem Verstehen gleichwie den Prozeduren der Signifikation, der Schrift und der Differenz verweigert” (ebd., Hervorhebung im Original). Angesprochen und in Frage gestellt sind damit Konzepte, die in der Geschichte der Semiotik, insbesondere im Werk von Jacques Derrida (cf. etwa Derrida 1983, 1976), auf den sich Mersch immer wieder kritisch bezieht (cf. Mersch 2002 a: 211-235, 327-351, 357-381), eine zentrale Stelle einnehmen. Dieses dem Zeichenprozess Vorgängige und durch diesen nicht Einholbare fasst Mersch unter den Begriff des “Ereignisses”. Es ist dies ein Begriff, der, so ist Mersch überzeugt, in der Geschichte der Philosophie mit dem cartesianischen Rationalismus zu Unrecht an den Rand gedrängt worden ist. 4 Um das Ereignis - sprich: das, was sich über die Instanz der Materialität als Widerständiges zeigt und sich in diesem Modus des Sichzeigens ausschließlich in Form einer Präsenz offenbart (nicht in Form einer Repräsentation) - für fundamentalphilosophische wie ästhetische Fragen zu restituieren und zu rehabilitieren, unterzieht Mersch neben der strukturalistischen Semiologie auch die pragmatistische Semiotik einer grundlegenden Kritik. Diese resultiert in der Ausarbeitung einer “Ereignisästhetik” (Mersch 2002 b: 9), Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 15 die sich nicht an die Bedingungen und Möglichkeiten des Sagbaren, an die Ordnung(en) des Diskurses gebunden fühlt; 5 ganz im Gegenteil gelte es, so Mersch, sich entgegen des “Primat[s] des Hermeneutischen” (Mersch 2002 a: 16) “am Rande des Sagbaren” (ebd.: 9) aufzuhalten. Im Zentrum dieser Überlegungen steht der Modus des “Dass” (quod), der aus Sicht von Mersch in der Philosophie- und Semiotikgeschichte zugunsten einer Privilegierung des Modus des “Was” (quid) weggekürzt oder gar gänzlich ignoriert worden sei (cf. Mersch 2002 b: 32). Intendiert ist damit die Forderung, “jenen Augenblick des Auftauchens festzuhalten, in dem nicht “etwas” geschieht, sondern das Geschehen selbst aufbricht” (Mersch 2002 a: 98, Hervorhebungen im Original). Das soll heißen: Noch bevor einem interpretierenden Bewusstsein irgendetwas als ein bestimmtes Objekt erscheinen kann, gilt es sich darüber bewusst zu werden, dass jeder Geste der Objektbestimmung ein Moment des “Dass” (quod) zuvorkommt: Wir spüren, dass (quod) “geschieht”, noch ehe wir uns darüber bewusst werden, dass etwas geschieht, geschweige denn was (quid) geschieht. Nicht die Bestimmung eines etwas als etwas (= “Was” [quid]) gilt es daher aus Merschs Sicht nachzuzeichnen; vielmehr gehe es darum, den mit dem Modus des “Dass” (quod) einhergehenden “Schock des Ungemachten, des Unverfügbaren” (Mersch 2002 b: 33) - kurz: das Moment des Widerständigen (= Ereignishaften) - im Rahmen von ästhetischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen ausreichend zu würdigen. Gerierte sich die Semiotik bei Elmar Holenstein, wie wir eingangs sahen, als “der genuine Beitrag des 20. Jahrhunderts zur allgemeinen Ästhetik”, ist es für Mersch zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine “performative Ästhetik” , eine “Grundlegung der Ästhetik aus der Aisthesis” (ebd.: 17, Hervorhebung im Original), die das Fundament zu bilden hat für Ästhetik, Erkenntnistheorie und Semiotik. 6 Zweifelsohne zeichnet sich Merschs Arbeit dadurch aus, dass sie der geschilderten ablehnenden Haltung gegenüber der Semiotik ein argumentativ stringentes theoretisches Fundament verleiht, was in der aktuellen ästhetischen Debatte keineswegs selbstverständlich ist. So sehr allerdings das in den ästhetischen Disziplinen zu verzeichnende Unbehagen an der Semiotik vor dem Hintergrund einer langwierigen Dominanz des sprachlogischen Zeichenparadigmas überwiegend (wenn auch nicht absolut) 7 nachzuvollziehen und zu unterstützen ist, so sehr muss aus meiner Sicht die Frage gestellt werden, ob der auch von Dieter Mersch vorgebrachte Vorwurf, die Semiotik sei ob ihres konstatierten fundamentalistischen Gebarens von Grund auf blind für Aspekte des Besonderen, Materiellen, Ereignishaften, Unbestimmten, Konkreten, etc., sowohl semiotikhistorisch als auch sachlich begründet ist. Ist die Semiotik tatsächlich per definitionem eine körperwie ereignisvergessene Disziplin? Der Sprachwissenschaftler Ludwig Jäger hat gezeigt, dass diese Frage selbst in Bezug auf die Semiologie Ferdinand de Saussures verneint werden kann (cf. Jäger 2004). 8 Ich bin der Meinung, dass sich Gleiches über die Semiotik Charles Sanders Peirces sagen lässt. Sämtliche Vorbehalte, die in der Kritik von Gelehrten wie Gottfried Boehm, Hans Belting, Hans Ulrich Gumbrecht, Gernot Böhme, Horst Bredekamp und eben Dieter Mersch geäußert werden, sind, so behaupte ich, in der Peirceschen Zeichenlehre stets mitgedacht oder fungieren in eben dem Maße als irreduzible Grundlage eines jeden Zeichenprozesses, wie es besonders von Dieter Mersch gefordert wird. Kurz, für Peirce ist eine Semiose undenkbar, die nicht durch den Anstoß eines Widerständigen, eines dem Begriff Vorgängigen animiert worden ist. Das Moment der dem Erkenntnisprozess notwendig zuvorkommenden Aisthesis wird in der Peirceschen Semiotik daher immer schon vorausgesetzt, denn ohne es wäre die Notwendigkeit für die Inauguration einer jeden Semiose schlicht nicht gegeben. Sollten sich diese Thesen als stichhaltig erweisen, so würde daraus unter anderem folgen, dass nicht die Semiotik im Allgemeinen einer aisthetischen Korrektur bedarf, sondern Mark A. Halawa 16 umgekehrt die von semiotikkritischen Seiten hervorgebrachten Begründungen nicht nur zu einem großen Teil auf fragwürdigen Prämissen beruhen, sondern sie in ihren Grundzügen semiotischer sind, als es so manchem “dezidierten Antisemiotiker” unter Umständen lieb ist. 3 Die Einheit der semiotischen Kategorien Nun gehört Charles Sanders Peirce ebenfalls zu den zahlreichen Semiotikern, mit denen sich Dieter Mersch intensiv und kritisch auseinandergesetzt hat. Auch er bleibt vom Vorwurf der Ereignisvergessenheit nicht verschont, zeichnet sich sein Zeichenbegriff doch durch eine, wie Mersch es nennt, “Entfesselung des Interpretanten” (Mersch 2002 a: 225) aus. Mersch spielt damit auf das Konzept der prinzipiell unabschließbaren Semiose an - eine der wichtigsten und bekanntesten Ideen Peirces. Ihr zufolge ist “ein Zeichen kein Zeichen, es sei denn, es läßt sich in ein anderes Zeichen übersetzen, in welchem es weiter entwickelt ist” (Peirce 1903 a: 423). Jedem Zeichen ist es inhärent, aus einem vorherigen Zeichen hervorgegangen zu sein und - ad infinitum - zum Anknüpfungspunkt für ein weiteres Zeichen zu werden. Mersch meint nun hier eine Idee des Zeichens auszumachen, die “kein Ereignis darstellt” (Mersch 2002 a: 227), sondern lediglich auf eine “Stelle innerhalb eines kontinuierlichen Prozesses” (ebd.) der Signifikation verweist. Je weiter sich ein Zeichen entwickelt, so scheint es, umso weiter entfernt es sich auch von den Dingen, sodass letztlich in einem ausschließlich immateriellen Zeichengeflecht eine Interpretation an die andere rückt. Es überrascht nicht, dass sich aus dieser Sicht unmittelbar der Eindruck der Körper- und Ereignisvergessenheit einstellt. In einer Theorie, in der “das Denken […] an sich wesentlich von der Art eines Zeichens [ist]” (Peirce 1903 a: 423) und der Akt des Denkens als grundlegend für jegliche Erkenntnisprozesse erachtet wird, 9 scheint kein Platz zu sein für die von Hans Belting privilegierte Leiblichkeit und die von Dieter Mersch für fundamental befundenen Kategorien “Materialität”, “Präsenz” und “Ereignis”. Nicht minder überraschend ist es daher, dass neben Peirce auch der Begründer der Dekonstruktion, Jacques Derrida, von Kritik nicht verschont bleibt, knüpfen dessen zeichentheoretischen Überlegungen doch an die “Entfesselung” der prinzipiell nicht abschließbaren Interpretation an. In Rekurs auf Peirces Prinzip der unendlichen Semiose und de Saussures Prinzip der oppositionalen Wertigkeit des (sprachlichen) Zeichens (cf. Saussure 3 2001: 93 ff.), spinnt Derrida den Grundsatz der “Iterabilität”, demzufolge sich ein jedes Zeichen durch eine “originär wiederholende […] Struktur” (Derrida 2003: 70) auszeichne, die einen bestimmten Signifikanten dazu in die Lage versetze, “trotz der Verschiedenartigkeit der empirischen Merkmale, die ihn modifizieren können, und durch sie hindurch, in seiner Gestalt erkennbar [zu] sein” (ebd.: 69) bzw. zu bleiben. Ein Zeichen zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es zum einen (in einem Peirceschen Sinne) stets in ein anderes Zeichen überführbar ist und zum anderen - trotz der sich unweigerlich einstellenden Übersetzungsprozesse - (in einem Saussureschen Sinne) eine strukturelle Identität beibehält. Ein Signifikant kann somit durch die mit dem fortlaufenden Signifikationsgeschehen einhergehenden nicht vermeidbaren “Verzerrungen” (ebd.) hindurch “derselbe bleiben und als solcher [im Rahmen von weiteren Signifikationsschritten; M.A.H.] wiederholt werden […]” (ebd., Hervorhebung im Original). Zweifellos stand Derrida Peirce insofern nahe, als sich sein Denken ähnlich stark um die Idee der unendlichen Semiose drehte. Allein, der Eindruck, hinter dem Prinzip des nicht abschließbaren Zeichenprozesses selbst stünde eine grundlegende Vernachlässigung oder gar eine vollkommene Nichtberücksichtigung von Körperwie Ereignisfragen, lässt sich, anders Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 17 als bei Derrida, im Falle Peirces klar entkräften, sofern denn ein Aspekt berücksichtigt wird, der in den meisten (vor allem kritischen) Auseinandersetzungen mit der Semiotik (auch bei Dieter Mersch) kaum bis überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird, nämlich: die Peircesche Kategorienlehre. Sie ist es, die meines Erachtens geeignet ist darzulegen, dass eine semiotische Herangehensweise durchaus offen ist für all die Aspekte, die sie laut Böhme, Bredekamp, Belting, Mersch und vielen anderen angeblich aus dem Blick verliert. Werfen wir dazu einen Blick auf die Kategorientafel, die Peirce in einem Brief vom 12. Oktober 1904 an Victoria Lady Welby folgendermaßen erläutert: Firstness [Erstheit; M.A.H.] is the mode of being of that which is such as it is, positively and without reference to anything else. Secondness [Zweitheit; M.A.H.] is the mode of being of that which is such as it is, with respect to a second but regardless of any third. Thirdness [Drittheit; M.A.H.] is the mode of being of that which is such as it is, in bringing a second and third into relation to each other (Peirce 1904: 24). Peirce wies immer wieder darauf hin, dass die Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit irreduzibel 10 sind und sich damit eine Verabsolutierung oder Aufhebung einer oder mehrerer der drei Kategorien prinzipiell verbietet. In der Kategorie der Zweitheit lässt sich unter keinen Umständen von der Kategorie der Erstheit abstrahieren, und auf der Ebene der Drittheit lässt sich in gleicher Weise nicht von der Zweitheit und der Erstheit absehen. Dieses Postulat der irreduziblen Einheit der Kategorien hängt damit zusammen, dass, so erläutert es Helmut Pape, die jeweils nächste Kategorie […] als ein Begriff eingeführt [wird], […] um die Funktion des jeweils vorausgehenden zu beschreiben: Den Begriff der Relation [Zweitheit; M.A.H.] muß ich einführen, um zu beschreiben, was es heißt, daß einem Objekt eine Qualität [Erstheit; M.A.H.] zukommt; den Begriff der Darstellung [Drittheit; M.A.H.] benötige ich, um sagen zu können, in welchem Verhältnis Relation und Qualität zueinander stehen (Pape 2000: 25). Aus diesem notwendigen Begründungszusammenhang folgt, dass - obgleich Peirce den Akt des Denkens (und mit ihm den Begriff des Zeichens) an die Drittheit knüpft 11 - ein jeder Zeichenprozess stets an ein Erstes und ein Zweites gebunden ist. Das heißt: Obwohl in der Semiose ein immaterielles Zeichen auf das andere folgt, bedeutet dies nicht, dass der Anstoß, der die fortlaufende Übersetzungsleistung verursacht, ebenfalls rein immaterieller Natur ist - dies bedeutete eine Hypostasierung der Drittheit, die Peirce spätestens 12 seit seinen Pragmatismus-Vorlesungen kategorisch ausschloss (cf. Peirce 1991: 52-63, CP 5.82-5.92 13 sowie Spielmann 2002: 119-169). Deutlich wird dies etwa in der Haltung, die Peirce gegenüber Georg W.F. Hegel einnimmt: Wird Peirce einerseits nicht müde zu betonen, dass die drei Kategorien im Wesentlichen bereits von Hegel “als richtige Liste der universalen Kategorien” (Peirce 1991: 24, CP 5.43) gedacht worden sind, bemängelt er am “Hegelschen System”, dass in ihm die Kategorien Erstheit und Zweitheit “nur eingeführt [sind], um [im Begriff und damit in der Drittheit; M.A.H.] aufgehoben zu werden” (ebd.: 51, CP 5.79, Hervorhebung im Original). Weiter kritisiert Peirce: Hegel ist besessen von der Idee, daß das Absolute Eines ist. Drei Absoluta würde er als eine lächerliche contradictio in adjecto betrachten. Folglich möchte er beweisen, daß die drei Kategorien nicht ihre verschiedenen unabhängigen und unwiderlegbaren Stellungen im Denken haben. Erstheit und Zweitheit müssen irgendwie aufgehoben sein. Aber es ist nicht wahr. Sie sind keineswegs widerlegt oder widerlegbar. Es ist wahr, daß Drittheit in gewissem Sinn Zweitheit und Erstheit involviert. Das heißt, wenn Sie die Idee von Drittheit haben, müssen Sie Mark A. Halawa 18 die Ideen von Zweitheit und Erstheit gehabt haben, um darauf aufzubauen (Peirce 1991: 63, CP 5.91, Hervorhebungen im Original) 14 . Vor dem Hintergrund der uns interessierenden ästhetischen Streitpunkte ist nun folgender Aspekt von entscheidender Relevanz: Man beachte, dass Peirce in der vorgestellten Kategorientafel von drei Modi des Seins - drei “modes of being” - sprach und der Begriff des Seins daher gerade nicht - wie oft behauptet wird - ausschließlich auf das Reich der Zeichen (das der Drittheit also) beschränkt wird. Postuliert Peirce etwa, dass “Erkennbarkeit […] und Sein […] synonyme Begriffe [sind]” (Peirce 1868 a: 177, CP 5.257, Hervorhebungen im Original), so rekurriert er folglich auf einem von insgesamt drei realen Modi des Seins. Diesen möchte ich aufgrund seiner Verbundenheit mit der Fähigkeit zu kontrolliertem und kritischem Denken bzw. Schließen 15 als den Modus des intelligiblen Seins bezeichnen. Während nun im Seinsmodus der Erstheit das Moment einer unmittelbaren, unartikulierbaren und damit nicht näher bestimm- und kategorisierbaren “Gefühlsqualität” (Peirce 1983: 57) im Vordergrund steht und so der Modus eines phänomenalen Seins angesprochen wird, kommt im Modus der Zweitheit eine “Erfahrung des Widerstandes” (Orig.: “experience of resistance”) (Peirce 1904: 26, Hervorhebung von mir, M.A.H.) bzw. ein “Gefühl der Reaktion” (Peirce 1983: 55) ins Spiel - sprich: der Modus des widerfahrenden bzw. widerständigen Seins. Der Grund für die prinzipiell unendliche Fortsetzung des Zeichenprozesses liegt demnach nicht in einer vermeintlichen Allmacht der Drittheit begründet; es sind vielmehr die Kategorien der Erstheit und Zweitheit, die Momente des Phänomenalen und Widerständigen, die den Quellpunkt der Semiose bezeichnen. Nur in der Drittheit haben wir es mit Denkprozessen zu tun, die kontrollier- und kritisierbar sind (cf. Peirce 1991: 34, CP 5.55 sowie unten Anm. 15). Demgegenüber zeichnen sich die Kategorien Erstheit und Zweitheit unter anderem dadurch aus, dass sie den Gang des kontrollierten und kritisierbaren Schließens stören. Wird also, wie die Kategorienlehre Peirces es nahelegt, die Erfahrung des Widerstandes als grundlegend (weil nährend) für den Zeichenprozess erachtet, öffnet sich der Raum für all die Aspekte, die im Zentrum des Merschschen Denkens stehen, d.h. das Unvorhersehbare, das Zufällige, das sich der Interpretation Entgegenstellende, kurz: das Ereignishafte (cf. Mersch 2002 a: 197). Wie wichtig Peirce neben einer Sondierung der Idee einer kritischen Semiosis gerade auch eine Erörterung derjenigen Zusammenhänge gewesen ist, die dieser vor-kritisch vorausgehen, ersieht sich aus seiner Auseinandersetzung mit dem Wesen des Denkens und der Abduktion. Denken, schreibt Peirce, hat eine “einzige Funktion”, nämlich die, die “Herstellung” einer “Überzeugung” zu gewährleisten (Peirce 1878: 331, CP 5.394). Die Notwendigkeit der Überzeugungsbildung (was bei Peirce immer auch heißt: die Notwendigkeit, Denk- und damit Zeichenaufwand zu betreiben) hängt dem Peirceschen Konzept zufolge mit dem Faktor eines bestehende Denk- und Handlungsgewohnheiten durchbrechenden “Zweifels” zusammen. Er ist es, der in Form eines Widerständigen bzw. in Form einer, wie Peirce es fasst, “überraschende[n] Tatsache” (Peirce 1991: 129, CP 5.189) einen “unangenehme[n] und unbefriedigende[n] Zustand” (Peirce 1877: 300, CP 5.372) verursacht, den es im Rahmen der Semiose zu beenden gilt. In diesem Zusammenhang spielt die Abduktion - d.h. “der Prozeß, eine erklärende Hypothese zu bilden” (Peirce 1991: 115, CP 5.171) - eine bedeutende Rolle. Angestoßen durch den Stachel des Zweifels, ist sie das Instrument, um zur “Vermeidung aller Überraschung” die “Festsetzung einer Gewohnheit positiver Erwartung” zu gewährleisten, “die nicht enttäuscht werden soll” (ebd.: 135, CP 5.197). Gewiss: In diesem Kontext geht es um den Versuch, ein Widerständiges und Zweifel schürendes Etwas als etwas Bestimmtes erklärend zu bändigen. Doch auch wenn sich ein Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 19 jedes Zeichen auf das Moment des “Was” (quid) zubewegt, wird es immerwährend durch ein die Zeichenbildung erst provozierendes Moment des “Dass” (quod) angestoßen. Die “Entfesselung” der Interpretation - die nicht zu verwechseln ist mit der von Mersch kritisierten Entfesselung des Interpretanten, da eine solche die mit ihm inhärierende Kategorie der Drittheit hypostasieren würde - fußt keinesfalls auf einer (durchaus im materiellen Sinne zu verstehenden) Grund-losen Verabsolutierung des Zeichens. Sie gründet vielmehr auf dem Umstand, dass im Rahmen der Abduktion erklärende Hypothesen gebildet werden, die - auch wenn sie explizit an der Herleitung der “erste[n] Prämisse[n] allen kritischen und kontrollierten Denkens” (Peirce 1991: 122, CP 5.181) beteiligt sind - einen “Akt […] extrem fehlbarer Einsicht” (Peirce 1903 b: 366, CP 5.181, Hervorhebung von mir, M.A.H.) umschreiben. 16 Zwar mag sich der Geist den Dingen Stück für Stück nähern. Doch zurück bleibt mit jedem Interpretationsschritt eine Distanz, durch die sich das Objekt der Erkenntnis stetig entzieht. Man sieht: Das die Ästhetik Walter Benjamins charakterisierende und von Dieter Mersch als Leitbegriff seiner performativen Ästhetik herangezogene Motiv der Aura (cf. Benjamin 2007, 1963) muss nicht, wie Merschs Ausführungen nahelegen, der Semiotik quasi en gros als Korrektiv hinzugefügt werden - vielmehr ist es in ihr bereits enthalten. Denn strebt die Semiose auf der einen Seite nach Sicherheit, Kontinuität und Gesetzmäßigkeit (Peirce fasst dies unter den Begriff des “Synechismus”), unterwandern dem Prinzip des “Zufalls” bzw. der “Spontaneität” unterworfene “überraschende Tatsachen” den die Semiose nährenden Drang, Zustände des Zweifels in solche der Überzeugung zu überführen (diesen Aspekt der Spontaneität fasst Peirce als “Tychismus”). 17 Die den Synechismus “störende” Tyche gewährleistet, dass - obgleich das Ziel der Semiose, wie Peirce betont, in der Schaffung klarer Gedanken besteht - mit jedem neuen Zeichen nicht nur ein weiteres Fünkchen Klarheit geschaffen wird, sondern immer auch ein Schatten des Rätselhaften übrigbleibt. In Bezug auf die Benjaminsche Differenzierung zwischen der “Spur” einerseits und der “Aura” andererseits, die unter anderem von Dieter Mersch für eine ihr analoge Trennung von Semiotik (Spur) und Aisthetik (Aura) verwendet wird, 18 heißt dies: Der Peirceschen Semiotik geht es nicht allein um die “Spur”, verstanden als “Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ” (Benjamin 2007: 343), durch die “wir der Sache habhaft [werden]” (ebd.). Auch die “Aura”, verstanden als “Erscheinung der Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft” (ebd.), findet in ihr insoweit Berücksichtigung, als es bei aller fortgeschrittenen Bestimmtheit immer auch den Faktor eines “Sichentziehenden” anzuerkennen gilt, durch den der Prozess der Bestimmungsbildung herausgefordert wird und niemals zu einem Ende kommen kann. Dies umschreibt einen äußerst bedeutsamen Aspekt, da sich daraus ersieht, warum Peirce, der zeitlebens einen strengen Realismus verteidigte und im Rahmen seiner Erkenntnistheorie an die prinzipielle Möglichkeit der Erlangung einer “final opinion” glaubte, nicht minder streng betonte, dass hinter der Idee des “finalen Interpretanten” stets ein “Prinzip Hoffnung” und damit also ein erkenntnisleitendes Ideal (sprich: nicht eine jemals erreichbare faktische Begebenheit) steht (cf. Apel 1975: 105). Damit angesprochen ist ein Aspekt, der sich unter anderem aus dem grundlegend konditionalen (und daher für das Moment der Fallibilität offenen) Charakter des Peirceschen Pragmatismus herleitet (cf. ebd.: 113). Auf diesen Punkt, der in der Peirce-Rezeption leider allzu oft unberücksichtigt gelassen wird, machte Peirce selbst mit folgender Bemerkung aufmerksam: “Das Gesetz, daß jedes Gedankenzeichen in einem anderen, das auf es folgt, übersetzt oder interpretiert wird, hat daher keine Ausnahme, es sei denn die, daß alles Denken überhaupt durch den Tod zu einem abrupten und endgültigen Ende kommt” (Peirce 1868 a: 199, CP 5.284). Kurz: “Daß das Leben ein Gedankenstrom ist” (Peirce 1868 b: 223, CP 5.314), hängt damit zusammen, dass Mark A. Halawa 20 - auch wenn es (durch die Intention der lückenlosen Bestimmung) auf ein jeglichen Zweifel ausräumendes Ende jeden weiteren Denkens abzielt - “zu leben” immer auch einschließt, “mit Widerständigkeiten bzw. überraschenden Tatsachen konfrontiert und damit zum Denken gezwungen zu sein”. Der Grundstein für die Notwendigkeit fortlaufender Zeichenbildungsprozesse ist damit gelegt. 4 Fazit Berücksichtigt man diese aus dem Postulat der Einheit der semiotischen Kategorien folgenden Einsichten, erscheint der Stellenwert der Semiotik für Fragen der allgemeinen Ästhetik in einem anderen Licht. Nicht nur lassen sich Materialität, Ereignis und Präsenz in der Kategorienlehre Peirces verorten; auch verbergen sich in ihr diejenigen Grundzüge der Responsivität (cf. Waldenfels 2007: 320-336) und des Auratischen, die aus Sicht vieler Semiotik-Kritiker die ästhetische Erfahrung auszeichnen. Wer sich als Semiotiker für Probleme der allgemeinen Ästhetik interessiert, muss gerade nicht zurückschrecken, wenn, wie bei Theodor W. Adorno (2003: 51), von der Unmöglichkeit die Rede ist, ein Kunstwerk in Gänze zu rationalisieren. Er würde auch nicht resignieren, wenn es um die Anerkennung des immanenten Rätselcharakters von ästhetischen Objekten geht. Die Adornosche Faustregel, derzufolge “Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, […] keine [Kunstwerke sind]” (ebd.: 184), lässt sich von einer Peirceschen Semiotik problemlos akzeptieren. Nicht akzeptieren würde sie den Schluss, den in Rekurs auf Adorno viele Ästhetiker aus der prinzipiellen Rätselhaftigkeit der Kunst ziehen. Dieser besteht darin, aus der konstitutiven “Unbegreiflichkeit” (ebd.: 179) eines jeden Kunstwerkes eine allgemeine Unbrauchbarkeit der Semiotik abzuleiten. Denn gerade weil ästhetische Artefakte aufgrund verschiedenster Maßnahmen irritieren und sich widerständig zeigen, animieren sie Prozesse abduktiven Schlussfolgerns - und damit Zeichenprozesse. Schreibt Mersch, dass “[d]er Angriff auf die Sinne, ihre Aussetzung ins Unbekannte, die leibliche Irritation […] unerläßlich [scheinen], um immer wieder neu sehen, hören und erleben zu lernen” (Mersch 2001: 282), so drückt er damit nichts aus, dem nicht auch Peirce absolut zustimmen würde. So betrachtet, erscheint die von Dieter Mersch als Exempel für die Notwendigkeit einer Ereignisästhetik herangezogene Kunst der Avantgarde (cf. Mersch 2002 b: Kap. III, IV sowie in diesem Zusammenhang auch Fischer-Lichte 2004) als regelrechte semiotische Spielwiese. Steht auf der einen Seite die (synechistische) Neigung, etwas als etwas (“Was” [quid]) begreiflich zu machen, stellt sich diesem Bestimmungsbestreben das Moment des (tychistischen) “Dass” (quod) entgegen. Die avantgardistische Kunst erhält ihre Kraft somit aus der Provokation von Zeichenprozessen, die durch den gezielten Einsatz von Widerständigkeiten eben jene nicht zu einem Ende kommen lässt. Sie lässt sich daher als ein Paradebeispiel dafür deuten, dass der Quellpunkt der Semiose in einer Sphäre zu finden ist, für die die Semiotik aus Sicht der hier vorgestellten Autoren von Grund auf blind ist. Daraus folgt, dass die in der gegenwärtigen Ästhetik oftmals vorgenommene Verabschiedung von semiotischen und/ oder hermeneutischen Theorieansätzen 19 - um mit Martin Seel (2002) zu argumentieren - möglichst zu vermeiden ist. Weder sollte man, wie Elmar Holenstein, die Semiotik einseitig als den genuinen Beitrag für die allgemeine Ästhetik fassen, noch empfiehlt sich in Bezug auf allgemeine Fragen der Ästhetik eine prinzipielle Zurückweisung jeglichen semiotischen Denkens. Lässt sich auf der einen Seite, wie der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Marcel Finke (2007) nahelegt, Semiosis nicht ohne Aisthesis denken, kann es sich auf der Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 21 anderen Seite eine performative Ästhetik nicht erlauben, das Ziel der Restituierung der spezifisch-ästhetischen Erfahrung an eine universale Semiotik-Kritik zu knüpfen. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. 2003: Ästhetische Theorie, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Apel, Karl-Otto 1975: Der Denkweg von Charles Sanders Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1990: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Barthes, Roland 1964: Mythen des Alltags, übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Belting, Hans 2004: “Das Bild als anthropologisches Phänomen. Interview mit Hans Belting”, in: Sachs-Hombach, K. (Hrsg.) 2004: Wege zur Bildwissenschaft. Interviews, Köln: Herbert von Halem, 116-125 Benjamin, Walter 2007: Aura und Reflexion. Schriften zur Kunsttheorie und Ästhetik, ausgewählt und mit einem Nachwort von Hartmut Böhme und Yvonne Ehrenspeck, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Benjamin, Walter 1963: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 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Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt/ M: Suhrkamp Gumbrecht, Hans Ulrich 2004: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Halawa, Mark A. 2008: Wie sind Bilder möglich? Argumente für eine semiotische Fundierung des Bildbegriffs, Köln: Herbert von Halem Hardwick, Charles S. (Hrsg.) 1978: Semiotic and Significs. The Correspondence between Charles S. Peirce and Victoria Lady Welby, Bloomington u.a.: Indiana University Press Holenstein, Elmar 1992: “Einführung: Semiotica universalis”, in: Jakobson, Roman 1992: Semiotik. Ausgewählte Texte (1919-1982), hrsg. von Elmar Holenstein, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 9-38 Jakobson, Roman 2005: Poetik. Ausgewählte Aufsätze (1921-1971), hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Jakobson, Roman 1992: Semiotik. Ausgewählte Texte (1919-1982), hrsg. von Elmar Holenstein, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Jakobson, Roman 1933: “Vom Stummzum Tonfilm: Verfall des Films? ”, in: ders. 1992: Semiotik. Ausgewählte Texte (1919-1982), hrsg. von Elmar Holenstein, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 256-266 Jäger, Ludwig 2004: “Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen”, in: Krämer, Sybille (Hrsg.) 2004: Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink, 35-73 Mark A. Halawa 22 Kant, Immanuel 1974: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Mersch, Dieter 2002 a: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Wilhelm Fink Mersch, Dieter 2002 b: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Mersch, Dieter 2001: “Aisthetik und Responsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung”, in: Fischer Lichte, Erika u.a. 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Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, mit einem Vorwort von Ilya Prigogine, hrsg. und eingel. von Helmut Pape, übersetzt von Bertram Kienzle, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 421-430 Peirce, Charles Sanders 1903 b: “Aus den Pragmatismus-Vorlesungen”, in: ders. 1970: Schriften II: Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, mit einer Einführung hrsg. von Karl-Otto Apel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 299-388 Peirce, Charles Sanders 1903 c: “Pragmatism as the Logic of Abduction”, in: ders. 1998: The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, Volume 2 (1893-1913), hrsg. durch das Peirce Edition Project, Bloomington / Indianapolis: Indiana University Press, 226-241 Peirce, Charles Sanders ca. 1890: “Notizen über Evolution und die Architektonik von Theorien”, in: ders. 1991: Naturordnung und Zeichenprozess, mit einem Vorwort von Ilya Prigogine, hrsg. und eingel. von Helmut Pape, übersetzt von Bertram Kienzle, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 126-140 Peirce, Charles Sanders 1878: “Wie unsere Ideen zu klären sind”, in: ders. 1967: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus, mit einer Einführung hrsg. von Karl-Otto Apel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 326-358 Peirce, Charles Sanders 1877: “Die Festlegung einer Überzeugung”, in: ders. 1967: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus, mit einer Einführung hrsg. von Karl-Otto Apel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 293-325 Peirce, Charles Sanders 1868 a: “Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen, die man für den Menschen in Anspruch nimmt”, in: ders. 1967: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus, mit einer Einführung hrsg. von Karl-Otto Apel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 157-183 Peirce, Charles Sanders 1868 b: “Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen”, in: ders. 1967: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus, mit einer Einführung hrsg. von Karl-Otto Apel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 184-231 Saussure, Ferdinand de 3 2001: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye, übersetzt von Herman Lommel, mit einem Nachwort von Peter Ernst, Berlin u.a.: Walter de Gruyter Scholz, Oliver R. 2003: “Semiotik und Hermeneutik”, in: Posner, Roland, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (Hrsg.) 2003: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 3. Teilband, Berlin u.a.: Walter de Gruyter, 2511-2561 Seel, Martin 2003: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Seel, Martin 2002: “Ästhetik und Hermeneutik. Gegen eine voreilige Verabschiedung”, in: ders. 2007: Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 27-38 Spielmann, Till 2002: Die Irreduzibilität der triadischen Zeichenrelation. Eine Studie zu Charles Sanders Peirces Programm einer dreistelligen Semiotik, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Essen Waldenfels, Bernhard 2007: Antwortregister, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Anmerkungen 1 Die von Bredekamp erwähnte “Doppelbestimmung” von Anschauung und Begriff findet sich in Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Dort heißt es: “Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriff sind blind” (Kant 1974: 99 [= A 52/ B 76, 77]). Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose 23 2 Es sei darauf hingewiesen, dass sich in Böhmes Semiotik-Kritik einige Ungenauigkeiten finden lassen, die hier lediglich skizziert werden können: Mitnichten handelt es sich bei der Semiotik um eine Disziplin, die ihren Ursprung allein der Analyse der Sprache und damit der Linguistik zu verdanken hat. Man vergegenwärtige sich etwa, dass Ferdinand de Saussure (als der wohl einflussreichste Vordenker einer am Modell der Sprache orientierten Zeichentheorie) die Semiologie keinesfalls der Linguistik unterordnete. Als “eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht”, bildet die Semiologie Saussure zufolge “einen Teil der Sozialpsychologie und infolgedessen einen Teil der allgemeinen Psychologie” (Saussure 3 2001: 19). Die Sprachwissenschaft hingegen ist für ihn “nur ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft [gemeint ist die Semiologie; M.A.H.]” (ebd.). Kurz: Vor dem Hintergrund der Saussureschen Zeichenlehre (zumindest derjenigen, die bekanntlich anhand von Vorlesungsmitschriften überliefert ist), auf die Gernot Böhme mit seiner Äußerung sicherlich unter anderem abzielte, wäre es wesentlich passender gewesen, die Semiologie als einen Teilaspekt der (Sozial-)Psychologie und die Linguistik als einen Teilaspekt der Semiologie aufzufassen. Ebenfalls bedenklich an Böhmes Bemerkungen ist die in der gegenwärtigen ästhetischen Debatte leider weit verbreitete Unterschlagung der Tatsache, dass der Begriff des Zeichens durchaus auch losgelöst von dem der Sprache untersucht worden ist - man denke etwa an die Semiotik Charles Sanders Peirces, auf die im dritten Kapitel des vorliegenden Aufsatzes näher eingegangen werden wird. 3 Obgleich sich Seel durch eine Affinität für eine Präsenzästhetik charakterisiert, distanziert er sich, anders als die Mehrheit seiner theoretischen Mitstreiter, ausdrücklich von einer absoluten Zurückweisung hermeneutischer und semiotischer Konzepte in der allgemeinen Ästhetik. Cf. dazu den Aufsatz “Ästhetik und Hermeneutik. Gegen eine voreilige Verabschiedung” (2002). 4 Dass die Dominanz des Rationalismus und Repräsentationalismus eng mit der Philosophie Descartes zusammenhänge und sich damit in den Geisteswissenschaften eine Untersuchung der “Produktion von Präsenz” (im Gegensatz zu der von “Repräsentation”) über Jahrhunderte verbeten habe, ist eine der Hauptthesen, die der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in seinem vielbeachteten Buch Diesseits der Hermeneutik vorbringt (Gumbrecht 2004: 34, 50 f.; cf. dazu außerdem die Ausführungen in Mersch 2002 a: 217). 5 Cf. dazu exemplarisch die Arbeiten von Foucault 9 2003, 1974. 6 Zum Begriff der Aisthesis cf. auch die Arbeiten von Gernot Böhme (1995, 2001), auf den sich Mersch immer wieder bezieht. 7 Cf. Anm. 8. 8 Jäger (2004: 41) geht etwa davon aus, dass das Moment der “Störung” hinsichtlich der “sprachlichen Sinnproduktion” ein “zentrales Verfahren” darstellt, es demnach gerade nicht als eine “unerwünschte Aberration”, sondern ganz im Gegenteil als “konstitutives Element der Redeentfaltung aufzufassen ist”. Widerständigkeiten bzw. Phänomene der “Störung” stellen sich damit als “ein semiologisch produktiver Operator” (ebd.: 48) heraus. Als bedeutsam erweist sich diese These unter anderem aus zwei Gründen: Zum einen führt sie zu einer Relativierung der bisweilen harschen Kritik, die der sprachlogischen Semiologie in weiten Teilen der zeitgenössischen Geistes- und Kulturwissenschaften entgegengebracht wird. Zum anderen deckt sie sich weitestgehend mit den Überlegungen, die im weiteren Verlauf dieses Essays in Rekurs auf die Semiotik von Charles Sanders Peirce vorgetragen werden (cf. Kap. 3). 9 Cf. dazu das Kapitel “Das Zeichen als Elementarteilchen der Erkenntnis” in Halawa 2008: 54-63. 10 Auf die Wichtigkeit dieses Aspektes für die Peircesche Philosophie und Zeichenlehre weisen in hervorragender Weise die Beiträge von Till Spielmann (2002) und Helmut Pape (2000: 25) hin. 11 Cf. dazu etwa folgende Bemerkung Peirces: “[…] wo immer es Denken gibt, gibt es Drittheit” (1983: 58). 12 Obgleich Peirce in seinem Werk alleine schon aus relationslogischen Gründen der These von der Irreduzibilität stets treu geblieben ist, lässt sich, wie Karl-Otto Apel deutlich macht, sicherlich nicht leugnen, dass die kategorialen Schwerpunkte innerhalb des Peirceschen Denkens im Laufe der Jahre unterschiedlich gewichtet wurden. Was die Periode betrifft, in der Peirce seine Pragmatismus-Vorlesungen hielt, so lässt sich festhalten, dass spätestens jetzt die Irreduzibilitätsthese insofern entschieden ernst genommen wird, als neben der Drittheit und der Zweitheit nunmehr deutlicher als je zuvor die grundlegende Funktion der Erstheit für den Erkenntnisprozess in den Vordergrund gerückt wird. Das heißt: Neben der “Vermittlung zwischen dem Hier und Jetzt der individuellen brute facts [Zweitheit; M.A.H.] und dem Allgemeinen [Drittheit; M.A.H.]” (Apel 1975: 317) nimmt für Peirce ebenfalls “die Erfahrung des qualitativen Soseins [Erstheit; M.A.H.] der Tatsachen, die hier und jetzt lediglich mit dem Ich zusammenprallen, nicht aber als etwas begegnen” (ebd.: 318, Hervorhebung im Original), einen absolut gleichwertigen Platz in der Kategorientafel ein. Von Bedeutung ist dieser Aspekt unter anderem deshalb, weil mit dem Fehlen des “als etwas” deutlich wird, dass der von Mersch verteidigte Modus des “Dass” (quod) in der Tat spätestens mit den Pragmatismus-Vorlesungen von 1903 fest in die Kategorienlehre Mark A. Halawa 24 integriert ist. Die Peircesche Kategorientafel greift also nicht erst, sobald der Modus des “Was” (quid), der in der Drittheit aufgeht, erfüllt ist - täte sie dies, beginge sie, wie Peirce im Falle der Hegelschen Philosophie kritisierte (cf. dazu den weiteren Text oben), durch die Hypostasierung einer der drei Kategorien (hier: der Drittheit) einen Kategorienfehler. 13 Überall dort, wo es die diesem Text zugrundeliegenden Quellen ermöglichen, ebenfalls die entsprechenden Angaben aus den Collected Papers von Charles Sanders Peirce zu nennen, wird auf die in der Peirce-Forschung gebräuchliche Notation zurückgegriffen. Die erste Ziffer nennt demnach den entsprechenden Band der Collected Papers (hier: Band 5), während die dem Punkt folgenden Ziffern den entsprechenden Abschnitt (hier: die Abschnitte 82 bis 92) bezeichnen. 14 Cf. in diesem Zusammenhang erneut die oben zitierte Passage von Helmut Pape zu den Begründungszusammenhängen der drei Kategorien. 15 “Folgerung [d.h.: Drittheit; M.A.H.] ist wesentlich bewußt und unterliegt der Selbst-Kontrolle. Jede Operation, die nicht kontrolliert werden kann, jede Schlußfolgerung, die nicht verworfen wurde, ist, nicht nur wenn Kritik gegen sie geäußert wurde, sondern auch in dem Akt der Äußerung jenes Dekrets, nicht von der Art der rationalen Folgerung - ist nicht Schließen. Bewußtes Schließen ist wesentlich kritisch, und es ist müßig, das als gut oder schlecht zu kritisieren, was nicht kontrolliert werden kann” (Peirce 1991: 71, CP 5.108, Hervorhebungen im Original). Auf die ethischen Implikationen, die diese Äußerungen mit sich bringen, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingegangen werden. 16 Im Falle dieses Zitats greife ich auf die Übersetzung in der von Karl-Otto Apel herausgegebenen Peirce-Ausgabe zurück, da sie, anders als im Falle der von Elisabeth Walther übersetzten und herausgegebenen Pragmatismus- Vorlesungen, näher an die ursprüngliche Formulierung heranreicht. So ist in der englischen Originalfassung von einer “extremely fallible insight” die Rede (Peirce 1903 c: 227). 17 Zum Zusammenhang von Synechismus und Tychismus cf. die Ausführungen in Peirce (ca. 1890). 18 Mersch schließt in diesem Zusammenhang insofern an das Denken Benjamins an, als auch er zum einen von einem Verlust der Aura überzeugt ist und er diesen zum anderen mit dem Einfluss des semiotischen Paradigmas in Zusammenhang bringt (cf. Mersch 2002 b: 106 f., wo von einer “Zerstörung des Auratischen die Rede ist”). 19 Auf den Zusammenhang von Semiotik (der Lehre von den Zeichen) und Hermeneutik (der Lehre vom Verstehen) kann hier nicht näher eingegangen werden (cf. dazu die Ausführungen in Scholz 2003). Text - Bild - Körper Vilém Flussers medientheoretischer Weg vom Subjekt zum Projekt Michael Hanke Vilém Flusser’s media theory reflects comprehensively upon the entire evolution of media from the very production of tools to early cave painting and on to the so called ‘technoimages’ and digital culture. The process of abstraction in the course of media evolution leads to elements that cannot be any longer minimized and which again allow for the invertion of the process in the form of medial design; in the new media culture, man is no longer object or subject, but project. Thus, the last step of this process is not only the designing of images, but also of objects and bodies. The following contribution presents Flusser’s media theory in respect to this latest level with which Flusser anticipates the current developments. Vilém Flussers Medientheorie umfasst empirisch nicht weniger als die gesamte Medienevolution, angefangen von der Werkzeugherstellung über die frühe Höhlenmalerei bis zu den so genannten ‘Technobildern’ und dem Digitalen. Die schrittweise Abstraktion auf dem Weg medialer Evolutionsstufen führt zu nicht mehr weiter verkleinerbaren Elementen, die wiederum eine Umkehr des Prozesses in Form medialer Gestaltung ermöglichen; in der neuen Medienkultur ist der Mensch nicht mehr Objekt oder Subjekt, sondern Projekt, denn auf der letzten Stufe dieses Weges steht das Designen bzw. die Entwerfbarkeit nicht nur von Bildwelten, sondern auch von Objekten und Körpern. Der folgende Beitrag skizziert Flussers Medientheorie im Hinblick auf diese letzte Stufe, mit der Flusser die historisch aktuelle Entwicklung vorwegnahm. 1 Vorbemerkung Vilém Flusser, nach allgemeiner Einschätzung ein einflussreicher Theoretiker und Pionier der Medienphilosophie (Grube 2004; Fahle/ Hanke 2009; Leschke 2003: 273-285; Mersch 2006: 136-154; Pias et al. 2004; Rosner 1997), gilt darüber hinaus auch als Kunst- und Fotografietheoretiker, Wissenschafts- und Kulturphilosoph, Kommunikations- und Kulturtheoretiker, und allgemein als Philosoph, je nach Standpunkt und Vereinnahmungsinteresse als jüdischer, Prager, brasilianischer oder deutscher Philosoph. 1 Diese Sichtweisen auf Flusser reflektieren auch die Bandbreite seiner Interessen und Blickwinkel, die, so die hier zugrunde gelegte Auffassung, in einer semiotisch grundierten Kommunikationstheorie ihren gemeinsamen Fluchtpunkt finden. Sie beinhaltet eine breit angelegte Medientheorie, für die Text und Bild, d.h. ein- und zweidimensionale Medien, zentrale Größen sind, und die die Evolution der Medien von der archaischen Bildpraxis zur linearen Schrift analysiert, und von hier, über die K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Michael Hanke 26 Fotografie, der Schnittstelle des Medienumbruchs zu den technischen Bildmedien, die Verbindung bis zur digitalen Gegenwart zieht. Weil diese Kulturtechniken und -praxen als Mediationen zwischen Mensch und Welt gelten, betreffen sie auch, worin die kulturanthropologische Komponente zum Tragen kommt, die Stellung des Menschen in der Welt und somit seinen Körper, wie im Folgenden weiter entfaltet wird. 2 Kommunikologie Flussers Kommunikationstheorie, die Kommunikologie (Flusser 1998a: 230f.) ist “die Lehre von der menschlichen Kommunikation, dem Prozess, dank welchem erworbene Informationen gespeichert, prozessiert und weitergegeben werden” (Bochumer Vorlesungen, Online Edition, Flusser Archiv Berlin, I1a01). Für sie ist die Feststellung programmatisch, dass Macht nicht mehr durch Besitz, sondern durch Information ermöglicht wird, und dass nicht mehr Ökonomie, sondern Kommunikation den Unterbau der Gesellschaft bestimmt (Flusser 1997: 155). Ihr Feld reicht von der zwischenmenschlichen, dialogischen Kommunikation bis hin zu ihren verschiedenen medialen Formen, und Flussers Werk spiegelt diese Breite wider, steht doch am Anfang seiner Entwicklung das Interesse an Sprache und Sprachphilosophie, später das Universum der technischen Bilder und der telematischen Informationsgesellschaft. Als ‘audiovisuelle Kommunikation’ (Kino, Fernsehen, Radio etc.) war das Thema Bild schon 1963 eine Komponente, die gemeinsam mit sprachlicher Kommunikation das Komplement zur Gesamtheit der Kommunikationsphänomene bildete; dabei wurden Grundbegriffe wie ‘Zeichen’, ‘Symbol’, ‘Bedeutung’, ‘Gedächtnis’, ‘Diskursuniversum’ und ‘Codes’, also die semiotische Basis der Kommunikationstheorie, und die Begriffe ‘Denotation’ und ‘Konnotation’ sowie allgemeiner von Sprachphilosophie und Logik zu festen Bezugsgrößen. Beeinflusst wurde Flusser hierbei zunächst von der Kybernetik mit ihren Begriffen von Entropie und Information, aber auch von Ernst Cassirer und seiner Theorie der symbolischen Formen, von der Dialogphilosophie Martin Bubers, sowie von den Arbeiten Ludwig Wittgensteins und Martin Heideggers, um nur einige zu nennen (vgl. hierzu jeweils die Beiträge in Fahle/ Hanke/ Ziemann 2009). Flussers Kommunikationsbegriff ist somit nicht informationstheoretisch verkürzt, sondern anthropologisch fundiert und philosophisch in vielfältiger Weise angereichert. Die damit verbundene Sensibilität für den Zusammenhang von Kommunikation und Kultur sowie, unter veränderten medialen Bedingungen, der Medienkultur, macht seinen Kommunikationsbegriff heute noch aktuell und in fruchtbarer Weise anschlussfähig. 3 Emergenzen kultureller Evolution und das Universum der technischen Bilder Nach Flussers philosophischer Anthropologie gestaltet der Mensch, als ‘Mängelwesen’ von Natur aus nur sparsam ausgestattet, seine Lebenswelt durch Kulturtechniken weitgehend selbst, wobei sich dem Menschen durch diese Evolution bzw. “Folge von Emergenzen” (Flusser 1998b: 76) über eine “Stufenleiter von Abstraktionen” sukzessiv neue symbolische Welten oder “abstrakte Universen” eröffnen. Aus dem Naturzustand des ungeschiedenen vierdimensionalen Lebensraums heraus wird als erste kulturelle Entwicklungsstufe das dreidimensionale Universum der Objekte entwickelt. Indem diese als zu behandelnde Gegenstände zu Problemen werden, bildet sich auch das Subjekt heraus, das diese umformt, ‘informiert’ und manipuliert. Technik, auch im Sinne Text - Bild - Körper 27 von Kulturtechniken, ist ‘die Methode der Freiheit’, dementsprechend zu handeln. Wenn die Epochen nach dem Material eingeteilt werden, aus dem Werkzeuge gemacht wurden, zeigt dies, “dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Technik ist” (Bochumer Vorlesungen, Online Edition, Flusser Archiv Berlin, I1a01). Schon das Steinschlagen gilt als technische Geste (Flusser 1994: 138), gilt Technik doch als theoriegeleitete Überwindung von Sein und Sollen: Der vorgefundene Stein wird nicht so akzeptiert, wie die Natur ihn erschaffen hat, sondern er wird umgeformt, gestaltet, und zwar gemäß gewissen Vorstellungen und Zielen. ‘Welt’ (unsere Lebenswelt) und ‘Subjekt’ (ihre Bewohner) sind das Ergebnis einer sich in technischer Arbeit realisierenden Beziehung (Flusser 1994: 143), der das Entwerfen - und damit Kreativität in ihren zahlreichen Ausprägungsformen - immer schon eingeschrieben ist. Die Subjekte entwickeln in der Folge von dieser Welt Vorstellungen - Repräsentationen - und zu realisierende Werte, die wiederum intentionales und wertbezogenes Handeln ermöglichen. Bloße Vorstellungen von Objekten, wie sie auf dieser Stufe ermöglicht werden, sind jedoch beschränkt auf das Subjekt und den Zeitpunkt ihres Vorkommens, also nur beschränkt kommunizierbar. Dies betrifft auch die Weitergabe von Kultur zwischen den Generationen, eine der wichtigen Funktionen von Kommunikation. Erst als bildhafte Darstellungen, wie mit dem Beginn der Höhlenmalerei, werden solche Vorstellungen und Wissenselemente intersubjektiv und funktional für eine Gemeinschaft; es ist diese Erweiterung der Repräsentationsleistung des Subjektes um seine Bildfähigkeit, die das zweidimensionale Universum der Flächen bzw. ‘imaginären Welt’, der traditionellen, vortechnischen Bilder (Höhlenmalereien, Fresken, Mosaiken, Kirchenfenster, Gemälde usw.) eröffnet. Das zweidimensionale Universum der Bilder und Flächen ist als Evolutionsstufe zwar ein Fortschritt, aber kein Endpunkt; auf sie folgt die Schrift. Sie bedient das Bedürfnis nach ordnenden und erklärungsmächtigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und Kausalität, und dieses neue Universum der Schrift und der Geschichte ist linear, eindimensional und ermöglicht die narrative und prozessuale Logik mit Anfang und Ende, Ursachen und Folgen, sowie in deren Folge “die begriffliche Welt” und “das konzeptuelle Universum der Texte, der Rechnungen, der Erzählungen und Erklärungen, welche als Projekte für nichtmagisches Handeln dienen” (Flusser 1985: 13). Es manifestiert sich bereits in normativen Tafeln etwa zur Regulierung der Flusskanalisation und ermöglicht allgemein die entwerfende Einstellung wie auch die rechnerische und das theoretische Entwerfen von Modellen für künftiges Verhalten. Die letzte Abstraktionsstufe ist das nulldimensionale Universum der Punktelemente, der Partikel, Quanten, Gene, Informationsbits, Entscheidungsmomente und Aktome. Als digitale können diese Punktelemente kalkuliert und komputiert werden, und auf ihnen basiert die “sekundäre imaginäre Welt” (Flusser 1998b: 76) des Universums der technischen Bilder (Flusser 1985: 14), bestehend aus Fotografien, Filmen, Video, Fernsehen, Kino, sowie auch Röntgenbildern und Computermodellen. Auf allen Stufen fungieren die jeweiligen Kulturerrungenschaften - Werkzeuge, Bilder, Texte und technische Bilder - als Mediationen zwischen dem Menschen und der durch den Abgrund der Abstraktion verlorenen Umwelt. Das “Verneinen der Lebenswelt” in ihrer vorgefundenen Form hat ihre Veränderung und Gestaltung zur Folge, “und diese Einstellung hat, Schritt für Schritt, die materielle Kultur der Werkzeuge, die imaginäre Kultur der Abbilder, die historische Kultur der Texte und schließlich die immaterielle Kultur der Algorithmen gezeitigt […]” (Flusser 1993a: 309). Michael Hanke 28 Mit den Evolutionsstufen geht jeweils die Entwicklung bestimmter Kompetenzen oder ‘Bewusstseinsebenen’ einher: ‘Tatkraft’ bei der Werkzeugherstellung, ‘Vorstellungskraft’ bei der Bildherstellung, ‘Begriffskraft’ bei der der Texte. Die Erzeugnisse und ihre jeweiligen Bewusstseinsstufen verstärken sich wechselseitig, z.B. “[ruft] die Geste des Schreibens […] Begriffskraft hervor, und die Begriffskraft verstärkt sich durch Schreiben.” Auch ersetzt keine der neu ausgeformten Stufen die vorangegangene, sondern jede “wird auf die nächste ‘aufgehoben’”, weshalb auch keineswegs “von einem Verdrängen der traditionellen Bilder und Texte durch die technischen Bilder zu sprechen ist”, sondern vielmehr “von einer radikalen Änderung dieser beiden Mediationen” (Flusser 1998b: 78). Der Zeitpfeil dieser kulturellen Evolution verläuft in eine Richtung vom Konkreten ins Abstrakte (Flusser 1985: 10) und ist in diesem Sinne progressiv, ‘Fortschritt’; eine Rückkehr gibt es nicht, weil es “unmöglich (ist), Verfremdungen ungeschehen zu machen (naiv sein zu wollen)” (Flusser 1998a: 155). Es bleibt nur der Aufbruch nach vorne auf die nächste Stufe. Wir können, was insbesondere für uns heute relevant ist, von der nulldimensionalen Ebene ausgehend ‘Projekte entwerfen’, also durch Komputation von Punktelementen Texte, Bilder, Objekte und Körper entwerfen und somit unsere Welt verändern bzw. gestalten; auf der linearen Ebene können wissenschaftliche Theorien, Modelle und Entwicklungen unter Veränderung unterschiedlicher Variablen simuliert werden (etwa zum Klimawandel); auf der zweidimensionalen Ebene können Bilder entworfen werden (von Häusern oder unserer eigenen Persönlichkeit), und die nächste Computergeneration wird auch in die Objekte und Körper vordringen. Es handelt sich um ein “Umdrehen der Abbilder in Vorbilder” (Flusser 1993a: 311). Das sogenannte Leben lässt sich, nur um zwei besonders erregende Beispiele anzuführen, nicht nur in Partikel, in Gene, analysieren, sondern die Gene können dank der Gentechnologie auch wieder zu neuen Informationen zusammengesetzt werden, um ‘künstliche Lebewesen’ zu erzeugen. Oder Computer können alternative Welten synthetisieren, die sie aus Algorithmen, also aus Symbolen des kalkulatorischen Denkens, projizieren und die ebenso konkret sein können wie die uns umgebende Umwelt (Flusser 1993a: 281). 4 Zeitdiagnose: Krise der Linearität, Kommunikationsrevolution und Entstehung des neuen Universums Wenn sich Flussers zweites Buch von 1965 an einer Philosophie der Sprache versucht, und eines seiner bekannteren von 1983 an einer Philosophie der Fotografie, so spiegelt sich hierin die Bandbreite seines Interesses vom Text zum Bild und damit auch seiner Kommunikationstheorie. Relevant an der Fotografie ist ihre paradigmatische Funktion für alle technischen Bildmedien, denn damit wird ein neuer Medientypus geschaffen, der in der Folge stufenweise ausgebaut und perfektioniert, beschleunigt und mit erhöhter Speicherkapazität ausgestattet wird, vom Analogen zum Digitalen fortschreitend. 2 Zwar wird der gesprochenen Sprache, “wahrscheinlich die älteste […] unter allen Symbolen”, als wichtigstem unter den Codes eine “hervorragende Rolle” (Flusser 1998a: 79) zugeschrieben, jedoch befindet sie sich nicht im Zentrum der gegenwärtigen Lage, “the present revolution in communication [the emergence of technical images (photos, films, videos, and computer images)] is having on our mental and social structures.” (Brief vom 7.2.1985, Flusser Archiv Berlin) Unter den in ihrer Gesamtzahl tatsächlich unerschöpflichen Codetypen hält Flusser in diesem Zusammenhang explizit drei für relevant: Bild, Text und Technobild (Flusser 1998a: 106). Text - Bild - Körper 29 Der Vorgang dieser so benannten “Kulturrevolution” (Flusser 1993a: 147), “Wende” (Flusser 1993a: 11) oder “Krise” (Flusser 1993a: 17) ist, wie alle solche Vorgänge, eingebunden in den allgemeinen Prozess der Medienevolution. Als bedeutsam für die gegenwärtige Lage gilt die Tatsache, dass diese “durch eine radikal neue Form von Codes erreicht wird, nämlich durch Technobilder”, bringen diese doch eine “neue Daseinsform” hervor, nämlich eine “Umkodierung der Welt und einer Umprogrammierung des Lebens darin” (Flusser 1998a: 49). Technische Bilder beenden Geschichte in ihrem durch Schrift geprägten Sinn und begründen daher die neue Epoche der ‘Nachgeschichte’ oder ‘posthistoire’ (Flusser 1993a: 314) - zwei Ausdrücke, die Flusser erstmals bereits 1967 gebraucht hat, um unsere Gegenwart auf einen Begriff zu bringen (Flusser 1993b: 142); jetzt sind es nicht mehr das Alphabet und die Pressekultur, sondern die Codes der Flächen (Bilder), die im posttypographischen Zeitalter des Technoimaginären dominieren. Wie bei dem Übergang von archaischer Bildzu Schriftkultur stehen wir heute bei den technischen Bildern an einem ähnlichen Medienumbruch, einer neuen Stufe kultureller Emergenz. Ausgeformt wird eine solche neue Stufe, wenn die vorherige aufgrund der - in Termini des 19. Jahrhunderts ausgedrückt - “inneren historischen Dialektik der Mediationen” (Flusser 1998a: 108), als “einer sich ihrer Struktur selbst bewusst werdende Denkart” (1998a: 107f.), ihre Vermittlungsleistung gegenüber der Welt verliert. So wie das bildgebundene magische Bewusstsein seine Vermittlungsfähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt einbüßte, der Mensch sich hiervon entfremdete und einen neuen Standpunkt gewann, den des historischen Bewusstseins und der Texte, so stehen wir heute an demselben Punkt der Entfremdung von den Texten und ihrem historischen Bewusstsein. Entscheidend bei Flussers Diagnose ist, dass wir in der Abfolge der Mediationen dabei sind, die alte Stufe der Texte bzw. des linearen, wissenschaftlich-kausalen Denkens hinter uns zu lassen, zugunsten einer neuen, charakteristischerweise durch Bilder geprägten, die nur oberflächlich der früheren Bilderstufe gleicht, tatsächlich aber das Resultat einer langen Phase wissenschaftlicher und technisch-technologischer Entwicklung ist, aus deren Fundierungszusammenhang sie nicht herausgelöst werden kann. In die technischen Bilder geht die gesamte Entwicklung der Wissenschaft als Subtext ein, weshalb sie einer anderen, abstrakteren Bewusstseinsebene als die vorangegangenen entspringen, dem der kalkulier- und komputierbaren Elemente (Flusser 1985: 183). Die Perspektive auf Medien erfolgt bei Flusser von einer philosophischen Gegenwartsreflexion aus, die epistemologisch ausgerichtet und radikal semiotisch ist: Der Übergang zur Moderne und zur Postmoderne ist bewirkt durch das Umkodieren von Buchstaben in Zahlen und Algorithmen (als Wendepunkt dieser Entwicklung gilt Flusser Nikolaus von Kues). Dieses numerische Denken, epistemologische Grundlage der Neuzeit und Einbruch des Technischen zugleich, ist zwar immer tiefer in die Dinge vorgedrungen, dabei aber anstatt auf einen Grund auf eine immer feinere Partikulierung gestoßen. Beispiele sind das physikalische Weltbild, das nicht mehr sinnlich ist, sondern vielmehr eine Projektion des numerischen Denkens, das von der Neurophysiologie beschriebene digitale Prinzip der Reizwahrnehmung, wonach das Ich essenziell aus dem Prozessieren von kodierten Daten zu Wahrnehmungen besteht, und die von der Psychologie bewirkte Auflösung des Ich in bewusste und unbewusste Ebenen. Mit dem Abbau des Glaubens an die Solidität der Dingwelt ging auch derjenige an die Solidität des Subjekts einher. Die Auflösung der Dinge schlägt auf das Denken zurück, sodass das neuzeitliche numerische Denken auch den neuzeitlichen Glauben von innen her auflöst. Das Umkodieren des Denkens, das zu Wissenschaft, Technik und Aufklärung führte, erweist “sich als ein mörderisches und selbstmörderisches Unternehmen”, sowohl auf Michael Hanke 30 theoretischer wie praktisch-politischer Ebene. “Auschwitz, Hiroshima, Umweltverschmutzung und nukleare Drohung” (Flusser 1994: 15). Flusser zitiert hier affirmativ die Tradition des Kulturpessimismus von Nietzsche über die Existenzphilosophie zu Barthes, Foucault und Baudrillard. 5 Körper Der Kulturpessimismus mache die Kritiker der Kultur jedoch blind für das Neue, so Flusser (Flusser 1994: 23). Der Prozess des Umkodierens muss nicht zwingend in die besagte Richtung verlaufen, denn das ihm ursprünglich zugrunde liegende Motiv war es, eine neue Haltung gegenüber der Welt und dem Leben einzunehmen. Die Nulldimensionalität hat nicht nur die fortgeschrittene Kalkulierbarkeit des Menschen zur Folge (als physische, physiologische, mentale, soziale und kulturelle Sache); vielmehr ist zugleich mit dem Analysieren auch das Komputieren entstanden, das Synthetisieren von neuen Strukturen. Zersetzen (Analyse) ist die eine Richtung, Synthese, das Projizieren alternativer Welten und Menschen, die andere - Ergebnis einer Gegenwartsdiagnose, die sich auch nahezu wörtlich so bei Niklas Luhmann findet. 3 Aus der totalen Abstraktion führt der Weg zurück ins Konkrete, als “neue Praxis des Komputierens und Projizierens von Punktelementen zu Linien, Flächen, Körpern und uns angehenden Körpern” (Flusser 1994: 22). Der Mensch wird, so der programmatische Titel von Flussers letztem posthum publizierten Buch ‘Vom Subjekt zum Projekt’ oder, so ein anderer Aufsatztitel, ‘Vom Unterworfenen zum Entwerfer von Gewohntem’ (Flusser 1989): “Aus Subjekten werden wir zu Projekten. Wir beginnen, mühselig und stümperhaft, uns aus der Unterworfenheit aufzurichten” (Flusser 1989: 8f.). Subjekt und Objekt, Ich und Welt, sind keine ontologisch vorgegebenen Größen, sondern abgeleitete, und zwar von einem diesen Größen vorgelagerten Kommunikationsprozess. Indem der Mensch sich selbst zum Projekt erhebt, emanzipiert er sich von den Zwängen der Subjekt-Objekt-Konstellation und verwirklicht so das spezifisch Menschliche; Projizieren ist daher gleichbedeutend mit menschlicher Freiheit und steht im Gegensatz zum operieren und der Arbeit, und ‘Entwerfen’ ist somit die zentrale Kategorie dieser Utopie Vom Subjekt zum Projekt. Die Liste des zu Entwerfenden, dem jeweils ein Kapitel dieses Buches gewidmet ist, umfasst Städte, Häuser, Technik, Arbeit, Familien, Körper, Sex und Kinder (dies entspricht ungefähr der materiellen und sozialen Kultur). Diese setzen an bei den technischen Bildern, sind diese doch die ersten bereits geleisteten Projektionen aus der neuen Lebenseinstellung heraus. Leib und Körper zählen zu den Themen, mit denen sich Flusser, auch in Verbindung mit seiner Medientheorie, immer wieder beschäftigt hat, obwohl dies von seinen Verlegern kaum berücksichtigt wurde (Wagnermaier 2002: 113). Von dieser “Vielzahl bislang unbekannter Schriften im Körperkontext” (Wagnermaier 2002: 114) vermitteln selbständig publizierte Texte wie Von den Möglichkeiten einer Leibkarte (Flusser 2002b) und Haut (Flusser 2003) einen Eindruck. Der Körper bezieht seine Relevanz aus der biologischen Vernetzung, zugleich markiert er die letzte Grenze der gestalterischen und informationellen Selbstbestimmung. Zudem bedingt er Außen und Innen, Aus- und Eindruck, er ist die Schnittstelle zwischen Subjekt und objektiver Welt. Um mich in der Welt zu orientieren, muss ich mich zuvor in meinem eigenen Leib orientieren, und “[d]as eben macht die Welt zu meiner Lebenswelt: dass mein Leib zwischen ihr und mir vermittelt” (Flusser 2002b: 115). Die Instanzen, die die Interaktion zwischen Leib und Lebenswelt gewährleisten (etwa Seh- und Tastsinn) und die die Leibeserfahrungen und Text - Bild - Körper 31 den Empfang von Botschaften ermöglichen, sind “Medien”; sie stehen auf der Grenze zwischen Innen und Außen (Flusser 2002b: 117). Daher auch die Relevanz der Haut: Sie ist “die Grenze zwischen mir und der Welt” (Flusser 2006: 1). Und sie wird zu den - zweidimensionalen - Oberflächen gerechnet (Flusser 2006: 10), denen Flusser besondere Aufmerksamkeit zuwandte (Flusser 1993a). Warum aber, so fragt Flusser, sollen überhaupt alternative Körper entworfen werden? Weil der gegebene Körper als Resultat eines Jahrmillionen währenden Würfelspiels nicht überzeugend ausfällt. Die funktionelle Armut der Organe war dem Menschen immer bewusst, weshalb die ganze materielle Kultur als der Entwurf eines künstlichen Körpers angesehen werden kann, der sich dem natürlichen aufsetzt (Flusser 1994: 91). Weil die Reichweite der Körpersinne als unbefriedigend, die Wahrnehmung als auf zu enge Ausschnitte der Umgebung beschränkt empfunden wurde, die Ausweitung der Raum- und Zeitkategorien über das sinnlich direkt Wahrnehmbare hinaus für das Überleben aber essenziell war, hat sich der Mensch mit der Körperarmut nie abgefunden und Körperfunktionen durch andere überholt (so wurde die Hebelaus der Armfunktion abstrahiert und effizienter gemacht). Der Übergang vom natürlichen zum künstlichen Körper korrespondiert also mit dem vom Tierischen zum spezifisch Humanen (Flusser 1994: 92), und weil das Engagement für Informationserweiterung typisch für den Menschen ist, wird er auch künftig in die Evolution eingreifen, um die “Menschwerdung” zu konkretisieren (Flusser 1994: 95). 6 Aktuelle Beispiele Flusser erwartet von der nahen Zukunft eine mit der industriellen vergleichbare neurologische Revolution und fragt, warum wir nicht das Feld unseres Sehsinns erweitern sollten, schließlich seien dem Projektionsfeld neuer Sinnesorgane keine ersichtlichen Grenzen gezogen (Flusser 1994: 99f.). Er selbst hält seine Ausführungen für ‘äußerst unbefriedigend’, weil das Entwerfen als solches notwendigerweise ergebnisoffen sei; bei seinen Überlegungen handele es sich - da wir an einer Schwelle stehen - um ‘das vorwegnehmende Bedenken einiger sich nunmehr eröffnender Möglichkeiten’. Viele davon waren zu Flussers Zeit, der 1991 verstarb, natürlich nicht absehbar. Gleichwohl zeigt er sich in einem Interview (zwischen 1986 und 1989) gut informiert über aktuelle technische Entwicklungen und entsprechende künftig zu erwartende Tendenzen: Ich möchte jetzt einen Sprung in die Futurologie machen. Was mich kolossal fasziniert […], ist die Entwicklung der Hologramme. […] Es beginnen jetzt Techniken ausgearbeitet zu werden, in der [sic] MIT soweit ich informiert bin aber auch in Los Angeles, welche gestatten, direkt aus dem Computer in die Holographie hineinzugehen und infolgedessen dreidimensionale und vierdimensionale Volumina aus dem Computer herauszuspucken. Wenn das wahr sein sollte, und wenn sich diese Technik weiter entwickeln sollte, dann werden wir in Zukunft von Gegenständen umgeben, die völlig aus der reinen Vernunft [der Computersynthese] entstammen. Wir werden dann nicht nur Bilder der reinen Vernunft haben, sondern eine gegenständliche Welt, die von der reinen Vernunft erzeugt wurde. Und wenn die Technik perfekter wird, wird es mit der Zeit ein Unsinn werden zwischen den Gegenständen an die wir gewohnt sind und diesen holographischen Gegenständen unterscheiden zu wollen (Flusser 2003). Ein aktuelles Beispiel hierfür liefert ein Bericht mit dem Titel Ein Herz aus dem Tintenstrahldrucker über das sogenannte ‘Organ Printing’ (im Internet unter: http: / / www.spiegel.de/ wissenschaft/ natur/ 0,1518,druck-590280,00.html [14.11.2008]). Ein speziell hierfür ent- Michael Hanke 32 wickelter 3-D-Drucker schleudert (Flusser sagte: spuckt) statt der mikroskopisch kleinen Tintentröpfchen tausende menschlicher Zellen pro Sekunde aus dem Druckkopf und setzt sie zu einem dreidimensionalen Organ zusammen. Bis zur beabsichtigten Entwicklung eines Herzens ist es zwar noch nicht gekommen, aber 2003 immerhin zur Herstellung einer 3-D- Struktur aus realen, lebenden Zellen. Weniger spektakulär, aber bereits einsatzfähig ist eine neue Generation von 3-D-Druckern, die Alltagsgegenstände herstellen. Ein so genannter ‘Fabber’ (‘Digital’ oder ‘Personal Fabricator’) ermöglicht die Herstellung dreidimensionaler Gegenstände aus digitalen Dateien (‘Fabbing’). Die zunächst am Bildschirm projizierten Produkte werden anschließend vom Fabricator moduliert, etwa durch schichtweises Auftragen von Kunststoff; mit Produkten wie künstlichen Zähnen, Knochen und Hautgewebe ist das Digitale auf diesem Wege bereits in den Körper vorgedrungen. 4 Ein weiteres Beispiel für die von Flusser prognostizierte Entwicklung stammt aus der Photographie und ist das so genannte High Dynamic Range (HDR)-Verfahren, bei dem ein digitales Softwareprogramm aus einer Reihe unterschiedlich belichteter Bilder ein einziges neues entwickelt, wobei die jeweiligen Kontrastschärfen beibehalten werden, womit diese eine ungewohnte Qualität erreichen und ein ‘hyperrealistischer’ Effekt erzielt wird. Diese Technik wird auch dazu verwendet, die Bildqualität künstlicher Netzhäute für Blinde zu verbessern, ist also ein Beispiel dafür, wie digitale Technik in den Körper eindringt. Andere Beispiele dieser Art bietet die aktuell entwickelte Ausrüstung für künftige Soldaten. Infrarotbilder können direkt auf die Netzhaut projiziert und auch mit anderen computerfähigen Daten kombiniert werden (Bilder von Landschaften und Strassenzügen, GPS etc.). Der Kampfeinsatz wird so zu einer Art Videospiel. Zahlreiche Beispiele für die Gestaltung auf der Ebene der Nulldimensionalität und ihrer Projektion in die dreidimensionale Ebene ist die Gentechnologie, d.h. die Genanalyse bzw. die gezielte Manipulation des Genoms. Im ‘Zeitalter biologischer Kontrolle’, das mit der Geburt des geklonten Schafes ‘Dolly’ 1996 eingeleitet wurde, verfügt der Mensch über die Gene eines Lebewesens und über die Möglichkeit, diese umzuprogrammieren, womit das genetische Lebensprogramm labortechnisch steuerbar wird. Einen speziellen Fall gentechnologischer Verfahren liefert die Präimplantationsdiagnostik. Hierbei werden Zellen eines im Reagenzglas gezeugten Embryos auf, anhand bestimmter Gene, feststellbare Erkrankungen untersucht. Ursprünglich sollte dieses Screening der genetischen Information dazu dienen, Familien, die von definierten Erbkrankheiten betroffen waren, zu einem gesunden Kind zu verhelfen. Die Zielsetzung erweiterte sich jedoch bald zu einem Testen der genetischen Information von nicht belasteten Paaren, die eine Reagenzglasbefruchtung durchführten, so dass Präimplantationsdiagnostik und Reagenzglasbefruchtung jetzt eine neue Wechselbeziehung mit eigener Dynamik stiften. So hat sich herausgestellt, dass abnorme Zellen gleichsam selbstheilend vom Organismus eliminiert werden; wenn also zufällig bei einem Test eine kranke Variante zutage tritt, wird auf der Basis dieses Wissens ein durchaus lebensfähiger Embryo ‘verworfen’, der eigentlich das Potenzial zu einem gesunden Kind hat. Geschlechtsselektion ist eine andere Folge dieses genetischen Screenings: Eltern können entscheiden, ob sie von den gesunden Embryonen nur die männlichen oder die weiblichen für die weitere Prozedur heranzuziehen wünschen und so das Geschlecht bestimmen. Ethisch bedenklich (oder noch bedenklicher) sind Fälle, in denen die Merkmale des Retortenkindes so gewählt werden, dass es einem bereits lebenden, aber kranken Kind genetisch möglichst ähnelt, um so die Option für eine Knochenmarkspende zu eröffnen. Text - Bild - Körper 33 Eine weitere Variante hiervon ist die bewusste Auswahl eines Embryos mit speziellem Gendefekt, z.B. eine angeborene Schwerhörigkeit oder Blindheit. Dem Wunsch der Eltern liegt das Motiv zugrunde, dass das Kind diese Eigenschaft, die sie nicht als Krankheit definiert sehen wollen, mit ihnen teilt. Das Entwerfen von Körpern, dessen Bedeutung Flusser schon früh aufgrund theoretischer Reflexion als Konsequenz der medialen Evolution prognostizierte, ist erst dabei, die Aktualität zu erlangen, die Flusser schon früh erkannte. Literatur Breuer, Ingeborg, Peter Leusch & Dieter Mersch 1996: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie, Hamburg: Rotbuch Fahle, Oliver, Michael Hanke & Andreas Ziemann (eds.) 2009: Technobilder und Kommunikologie. Die Medientheorie Vilém Flussers, Berlin: Parerga Flusser, Vilém 1966: Filosofia da Linguagem. Instituto Técnologica Aeronautico, S-o José dos Campos: ITA - Humanidades Flusser, Vilém 1983: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: European Photography Flusser, Vilém 1985: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography Flusser, Vilém 1989: Vom Unterworfenen zum Entwerfer von Gewohntem, Referat zum Symposium Intelligent Building, Karlsruhe, Oktober 1989. Symposium Intelligent Building, Karlsruhe: 2-10 Flusser, Vilém 1991: Bochumer Vorlesungen, im Internet unter: http: / / www.flusser-archive.org/ publications/ bochumervorlesungen Flusser, Vilém 1993a: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Bensheim: Bollmann Flusser, Vilém 1993b: Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Bensheim: Bollmann Flusser, Vilém 1994: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, Bensheim: Bollmann Flusser, Vilém 1997: Medienkultur, Frankfurt a.M.: Fischer Flusser, Vilém 1998a: Kommunikologie, Frankfurt a.M.: Fischer Flusser, Vilém 1998b: “Text und Bild”, in: Flusser, Vilém 1998: Standpunkte, Göttingen: European Photography, 73-96 Flusser, Vilém 2000: Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen, Berlin: Philo Flusser, Vilém 2002a: “In Search of Meaning (Philosophical Self-portrait)”, in: Flusser, Vilém 2002: Writings, Minneapolis: University of Minnesota Press, 197-208 Flusser, Vilém 2002b: “Von den Möglichkeiten einer Leibkarte”, in: Lab. Jahrbuch 2000 für Künste und Apparate, hrsg. von der Kunsthochschule für Medien Köln, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 115-24 Flusser, Vilém 2003: “Interview mit Gerhard Johann Lischka”, DVD. ZKM - Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe & Gerhard Johann Lischka (eds.): Am Nerv der Zeit. Interviews zur Kunst, Kultur und Theorie 1974-1990, Ostfildern: Hatje Cantz Flusser, Vilém 2006: “Haut”, in: Flusser Studies 2 (2006): 1-11 Grube, Gernot 2004: “Vilém Flusser”, in: Lagaay, A. & Lauer, D. (eds.) 2004: Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt a.M.: Campus, 173-199 Luhmann, Niklas 2008: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? , 5. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Leschke, Rainer 2003: Einführung in die Medientheorie, München: UTB Mersch, Dieter 2006: Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius Pias, Claus et al. (eds.) 2004: Kursbuch Medien. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA Rosner, Bernd 1997: “Vilém Flusser”, in: Kloock D. & Spahr, A. (eds.) 1997: Medientheorien. Eine Einführung, München: UTB, 77-98 Wagnermaier, Silvia 2002: “Zuführung zum Text Vilém Flussers”, in: Flusser, Vilém 2002: Von den Möglichkeiten einer Leibkarte, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 113-114 Michael Hanke 34 Anmerkungen 1 Alle diese Einordnungen können jeweils gute Gründe ins Feld führen. In den Profilen deutscher Gegenwartsphilosophie von Breuer et al. wird Flussers Medien- und Kulturphilosophie der Rang eines eigenen Kapitels eingeräumt (S. 79-90), und die Aufnahme damit begründet, dass “sich sein Philosophieren ganz im Umkreis deutscher Philosophie definierte” (Breuer et al. 1996: 7). Das philosophische Selbstporträt In Search of Meaning (Philosophical Self-portrait), 1969 auf englisch und portugiesisch geschrieben, erschien 1976 in dem Band Rumos da Filosofia atual no Brasil em auto-retratos (Wege der brasilianischen Gegenwartsphilosophie in Selbstdarstellungen, Ü. MH), präsentiert Flusser also als brasilianischen Philosophen. Hier - wie auch an zahlreichen anderen Stellen - verortet er sich zudem als Prager Philosoph, der verwurzelt ist sowohl in der deutschen wie auch der tschechischen Kultur und der jüdischen Tradition (Flusser 2002a: 198), s. auch den Band von Flusser: Jude sein (Flusser 2000). 2 Flusser (2003) stellt sich im Zusammenhang mit seiner Fototheorie selbst in die Tradition von Roland Barthes, Susan Sontag und insbesondere Walter Benjamin. 3 Demnach geht es der neuzeitlichen Wissenschaft im Kern “um eine Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens, um eine Neuformierung des Wissens als Produkt von Analyse und Synthese”; dabei betreibe die Analyse “eine weitere Auflösung der sichtbaren Welt” in kleinere Einheiten (Atome, Gene, Handlungskomponenten etc.), was dann die Aufdeckung eines ungeheuren Rekombinationspotentials zur Folge habe (Luhmann 2008: 102). Es handele sich um die “Auflösung und Rekombination von Realität” (Luhmann 2008: 104), und dieses nahezu unendliche Auflösevermögen führe “unabsehbare Möglichkeitsräume vor Augen” (Luhmann 2008: 107). Im Ergebnis werde an der Welt alles Haltbare hiervon erfasst, so dass das wissenschaftliche Weltbild die Funktion gesellschaftlicher Orientierung verliert (Luhmann 2008: 107). 4 Auch mit seinem Hinweis auf das MIT zeigt sich Flusser auf der Höhe der Zeit: Der Autor eines der Referenzwerke dieser Technologie, Neil Gershenfeld (FAB: The Coming Revolution on Your Desktop, Cambridge 2005), leitet gegenwärtig am MIT das Center for Atoms and Bits. »Possession plus reference« Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation Angewandt auf eine Untersuchung von Beziehungen zwischen Kognition, Kreativität, Jugendkultur und Bildung 1 Nicolas Romanacci Goodman’s creative symbol-constructional philosophy concerns fundamental aspects of human cognition and practice. It is argued that especially his deeply interrelated conceptions of exemplification, induction and worldmaking provide us with a subtle understanding of the connections between cognition, creativity, youth-culture and education. I will try to show that youth-culture contains a fundamental potential for aesthetic and creative practice with an immense cognitive value that should be taken seriously by the cognitive sciences. This potential should be encouraged from scratch within our educational system and needs to be protected comprehensively from depreciation through narrow-minded (education-)policy and exploitation through the entertainment industries. Goodmans Symbol- und Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit grundlegenden Aspekten menschlichen Verstehens und Handelns. Es wird argumentiert, dass seine subtil aufeinander bezogenen Konzeptionen von Exemplifikation, Induktion und Welterzeugung ein tieferes Verständnis von Zusammenhängen zwischen Wahrnehmung, Kreativität, Jugendkultur und Bildung ermöglichen. Aufgezeigt wird, dass Jugendkultur ein besonderes Potenzial für ästhetisches und kreatives Handeln in sich birgt, dessen kognitive Aspekte von der Forschung ernst genommen werden sollten. Dieses kreative Potenzial bedarf umfassender und elementarer Förderung in unserem Bildungssystem. Es benötigt des Weiteren umfassenden Schutz vor der Abwertung durch konservative (Bildungs-)Politik und der Ausbeutung durch die Unterhaltungsindustrie. 1 Einleitung: Forschungshaltung und Ziele dieser Untersuchung 1.1 Ästhetik, Jugendkultur und Erkenntnistheorie Die lange im Reich der Werttheorie ansässige Ästhetik wandert, auf Nelson Goodmans Einladung hin, in die Erkenntnistheorie aus. Goodman macht geltend, dass die Künste eine kognitive Funktion haben. Die Aufgabe der Ästhetik ist es, diese zu erklären. Eine solche Behauptung wäre eigenwillig, würde man die Erkenntnistheorie als die Theorie des Wissens auffassen. Die Künste sind gewöhnlich keine Vorratslager für gerechtfertigte, wahre Meinungen. Aber Wissen ist, wie Goodman und ich behaupten, ein unwürdiges kognitives Ziel. Viel besser ist es, unser Augenmerk auf das Verstehen zu richten (Elgin 2005: 43). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Nicolas Romanacci 36 Ästhetik in die Erkenntnistheorie auswandern zu lassen, mag womöglich vergleichbar eigenwillig erscheinen, wie einem Beitrag über Jugendkultur ein Zitat über die kognitive Funktion der Künste voranzustellen. Aber ist man, wie Goodman, “weniger daran interessiert […], die Grenzen des Ästhetischen gegen Eindringlinge zu schließen, als daran, epistemisch bedeutsame, bereichsübergreifende Affinitäten zu entdecken” (Elgin 2005: 58), dann ergibt ein solcher Einstieg Sinn. Die diesem Artikel zugrunde liegende Forschungshaltung möchte ich als kognitivistische Ästhetik bezeichnen (cf. Gerhard Ernst 2000, Oliver Scholz 2001 oder Jakob Steinbrenner 1996). Kognitivistische Ästhetik bedient sich einer erweiterten Auffassung von Erkenntnis, die “sich nicht in einer Theorie des propositionalen Wissens erschöpf(t), sondern alle kognitiven Ziele, Fähigkeiten und Leistungen berücksichtig(t) […] im Zusammenhang untersuch(t)” (Scholz 2001: 36) und in besonderer Weise nicht-propositionale Erkenntnisformen zum Gegenstand hat. Wichtiges Werkzeug ist hierbei eine allgemeine Symboltheorie, wie sie Nelson Goodman etwa in Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (Goodman 1968) exemplarisch entwickelt hat. Den Begriff Symbol verwendet Goodman dabei sehr weit und allgemein: Er “umfaßt Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle und mehr, aber er hat nichts Gewundenes oder Geheimnisvolles an sich” (Goodman 1968: 9). Für diese Untersuchung soll entsprechend auch der Begriff ästhetisch nichts Gewundenes oder Geheimnisvolles an sich haben. Ästhetisches Handeln soll vielmehr anhand bestimmter Symptome - wie etwa der Bezugnahme über die Exemplifikation - festgemacht werden. Ästhetische Praxis wird dabei nicht mit künstlerischer einfach gleichgesetzt, aber es sollen durchaus grundlegende Gemeinsamkeiten und für eine Abgrenzung dem Wesen nach nur graduelle Unterscheidungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Dabei wäre jede künstlerische Praxis ein ästhetisches Handeln, aber nicht jedes ästhetische Handeln gleich Kunst. Ästhetisches Handeln würde also schon bei weniger komplexen Handlungen stattfinden, gemeinsames Merkmal wäre für die vorliegende Untersuchung etwa die Bezugnahme über die Exemplifikation und der Ausdruck über die metaphorische Exemplifikation. Ästhetisches Handeln kann nach entsprechender Auffassung schon bei Jugendkultur beobachtet werden, nur in der Komplexität der Bezugnahmeformen und dem möglichen Auftreten weiterer “Symptome des Ästhetischen” (Goodman nennt: syntaktische und semantische Dichte, relative Fülle, Exemplifikation, mehrfache und komplexe Bezugnahme, siehe Goodman 1968: 252ff.; 1978: 67-68; 1984: 135ff.) liegt der Unterschied zu künstlerischen Formen. Eine Wertung ist mit dieser Unterscheidung nicht beabsichtigt, nur ein besseres Verständnis intendiert anhand der Analyse von Gemeinsamkeiten und spezifischen Unterschieden. Ein solches, verbindendes Fortschreiten vom Einfachen zum Komplexen gilt in vielen anderen Bereichen als selbstverständlich, unverständlicherweise aber oftmals nicht bei ästhetischen Fragen. 1.2 Ein Exkurs über fiktive und reale Absurditäten Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Gibt man etwa einem Grundschüler die Aufgabe 2+2=x vor und dieser schreibt als Lösung 2+2=4, würde wohl niemand abstreiten, dass der Schüler eine mathematische Aktion durchgeführt hat. Als absurd würde die Aussage gelten, dass die Mathematik erst ab z.B. dem Komplexitätsgrad von Binomischen Formeln beginnt. Genauso würde niemand anzweifeln, dass ein Erlernen der Mathematik mit einfachen, grundlegenden Schritten beginnen sollte. Grundlegende Kenntnisse in Mathematik werden von jedem Possession plus reference 37 gefordert, bzw. wird jedem das Recht zugestanden, mindestens mathematische Grundlagen vermittelt zu bekommen. Aber niemand erwartet, dass aus jedem Schüler ein Mathematikgenie wird. Bei ästhetischen Handlungen ist die Sichtweise seltsamerweise oftmals völlig anders. Das Erlernen von ästhetischem Handeln oder Denken wird nach wie vor kaum gleichwertig als Recht oder Pflicht angesehen wie etwa naturwissenschaftliches Denken. Bei ästhetischen Fragen scheint ein Beschreiben in Abstufungen als nicht angebracht. Hier geht es oftmals eher darum, müßige, von der Auffassung her essentialistische Debatten zu führen, die sich zwangsläufig vergeblich darin verfangen, kategorisch zwischen Kunst und Nicht- Kunst unterscheiden zu wollen - Bemühungen, die sich in der Fragestellung “Was ist Kunst? ” bündeln lassen. Goodman steuert zu dieser Frage - wie in vielen anderen Fällen (siehe Goodman und Elgin 1988) - eine Neuformulierung bei, indem er sie als falsch gestellt zurückweist: “If attempts to answer the question: What is Art? characteristically end in frustration and confusion, - as so often in philosophy - the question is the wrong one” (Goodman 1978: 57). Goodman zeigt, dass in Hinblick auf Weisen und Praxis der Bezugnahme von Symbolsystemen die Frage eher: “When is Art? ” lauten sollte (Goodman 1978: 67; siehe dazu auch eine kritische Diskussion essentialistischer Positionen in Steinbrenner 1996 und Lüdeking 1988). Im Gegensatz zu Goodman wird des weiteren argumentiert, dass ästhetisches Handeln weniger erlernbar wie etwa die Mathematik, eher angeboren und nach extremer Auffassung in ihrer Ausprägung als Kunst letztlich nur dem Genie vorbehalten sei. Alle kreativen Formen vor einer wie auch immer definierten künstlerischen Ausprägung seien dann primär und nur wichtig als Ausgleich, weil irgendwie harmloser und entspannender Zeitvertreib, aber ohne wirkliche kognitive Funktion und Wert, wie eben etwa im Gegensatz zu den Naturwissenschaften. Wie absurd diese Auffassung und leider auch die aktuelle bildungspolitische Realität sich darstellt, zeigt Goodman mit ironischer Schärfe in seinem Aufsatz Message from Mars (Goodman 1987: 239ff.) auf, der, 1975 verfasst, leider auch 33 Jahre später noch seine Gültigkeit als Persiflage auf unser Bildungssystem behalten hat. Erzählt wird die fiktive Geschichte von “Professor Hans Trubelmacher”, der als Spezialist für naturwissenschaftliche Ausbildung auf Ersuchen von Marsianern auf den Mars berufen wird, die in Sorge sind über den Stand der Naturwissenschaften an der führenden Universität. Der Professor stellt schnell fest, “dass sich die offiziellen Kurse an der Universität hier fast ausschließlich auf die Künste konzentrieren und alle ihre Aspekte abdecken” (Goodman 1987: 239), bei gleichzeitiger sträflicher Vernachlässigung der Naturwissenschaften, also in genauer Umkehrung zur Situation auf der Erde. Detailliert wird die fiktive Situation auf dem Mars geschildert, und den Verantwortlichen für die reale Situation auf der Erde wird so fiktiv der Spiegel vorgehalten. Am Ende der Geschichte berichtet Professor Trubelmacher von seinem letzten Gespräch: Zuletzt sprach ich mit Professor Lawrence Vincent, einem Fakultätsmitglied, das lange Zeit auf die Entwicklung und Leitung der naturwissenschaftlichen Aktivitäten an der Universität großen Einfluss hatte. Er hob die Tatsache hervor, dass die Universität ständig unter finanziellem Druck stand und nicht alles in Angriff nehmen konnte. Die wahre Aufgabe der Universität war die Ausbildung in allen Bereichen der Künste. Naturwissenschaftliche Ausbildung war für ihn in erster Linie eine Frage der Neigung; man sollte sie besser den Handelsschulen überlassen. Außerdem war die Naturwissenschaft, insoweit sie keine Technologie war, eine etwas brotlose Beschäftigung, die nur Unterhaltungswert besaß; und naturwissenschaftliche Aktivitäten sollten wie die sportlichen Aktivitäten nicht in das reguläre Curriculum aufgenommen werden. […] Der Freund, der mich als Berater eingeladen hatte, fragte mich auf der Fahrt zum Raumhafen nach meinen Eindrücken und Empfehlungen. Ich musste ihm sagen, daß meines Erachtens solange Nicolas Romanacci 38 wenig getan werden kann, als das grundlegende Bedürfnis nach einer Veränderung der Einstellung keine größere Anerkennung erfährt, und daß neue Ideen dringender, oder zumindest eher, gebraucht werden als neue Gelder (Goodman 1987: 243). Ich möchte mich Goodman bzw. “Professor Trubelmachers” Auffassung anschließen, dass sich wenig Essentielles in unserem Bildungssystem ändern wird, solange es kein grundlegendes Umdenken gibt, welches erst ein Bewusstsein und Bedürfnis nach - dringend benötigten - erweiterten Bildungskonzepten mit sich bringen würde. Ein Ziel dieser Untersuchung ist es, aufzuzeigen, dass es für ein grundlegendes Umdenken unter anderem unumgänglich ist, ästhetische Handlungen und deren kognitive Aspekte über eine Analyse der Bezugnahmeweisen von Symbolen zu erklären. Somit steht man zum einen nicht mehr vor dem (Schein-)Problem, Kunst von Nicht-Kunst unterscheiden zu müssen, sondern kann ästhetische Praxis über den Grad ihrer Komplexität erforschen. Eine ernsthafte Untersuchung sollte nicht erst bei den vermeintlich höheren Sphären künstlerischer Praxis einsetzen, sondern sollte auch eine Untersuchung ästhetischen Ausdrucks bei Jugendlichen beinhalten. Ästhetisches Handeln von Jugendlichen muss und soll somit nicht einfach mit Kunst gleichgesetzt werden, aber die kognitiven und kreativen Aspekte können sinnvoll und gewinnbringend verglichen werden, um etwa in Bildungsfragen besser argumentieren und handeln zu können. Goodman untersucht Symbole bzw. Symbolsysteme und ihre Weisen der Bezugnahme. Als grundlegende Formen beschreibt Goodman dabei die Denotation und die Exemplifikation (Goodman 1968). Diese wird sich aus mehreren Gründen als zentral für die vorliegende Untersuchung erweisen. Über die Exemplifikation kann ein (Jugend-)spezifischer Zeichengebrauch erklärt werden, der über Symbolsysteme wie etwa Gestik, Körperhaltung, Kleidung, bis hin zu bevorzugtem Musikstil und allgemein allen visuellen Ausdrucksformen nichtsprachliche und nicht-propositionale Symbolisierungsformen generiert. Wie in diesem Zusammenhang Kognition und Kreativität verstanden werden können, soll anhand Goodmans Theorie der Induktion näher erklärt und präzisiert werden. Über die metaphorische Exemplifikation (Goodman 1968: 85-95) beschreibt Goodman das Phänomen des Ausdrucks. Über die metaphorische Exemplifikation kann auch ein Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht werden, über dieses kann - gerade bei Jugendlichen - (sub-)kulturelle Identität ihre Form finden. 2 Exemplifikation, Kognition und Kreativität Nelson Goodman unterscheidet zwei grundlegende Weisen der Bezugnahme von Symbolen: Denotation und Exemplifikation. Bei der Denotation verläuft die Richtung der Bezugnahme vom Symbol zu den bezeichneten Gegenständen oder Ereignissen. Die Exemplifikation erfolgt gewissermaßen in umgekehrter Richtung. Ein Gegenstand fungiert als Muster (sample), als exemplifizierendes Symbol, wenn er auf einen Teil der Prädikate, die er aufweist, zudem Bezug nimmt. Exemplifikation ist somit nach Nelson Goodman “possession plus reference” (Goodman 1968: 53). Ein wichtiger Aspekt der Exemplifikation ist, dass sie über das konkrete Beispiel in besonderer Weise nichtsprachliche Label bereitstellen kann und epistemischen Zugang zu diesen ermöglicht - und dadurch zu anderen Bereichen, auf welche diese Label entsprechend Anwendung finden können. Derlei wird im Alltag, im Handel, in den Wissenschaften und in besonderem Maße in den Künsten praktiziert. So exemplifiziert das Stoffmuster eines Schneiders etwa seine Farbe, seine Materialqualität, seine Textur - Possession plus reference 39 jedoch nicht seine Größe oder das Datum seiner Herstellung. Um die Pointe dieses Gedankenganges herauszuarbeiten, bedient sich Goodman in seinem Buch Weisen der Welterzeugung (Goodman 1978) zweier humorvoller Geschichten, die ich dem Leser hier nicht vorenthalten möchte. Ausgangspunkt ist in Goodmans Text die Frage danach, welche Eigenschaften bei nicht-darstellenden und nicht-expressiven Kunstwerken wichtige, welche unwichtige sind und wie diese voneinander unterschieden werden können. Ich glaube, daß es eine Antwort auf die Frage gibt, aber um uns ihr zu nähern, werden wir das ganze hochtönende Gerede über Kunst und Philosophie preisgeben und uns ganz unsanft auf nüchternen Boden begeben müssen. Betrachten wir nochmals ein gewöhnliches Stoffmuster im Musterbuch eines Schneiders oder Polsterers. Es wird wohl kaum ein Kunstwerk sein oder irgendetwas abbilden oder ausdrücken. Es ist einfach eine Probe - eine einfache Probe. Wovon aber ist es eine Probe? Von der Oberfläche, Farbe, Webart, Stärke und Beschaffenheit der Faser […], die ganze Pointe dieser Probe, so sind wir zu sagen versucht, ist die, daß sie von einem Stoffballen abgeschnitten wurde und genau dieselben Eigenschaften hat wie der Rest des Materials. Doch das wäre übereilt. Lassen sie mich zwei Geschichten erzählen - oder vielmehr eine Geschichte, die aus zwei Teilen besteht. Frau Mary Tricias (ein Wortspiel mit meretricious, von lat. meretrix. A.d.Ü.) studierte ein solches Musterbuch, traf ihre Wahl und bestellte in ihrem bevorzugtem Stoffladen genügend Material für ihre Polsterstühle und das Sofa - wobei sie betonte, es müsse genau so sein wie die Probe. Als das Paket eintraf, öffnete sie es begierig und war entsetzt, als einige Hundert Stücke von 6 x 10 cm mit Zickzackrand, genau wie das Muster, zu Boden flatterten. Als sie im Geschäft anrief und laut protestierte, antwortete der Besitzer gekränkt und mißmutig: ‘Aber, Frau Tricias, Sie sagen doch, das Material müsse genau so sein wie die Probe. Als es gestern aus der Fabrik kam, habe ich meine Verkäuferinnen die halbe Nacht hier behalten, damit sie es so zuschneiden, daß es der Probe entspricht.’ Dieser Vorfall war einige Monate später schon beinahe vergessen, als Frau Tricias, nachdem sie die Stücke zusammengenäht und ihre Möbel damit überzogen hatte, sich entschloß, eine Party zu geben. Sie ging in ihre Bäckerei, wählte unter den Kuchen, die zur Auswahl standen, einen Schokoladennapfkuchen und bestellte davon soviel, daß es für fünfzig Personen reichen sollte, Lieferung zwei Wochen später. Als die ersten Gäste eintrafen, fuhr ein Lastwagen mit einem einzigen riesigen Kuchen vor. Die Dame, die die Bäckerei leitete, war über die Beschwerde völlig ratlos: ‘Aber, Frau Tricias, Sie haben ja keine Ahnung, welche Schwierigkeiten wir damit hatten. Mein Mann führt das Stoffgeschäft, und er hat mich ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß ihre Bestellung in einem Stück sein müsse.’ Die Moral dieser Geschichte ist nicht einfach: ‘Wie man’s macht, ist es falsch’, sondern ‘daß eine Probe eine Probe nur von einigen ihrer Eigenschaften, nicht aber von anderen ist’ (Goodman 1987: 83). Entsprechend der Stoffprobe können natürlich auch ganze Kleidungsstücke über die Exemplifikation Bezug nehmen und in einem weiten Sinn alles, was man als konkret bezeichnen kann. Das gilt für einfache Beispiele wie unserer Stoffprobe, lässt sich fortführen über komplexere Fragestellungen, wie zum Phänomen des Stils etwa in der Architektur oder anderen Ausdrucksformen, und auch ganz allgemein anwenden für alle visuellen Ausdrucksformen (wenn sie nicht denotativ Bezug nehmen), die Musik und die so genannte abstrakte Kunst, deren alternative Bezeichnung als konkrete Kunst auch in diesem Zusammenhang viel mehr Sinn ergibt. In unserer Untersuchung zur Jugendkultur interessiert Bezugnahme über die Exemplifikation etwa auch über einen bestimmten Sprachstil oder Gestik (cf. Thürnau 2005). Wie über die Exemplifikation etwas zum Ausdruck gebracht werden kann, bis hin zu einem Nicolas Romanacci 40 Lebensstil, also auch (Jugend-)Kultur in einem weiten Sinn, soll später anhand Goodmans Theorie der metaphorischen Exemplifikation gezeigt werden. Vorher müssen wir uns aber noch einem anderen Problem zuwenden, dessen Analyse dann einen längeren Ausflug in die Erkenntnistheorie erfordern wird, ein Ausflug, der manchem auf den ersten Blick als etwas abwegig erscheinen mag, sich aber für die vorliegende Untersuchung als grundlegend erweisen wird. Goodman zeigt anhand seines Beispiels der Stoffprobe einen relativ einfach verständlichen Fall der Exemplifikation auf. Exemplifikation in den Künsten ist in der Regel komplexer und schwieriger zu erfassen. Ein zentrales Problem ist es aber in jedem Fall, herauszufinden, welche Eigenschaften das Muster oder das Kunstwerk exemplifiziert und welche Eigenschaften es lediglich besitzt und welchen somit keine symbolische Funktion zukommt. Goodman nähert sich diesem Problembereich indirekt über seine Theorie der Induktion. Verkürzt dargestellt kommt er zu der Annahme, dass lediglich vorangegangene Praxis Hinweise auf eine Fortsetzbarkeit von Hypothesen oder parallel im Falle der Exemplifikation auf eine sinnvolle Anwendung von Labels bieten kann. Er spricht in diesem Fall von “entrenchment”, was üblicherweise mit Verankerung übersetzt wird. Besondere Schwierigkeit für eine Einordnung, aber eben auch besonderen kognitiven Wert bietet die Bereitstellung neuartiger Label - in den Wissenschaften wie in den Künsten. Die Generierung neuer Label durch den Wissenschaftler oder den Künstler, aber auch das Erfassen und die Einordnung jener durch den Rezipienten, stellen komplexe kognitive und kreative Leistungen dar, worauf ich später noch einmal zurückkommen werde. 3 Exemplifikation, Induktion und Welterzeugung “If I am at all correct, then, the roots of inductive validity are to be found in our use of language” (Goodman 1954: 120). “Thus here as well as in ordinary induction entrenchmentnovelty is a major factor, entering into the determination what is exemplified” (Goodman 1978: 136). Um die Zusammenhänge zwischen Kognition und Kreativität noch präziser benennen zu können, soll nun ein zentraler Gedanke in Goodmans Philosophie untersucht werden. Es ist notwendig, dabei zuerst näher auf Goodmans Theorie der Induktion einzugehen, um dann parallele Gedankengänge zur Exemplifikation und Goodmans Theorie der Welterzeugung herauszuarbeiten. Mit Gerhard Ernst teile ich dabei die Auffassung, dass Goodmans Theorie der Induktion “Grundlage für seine späteren Theorien ist” (Ernst 2005: 99). Für ein klärendes Beispiel zur Exemplifikation war es angebracht, “das ganze hochtönende Gerede über Kunst und Philosophie” preiszugeben und “uns ganz unsanft auf nüchternen Boden zu begeben”. Nun ist ebenso nüchterner Boden zu erkunden, diesmal jener erkenntnistheoretischer Grundlagen zur Induktion. Nüchternheit in der Philosophie bedeutet aber zum Glück nicht automatisch, dass es weniger spannend zugeht. Meinem Eindruck nach wird gerade Goodman oftmals immer einfallsreicher, anregender, eleganter und überraschender, je nüchterner er argumentiert, wobei die Konsequenzen seiner Argumentation genau so oft grundlegend und weit reichend sind. So würdigt auch Hilary Putnam im Vorwort zur vierten Auflage von Fact, Fiction, and Forecast Goodmans Gedanken zur Induktion: Goodmans berühmtes Argument, das er verwendet, um zu zeigen, daß alle Prädikate nicht in gleichem Maße projizierbar sind, hängt von seiner Erfindung des sonderbaren Prädikats glau ab. Er definiert etwas als glau, wenn es entweder vor einem bestimmten Zeitpunkt beobachtet wurde und grün ist, oder nicht vor diesem Zeitpunkt beobachtet wurde und blau ist. Diese philoso- Possession plus reference 41 phische Erfindung hat in manchem sehr viel Ähnlichkeit mit einem Kunstwerk, aber warum? Sie besteht nicht nur darin, daß sie die ästhetischen Qualitäten der Eleganz, Neuheit und Einfachheit besitzt. Was das Argument so überwältigend macht, ist die Seltenheit, mit der Beweise, die wirkliche Beweise sind, in der Philosophie vorkommen. Goodman führt sein Argument jedoch nicht als Beweis, sondern vielmehr als Rätsel ein (Goodman 1988). Besagtes Rätsel ist in die Geschichte der Philosophie als “das neue Rätsel der Induktion” eingegangen. “Neu”, da es auf eine ältere Diskussion und Theorie der Bestätigung kritisch Bezug nimmt, wie sie vor allem C.G. Hempel entwickelt hat. Diese versucht die Frage zu beantworten, durch welche positiven Beispielfälle eine allgemeine Hypothese bestätigt wird, wobei ihre hervorstechendste Eigenschaft ist, dass sie dies mit rein syntaktischen Mitteln anstrebt (Hempel 1943). […]. Goodman zeigt durch die Erfindung eines neuen Prädikats, dass dieses Problem mit rein syntaktischen Mitteln nicht zu lösen ist (Ernst 2005: 100). Was sich hier auf den ersten Blick vielleicht so harmlos anhören mag, hat grundlegende und weit reichende erkenntnistheoretische Konsequenzen, die eindeutig über den engeren Bereich der Induktion hinausgehen. “They concern fundamental aspects of human cognition and practice” (Abel 1991: 311). Goodmans Rätsel stellt Gerhard Ernst folgendermaßen dar: Angenommen man beobachtet vor einem bestimmten Zeitpunkt t verschiedene Smaragde. Sie bilden die sogenannte Datenklasse und sie sind alle grün, so dass die Hypothese bestätigt wird, dass alle Smaragde grün sind. Nun führt Goodman das Prädikat grue ein. ‘It is the predicate grue and it applies to all things examined before t just in the case they are green but to other things just in the case they are blue’ (Goodman 1954: 74; cf. Goodman 1972: 363). Damit bestätigen unsere Beobachtungen auch die Hypothese, dass alle Smaragde grue sind. Genauer gesagt: Alle Beobachtungen, welche die Hypothese mit ›grün‹ bestätigen, bestätigen auch die mit grue und umgekehrt, wenn man den Zeitpunkt t entsprechend wählt. […] Für die Zeit nach dem Zeitpunkt t kommt man zu widersprüchlichen Vorhersagen für die Farbe der beobachteten Smaragde. […] Wir kommen also zu dem Problem, dass alle Datenaussagen alle Voraussagen bestätigen. Der entscheiden Punkt ist, dass eben nur gesetzesartige Hypothesen durch ihre Anwendungen bestätigt werden, wir aber kein Kriterium haben, wann eine Hypothese gesetzesartig ist (Ernst 2005: 100). Goodmans ‘Lösung’ dieses Dilemmas besteht darin, offen zu legen, dass lediglich vorangegangene Praxis Hinweise auf eine Fortsetzbarkeit von Prädikaten geben kann. The answer, I think, is that we must consult the record of past projections of the two predicates. Plainly ‘green’ as a veteran of earlier and many more projections than grue, has the more impressive biography. The predicate ‘green’, we may say, is much better entrenched than the predicate grue (Goodman 1954: 94). Diese Einsicht lässt sich nun parallel auf eine Untersuchung der Exemplifikation übertragen. Welche Eigenschaften einer Probe, sei es ein Stück Stoff, ein angesagtes Outfit oder ein Kunstwerk über die Exemplifikation Bezug nehmen und welche Eigenschaften die Probe lediglich besitzt, ist genauso eine Frage vorangegangener Praxis. Dabei ist es nicht nur eine kognitive Leistung, wenn wir einen Gegenstand unter eine Eigenschaft subsumieren, sondern auch, wenn wir interessante Eigenschaften finden. Dabei spielt unsere Praxis im Umgang mit Beispielen eine entscheidende Rolle. Das Erkennen kognitiv relevanter Eigenschaften ist eine Frage der Vertrautheit mit den entsprechenden Gegenständen. Wir wissen, welche Eigenschaften relevant sind, wenn wir in der Lage sind, Zusammenhänge mit anderen Nicolas Romanacci 42 Gegenständen zu sehen, und die Eigenschaften sind kognitiv relevant, weil sie die Zusammenhänge erzeugen. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Induktionen sind künstlerische Induktionen allerdings nicht auf begrifflich fassbare Hypothesen beschränkt, sondern eröffnen einen Bereich nicht-propositionaler Erkenntnis (Ernst 2000: 324-325). Zu erkennen, was eine Probe exemplifiziert bzw. welche Label generiert werden, ist immer ein kognitiver Akt. Und neue Label zu generieren, ist wiederum eine genuin kreative Leistung, sei es in der Kunst, in der Wissenschaft oder eben bei Jugendlichen durch den kreativen Zeichengebrauch durch Kleidung, Gestik oder Sprachstil. In Goodmans Terminologie bedeutet hier Kreativität das Generieren neuer Verankerungen: “Thus here as well as in ordinary induction entrenchment-novelty is a major factor, entering into the determination what is exemplified” (Goodman 1978: 136). 3.1 Worldmaking Das oft gehörte Klagen darüber, Jugendliche würden teilweise in ihrer eigenen, dem Erwachsenen unzugänglichen Welt leben, sollte nicht als harmloses Wortspiel abgetan und als weit weniger harmlose Konsequenz eine resignierte und passive Haltung im Sinne eines »da kann man halt nichts machen« angenommen werden. Vor dem Hintergrund der Auffassung einer allgemeinen Symboltheorie, dass der Mensch keine anderen Möglichkeiten hat, außer sich seine Welten durch den kreativen Einsatz von Symbolen förmlich zu erschaffen, sollte über diese Aussage ernsthaft nachgedacht werden, um die Wirklichkeiten von Jugendlichen besser verstehen zu können. Denn nach Goodman können wir nicht auf eine ready-madeworld zurückgreifen, sondern sind auf unsere Beschreibungen angewiesen. “We are confined to ways of describing whatever is described. Our universe, so to speak, consists of these ways rather than of a world or worlds” (Goodman 1978: 3). Wir erzeugen mit unseren Symbolsystemen, sowohl mit wissenschaftlichen als auch mit künstlerischen, Weltversionen und wenn diese Versionen richtig erzeugt sind, dann entsprechen sie einer wirklichen Welt. Eine davon unabhängige Welt gibt es nicht. Es kann nach Goodman sogar Versionen geben, die sich widersprechen, die jedoch gleichermaßen richtig erzeugt sind. Da solche Versionen nicht in derselben Welt wahr sein können, nimmt Goodman eine Pluralität von Welten an. Ein solcher Pluralismus kann jedoch leicht als extremer Relativismus verstanden werden. Kann jeder sich die Welt zusammenzimmern, die ihm passt? Goodman vertritt nach eigener Aussage einen “radical relativism under rigorous restraints” (Goodman 1978: X). Diese strengen Einschränkungen findet Goodman nach bewährter Methode: 1. Es gibt keine versionsunabhängige Welt. 2. Richtige Versionen können nur im Ausgang unserer bisherigen Versionen gefunden werden. 3. Bisherige Versionen richten sich nicht nach einer unabhängigen Welt (Ernst 2005: 107f.). Goodman verfolgt diese Strategie, wenn er darauf hinweist, dass wir neue Welten immer nur aus alten erzeugen: “Worldmaking as we know it always starts from worlds already at hand; the making is a remaking” (Goodman 1978: 6). 2 Possession plus reference 43 4 Ausdruck, Identität und Bildung Eine besondere Form der Bezugnahme erschließt Goodman durch seinen Begriff der metaphorischen Exemplifikation (Goodman 1968: 85-95). Mit ihm erfasst Goodman das Phänomen des Ausdrucks. So kann etwa ein Gemälde durch seine Farben und Formen eine Stimmung oder Emotionen zum Ausdruck bringen, indem es diese metaphorisch exemplifiziert. Neben den Künsten spielt auch bei den körpernahen Symbolisierungsformen wie etwa Gestik, Körperhaltung oder Kleidungsstil die (metaphorische) Exemplifikation eine bedeutende Rolle. So kann über die genannten Punkte ein Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht werden. Über dieses wiederum kann - gerade bei Jugendlichen - (sub-)kulturelle Identität ihre Gestaltung finden. In besonderer Weise können über die metaphorische Exemplifikation auch Emotionen zum Ausdruck gebracht werden bzw. über den Ausdruck ein Umgang mit diesen verfeinert und greifbar gemacht werden, ein wichtiges Thema, das aber nicht im Zentrum dieser Untersuchung steht. Aus Sicht einer allgemeinen Symboltheorie stellt die Bildung, das Erfassen und die Kommunikation (sub-)kultureller Erscheinungsformen und Identitäten eine kognitive und genuin kreative Leistung dar, die subtile und komplexe kommunikative Fähigkeiten erfordert und erweitert. Jugendkultur kann als Zeichen für ein grundlegendes menschliches Bedürfnis nach nichtsprachlichen Formen des Ausdrucks, der Kommunikation, der Identitäts- und Persönlichkeitsbildung verstanden werden. 4.1 Exemplifikation. Ein Anwendungsbeispiel Zentraler Untersuchungsgegenstand meiner Darstellung war der Begriff der Exemplifikation, im Rahmen einer allgemeinen Symboltheorie und in Bezug zu Goodmans Theorie der Induktion und der Welterzeugung. Aufgezeigt werden sollte die weit reichende Bedeutung der eng miteinander verbundenen Überlegungen, um eine Anwendung der Begrifflichkeiten anzuregen. Dem Leser bleibt nun überlassen, die vorliegende Untersuchung in Bezug zu eigenen Forschungsansätzen zu überdenken und zu überprüfen. Etwas spezifischer und exemplarisch möchte ich auf den Aufsatz Jugend + Kultur = Lebensstil - Reflexionen über eine neue Dimension des Zeichengebrauchs von Eva Kimminich eingehen. Allein die in der Anfangspassage verwendeten Begriffe (Verwendung kultureller Zeichen, symbolische Aspekte, Identität, Ausdruck) lassen sich aus Sicht der vorliegenden Untersuchung gewinnbringend interpretieren: Jugend erzeugt durch spezifische Verwendung kultureller Zeichen und Praktiken in erster Linie Lebensstile. Sie manifestieren sich in symbolischen Aspekten (Kleidung, Körperschmuck, Musik usw.) sowie in spezifischen Aktivitäten und Kontexten. Mit ihnen differenziert sie sich, bildet Identität aus und begründet eigene (Sub)Kulturen. Stil kann daher als prozessuale Objektivierung des Selbstbildes einer Gruppe verstanden werden, also als Ausdruck einer selbstbewussten, sich differenzierenden Lebensweise; und zwar losgelöst vom künstlerischen Anspruch im Sinne einer ästhetischen Verhaltensweise. Denn jugendspezifischer Lebensstil hat seinen Ursprung nicht in der Begabung eines Künstlers, sondern in einem allerdings nicht weniger kreativen lebenspraktisch ausgerichteten Spiel mit Bildern, Zeichen und Ausdrucksformen (Kimminich 2005). Auch wenn hier der Jugend eine ästhetisches Verhaltensweise abgesprochen wird, so verstehe ich die Ausführung nicht im Gegensatz zur vorliegenden Untersuchung, es scheint hier eher ein anderer Gebrauch von Begrifflichkeiten vorzuliegen, denn gleichzeitig wird später doch Nicolas Romanacci 44 ausgesagt, dass jugendspezifischer Lebensstil einen »nicht weniger kreativen« Ursprung als jener des Künstlers habe. Auch dass die Titelgleichung aus meiner Sicht auch oder eher “Jugend + Stil = Kultur” lauten könnte, bewirkt, denke ich, keine grundlegende Inkompatibilität beider Untersuchungen. Besonders interessant erscheint mir eine Gegenüberstellung der Gedanken Goodmans zur Erzeugung von Welten: “Worldmaking as we know it always starts from worlds already at hand; the making is a remaking” und dem in Kimminichs erwähnten Begriff des Kulturrecycling. Eine entsprechende Untersuchungsmöglichkeit sei dem Leser hiermit eröffnet. In meinem Abstract war die Rede davon, Jugendkultur müsse vor einer Ausbeutung durch die Unterhaltungs-Industrie geschützt werden. Auch zu diesem Gedanken lassen sich Parallelen in Kimminichs Aufsatz finden: Die jugendspezifischen mit individueller Mediennutzung verbundenen Kulturpraktiken der spätkapitalistischen Postmoderne bedienen sich der Kultur- und Kunstgeschichte […] als einem wertfreien Repertoire von Formen, Symbolen und Praktiken als einer Reserve an Materialien und Techniken. In unserer global vernetzten Mediengesellschaft stehen die Materialien in einer enzyklopädischen Breite ohnegleichen zur Verfügung, was ihre einstmals suggestiven Kräfte erheblich schwächt. Das was durch Aneignung und Verdauung daraus entsteht, wird durch die Megarecyclingmaschinerie der Kulturindustrie teilweise zum Mainstream vermarktet, was erneute Rekreationen im Sinne von stilistischen Abweichungen auslöst. So muss sich der echte Gothic immer wieder vom Fake distanzieren, der echte Rapper oder Techno als real vom poser. Dieser Glaube, sich als Originale von den im Banne der Repräsentation stehenden Reproduktionen der Vermarktung unterscheiden und sich einen kleinen Bereich realer Handlungsfähigkeit erhalten zu können, hat eine fieberhafte Dialektik zwischen kulturindustriellen und individuellen Recyclingprozessen in Gang gesetzt. […] Das wirft eine wichtige Frage auf: Wo bleibt das Kultur lebende, sie reflektierende und rekreierende Subjekt? (Kimminich 2005) Dieser Frage möchte ich mich anschließen und stelle die Verantwortung unserer Bildungspolitik zur Diskussion. Unser Bildungssystem sollte die kognitiven, kreativen und identitätsbildenden Aspekte der hier aufgezeigten Problembereiche ernst nehmen und Jugendlichen bedeutend mehr Angebote an nicht-propositionalen Symbolisierungsformen bieten, wie es exemplarisch das kreative und experimentelle Gestalten ermöglicht. Grundlage sollte dabei eben die Einsicht in den kognitiven Wert ästhetischen Handelns und Denkens sein und nicht nur die vermeintlich abgehobenen Sphären künstlerischer Praxis (die ja auch erst durch eine entsprechende, problematische Auffassung ihren elitären Charakter erhalten), auch wenn natürlich jedem Schüler die Erfüllung, die Kunst dem Menschen geben kann, als mögliches Ziel mitgegeben sei. Im übrigen erschließt sich hinsichtlich einer Untersuchung kreativer Ausdrucksmöglichkeiten speziell ein Verständnis visueller Ausdrucksformen in weiten Teilen auch über Goodmans Überlegungen (vgl. etwa Kulvicki 2006: 13-24; Lopez 1996: 57-70; Sachs-Hombach 2006: 43-48, Scholz 2004: 108-129), was hier nicht im Fokus der Untersuchung lag, aber auch den Ursprung für eine Veröffentlichung der vorliegenden Untersuchung im Rahmen bildwissenschaftlicher Forschung erklärt. Da ein großer Bereich aktueller Kulturpraxis über visuelle Medien kommuniziert wird, erscheint im Besonderen ein Plädoyer für ein Schulfach Visuelle Medien, wie es etwa Klaus Sachs-Hombach fordert, immer dringlicher (Sachs-Hombach 2005). Jugendlichen muss mehr Raum für kreative und identitätsbildende Praxis gegeben werden, dadurch kann auch am besten eine grundlegend benötigte Medienkompetenz und eine medienkritische Haltung gefördert werden. Ohne diese wird das kreative Potenzial von Jugendkultur weiterhin von Medien- und Modeindustrie ausgenutzt, kanalisiert, vereinheitlicht und somit letztendlich zerstört werden. Ohne radikal erweiterte Possession plus reference 45 Bildungsangebote können - gerade bei Heranwachsenden - Phänomene wie Konsumsucht, Medienmissbrauch und Identitätskrisen nicht verwundern, zumal grundlegende Ursachen für eine Fehlentwicklung in unserem Bildungssystem zu erkennen sind. Jugendlichen Fehlverhalten, wie etwa Konsumsucht, zum Vorwurf zu machen, bleibt ohne entsprechend erweiterte Bildungsangebote meiner Meinung nach purer Zynismus, eine (Um-)Erziehung von potenziell und genuin kreativen Jugendlichen zu gleichgeschalteten Konsumenten stellt vor diesem Hintergrund eine folgerichtige Entwicklung hin zu einer am Konsum orientierten Gesellschaft dar. Es bleibt die Frage offen, ob eine derartige Entwicklung nicht sogar teilweise beabsichtigt oder wenigstens erwünscht ist, etwa von Seiten der Wirtschaft. Ein Beispiel: Die so genannte G8-Reform an den Gymnasien mit ihrer Schulzeitverkürzung bei gleich bleibendem Lernstoff und dadurch extrem erhöhtem Lern- und Leistungsdruck und somit radikal eingeschränktem Zeitpensum für kreative Tätigkeiten in Unterricht und Freizeit wurde auf Initiative und Druck der Wirtschaft durchgesetzt. Ein alarmierendes, konkretes Zeichen für dringenden und radikalen Handlungsbedarf, wenn in unserer Gesellschaft in einem solchen Ausmaß wirtschaftliche Interessen Bildungsinhalte und Werte beeinflussen und diktieren. 5 Ausblick Über den Begriff der Exemplifikation kann der kognitive Wert ästhetischer Praxis erklärt werden. Ästhetische Praxis gewinnt auf Grundlage einer kognitivistischen Ästhetik, eine erkenntnistheoretische Dimension. Diese Untersuchung möchte entsprechend plausibel machen, dass erst mit einer Erweiterung propositionaler Wissensbestände (siehe auch grundsätzlich: Goodman/ Elgin 1988; Abel 2004: 198f.) 3 um die ebenso grundlegende Ausbildung nicht-propositionaler Erkenntnisformen eine wirkliche Reform unseres Bildungssystems bewirkt werden kann. Sollte dieser Aufsatz einen Beitrag leisten können für die hierfür nötigen bildungspolitischen Diskussionen, wäre das eigentliche Ziel meiner Untersuchung erreicht. Literatur Abel, Günter 1991: “Logic, Art and Understanding in the Philosophy of Nelson Goodman”, in: Inquiry 43: 311-321 (wieder abgedruckt in: Elgin, Catherine Z. 1997: The Philosophy of Nelson Goodman. Selected Essays. New York/ London: Garland Publishing, Bd. 1: Nominalism, Constructivism and Relativism in the Work of Nelson Goodman) Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Elgin, Catherine Z. 2005: “Eine Neubestimmung der Ästhetik. Goodmans epistemische Wende”, in: J. Steinbrenner, O. Scholz und G. Ernst (eds.): Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg: Synchron Publishers, 43-59 (englisches Original: Elgin, Catherine Z. 1993: “Relocating Aesthetics. Goodman’s Epistemic Turn”, in: Revue Internationale de Philosophy 46: 171-186) Ernst, Gerhard 2000: “Ästhetik als Teil der Erkenntnistheorie bei Nelson Goodman”, in: Philosophisches Jahrbuch 107: 316-339 Ernst, Gerhard 2005: “Induktion, Exemplifikation und Welterzeugung”, in: J. Steinbrenner, O. Scholz und G. Ernst (eds.): Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans. Heidelberg: Synchron Publishers, 99-109 Goodman, Nelson 1954: Fact, Fiction, and Forecast. Cambridge (MA): Harvard University Press (deutsche Ausgabe 1988: Tatsache, Fiktion, Voraussage, 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Nicolas Romanacci 46 Goodman, Nelson 1968: Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis: Hacket (deutsche Ausgabe 1997: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Goodman, Nelson 1972: Problems and Projects, Indianapolis etc.: The Bobbs-Merrill Company Goodman, Nelson 1978: Ways of Worldmaking, Indianapolis: Hacket (deutsche Ausgabe 1997: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Goodman, Nelson 1984: Of Mind and Other Matters. Cambridge (MA) etc.: Harvard University Press (deutsche Ausgabe 1987: Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Goodman, Nelson und Catherine Z. Elgin 1988: Reconceptions in Philosophy and other Arts and Sciences, London: Routledge Hempel, C.G. 1943: “A Purely Syntactical Definition of Confirmation”, in: The Journal of Symbolic Logic 8 (1934): 122-143 Kimminich, Eva: Jugend+Kultur=Lebensstil - Reflektionen über neue Dimensionen des Zeichengebrauchs. Plenar- und Einführungsvortrag der Sektion ‘Lebensstil und Zeichenpraxis: Tradition und Wirklichkeitsgestaltung im Wechsel der Generationen’, 12. Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik 2005, im Internet unter http: / / www.semiotik.eu/ index.php? =358,39 Kulvicki, John V. 2006: On Images. Their Structure and Content, Oxford: Oxford University Press Lopes, Dominic 1996: Understanding Pictures, Oxford: Clarendon Press Lüdeking, Karlheinz 1988: Analytische Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M.: Athenäum Sachs-Hombach, Klaus 2005: “Plädoyer für ein Schulfach Visuelle Medien”, in: E. Fritsch (Hrsg.): IMAGE 2, Themenbeiheft: Filmforschung und Filmlehre, Köln: Halem, im Internet unter www.image-online.info Sachs-Hombach, Klaus 2006: Das Bild als kommunikatives Medium, Köln: Halem Scholz, Oliver R. 2001: “Kunst, Erkenntnis und Verstehen. Eine Verteidigung einer kognitivistischen Ästhetik”, in: B. Kleinmann und R. Schmücker (eds.) Wozu Kunst? 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Erstveröffentlichung (leicht modifiziert) auf www.image-online.info: IMAGE - Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 7, August 2008. Ich widme diesen Aufsatz unserem Sohn Jonathan Constantin (der zur Welt kam genau am Tag meines geplanten Vortrages zu diesem Artikel), und meiner Lebensgefährtin Monique, die trotz durchwachter Nächte mit unserem neugeborenen Sohn noch an Gesprächen über grue Gefallen finden konnte. 2 Eine Anmerkung zum Thema ›Welterzeugung‹: Aus meiner Sicht erscheint es sinnvoll, hier den Begriff Welt mit dem Begriff Wirklichkeit zu ersetzen, das würde eine Diskussion dieser Auffassung vermutlich weniger problematisch machen. 3 Für eine eingehendere Beschäftigung mit Goodman seien alle 4 Bände der Reihe empfohlen: Elgin, Catherine Z. 1997: Nelson Goodman’s New Riddle of Induction, Bd. 2; Nelson Goodman’s Philosophy of Art, Bd. 3; Nelson Goodman’s Theory of Symbols and its Applications, Bd. 4. Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier Dagmar Schmauks The materiality of signs is much more important in interaction with animals than it is in human dialogues. Animals identify familiar humans olfactorily (individual smell), acoustically (voice, pattern of walking), and visually (shape, pattern of motion). For them, the intonation of utterances and the mood of gestures are more expressive than the words or gestures themselves because they inform about the sender’s mood (joy, fear, anger…) and the speech act (praise, warning, order…). Additionally, nose animals smell strong emotions. On the one hand, during their common history, men learned to interpret characteristic expressions of animals like wagging the tail or ruffling feathers. On the other hand, pets and domestic animals understand the facial expressions of men. Further indices of mood are body tension and proxemics. Greetings like giving the paw (dog) and giving the head (cat) come from the natural behavioral repertory and are reciprocated by humans - unlike the equally friendly licking of cows. Signs in a narrow sense are produced in order to communicate specific information to somebody else. Guide dogs, for example, learn numerous orders as well as signs for telling humans something specific. Riding animals and draft animals are guided by shouts (“Giddy up! “) and motoric signals (leg pressure, pull of the rein or guiding rope). A last group of signs are gestures for luring or chasing away which are mostly combined with specific shouts like “Here boy! ” or “Pssssst! ! ! ” Die Materialität von Zeichen ist in der Interaktion mit Tieren viel wichtiger als in zwischenmenschlichen Dialogen. Tiere identifizieren bekannte Menschen olfaktorisch (individueller Geruch), akustisch (Stimme, Gangart) und visuell (Gestalt, Bewegungsmuster). Für sie sind der Tonfall von Äußerungen und die Gestimmtheit von Körperbewegungen aussagekräftiger als die Worte oder Gesten selbst, denn sie informieren über die derzeitige Stimmung des Senders (Freude, Angst, Ärger…) und den Sprechakt (Lob, Warnung, Befehl…). Nasentiere riechen zusätzlich starke Emotionen. Im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte lernten Menschen artspezifische Ausdrucksbewegungen von Tieren (Schwanzwedeln, Federn sträuben usw.) zu deuten, umgekehrt verstehen Haus- und Nutztiere die menschliche Mimik. Weitere Anzeichen der Stimmung sind Körperspannung und Distanzverhalten. Grußgesten wie Pfötchengeben (Hund) und Köpfchengeben (Katze) stammen aus dem natürlichen Verhaltensrepertoire und werden - im Gegensatz zum ebenso freundlichen Ablecken von Rindern - vom Menschen erwidert. Echte Zeichen produziert man, um anderen etwas Bestimmtes mitzuteilen. So lernen Blindenhunde zahlreiche Befehle sowie umgekehrt Zeichen, die dem Menschen etwas Bestimmtes mitteilen. Reit- und Zugtiere werden durch Zurufe (“Hü! ”) und motorische Hilfen (Schenkeldruck, Zug am Zügel oder Leitseil) gelenkt. Eine letzte Zeichengruppe sind Lock- und Scheuchgesten, die man meist mit artspezifischen Rufen wie “Putt-putt-putt” bzw. “Ksch! ! ! “ kombiniert. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Dagmar Schmauks 48 1 Einleitung Die Entstehung aller frühen Hochkulturen wäre ohne die Arbeitskraft domestizierter Reit-, Last- und Zugtiere unmöglich gewesen, und Tiere liefern bis heute energiereiche Nahrungsmittel und Materialien für zahllose Gebrauchsgegenstände. Seit dem 19. Jahrhundert sank die Bedeutung tierischer Arbeitskraft durch die Entwicklung immer leistungsfähigerer Maschinen, zugleich erhielten jedoch manche Arten neue Aufgaben als Freizeitpartner. Die heutige Wahrnehmung von Tieren ist vielschichtig und widersprüchlich. Viele Haustiere werden ohne Rücksicht auf artspezifische Bedürfnisse verzärtelt und einzelne Tiere wie Eisbärenbaby Knut als Medienstars bejubelt. Sympathische Tiere wie Pinguine und Elefanten werden in zahllosen Deko-Objekten verkitscht, wilde Tiere wie Haie und Spinnen hingegen in Thrillern dämonisiert. Inmitten dieser tendenziösen Darstellungen und Inszenierungen gerät das Leben realer Tiere immer mehr aus dem Blick. Milliarden Nutztiere (weltweit leben allein 1 Milliarde Schweine! ) werden unter oft erbärmlichen Bedingungen industriell produziert, und bei Wildtieren schrumpfen Lebensraum und Lebensqualität ständig durch menschliche Eingriffe. Dieser Beitrag konzentriert sich auf semiotische Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung und ist als Ergänzung psychologischer Analysen angelegt. Er setzt voraus, dass die Beziehung zu Tieren eine eigenständige Art der Bindung ist und nicht nur Enttäuschungen durch Artgenossen kompensiert. Das Zusammensein mit Tieren kann sehr entlastend sein, denn sie zeigen Mitgefühl, interagieren ohne absichtliche Verstellungen und erlauben körperliche Nähe ohne sexuelle Untertöne. Am leichtesten verständlich sind Tiere mit ähnlichen Sinnesmodalitäten und Gefühlsräumen: Mensch und Tier […] leben im selben Wahrnehmungsraum. Haben Teil an denselben Grundbedürfnissen von Hunger und Durst, Sexualität und dem Wunsch nach Zuwendung und Sicherheit. Mensch und Tier sind denselben Naturgesetzen ausgeliefert: Sie wachsen und altern und schreien auf vor Schmerz und sie sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist (Rheinz 1994: 85). Weiterführend für die folgenden Überlegungen ist die Unterscheidung von Interaktion und Kommunikation. Eine typische Interaktion wäre: Der Mensch erkennt am Verhalten seines freilaufenden Hundes, dass dieser eine Wildfährte aufgenommen hat, läuft ihm nach und leint ihn an. Kommunikation (als Teilmenge von Interaktion) liegt nur vor, wenn Zeichen absichtlich produziert werden, um einem anderen Lebewesen etwas Bestimmtes mitzuteilen. Ein paralleles Beispiel hierzu wäre: Der Mensch sieht, dass sein freilaufender Hund eine Wildfährte aufgenommen hat, und pfeift ihn zurück (wobei die Verbindung zwischen einem bestimmten Pfiff und dem dadurch angeforderten Verhalten natürlich gelernt werden muss). Als Grundlage der Detailuntersuchungen skizziert Abschnitt 2 die Bereiche und Voraussetzungen jeder Interaktionen zwischen Mensch und Tier. Die beiden nächsten Abschnitte sind parallel aufgebaut, sie analysieren Umfang und Mittel der vokalen (Abschnitt 3) und der nonverbalen Interaktion (Abschnitt 4). 2 Bereiche und Voraussetzungen der Mensch-Tier-Interaktion Dieser Abschnitt listet zunächst auf, in welchen Bereichen wir überhaupt mit Tieren interagieren (2.1). Anschließend werden die allgemeinen (2.2) und speziell semiotischen Voraussetzungen (2.3) solcher Interaktionen skizziert. Abschnitt 2.4 betont, dass der unzureichende Geruchssinn des Menschen keine komplexen Interaktionen durch riechbare Zeichen erlaubt. Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 49 2.1 Bereiche der Mensch-Tier-Interaktion Zeichenprozesse finden auf allen Ebenen des Organischen statt, nämlich innerhalb einzelner Organismen (neuronale und hormonale Signale), zwischen Artgenossen (innerartlich) und zwischen Individuen verschiedener Arten (zwischenartlich). Unter natürlichen Bedingungen gibt es zwischen verschiedenen Tierarten nur wenige Beziehungen: Sie sind füreinander Jäger, Beute, Nahrungskonkurrenten oder unbeachteter Hintergrund. Daher dienen zwischenartliche Interaktionen nie der bewussten Kooperation, sondern egoistischen Zielen (wobei Ausdrücke wie täuschen und sich tarnen im Folgenden keine bewusste Entscheidung implizieren! ). Tiere können etwa (cf. Bouissac 1993): - das Verhalten ihrer Feinde vorhersehen und unterlaufen (Rüstungswettlauf zwischen Jäger und Beute, z.B. kalkuliert der Fuchs das Hakenschlagen des Hasen ein), - andere Arten über ihre eigene Identität täuschen (parasitäre Käfer tarnen sich als Ameisen und lassen sich in Ameisenhaufen durchfüttern), - Verhalten anderer Arten als Anzeichen wahrnehmen (wo Geier kreisen, liegt Aas), - Signale anderer Arten “abhören” (Warnlaute von Vögeln lassen Hasen fliehen, Rufe verlassener Rehkitze locken Füchse an) und - in echte Symbiosen eintreten wie in die zwischen Ameisen und Blattläusen. Alle diese Interaktionen treten auch zwischen Mensch und bestimmten Tieren auf, z.B. führt der Honiganzeiger Menschen zu einem Bienenstock, damit sie ihn öffnen und er die Larven fressen kann. Im Laufe der Geschichte kamen zahlreiche weitere Formen der Interaktion hinzu, die nun jedoch keine ausgewogenen Symbiosen mehr sind, sondern ganz überwiegend einseitige Nutzungen des Tieres durch den Menschen (eine echte Symbiose besteht nur mit Lebewesen, an die wir selten freundlich denken, nämlich mit unseren Darmbakterien). Die häufigsten Interaktionen finden statt - im Umgang mit domestizierten Tieren • klassische Arbeitshelfer (Zugochse, Jagdhund, Trüffelschwein…) • Therapietiere (Delphine, Pferde, Hunde…) - im Zirkus (Dressur von Löwen, Elefanten, Robben…) und - in der Verhaltensforschung (Ausloten der kognitiven Fähigkeiten von Affen, Delphinen, Rabenvögeln…). Jenseits dieser Gebrauchskontexte leben wir mit zahllosen Haustieren zusammen. Viele Fallstudien belegen, wie eng sich einzelne Tiere an einen Menschen anschließen, wenn sie als Jungtier auf ihn geprägt werden. Dies gilt vor allem für Hunde und Katzen, die in steiler Karriere von Haushütern und Mäusejägern zu Freunden und Familienmitgliedern wurden. Die Domestizierung von Säugetieren bedient sich innerartlicher Verhaltensweisen (cf. Bouissac 1993). Aufgrund unseres angeborenen Kindchenschemas finden wir nicht nur Menschenkinder, sondern auch Tierkinder mancher Arten niedlich und behandeln sie fürsorglich. Das Tier sieht umgekehrt den Menschen als Mutterersatz und ist daher bereit, von ihm zu lernen. Der Mensch nutzt diese Lernbereitschaft zur Dressur und belohnt folgsame Tiere durch mütterliche Behandlung, so entspricht das ausführliche Streicheln einer Katze dem Ablecken eines Kätzchens durch seine Mutter. Die Prägung eines Tieres auf einen Menschen kann so Dagmar Schmauks 50 stark sein, dass es kein Gefühl für die eigene Artzugehörigkeit entwickelt und den Menschen sogar anbalzt (die umgekehrte Perversion, nämlich die Sodomie als sexueller Kontakt mit Tieren, wird in dieser Arbeit nicht einbezogen). Prägung lässt sich aber auch nutzen, um gefährdeten Arten neue Verhaltensweisen in einer schnell sich wandelnden Welt beizubringen. Beim flugzeuggeführten Vogelzug fliegt ein Mensch in einem Ultraleichtflugzeug den Vögeln voraus und zeigt ihnen abseits von Jagdgebieten, verseuchten Gewässern und anderen Gefahren eine sichere Route, die sie fortan alleine beibehalten. Als Pionier dieser Methode führte William Lishman im Herbst 1993 erstmals Kanadagänse von Ontario ins Winterquartier nach North Carolina. Auf Lishmans Buch Father Goose (1996) beruht auch der Film Amy und die Wildgänse (Caroll Ballard 1996). Der Kreis möglicher Lebenspartner ist sehr umfangreich. Franke (1991) beschreibt die Ausbildung des Wildschweins Luise zum “Polizeischwein”, das beim Aufspüren von Rauschgift und Sprengstoff besser abschnitt als ein Hund. Allerdings zeigte Luise bei Frankes Pensionierung, wie fest sie an ihn gebunden war: Sie verweigerte anderen Polizisten den Gehorsam so beharrlich, dass man sie ebenfalls pensionierte. Auch Vögel können sich lebenslänglich an einzelne Menschen binden, etwa der Sperling Clarence (Kipps 1953) und die Dohle Jakob (Bentz 1995). Umgekehrt ist es einzelnen Menschen gelungen, sich Tiergemeinschaften anzuschließen. Sowohl Finke (1992) als auch Meynhardt (1984) machten sich durch anfängliche Futterangebote jeweils eine Schwarzwildrotte vertraut und zogen regelmäßig mit ihr durch die Wälder, so dass sie schließlich alle Tiere berühren und sogar mit ihnen im Kessel ruhen durften. Ein aktuelleres Beispiel ist der Fotograf und Autor Matto Barfuss (1999), der insgesamt 25 Wochen mit zwei Generationen einer wilden Gepardenfamilie in der Serengeti zusammenlebte. Er wurde als Gast akzeptiert, weil er wichtige Verhaltensweisen übernahm: Er begegnete den Tieren nur auf allen Vieren, half beim Bewachen der Jungtiere, lernte freundlich zu schnurren und seine Stellung ggf. auch durch Fauchen zu bekunden (Kurzfassung seiner Erlebnisse im Internet unter http: / / www.matto-barfuss.de/ d/ LMG/ ). Untersuchungen zur Mensch-Tier-Interaktion übersehen leicht, dass höhere Tiere oft viel mehr Zeichen wahrnehmen als der Mensch bewusst sendet. Die Forscher nennen dies den “Kluge-Hans-Effekt” - nach einem Pferd, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem Besitzer Wilhelm von Osten auftrat. Hans antwortete auf Fragen durch Klopfen mit dem Huf und konnte scheinbar Mengen abzählen, Zahlen addieren und buchstabieren. Eine genauere Untersuchung ergab, dass Hans nicht etwa Arithmetik perfekt verstand, sondern die menschliche Mimik und Gestik. Er erkannte, dass die gespannte Erwartung der Zuschauer genau dann in Erleichterung umschlug, wenn er bei der richtigen Zahl ankam, und hörte auf zu klopfen. Jede experimentelle Situation muss also ausschließen, dass Signale eine Rolle spielen, die für den Menschen gar nicht wahrnehmbar sind (Infraschall, Ultraschall, Gerüche usw.) oder die er übersieht (vor allem winzige Änderungen der Körperhaltung und -spannung). 2.2 Allgemeine Voraussetzungen der Mensch-Tier-Interaktion Bereits aufgrund ihrer gemeinsamen Vorfahren haben Menschen mit allen Tieren notwendigerweise viele Gemeinsamkeiten, und diese Ähnlichkeiten sind umso größer, je stärker sich ihre Lebensräume und Verhaltensweisen gleichen. Als Grundlage speziell semiotischer Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 51 Überlegungen werden zunächst einige Rahmenbedingungen aufgelistet, die eine Interaktion mit Tieren erleichtern oder behindern. Wir verstehen andere Arten umso besser, je ähnlicher deren Lebenswelt der unseren ist. Allesfresser, deren Nahrungssuche ein komplexes raumzeitliches Weltmodell voraussetzt, sind uns vertrauter als Grasfresser oder gar Muscheln, die weder mobil noch neugierig sind. Wichtig ist auch ein ähnliches Sozial- und insbesondere Sexualverhalten. Als Gedankenexperiment frage man sich, wie viele unserer Kunstwerke niemals entstanden wären, wenn Menschen feste Brunstzeiten hätten und keine Paarbindung kennen würden. Hilfreich für ein gegenseitiges Verstehen ist ein Leben in demselben Medium. So werden vokale Kontakte zwischen Mensch und Delphin behindert, weil Menschen unter Wasser nicht sprechen können, und nonverbale Kontakte, weil die Tauchermaske unsere Mimik verdeckt. Weitere entscheidende Fragen sind: - Ist das Lebewesen bodengebunden oder flugfähig? - Ist es tagaktiv oder nachtaktiv? Trivialerweise wichtig sind ähnliche raumzeitliche Dimensionen. Weil man erst ab einer bestimmten Körpergröße bedeutungstragende Körperbewegungen mit bloßem Auge sieht, lässt sich erst bei Betrachtung von Makroaufnahmen sagen, Springspinnen hätten neugierige Augen oder würden ihrer Partnerin zuwinken. Ebenso wichtig ist eine ausreichende Lebensdauer, denn zwischenartliche Verständigung setzt Lernen voraus und entwickelt sich erst durch wiederholte Begegnungen. Vor allem bei Haustieren hat ihre durchschnittliche Lebensdauer auch emotionale Auswirkungen. Wenn Kinder kleine Nager halten, sind ständige Trauerfälle vorherzusehen, während ein alternder Mensch sich sorgen wird (bzw. sollte), was nach seinem Tod aus seinem Hund oder Papagei wird. Hier schließt sich unmittelbar eine ontologische Voraussetzung an: Um ein Lebewesen als Individuum aufzufassen, müssen wir es bei jeder Begegnung leicht und eindeutig identifizieren können. Schäfer und andere Herdenbesitzer kennen jedes einzelne Tier und ordnen ihm eine sprachliche Kennzeichnung wie Knickohr oder Bless zu, die ein echter Eigenname werden kann. Man vermutet, solche Unterscheidungen würden von demselben Gehirnareal geleistet, das uns Menschengesichter spontan erkennen lässt und dessen Ausfall zu Gesichtsblindheit (Prosopagnosie) führt. Höhere Tiere erkennen nicht nur ihre Artgenossen wieder, sondern auch bekannte Tiere anderer Arten. Ein starkes Indiz für eine echte Interaktion besteht darin, dass umgekehrt das Tier erkennbar uns wieder erkennt. Dies ist nicht nur bei Säugetieren erfüllt, denn auch Vögel, Reptilien und Kraken erkennen einzelne Menschen wieder. Bei noch ferner stehenden Arten ist diese Leistung zweifelhaft. Zu skizzieren sind schließlich noch die neurologischen Grundlagen gegenseitigen Verstehens. Da die innerartliche Kommunikation für die Lebenspraxis unverzichtbar ist, besitzt der Mensch dafür spezielle Gehirnstrukturen, nämlich sog. Spiegelneuronen (cf. Bauer 2005). Jeder, der in engem Kontakt zu Haus- oder Nutztieren lebt, wird bestätigen, dass man auch deren Verhalten mit der Zeit immer besser versteht. Offenbar sprechen unsere Spiegelneuronen auch auf das Aussehen und Verhalten anderer Arten an. Dabei ist enge stammesgeschichtliche Verwandtschaft nicht nötig, da auch manche Schlangen- und Spinnenliebhaber versichern, sie verstünden spontan die Stimmungen und Bedürfnisse ihrer Lieblinge. Die folgenden Abschnitte tragen einige Aspekte des Aussehens und Verhaltens zusammen, die ein Verstehen erleichtern oder umgekehrt erschweren. Dagmar Schmauks 52 2.3 Semiotische Voraussetzungen der Mensch-Tier-Interaktion Als speziell semiotische Bedingung müssen die Zeichensysteme der Partner sich überschneiden, d.h. der Empfänger muss zumindest einige Zeichen des Senders hinreichend genau wahrnehmen, unterscheiden und verstehen. Nur durch Analogieschlüsse zugänglich ist uns die Lebenswelt von Tieren mit ganz anderen Sinnesmodalitäten, etwa für Infrarot (Klapperschlangen), Ultraschall (Fledermäuse) oder das Magnetfeld der Erde (Zugvögel). Jede Sinnesmodalität erschließt spezifische Objektbereiche. Beim Menschen sind Hören und Sehen besonders leistungsfähig, folglich konnten sich das Sprechen und die sog. “Körpersprache” als die beiden primären Zeichensysteme entwickeln. Drei Teilprobleme jeder Interaktion sind semiotisch besonders interessant, nämlich a) das Identifizieren des Gegenübers (bzgl. biologischer Art und als Individuum), b) das Erkennen der Stimmung des Gegenübers und c) das Verstehen der Mitteilungen des Gegenübers. Die unter (c) genannten Leistungen sind kognitiv unterschiedlich anspruchsvoll. So lernen junge Nutztiere durch einfache Konditionierung, einen Elektrozaun zu meiden und auf einen Lockruf hin zum Futtertrog zu kommen. Wenn hingegen Gebrauchshunde dazu ausgebildet werden, zahlreiche sehr spezielle Befehle zu verstehen und umgekehrt dem Hundeführer ganz bestimmte Mitteilungen zu machen, so liegt innerhalb eines begrenzten Gegenstandsbereiches eine echte Kommunikation vor (vgl. Abschnitt 3.2). Die aufgelisteten Teilprobleme sind je nach Kontext unterschiedlich wichtig. So hängt bei einer zufälligen Begegnung im Wald das eigene Verhalten davon ab, ob man das auftauchende Tier für einen Wolf oder einen Schäferhund hält. Bei fremden Hunden prüft man sorgfältig deren Stimmung und Kontaktbereitschaft, bevor man sie streichelt. Grundsätzlich sind die Inhalte sprachlicher Äußerungen weit weniger wichtig als deren Tonfall und die Gestimmtheit der Körperbewegungen (gelassen vs. hektisch), an denen Tiere die Stimmung des Menschen (Freude, Angst, Ärger…) sowie den jeweiligen Sprechakt (Lob, Warnung, Befehl…) erkennen. Ein Hund, den man freudig und in liebevollem Tonfall mit “Hallo, du blöde Töle! “ begrüßt, wird sich also nicht an der Wortwahl stoßen (vgl. im Menschenreich den durchaus herzlichen Gruß “Ha jetzetle mi leckst am Arsch! ”). 2.4 Die Begrenztheit der olfaktorischen Interaktion mit Tieren Eine Kommunikation mit Tieren ausschließlich durch riechbare Zeichen ist ausgeschlossen, da der menschliche Geruchssinn nicht sehr leistungsfähig ist. Menschen erkennen zwar einen Geruch an einem Baum als “Urin”, stellen aber nicht wie ein Hund mühelos fest, von welcher Art er stammt (Hund, Katze, Mensch? ) oder gar von welchem Individuum (Rivale, Freund, läufige Hündin? ). Der feine Geruchssinn mancher Tierarten wird vom Menschen für seine Zwecke genutzt. Seit Jahrtausenden nehmen Spürhunde die Fährte von fliehendem und insbesondere angeschossenem Wild auf. Das Trüffelschwein findet die kostbaren Knollen in mehreren Dezimetern Tiefe, allerdings keineswegs uneigennützig. Große Hoffnungen setzt man auf die Fähigkeit von Hunden, eine Krebserkrankung sehr früh und schonend zu erkennen. In bisherigen Versuchen gelang es trainierten Hunden, Lungenkrebs anhand von Atemproben und Blasenkrebs anhand von Urinproben zu erschnüffeln. Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 53 Bei vielen Tieren ist der durch Pheromone erzeugte Geruch ein entscheidendes Element im Sexualverhalten, da er über das Geschlecht eines Artgenossen und dessen Paarungsbereitschaft informiert. Menschen erkennen das Geschlecht des Anderen eher an Körperbau und Kleidung, und diese visuellen Zeichen können auch trügen. Da der Mensch nicht an feste Brunstzeiten gebunden ist, kann er einen Anderen begehren, ohne dass dieser seine Paarungsbereitschaft olfaktorisch signalisiert hätte. Man kann also behaupten, dass viele Formen von Liebesleid - und die sie darstellenden Kunstwerke! - erst entstanden, als olfaktorische Zeichen weniger wichtig wurden. Wie die Redensart jemanden nicht riechen können belegt, spielt jedoch auf der unbewussten Ebene der Geruch des Anderen bei der Partnerwahl weiterhin eine entscheidende aber oft übersehene (! ) Rolle. Dies gilt sogar dann, wenn er von Parfum oder dem Geruch eingenommener Medikamente überlagert wird. Menschen haben im Unterschied etwa zu Ratten auch keinen Gruppengeruch, der über freundliches vs. feindseliges Verhalten entscheidet. Sie nutzen jedoch die olfaktorischen Signale von Tieren, insbesondere die Signalwirkung von Pheromonen, mit denen brünstige Tiere ihre Artgenossen anlocken. Jagdausrüster bieten Sexuallockstoffe für Schwarzwild und andere Wildarten an. Umgekehrt lassen sich Marder und andere unerwünschte Besucher durch den verhassten Geruch ihrer Feinde vergrämen. Eine olfaktorische Manipulation ist es auch, wenn man einander unbekannte Tiere (etwa zahme Mäuse) aneinander gewöhnt, indem man sie wechselseitig im Urin des anderen Tieres wälzt. Beim Menschen sind Körpergerüche ebenso wie Erröten und Gänsehaut automatische Reaktionen, die man weder absichtlich produzieren noch unterdrücken kann. Dies gilt sowohl für den individuellen Körpergeruch als auch für die Gerüche starker Emotionen wie Angst, Wut oder sexuelle Erregung. Gut gemeinte Ratschläge wie “Du darfst dem Hund Deine Angst nicht zeigen” sind daher völlig unbrauchbar, denn der Hund riecht den Angstschweiß selbst dann, wenn man alle bewussten Abwehrreaktionen unterdrückt. Da Gerüche sich durch lang haftende Partikel verbreiten, lassen sich Nasentiere sehr viel schwerer täuschen als Augentiere. Jemand kann sich gegenüber Menschen erfolgreich durch Verkleidung, Perücke, farbige Kontaktlinsen oder gar chirurgische Eingriffe tarnen - ein Hund wird ihn dennoch weiterhin am Individualgeruch erkennen. Auf dessen Rolle als “biometrisches Merkmal” beruhen viele Kriminalgeschichten, in denen der verkleidete Verbrecher durch einen Hund entlarvt wird. Ähnlich kann man zwar einem Menschen gegenüber leugnen, man habe Fleisch gekauft, der Hund hingegen wird die Einkaufstasche nicht mehr aus den Augen (genauer: aus der Nase! ) lassen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass beim Menschen an Stelle der olfaktorischen Zeichen visuelle Zeichen getreten sind. Funktional gesehen entspricht etwa dem individuellen Geruch die Visitenkarte und dem Gruppengeruch das Vereinsabzeichen. 3 Vokale Interaktionen zwischen Mensch und Tier Vokale Zeichen werden mit dem Stimmtrakt oder anderen Körperteilen produziert und akustisch rezipiert. Sie kommen bei vielen Arten und mit vielen Funktionen vor. Bekannte Beispiele sind die Warnrufe von Vögeln, der Gesang der Wale, das Miauen von Katzen und das Grunzen von Schweinen. Hier nicht betrachtet werden Laute, die mit anderen Körperteilen produziert werden, etwa das Schrillen von Zikaden, das Trommeln auf die Brust von Gorillas und das Flossenpatschen von Robben. Wenn man sie einbezieht, ist man von der vokalen zur akustischen Kommunikation übergegangen. Dagmar Schmauks 54 Laute anderer Arten zu verstehen, hat evolutionäre Vorteile. Da kleine Vögel als jedermanns Beute besonders wachsam sind, veranlassen ihre schrillen Warnrufe auch viele andere gefährdete Tierarten dazu, die Lage selbst zu prüfen und ggf. zu fliehen. Durch dieses Abhören (vgl. Abschnitt 2.1) werden sie also zu Nutznießern der Zeichen einer anderen Art. Es liegt nahe, dass der Mensch vor allem die Laute seiner Nutz- und Haustiere zu verstehen gelernt hat. Die Menge je spezifischer Verben spiegelt wider, wie viele Laute wir akustisch unterscheiden und mit Bedeutungen versehen, beim Hund etwa winseln, bellen, knurren, hecheln und jaulen. 3.1 Formen und Funktionen vokaler Zeichen Ähnlich wie bei den Geruchssignalen produzieren manche Tierarten hörbare Zeichen, die das Geschlecht des Senders und seine Paarungsbereitschaft über weite Entfernungen verkünden. Dieses Verhalten findet sich bei beiden Geschlechtern, Beispiele sind der Gesang von Vogelmännchen einerseits, das Wiehern rossiger Stuten sowie das Geschrei rolliger Katzen andererseits. Amseln und etliche andere Vogelarten können beliebige Laute imitieren, etwa Klingeltöne, quietschende Türen und ratternde Rasenmäher. Bei intelligenten Arten wie Papageien und Rabenvögeln vermag dieses Talent zur Nachahmung auch einer begrenzten Kommunikation mit Menschen zu dienen. Beim Menschen ist die gesprochene Sprache das wichtigste und komplexeste vokale Zeichensystem. Zu unterscheiden ist jeweils zwischen der Äußerung selbst und weiteren hörbaren Merkmalen wie Intonation und Stimmlage. Weil auch die Stimme ein biometrisches Merkmal ist, kann man sich am Telefon erfolgreich mit “Ich bin’s” melden. Tiere erkennen vertraute Personen (und andere vertraute Lebewesen) nicht nur an der Stimme, sondern auch an anderen hörbaren “Mustern” wie der Gangart - vielleicht sogar am individuellen Atemrhythmus? Pfiffe haben in der Kommunikation mit anderen Menschen sehr begrenzte Funktionen, mit ihnen kann man sich aus größerer Entfernung bemerkbar machen und durch eine bekannte Tonfolge auch identifizieren. Eher problematisch geworden sind die Pfiffe, mit denen Männer eine attraktive Frau akustisch kommentieren. Im Umgang mit Tieren sind Pfiffe gebräuchlicher, vor allem als Lockzeichen mit großer Reichweite (vgl. die Hundepfeife am Ende dieses Abschnitts). Mit Singvögeln lassen sich Duette pfeifen - nicht als Kommunikation, aber als gemeinsames Hobby. Ein hier nicht vertieftes Thema ist der Einsatz von Musik, um etwa das Wohlbefinden und folglich die Milchleistung von Kühen zu steigern. Viele Tierarten verwenden art- und geschlechtspezifische Laute, an denen Artgenossen einander erkennen. Falls diese im hörbaren Bereich liegen, können auch Menschen Vogelarten am Gesang oder Froscharten am Quaken identifizieren. Jäger ahmen artspezifische Tierlaute als Lockrufe selbst nach, sie “mäuseln” etwa auf einer Fuchsjagd oder benutzen spezielle Geräte wie die “Lockpfeife” oder “Hasenquäke” (zum Repertoire von Täuschungen bei der Jagd vgl. Schmauks 2007: 32-42). Weil Warnlaute für das Überleben besonders wichtig sind, illustrieren sie auch die zunehmende Auffächerung von Bedeutungen sehr einprägsam. Viele Tierarten haben verschiedene Laute für Boden- und Flugfeinde, da deren Angriffe verschiedene Taktiken der Flucht erfordern. Gleichwertige Verbalisierungen eines Flugfeind-Warnlautes wären darum Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 55 “Raubvogel kommt! ” und “Versteckt euch im Bau! ” Erwachsene grüne Meerkatzen verwenden drei Warnlaute, die bei Artgenossen unterschiedliche Reaktionen auslösen: Der Luftfeindlaut löst Blick nach oben, der Bodenräuberlaut Flucht den nächsten Baum hoch und der Schlangenwarnlaut Aufstellen auf die Hinterbeine und Absuchen des Bodens aus (Rickheit u.a.: 2003: 44). Fallstudien zeigen, dass Menschen das Repertoire tierischer Laute durchaus lernen können - natürlich in begrenztem Ausmaß wie jede Fremdsprache -, und dass geeignete Tiere darauf eingehen. Watson (2004) unterschied bei seinem zahmen Warzenschwein Hoover fünfzehn verschiedene Laute - von Grußlauten über Warnungen vor bestimmten Gefahren bis zum Freudenruf angesichts eines Leckerbissens. Umgekehrt antwortete Hoover willig auf einigermaßen gelungene Versuche “seiner” Menschen, diese Schweinerufe nachzuahmen - und wirkte irritiert, wenn er sie nicht zu deuten vermochte. Auch Franke “unterhielt” sich derart mit seinem Wildschwein Luise (1991, vgl. Abschnitt 2.1). 3.2 Sprachliche Befehle Haus- und Nutztiere vermögen etliche sprachliche Befehle zu lernen, wobei man Reitpferde und Zugtiere nicht nur durch Zurufe wie “Hü! ” oder “Links! ” lenkt, sondern auch durch motorische Hilfen (Schenkeldruck, Zug am Zügel oder Leitseil). Der eindrücklichste Beleg sind die zahlreichen Gebrauchshunde, deren Lernwilligkeit und Gehorsam eine Ausbildung für bestimmte Zwecke möglich macht. Seit Jahrtausenden dienen Hunde als Jagd- und Hütehelfer sowie als Wächter der Wohnungen und Vorräte. Später kamen immer mehr Aufgaben hinzu, man denke an Lawinenhunde sowie Spürhunde für Drogen und Sprengstoff. Durch ihren feinen Geruchssinn vermögen Hunde der Spur eines Menschen zu folgen und Leichen aufzuspüren, sogar Ertrunkene in größerer Tiefe. Umgekehrt lernt der Hund einige Zeichen, um Menschen etwas mitzuteilen. Den Fund einer gesuchten Person oder Sache zeigt er an durch - Verbellen (am Fundort verharren und bellen), - Scharren (bei verschütteten Personen), - Bringseln (am Fundort etwas aufnehmen und dem Hundeführer bringen) oder - Rückverweisen (Pendeln zwischen Fundort und Hundeführer). Befehle an Gebrauchshunde müssen kurz und phonetisch markant sein. Inhaltlich sind sie Gebote (sitzen, kommen, suchen…) oder Verbote (nicht bellen, Menschen nicht anspringen). Ferner lernt der Hund, bei plötzlichem Lärm nicht panisch zu reagieren und von Fremden kein Futter anzunehmen. Die höchste semiotische Kompetenz haben Blindenhunde, die einige Dutzend Befehle wie “Geradeaus”, “Such Tür”, “Such Ampel” und “Überquere Straße” lernen, bei besonders intensivem Training auch einige Hundert. Jede Suchaufgabe hat besondere Rahmenbedingungen, so wird der Hund in einer Schalterhalle immer einen besetzten Schalter, im Bus hingegen immer einen freien Sitzplatz suchen. Später lernt er, auch solchen Objekten auszuweichen, die nur für seinen Besitzer ein Hindernis sind, etwa Schlaglöchern und offen stehenden Fenstern. Kognitiv am anspruchsvollsten ist der intelligente Ungehorsam, so verweigert ein gut dressierter Hund das Überqueren einer Straße, wenn er eine Gefahr bemerkt, die seinem blinden Besitzer entgeht. Dagmar Schmauks 56 Theoretisch umstritten ist, ob diese sehr differenzierten Interaktionen auch die Kriterien einer Kommunikation i.e.S. erfüllen. Bouissac zufolge (2004: 3394ff.) setzt zwischenartliche Kommunikation auf beiden Seiten die Fähigkeit zur Metakommunikation voraus, was bei irdischen Mitgeschöpfen nicht gegeben sei. Fleischer (1993: 29f) betont demgegenüber, dass Hunde auch mit Menschen kommunizieren können: Es ist beiderseits eine bestimmte Zeichenkompetenz vorhanden, die kontinuierlich ausgebaut werden kann. […] Im kommunikativen Raum entsteht ein gemeinsames Zeichensystem, das auf zwei verschiedenen Zeichenvorräten basiert, jedoch in kommunikativer Hinsicht ein System ergibt. 3.3 Lock- und Scheuchrufe Weitere vokale Zeichen sind die artspezifischen Lock- und Scheuchrufe. Lockrufe wenden sich an Tiere in Hörweite, so ruft man ein Hühnervolk durch “Putt-Putt-Putt” zur Fütterung oder eine Schafherde mit “Soiz-Soiz-Soiz” zur Salzlecke. Regionale Varianten sind immer artspezifisch, zu ruft man in Kärnten die Kühe mit “Tscho! Tscho! ” und die Schafe mit “Tschap! Tschap! ” Häufig wird der regionale Name der Tierart verdoppelt wie in - “Goiss-Goiss! ”: Ziegen (Salzburg/ Tirol), - “Poule-Poule! ”: Hühner (Frankreich) und - “Kaiwei! Kaiwei! ”: Kälber (St. Johann/ Tirol). Da jeweils ein kurzes Wort wiederholt wird, kann der Mensch seinen Ruf melodisch gestalten. Bei dreisilbigen Rufen ist das Muster meist <lang - kurz - kurz> wie in “Wuuuz-wuzwuz” als Lockruf für Schweine (Salzburg/ Tirol). Semiotisch interessanter sind die Lockrufe, mit denen die Senner oder Sennerinnen ihre Kühe über weite Entfernungen zum Melken rufen. Man findet sie in vielen Gebirgsgegenden, etwa als Jodeln in den Alpen und als Kulning in Norwegen und Schweden. Da lautes Schreien für die Stimmbänder zu anstrengend wäre und höhere Frequenzen weiter tragen, handelt es sich eher um ein Singen in hoher Stimmlage mit typischem häufigem Umschlagen zwischen Brust- und Kopfstimme. Während sich die beschriebenen Lockrufe an ganze Herden wenden, wird man einzelne Tiere eher mit ihrem Namen locken. Eine mechanisierte Variante sind verschiedene Tonfolgen, die einzelne Mastschweine zum Futtertrog rufen. Sie werden schnell gelernt und sind funktional gesehen Eigennamen. Diese Methode soll innerhalb der Intensivhaltung die Lebensqualität der Tiere verbessern, indem sie Langeweile und Futterkonkurrenz vermindert und den Tieren mehr Bewegung verschafft (im Pilotprojekt erklingt jede persönliche Tonfolge achtmal täglich). Da die Futteraufnahmen aller Tiere getrennt aufgezeichnet werden, lässt sich auch die individuelle Futterverwertung genau messen (so dass man Kümmerer frühzeitig aussortieren kann). Das Scheuchen von Nutztieren ist weit weniger differenziert. Gegenüber herandrängenden Herdentieren ist es meist ein multimodales Zeichen. Die typische “Scheuchgeste”, bei der beide Hände mit nach außen gerichteten Handrücken mehrfach ein- und weggeklappt werden, wird in der Regel mit einem lauten “Ksch! ” kombiniert. Dieser Laut wird möglicherweise intuitiv gewählt, weil er dem Fauchen eines Fressfeindes ähnelt. Früher verscheuchten Hirten angreifende Raubtiere durch lautes Schreien, das von Verteidigungsbereitschaft kündigte und dessen Wortlaut belanglos war. Heute sind Wild- Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 57 schweine das letzte wehrhafte Wild in mitteleuropäischen Wäldern. Broschüren über “Wildtiere in der Stadt” empfehlen, die Tiere nicht durch Lärm zu reizen, sondern sich unter ruhigem Reden zurückzuziehen. Weil aufgeschreckte Tiere am ehesten angreifen, sollte man sich in echter “Wildnis” durch gleichmäßige Geräusche bemerkbar machen. Da unaufhörliches Singen aber sehr anstrengend ist, bieten Trekking-Ausrüster sog. “Bärenglocken” an, die am Rucksack befestigt ständig bimmeln und (angeblich) bewirken, dass Bären dem Menschen ausweichen. Dies leitet über zu den Geräten, die zur Interaktion mit Tieren erfunden wurden. Mit den Tönen der Hundepfeife, die für Menschen unhörbar hoch sind, kann man Hunde auf den Lockruf einer bestimmten Frequenz trainieren oder ihnen mit unangenehmen Tönen ein unerwünschtes Verhalten abgewöhnen. 4 Nonverbale Interaktionen zwischen Mensch und Tier Nonverbale Zeichen werden motorisch produziert und visuell rezipiert, die wichtigsten Teilsysteme sind Mimik, Blickverhalten, Gestik sowie Berührungs- und Distanzverhalten. Physiologische Reaktionen wie Erröten, Zittern und Schwitzen sind nicht willentlich steuerbar und daher für absichtliche Mitteilungen ungeeignet. Wer länger mit Tieren zusammenlebt, lernt auch solche Körperbewegungen zu deuten, die der Mensch selbst nicht produzieren kann. Dass bei vielen Säugetieren Ohren und Schwanz wichtige Stimmungsträger sind, spiegelt sich in Redensarten wie “neugierig die Ohren spitzen”, “traurig die Ohren hängenlassen” oder “verlegen den Schwanz einklemmen”. Je entfernter die Verwandtschaft, desto fremder die Ausdrucksmittel. Aber sogar der Farbwechsel gereizter Kraken erinnert noch an das wütende Erröten eines Menschen. Manches ist nicht ohne weiteres einzuordnen. Zählen etwa die Bewegungen eines Elefantenrüssels zur Mimik (da der Rüssel zum Gesicht gehört) oder zur Gestik (da er Selbst-, Fremd- und Objektberührungen erlaubt)? 4.1 Mimik und Blickverhalten Mimik und Blickverhalten entscheiden in jeder Interaktion über die schwer definierbare Stimmung zwischen den Beteiligten. Der Ausdruck Mimik ist zunächst nur für das menschliche Gesicht definiert. Zahlreiche Muskeln bewegen Mund, Nase, Augen und Augenbrauen zu einem Gesamteindruck, den wir ohne langes Nachdenken deuten. Ebenso wie das Wiedererkennen von Gesichtern kann auch diese Fähigkeit zur Empathie gestört sein. So nimmt man an, dass Autisten die aktuelle Stimmung anderer Menschen nicht spontan wahrnehmen und folglich nicht berücksichtigen können. Voraussetzung einer Mimik im engeren Sinn ist das Vorhandensein eines Gesichts. Menschengesichter sind geometrisch gesehen stehende Ovale, deren obere Hälfte zwei nebeneinander liegende Punkte und deren untere Hälfte einen waagerechten Strich enthält. Die Nase ist demgegenüber weniger wichtig. Bereits Säuglinge scheinen menschliche Gesichter allen anderen Objekten vorzuziehen, denn sie lassen ihren Blick deutlich länger darauf verweilen. Mit etwa zwei Monaten erwidern sie ein Lächeln und reagieren irritiert auf eine ernste oder drohende Mimik. Diese Prägung auf Gesichter ist so stark, dass Menschen sogar unbelebten Objekten ein Gesicht und eine bedeutungstragende Mimik zusprechen. Dagmar Schmauks 58 Beispiele sind Stiefmütterchen, der Mann im Mond sowie zahlreiche Alltagsobjekte wie der “traurige Wischmopp”, die François und Jean Robert (2000) in zahlreichen Fotos dokumentiert haben. Andere Arten lassen sich danach anordnen, wie gut wir ihnen Gesichter und eine Mimik zusprechen können. Förderlich für einen Blickkontakt sind zwei Augen auf der Vorderseite des Kopfes, deren Pupillen rund sind und die sich erkennbar bewegen, so dass das Auge bei seiner Wahrnehmungstätigkeit beobachtbar ist. Menschenaffen erfüllen diese Bedingungen, während der Blick von Eulen und Nattern starr wirkt. Huftiere, viele Vögel und andere Tiere mit seitlichen Augen fixieren uns immer nur mit einem Auge, was von unseren Intuitionen über visuelle Aufmerksamkeit abweicht. Die schlitzförmigen Pupillen von Ziegen, Katzen und Vipern wirken unheimlich und wurden früher auch dem Teufel zugeschrieben. Noch fremder sind Arten mit abweichender Augenzahl, allerdings sind die oft achtäugigen Gesichter von Spinnen ohnehin nur mittels einer Lupe erkennbar. Ein Beleg für unsere Intuitionen über stammesgeschichtliche Verwandtschaft bzw. Fremdheit sind Phantasiedarstellungen, auf denen außerirdische Lebewesen bzgl. ihrer Augen möglichst exotisch sind, also ungerade Augenzahlen, Stielaugen oder Rundumaugen besitzen. Die größte irdische Überraschung erwartet uns bei den Weichtieren, denn die riesigen Augen von Kraken sind ebenso leistungsfähig wie menschliche und ihr Blick wirkt äußerst neugierig und intelligent. Wie umfassend man eine artfremde Mimik lernen kann, belegen erfahrene Veterinärmediziner, die bei der Prüfung der Deckbereitschaft (kommerzieller Fachausdruck: Besamungswürdigkeit) von Kühen ein Brunstgesicht erkennen. Eine morphologische Definition ist jedoch genauso schwierig wie beim Menschen: Wie genau sieht ein verliebtes Gesicht aus? Andererseits gibt es grundlegende Missverständnisse. Im Gesicht von Delphinen sehen wir wegen ihrer aufwärts gerichteten Mundwinkel ein ständiges Lächeln, obwohl diese Mundstellung nicht geändert werden kann und darum auch bei Schmerz- oder Leidzuständen gegeben ist. Semiotisch interessant aber praktisch wenig ausgereift sind Versuche, die artspezifische Mimik eines Tieres durch Geräte nachzuahmen. Da etwa bei Pferden die Stellung der Ohren über ihre Stimmung informiert, hat eine begeisterte Reiterin das Gerät Horsetalk erfunden. Es handelt sich um einen Stirnreif mit zwei verstellbaren Ohren aus Blech, die in Größe, Form und Lage den Ohren von Pferden gleichen. Indem man diese Ohren in die angemessene Stellung dreht, soll der Mensch seine eigene Stimmung dem Pferd mitteilen. Man könnte jedoch vermuten, dass das Pferd die Stimmung eines vertrauten Menschen an dessen Geruch und Körpermelodie viel genauer erkennt und auf technische Hilfen nicht angewiesen ist. 4.2 Gesten und andere Körperbewegungen Das zweite nonverbale Teilsystem sind Gesten und andere Körperbewegungen. Beim Menschen bezeichnet der Ausdruck Gestik vor allem die Bewegungen von Händen und Armen, er lässt sich jedoch mühelos ausweiten auf andere Organe, die der Objektmanipulation und Interaktion dienen. Dieser verallgemeinerte Begriff von Gestik umfasst dann auch die Bewegungen von Vorderbeinen (Katze), Tentakeln (Krake), Fühlern (Ameise) oder Scheren (Krebs). Die Zahl der Extremitäten ist weniger wichtig - wenn wir mehrere Objekte gleichzeitig handhaben sollen, beneiden wir höchstens den Kraken um seine acht Arme. Artspezifische Ausdrucksbewegungen verursachen in der zwischenartlichen Interaktion systematische Missverständnisse. So wird die Verständigung zwischen Pferd und Hund Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 59 dadurch behindert, dass das Anlegen der Ohren beim Pferd Aggression, beim Hund hingegen Unterwürfigkeit ausdrückt (Bouissac 2004: 3392). Auch Begegnungen zwischen Mensch und unbekanntem Hund scheitern oft an solchen Fehldeutungen. Blickkontakt ist beim Menschen eine freundliche Kontaktaufnahme, unter Hunden hingegen ein Ausdruck von Dominanz (Drohstarren). Umgekehrt fassen Menschen den von Hunden bevorzugten abgewendeten Blick als Missachtung auf. Da freundliches Lächeln die Zähne freilegt, sehen Hunde darin eine Drohung. Das als Begrüßungsgeste gemeinte Heben der Hand kann der Hund als Beschwichtigen missverstehen (und sich folglich als überlegen empfinden und verhalten). Wenn sich jemand freundlich zu einem Hund herabbeugt, kann dieser sich durch den weit größeren Menschen in die Enge getrieben fühlen. Der denkbar größte Fehler ist das ängstliche Weglaufen, denn damit verwandelt man sich selbst in ein Beutetier, das folgerichtig gejagt wird. Bei vielen Säugetieren ist der Schwanz ein wichtiger Stimmungsträger, so ist der typische Ringelschwanz des Hausschweins ein Anzeichen für Wohlbefinden. Auch die Dynamik der Schwanzbewegung ist bedeutungstragend, ein Hund etwa drückt durch langsames Schwanzwedeln freundliche Kontaktbereitschaft, durch Peitschen mit dem Schwanz eher Angriffslust aus. Viele Beißattacken geschehen, weil der Mensch eine ernst gemeinte Drohung mit einer Einladung zum Tätscheln verwechselt. Gleichmäßige Bewegungen von Extremitäten sind unserem eigenen Gehen und Laufen am ähnlichsten. Sogar bei Kraken können wir noch sagen, sie würden sich auf den Fingerspitzen fortbewegen (sie können allerdings auch dicht an den Meeresboden geschmiegt dahinkriechen). Die ruckartigen Bewegungen mancher Spinnen mit ihrem ständigen Wechsel von Huschen und Verharren wirken demgenüber ebenso fremd wie das Schlängeln von Schlangen, die bogenbildenden Schritte von Spannerraupen oder das fußlose Kriechen von Schnecken. Die Körperspannung drückt Wohlbzw. Missbefinden aus, allerdings wird sie eher gefühlt als gesehen. Wenn sich beim Streicheln einer Katze deren genüsslich entspannter Körper in Sekundenbruchteilen versteift, sollte der Mensch dies als Warnung auffassen und sofort seine Hand wegziehen. Gerade durch ein so plötzliches Umkippen der Stimmung ist die Katze in den Ruf geraten, falsch oder gar verschlagen zu sein. 4.3 Berührungsverhalten Sozial lebende Tiere mit berührungsempfindlicher Haut haben ein komplexes Berührungsverhalten, produzieren also oft ein- oder gegenseitige Berührungen. Pferde beknabbern einander, Affen lausen einander ausgiebig, und Schweine ruhen gerne dicht aufeinander gestapelt (Kontaktliegen). Sexual- und Brutpflegeverhalten sowie Rangkämpfe bestehen aus vielfältigen Berührungen, und die Jungtiere höherer Arten balgen sich freundschaftlich. Symmetrische Fremdberührungen setzen morphologisch ähnliche Körperteile voraus. Beispiele sind das Pfötchengeben des Hundes (Hand-Pfote) und das Köpfchengeben der Katze (Kopf-Kopf), möglich wäre auch ein Hand-Tentakel-Kontakt mit einem an Menschen gewöhnten Kraken. Rinder hingegen können nicht ihre Vorderbeine zum Gruß hinreichen und begrüßen vertraute Menschen daher mit Ablecken. Bouissac (1993: 12) zufolge missverstehen wir das Köpfchengeben der Katze als Liebeserklärung, obwohl es nur eine Reviermarkierung durch Duftdrüsen im Gesicht der Katze ist. Man kann aber auf einer höheren Stufe argumentieren, beide Partner würden mit je artspezifischen Mitteln eine Zugehörigkeit ausdrücken, Dagmar Schmauks 60 nämlich der Mensch taktil (Berühren des Katzenkopfes mit seinem Kopf) und die Katze taktil-olfaktorisch (Auftragen einer Duftmarke, die bedeutet “gehört zu mir”). Auch Küsse (genauer: oral-orale Küsse) setzen ähnliche Ausführungsorgane voraus. Menschen drücken ihre höchst beweglichen und sensiblen Lippen zur Begrüßung oder bei sexuellen Kontakten aufeinander. Bei Schweinen übernimmt der Rüssel die Funktion des menschlichen Mundes, und auf vielen Glückwunschkarten und Cartoons pressen Schweinepärchen ihre passgenauen Rüsselscheiben aufeinander. Wer also ein Ferkel küsst, wird seinen Kuss nicht auf dessen Mund drücken (der schwer zugänglich ist), sondern auf die Rüsselscheibe (die aber ein Teil der Nase ist). Dies leitet über zu medizinischen und hygienischen Erwägungen. Enger Kontakt kann Tierkrankheiten auf den Menschen übertragen und umgekehrt, und viele Menschen finden den Kontakt zwischen Tiermaul (-schnauze, -schnabel usw.) und nackter Menschenhaut unappetitlich. Dies gilt in verstärktem Maße für einen Kontakt zwischen Tiermaul und Menschenmund. Da man jedoch manche Kinder eigens ermahnen muss, tierische Spielgefährten nicht auf die Schnauze zu küssen, ist diese Ablehnung gelernt und nicht angeboren. Ferner belegen empirische Untersuchungen, dass gerade das Aufwachsen zusammen mit Tieren das Immunsystem stärkt und vor Allergien schützt. Ob ein Hautkontakt zwischen Mensch und Tier für beide angenehm ist, hängt von der jeweiligen Beschaffenheit der Haut ab. Für die streichelnde Menschenhand besonders anziehend sind die vielen Varianten von Fell: seidig oder borstig, glatt oder lockig. Auch Vögel, die das Gekraultwerden sichtlich genießen und gerne mit ihrem Schnabel in Menschenhaaren wühlen, sind noch brauchbare Partner für solches Grooming. Schleimige Häute hingegen lösen eher Ekelgefühle aus (wobei man Schlangen oft irrigerweise solche Schleimigkeit nachsagt), und bei stachligen und wehrhaften Tieren verbietet sich ein Hautkontakt ohnehin. Ein oft übersehener Aspekt ist der beim Streicheln ausgeübte Druck. Allzu zaghafte Berührungen (vielleicht verbunden mit Angstgeruch) sind Hunden und Katzen offenbar unangenehm, sie reagieren weit positiver auf herzhaftes Knuddeln. 4.4 Distanzverhalten Grundlegend für Sozialkontakte ist schließlich noch das Distanzverhalten, also der von Lebewesen gesuchte oder geforderte Abstand zu anderen (seine Gesetzmäßigkeiten beim Menschen untersucht die sog. Proxemik). Während Distanztiere wie Rehe immer eine artspezifische Distanz zu anderen aufrechterhalten, suchen Kontakttiere wie Wildschweine häufig körperliche Nähe. Kontaktverhalten ist manchmal vorteilhafter, so überstehen dicht gedrängte Tiergruppen kalte Winternächte besser und schützen ihre in die Mitte genommenen Jungtiere sehr wirksam - man denke an die Wagenburg von Moschusochsen. Genauere Analysen des Distanzverhaltens unterscheiden Fluchtdistanz und kritische Distanz. Fluchtdistanz ist die Entfernung, ab der das Tier flieht, wenn es sich bedroht fühlt. Sie hängt ab von der biologischen Art - beträgt etwa beim Schneehuhn nur wenige Dezimeter -, aber auch von Umgebungsfaktoren wie Vegetation, Tageszeit und Witterung. Die kritische Distanz ist noch kleiner: Sie ist die Entfernung, ab der ein Tier angreift, das nicht fliehen kann. Auch sehr kleine Tiere werden ernst zu nehmende Gegner, wenn man sie in die Enge treibt (was etwa jeder weiß, der einmal von einer Ratte angesprungen wurde). Zwischen den beiden Distanzgrenzen entscheidet sich also, wie eine Begegnung ausgeht. Viele Beißattacken von Hunden (vor allem, wenn diese irgendwo angebunden sind) geschehen, weil der sich Die Rolle der Zeichenmaterialität in Interaktionen zwischen Mensch und Tier 61 nähernde Mensch deren Anzeichen von Angst und/ oder Aggression nicht erkennt. Ähnlich werden in unübersichtlichen Waldgebieten ahnungslose Jogger oft von Bachen angegriffen, weil sie eine ruhende Wildschweinrotte überrascht haben, die ihre Frischlinge bedroht sieht. Raubtier-Dompteure im Zirkus arbeiten bei Dressur und Auftritt sehr gezielt mit den genannten Distanzen. Wenn sich der Dompteur dem Tier nähert, wird ein Fluchtverhalten ausgelöst, das wegen der begrenzten Manege schnell in das gewünschte beeindruckende Angriffsverhalten umschlägt, das etwa bei Tigern aus Maulaufreißen, Fauchen, Aufbäumen und Prankenhieben besteht. Nur sofortiges Zurückziehen aus der kritischen Zone stoppt den Angriff. Durch ständige Veränderung des Abstandes hält also der Dompteur die Tiere in Bewegung, um die Schaubedürfnisse des Publikums zu erfüllen. 5 Fazit Die Untersuchung der verschiedenen Sinnesmodalitäten und Medien hat gezeigt, dass die Materialität der Zeichen in der Kommunikation mit Tieren eine entscheidende Rolle spielt. Tiere identifizieren bekannte Menschen anhand biometrischer Merkmale, die ihren Besitzern unterschiedlich stark zugänglich sind. Geruchliche Zeichen sind besonders konkret, da sie aus Partikeln bestehen. Zugleich ist jedoch der menschliche Geruchssinn wenig leistungsfähig und daher wenig geeignet für die zwischenartliche Interaktion. Allein an ihrem Geruch vermögen wir Tiere verschiedener Arten kaum zu unterscheiden und Individuen noch weniger - allerdings wird diese Fähigkeit auch selten verlangt. Auch dass wir das Geschlecht und die Paarungsbereitschaft anderer Lebewesen nicht olfaktorisch wahrnehmen, vermag zwar innerartliche Balzversuche zu beeinträchtigen, spielt aber in der Interaktion mit Tieren keine Rolle, da deren Geruchssignale sich nicht an uns richten. Während Menschen nur enge Vertraute am Eigengeruch erkennen, nehmen sie deren Stimme und Körpermelodie durchaus als identifizierende Merkmale wahr. So erkennt man oft Bekannte auf große Entfernung an ihrem typischen Gang, lange bevor man ihr Gesicht genau wahrnimmt. Um die Stimmung eines Menschen zu erkennen, orientieren sich Artgenossen ebenso wie Tiere vor allem am Tonfall und an der Gestimmtheit der Körperbewegungen und weniger an den geäußerten Worten. Nur Menschen werden daher durch eine Diskrepanz zwischen Äußerungen und Tonfall stark irritiert; so ist der Wunsch “Lass dich umarmen! ” mit starr ausgestreckten Armen ein typischer Fall von sog. double-bind. Möchten umgekehrt Menschen die Stimmung von Tieren erkennen, müssen sie deren artspezifische Körpersprache lernen. Wie umfangreich das möglich ist, belegt die zwischenartliche Kompetenz von Menschen, die beruflich mit Tieren umgehen (Tierzüchter, Veterinärmediziner, Dompteure usw.) oder sich im Alltag ganz auf sie einlassen. Literatur Barfuss, Matto 1999: Meine Gepardenfamilie, Zürich: Baumhaus-Verlag Bauer, Joachim 2005: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg: Hoffmann und Campe Bentz, Hans G. 1995: Gute Nacht, Jakob. Ein heiterer Roman, München: Heyne Bouissac, Paul 1993: “Semiotisches Wettrüsten: Zur Evolution artübergreifender Kommunikation”, in: Zeitschrift für Semiotik 15, 3-21 Dagmar Schmauks 62 Bouissac, Paul 2004: “Interspecific Communication”, in: Posner, Roland, Klaus Robering & Thomas A. Sebeok (eds.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 3. Teilband, Berlin/ New York: de Gruyter, 3391-3396 Finke, Richard 2002: Auf Tuch- und Borstenfühlung. Tagebuch des ‘Keilers h.c.’, Oberviechtach: Forstner Fleischer, Michael 1993: “Kommunikation zwischen Mensch und Hund”, in: Zeitschrift für Semiotik 15, 23-40 Franke, Werner 1991: Luise - Karriere einer Wildsau, Bergisch Gladbach: Lübbe Kipps, Clare 1953: Sold for a farthing, London: Frederick Muller (deutsche Übersetzung 1956: Clarence der Wunderspatz, Zürich: Arche) Lishman, William 1996: Father Goose. The Adventures of a Wildlife Hero, London: Orion (deutsche Übersetzung 1996: Vater der Gänse. Dem Geheimnis des Vogelzugs auf der Spur, München: Droemer Knaur) Meynhardt, Heinz 1984: Schwarzwild-Report, Melsungen: Neumann-Neudamm Rheinz, Hanna 1994: Eine tierische Liebe. Zur Psychologie der Beziehung zwischen Mensch und Tier, München: Kösel Rickheit, Gert, Theo Herrmann & Werner Deutsch 2003: Psycholinguistik. Ein internationales Handbuch, Berlin/ New York: de Gruyter Robert, François & Jean Robert 2005: Gesichter, Hildesheim: Gerstenberg Schmauks, Dagmar 2007: Semiotische Streifzüge. Essays aus der Welt der Zeichen, Münster: LIT Watson, Lyall 2004: The Whole Hog. Exploring the Extraordinary Potential of Pigs, London: Profile Books Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen Martin Siefkes For some signs, the relation of sign matter and sign vehicle is simple and straightforward: on a page, the blackened areas are directly recognizable as graphetic level of a text. Only unintentionally blackened parts (blots) can disturb the discrimination between sign matter and sign vehicle. For stylistic signs, on the other hand, the discrimination between sign matter and sign vehicle is one of the most important tasks for the sign receiver. Stilistic signs appear when a number of varieties exist on the basis of a schema that makes the different possibilities comparable. They can be described as regularities of choice that carry a meaning. The unusual relation between sign matter and sign vehicle is characteristic for these signs: For decoding the sign, alternative possibilities of expression and behavior have to be considered; by comparing them with the given sign matter (i.e. a house, a text or a car drive with a certain style), the regularities of choice can be extracted. These regularities of choice form the sign vehicle. Style theory, therefore, belongs to those parts of cultural theory that have to pay special attention to the material side of the sign. Das Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger ist bei manchen Zeichen einfach und direkt, etwa wenn die Schwärzungen auf einem Papier als graphetische Ebene eines Textes erkennbar werden: Höchstens unbeabsichtigte Schwärzungen (Kleckse) können die Trennung von Zeichenträger und -materie erschweren. Bei stilistischen Zeichen ist dies anders: Hier gehört die Trennung des Zeichenträgers von der Zeichenmaterie zu den wesentlichen Aufgaben, die der Empfänger zu leisten hat. Stilistische Zeichen treten dort auf, wo eine Möglichkeit der Variation bei grundsätzlicher Vergleichbarkeit besteht. Sie können als bedeutungstragende Regelmäßigkeiten der Auswahl beschrieben werden. Das ungewöhnliche Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger ist eine Besonderheit dieser Zeichen: Zur vorgefundenen Zeichenmaterie (z.B. einem Haus; einem Text; einer Autofahrt) müssen zunächst alternative Ausdrucksbzw. Verhaltensmöglichkeiten hinzugenommen werden. Diese Regelmäßigkeiten der Auswahl bilden den Zeichenträger. Die Stiltheorie gehört damit zu jenen Bereichen der Kulturtheorie, die der Materialität des Zeichens besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. 1 Einleitung Zeichenträger und Zeichenmaterie existieren bei allen Zeichenprozessen. Das Verhältnis, in welchem sie zueinander stehen, kann dabei jedoch sehr unterschiedlich sein. Verschiedene Zeichentypen können sich darin unterscheiden, welchen Charakter dieses Verhältnis annimmt, womit es zu einem distinktiven Merkmal von Zeichen wird. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Martin Siefkes 64 Klare und gut handhabbare Definitionen beider Begriffe hat Roland Posner entwickelt: 1 Alle physikalisch feststellbaren Elemente, die während eines Kommunikationsprozesses durch den Kanal transportiert werden, gehören - ohne Rücksicht auf ihre semiotische Relevanz - zur Zeichenmaterie. Sie ist zugleich Produkt der Sendung (“output”) und Ausgangspunkt der Rezeption (“input”), in ihr schlägt sich die Nachricht sinnlich wahrnehmbar nieder. (Posner 1980: 688) Die semiotisch relevanten Teile der Zeichenmaterie und diejenigen Teile der Nachricht, die als Trägerinformationen für andere Teile der Nachricht fungieren, werden unter dem Begriff des Zeichenträgers zusammengefaßt. Der Zeichenträger ist wie fast jede Nachricht mehrschichtig. Die unterste Ebene bilden die physikalischen Informationsträger, d.h. die semiotisch relevanten Elemente der Zeichenmaterie. […] Wer eine Mitteilung ohne Abstriche verstehen will, muss aus der gegebenen Zeichenmaterie den Zeichenträger und aus diesem die Endinformationen rekonstruieren können. (ebd.: 689) Die Unterscheidung zwischen Zeichenmaterie und Zeichenträger ist also der Ausgangspunkt für die Dekodierung einer Nachricht. Oft ist sie nicht schwierig, etwa wenn wir einen Text lesen: Hier sind die Schwärzungen leicht als jener Teil der Zeichenmaterie zu erkennen, die gleichzeitig Zeichenträger sind. (Genauer gesagt, geht es um die Form der Schwärzungen auf dem weißen Papier; die Annahme, nur die geschwärzten Teile des Papiers seien relevant und die weißen könne man auch getrost weglassen, wäre natürlich falsch, da die weißen Teile die spezifische Form der Schwärzungen erst ermöglichen.) Die Ränder des Papiers gehören normalerweise nicht zum Zeichenträger, ebenso wie die Oberflächentextur, die genaue Helligkeitsstufe und die Art des verwendeten Schwärzungsmittels. Bei schriftlichen Texten können wir die Trennung von Zeichenträger und Zeichenmaterie, sobald wir als Kind das richtige Vorgehen gelernt haben, problemlos durchführen. Bei stilistischen Zeichen ist dies anders: Hier sind Zeichenträger und Zeichenmaterie auf komplexe Art miteinander verbunden; ihre Trennung stellt erhebliche Ansprüche an den Empfänger. Stilistische Zeichen treten dort auf, wo eine Möglichkeit der Variation bei grundsätzlicher Vergleichbarkeit besteht. Sie können als bedeutungstragende Regelmäßigkeiten der Auswahl beschrieben werden. Das ungewöhnliche Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger ist eine Besonderheit dieser Zeichen: Zur vorgefundenen Zeichenmaterie (z.B. einem Haus; einem Text; einer Autofahrt) müssen zunächst alternative Ausdrucksbzw. Verhaltensmöglichkeiten hinzugenommen werden. In einem weiteren Schritt muss der Stilempfänger nun die bedeutungstragenden Auswahlvorgänge extrahieren und erhält damit den Zeichenträger. - Die Stiltheorie gehört damit zu jenen Bereichen der Kulturtheorie, die der Materialität des Zeichens besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Um uns diesen Vorgang genauer anschauen zu können, müssen wir uns zunächst genauer anschauen, was stilistische Zeichen sind. Dabei soll in Abschnitt 2 eine Vorschau auf die allgemeine Stiltheorie gegeben werden, die der Autor in seiner Dissertation entwirft. In Abschnitt 3 wird auf dieser Grundlage betrachtet, wie die Extraktion des Zeichenträgers aus der Zeichenmaterie bei stilistischen Zeichen erfolgt. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 65 2 Vorschau auf eine allgemeine Stiltheorie 2.1 Allgemeines Bisherige Stiltheorien waren meist bereichsspezifisch. 2 Stil kann jedoch als eine bestimmte Zeichenart mit spezifischen Eigenschaften beschrieben werden. Damit wird es möglich, den in verschiedenen Bereichen von Kultur, Kommunikation und Alltagsleben anzutreffenden Stilprozess in allgemeiner Weise zu beschreiben, indem der Prozess auf der zugrunde liegenden Zeichenebene untersucht wird. 3 Als Gemeinsamkeit der verschiedenen Stilprozesse kann abgeleitet werden, dass bei einem Auswahlprozess eine Bedeutung entsteht. Entscheidend ist, dass diese Bedeutung tatsächlich durch die Auswahl entsteht; falls es sich bei den Alternativen, aus denen ausgewählt wird, also selbst um Zeichen handelt, entsteht eine zusätzliche Bedeutung, die von der des Zeichens zu unterscheiden ist. Für die Alternativen, deren Auswahl zur Entstehung von Stil führt, können drei grundsätzliche Gegenstandsbereiche angenommen werden: Verhaltensweisen, Artefakte und Texte. Wenn Auswahl ausgehend von Variation beschrieben werden soll, muss der Raum aller in den entsprechenden Gegenstandsbereichen existierenden Varianten allgemein erfasst werden. Er soll hier als Möglichkeitsraum bezeichnet werden. Variation setzt das Feststehende voraus, innerhalb dessen variiert werden kann. Bevor wir Varianten beschreiben können, müssen wir daher zunächst eine allgemeine Beschreibungsweise für die Kategorien finden, die Varianten enthalten können, und beschreiben, wie diese gebildet werden. Innerhalb des Möglichkeitsraums müssen wir somit zwischen Möglichkeiten innerhalb und außerhalb derselben Kategorie, zwischen Varianten und Nicht-Varianten unterscheiden. Wir benötigen also ein System zur Gliederung des Möglichkeitsraums. Dafür nehmen wir eine allgemeine Gliederung in Schemata an. Gemäß unserer oben eingeführten Dreiteilung unterscheiden wir Verhaltensschemata, Artefaktschemata und Textschemata. Dabei gilt, dass die Schemata jeweils verschiedene Varianten umfassen. Anders ausgedrückt: Schemata unterdeterminieren die konkreten Ausführungen, die auf ihnen basieren. Schemata unterteilen sich in einzelne Schemaorte, die die einzelnen Bestandteile des Schemas charakterisieren. So gibt es etwa beim Autofahren eine Reihe von spezifischen, innerhalb des Schemas abgrenzbaren Bestandteilen wie “Anfahren”, “Linksabbiegen”, “Rechtsabbiegen” und “Überholen”. 4 Mit Hilfe von Schemata werden Alternativenklassen gebildet. 5 Sie werden durch Angabe von Schema, Schemaort und Zusatzbedingungen festgelegt. Um bei unserem einfachen Beispiel zu bleiben: Eine bestimmte Alternativenklasse könnte durch das Schema “Autofahrt”, den Schemaort “Linksabbiegen” und die Zusatzbedingungen “Regen; Dunkelheit” festgelegt sein. Auch Schema und Schemaort werden durch Bedingungen definiert, die Elemente zu erfüllen haben, um ihnen anzugehören. Innerhalb der Alternativenklasse befinden sich somit alle Elemente des Möglichkeitsraums, die die Schemabedingungen eines bestimmten Schemas, die Schemaortbedingungen eines bestimmten Schemaorts dieses Schemas und gegebenenfalls bestimmte Zusatzbedingungen erfüllen. Ein konkretes Verhalten, Artefakt oder Text wird als Realisierung bezeichnet. 6 Wir gehen von der Annahme aus, dass Realisierungen auf der Basis von Schemata erzeugt werden. Zum Zwecke der Analyse untergliedern wir sie in Realisierungsstellen, denen jeweils ein Schemaort zugeordnet werden kann. In unserem Beispiel wäre eine konkrete Autofahrt eine Realisierung des Schemas “Autofahren”. Sie lässt sich in Realisierungsstellen unterteilen, die den Martin Siefkes 66 Schemaorten “Anfahren”, “eine Straße entlangfahren”, “Linksabbiegen”, “Überholen” usw. in einer bestimmten Anordnung entsprechen. Sie lässt sich daher vereinfacht folgendermaßen darstellen: Autofahrt: <Anfahren, eine Straße entlangfahren, Linksabbiegen, Überholen, vor einer Ampel anhalten, Anfahren, eine Straße entlangfahren, …> Realisierungen können eindimensional sein (Texte sowie weitgehend rauminvariante Verhaltensweisen wie Sprechen, Mimik usw.), zweidimensional (Bilder, Pläne), dreidimensional (Gebäude, Werkzeuge) oder vierdimensional (Inszenierungen, Feste, Gestik, raumvariante Verhaltensweisen wie einen Spaziergang machen). Zusätzliche ‘Dimensionen’ können durch notwendige Mehrschichtigkeit der Beschreibung hinzukommen, man denke etwa an die Beschreibungsebenen der Sprache. Bei der Übertragung in eine (eindimensionale) Anordnung von Realisierungsstellen sind die Dimensionen entsprechend zu berücksichtigen. Da im vorgestellten Modell die Kodierung des Stils nicht von der Reihenfolge der Realisierungsstellen in der Anordnung abhängt, ist es nicht schlimm, wenn kein einheitlicher Algorithmus für die Anordnung der Realisierungsstellen zur Verfügung steht; dies entspricht auch der Realität der Stilwahrnehmung, bei der wir uns selbst entscheiden können, in welcher Reihenfolge wir die stilistischen Merkmale etwa eines Gebäudes zur Kenntnis nehmen. 2.2 Die Verhaltensausführung Der für die Stilentstehung entscheidende Prozess ist der Übergang von den Alternativenklassen zur Realisierung. Damit dieser Prozess präzise untersucht werden kann, muss er in die anderen Auswahlprozesse eingebettet werden, die bei der Herstellung einer Realisierung auftreten. Die verschiedenen genannten Auswahlprozesse werden in der Verhaltensausführung beschrieben. Dies ist eine modellhafte Darstellung des Prozesses, der zu einem konkreten Verhalten führt, wobei nur die für die Stilbeschreibung relevanten Prozesse betrachtet werden. In der Verhaltensausführung werden vier Schritte unterschieden: Schritt 1: Auswahl eines Schemas, auf dessen Grundlage eine Realisierung erstellt wird Schritt 2: Festlegung einer Anordnung von Alternativenklassen Schritt 3: Stilprozess (Kodierung der stilistischen Auswahlregeln) Schritt 4: Fertigstellung der Realisierung Betrachten wir noch einmal genauer, was in den vier Schritten geschieht. - Die ersten beiden Schritte bezeichnen jene Entscheidungen, die zu treffen sind, bevor Stil entstehen kann: Schritt 1 (Schema): Welches Verhalten wird überhaupt ausgeführt, welches Artefakt oder welcher Text wird hergestellt? Schritt 2 (Anordnung von Alternativenklassen): Welche Größe oder Länge soll die Realisierung haben, welche Kontextbedingungen gelten, welche Funktion soll es haben, welcher Inhalt soll ausgedrückt werden? Sind diese Entscheidungen jedoch einmal getroffen, ist auch das oben erwähnte “Feststehende” gegeben, innerhalb dessen nun Variationsmöglichkeiten existieren. Die Auswahl aus diesen Variationsmöglichkeiten ermöglicht die Kodierung von zusätzlichen Bedeutungen und damit die Entstehung von stilistischen Zeichen. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 67 Dies heißt nun allerdings nicht, dass Schritt 2 komplett vor Schritt 3 ausgeführt werden muss. Nur in jedem einzelnen Fall muss die Alternativenklasse gebildet sein, bevor der Stilprozess stattfinden kann. Häufig wird die Abfolge von Schritt 2 und 3 auch mehrmals auf verschiedenen Ebenen zunehmender Detailliertheit durchlaufen: Wenn etwa jemand in eine bestimmte Situation kommt und beschließt, zu überholen, ist dies bereits eine stilistisch relevante Entscheidung (innerhalb einer höheren Alternativenklasse, die mindestens die zwei Elemente “Überholen” und “Nicht überholen” enthält). Die Entscheidung, zu überholen, fordert jedoch eine neue Realisierungsstelle und somit eine Alternativenklasse, so dass in den Schritt 2 zurückgesprungen werden muss. Daraus wird nun wiederum in Schritt 3 eine stilistische Auswahl getroffen. Die Alternativenklassen enthalten noch alle Varianten, die es für die Ausführung eines Verhaltens, eines Artefakts oder eines Textes unter bestimmten Kontextbedingungen gibt. 7 Die Realisierung enthält dagegen für jede zuvor betrachtete Alternativenklasse ein konkretes Element, es wurde also aus jeder Alternativenklasse ein Element ausgewählt. Dieser Prozess lässt sich in zwei Schritte unterteilen: Schritt 3 (Stil): Stilistische relevante Auswahlprozesse. Stil besteht darin, dass bei der Auswahl von konkreten Realisierungselementen aus Alternativenklassen bestimmte Regelmäßigkeiten auftreten. Diese können wiederum Rückschlüsse auf ihre Ursachen erlauben: Charakter und Persönlichkeit, Vorlieben, technisches Können, individuelle Erfahrungen oder Weltsicht des Stilsenders, ebenso wie kulturelle Bedingungen oder technische Möglichkeiten seiner Zeit, Schulen und Traditionen seiner Ausbildung, aber auch bewusste Entscheidungen und programmatische Absichten und vieles mehr. Ist dies der Fall, dann wird die Auswahl zum Zeichen für diese Ursachen der feststellbaren Regelmäßigkeiten der Auswahl: ein Stil ist entstanden. Schritt 4 (Fertigstellung der Realisierung): Stilistisch nicht relevante Auswahlprozesse. Nicht jede Auswahl folgt feststellbaren Regelmäßigkeiten und erzeugt damit Bedeutungen. Selbst wenn an einer bestimmten Realisierungsstelle eine (oder mehrere) stilistische Regeln kodiert werden, kann es mehrere Elemente geben, die den Anforderungen dieser Regeln entsprechen. Ein abschließender Prozess wird also benötigt, der für jede Realisierungsstelle ein Element auswählt und damit die Realisierung fertigstellt. Für alle vier Schritte gilt, dass sie weniger einen chronologischen Ablauf als eine logische Trennung darstellen. 2.3 Zwei Zeichenprozesse Wie wir festgestellt haben, wird gewöhnlich dann von Stil gesprochen, wenn Auswahl zum Zeichen wird. Im einzelnen kann es sich dabei in Bezug auf Umfang und Komplexität um sehr unterschiedliche Auswahlprozesse handeln. Für eine allgemeine Stiltheorie benötigen wir jedoch eine grundlegende Beschreibung dieser Auswahlprozesse. Diese soll von den Auswahlregeln geleistet werden. Auswahlregeln dienen dazu, die stilistischen Auswahlprozesse auf einer grundlegenden Ebene präzise beschreiben zu können. Sie haben damit zwei Dimensionen: 1. Zum einen haben sie eine darstellungsbezogene Funktion: Sie ziehen eine Ebene in die Analyse ein, die für alle Stilprozesse gilt und daher allgemeingültig beschrieben werden kann. Oberhalb dieser Ebene teilen sich die beobachtbaren Stilphänomene in viele Varianten auf, die auf unterschiedliche Art funktionieren. Dieser Bereich kann nicht mehr so allgemein und Martin Siefkes 68 präzise beschrieben werden wie derjenige der Auswahlregeln. Daher sollen diese als ein “erster Zeichenprozess” separat behandelt werden. Der “zweite Zeichenprozess” untersucht dann diejenigen weitergehenden Bedeutungen, die sich aus der im ersten Zeichenprozess dekodierten Menge von Auswahlregeln ergeben, wobei die verschiedenen Auswahlregeln zusammenwirken und oft auch Hintergrundwissen einbezogen wird. Es handelt sich dabei um eine vorwiegend analytische Trennung: Die beiden Zeichenprozesse finden in der Realität zusammen statt und sind eng miteinander verwoben. Man darf sie sich nicht im Sinne zweier getrennt voneinander stattfindender Zeichenprozesse vorstellen. Besser passt die Vorstellung einer Menge von komplexen, vielschichtigen Zeichenprozessen, die unter “Stil” zusammengefasst werden und die einen grundlegenden Bestandteil gemeinsam haben. Dieser wird für die Beschreibung von dem stärker divergierenden Bestandteil getrennt, etwa so, wie man in der Zellbiologie die Beschreibung allgemeiner Zellfunktionen von denen spezialisierter Zelltypen trennt. 2. Wie häufig, wenn sich eine nicht offensichtliche kategorielle Trennung als nützlich für die Darstellung erweist, findet man sie auf den zweiten Blick auch im Gegenstandsbereich wieder. Dies gilt auch hier: Die im “ersten Zeichenprozess” untersuchten Auswahlregeln entsprechen ungefähr den “stilistischen Merkmalen”, die im Alltagsgebrauch und auch in vielen Stiltheorien betrachtet werden. Wenn bezüglich einer bestimmten Stelle einer Realisierung vom Stilempfänger eine Aussage darüber gemacht wird, nach welchen Kriterien das konkret vorgefundene Element hier ausgewählt wurde, dann wird traditionell gern von einem “stilistischen Merkmal” gesprochen. So sind die berühmt-berüchtigten stilistischen Merkmale, mit deren Hilfe zwischen einem romanischen und einem gotischen Baustil unterschieden werden kann, der Rundbogen und der Spitzbogen. Beim Autofahren könnte die riskante Durchführung eines Überholmanövers als Hinweis auf einen “riskanten” Fahrstil betrachtet werden. In beiden Fällen geschieht jedoch bereits bei der traditionellen Analyse mehr, als es den Anschein hat: Es wird nicht einfach auf etwas direkt Sichtbares hingewiesen; vielmehr wird (a) eine bestimmte Stelle (oder mehrere derselben Art) einer konkreten Realisierung (eines Gebäudes; einer Autofahrt) ausgesucht, zum Beispiel der obere Abschluss der Fensteröffnungen bzw. Situationen, in denen Überholen möglich ist; (b) es werden Eigenschaften des jeweiligen Elements angegeben, die als stilistisch relevant betrachtet werden können (nämlich “runde Bogenform”/ ”spitze Bogenform” bzw. “riskant”), wobei durch die Betrachtung als stilistische Merkmale impliziert wird, dass es diese Merkmale waren, nach denen das entsprechende Element ausgesucht wurde (und nicht andere; dann wären die betrachteten Eigenschaften akzidentiell und stilistisch nicht relevant). (c) es wird impliziert, dass beim Vorhandensein des entsprechenden Stils mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an den in (a) beschriebenen Stellen ein Element mit den in (b) genannten Eigenschaften zu finden ist. Dies macht es naheliegend, stilistische Merkmale als Ergebnisse stilistischer Auswahlregeln zu beschreiben. Dabei sind die in (a) genannten Realisierungsstellen jene, auf die die Auswahlregel anzuwenden ist; die in (b) genannten Eigenschaften sind die von der Auswahlregel verlangten Eigenschaften; und (c) rechtfertigt es, von einer Regel zu sprechen, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit angewandt wird. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 69 Bevor wir uns Auswahlregeln genauer anschauen, halten wir fest: Auswahlregeln entsprechen in etwa den traditionell “stilistischen Merkmalen” genannten Phänomenen, die bei allen Stilen festzustellen sind; ihre präzise Formulierung wird im Dissertationsprojekt ausführlich im “ersten Zeichenprozess” vorgenommen (vgl. Abschnitt 2.5). Aufbauend auf dieser allgemeinen Beschreibung können dann speziellere stilistische Wirkungen analysiert werden; diese werden im “zweiten Zeichenprozess” betrachtet (vgl. Abschnitt 2.6). Bei der Beschäftigung mit einem der Prozesse sollte man im Kopf behalten, dass beide Prozesse in der Realität zusammen stattfinden und miteinander interagieren, etwa wenn einzelne Auswahlregeln deshalb angenommen werden, weil sie im zweiten Zeichenprozess die Entstehung weiterer Zeicheninhalte ermöglichen (vgl. Abschnitt 3.3). 2.4 Auswahlregeln Im letzten Abschnitt wurde die Notwendigkeit der Annahme von Auswahlregeln hergeleitet. In komprimierter Form lassen sie sich auf vier Variablen reduzieren. Zwei Variablen kennen wir schon: 1. Die Anwendungsvoraussetzungen spezifizieren, auf welche Realisierungsstellen eine Auswahlregel anzuwenden ist. 2. Die verlangten Eigenschaften spezifizieren, welche Eigenschaften das an dieser Stelle auszuwählende Element haben muss. Aus (c) im letzten Abschnitt lässt sich eine weitere Variable ableiten: 3. Die Anwendungswahrscheinlichkeit gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei erfüllten Anwendungsvoraussetzungen ein Element mit den verlangten Eigenschaften ausgewählt wird. Häufig wird ein Stil aus mehreren Auswahlregeln bestehen. Nehmen wir ein Beispiel: Der Stil des Architekten Richard Meier fällt durch seine glänzend weißen Außenflächen auf. Jedoch schon die häufige Verwendung von fliesen- oder kachelartigen Elementen für Außenwände sollte sinnvollerweise in einer zweiten Auswahlregel beschrieben werden (sie können notfalls auch andere Farbtöne annehmen, etwa beim Getty-Museums in Los Angeles, wo die strahlendweiße Farbgebung nicht angewandt werden durfte; dieser Effekt ließe sich bei Zusammenfassung in eine Auswahlregel nicht beschreiben). Als weitere Merkmale dieses Architekturstils können die Kombination von abgerundeten und geraden Flächen, die häufige Verwendung kubischer oder zylindrischer Baukörper, die häufige Staffelung mehrerer solcher Baukörper ‘ineinander’, die Durchbrechung dieser glatt wirkenden Körper durch bündig gesetzte, häufig asymmetrische Glasflächen und weitere angenommen werden. Erst in ihrem Zusammenspiel erzeugen sie die charakteristische Wirkung des Stils Richard Meiers. Wenn verschiedene Auswahlregeln vorliegen, müssen wir jedoch auch spezifizieren, in welcher Reihenfolge sie angewandt werden. Dies ist wichtig, weil die Anwendung einer bestimmten Auswahlregel auf eine Alternativenklasse sie häufig so stark reduzieren wird, dass andere Auswahlregeln dort nicht mehr angewandt werden können. (Schließlich enthält die von der Auswahlregel ausgegebene reduzierte Alternativenklasse nur noch die Elemente mit den verlangten Eigenschaften.) Wir benötigen daher noch eine vierte Variable: 4. Die Priorisierung der Auswahlregeln gibt die Reihenfolge an, in der diese auf die Alternativenklassen anzuwenden sind. Martin Siefkes 70 Abb. 1: Der erste Zeichenprozess 2.5 Kodierung und Dekodierung im ersten Zeichenprozess Der erste Zeichenprozess besteht darin, dass Auswahlregeln kodiert und dekodiert werden. Der Übergang von den Alternativenklassen zur Realisierung ist jener Prozess, bei dem Stil entsteht. Die Kodierung besteht darin, dass bei diesem Übergang die Auswahlregeln angewandt werden: 8 An den von der Auswahlregel (in den Anwendungsvoraussetzungen) spezifizierten Stellen werden zunächst reduzierte Alternativenklassen gebildet, die nur noch Elemente mit den verlangten Eigenschaften enthalten. Aus diesen wird in einem letzten, nichtstilistischen Auswahlschritt ein konkretes Element ausgewählt. 9 In der Dekodierung werden zunächst auf Basis der vorgefundenen Realisierung Alternativenklassen gebildet. Es ist also nötig, dass sich der Stilempfänger vorstellt, welche anderen Möglichkeiten es bei der Auswahl jeweils noch gegeben hätte. Im nächsten Schritt werden dann heuristisch Auswahlregeln postuliert (vgl. Abschnitt 3.2). Diese werden aber nur angenommen, wenn sich ausreichend Hinweise dafür finden lassen, dass sie bei der Entstehung der Realisierung auch wirklich angewandt wurden (vgl. Abschnitt 3.3). Kodierung und Dekodierung sind relativ komplizierte Prozesse und können hier nicht im Detail dargestellt werden. Die Trennung in ersten und zweiten Zeichenprozess hat eine analytische Funktion. Doch der erste Zeichenprozess kann auch in der Realität getrennt stattfinden, etwa wenn stilistische Merkmale analysiert werden, ohne dass weitergehende Schlüsse aus ihnen gezogen werden. Tatsächlich entsprechen die traditionellen “stilistischen Merkmale” in etwa den hier “Auswahlregeln” genannten Bestandteilen eines Stils. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 71 In der Grafik sind die Alternativenklassen durch geschweifte Klammern dargestellt, die jeweils eine Reihe von Elementen enthalten, die durch Rechtecke dargestellt sind. Die Realisierung wird als horizontale gestrichelte fette Linie dargestellt. Das Element der Alternativenklasse, das sich an der entsprechenden Realisierungsstelle findet, ist durch Einfügung der Diagonalen ‘angekreuzt’. Die Darstellung befindet sich in einem Koordinatensystem, dessen beide Achsen die Hauptprinzipien bei der Herstellung eines komplexen Verhaltens bezeichnen: Auswahl (aus einer Reihe von Möglichkeiten für eine bestimmte Realisierungsstelle) und Kombination (der ausgewählten Elemente aus verschiedenen Einzelelementen zu einer Realisierung). Die Darstellung entspricht damit im wesentlichen der im Strukturalismus üblichen Darstellung von Texterzeugungsprozessen. 10 Dort werden als Elemente allerdings Zeichen angenommen, während hier die Elemente in der Regel Verhaltensausführungen sind. Da unter bestimmten Umständen auch Zeichen auftreten können, kann man von einer Verallgemeinerung gegenüber der strukturalistischen Darstellung sprechen. Um keine Verwirrung aufkommen zu lassen und nicht den Eindruck zu erzeugen, es handele sich bei den Elementen immer um Zeichen, werden in der allgemeinen Stiltheorie die Begriffe Alternativenklasse und Realisierung verwendet. 2.6 Der zweite Zeichenprozess 2.6.1 Stil als Menge von Auswahlregeln Das Stilmodell unterteilt den stilistischen Zeichenprozess in zwei Zeichenprozesse, die voneinander getrennt untersucht werden. Der erste Zeichenprozess besteht in der Kodierung und Dekodierung von einzelnen Auswahlregeln. Dabei nehmen wir nur solche Auswahlregeln an, bei denen sich ein (durch die Angabe von Eigenschaften intensional beschreibbarer) Anwendungsbereich und für diesen eine Menge von verlangten Eigenschaften angeben lassen. Der simpelste denkbare Stil besteht darin, dass für einen Anwendungsbereich eine Eigenschaft verlangt wird. Plausible Beispiele dafür lassen sich bei Fahrstilen finden: Jemand könnte z.B. alle Fahrsituationen auf “riskante” oder auch auf “kontrollierte” Art ausführen. So unterschiedlich dies für den Mitfahrer sein mag, für die Analyse sind beide Fälle gleich: Es ist nur eine Auswahlregel nötig, da in den Anwendungsvoraussetzungen allgemein “Fahrsituation” spezifiziert und die Eigenschaft “riskant” oder “kontrolliert” verlangt wird. Dasselbe gilt auch, wenn nur ein bestimmter, abgrenzbarer Anwendungsbereich mit einer Auswahlregel beschrieben werden muss und die anderen als stilistisch unauffällig gelten können. So kann ein Fahrstil damit beschrieben werden, dass “riskant überholt” wird; in diesem Fall würde die spezielle Fahrsituation “Überholen” in den Anwendungsvoraussetzungen spezifiziert und die Eigenschaft “riskant” für das Element, das sich in der Realisierung an dieser Stelle befindet, verlangt. Dies kann jedoch nur dann als angemessene Stilbeschreibung akzeptiert werden, wenn alle anderen Fahrsituationen tatsächlich stilistisch unauffällig sind. 11 Die meisten Stile sind jedoch erheblich komplizierter. Aus mehreren Gründen müssen fast immer verschiedene Auswahlregeln angenommen werden. (1) Wenn ein Anwendungsbereich spezifiziert werden soll, der nicht mit einer Menge von Eigenschaften abgegrenzt werden kann, muss dieser in mehrere Teilbereiche unterteilt werden und es müssen zwei Auswahlregeln angegeben werden: So könnte ein Autofahrer “riskant” Martin Siefkes 72 überholen und “riskant” links abbiegen. Da es keine Möglichkeit gibt, alle Überholmanöver und alle Linksabbiegemanöver in eine intensionale Definition zusammenzufassen, müssen hier zwei Auswahlregeln angegeben werden. (2) Dies gilt ebenso, wenn für verschiedene Anwendungsbereiche verschiedene Eigenschaften verlangt werden. Wenn alle Außenwände eines Gebäudes auf bestimmte Art gestaltet sind (z.B. die Fenster in geometrischen Mustern angeordnet) oder mit einem bestimmten Material versehen sind (z.B. verputzt oder mit Backstein verkleidet), kann dies jeweils in einer Auswahlregel angegeben werden. Wenn das geometrische Muster, der Verputz oder die Backsteinverkleidung nur auf der Frontseite vorhanden sind, kann dies ebenfalls in jeweils einer Auswahlregel ausgedrückt werden, die nun als Anwendungsvoraussetzung “Frontseite” spezifiziert. Wenn jedoch die anderen Seiten auf spezifische Art anders gestaltet sind, spielt dies unter Umständen auch eine Rolle für den Stil und sollte in der Stilbeschreibung angegeben werden. In diesem Fall muss eine zweite Auswahlregel mit anderen Anwendungsvoraussetzungen (“Außenseiten, die nicht Frontseite sind”) definiert werden. (3) In den meisten Fällen müssen sowieso verschiedene Gestaltungsweisen beschrieben werden, bei denen weder wie in (1) die verlangten Eigenschaften gleich sind noch wie in (2) die Anwendungsbereiche miteinander zusammenhängen. In diesen Fällen ist es offensichtlich, dass man um die Formulierung mehrerer Auswahlregeln nicht herumkommt. Dennoch kann auch in diesem Fall der Stil einen inneren Zusammenhang haben. Fehlt er, handelt es sich um einen relativ uninteressanten Stil, der als beliebig empfunden wird. Spannend ist ein Stil dann, wenn ein Zusammenhang zu bestehen scheint, der aber nicht ohne Weiteres benannt werden kann und daher zum Nachdenken anregt. Es gibt daher zumindest bei den interessanten Stilen fast immer Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Auswahlregeln. Für die Untersuchung eines Stils sind grundsätzlich alle wahrnehmbaren Zusammenhänge zwischen den Auswahlregeln des Stils relevant; man kann sich nicht auf bestimmte Arten von Zusammenhängen beschränken. Daraus resultiert die Vielgestaltigkeit des Phänomens Stil. 2.6.2 Variation im zweiten Zeichenprozess Im ersten Zeichenprozess wurde nur die Menge der Auswahlregeln aus dem Zeichenmaterie extrahiert. Im zweiten Zeichenprozess geht es nun um alles, was sich aus den Auswahlregeln an zusätzlichen Bedeutungen, Gefühlen und anderen Wirkungen erzeugen lässt. Dabei wird die Menge an Auswahlregeln zum Zeichenträger und alles, was sich daraus erzeugen lässt, zum Zeicheninhalt. Schon aus einzelnen Auswahlregeln lassen sich oft weitere Zeicheninhalte erzeugen; Hauptquelle für den zweiten Zeichenprozess sind jedoch die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Auswahlregeln. Ein Stil wird gewöhnlich erst durch die Erzeugung von weiteren Zeicheninhalten interessant; die einzelnen Auswahlregeln werden oft nur als Ausgangspunkt für eine Stiluntersuchung empfunden (und daher als “stilistische Merkmale” bezeichnet). Dieser zweite Zeichenprozess ist jedoch wesentlich vielfältiger in seinen Erscheinungsformen als der erste. Unterscheiden können sich (1) die Anzahl der Zeicheninhalte, die im zweiten Zeichenprozess erzeugt werden; Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 73 (2) die Anzahl der Auswahlregeln im Zeichenträger, die bei der Entstehung eines bestimmten Zeicheninhalts zusammenspielen; (3) die Art der Zusammenhänge zwischen den beteiligten Auswahlregeln; (4) unterschiedliche Arten von Zeicheninhalten (Bedeutungen, Gefühle, andere Wirkungen); (5) unterschiedliche Arten der Erzeugung des Zeicheninhalts; (6) die Bereiche, über die Zeicheninhalte entstehen. Zu (1): Aus der Menge der Auswahlregeln, die im ersten Zeichenprozess dekodiert wurde, können verschiedene Zeicheninhalte erzeugt werden, die zum Gesamtinhalt des zweiten Zeichenprozesses zusammengefasst werden (dieser wird im Folgenden auch “Zeicheninhalt 2” genannt). In der Regel wird der Prozess der Erzeugung weiterer Zeicheninhalte irgendwann abgebrochen, wenn die gewonnenen Ergebnisse als befriedigend angesehen werden. Zu (2): Ein spezifischer Zeicheninhalt kann aus einer, aus zwei oder aus mehreren Auswahlregeln entstehen. Eine einzelne Auswahlregel kann beispielsweise metaphorisch oder als Index für die Ursache eines festgestellten Sachverhalts interpretiert werden. Bei mehreren Auswahlregeln können mit Hilfe der Zusammenhänge zwischen ihnen auf vielfache Weise Zeichen entstehen. Zu (3): Die Zusammenhänge zwischen den Auswahlregeln können vielfältig sein. Im einfachsten Fall liegen direkte Relationen vor: - Gleichheit, Ähnlichkeit, Gegensätzlichkeit oder andere Relationen der verlangten Eigenschaften; - Relationen zwischen den Relationen der verlangten Eigenschaften und den (aus dem Hintergrundwissen entnommenen) Relationen zwischen den Anwendungsbereichen (z.B. wenn zwei als gegensätzlich empfundene Anwendungsbereiche, etwa Keller und Eingangshalle eines Hauses, gegensätzlich oder gleich gestaltet sind; oder wenn zwei als gleich empfundene Anwendungsbereiche, etwa verschiedene Etagen eines Hochhauses, gleich oder gegensätzlich gestaltet sind). Oft ergeben sich jedoch indirekte Zusammenhänge, die sich nicht als direkte Relationen, sondern nur über das entstehende Zeichen beschreiben lassen. So kann eine historische Schule der Malerei oder der Literatur an bestimmten Merkmalen erkennbar sein, die nicht direkt zusammenhängen. Gemeinsam haben sie, dass sie als Wirkung der gleichen Ursache zugeordnet werden können und damit zum Index für diese Ursache, die Zugehörigkeit zu jener Schule, werden. In diesem Fall ist der Zusammenhang zwischen den Auswahlregeln nicht im Zeichenträger gegeben; nur über den Zeicheninhalt kann erkannt werden, dass ein indirekter Zusammenhang existiert. Wenn zudem die einzelnen Merkmale auch unabhängig von dieser Schule auftreten, sind sie einzeln kein hinreichendes Zeichen für die Zugehörigkeit und werden erst gemeinsam zum Index dafür. Zu (4): Wenn wir zusammenfassend von “Zeicheninhalten” sprechen, kann es sich konkret um ganz verschiedene Dinge handeln. Während sich im ersten Zeichenprozess immer eine Menge von Auswahlregeln als Zeicheninhalt 1 ergibt, ist der Zeicheninhalt 2 wesentlich heterogener zusammengesetzt. Martin Siefkes 74 Dies liegt daran, wie wir die analytische Trennung zwischen Zeicheninhalt 1 und Zeicheninhalt 2 vornehmen: Wir trennen dort, wo es sich noch um ein einheitlich beschreibbares Phänomen handelt. 12 Im zweiten Zeichenprozess tritt dann die ganze Vielfalt des Phänomens “Stil” auf. Unterschieden werden soll zwischen Bedeutungen, Gefühlen und anderen Wirkungen. Bedeutungen sollen hier verstanden werden als Zeicheninhalte, die prinzipiell als logische Propositionen oder Sätze einer natürlichen Sprache formuliert werden können. Häufig konzentriert man sich bei der Untersuchung von Stilen auf Bedeutungen; dies ist auch in den beiden im folgenden Abschnitt verwendeten Beispielen (dem Stil von Bret Easton Ellis und einem Fahrstil) der Fall. Aber Stile können auch emotionale Reaktionen auslösen, die keine Entsprechung in einer Bedeutung haben, oder andere Wirkungen beim Stilempfänger erzeugen, etwa ästhetische Eindrücke. Stile dürfen nicht auf Bedeutungen reduziert werden, sondern müssen in der ganzen Vielfalt der entstehenden Wirkungen ernst genommen werden. Zu (5): Die Prozesse, die hier als “Erzeugung” zusammengefasst werden, sind sehr vielfältig. Die Bandbreite reicht von der automatischen Wahrnehmung von Relationen (z.B. der Gleichheit oder Gegensätzlichkeit der verlangten Eigenschaften, etwa wenn jemand beim Autofahren riskant abbiegt und riskant überholt, oder riskant abbiegt und sicher überholt) bis zur spekulativen Interpretation eines Stils. Bedeutungen werden aus den ihnen zugrunde liegenden Auswahlregeln abgeleitet; Gefühle und andere Wirkungen entstehen dagegen auf andere Art, vermutlich mit Hilfe einer spezifischen Wahrnehmungsfähigkeit für die entsprechende Art von Wirkung, die oft Erfahrung oder spezielles Training (z.B. bei ästhetischer Wahrnehmung) voraussetzt. Unterschieden werden kann zudem zwischen kombinierender Ableitung, bei der verschiedene klar benennbare Aspekte der einzelnen Auswahlregeln zur Entstehung eines Zeicheninhalts beitragen, und holistischer Ableitung, bei der verschiedene Auswahlregeln zu Zeicheninhalten führen, die sich nicht auf die Kombination von Aspekten der einzelnen Auswahlregeln zurückführen lassen. Zu (6): Einige Beispiele für Bereiche, über die Zeicheninhalte im zweiten Zeichenprozess entstehen können (SP = Stilproduzent): - Soziale Herkunft des SP oder Prägung durch ein bestimmtes Milieu; - Ausbildung des SP in der Produktion des entsprechenden Realisierungstyps (z.B. schriftstellerische, künstlerische, architektonische, wissenschaftliche oder handwerkliche Ausbildung) gemäß einer bestimmten Schule oder Tradition bzw. von bestimmten Lehrern; - Ansichten und Positionen bezüglich der gesellschaftlichen Funktion und der anzustrebenden Gestaltung des produzierten Realisierungstyps, bei künstlerischen Stilträgern insbesondere künstlerische Positionen; - allgemeine Ansichten und Weltbild des SP; - Persönlichkeit und Charaktereigenschaften des SP (z.B. Temperament); - Stärken und Schwächen, Fähigkeiten und Probleme, entwickeltes und noch unentwickeltes Potential des SP; - bestimmte Aspekte des bisherigen Lebens des SP, die prägend waren (z.B. lange Perioden mit bestimmten Arbeiten oder Lebenssituationen, aber auch einzelne Schlüsselerfahrungen); - Traumatisierungen, psychologische Probleme und körperliche Krankheiten; Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 75 - Angehörigkeit des SP zu bestimmten Gruppen von Menschen (z.B. zu bestimmten Kulturen oder Subkulturen) und zu bestimmten anderen Kategorien (z.B. Menschen mit bestimmten Eigenschaften oder Präferenzen). Diese unvollständige Liste von Bereichen, über die Zeicheninhalte im zweiten Zeichenprozess entstehen können, macht deutlich, warum der als Stil bezeichnete Zeichenprozess für uns Menschen wichtig ist: Er kann, in seiner Gesamtheit betrachtet, Informationen über ganz unterschiedliche Bereiche vermitteln (einzelne Stilbereiche, etwa Architekturstile, können natürlich nicht alle genannten Bereiche abdecken; Schreibstile haben hierbei vielleicht das größte Spektrum). Dies gilt sowohl für Informationen, die der Stilproduzent selbst übermitteln möchte, als auch für solche, die er keineswegs übermitteln möchte. Die meisten Stile können wir nicht ‘ausschalten’, wir haben sie eben; und wir übermitteln damit zahlreiche Informationen für diejenigen, die stilistische Zeichen dekodieren können. Sich dessen nicht bewusst zu sein, ist in jedem Fall ein Nachteil, Stile gezielt erzeugen zu können, dagegen ein Vorteil. Besonders wichtig sind die Fähigkeit zur Dekodierung von Stilen und die Bereitschaft, auf sie zu achten. Denn Stile sind Quelle zahlreicher Informationen, unter denen die ästhetischen Informationen, die so oft in den Mittelpunkt der Stiltheorie gestellt wurden, in der Minderheit sind. Die hier erläuterten Aspekte (1) bis (6) können im zweiten Zeichenprozess variieren. Insgesamt gibt es damit hier einen sehr viel größeren Spielraum als im ersten Zeichenprozess. Von besonderer Relevanz ist, dass die Aspekte grundsätzlich offen sind: Als Variablen betrachtet, können hier neue Werte hinzukommen. Dies ist bei (1) und (2), die nur numerischer Natur sind, weniger relevant als bei den anderen Aspekten. Die Kreativität des Stils besteht darin, dass bezüglich dieser Aspekte neue Werte auftreten können. 2.6.3 Beispiel und allgemeine Darstellung Anhand eines Beispiels soll gezeigt werden, wie Zeicheninhalte aus dem Zusammenspiel verschiedener Auswahlregeln entstehen können. Als Beispiel wird der Schreibstil von Bret Easton Ellis in zwei seiner Werke analysiert, “American Psycho” (1991) und “Glamorama” (1998): 13 B 1 : U = Verben der Redewiedergabe, V = Abwechslung plakativer Ausdrücke: “I whipser […] Daisy murmurs […] I sigh” (AP: 195), “I whisper […] she warns […] Jamie purrs” (G: 303). B 2 : U = negative Gefühlsbeschreibungen, V = Wendungen aus der Sprache des Horrorgenres: “fills me with a nameless dread” (AP: 137, 321), “my life is a living hell” (AP: 136). B 3 : U = persönliche Gespräche über Urlaub oder Mode, V = Protagonisten drücken sich wie Werbetexte (AP: 135) oder wie Modeberater (AP: 149) aus. B 4 : U = Anredesituationen, V = Protagonisten reden einander mit falschen Namen an (AP: 53, 145). B 5 : U = Beschreibungen, V = detaillierte, undifferenzierte Darstellung: Alles scheint gleich wichtig zu sein (AP: 270, G: 289). B 6 : U = Menschen, Orte, Kleidermarken, V = zwanghaft wirkende Namensnennung (AP: 24, G: 39). B 7 : U = Situationsbeschreibungen, V = Situationen werden mit Aufzählungen (z.B. von anwesenden Personen, Gegenständen, servierten Gerichten) dargestellt (AP: 155, G: 88). Martin Siefkes 76 B 8 : U = Alltagsszenen, V: [Ausdrucksweise x] (AP: 207, 290). R 1 : Gegensatz R 2 : Identität B 9 : U = Folterszenen, V: [Ausdrucksweise x] (AP: 208, 292). M 1 aus B 1 und B 2 : Die Genres Unterhaltungsliteratur (zitiert durch die dafür typischen plakativen Redewiedergabe-Verben) und Horrorliteratur beeinflussen den Erzähler. M 2 aus B 3 : Die Protagonisten werden in der Wahrnehmung ihres eigenen Lebens durch die Werbung und die Mode beeinflusst. M 3 aus B 4 : Individualität verschwindet: Alle passen sich an und sehen ähnlich aus, werden dadurch aber auch nicht als Individuen wahrgenommen. M 4 aus B 6 und B 7 : Es gibt ein gesellschaftlich gefordertes Wissen, über das man verfügen muss, um anerkannt zu werden. Dies besteht weitgehend aus Namen, Orten und Marken. M 5 aus B 3 , B 4 , B 5 , B 6 und B 7 : Die beschriebene Gesellschaft ist oberflächlich. M 6 aus B 5 und #grafik#(B 8 , B 9 ): Dem Erzähler erscheint alles gleich wichtig, und seine äußerst brutalen Verbrechen nimmt er nicht anders wahr als Alltagsereignisse. M 7 aus B 1 , B 2 , B 3 , B 6 : Die Gesellschaft wird von Unterhaltungsliteratur, Horrorliteratur und -filmen, Werbung, Mode und Marken beeinflusst. M 8 aus M 3 , M 4 , M 5 : Die Gesellschaft wird geprägt von Anpassung, fehlender Individualität und Oberflächlichkeit. ? M 9 aus M 7 und M 8 : Die beiden über die Gesellschaft gewonnenen Ergebnisse könnten zusammenhängen. M 7 könnte M 8 oder M 8 könnte M 7 verursachen, oder beide könnten Wirkung einer anderen Ursache sein. ? M 10 aus M 6 , M 7 und M 8 : Fehlende Unterscheidungsfähigkeit und Gewalt beim Protagonisten könnten auf die Gesellschaft zurückzuführen sein. Ist dies der Fall, könnten sie durch M 7 oder M 8 verursacht sein. Die letzten beiden Zeicheninhalte sind stärker spekulativ als die vorigen. M 6 , M 7 und M 8 liegen inhaltlich eng genug beieinander, um Spekulationen über einen Zusammenhang nahezulegen, die jedoch auch zurückgewiesen werden können. Es wird erkennbar, dass die abgeleiteten Zeicheninhalte umso subjektiver werden, je weiter sie in ihrer Ableitung von den Auswahlregeln entfernt sind. Während manche direkt ableitbaren Zeicheninhalte (z.B. M 1 und M 2 ) kaum zurückweisbar sind und daher als Teil des kodierten Stils angenommen werden können, beginnt ab einem bestimmten Punkt die Stilinterpretation, die für verschiedene Stilempfänger unterschiedlich ausfällt. Die vorgenommene Interpretation führt zu einem gesellschafts- und zeitkritischen Fazit. Während “American Psycho” beim Erscheinen seiner exzessiven Gewalt- und Sexdarstellungen wegen Aufsehen erregte, versteht sich Ellis selbst als Moralist. Diese Selbsteinschätzung, die er zudem explizit auf seinen Schreibstil bezieht, 14 konnte durch die Stilanalyse bestätigt werden. Ein denkbarer Einwand ist, dass die gewonnenen Bedeutungen durch eine inhaltliche Interpretation beeinflusst seien. Tatsächlich passen bestimmte Aspekte des Inhalts der Bücher - etwa das Verhalten der Protagonisten und die von ihnen geführten Gespräche - zu der hier R 2 1 : Gegensatz Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 77 Abb. 2: Der zweite Zeichenprozess vorgestellten Interpretation des Stils, die auch in Kenntnis des Inhalts vorgenommen wurde. Allerdings sind die entstandenen Zeicheninhalte direkt aus den stilistischen Auswahlregeln ableitbar, ohne dass der Inhalt für diesen Vorgang herangezogen werden muss, wie die obige Darstellung zeigt. 15 Sie können nun verwendet werden, um eine inhaltliche Interpretation zu stützen, in bestimmten Aspekten zu korrigieren oder zu erweitern. Die im zweiten Zeichenprozess erzeugten stilistischen Zeicheninhalte sind also, gerade bei literarischen Texten, insofern nicht unabhängig, als sich inhaltliche und stilistische Interpretation gegenseitig beeinflussen. Prinzipiell kann eine große Menge von Auswahlregeln extrahiert und aus diesen wiederum auf unterschiedliche Arten weitere Zeicheninhalte erzeugt werden. Wie diese Vorgänge gesteuert werden, hängt von anderen Faktoren (z.B. dem Inhalt des Texts oder auch dem persönlichen Interesse des Stilempfängers) ab. Der Gesamtinhalt des zweiten Zeichenprozesses (kurz: “Zeicheninhalt 2”) wird als Menge aller Zeicheninhalte definiert, die sich aus dem Zusammenspiel der Auswahlregeln (für einen bestimmten Stilempfänger) ergeben. Wenn wir die Interpretation des Stils an dieser Stelle beenden, sind die Zeicheninhalte M 1 bis M 10 zusammen unser “Zeicheninhalt 2”. Wir haben den ersten und den zweiten Zeichenprozess bislang getrennt betrachtet. Bei einem stilistischen Zeichenprozess treten jedoch in der Regel beide Prozesse gemeinsam auf. 16 Abbildung 2 zeigt am Beispiel eines Fahrstils, wie das Zusammenspiel der beiden Zeichenprozesse funktioniert: Die durchgezogenen Doppelpfeile verbinden jeweils Zeicheninhalt und Zeichenträger, sie stehen für Kodierung und Dekodierung in beiden Zeichenprozessen. Der Zeicheninhalt 1 ist die Menge der Auswahlregeln, die aus der Zeichenmaterie extrahiert wurden. Diese wird zum Zeichenträger 2 für den zweiten Zeichenprozess, in dem das Zusammenspiel der verschiedenen Auswahlregeln zu weiteren Zeicheninhalten führt. Martin Siefkes 78 Der gestrichelte Doppelpfeil steht für den Prozess der Trennung von Zeichenträger und Zeichenmaterie (vgl. Abschnitt 3.1). Das für die Grafik gewählte Beispiel - ein Fahrstil, den man vielleicht zusammenfassend als “souverän” beschreiben könnte - braucht hier nicht im Detail erläutert zu werden; es steht für beliebige Auswahlregeln und die sich daraus ergebenden Zeicheninhalte. Für den oben analysierten Schreibstil von Bret Easton Ellis sind im “Zeicheninhalt 1 = Zeichenträger 2” die Auswahlregeln B 1 bis B 9 einzutragen, im “Zeicheninhalt 2” die aus dem Zusammenspiel der Auswahlregeln gewonnenen Ergebnisse M 1 bis M 10 . 3 Die Trennung von Zeichenmaterie und Zeichenträger 3.1 Die Rolle der Alternativenklassen Es ist einfach zu erkennen, dass beim ersten Zeichenprozess die Auswahlregeln den Zeicheninhalt darstellen, sind sie es doch, die kodiert und dekodiert und somit vom Sender zum Empfänger übermittelt werden. Doch was ist der Zeichenträger? Dies ist nicht so einfach zu sagen. Auswahlregeln werden beim Übergang von Alternativenklassen zur Realisierung angewandt und hinterlassen dabei ihre Spuren in der fertigen Realisierung. Damit sind aber sowohl Realisierung als auch Alternativenklassen für Kodierung und Dekodierung der Auswahlregeln nötig. Daraus ergeben sich zwei Fragen: (1) Sind Realisierung und Alternativenklassen zusammen der Zeichenträger? (2) Welche Rolle spielen die Alternativenklassen, die ja gar nicht vom Sender zum Empfänger übermittelt werden? Zu (1): Tatsächlich enthalten Realisierung und Alternativenklassen zusammen den Zeichenträger; welcher Teil von ihnen Zeichenträger ist, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Unter Umständen kann ein längerer Teil der Realisierung mit den dazugehörigen Alternativenklassen keine Auswahlregel enthalten. Dies ist jedoch nicht sofort zu erkennen - wie es etwa bei einem Blatt Papier der Fall ist, dessen untere Hälfte leer gelassen wurde -, vielmehr muss auch dieses Stück Realisierung inklusive Alternativenklassen auf kodierte Auswahlregeln durchmustert werden. Trotz dieser Notwendigkeit können jedoch nicht beide einfach als “Zeichenträger” bezeichnet werden. Zeichenträger im ersten Zeichenprozess sind die erkennbaren Regelmäßigkeiten, insoweit sie als Folge der Anwendung von Auswahlregeln entstehen. Realisierung und Alternativenklassen insgesamt sind die Zeichenmaterie, die den Zeichenträger enthalten. Der Zeichenträger ist hier auf eine andere Art in der Zeichenmaterie enthalten als etwa bei einem bedruckten Stück Papier. Bei diesem bildet das Papier inklusive der darauf befindlichen Schwärzungen die Zeichenmaterie, wobei die Schwärzungen gleichzeitig die unterste Ebene des Zeichenträgers bilden. 17 Beim Stilprozess dagegen enthalten Realisierung und Alternativenklassen die Zeichenmaterie in Form von Regelmäßigkeiten, die von anderen Regelmäßigkeiten nur getrennt werden können, indem Hypothesen über die Anwendung von Auswahlregeln aufgestellt werden. Die Trennung von Zeichenmaterie und Zeichenträger geschieht hier also in demselben Prozess wie die Dekodierung des Zeichens. 18 Wenn beide Vorgänge gemeinsam gemeint sind, soll im folgenden von “Extrahierung” gesprochen werden. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 79 Die Extrahierung einer Auswahlregel wird dadurch erschwert, dass man nicht weiß, welche Regelmäßigkeiten in der Relation zwischen Realisierung und Alternativenklassen zum Zeichenträger gehören und welche nicht. Hypothesen über (a) die Trennung von Zeichenträger und Zeichenmaterie und (b) mögliche Auswahlregeln werden also immer gemeinsam aufgestellt. Von “Extrahierung” werden wir dann sprechen, wenn explizit beide Vorgänge thematisiert werden, während der eigentliche Vorgang des Verstehens des Zeichens, für den in jedem Zeichenprozess (a) geschehen muss, wie üblich als “Dekodierung” bezeichnet wird. Der spezielle Gebrauch von “Extrahierung” rechtfertigt sich also aus der Untrennbarkeit der beiden Prozesse in der Hypothesenbildung, während der Gebrauch von “Dekodierung” dem üblichen entspricht. Zu (2): Die Alternativenklassen sind tatsächlich nötig, um das Zeichen empfangen zu können. Sie selbst werden jedoch nicht übermittelt. Daher ist es nötig, dass sie Sender und Empfänger in ähnlicher Form zur Verfügung stehen. Dies gelingt, wenn Sender und Empfänger über hinreichend ähnliche Repräsentationen der Verhaltensschemata und des Möglichkeitsraums, den diese gliedern, verfügen. Eine hundertprozentige Ähnlichkeit ist jedoch - aufgrund des unterschiedlichen Wissens und der unterschiedlichen Erfahrungen von Sender und Empfänger - nicht möglich. Je größer diese Ähnlichkeit, desto genauer können die Auswahlregeln übermittelt werden. Schon eine weitgehende Ähnlichkeit der (aus dem Wissen über Möglichkeitsraum und Schemata) von Sender und Empfänger konstruierten Alternativenklassen kann ausreichen, um die Auswahlregeln ohne Abweichungen zu übermitteln. Ist die Ähnlichkeit geringer, kommt es zu einer unpräzisen Übermittlung der Auswahlregeln: Es kommen tatsächlich Auswahlregeln beim Empfänger an, die sich zunehmend von den gesendeten unterscheiden. Bei noch geringerer Ähnlichkeit der konstruierten Alternativenklassen wird schließlich nur noch ein Teil der Auswahlregeln übermittelt, bevor schließlich der stilistische Zeichenprozess ganz zusammenbricht. Der letztere Fall kommt jedoch in der Praxis nicht so häufig vor, wie man annehmen könnte: Verschiedene Kulturen mögen sich zunächst fremd sein; sobald man sich jedoch ein Wissen über das Gegenüber aneignet, ist es auch hier noch möglich, Stile zumindest ähnlich zu empfangen, wie sie gesendet wurden. Bei bewusst produzierten Stilen kann der Stilsender außerdem zu einer präzisen Dekodierung beitragen, indem er das vermutete Wissen des intendierten Empfängers bei der Kodierung berücksichtigt. 3.2 Trennung von Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen Wie wir gesehen haben, müssen Auswahlregeln postuliert werden, um dann zu überprüfen, ob sie angewandt worden sind. Eine Möglichkeit besteht darin, alle für die konkrete Realisierung möglichen Auswahlregeln zunächst in Betracht zu ziehen und dann die, für die Anwendungen festgestellt werden können, mit Hilfe verschiedener Prozesse auf eine plausible Menge zu reduzieren. Dieser Dekodierungsprozess hat den Vorteil, die zuverlässige Entschlüsselung von Auswahlregeln erklären zu können und präzise beschreibbar zu sein (daher wird er in der Dissertation untersucht werden). Andererseits ist er kompliziert und vermutlich zu mechanisch, um der kognitiven Realität zu entsprechen. Wahrscheinlicher ist, dass zunächst heuristische Regeln angewandt werden, um plausible Kandidaten für anzunehmende Auswahlregeln auszuwählen. Diese werden dann im nächsten Schritt überprüft. Die heuristischen Regeln, die hier angewandt werden, können vermutlich nicht vollständig angegeben werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie je nach der Erfahrung, die ein Stil- Martin Siefkes 80 empfänger bisher mit der Dekodierung stilistischer Zeichen hat, variieren. Im folgenden sollen einige Möglichkeiten an einem Beispiel erörtert werden: Nehmen wir an, ein Haus wird betrachtet. Wie findet man heraus, welchen Stil es haben könnte? Mögliche Ausgangspunkte sind: (1) Vermutete Übereinstimmungen mit einem bekannten Stil: Diese entstehen auf Basis von Erfahrungen mit Stilen (oder auch einfach mit dem Erscheinungsbild von Häusern, wobei stilistische noch nicht von anderen Faktoren getrennt sind) und können durch den systematischen Vergleich bestätigt oder widerlegt werden. Wenn man den Architekten oder lokale Bautraditionen kennt, kann man gezielter vergleichen: mit Gebäuden dieser Traditionen oder dieses Architekten. Das Prinzip basiert darauf, dass Auswahlregeln aus anderen Realisierungen genommen werden und ihre Anwendbarkeit überprüft wird. (2) Auffälligkeiten: Diese entstehen durch Vergleich mit einer im Gedächtnis gespeicherten Norm. Auf ihrer Basis können Auswahlregeln formuliert werden, die dann überprüft werden: Gibt es auffällig viele Fenster? Sind sie ungewöhnlich angeordnet? Sind die Stockwerke unterschiedlich oder gleich gestaltet? Wenn man sich durch solche Auffälligkeiten leiten lässt und genauer hinschaut, entdeckt man oft weitere stilistische Merkmale, zum Beispiel Gestaltungsweisen, die zu der Auffälligkeit führen. Verschiedene Stiltheorien haben sich auf Auffälligkeiten konzentriert: Zum Beispiel die Abweichungsstilistik (Enkvist; Abraham) 19 und die Kontraststilistik (Riffaterre). 20 Das Problem dieser Theorien ist, dass sich ‘Standardstile’ und ihre Wirkungen nur unzureichend beschreiben lassen. Dies gilt auch für die Häufigkeitsstilistik (Doležel; Bloch): 21 Dort kann über sie zwar ausgesagt werden, dass sie mit den erhaltenen Zahlenwerten im Durchschnitt (eines gewählten Korpus) liegen, dies erklärt aber keine Wirkungen außer der, durchschnittlich zu sein, und dies ist beileibe nicht die einzige Wirkung von Standardstilen. (3) Rückgriff auf abgespeicherte Auswahlregeln: Diese Methode eignet sich gut für die Erkennung von ‘Standardstilen’, da man Auswahlregeln von Stilen, denen man häufig begegnet, oft leicht wiedererkennt. Nehmen wir ein Beispiel: Jemand fährt “durchschnittlich, ohne Besonderheiten” Auto. Dabei entstehen keine Auffälligkeiten, aber wenn man darauf achtet, kann man diesen Stil dennoch wiedererkennen, weil man schon oft genug im Auto mitgefahren ist, um die gewöhnlichen Verhaltensweisen im Kopf zu haben. Das Prinzip besteht hier darin, dass Auswahlregeln erkannt werden, weil solche Stile häufig und ihre Auswahlregeln daher abgespeichert sind. 3.3 Die Annahme von Auswahlregeln Sicherlich gibt es weitere Möglichkeiten, um heuristisch auf Auswahlregeln zu stoßen, die dann auf ihre Anwendung hin überprüft werden. Nur wenn es plausibel ist, dass eine Auswahlregel bei der Erzeugung der Realisierung tatsächlich angewandt wurde, wird sie angenommen. Dies ist nicht der Fall, wenn nur eine oder wenige mögliche Anwendungen vorliegen, die auch durch andere Ursachen erklärbar sind; wenn etwa die vorgefundene Gestaltung auch andere gestalterische Gründe (z.B. funktionale oder inhaltliche Entscheidungen) haben oder einfach Zufall sein könnte. Angenommen werden die Auswahlregeln, wenn Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 81 die feststellbaren möglichen Anwendungen vermutlich nicht auf andere Gründe zurückgehen; eine absolute Sicherheit wird hier jedoch nicht gefordert. Wo die Schwelle für die Annahme liegt, wird sicher bei verschiedenen Stilempfängern und auch bei verschiedenen Stilbetrachtungen desselben Stilempfängers variieren. Je niedriger diese Schwelle gewählt wird, desto spekulativer ist die für den Stil gewonnene Menge von Auswahlregeln (der Zeicheninhalt 1). Bei der Annahme von Auswahlregeln spielt auch eine Rolle, ob sie im zweiten Zeichenprozess zur Entstehung weiterer Zeicheninhalte führen oder nicht (vgl. Abschnitt 2.6). Auswahlregeln, aus denen sich nichts weiteres ergibt, werden im Allgemeinen wohl nur angenommen, wenn sie eindeutig angewandt wurden, während Auswahlregeln, die zur Entstehung weiterer Zeicheninhalte beitragen, auch stärker spekulativ angenommen werden. 4 Fazit Dieser Artikel beabsichtigte zweierlei: Zum einen sollte eine allgemeine Stiltheorie vorgestellt, zum anderen eine spezielle sich daraus ergebende Konsequenz (das Verhältnis von Zeichenträger und Zeichenmaterie) geklärt werden. Die Vorstellung der allgemeinen Stiltheorie in Abschnitt 2 kann nicht mehr als ein Ausblick auf die Darstellung in der Dissertation sein. Das hier in aller Kürze Zusammengefasste wird dort genauer erläutert und hergeleitet. Dort werden zudem Teile der Zeichenprozesse in formaler Darstellung modelliert, was dabei hilft, die genaue Funktionsweise dieser recht komplexen Prozesse nachzuvollziehen. Gerade bei stilistischen Zeichen ist das Verhältnis von Zeichenträger und Zeichenmaterie besonders interessant. Seine spezifische Ausprägung stellt zugleich eines der distinktiven Merkmale stilistischer Zeichen dar, die es rechtfertigen, diese als spezifischen Zeichentyp (und nicht nur Anwendung auch anderswo anzutreffender Zeichentypen in einem bestimmten Bereich) anzusehen. Dies stützt die Hypothese, dass es sich bei Stil um ein explizit semiotisches Phänomen handelt. Gemeint ist damit ein Phänomen, das wesentlich auf Zeichenverwendung beruht und für dessen Abgrenzung Eigenschaften des Zeichens (oder des Zeichenprozesses) herangezogen werden müssen. Beides ist bei Stil der Fall. Daraus ergibt sich, dass die Abgrenzung von Zeichenmaterie und Zeichenträger für eine allgemeine Stiltheorie relevant ist. Das Verhältnis von Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen zu klären, ist daher für zwei Forschungsbereiche relevant: Einerseits für die Stiltheorie; andererseits für die Erforschung dieses Verhältnisses insgesamt. Wenn die hier vorgestellten Überlegungen sich als stichhaltig erweisen, ist für dieses Verhältnis auch in anderen Bereichen mit Besonderheiten und relevanten Unterschieden zu rechnen. Häufig wird die Unterscheidung zwischen Zeichenmaterie und Zeichenträger als weniger wichtig eingestuft; im Rahmen von semiotischen Theorien fristet sie oft ein Mauerblümchendasein verglichen mit anderen Unterscheidungen (etwa zwischen Zeichenträger und Zeicheninhalt bzw. Signifikant und Signifikat eines Zeichens, zwischen Ausdruck und Inhalt einer Nachricht oder zwischen Kodierung und Dekodierung einer Nachricht). Dem Verhältnis zwischen Zeichenträger und Zeichenmaterie sollte jedoch genau viel Aufmerksamkeit gewidmet werden. Darüber hinaus kann es in bereichsspezifischen Theorien von Zeichengebrauch eine wichtige Rolle spielen, wie für den Bereich stilistischer Zeichenprozesse gezeigt wurde. Martin Siefkes 82 5 Literatur Abraham, Werner 1971: “Stil, Pragmatik und Abweichungsgrammatik”, in: Arnim von Stechow (ed.): Beiträge zur generativen Grammatik. Referate des 5. Linguistischen Kolloquiums, Regensburg 1970, Braunschweig: Vieweg, 1-13 Albrecht, Jörn 2000: Europäischer Strukturalismus. 2., überarb. Aufl. Tübingen u.a.: Francke Anderegg, Johannes 1977: Literaturwissenschaftliche Stiltheorie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Bia ostocki, Jan 1981: Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft, Köln: DuMont Bloch, Bernard 1953: “Linguistic Structure and Linguistic Analyses”, in: Hill, Archibald (ed.): Report of the Fourth Annual Round Table Meeting on Linguistics and Language Teaching, Washington D.C.: Georgetown University Press, 40-44 Doležel, Lubomir 1967: “The Prague School and the Statistical Theory of Poetic Language”, in: Prague Studies in Mathematical Linguistics 2: 97-104 Doležel, Lubomir und Richard W. Bailey (eds.) 1969: Statistics and Style, New York: Elsevier Ellis, Bret Easton 1991: American Psycho, London: Picador Ellis, Bret Easton 1998: Glamorama, London: Picador Enkvist, Nils E. 1973: Linguistic Stylistics, Den Haag u.a.: Mouton Halliday, Michael H.K. 1985: An Introduction to Functional Grammar, London: Arnold Nischik, Reingard M. 1991: Mentalstilistik. Ein Beitrag zu Stiltheorie und Narrativik, dargestellt am Erzählwerk Margaret Atwoods, Tübingen: Narr. Zugl.: Köln, Univ., Habil. Plett, Heinrich F. 2000: Systematische Rhetorik. Konzepte und Analysen, München: Fink Posner, Roland 1972: “Strukturalismus in der Gedichtinterpretation: Textdeskription und Rezeptionsanalyse am Beispiel von Baudelaires ‘Les Chats’”, in: Heinz Blumensath (ed.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kieperheuer & Witsch Posner, Roland 1980: “Linguistische Poetik”, in: Althaus, H.P., H. Henne und H.E. Wiegand (eds.): Lexikon der Germanistischen Linguistik, Tübingen: Niemeyer Riffaterre, Michael 1973: Strukturale Stilistik, München: List Seidler, Herbert 1963: Allgemeine Stilistik. 2., neubearb. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Semino, Elena und Jonathan Culpeper (eds.) (2002): Cognitive Stylistics: Language and Cognition in Text Analysis, Amsterdam u.a.: John Benjamins Spillner, Bernd 1974: Linguistik und Literaturwissenschaft. Stilforschung, Rhetorik, Textlinguistik, Stuttgart u.a.: Kohlhammer Anmerkungen 1 Posner 1980: 688f. 2 Als Beispiele seien genannt: Seidler 1963, Anderegg 1977, Bia ostocki 1981, Nischik 1999, Plett 2000 und Semino u.a. 2002. 3 Dies ist das Projekt meiner Dissertation, deren Erscheinen für 2010 geplant ist. Die hier gegebene Vorschau auf die Theorie stellt die Funktionsweise vereinfacht dar und verzichtet auf Herleitungen. 4 Genauer wäre “Überholsituation”, da die Frage, ob tatsächlich überholt wird oder nicht, bereits vom Fahrstil abhängt. 5 Bei dem Konzept “Alternativenklasse” handelt es sich um eine Verallgemeinerung des strukturalistischen Konzepts “Paradigma”. Paradigmen sind Alternativenklassen, die Zeichen als Elemente enthalten. (Vgl. für eine kurze Einführung in die Saussuresche Dichotomie “Syntagma - Paradigma” Albrecht 2000: 50ff.) 6 Bei dem Konzept “Realisierung” handelt es sich um eine Verallgemeinerung des strukturalistischen Konzepts “Syntagma”. Syntagmen sind Realisierungen, die auf der Basis von Zeichensystemen entstehen. (Vgl. auch letzte Anmerkung.) 7 Zu den Kontextbedingungen gehören etwa Wetter beim Autofahren oder Lage des Grundstücks und Klimabedingungen beim Bau eines Hauses; bei Artefakten kommen zusätzlich funktionale Bedingungen, bei Texten inhaltliche Bedingungen hinzu. 8 Vgl. Abschnitt 2.2, Schritt 3. 9 Vgl. Abschnitt 2.2, Schritt 4. Zeichenmaterie und Zeichenträger bei stilistischen Zeichen 83 10 Vgl. Posner 1972. 11 Auch dann wäre es eine präzisere Beschreibung des Stils, dies auch anzugeben und eine zweite Auswahlregel anzunehmen, die spezifiziert, dass alle Fahrsituationen außer Überholen “durchschnittlich”, “normal” oder evt. auch “immer anders” ausgeführt werden (denn es ist nicht eindeutig, was davon für Bereiche, die in einer angemessenen Stilbeschreibung nicht genannt werden, zutrifft). In diesem Fall hätte man eine informationsreichere Stilbeschreibung und könnte z.B. Schlüsse aus dem Gegensatz zwischen der Art, wie überholt wird, und den Ausführungsweisen der anderen Fahrmanöver ziehen. Obwohl die Annahme von “stilistisch unauffälligen” Bereichen der Realisierung also streng genommen problematisch ist, kann nicht verlangt werden, dass angemessene Stilbeschreibungen über alle Bereiche der Realisierung eine Aussage machen; die nicht einbezogenen Bereiche müssen daher stilistisch unauffällig sein. 12 Auswahlregeln sind die einheitliche Formulierung für Regelmäßigkeiten der Auswahl aus Varianten, die bei Schemaanwendung (aufgrund der Unterdeterminierung der Realisierung durch das Schema) gegeben sind. 13 AP = Ellis 1991, G = Ellis 1998 (es werden ein bis zwei Belegstellen genannt). B = Auswahlregel, U = Anwendungsvoraussetzungen, V = verlangte Eigenschaften, M = Zeicheninhalt im zweiten Zeichenprozess, R = Relation. 14 “Ich glaube, ich bin sehr moralisch. Es liegt eine Art von Moral in meinem Schreibstil, in diesem nicht urteilenden Ton.” http: / / www.zeit.de/ 1999/ 32/ 199932.b.e.ellis_.xml? page=2 [1.2.09]. 15 Die Angabe bestimmter auszudrückender Inhalte in den Anwendungsvoraussetzungen (z.B. “Folterszenen”) ist keine Einbeziehung des Inhalts, sondern gehört zu den notwendigen Voraussetzungen der Beschreibung des Stils, ähnlich wie z.B. “Atelierfenster” in den Anwendungsvoraussetzungen bei einem Architekturstil genannt sein könnte. Natürlich kann man aus der Tatsache, dass diese Auswahlregeln im Stilträger kodiert sind, entnehmen, dass es mindestens eine Foltersezene bzw. ein Atelier geben muss. Solche Rückschlüsse auf den Inhalt eines Texts bzw. auf die Funktion eines Hauses, also auf nicht-stilistische Aspekte, können häufig aus den Auswahlregeln entstehen. 16 In Ausnahmefällen kann es vorkommen, dass nur der erste Zeichenprozess auftritt und aus den extrahierten Auswahlregeln dann keine weiteren Zeicheninhalte mehr abgeleitet werden. Dies dürfte jedoch die Ausnahme sein, zudem sind solche Stile nicht besonders interessant, da der sich ergebende stilistische Gesamtinhalt zwangsläufig eher simpel ist. 17 Posner 1980: 688. 18 Auch beim Lesen eines gedruckten Texts kann erst endgültig entschieden werden, ob eine Schwärzung ein Buchstabe oder anderes Zeichen oder nur ein Fleck ist, indem der Text (zumindest bis zur Ebene der einzelnen Zeichen) dekodiert wird. Es kann aber eine provisorische Trennung von Zeichenmaterie und Zeichenträger nach mechanischen Kriterien (Helligkeitsabstrahlung des Papiers) durchgeführt werden, bevor die Dekodierung beginnt. 19 Abraham 1971; Enkvist 1973: 36ff.; vgl. auch Spillner 1974: 19f. 20 Riffaterre 1973; die für die Kontraststilistik relevanten Kontextfaktoren können auch mit dem Ansatz von Halliday untersucht werden (Halliday 1985). 21 Doležel 1967 und Doležel u.a. 1969; Bloch 1953; vgl. auch Enkvist 1973: 127-144. Technische Bilder: Aspekte medizinischer Bildgestaltung Angela Krewani From their inception on technologies of the visual media have been applied in medical contexts. Especially the x-ray technology adapted filmic representation. These filmic images exceeded the discipline towards their public screenings in the form of a spectacle. In the early twentieth century the x-ray films offered a well-known form of entertainment. Following on this the contemporary medical images in television shows such as CSI or ReGenesis can be considered as continuations of the earlier spectacular images. But the crossover effects work into two directions insofar as the public medical images have influenced scientific imaging as some examples from nanotechnology clearly display. Von ihrem Beginn an wurden Medientechnologien auch in medizinischen Kontexten eingesetzt. Insbesondere die Röntgentechnologie involvierte filmische Verfahren. Diese Verfahren wurden allerdings nicht nur im innerdisziplinären Kontext eingesetzt, sondern sie dienten auch dem öffentlichen Spektakel. In den ersten Dekaden des 20.Jahrhunderts war der ‘Röntgenfilm’ mit anderen medizinischen Darstellungen ein beliebtes Unterhaltungsgenre. In diesem Sinne können die medizinischen Bilder in zeitgenössischen Fernsehserien wie CSI und ReGenesis als Fortführung der frühen medizinischen Spektakel begriffen werden. Die visuellen Charakteristika des medizinischen Unterhaltungsfilms haben jedoch rückgewirkt in die wissenschaftliche Bildgestaltung. Viele Bilder innerhalb der Nanomedizin dokumentieren den populären Aspekt dieser Bilder. 1 Einleitung Die zeitgenössischen Naturwissenschaften und die Medizin zeichnen sich durch ihre fortschreitende Medialisierung aus, d.h. bildgebende Verfahren scheinen die Präsenz des Forschungsobjekts zu ersetzen. Ausgehend von der Verbindung von Film und Röntgenologie wird ein Überblick über die fortschreitende Visualisierung und Technisierung medizinischer Bilder angeboten. Angesichts digitaler Massenmedien wird im Zuge der Visualisierung die Trennung zwischen interner Wissenschaftskommunikation und öffentlichem Spektakel aufgehoben. Wissenschaftliche Bilder in zeitgenössischen Fernsehserien erhöhen deren Spektakelwert. Gleichzeitig dokumentiert die Anwendung und Einbindung wissenschaftlicher Bilder die Stellung einer Wissenschaftsdisziplin im Wissenschaftsbetrieb. Deutlich wird das am Beispiel der Nanotechnologie vorgeführt. Während sich das Fach Medienwissenschaft lange auf die audiovisuellen Massenmedien Film und Fernsehen beschränkte, hat es in den letzten Dekaden eine Öffnung hin zu einem breiteren Medienbegriff erfahren, der vor allem die Medialität historischer und aktueller K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Angela Krewani 86 Wahrnehmung in den Vordergrund schiebt. Im Zuge der Öffnung des Fachs sind verstärkt die medialen Aspekte zeitgenössischer Naturwissenschaften und vor allem der Medizin in den analytischen Fokus gerückt. Seit jeher haben die Naturwissenschaften in Form von Zeichnungen, Tabellen, Diagrammen ihr Wissen visuell dargestellt. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um semiotische Systeme und nicht authentische Wiedergaben des Forschungsobjekts (Galison 1997). Die zeitgenössische Wissenschaftsforschung weiß um die Konstruiertheit und die Objektferne des Bildes, das gerne als Produkt technischer, kultureller und sozialer Diskurse verstanden wird (Lynch 2006). In den folgenden Ausführungen wird das naturwissenschaftliche Bild nicht nur als kulturelles oder soziales Produkt begriffen, sondern die angeführten Überlegungen zielen darauf ab, die technischen und kulturellen Vorbedingungen wissenschaftlicher Bildgestaltung mit in die Reflektion einzubinden. Im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte und ihrer Visualisierungsverfahren stellten die Verbreitung von Fotografie und Film aufgrund ihrer gesteigerten Dokumentationskompetenz einen erheblichen Einschnitt dar. Die Bedeutung der technischen Medien für die Wissenschaft wurde umgehend verstanden. Insbesondere der Film, seine technischen Bedingungen und die Komplexität seiner Montage garantierten neue Formen der Wissenskonstitution, verlangten zudem aber die Fähigkeit zum Verständnis filmspezifischer Technologien. Am Medium Film tritt aufgrund seiner technischen Gegebenheiten seine Wahrnehmung strukturierende Kompetenz besonders deutlich in Erscheinung. Der innerhalb der Filmtheorie entwickelte Begriff des Dispositivs beschreibt die technische Wahrnehmungsanordnung des Mediums (Baudry 1986). Im Kontext naturwissenschaftlicher Bildgestaltung reicht demnach keine formale oder ästhetische Analyse der vorliegenden Bilder, sondern die technischen Bedingungen der Bildkonstruktion müssen ebenfalls in Betracht gezogen werden. Damit sind im Rahmen der langen Geschichte der wissenschaftlichen Bildgestaltung drei markante Einschnitte zu verzeichnen: 1. Die Einführung der Fotografie, die eine neuartige, technisch-apparative Bildgestaltung darstellt, 2. die Einführung des Films, der als erstes Medium Bewegung zu reproduzieren und aufzuzeichnen in der Lage ist, 3. die zeitgenössische Digitalisierung von Bildern und Daten, die ein völlig neuartiges Verhältnis von Darstellung und Objekt initialisierte. Für das digitale Bild wird nicht mehr zwingend ein äußeres Objekt gebraucht: Bildgestaltung ist demnach schon Interpretation visueller Konventionen, wie William Mitchell betont (Mitchell 1995: 163). Im Gegensatz zur analogen Fotografie, die eines externen Objektes bedarf, ist die digitale Bildgestaltung in der Lage, jeglichen Datensatz in ein Bild zu verwandeln. Angesichts der divergierenden Verfahren muss davon ausgegangen werden, dass unterschiedliche Technologien der wissenschaftlichen Bildgestaltung zugrunde liegen, die sich in jeweils verschiedenen Formen in das Bild einschreiben. Die sich anschließende Frage zielt auf die inneren Dynamiken von Wissenschaftsdisziplinen und deren visuelle Manifestationen. Im Folgenden werden eine Reihe von Bildgebungsverfahren vorgeführt, um daran exemplarisch zu demonstrieren, welche technischen Dispositive jeweils hinter ihnen stehen. Meine These in diesem Kontext zielt darauf ab, dass die jeweiligen technischen Verfahren der Bildgestaltung auch die Dynamiken beeinflussen, die die Bilder vom wissenschaftlichen in den öffentlichen Diskurs überwechseln lassen und deren Semantiken umschreiben. Im Technische Bilder 87 öffentlichen Diskurs werden Bilder aus Medizin- und Naturwissenschaften als Unterhaltung, ich bezeichne das als Spektakel, eingesetzt. Meine Beispiele sind in historischer Reihenfolge 1. der Röntgenfilm 2. Darstellungen in Fernsehserien 3. Bilder der Nano-Medizin. 2 Die Röntgentechnologie Wie bereits erwähnt, haben technische Bildmedien von ihren Anfängen an das Interesse der Naturwissenschaften auf sich gezogen, sie wurden umgehend in die jeweiligen Forschungsprozesse integriert. Robert Koch zum Beispiel hat sehr intensiv mikroskopische Arbeiten mit der Fotografie verbunden und auch der Film wurde direkt ins Repertoire der bildgebenden Verfahren eingebunden. Schon die Nachrufe auf den Filmpionier Charles Lumière betonten die besondere Bedeutung des Films für die Wissenschaft, Lisa Cartwright zufolge galt das neue Medium in erster Linie als dokumentierendes Werkzeug für wissenschaftliche Darstellungen. Die fiktionalen Dimensionen wurden anscheinend erst später in Betracht gezogen (Cartwright 1995: 1 ff.). Evelyn Fox Keller weist im Rahmen der Geschichte der Mikrobiologie darauf hin, dass durch den Film zum ersten Mal in der Geschichte der Wissenschaft das Leben selbst abgebildet werden konnte (Keller 2002: 218). Der amerikanische Filmtheoretiker Scott Curtis verfolgt den Aspekt der Beweglichkeit der Bilder und vermutet in den durch die Montage hergestellten Zeitrafferbzw. Zeitdehnungsstrukturen des Films dessen zentrale Qualitäten. Erst durch den Film können, wie Curtis anmerkt, Vorgänge wie Molekularbewegungen sichtbar gemacht werden (Curtis 2005). Der Mikrobiologe Jean Comandon, der die Verteilung und die Bewegungen von Syphilis- Bakterien dokumentierte, gewann die Unterstützung der französischen Filmfirma Pathé Frères und eröffnete 1907 ein Labor für Mikrokinematographie. Auch Jean Comandon betrachtete die Filmkamera - wie vorher schon das Mikroskop - als Instrument der Wahrnehmungserweiterung. Interessanterweise gebraucht er, ähnlich wie in den 1920er Jahre der russische Experimentalfilmer Dziga Vertov, die Metapher des erweiterten Auges bzw. des aufgerüsteten Körpers zur Beschreibung einer Medientechnologie. Microcinematography alone is capable of conserving the traces of phenomena occurring in the preparation. Like the retina of an eye which never tires, the film follows, over a prolonged period, all the changes which occur, even better, the cinematograph is, like the microscope itself, an instrument of research, while the one concerns visual space, the other concerns time, in condensing or spreading out movements by accelerating or slowing them; it reduces their speed to a scale that is more easily perceptible, which, indeed, reveals to us that which we had never suspected (Comandon, zit. n. Landecker 2005: 125). Neben der ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Anwendung jedoch wurde bereits der Röntgenfilm als Spektakel im öffentlichen Raum eingesetzt. Filmhistoriker bestätigen, dass es in der Geschichte des frühen Films keine Trennung hinsichtlich filmischer Genres gab: Sowohl Spielfilme, als auch Dokumentarfilme oder eben vorgeblich wissenschaftliche Filme wurden unterschiedslos dem öffentlichen Vergnügen dargeboten (Gunning 1990). Öffentliche Wirksamkeit ist indes auch anzutreffen in den Röntgenfilmen des Chemikers und Dokumentarfilmers Martin Rikli, der zwischen 1936 und 1937 unter dem Titel Röntgen Angela Krewani 88 Abb. 1: Screenshot aus Fantastic Voyage strahlen vier Filme vorlegte, die zur Erbauung des Publikums die Wirkung von Röntgenstrahlen vorführten. Ermöglicht wurden die Filme durch die Kooperation mit dem Röntgenmediziner Robert Janker, der an der Universitätsklinik Bonn ein Verfahren entwickelt hatte, kinematographische Röntgenfilme herzustellen (Hoffmann 2002). Die Nähe des Films zum Spektakel entwickelt sich langsam. Erst einmal beginnt Röntgenstrahlen I wie ein gewöhnlicher Lehrfilm mit den Fakten um die Entdeckung der Strahlen. Etwa in der Mitte des Films wird der sachliche Ton verlassen und sie beginnen, eine “Gratwanderung zwischen Sensation und Skurrilität” (Hoffmann 2002: 421) darzustellen. Etwa wenn Mäuse in einem Laufrad gezeigt werden, eine Katze beim Fressen oder Hühner beim Eierlegen. Ebenfalls sieht man Frauenhände beim Stricken oder Häkeln. 3 Filmbeispiele Schon hier lässt sich feststellen, dass das einst als ‘wissenschaftlich’ intendierte Verfahren schnell im Sinne öffentlichkeitswirksamer Unterhaltung umgesetzt wurde. Allerdings kann, Kay Hoffmann zufolge, noch eine Unterscheidung zwischen Bildern, die für den internen Forschungsprozess bestimmt waren, und denjenigen, spektakulären für die Öffentlichkeit festgestellt werden (Hoffmann 2002: 421). Ebenso spektakulär wie die Röntgentechnologie wurde die seit den 1960er Jahren entwikkelte Endoskopie aufgenommen: Eine Kamera wird am Ende eines Katheders in den Körper eingeführt und vermittelt so den Blick in das Körperinnere. Inzwischen ist die Endoskopie eine vor allem in der Medizin weit verbreitete Methode der Sichtbarmachung. In fiktionaler wie in science fiction-Hinsicht ist diese Fantasie gleichzeitig mit den ersten Anfängen der Endoskopie im Jahr 1966 mit dem Film Fantastic Voyage thematisiert. Eine Gruppe von Forschern bereist das Innere eines Körpers auf der Suche nach einem Gehirntumor, den es zu zerstören gilt. Interessanterweise finden wir hier schon - wie später in der Nanotechnologie - eine Gleichsetzung von Innen- und Außenräumen, bzw. die Innenwelten des Körpers werden zum ‘outer space’ der Raumfahrtfiktionen: “Man is in the center of the universe. We stand in the middle of infinity to outer and inner space and there is no limit either.” 1 Allerdings liegen zwischen Röntgentechnik und Endoskopie nicht nur einige Jahrzehnte medizinischer Entwicklung, sondern die medialen Implikationen beider Technologien differieren sehr stark. Grundlage des klassischen Röntgenfilms ist die traditionelle Kinematographie, wie sie Baudry in seinen Überlegungen zum Dispositiv charakterisiert. Das filmische Geschehen ergibt sich durch die Projektion auf eine weiße Leinwand, die Zuschauer sind fest eingebunden im Kinoraum, mit Blickrichtung auf eben diese Leinwand. Für den naturwissenschaftlichen und medizinischen Kontext ergibt sich aus diesem Dispositiv eine Anordnung, die eine Reihe von Distanzen herstellt: Der durchleuchtete Körper ist - im klassischen Röntgenfilm - nur noch als Repräsentation, d.h. Technische Bilder 89 Abb. 2: Screenshot aus der CSI-Episode Pledging Mr. Johnson (1.4.) als Bild anwesend. Zwischen Zuschauer und Film besteht eine räumliche und zeitliche Distanz, der Vorgang der Durchleuchtung und deren Darstellung fallen zeitlich auseinander. Das filmische Negativ bedarf noch einer chemischen Behandlung, bevor es die auf ihm enthaltenen Vorgänge repräsentieren kann. Zudem besteht ebenfalls noch eine Distanz zwischen der medizinischen und der medialen Apparatur (Baudry 1986). Angesichts dieser technischen und wahrnehmungsbedingten Ausgestaltung kann davon ausgegangen werden, dass das Dispositiv zusätzlich medialen und wissenschaftlichen Diskursen einen festen Platz einräumt und diese stabilisiert. Hinsichtlich ihres Dispositivs differiert die technische Anordnung der Endoskopie erheblich von den kinematographischen Vorgaben des Röntgenfilms. Die beteiligten Technologien schreiben eine völlig neue Anordnung von Medium, Aufzeichnung und Körper vor, die sich grundlegend von derjenigen der Kinematographie unterscheidet: - Die zeitliche Distanz zwischen Aufnahme und Repräsentation ist aufgehoben. Schon während der Aufnahme wird das Bild des Körperinnern auf einen Bildschirm geworfen. - Die Materialität des Speichers ist eine andere: Im Gegensatz zum Einzelbild auf Zelluloid handelt es sich hier um digitale bzw. elektronische Speicherverfahren. - Ebenfalls obsolet erscheint die durch die Wahrnehmungsanordnung bewirkte Distanz zwischen Leinwand und Zuschauer: Technische Grundlage der Darstellung ist nicht mehr die Einheit von Projektor und Leinwand, sondern der Computerbildschirm, der die medialen Implikationen des Fernsehbildschirms mit sich bringt. Gleich dem Fernsehen offeriert der endoskopische Bildschirm ‘live’ aus dem Körperinnern. Hinzu kommt das Zusammengehen von medialer und medizinischer Apparatur, wie auch José van Dijck anmerkt, wenn z.B. durch dieselbe Körperöffnung eine Kamera wie auch chirurgisches Instrumentarium geschoben werden. So verschmelzen Operationssaal und Bildschirm räumlich unter dem Zeichen einer Fernsehästhetik. The trick of virtual endoscopy is that it resembles a video film taken with an actual camera inside the body, yet, in fact, it is an projection of the interior, extrapolated from digital data. The real body is represented as spatial information, resulting in a high-resolution visualization that is neither a photo nor a model, but an animated reconstruction of computer data (Dijck 2005: 15). Zusammenfassend muss hier festgestellt werden, dass sich die Endoskopie als ‘direktes’ bildgebendes Verfahren erheblich von der Röntgenkinematographie unterscheidet. Als Folge des Wegfalls einstmaliger technischer Distanzen erscheint eine größere Verfügbarkeit und schnellere Verbreitung der Bilder. Wie in Hinblick auf die Röntgenkinematographie bereits andeutet, wird der Spektakelwert der Bilder erhöht. Die weite digitale Verfügbarkeit der Bilder unterstützt einen bidirektional ausgerichteten Austausch zwischen Wissenschaftsdisziplin und Unterhaltungsindustrie. Demgemäß werden schon die medizinischen Bilder des Körperinnern als performative Ausrüstung ansonsten traditionell erzählter Fernsehserien gerne eingesetzt. Besonders die amerikanische Fernsehserie CSI - Crime Scene Investigation ist ein hervorragendes Angela Krewani 90 Abb. 3: Screenshot aus der ReGenesis-Episode The Source (1. 10) Abb. 4: Nanorobot in the bloodstream Beispiel für die Kombination von kriminalistischem Erzählen und spektakulären Visualisierungen des Körperinnern. Im Gegensatz zu den einfachen Narrationsstrukturen der Serie, die einem ‘who dunnit’ Prinzip mit pro Folge abgeschlossener Handlung folgt, bilden die visuellen Elemente experimentelle und komplexe Muster aus. Lichtgebung, Montage und Kameraführung fallen aus dem ansonsten standardisierten Repertoire des Genres Fernsehserie und sie bereiten auf die spektakulären Bilder aus dem Körperinnern vor. Ähnlich wie der Röntgenfilm, der sich der angeblichen wissenschaftlichen Aufklärung verschrieb, folgt auch die Narration einem vorgeblich wissenschaftlichen Impetus: Handlungsschauplatz ist die pathologische Abteilung der Polizei, die Fälle aufzuklären hat. Folglich beginnt jede Folge mit dem Fund einer Leiche, deren Todesursache bzw. Mörder gefunden werden muss. In diesem Zusammenhang bieten sich die Bilder der forensischen Pathologie an, da sie zentrale Momente der Handlung darstellen. Ein ähnliches, wenn auch komplexeres Muster verfolgt die kanadische Serie ReGenesis, deren Handlungsort ein staatliches Labor für Mikrobiologie ist. Hauptfigur Dr. David Sandstroem, der wissenschaftliche Leiter des Labors, ist als Figur komplexer ausgestaltet als diejenigen in CSI. Insgesamt folgt die Serie einem komplexeren narrativen Muster mit offenen, nicht abgeschlossenen Handlungssträngen. Auch hier bieten sich Bilder des Körperinnern sowie mikrobiologische Filmaufnahmen an. Insgesamt arbeitet ReGenesis mit einer komplexeren Bildästhetik, die neben den mikrobiologischen und medizinischen Bildern mit ‘split screens’ und ‘fast backwards’ arbeitet. Die Flexibilität und Ubiquität wissenschaftlicher Repräsentationen im öffentlichen Raum spricht meines Erachtens für eine anwachsende Durchlässigkeit einstmals getrennter Kommunikationsbereiche von wissenschaftlichen Disziplinen und öffentlichen Diskursen. Auch bestärkt durch die Digitalisierung und die damit einhergehende Ubiquität von Bildern ist eine Affinität von ‘dokumentarischem’ Bild und ‘spektakulärem’ Bild entstanden, die keine Unterscheidung der Bilder mehr ermöglicht. 4 Bilder der Nano-Medizin Virulente Beispiele für die Ununterscheidbarkeit zwischen öffentlichem Spektakel und wissenschaftlicher Dokumentation bieten weite Teile der Nano-Medizin bzw. der Nanotechnologie. In ihrer öffentlichen Repräsentation erscheint die Nanotechnologie als ein hochgradiges Zwitterprodukt zwischen wissenschaftlicher Disziplin und öffentlichem Diskurs. Durch die Größe des Forschungsobjekts und die zentrale Stellung medialer Bildkonstruktion in Form der Mikroskope und der daran anhängenden technischen Bildverfahren innerhalb derer ein Rastertunnelmikroskop Oberflächen abtastet und diese in Datensätze verwandelt, rücken Bilder in das Zentrum der Wissenskonstruktion (Hacking 1985). Ich möchte hier die These wagen, dass eine Relation zwischen Technische Bilder 91 technischer Komplexität der Bilder und diskursiver Instabilität herrscht. Je komplexer und interdisziplinärer die Bildgestaltung ausfällt, desto empfänglicher bzw. angreifbarer wird sie für fremde Diskurse bzw. ein Bildrepertoire aus dem öffentlichen, populären Gedächtnis. Das ist in vielen Fällen auf die technische Genese der Bilder zurückzuführen. Viele Softwareingenieure kommen aus dem Bereich der filmischen Bildgestaltung und nehmen sich das Repertoire computergenerierter Filme zum Vorbild. Insbesondere die Nanotechnologie bedient sich eines Bildrepertoires, auch im Inneren ihrer eigenen Disziplin, das dem science fiction-Film zu entspringen scheint und auch oft mit deutlichen Verweisen auf diesen arbeitet. Die Eingabe des Begriffs ‘Nano-Medizin’ in Google ergab eine Reihe von Einträgen, die häufig auf den Film Fantastic Voyage verwiesen. Ich zitiere hier aus einem Beispiel, das sich auf der Homepage der amerikanischen Nasa befindet: It’s like a scene from the movie ‘Fantastic Voyage’. A tiny vessel - far smaller than a human cell - tumbles through a patient’s bloodstream, hunting down diseased cells and penetrating their membranes to deliver precise doses of medicines (http: / / science.nasa.gov/ headlines/ y2002/ 15jan_nano.htm [04.10.08]). Der anfängliche Vergleich wie auch die Sprache des Zitats verweisen eher auf den ‘Thriller’ denn eine wissenschaftliche Prozedur, wie auch das begleitende Bildmaterial sich problemlos in vorhin angesprochene Fernsehserien einfügen ließe. Abschließend muss danach gefragt werden, wie sich die Dynamiken zwischen populärem Bildgedächtnis und wissenschaftlicher Disziplin speisen. In Hinblick auf die Etablierung der Chemie als Wissenschaftsdisziplin kann festgestellt werden, dass visuelle Repräsentationen in dem Prozess eine wesentliche Rolle gespielt haben. Mit fortschreitender Seriosität der Disziplin wurden die Bilder in den Hintergrund gedrängt und fielen wesentlich weniger spektakulär aus (Knight 1993). Eine ähnliche Entwicklung ist in den noch relativ jungen Disziplinen Mikrobiologie und Nanotechnologie zu beobachten. Die relative Durchlässigkeit der Bilder mag auch mit dem noch nicht sehr etablierten Status der Wissenschaft zu tun haben, die ähnlich wie das Beispiel der Chemie im späten 19. Jahrhundert, in ihren Repräsentationsformen noch nicht durchgängig kanonisiert ist. Literatur Baudry, Jean Louis 1986: “Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus”, in: Rosen, Philip (Hrsg.) 1986: Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York: Columbia University Press, 286-298 Baudry, Jean-Louis 1986: “The Apparatus: Metapsychological Approaches to the Impression of Reality in Cinema”, in: Rosen, Philip (Hrsg.) 1986: Narrative, Apparatus, Ideology. 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Based on carefully picked examples, different strategies of visualization and readings are shown as they have developped between teratology and media since the beginning of the 19th century. The chosen material includes medical and freak photography of the second half of the 19th century as well as contemporary photographies and sculptures. First of all, the analysis concentrates on the mediatic and social production of (images of) monstrous bodies as well as the mise-en scène of the so-called ‘biological realness’ (Mary Russo) which forces the spectator to look at and judge upon the peculiarity of the the exposed bodies. Der Artikel beschäftigt sich mit der Geschichte der Inszenierung monströser Körper. Anhand ausgewählter Bildbeispiele werden verschiedene Visualisierungsstrategien sowie Lesarten aufgezeigt, wie sie sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts zwischen Teratologie und Bildmedien entwickelt haben. Das präsentierte Material reicht von medizinischen und Freakfotografien aus dem 19. Jahrhundert über verschiedene Arbeiten zeitgenössischer Fotografen bis hin zu zeitgenössischen Skulpturen. Im Vordergrund der Analyse stehen die soziale und vor allem mediale Produktion monströser Körper(bilder) sowie der Effekt der ‘biological realness’ (Mary Russo), als die mit Hilfe verschiedener Bildstrategien sich dem Betrachter aufdrängende und ihn zum Urteil zwingende Eigenheit der ausgestellten Körper. “I’m differently beautiful because my body looks different to other people’s.” So die englische Künstlerin Alison Lapper (Abb. 1-4) in einem auf YouTube veröffentlichen Feature über ihre Person, ihre künstlerischen und politischen Arbeiten. 1 In ihrer Beschäftigung mit dem menschlichen Körper sowie seinen Bildern setzt Lapper gleichermaßen Fotografie, Computergrafik und Malerei ein, wobei die kulturelle Produktion von Differenz (und mithin von Normalität) im Vordergrund steht. Gleich und doch nicht gleich zieht der physisch andere Körper die Blicke auf sich: “You cause people to watch and to make judgement.” (Ebd.) Zahlreiche Exponate der englischen Künstlerin zeigen Selbstportraits, deren Ästhetik sich aufgrund offensichtlicher Ähnlichkeit an der Venus-Statue als dem Ideal weiblicher Körper orientieren: “I’ve labelled myself Venus de Milo in some of my works. She lost her arms; I was born without mine. Yet no-one would describe her as disabled, as they do me, even though I’m real and I can answer them back.” (Ebd.) Die im Jahr 2000 entstandene fotografische Arbeit Untitled (2000) lässt die Inspirationsquelle unschwer erkennen, wobei der in der sanften S-Kurve des griechischen Ideals geformte Körper das klassische ästhetische Prinzip in der Differenz zwischen den Bildern hervorhebt (Abb. 5). Die harten Kontraste der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Beate Ochsner 94 Abb. 5: Untitled (Lapper, 2000) 2 Abb. 1-4: Stills aus dem Feature über Alison Lapper (http: / / www.youtube.com/ watch? v=6nulqXwC0nU, [02.01.09]) Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 95 Schwarz-Weiß-Aufnahme lassen die weiße Haut der Portraitierten hervortreten und verleihen dem fotografischen Körper eine nahezu marmorne Skulpturalität. In ihren Installationen kombiniert Alison Lapper ihre fotografischen oder malerischen Arbeiten mit Gipsabdrücken sowie frühen klinischen Aufnahmen ihres Körpers, die seine Deformität dokumentieren, benennen und klassifizieren. Auf diese Weise sichert der ‘aus den Fugen’ des protonormalistischen Dispositivs geratene Körper das System körperlicher Normalität, um sich selbst als defizitär auszuschließen. Was nun bringt eine Frau dazu, sich freiwillig auf diese Art zur Schau zu stellen und sich (erneut) den Blicken der Öffentlichkeit auszusetzen? Ähnlich wie andere behinderte Künstler - so z.B. die irische Performancekünstlerin Mary Duffy oder der englische Schauspieler Matt Frazer - stellt Lapper ihren ‘anderen’, monströsen Körper aus, um auf diese Weise die pervasiven medizinischen und schaulustigen Blicke zu reproduzieren, die ihn aus Legitimationsgründen zum gesellschaftlichen Spektakel erklären. Im Rahmen ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Thema Freaks bzw. der disability-Forschung konstatiert die amerikanische Forscherin Rosemary Garland-Thomson, dass Behinderung über die medizinischen Kontexte hinaus und vergleichbar mit den Kategorien des Geschlechts oder der Rasse zu einer Verhandlungssache gesellschaftlicher Repräsentations- und Diskurssysteme geworden ist (vgl. Garland-Thomson 2000: 181). Auf diese Weise gerät der fehlgebildete Körper zum kulturellen Artefakt, zum Produkt sozialer, ästhetischer und diskursiver Praktiken. Als solches Kunststück stellt Alison Lapper sich selbst bzw. ihren eigenen Körper bewusst aus, um auf die Konstruiertheit seiner ästhetischen Vorbilder wie auch die soziale Fabrikation seiner Spektakularität zu verweisen. Dass ich im folgenden Text die Begriffe des monströsen und des anderen Körpers synonym verwende (wie auch Alison Lapper in ihrem Kurzfilm) ist keinesfalls mit einer Negativwertung verbunden, vielmehr geht es mir um die auffallende Nähe der Diskurse. Leider kann ich nicht ausführlich auf die spannende Begriffsgeschichte des Monsters eingehen, darum nur so viel: Monster oder - mit Thomas Macho gesprochen - “exilierte Dissidenten der Normalität” sind die Anderen des Systems, das sie als defizitär markiert, um das Eigene als Normalität zu sichern (vgl. Ochsner 2009). Diese Funktion kommt in ganz ähnlicher Art und Weise auch den auf den Fotografien abgebildeten anderen Körpern zu, die in der Zur-Schau-Stellung zu Monstern im Sinne Jean-Marie Sabatiers werden: “Monster sind nur Monster, weil wir sie ausstellen.” 3 Seit der Antike wird das Andere (des Menschlichen) - das Monster, der Fremde oder der Kranke - in unterschiedlichen medialen Konzeptionen exponiert. Seit dem 19. Jahrhundert spielt die medizinische Fotografie in diesem Kontext eine wichtige Rolle: Unter Einhaltung strikter visueller Konventionen - ein neutraler Hintergrund, der die Aufgenommenen objektiviert und sie in der Abstraktion vergleichbar macht, die Beigabe von Requisiten, die das soziale Standing andeuten, Frontal- oder Profilaufnahme, Ganzkörper- oder Gesichtsdarstellung etc. - sowie durch erklärende wissenschaftliche Texte vervollständigt, bestätigt die fotografische Konstruktion einer medizinischen Autorität über den pathologischen Körper den szientifischen Diskurs. Nun wenden die zeitlich aufkommende Freak- oder Monsterfotografie wie auch zeitgenössische Fotografien von Diane Arbus, Joel-Peter Witkin, Nick Knight oder auch Gerhard Aba vergleichbare Visualisierungsstrategien an mit dem Ziel, entweder die Glaubwürdigkeit mit Hilfe wissenschaftlicher Authentizität zu erhöhen oder aber - in ästhetischer und historischer Deplatzierung - die Monstration der Zur-Schau-Gestellten zu reflektieren. Die verschiedenen Typen von Fotografien spielen dabei eine als “effet de monstre” zu bezeichnende Wirkung aus, die auf die rhetorische Figur der Katachrese verweist, von David Beate Ochsner 96 Abb. 6: Krao, das missing link, zusammen mit ihrem Besitzer Farini (http: / / sideshowbarker.blogspot.com/ [17.11.08]) Williams in seiner ausgezeichneten Studie über die Funktion des Monsters als apophatische Monstration oder ‘showing forth’ bezeichnet: Wo das Fehlen des eigentlichen Ausdrucks - das Monster verweist auf keine ihm vorgängige Signifikation - die Repräsentation verhindert, wird sie durch die reine Monstration ersetzt, die die Funktion der Repräsentation als solche reflektiert. In der Geste des reinen Zeigens, des Monstrierens, spielen nun nicht nur die mittelalterlichen Monster ihr Potential aus: “[T]he monster’s proper function is to negate the very order of which the monster is a part, and to critique the philosophical principles that sustain order itself” (Williams 1996: 14). Dieses besondere soziale und sozialkritische Potential in ausgewählten Bildern ‘monströser’ Körper medial zu hinterfragen, ist Anliegen der folgenden Überlegungen. 1 Beispiel 1: Krao, das Missing link Nur kurze Zeit nach ihrer Erfindung hielt die Fotografie Einzug in unterschiedliche Bereiche der Wissenschaft wie z.B. der Medizin: Neben vorwiegend archivarischer Funktion konnte sie gar zu einem wissenschaftlichen Instrument avancieren, das dem Auge des Mediziners bislang verschlossene Gebiete, mithin eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit eröffnete. Nicht nur die sehr früh für die Medizin entdeckte Mikrofotografie feierte Erfolge, rasch begann man sich auch in den Bereichen der Dermatologie und Orthopädie sowie, generell, im Bereich physischer und psychischer Devianzen für die akkurateren und “more lifelike” Repräsentationen (Squire, zit. nach Gernsheim 1961: 147) zu interessieren und so entstanden, neben verschiedenen fotografisch illustrierten Buch- und Zeitschriftenpublikationen, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an zahlreichen Krankenhäusern fotografisch illustrierte Sammlungen human-pathologischer Absonderlichkeiten, die ihre Faszination an der Zur-Schau- Stellung ‘lebender’ wie auch ‘toter’ Monstrositäten kaum verheimlichen können. Auf Suche nach der menschlichen Vor-Geschichte bedienten sich auch die Anthropologen und Ethnologen wie der berühmte Rudolf Virchow der Fotografie: Interessanterweise handelt es sich - wie in den Verhandlungen, dem Publikationsorgan der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, nachzulesen - nicht nur um von Wissenschaftlern oder Berufsfotografen zu szientifischen Zwecken aufgenommene Bilder, vielmehr bestaunte man entsprechende ‘Fälle’ life in Panoptiken und auf Jahrmärkten oder erstand die käuflich zu erwerbenden Freakfotografien ihrer berühmtesten Vertreter. Manchmal konnte man die Ausstellungsobjekte gar einer Untersuchung unterziehen und in diesem Rahmen, Aufnahmen anfertigen lassen. So auch im Falle Kraos, deren Berühmtheit in erster Linie auf ihre geschickte Vermark- Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 97 Abb. 8: La Nature, Mai 1883 (http: / / www. bl.uk/ learning/ images/ bodies/ printlarge48 01.html, [17.11.08]) Abb. 7: P.T. Barnum & General Tom Thumb (http: / / www.racontours.com/ Pic% 27s/ NS/ tom-thumb.gif [26.1.10]) tung und Inszenierung als Darwin’s missing link - wohl eine Idee ihres Besitzers Farini 4 - zurückzuführen ist (Abb. 6). (Zum Vergleich eine Aufnahme Tom Thumbs in der erhöhenden Präsentationsweise, die auf Requisiten wie europäische Uniformen, Adelsprädikate (Major Tom Thumb) etc. rekurriert (Abb. 7)). Auch die bereits im Mai 1883 in La Nature veröffentliche Richtigstellung der verwegenen Annahme, Krao repräsentiere das fehlende Verbindungsglied, vermag die Sensations- und Schaulust nicht zu minden, und als ‘Lückenbüßer’ der Genealogie muss Krao weiterhin als hybrides Wesen zwischen Mensch und Affe die sich in diesem Übergang vollziehende Perfektionierung des Menschen und gleichzeitig seine Differenz zum Tier bezeugen. (Abb. 8) Im Fluss des vom Kontinuitätsdenken beherrschten 19. Jahrhunderts verschwinden die vom Teratologen Etienne Geoffroy Saint-Hilaire als ‘arrêt du développement’, als pathologischer Stillstand der Entwicklung bezeichneten Anomalien (wie eben auch das missing link); allein die Fotografie vermag das Momentum abermals zu arretieren, dies jedoch nur, um es im Rahmen biologischer, medizinischer oder evolutionstheoretischer Verhandlungen oder einfach um des Amüsement willens erneut und endgültig festzustellen: Das entstellte Monster wird im Bild gestellt und geriert ein Wissen, “das erst in seinen Verkehrungen das Monströse als Verkehrtes hervorbringt.” (Oldenburg 1996: 38) Diese Verkehrungen liegen letztlich im Diskurs eines auf stetigen Fortschritt programmierten szientifischen Denkens begründet, das diskontinuierliche Entwicklungen zwar nicht ausschließt, sie jedoch als graduelle Phänomene oder Devianzen des Normalzustande bzw. einer normal verlaufenden Evolution verortet. Die dem Verschwinden entgegenwirkende Fotografie hebt den Verlauf der Zeit auf und vermag auf diese Weise mögliche ‘Lücken’ (in der Evolution) durch eine ‘natürliche’, d.h. ohne Eingriff des Menschen hergestellte Präsenz zu substituieren: Das fotografisch fixierte Objekt - in unserem Falle Krao - wird gleichsam rückwirkend als Beweis der an ihm aufgestellten (Hypo-)These gelesen, es fungiert als Supplement einer so nie gelebten Vergangenheit und indiziert gleichzeitig deren Verlust (vgl. Oldenburg 1996: 38). In ihrer gleichzeitigen Bezeugung der Objektivität der Aufnahme und der Authentizität des Objekts entwickelt sich die Fotografie zum wissenschaftlichen Instrument. Doch geschieht dies, wie Jean-Marie Schaeffer bereits 1987 konstatiert, lediglich aufgrund eines semiotischen Kurzschlusses zwischen indexalischer Beate Ochsner 98 und ikonischer Funktion (vgl. Schaeffer 1987): Im Gegensatz zum Indiz, das sich auf Manifestationen des realen Raum-Zeit-Verhältnisses bezieht, verweist das Ikon an sich nicht auf existierende Dinge; es handelt sich, nach Pierce, um ein Zeichen der Essenz. Was nun allzu häufig die Interpretation der Fotografie kompliziert, ist die Tatsache, dass der Empfänger die beiden Funktionen im fotografischen Dispositiv kurzschließt: Auf diese Weise zeugt die indizielle Funktion, die auf die reale Existenz der Aufnahme verweist, plötzlich von der Authentizität des abgebildeten Objektes, während die ikonische Funktion dessen essentielle Eigenschaften darstellt. So zeugt die Fotografie Kraos von der Authentizität des missing links, das als Momentum einer individuellen Entwicklung auf die Evolution des Menschen übertragen wird. Rudolf Virchow mag nun der missing link-Story keinen Glauben schenken, gleichwohl interessiert er sich für die fotografische Fixierung des ontogenetischen Zeitpunkts der Abweichung: Das von der Evolution abweichende ‘damals’ (der Störung) soll sich - im Vokabular Thierry de Duves - dem ‘jetzt’ der Fotografie einschreiben. De Duve fügt eine weitere Spreizung zwischen ‘hier’ und ‘dort’, so dass zwei sich kreuzende Linien mit den jeweiligen Punkten ‘damals’ - ‘hier’ bzw. ‘jetzt-dort’ entstehen. Virchows Ansatz basiert auf einer Kreuzung beider Serien, und man stellt fest, dass diese Beziehung sich jeweils in einem Bruch mit dem hic et nunc der ‘normalen (Entwicklungs-)Zeit’ vollzieht. In seiner Funktionalisierung der Fotografie als pathologische Entwicklungshemmung an einem bestimmten Zeitpunkt der Evolution vollzieht sich so, wie im von de Duve beschriebenen Übergang von der Momentaufnahme zur Pose, eine Transformation von Raum in Zeit und umgekehrt: Die damalige Abweichung soll sich im Jetzt der Fotografie (und, im semiotischen Kurzschluss) hier des (dort) anderen Körpers vollziehen. 2 Beispiel 2: Die Inszenierung der Fotografie im “crucifiement” Mit dem Einzug Jean-Martin Charcots in die Salpetrière beginnt auch der Aufbau des dortigen Fotoateliers. Von der Mehrzahl der Aufnahmen, die zumeist der Dokumentation und Authentifizierung dienen, unterscheiden sich die sog. ‘Kreuzigungsfotografien’ nicht allein aufgrund der Pose und der ihrer Bezeichnung geschuldeten ikonographischen Verankerung in der christlich-religiösen Kunstgeschichte, sondern gleichermaßen in Bezug auf einen spezifischen Umgang mit dem Medium der Fotografie. Während man relativ schnell feststellt, dass einige Aufnahmen effektvoll aufgerichtet wurden, um den Eindruck einer Kreuzigungsszene zu verstärken und dem Phasentitel Crucifiement gerecht zu werden (vgl. Abb. 9), so ist aus dem Text zu erfahren, dass man auf eine Aufnahme verzichtete, wenn die Patientin die gewünschte Pose nicht in vollendeter Manier hervorbringt. Die hysterisch erstarrten Körper zeigen dabei eine auffallende strukturelle Ähnlichkeit zur fotografischen Stillstellung, interessant ist hier die zeitliche Dimension: Atemstillstand und gänzliche Immobilität des hysterischen Körpers gehen seiner fotografischen und textuellen Stillstellung voraus, und so wird der hysterische Körper bereits vor seiner medialen Repräsentation als Allegorie des fotografischen Prozesses lesbar (vgl. Baer 1994). 5 Das der Fotografie des Körpers vorgängige Bild der Hysterie wird in der Aufnahme wiederholt und gleichzeitig supplementiert. 6 Mit Roland Barthes wäre zu folgern, dass die Charcot’schen Kreuzigungsfotografien den Blick auf ein psychologisch Unbebzw. Nichtgewußtes freigeben, das außerhalb des fotografischen Wiederholungsprozesses nicht existiert. Dies bestätigt auch Didi-Hubermans These, Charcot habe die Hysterie erfunden, um sie nach- Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 99 Abb. 9: Iconographie photographique de la Salpetrière, Band 1, 1876, Abb. VI, VII, IX. träglich kunstgeschichtlich zu verankern. Wie Karin Dahlke aufzeigt (Dahlke 1998: 214), führt die intermediale Ver-Setzung des fotografischen Mediums in einen kunstgeschichtlichen Inszenierungsrahmen zur Aufhebung der fotografischen Spezifika; Reproduktion und Produktion nähern sich einander an und die Fotografie (bzw. die Hysterie) mutiert zu einem Vorzeichen ihrer selbst, um sich im eigenen Bild zu bestätigen. 3 Nick Knight oder: Die Neue(n) Mode(ls) ‘Nur eine Provokation? ’ Alexander Mc-Queen, Chefdesigner bei Givenchy, eröffnet bei der Londoner Fashion Week 1998 mit speziellen, ganz ‘anderen’ Modellen: Neben einer Frau ohne Arme und Beine, einem Mann ohne Unterleib trat auch die ohne Schienbeinknochen zur Welt gekommene und daraufhin beidseitig unterschenkelamputierte Sportlerin Aimee Mullins auf den Laufsteg. Die Medien- und Modewelt reagierte zumeist schockiert: Eine ‘Gratwanderung zwischen Schock und Schick’ wollte die Süddeutsche Zeitung gesehen haben, von ‘Ausbeutung’ schrieb der Figaro. Der deutsche Modemacher Wolfgang Joop nannte den Auftritt von Aimee Mullins in einem NZZ-Gespräch ‘ein Bild verletzter Endzeitromantik, das Harte kombiniert mit dem Zarten’. Die Konkurrenz tat McQueen als ‘Voyeuer und Provokateur’ ab. Aimee Mullins hingegen trug die bizarre Schau einen Supermodelstatus ein: Mit dem Untertitel Ich bin eine ganz normale Frau präsentierte die Titelseite des ZEIT-Magazins vom 5. November 1998 eine Fotografie von ihr, aufgenommen vom Londoner Fotografen Nick Knight, der sich mit einigen der hier gezeigten Aufnahmen (Abb. 10-12) an einer Ausstellung mit dem Titel Bilder, die noch fehlten beteiligte, die u.a. im Deutschen Hygienemuseum in Dresden zu besichtigen war. “Natürlich werden einige das hier als Freak-Show empfinden. Das lässt sich nicht vermeiden”, kommentiert der bereits erwähnte ‘Mann ohne Unterleib’, Beate Ochsner 100 Abb. 10, 11 und 12: Alison Lapper, David O’Toole und Aimée Mullins, fotografiert von Nick Knight, in: ZEITmagazin, 5. Februar 1998. Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 101 der Tänzer und Choreograph David Toole. Die ZEIT zweifelt am dauerhaften Erfolg dieses Programms: “Doch wenn London weiterhin der Nabel der Fashionwelt sein will, reicht es nicht, sich zweimal im Jahr von McQueen, der für seine Show am Sonntag beinamputierte Models engagiert hatte, und einer Handvoll halbetablierter Zöglinge schocken zu lassen.” 4 Joel Peter Witkin: Vom Dokument zur theatralen Performance Die amerikanische Wissenschaftlerin Ann Millet beschreibt Joel-Peter Witkins Arbeiten als corporeal tableau-vivants that showcase body difference, taboo, and abnormality. […] [He] dissects and sutures together multiple visual genres, such as art history, popular culture, pornography, theatre, medical exhibits and photography, and freak show displays. He targets the visual conventions with which these genres display the body and, specifically, how they produce the disabled or ‘abnormal’ body as spectacle (Millet 2008: 1). Freilich wurde die Verflechtung verschiedener visueller Dispositive von der Kunstgeschichte bis zur Freakshow häufig mit dem Vorwurf belegt, Witkin betreibe nichts anderes als eine provokative Zur-Schau-Stellung anormaler Körper nach dem Vorbild der medizinischen Fotografien des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich ist der amerikanische Fotograf stark beeinflusst von der fotografischen Sammlung des Ophtalmologen Stanley B. Burns (Burns 1979a, b, c, d, 1980, 1983, 1986). Die Überkreuzung fotografischer und medizinischer Themen im Hinblick auf Objektivität des Bildes und Objektivierung der Modelle ruft ebenso großes Interesse bei ihm hervor wie die ästhetische Konstruktion der Bilder von Krankheit und Tod, von Dissektionen, allgemeiner chirurgische Praxis und anatomischen Anomalien, dem, was man noch im Mittelalter als lusus naturae, in der Renaissance als menschliche Kuriositäten und noch heute als Freaks bezeichnet: So wird beanstandet, die Behinderung der zu Schauobjekten degradierten Menschen als gesellschaftliches Spektakel, als bizarre Unterhaltungsshow zu inszenieren, die der Schaulust sanktionsfreien Lauf lasse. Nun ist kaum von der Hand zu weisen, dass die flagrante Andersheit der auf vielfältige Weise ins Bild gesetzten Körper den Blick anzieht und ja, Witkin produziert den anderen Körper als Spektakel. Gleichwohl eröffnet die an der von einer monströsen Vielfalt begeisterten Renaissance geschulte Inszenierung mit ihren zahlreichen Zitaten der verschiedensten Vorbilder einen Raum für Reflexion. Abb. 13: Speziell bei der Fotografie David O’Tooles finden sich Verweise auf die Posen Johnny Ecks, jenes Mannes ohne Unterleib, der auch im berühmten Film Freaks von Tod Browning spielte. (http: / / drnorth. wordpress.com/ 2009/ 08/ 12/ johnny-eck-in-tarzan-escapes/ [8.2.10]) Beate Ochsner 102 Abb. 14: Joel-Peter Witkin, Humor and Fear, New Mexico, 1999 (http: / / www.edelmangallery.com/ archive7.htm [17.11.08]) Im Gegensatz zur gängigen Praxis in der medizinischen Fotografie feiert Witkin die Abweichung von der Norm, anstelle eines neutralen Hintergrundes kombiniert er eine Vielzahl von Inszenierungsstrategien, die aufgrund der persönlichen Spuren (des Fotografen, nicht des Objekts) keine Abstraktion oder Vergleichbarkeit zulassen. Diese Manipulationen machen die Unterschiede und gleichzeitig Konventionen medizinischer Bildproduktion augenscheinlich: Witkin unterläuft die Konstruktion von Autorität in der medizinischen Bildproduktion, macht ihre niemals unschuldige Inszeniertheit und die ihr inhärenten Widersprüche in seinem strategische Konzept einer symbolischen Spektakularisierung der sog. anormalen Körper sichtbar. In ironischer Zitation verschiedener Dispositive aus Medizin, Freakshow, Theater, Jahrmarkt oder Kunst stellt er das Andere nicht einfach aus, sondern lässt - wie die folgenden Bilder zeigen mögen - die Andersheit in ihrer “biological realness” (Russo 2000: 93) performieren. Diese Akzentverschiebung von passivem Objekt zu aktivem Subjekt sowie die in der unabgeschlossenen Signifikation negierte Finalität der Bedeutung erscheinen wesentlich in den Arbeiten Witkins. Joel-Peter Witkins Arbeit Humor and Fear (Abb. 14) aus dem Jahr 1999 verweist bereits im Titel auf eine ambivalente Konzeption, der eine ebenso zwiespältige Rezeption antwortet. Trotz der Fülle visueller Details, verschiedener Requisiten sowie der erotisch-provozierenden Körperhaltung wird der Blick des Betrachters von den Beeinträchtigungen des Modells angezogen: Die Beinstümpfe und die deformierten Hände werden objektiviert oder, so kritisiert Rosemarie Garland-Thomson, nach dem Modell der medizinischen Fotografie fetischisiert. Dabei gehe die vielfältige Persönlichkeit der Abgebildeten verloren, und die Behinderung werde zum gesellschaftlichen Ereignis. Das Buch, in dem das Bild publiziert wurde, gehorche - so Garland-Thomson weiter - auch in dem Aspekt seinem medizinischen Vorbild, als den verschiedenen Aufnahmen Berichte und Diagnosen hinzugefügt werden. Die Kombination von Text und Bild entspricht nun nicht nur der medizinischen Praxis, auch die Freakshowbetreiber gaben ihren Exponaten sog. (freilich zumeist erfundene) True-Life- Booklets an die Hand, die die Neugierde des Betrachters bezüglich der Herkunft, der medizinischen Diagnose etc. befriedigen sollen. Bei Witkin erfährt man auf diese Weise, dass die junge Frau ihre Beine aufgrund eines toxischen Schocksyndroms, verursacht durch einen Tampon, verlor (Parry 2001: 115). Das wissenschaftliche Rendering in fotografischer Detailtreue macht aus der jungen Frau (respektive ihrem Bild) ein medizinisches Fallbeispiel, das einem diagnostischen Blick ausgesetzt wird - so die Aussage der medizinischen Inszenierungsstrategie. Und doch, trotz oder vielleicht aufgrund der direkten Zitate und Verweisungen, verweigern Witkins Bilder die Zustimmung zur oben beschriebenen Inszenierung: So schaut die junge Frau zur Seite, sie erwidert den Blick des Betrachters nicht, was den medizinisch- Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 103 Abb. 15: Joel-Peter Witkin, Man without legs, Leo (1976) (http: / / oseculoprodigioso.blogspot.com/ 2007_05_01_ archive.html [17.11.08]) fotografischen Konventionen widerspricht, im Rahmen derer der Patient entweder direkt in die Kamera blickt oder aber durch eine Binde vor den Augen anonymisiert wird: Doch während die Verhüllung des Gesichtes in den medizinischen Fotografien weniger den Dargestellten, denn dem Betrachter nutzt, der dem Blick des Exponates nicht standhalten muss, mag der nur leicht zur Seite gewendete Blick der Amputierten entweder auf die Scham des Models oder aber das voyeuristische Dispositiv der Komposition, mithin auf die Strategien ihrer eigenen visuellen Inszenierung zu deuten. Das folgende Bild mit dem Titel Man without legs, Leo (1976) stammt aus der Serie Evidences of Anonymous Atrocities (Abb. 15): Es zeigt einen in einer Art Käfig sitzenden Mann ohne Beine, dessen unscharf abgebildeter Kopf an eine schwarzen Ledermaske erinnert, während die Haltegurte Bondage-Gurten ähneln. Diese Inszenierung als wildes Tier hat ihre Wurzeln in der Freakshow und reicht von den Beispielen des missing link über die Wilden aus Borneo, die Aztekenkinder oder Sara Baartmann, die schöne wilde Hottentott Venus. Durch den Schatten bzw. aufgrund verschiedener Manipulationen (Bleichen, Sepiafärbung, Scratchen etc.) durch Witkin selbst erscheint Leos Haut dunkler, als sie ist, was rassistische Assoziationen unterstützt. Und tatsächlich kann man nun mit Ann Millet fragen, ob diese durchaus problematische Ästhetisierung von ‘disability’ als marginalisierte Identität die Inszenierung des ‘disabled body’ nicht doch (erneut) als ‘the freakish other’ reinstauriert? Vielleicht, in dem 1994 von Jérôme de Missolz gedrehten Film L’image indélébile über die Arbeit Joel-Peter Witkins aber zeigt Leo sich für die Bezahlung dankbar, die ihm zwei Wochen U-Bahn-Betteln ersparen konnte. Ein weiteres Beispiel mit dem Titel Abundance (1997) zeigt eine Torso-Frau aus Prag, die - so die Information im Buch - von ihrer Mutter verlassen wurde und zusammen mit einem großen Hund in einem Appartement lebt (Abb. 16). Die Konzeption des Bildes mit den Requisiten der Atelierfotografie deplatziert die Amputierte aus ihrem alltäglichen Sozialleben, im Rahmen dessen sie als behindert, als deformiert gilt und lässt sie auf einer Bühne performieren. Wenn diese Performanz auch durch die Immobilisierung auf einer Art Klavierstuhl eingeschränkt erscheint, so übertrifft die multireferentielle Darstellung (ornamentaler Charakter des Körpers, Allegorie des Überflusses und der Fruchtbarkeit, Erotisierung) die physische Unbeweglichkeit: “Fused with the urn, she is posed as a spectacular, hybridized body showcased in a hybridized photograph - one that fuses and confuses the bodily displays of science and art” (Millett 2008: 27). Beate Ochsner 104 Abb. 16: Joel-Peter Witkin, Abundance, 1997 (http: / / www. edelmangallery.com/ witkin2.ht [17.11.08]) Abb. 17: Frieda Pushnik (http: / / www. sideshowworld.com/ Fp.jpg [26.1.10] Im Kontext dieser Hybridisierung fällt eine strukturelle und inhaltliche Nähe des fotografischen Dispositivs zur bürgerlichen Atelierfotografie auf, wie wir sie auch in zahlreichen medizinischen Fotografien wiederfinden: Beide Genres visieren das gleiche Ziel, ihrem Objekt nicht nur ähnlich, sondern gleich zu werden. Mediologisch verdoppelt die medizinische Fotografie bürgerliche kanonische (Ins-Bild-)Setzungen, und es scheint gerade so, als ob die fotografische Darstellung der heilen Welt unausweichlich das diese ‘positive’ Repräsentation sogleich in Frage stellende ‘Negativ’ hervorbringt. Parallel zum Bild des hoffnungsfrohen Bürgerlichen fixiert die medizinische Fotografie dessen ‘monströses’ Pendant, um es in der psychiatrischen Anstalt, dem Krankenhaus, im Gefängnis oder dem Familienalbum abbzw. stillzustellen. Die Suche nach verborgenen Zeichen, deren Sichtbarmachung die Monstren endgültig der Ordnung der Normalen überantworten könnten, bestimmen die kulturellen Inszenierungsmodi in gleichem Maße wie die Pose im Stil bürgerlicher Atelierästhetik dem Bild des menschlichen Subjektes verpflichtet bleibt - so auch im Falle der folgenden Aufnahme Frieda Pushkins, die ebenfalls auf einer Art Klavierstuhl trohnt (Abb. 17). Vor dem Hintergrund der medizinischen Fotografie, die das Andere im Bild arretieren soll, und der Freakfotografie, die sich der medizinischen Fotografie bemächtigt, um ihrem primär unterhaltungsindustriellen Interesse szientifische Authentizität zu verleihen, erscheinen die Aufnahmen von Joel-Peter Witkin als Rückkehr und gleichzeitig Reflexion des verdrängten Anderen. Gleichzeitig aber - und dies wird in der Hybridisierung unterschiedlicher visueller Strategien und historischer Dispositive markiert - sprengen seine Fotografien die im Bild selbst vielfach gesetzten Rahmen, verweigern eine finale Semantik und verbleiben in monströser Undeutbarkeit. Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 105 Abb. 18: Marc Quinn: Alison Lapper: (http: / / www.guardian.co.uk/ artanddesign/ 2004/ mar/ 17/ art.fashion [17.11.08]) Abb. 19: Marc Quinn: Peter Hull (http: / / www.vivoinunpaeseincivile. org/ wp-content/ gallery/ dafault/ thumb s/ thumb s _7-marc-quinnpeter-hull-1999.jpg [17.11.08]) 5 Marc Quinn: Antike Skulpturen Abschließend noch eine ähnliche, allerdings nicht fotografische, sondern skulpturale Visualisierung des anderen Körpers, wie sie sich in der Serie The Complete Marbles (1999-2001) des englischen Künstlers Marc Quinn findet. In weißen, glatten und klassisch schönen Marmorskulpturen der Malerin Alison Lapper (Abb. 18), des Punkrockers Mat Fraser oder des Schwimmers Peter Hull (Abb. 19) subvertiert Quinn die neoklassizistische Perfektion des Ideals eines vollständigen, unversehrten und klassisch schönen Körpers. Während dort das Ideal reproduziert wird, zeigen sich hier - und dies unterscheidet Quinn z.B. von Witkin - Bilder spezifischer Individuen, die nicht unter einem wie auch immer gearteten Ideal subsumierbar sind. Diese Körper überschreiten die Regeln der visuellen Kultur, indem sie unterschiedliche Strategien hybridisieren, wie Quinn dies mit seiner marmornen Inszenierung des Schönheitsideals antiker Skulpturen mit ‘anderen’ Körpern vorführt. Der Überfluss an Bedeutung schafft eine Gegenästhetik, die jenseits der Grenzen von normal/ anormal anzusiedeln ist. 6 Conclusio: Zur Unberechenbarkeit des Monströsen Die Exponierung des anderen Körpers in einer Komposition verschiedenster visueller Kulturen und Gattungen ruft die Frage nach Normierung bzw. Anormalisierung oder kurz: nach dem Normalitätsdispositiv auf den Plan, vor dessen Hintergrund diese Bilder ihre eigenartige Ambivalenz entfalten. Lennard J. Davis wie auch Georges Canguilhem, die sich beide aus Beate Ochsner 106 historischer Perspektive mit dem Phänomen der Normalität auseinandergesetzt haben, begreifen Normalität als kulturelles, soziales Konstrukt, das Homogenität bevorzugt und physische Abweichung stigmatisiert. Der ‘Vorteil’ dieser einheitlichen und Einheit stiftenden Konstellationen liegt dabei - so unsere Vermutung - in ihrer mathematisch-statistischen Berechenbarkeit und Verdatung (vgl. Link 1996) sowie der daraus resultierenden Reproduktionsmöglichkeit. In ihrer Konkretheit und Unkalkulierbarkeit lassen sich die hier aufgezeigten Bilder körperlicher Andersheit jedoch kaum in mathematische Raster einordnen. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fungiert die Fotografie als privilegiertes Medium der Differenzierung zwischen Normalität und Anormalität. Als wissenschaftliches Instrument, das für Akkuratheit und Präzision steht, bietet sie den stillgestellten Körper dem medizinischen und dem öffentlichem Blick an, der sich mit Hilfe der Bilder der/ des Anderen ihrer eigenen (körperlichen und moralischen) Normalität versichern. In diesem Sinne setzen die homogenen Konstellationen den devianten Einzelfall dem berechenbaren, disziplinierten Kollektiv gegenüber. Normalität wird zur entkörperlichten Abstraktion, die im krassen Gegensatz zum im höchsten Maße konkreten, körperlichen, sich der sinnlichen Wahrnehmung in spektakulärer Weise darbietenden anormalen Körper gedacht wird. Literatur Baer, Ulrich 1994: “Photography and Hysteria: Toward a Poetics of the Flash”, in: Yale Journal of Criticism 1 (1994): 41-77 Burns, Stanley B. 1979a: “Early Medical Photography, II”, in: New York State Journal of Medicine 6 (1979): 943-947 Burns, Stanley B. 1979b: “Early Medical Photogaphy in America (1839-1883)”, in: New York State Journal of Medicine 5 (1979): 788-795 Burns, Stanley B. 1979c: “Early Medical Photography, III”, in: New York State Journal of Medicine 8 (1979): 1256-1268 Burns, Stanley B. 1979d: “Early Medical Photography, IV”, in: New York State Journal of Medicine 12 (1979): 1931-1938 Burns, Stanley B. 1980: “Early Medical Photography, V”, in: New York State Journal of Medicine 2 (1980): 270-282 Burns, Stanley B. 1983: Early medical photography in America, New York: The Burns Archive Burns, Stanley B. 1996: “The Nude in Medical Photography”, in: Journal of Biological Photography 1 (1996): 15-26 Canguilhem, Georges 1974: Das Normale und das Pathologische, München: Hanser Dahlke, Karin 1998: “Spiegeltheater, organisch. Ein Echo auf Charcots Erfindung der Hysterie”, in: Schuller, M., C. Reiche & G. Schmidt (Hrsg.): BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg: LIT, 213-242 Davis, Lennard J. 1995: Enforcing Normaley: Disability, Deafness and the Body, London: Verso Didi-Huberman, Georges 1982: L’invention de l’hystérie, Paris: Macula Gernsheim, Alison: “Medical Photography in the Nineteenth Century”, in: Medical and Biological Illustration III (1961): 85-92 / 147-156 Link, Jürgen 1996: Versuch über den Normalismus, Opladen: Westdt. Verlag Millett, Ann 2008: “Performing Amputation: The Photographs of Joel-Peter Witkin”, in: Text and Performance Quarterly 28 (1/ 2): 8-42 Ochsner, Beate 2009: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, München: Synchron Oldenburg, Volker 1996: Der Mensch und das Monströse, Essen: Die blaue Eule Parry, Eugenia 2001: Joel-Peter Witkin, London/ New York: Phaidon Russo, Mary 2000: “Freaks”, in: Gelder, K. (ed.): The Horror Reader, London/ New York: Routledge, 90-96 Sabatier, Jean-Marie 1973: Les classiques du cinéma fantastique, Paris: Balland Visuelle Subversionen: Zur Inszenierung monströser Körper im Bild 107 Schaeffer, Jean-Marie 1987: L’image précaire. Du dispositif photographique, Paris: Seuil Williams, David 1996: Deformed Discourse: The function of the Monster in Mediaeval Thought and Literature, Montreal: McGill-Queen’s University Press Anmerkungen 1 Vgl. Alison Lapper-Feature auf YouTube, im Internet unter: http: / / www.youtube.com/ watch? v=6nulqXwC0nU [02.01.09] 2 Die Fotografie befindet sich in einem Artikel mit dem Titel Staring at ‘The Disabled’ and seeing nothing, in: Paradigm oz vom 29.7.2007, im Internet unter: http: / / paradigmoz.wordpress.com/ 2007/ 07/ 29/ staring-at-the-disabled-and-seeing-nothing-art-that-confrontsoffends-and-entertains/ [14.03.09]. 3 “Les monstres […] ne sont monstres que parce qu’on les exhibe.” (Sabatier 1973). 4 Der Wissenschaftler Carl Bock erkundete den in Laos beheimateten Krao-Stamm, was soviel wie ‘Affenmenschen’ in der Landessprache bedeute und die Bezeichnung missing link rechtfertigen solle. 5 Baer nimmt - ähnlich wie Didi-Huberman in L’Invention de l’Hystérie - die Iconographie photographique zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Gleichwohl unterscheiden sich die beiden Arbeiten besonders in ihrem Fotografieverständnis: Baer tendiert dazu, eine allegorische Leseart der Fotografie in der Iconographie zu favorisieren, während Didi-Huberman sich auf die Verdienste der fotografischen Illustration bei der ‘Erfindung der Hysterie’ konzentriert. Dabei geht er von drei ineinandergeschobenen, gleichberechtigten Diskursen aus; der Diskurs der Fotografie, derjenige der Medizin (bzw. der Hysterie) sowie derjenige der Kunst. Es stellt sich natürlich die Frage, ob es zu dieser Zeit, d.h. in unserem Fall vor allem zur Zeit der Iconographie photographique de la Salpêtrière, sprich in den Jahren 1876-80 (und nicht im Rahmen der Nouvelle Iconographie photographique, d.h. ab 1888! ) bereits einen wie hier angedeuteten autoreflexiven Diskurs der Fotografie gibt oder aber wir, die heutigen Leser, dies vielmehr automatisch hineinbzw. herauslesen, was im übrigen durchaus nicht illegitim erscheint. 6 “[…] just as psychoanalysis understands hysterical catalepsy to refer to an event outside memory, the photograph refers to a moment that never entered consciousness.” (Baer 1994: 63). 7 “They are symbolic bodies made graphically ‘real’ and material by photography, here emphasized as a hybrid of artistic fiction and science that takes such themes to an excessive level.” (Millett 2008: 26). Rap-Rhetorik Eine semiolinguistische Analyse schweizerischer rap-lyrics Ernest W.B. Hess-Lüttich Der Beitrag sucht einen kleinen Baustein zur “Rhetorik des Rap” beizusteuern, er wirft einen Blick auf die HipHop-Szenen im deutschsprachigen Teil der Schweiz und unterzieht die Sprache in ihren ‘Liedern’ (rap lyrics) einer überwiegend linguistisch instrumentierten kritischen Analyse. Auf dem Boden kulturwissenschaftlicher Theoriebildung skizziert er die gruppensoziologischen Bedingungen und die szenespezifischen Ausprägungen einer umstrittenen Poesie als Ausdruck juvenilen Identitätsanspruchs und Gruppenbewußtseins. Dabei konzentriert er sich auf die Essenzen des Rap-Diskurses, die Themen der Songs, die darin vorherrschenden Sprechakttypen, die semiokulturellen Referenzen und die sich in spezifischen Sprachmustern niederschlagende Rap-Rhetorik. The paper aims at providing a contribution to a future rhetoric of rap. It looks at the various scenes of the HipHop culture in the German speaking part of Switzerland. It then investigates the language of rap lyrics, mainly by linguistic and stylistic description. Based on a cultural theory approach, it sketches group sociological conditions and the group specific forms of a controversial type of poetry, seen as an expression of juvenile group identity. It focuses on the essence of rap discourse, the main topics of the songs, the main speech act types, the semiocultural references, and the specific linguistic patterns of the rhetoric of rap. 1 Gegenstand und Ausgangsfragen Seit es die sog. HipHop-Kultur auch den Kulturteil der seriösen Gazetten (Die Zeit, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung usw.) geschafft hat und das sonst eher betuliche Fernsehformat des ZDF ‘Das kleine Fernsehspiel’ ihr (im Oktober 2008) gar eine eigene Serie widmete, seit sich ihre deutsche Ikone Bushido eine Art Biographie hat schreiben lassen, die sich zäh in den Spiegel-Bestsellerlisten hält, und seit etwa die kalkulierte Homophobie ihrer Songtexte periodisch die Mediendebatte befeuert, ist sie längst auch im deutschsprachigen Raum legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen in diversen sozial-, medien-, sprach-, kultur- und textwissenschaftlichen Disziplinen geworden (cf. exemplarisch: Dufresne 1997; Klein & Friedrich 2003; Androutsopoulos ed. 2003; Kimminich ed. 2004). Andernorts ist sie das nun schon länger. Denn das Phänomen ist ja so neu nicht. HipHop gilt als (oft mythisierende) Bezeichnung für eine Mitte der 1970er Jahre in dem New Yorker Stadtteil Bronx entstandene Form der Straßenkunst, die ursprünglich vor allem, grob gesagt, in einer Kombination von illegalen Graffiti (name tags), rhythmisiertem Geräusche-Mix (sampling), K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Ernest W.B. Hess-Lüttich 110 melodiefreiem Sprechgesang (rap) und akrobatischem Tanz (breakdance) gelenkiger afroamerikanischer Jugendlicher bestand. Mittlerweile wird HipHop nicht nur auf alle möglichen anderen Lebensbereiche (Mode, Sport etc.) und Ausdrucksformen (Film, Video etc.) übertragen und zu einem semiotisch komplexen Stil jugendlicher Subkultur ausdifferenziert, sondern hat sich (spätestens seit Mitte der 1990er Jahre) als ‘Jugend-Bewegung’ in Windeseile weltweit verbreitet bis in die letzten Alpentäler und arabischen Geheimpartykeller. “Inzwischen ist HipHop zum globalen Soundtrack des 21. Jahrhunderts aufgestiegen”, schreibt Jonathan Fischer im Spiegel (41/ 2008: 197) und erzählt von seinen Unterdisziplinen, von den filmischen Dokumenten seiner Anfänge und von den vergessenen oder reich gewordenen Protagonisten. Weit weniger Aufmerksamkeit haben die regionalen oder gar lokalen Ausprägungen und subkulturellen Ausdifferenzierungen jenseits des US-amerikanisch dominierten HipHop- Mainstreams gefunden, auf den sich auch die Autoren der (meist soziologisch-pädagogisch oder anglistisch-kulturwissenschaftlich interessierten) Sekundärliteratur bislang überwiegend beziehen, ohne in der Regel über einen eigenen direkten Zugang ‘zum Milieu’ zu verfügen. Für die Gewinnung empirisch seriöser Befunde indes ist ein solcher Zugang hilfreich, sofern man sich nicht damit begnügen will, was ohnehin bereits den Weg in die Feuilletons und Fanzines gefunden hat. Erst ihr persönlicher Kontakt zur ‘Szene’ in der Schweiz hat es Susanne Hess ermöglicht, mir jenes Material für meine Beobachtungen zusammenzutragen, auf das sich meine Neugier richtete, als ich mich Dekaden nach meinen frühen Studien zur (deutschen) Jugendsprache in den 1980er Jahren (cf. Hess-Lüttich 1983 a, b) aus dem hier gegebenen Anlaß (s. Vorwort zu diesem Band) wieder einmal den heute aktuellen Besonderheiten kommunikativen Gebarens und ästhetischen Selbstausdrucks jugendlicher Subkulturen zuwenden und nach möglicherweise signifikanten Veränderungen fragen wollte. 1 Dazu bietet nämlich, soweit ich sehe, die im engeren Sinne semiotisch-linguistische Literatur, zumindest bezogen auf die deutschsprachige Schweiz, nur rare Hinweise. Die dort geltende hochspezifische Sprachkonstellation (Multilingualität, ‘mediale Diglossie’, Migrantenanteil, Symbol-, Prestige- und Distanzfunktion der Dialekte etc.) läßt möglicherweise auch eine spezielle regionale oder gar lokale Ausprägung des anglisiert-globalisierten HipHop- Jargons erwarten. Diese Hypothese möchte ich im folgenden anhand einer semio-linguistischen Untersuchung einiger ausgewählter Song-Texte (rap lyrics) einer vorläufigen Prüfung unterziehen. Dabei verzichte ich hier aus Raumgründen auf die Einbettung dieser Pilotstudie in die aktuelle Jugendsprachforschung und den an anderen Stellen geleisteten Aufriß ihrer Erträge (cf. z.B. Dürscheid & Spitzmüller eds. 2006 a, b; Neuland ed. 2003 a, b; id. 2008). Stattdessen konzentriere ich mich nach einem kurzen Seitenblick auf ausgewählte Beiträge zur europäischen Rap-Forschung und zu den subkulturellen Bedingungen der spezifischen Szene- Kommunikation auf das Material selbst, das heißt auf die Frage, ob sich im hier zugrunde gelegten Corpus ausgewählter Rap-Songs aus der deutschschweizerischen HipHop-Szene typische oder gar regionalspezifische thematische, pragmatische und kulturelle Muster herausgebildet haben. 2 Methodische Vorüberlegungen Damit sucht die Studie zugleich methodisch zu vermitteln zwischen zwei konkurrierenden Zweigen der Jugendsprachforschung: dem einerseits eher soziolinguistisch orientierten Rap-Rhetorik 111 Zweig, der ihren Gegenstand als sprachliche Varietät bestimmt, die durch bestimmte Kriterien der Lexik und der Wortbildung (z.B. Anglizismen), der Phraseologie (z.B. Zitate aus der Werbesprache), der sozio-thematischen Domänen (z.B. Musik, Mode) und bestimmte quantitative Distributionen zu charakterisieren sei (cf. Androutsopoulos 1998: 36 ff.), und dem andererseits eher ethnographisch motivierten Zweig, der ihren Gegenstand als generationellen Soziolekt auffaßt, der durch soziale Kategorien des Alters (Adoleszenz) und des Geschlechts (Gender) rollentypologisch geprägt sei. Während der eine Ansatz auf das bewährte Methodenbesteck des strukturlinguistischen Instrumentenkastens vertraut, verläßt sich der andere lieber auf das durch teilnehmende Beobachtung von Gesprächen und eventuell dazu flankierend durch Fragebögen erhobene empirische Material. Geht es dem einen primär um die für Jugendsprache als alterspezifische Varietät konstitutiven Sprachstrukturen, interessiert den andern das Kommunikationsverhalten Jugendlicher in ihren je konkreten Cliquen, Szenen, Netzwerken, in denen sich ihre Identität über geteilte Symbolsysteme ausbildet und die ihnen die Orientierung in einer als überkomplex empfundenen Wirklichkeit erleichtert (cf. Schlobinski & Schmid 1996: 213). Beide Herangehensweisen schließen einander nach meinem Dafürhalten nicht nur nicht aus, sondern können sich fruchtbar ergänzen in einer integrativen Jugendsprachforschung, “die nicht nur mehr oder minder isolierte sprachliche Oberflächenphänomene oder Exotismen registriert, die vielmehr die Funktionsweisen sprachlicher Äußerungen in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen der Jugendlichen erforschen will” (Neuland 1987: 70). Dies gilt umso mehr für eine so komplexe Sprachsituation wie die in der deutschsprachigen Schweiz, der sich ‘die’ Jugendsprachforschung erst in jüngster Zeit zugewandt hat und die sich dabei einen gewissen Methodenpluralismus zunutze zu machen versteht, der es erleichtert, der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit, der medialen Diglossie (Dialekt vs. ‘Schriftdeutsch’ als medial, nicht sozial, definierte modes of discourse), der Soziosemiotik der Varietäten und den szenetypischen Kommunikationskulturen Rechnung zu tragen (cf. Werlen 2006). Interessant wäre dabei etwa zu beobachten, ob und (wenn ja) inwieweit die Verbindung eines so inter- und transnational geprägten Jargons wie der in den HipHop-Szenen mit dem in den jugendlichen Musik-Gruppen essentiellen (und funktional ausgrenzenden) Dialektgebrauch harmoniert oder kollidiert. Denn einerseits ist die Kommunikation in der Subkultur weitgehend durch den Zitat- und Versatzstückcharakter übernommener sprachlicher Schematismen geprägt, was durch das kultursoziologische Konzept der Bricolage eher beschönigend beschrieben wird, andererseits steht dem das problematische Verhältnis der Sprecher zur Standardsprache entgegen, der die Versatzstücke überwiegend entstammen. Wenn also die (bislang noch entgegen anderslautenden Regierungserlassen durch das Schulsystem in der Praxis beförderte) negative Haltung der deutschschweizerischen Jugendlichen zur deutschen Standardsprache, die laut repräsentativen Erhebungen mit der negativen Einstellung zu ‘den Deutschen’ korreliert (Scharloth 2006: 85), die einfache Übernahme standardsprachlicher Elemente inhibiert, wäre auf die Art ihrer Transformation und die daraus entstehenden eigenen Stilmuster zu achten. Was Neuland selbst beim Vergleich zwischen Jugendlichen aus dem Westen und dem Osten Deutschlands beobachtet hat, nämlich daß sich neben der Generation auch die Regionalität als “besonders bedeutsam für die Ausbildung von Jugendkulturen und Jugendsprachstilen” erweist (Neuland 1998: 88), dürfte hier vermutlich in verschärfter Form gelten. Während also Jugendliche in Deutschland gerne Dialektausdrücke als Verfremdungs- oder Distanzierungsinstrument nutzen, wäre das in Schweizer Jugendszenen mangels Markierungs- Ernest W.B. Hess-Lüttich 112 charakter dysfunktional. Typischerweise kommen dort genau umgekehrt eher Elemente der Standardsprache zum Zwecke der Ironisierung, Distanzierung, Aktualisierung (im Sinne der Prager Schule) zum Einsatz (cf. Dürscheid & Spitzmüller 2006: 34). Andererseits wird die bislang relativ strikte mediale Diglossie von Jugendlichen in Textarten ‘informeller Schriftlichkeit’ (wie e-mails, SMS-Botschaften, Zettelnachrichten, Beiträgen zu Chat-Foren und Einträgen in sozialen Netzwerken wie Facebook etc.) aufgelöst zu einer vom jeweiligen Dialekt wesentlich geprägten Mischform, in der orthographische und grammatische Regeln an Geltung einbüßen. Der damit einhergehende Kompetenzverlust auch in formellen Textarten (z.B. studentischen Referaten, Bewerbungen) läßt sich täglich beobachten und hat (auch im Lichte der den Befund bestätigenden P ISA -Studien) die Erziehungsdirektoren der Kantone jüngst zu entsprechenden Konsequenzen mit Erlassen zur besseren Pflege der Standardsprache veranlaßt, die freilich (nach den Beobachtungen von Maturitätsexperten) von den Lehrern bislang noch weitgehend ignoriert oder unterlaufen werden. Die ebenso verbreitete Beobachtung der progredienten Anglisierung des Deutschen unter Jugendlichen, die zur Gründung von allerlei Sprachpflege-Vereinen zur Erhaltung der Reinheit der deutschen Sprache geführt hat (die es bekanntlich nie gab), müßte im Hinblick auf neue empirische Befunde differenziert werden. Frühe Überlegungen zur “Grammatik des Anglodeutschen” (Hess-Lüttich 1984: 320 ff.) werden von Androutsopoulos (1998) wieder aufgenommen und ergeben auf empirischer Grundlage für die gegenwärtige Situation ein genaueres Bild über den Gebrauch von Anglizismen “als Kennzeichen von spezifischen Lebenswelten und Interessen einerseits, als Mittel einer gruppensprachlichen Abgrenzung andererseits” (ibid. 578). In der Schweiz wurden allenfalls 10 % der Einträge in einschlägigen Wörterbüchern als Anglizismen eingestuft, die zudem hochgradig stereotypisiert seien und (wie z.B. ‘kuhl’ < cool, ‘tschegge’ < checken, ‘Turi’ < tourist) kaum als spezifisch jugendsprachlich gelten könnten (Dürscheid & Spitzmüller 2006: 21). Allerdings weisen sie im Bereich der Genuszuweisung und sonstigen morphologischen Integration einige Besonderheiten auf, die freilich noch systematischer Untersuchung harren (cf. Schmidlin 2003; Watts 2003). 3 Die Subkultur des HipHop und ihre Ausdrucksformen In der Kultursoziologie wurde die Subkultur des HipHop vor allem durch Kennzeichen wie Performativität, Theatralität, Maskulinität, Medialität, ‘Glokalität’, Hybridität etc. zu bestimmen gesucht. Ihre (mediale, transnationale, z.T. auch kommerzielle) Erfolgsgeschichte seit den 1970er Jahren braucht angesichts der dazu reichlich vorliegenden Studien hier nicht nachgezeichnet zu werden. Bislang wird darin HipHop oft eher affirmativ beschrieben z.B. als “ästhetische Praxis, die sich der Kulturtechniken des Textens, Malens, Tanzens und Musikmachens bedient und diese zu einem komplexen Sprachgeflecht formt” (Klein & Friedrich 2003: 101). Damit sind zugleich die vier wesentlichen Ausdrucksformen des HipHop benannt (cf. u.a. Jacke et al. eds. 2006; Kimminich et al. eds. 2007): Musik, Sprache, Bild, Tanz, deren subkulturtypische Ausprägungen meist unter so wohlfeilen Etiketten wie DJing (Disc-Jockey und sein sampling und scratching), MCing (master of ceremony und sein schnelles rhythmisches Sprechen gereimter Sprachschnipsel), Graffiti (illegales Besprayen öffentlicher Flächen durch tags [Namenskürzel] oder pieces [Bilder, meist Kopien] und breakdance (spezieller Tanzstil, dessen locking und popping und power moves besondere Rap-Rhetorik 113 Übung verlangen). Das Verfahren des musikalischen sampling (bzw. bricolage) wird dabei umstandslos auf den Sprachgebrauch übertragen, der sich besonders im Sprechgesang des Rap manifestiere, der von manchen als “schöne Kunst” (Verlan ed. 2003), ja als “progressive Universalpoesie” schlechthin (Peters 2002) empfunden wird. Seine Ursprünge gehen offenbar auf westafrikanische Rituale rhythmisierter Sprechgesänge (griots) in den dort verbreiteten Tonsprachen zurück und haben im Laufe ihrer Aneignung und Anverwandlung durch afroamerikanische (und hispanische) Ghetto-Jugendliche in den US-Metropolen manche Ausdifferenzierung erfahren in Subgenres wie Battle- Rap, Freestyle, Party-Rap, Story-Telling, Message-Rap, Gangsta-Rap mit ihren je eigenen Motiven (Wettkampf, Spiel, Unterhaltung, Politik, Provokation) und Stilmitteln (dozens, boasting, dissing) (cf. Karrer & Kerkhoff 1996; Peters 2002). Bei ihrer Übernahme ins Deutsche entwickeln solche Subgenres und ihre Stilmittel freilich manche Besonderheiten, weil die je lokale Verankerung als Schlüssel zur globalen Verbreitung des Rap gilt (Stichwort ‘Glokalität’). Dies ist in Deutschland inzwischen Gegenstand einer Reihe von Publikationen (s.u. Literaturverzeichnis), für die Schweiz liegen dazu m.W. noch kaum Untersuchungen vor. Die ersten Jams der helvetischen HipHop Mitte der 1980er Jahre zitierten noch ausschließlich amerikanische Raps (cf. Nicolay & Waibel 2006). Nach einem ersten Höhepunkt im CH-Fresh-Festival 1990 begann deren ‘Eingemeindung’ ins Deutsche, d.h. in die lokalen Dialekte der einheimischen HipHoppers, die sich bald auch Namen in ihrem jeweiligen Idiom zulegten (Sektion Kuchikäschtli, Tinguely dä Chnächt, Chlyklass etc.). Heute verstehen sich manche Gruppen auch als Teil einer politischen Gegenkultur, in der mit eher schlicht gestrickten Versen gegen die rechtskonservative Partei SVP agitiert wird: 1, 2 hol dr an politiker 1, 2 hol’ Dir einen Politiker 3, 4 gibam as paar tritt und denn 3, 4 gib ihm ein paar Tritte und dann 5, 6 lohn an as bitzli liida 5, 6 lass ihn ein bißchen leiden und wenn er di no wiiter nervt Und wenn er Dich noch weiter nervt, bring na zum schwiiga Bring ihn zum Schweigen (Gimma: Hol dr an politiker feat, LIV 2006) [Quelle u. dt. Übers.: Susanne Hess] Die so Angesprochenen sind in ihrer Gegenwehr freilich auch nicht eben zimperlich und plakatieren ihre xenophoben Kampagnen gern mit im HipHop-Stil gekleideten Models und dem Slogan “Gewalt durch ausländische Jugendliche”. Die Sprache dient in den HipHop- Gruppen (wie in der Jugendsprache und in Gruppensprachen überhaupt) als intern gruppenstabilisierendes Bindemittel derer, die dazugehören (wollen), als Mitgliedschafts-Marke und Abgrenzungsmittel nach außen. Durch die Berührung des Codes (s.u. das Glossar) mit den lokalen Dialekten, den andern Landessprachen und den Migrantensprachen gewinnt der Schweizer Rap ein zusätzliches Register-Reservoir. Dabei geht es nicht nur um die Aufnahme des authentischen Alltagsjargons in den Rap, sondern um die unbekümmerte Aktualisierung der diversen Register in unerwarteter, zuweilen irritierender, manchmal grob verletzender, aber stets möglichst unterhaltsamer Mixtur (cf. Androutsopoulos 2003: 120). In der Frage des dafür am besten geeigneten Dialektes scheint es regional unterschiedliche Vorlieben zu geben, die von den Rappern selbst genau registriert werden. So zitieren Anz & Kramer 2001: 5) im Tagesanzeiger (v. 28.02.2001) z.B. (u.a.) die Rapperin BigZis mit ihrer (für den Druck behutsam bearbeiteten) Bewertung: “Ich finde Baseldeutsch flowmässig immer noch am grössten. Zürichdeutsch ist halt hart und rough. Berndeutsch dagegen ist ganz nett und lieb und langsam …”. Ernest W.B. Hess-Lüttich 114 4 Deutschschweizer rap lyrics Die folgenden Anmerkungen können als kleine Zulieferung zu der laufenden vergleichenden Untersuchung europäischer Rap-Texte gelten, die sich Androutsopoulos & Scholz (2006) mit ihrer verdienstvollen Zusammenstellung eines Corpus von je 50 in den 1990er Jahren aufgenommenen Songs aus Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien vorgenommen haben, auf der Suche nach spezifisch ‘europäischen’ Formen des Genre, zu denen auch die Schweiz ihren (wenn auch bislang weitgehend unbemerkten) Beitrag leistet. Wenn wir uns grob an dem dort vorgeschlagenen Projekt-Design orientieren, fragen wir insbesondere (i) nach dem soziokulturellen Rahmen, der sozialen Basis und medialen Infrastruktur helvetischer Raps, (ii) nach deren hauptsächlichen Themen oder kulturellen Referenzen sowie (iii) nach den genretypischen sprachlichen Mustern, den rhetorischen Verfahren, den Register-Varianten und (englischen) Zitatausdrücken in (deutschsprachigen) Ko-Texten. Wenn für die großen Länder ringsum je 50 Texte repräsentativ sein können, genügen für die kleine Schweiz vielleicht die Hälfte, dankenswerterweise landesweit gesammelt von Susanne Hess 2007 (dort auch als Volltext einsehbar/ abrufbar) aus den Nuller Jahren (2000-2007). 2 Zu dem ersten Fragenkomplex haben wir schon einiges gesagt. Hier nur ergänzend noch dies: im Unterschied zu den amerikanischen Ghetto-Ursprüngen ist HipHop in der Schweiz kein Phänomen der sozialen Unterschicht. Allerdings trifft auch für die Schweizer Szene zu, was Daniel Rellstab für das Genderplay in den HipHop-Foren des Internet beobachtet hat: “Die Gender-Politik gerade im Mainstream-Rap läuft exakt entlang traditioneller Geschlechtergrenzen und zementiert diese mit Hilfe überzeichnender Inszenierungen dessen, was eine Frau, was ein Mann denn sei” (Rellstab 2006: 204 f.). Das ist milde formuliert. Man kann es auch deutlicher sagen: die offen homophobe Botschaft vieler Rap-Texte hat mittlerweile Gegenbewegungen provoziert, die einige der prominenteren Rapper inzwischen aus kommerziellen Rücksichten etwas zurückhaltender werden lassen. Besonders die Gangsta-Rapper aber meinen immer noch die schwulenfeindlichen Reflexe ihrer Clientèle bedienen zu sollen. So ruft der Berliner Rapper G-Hot im Song “Keine Toleranz”, wie Johannes Möhring in der Augsburger Allgemeinen v. 10.04.08 berichtet, zu Gewalt gegen “Schwuchteln” auf und wehrt sich (in Anspielung auf Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit) dagegen, daß diese “Tucken” ihn regieren. Er sieht sich bald genötigt, sich auf Youtube von seinem Song zu distanzieren, nicht ohne hinzuzufügen, die Schwulen “könnten ihn mal”. Daß ‘schwul’ heute auf den Schulhöfen als das Schimpfwort schlechthin gebraucht (und von Wikipedia mit der Zweitbedeutung “blöd, scheiße, uncool” registriert) wird, hat seinen Ursprung im deutschsprachigen HipHop. Das aggressive Macho-Image gerade der erfolgreichen Rapper wird häufig durch ihren ‘Migrationshintergrund’ noch zusätzlich befeuert, den sie (in Deutschland zu 60 %) mit ihrem Publikum teilen. Mit dem ihnen aus eigenem familiären Erleben vertrauten Machismo können sich viele kids der Szene mühelos identifizieren, und er hilft ihnen, ihre eigene Angst, Unsicherheit, Perspektivlosigkeit vorübergehend zu verdrängen oder zu kompensieren. In der Schweiz kam nach den ersten deutschsprachigen Raps (angefangen mit “Murder by Dialect” 1992 von Black Tiger etc.), nicht überraschend, die Kommerzialisierung schnell voran. Die szene-internen Fanzines weichen schnell den Internet-Foren (www.aightgenossen.ch, www.hiphop.ch, www.hiphopstore.ch), die (nicht immer) besten Barden vermarkten ihre Songs auf MySpace und YouTube, im Radio widmen sich HipHop-Magazine wie bounze (Radio Virus), Xplicit Contents (Radio X Basel) oder Am Anfang stand das Wort (Radio Rabe Bern) dem Genre, im Fernsehen präsentiert die Moderatorin Jubaira Bachmann bei (dem Rap-Rhetorik 115 schweizerischen Zweig von) V IVA dazu ihre eigene (gleichnamige) Show, mit teuren Tickets dürfen die Fans an den zahlreichen ‘Events’ (wie Slang-Nacht in Zürich) teilnehmen. Dort lauschen sie den Songs mit den immergleichen Themen: (i) Selbstausdruck, rhetorisch oft inszeniert mit dissing- und boasting-Elementen: “Ech blas mi uf wenni rappe wie en Luftballon” [Ich blase mich auf, wenn ich rappe, wie ein Luftballon]; (ii) Lob der Szene, Partytime: “Ych liebs z’rocke, mit mine jungs bim bier z’hocke” [Ich liebe es zu rocken, mit meinen Jungs beim Bier zu sitzen], “D party goht ab und d stimmig isch lanciert … Stiffi gsichter wot ych hüt zobe kaini gse, Hip-hop isch fesch” [Die Party geht ab, die Stimmung ist gehoben … Steife Gesichter will ich heute abend keine sehen, HipHop ist fesch]; (iii) Gefühl, Liebe, Sex (Love-Rap): “lueg tüüf i dini auge und weiss genou was los isch / du bisch dr stereoeffekt, ohni di isch aus mono” [Ich schau tief in Deine Augen und weiß genau was los ist / Du bist der Stereoeffekt, ohne Dich ist alles mono]; (iv) Agitprop (Message-Rap): “si ghöre nüt u säge es git meinigsfreiheit / es störe d’lüt ar dämo, ma überhört di lüt / wöu si wi gstörti düe und s’meh nötli brüücht” [Sie hören nichts und sagen, es gebe Meinungsfreiheit / Es stören die Leute bei der Demo, man überhört die Leute / weil sie sich wie Kranke benehmen und man mehr Geld bräuchte]. Diesen vier Themengruppen lassen sich mindestens drei Sprachhandlungsklassen gegenüberstellen (Androutsopoulos & Scholz 2006 unterscheiden acht Themengruppen und sieben Sprechakttypen, aber die Grenzen sind oft nicht eindeutig zu ziehen; für unsere Zwecke genügt eine vereinfachte Systematik). Da sind (i) die auf das eigene Handeln bzw. den Handelnden bezogenen (aktional-autoreferentiellen) Sprechakttypen, mit denen die Rapper ihr Reimeschmieden besingen oder ihre sonstigen Vorzüge preisen: “läseds nume rede nume schiine wi d’sunne wäni rhyme / vliicht wird mau öppis drus wi frisch gleiti eier” [Laßt sie nur reden, nur scheinen wie die Sonne, wenn ich reime / Vielleicht wird mal was daraus wie frisch gelegte Eier], “min dick isch so fett, de bruch ich en sattelschläppr / wänn ich im meer würd ligge, ja da chönnet d schiffer achette” [Mein Schwanz ist so dick, daß ich einen Sattelschlepper dafür brauche / wenn ich am Meer liegen würde, ja dann könnten die Schiffer daran anketten]; dann (ii) die an den Adressaten gerichteten (direktional-konativen) Sprechakttypen, mit denen die Rapper ihr Publikum in Schwung oder ihr Gegenüber (bzw. die Konkurrenz) durch dissing in wütende Wallung zu bringen suchen: “sind ir mit uns derbi stiged ihr druff i / guet, denn ich und dr MC Ronny lade üch i / wenn mir reim um reim zum beschte gän / für alli di wo mit uns feschte wänn” [Seid Ihr mit uns dabei, steigt ihr darauf ein / Gut, denn ich und MC Ronny laden Euch ein / Wenn wir Reim um Reim zum Besten geben / Für alle, die mit uns Feste feiern wollen], “hobby hitler wirsch ufpumt wia technotronic / logisch das is sowas vo fun und komisch / i lohn di misbruucht zrugg wia das stugg vo subsonic” [Hobby Hitler wirst aufgepumpt wie ein Technotronic / Logisch, das ist sowas von lustig und komisch / Ich lasse Dich missbraucht zurück wie das Stück von Subsonic]; schließlich (iii) die lokalisierenden (circumstantial-deiktischen) Sprechakttypen, mit denen die MC’s sich raum-zeitlich verankern, Treffs annoncieren oder Reklame für ihren Markennamen oder den ihrer Gruppe machen: “doch du bisch mit mir do und checksch mi raimstiu / d schwiiz isch chlai und nu am ry ha i mi haimspiu” [Doch Du bist mit mir hier und verstehst meinen Reimstil / Die Schweiz ist klein, und nur hier am Rhein habe ich mein Heimspiel]; “jede chennt dr zitpuncht, jede chennt dr ort / 8i Bahnhof place to be für jede wo in Liëstal wohnt” [Jeder kennt die Zeit, jeder kennt den Ort / um acht Uhr am Bahnhof: the place to be, für jeden, der in Liestal wohnt]; “Freeze am mic wo ifahrt we am ballermann zangria … [Freeze im Mic, der reinhaut wie Sangria beim Ballermann]. Ernest W.B. Hess-Lüttich 116 Der Bezug auf den eigenen (Künstler-)Namen, den der befreundeten oder konkurrierenden Gruppen sowie auf den aller möglichen Marken und Produkte ist überhaupt ein beliebtes Spiel im Spiel, das manchmal nur PR-Zwecken dient, manchmal aber auch ein hohes Maß an Insider-Wissen voraussetzt, um den Anspielungen folgen zu können. Explizite lokaldeiktische Verweise auf den eigenen Standort oder den der Gruppe sind in schweizerischen Raps jedoch selten, weil sie von einem Publikum als redundant empfunden würden, das sie aufgrund ihres Dialektes ohnehin sofort exakt ‘verortet’. Während in den umliegenden Ländern dialektale Elemente in den Rap-Texten eine Ausnahme darstellen, sind sie für die deutschschweizerischen stilprägend; nur eine Minderheit (unter 10 %) bedient sich der Standardsprache (und dies auch nur, wie der ‘Deutsch- Rapper’ Curse sich rechtfertigt, weil die sich leichter reimen ließe). Wenn Dialekt als Aufmerksamkeit heischende stilistische Abweichung ausfällt, müssen andere Mittel deren Funktion übernehmen: z.B. ironisch eingestreute standarddeutsche Einsprengsel oder auch, dann aber meist nicht ironisch, solche aus den anderen Landessprachen: “Ersch no supermega style, oder? / yeah … voyez! voyez! bouncige scheiss” [Erst noch Supermega-Style, ne? / Yeah, seht nur! seht! Bounciger Mist]. 5 Kritische Schlußbetrachtung Die Nähe zur gesprochenen Alltagssprache schlichtesten Anspruchs ist unüberhörbar, poetisch stilisierte Sprache allenfalls im selbstironisch-distanzierendem Zitat erlaubt (oder es wirkt kitschig und unfreiwillig komisch). Dennoch schwelgen die Feuilletons im hymnischen Lobe der lyrischen Begabungen, während die linguistische Sekundärliteratur entzückt die rhetorische Raffinesse bestaunt, mit der in den rap lyrics der “gesamte Reichtum der eigenen Sprache kreativ ausgelotet und in ungewöhnliche, manchmal auch irritierende Verbindung gesetzt wird” (Androutsopoulos 2003: 120). Manchmal hört man, was man hören will. Rhetorische Verfahren der Metapher und Metonymie, des Vergleichs, des Spiels mit Homonymen oder Akronymen, mit Homophonen, Deletionen oder Permutationen finden sich auch in der prosaïschsten Alltagsrede zuhauf, ohne daß deshalb jede Äußerung gleich der Aufnahme in die Anthologien für würdig erachtet wird. Nicht jede sorglose Übernahme aus dem englischen Szene-Jargon (wie flow oder funk, track oder release) oder aus dem gruppentypischen Slang-Repertoire (shit, bitch, homies, pimps, motherfucker, fags) zeugt schon von polyglotter Virtuosität. Die mutige Helvetisierung des Vorgefundenen zu englisch-dialektalen Mischkomposita (verslavet) oder der großzügige Einsatz englischer Phraseolexeme und formelhafter Versatzstücke (wie better be ready, the place to be, life on stage, “das esch de last call for alcohol”) verströmen im graubündischen Chur nicht automatisch die Atmosphäre kosmopolischer Weltläufigkeit, sondern eher die copy&paste-Routine des Samplers, der unbekümmert mischt, was ihm vor die Linse gerät und ihm für seine Zwecke gerade verwertbar erscheint. Da wird den eigenen musikalischen Vorbildern konsequenterweise zuweilen auch dadurch Ehre und Respekt erwiesen, daß man nicht nur die vorgestanzten genre-typischen Muster mit eigenem Material auffüllt, sondern daß man auch gleich ihre Melodien ohne Verweis übernimmt (was dem Kult-Rapper Bushido, alias Anis Ferchichi, Ende März 2010 von Juristen, die über die HipHop-Technik der Mischung von ‘Klangquellen’ offenkundig nicht hinlänglich informiert waren, als schnödes Plagiat ausgelegt wurde: er hatte in 13 Fällen Passagen aus Stücken der französischen Gruppe Dark Sanctuary zu Schleifen geformt (geloopt) und nur Rap-Rhetorik 117 seine Beats und Raps darübergelegt - unter Respekt gegenüber dem Vorbild hatten die Richter möglicherweise etwas anderes verstanden als Bushido (oder auch manche literarischen Autoren, die wie Helene Hegemann nicht für die Originalität ihrer Sprache, sondern die Authentizität ihrer Erfahrung gelobt werden wollen - die dann im Falle ihres Bestsellers Axolotl Roadkill leider aber auch nur aus zweiter Hand war). Authentizität und Respekt gelten jedoch als globale Grundwerte des HipHop, die seine lokalen Szenen im Innersten zusammenhält. Über diesen Normenkomplex, den code of conduct des HipHop, werden auch die identitätsstiftenden Mechanismen der Gruppenbildung gesteuert, die über Zutritt oder Ausschluß entscheiden. Wenn es zutrifft, daß “Rap in jedem Falle als globale identitätsstiftende kulturelle Praxis” gilt, die “je nach Land, in welchem Rap rekontextualisiert wird, unterschiedliche Gruppen anspricht und unterschiedliche identitätsstiftende Funktionen übernehmen kann” (Scholz 2004: 64), dann stünde es einer kulturwissenschaftlichen Erforschung der Szenen gut an, die Zeichen und Formen ihres sozio-symbolischen Selbstausdrucks in den verschiedenen Regionen kritischer als bislang in den Cultural Studies zumeist geschehen unter die Lupe zu nehmen. Was pädagogisch wünschbar sein mag (egalitäre Struktur, kulturelle Hybridität, doing art für jedermann ohne spezifisches Können), muß deshalb nicht automatisch auch ästhetisch von Belang sein. Aber ist das letztlich nicht egal, solange wir alle ohne weiteres wieder einstimmen können in den Kult-Song zur Party (2001), den Refrain von Black Tiger und MC Ronny? 3 doch du bisch mit mir do und checksch mi raimstiu d schwiiz is chlai, und nur am ry ha i mi haimspiu es list sich us dr hand, bald im ganze land bekannt schwiitzerdütsche rap, vo wäge dyaläggt sig kantig text mit handlig erzüge e köhrgangverwandliig auso, los di vo uns leite, nur so erhalte mir die spanniig [Doch Du bist mit mir hier und verstehst meinen Reimstil Die Schweiz ist klein, und nur hier am Rhein habe ich ein Heimspiel. Es liest sich aus der Hand, bald im ganzen Land bekannt, Schweizerdeutscher Rap, von wegen, Dialekt sei kantig, Texte mit Handlung erzeugen eine Gehörgangsverwandlung Also, laß Dich von uns leiten, nur so erhalten wir die Spannung.] 6 Glossar Aight - Kurzform von engl. alright: in Ordnung; wird häufig von Rappern in Texten am Ende einer Zeile benutzt und steht für richtig, ok oder ganz genau oder als Bestätigung. Atze - (Subst.) Ausdruck für Freund bzw. Kumpel im Berliner Raum oder für Rapper, die kein Gangsta-Rapper- Image pflegen (z.B. Frauenarzt) B-Boy/ B-Girl - (Subst.) von engl. Break-Boy bzw. -Girl, ein männlicher oder weiblicher Breakdancer Backspin - Tanzschritt im Breakdance und Scratchbewegung Bar - (Subst.) engl. Takt, Eine Textzeile aus einem Song Battle - (Subst.) von engl. battle, Kräftemessen zwischen zwei Gegnern, sowohl zwischen MCs als auch zwischen B-Boys, Sprayern und Beatboxen. Bewertet wird meist durch eine Jury oder das Publikum Beat Juggling - ist das Manipulieren zweier gleicher oder verschiedener Platten um eine neue Melodie zu erzeugen Beef - (Subst.) Streit oder Feindseligkeiten zwischen Personen Bitchmove - etwas nur unfaires tun biten - (Verb) von engl. to bite: beißen; abkupfern, kopieren/ nachahmen von Texten, Styles und/ oder Flows anderer MCs oder Writer, wobei vorgegeben wird, die erbrachte Leistung sei ein eigenes Produkt bling-bling - Glänzender Schmuck Ernest W.B. Hess-Lüttich 118 burbs - von engl. Suburbs; abwertend für “gutes Viertel”, spießiger Vorort Cat - engl. Katze; Personen die man nicht direkt kennt, die aber da sind Chabo - (Subst.) Junge (aus zigeunersprachlich/ Rotwelsch tšabo “Junge”) chillen - (Verb) Abhängen; rumgammeln; entspannt sein Crew - (Subst.) engl. Gruppe; Zusammenschluss von Freunden (z.B. Sprayercrew oder Rapcrew) Cred - (Subst.) von engl. Credibility; Glaubwürdigkeit cutten - (Verb) engl. to cut: abtrennen, abschneiden; bezeichnet das Unterbrechen der Aufnahme bei Luftmangel und erneute Einsetzen der Aufnahme von der abgebrochenen Stelle aus; auch als Synonym für “scratchen” benutzt; derbe - anderes Wort für sehr, mega, übel etc. Diss - (Subst.) von engl. disrespect: ist eine Beleidigung bzw. die Aberkennung von Respekt diggin’ in the crates - englisch für “Kisten durchwühlen”. Dies beschreibt die z.T. aufwendige Suche nach “besonderen” Schallplatten in Platten-Läden, Second Hand-Shops etc. down sein - Schlecht drauf sein, traurig sein, auch: “mit jmd. down sein” mit jemandem einverstanden sein, jemanden verstehen Esé - Selbstbezeichnung der lateinamerikanischen Bevölkerung der USA, vergleichbar mit Chicano faker - (Subst.) von engl. fake: jmd. der vortäuscht, etwas zu sein oder zu können, ein Blender fett - Form der Begeisterung. Steht für: “super”, “großartig”, “geil”. Durchaus oft in der Kombination “Derbst fett! ” oder einfach nur “Das ist fett! ” zu finden. Heißt dann so viel wie: “Das ist richtig gut”, oder auch “Verdammt geil”. Flow - (Subst.) von engl. fließen; ist das Zusammenspiel von Stimme, Beat, Melodie, Betonung, Text und Aussprache des Rappers Freestyle - (Subst.) von engl. Freistil; improvisiertes Rappen oder Breaken; verbreitet sind auch Freestyle-Battles fronten - (Verb) von engl. to front: jmd. etwas vorspielen, (versuchte) Vortäuschung nicht vorhandener Realness, “Wasser predigen und Wein trinken” oder auch herausfordern G - vom engl. Gangster, Abkürzung für Gangster. Es sind auch G-Rapper bekannt, also Gangsterrapper Ganja - anderer Begriff für Marijuana haten - (Verb) von engl. to hate: hassen; oft benutzter Ausdruck zwischen Hip-Hopern, hat weniger mit Hass zu tun, eher mit Neid. Haten meint grundloses Schlechtmachen Homeboy - (Subst.) Bedeutet so viel wie Nachbar. In seiner ursprünglichen Form eine Anrede an eine befreundete Person oder Gangmitglied. Mit der Zeit wurde das Wort zunehmend ironisiert und hat nun meist eine negative Bedeutung. Homeboy ist an sich zwar kein Diss (Schmähung) an die angesprochene Person, aber zunehmend eine Anrede an eine Person, die gedisst wird Homie - (Subst.) Abkürzung für Homeboy, jedoch mit unterschiedlicher Bedeutung; Anrede meist an eine befreundete Person (in diesem Falle wird oft auch “Homes” verwendet), im Battle-Rap jedoch als neutrale Anrede an den Gegner Hood - steht für das Wohnviertel in dem man wohnt (I come from the hood). Ableitung bzw. Verkürzung von (engl.) neighbourhood (Nachbarschaft) Hook - kann man übersetzen als Refrain Holla - Grußformel. Ableitung von (engl.) to holler (brüllen, rufen), to give a holler (Bescheid sagen, sich melden) Hustler - jemand, der sich durch verschiedene (oft illegale) Arbeiten wie z.B. Drogenverkauf oder Zuhälterei am Leben erhält Ice - (Subst.) von engl. Eis; im Hip-Hop bildlicher Vergleich, gemeint sind Brillanten und insgesamt auffälliger Schmuck Jam - (Subst.) Hip-Hop-Party im traditionellen Sinne The Jects (sprich: Jets) steht für engl. Housing Projects; Ghettoviertel, sozialer Wohnungsbau killer/ killa/ killah - (Adj.) Wird gleich verwendet wie fett. MC - (aus dem englischen: master of ceremony) ist ein Rapper oder allgemein eine Person, die an einem Battle teilnimmt Mic - (aus dem englischen: microphone) wird als Mikrophon beschrieben Nigger - (Subst.) Ableitung von “Negro” (Neger), abfällige Bemerkung der Sklavenhändler zur Unterdrückung der schwarzen Sklaven. Noch bis in die heutige Zeit hinein genutzt, um einer schwarzen Person Geringschätzung entgegen zu bringen. Als Slangbegriff (im Jargon auch Nigga, Niggah oder Niggar) wird er unter Schwarzen, vermehrt aber auch unter Weißen auf ironische Weise im Sinne als “Freund”, “Kumpel” verwendet. Unter schwarzen Rappern findet diese Bezeichnung häufig Gebrauch. Beim Battle-Rap kann damit jedoch auch der Gegner auf provozierende, aber auch ironische Art und Weise bezeichnet werden. Vergl. Homie/ Homeboy Rap-Rhetorik 119 O.G. - Abkürzung für “Original Gangsta”. Das heißt jemand, der wirklich von der Straße kommt und ein hartes Leben hatte und nicht nur dies verherrlicht, auch: Gründer einer Streetgang oder älteres Gangmitglied Player/ Playa - (Subst.) Prolet oder auch “Pimp” Propz/ Props - (Subst.) von engl. proper respect; Respektsbekundungen (People Respect Other People Seriously) Punchline - engl. Pointe; Humorvolle Textzeile, die den Gegner hart trifft Punk(s) - Schimpfwort, jedoch nicht auf politische Meinung zu beziehen Pussy - Weibliches Geschlechtsorgan oder auch (abfällige) Bezeichnung für Frauen oder als Diss an Männer Rapgame oder auch Rapbizz - (Subst.) das Rapgeschäft oder die Rapszene Shit - steht für 1. Haschisch, 2. für Musikstücke (häufig im folgenden Zusammenhang: “Dein Shit ist tight! ”) oder allgemeiner “Zeug” Shorty - Bezeichnung für Mädchen/ Frauen. Bedeutet so viel wie “Süße/ Kleine”. Umgangssprachlich auch als “Shawty” verwendet. spitten - (Verb) von engl. fauchen, spucken: Synonym für rappen straight - geradlinig, zielgericht, beschreibt einen zielstrebigen Rapper strugglen - (Verb) von engl. to struggle (mit etwas ringen): Probleme haben, mit dem (alltäglichen) Leben zurechtzukommen Studio-Gangster - Bezeichnung für Gangster die nur im Studio abhängen und Musik machen anstatt das übliche Gangsta-Ding Stunners - Aus dem Ebonix-Slang farbiger US-Rapper, damit ist die Sonnenbrille gemeint, wird aber auch als Slang- Wort für Ecstasy benutzt tight - (Adj.) von engl. tight: eng, fest, gut. Wird immer in Bezug auf einen Künstler der Szene oder dessen Produkt verwendet und heißt so viel wie sehr gut, in der ursprünglichen/ engeren Bedeutung steht es für sehr präzise auf den Takt gerappte Strophen. Im Slang mancher Künstler der Szene steht dieses Wort jedoch auch als Synonym für betrunken oder breit. Vereinfacht wird es im Deutschen mittlerweile auch Tait oder Teit geschrieben Timbs und Air Ones - Kurzform für Timberland Boots und Nike Air Force 1 - die Klassiker unter den Hip Hop Schuhen Wack MC/ Whack MC/ Weak MC - (Subst.) Ein in der Gemeinschaft nicht respektierter MC Wack/ Whack - Adjektiv für schlecht, ein “whack” MC ist ein schlechter MC Whigger - ein amerikanischer Neologismus aus den Worten “white” und “nigger”, um weiße Personen zu bezeichnen, die sich wie Schwarze kleiden, wie sie sprechen bzw. rappen. Gleich ob von Schwarzen oder Weißen verwendet, ist der Begriff meist abwertend gemeint Word (oder auch: “Wort drauf”) - dies ist entweder eine Kurzform für “Ich schwöre”, wenn man eine eigene Aussage damit abschließt, oder eine Zustimmung oder ein Beipflichten, wenn ein anderer eine Aussage damit kommentiert. Oft auch “Word Up” (z.B.: “Word up dog! ” - “Genau Alter! ” oder “Word Is Bond [Son]”). Als Frage betont am Ende einer eigenen Aussage auch die Bitte um Zustimmung Wannabe - Ein “möchtegern”. Menschen, die sich als “Hip Hopper sehen”, aber nur so tun als wären sie “hart” Yo - Grußformel, kollegial. Dient mitunter auch als Substitut für das Wort Ja oder einfach nur als Füllwort, z.B. wenn ein Rapper anfängt zu rappen zwölf-zehner - legendärer Technics-Plattenspieler 7 Literaturhinweise Androutsopoulos, Jannis 1998: Deutsche Jugendsprache. 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Die Kultur des HipHop, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Loh, Hannes & Murat Güngör 2002: Fear of a Kanak Planet - Hiphop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap, Höfen: Hannibal Menrath, Stefanie 2001: represent what … Performativität von Identitäten im HipHop, Hamburg/ Berlin: Argument Möhring, Johannes 2008: “Ey schwul, oder was? ”, in: Augsburger Allgemeine v. 10.04.08 Neuland, Eva 1987: “Spiegelungen und Gegenspiegelungen. Anregungen für eine zukünftige Jugendsprachforschung”, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 15 (1987): 58-82 Rap-Rhetorik 121 Neuland, Eva 1998: “Vergleichende Beobachtungen zum Sprachgebrauch von Jugendlichen verschiedener regionaler Herkunft”, in: Androutsopoulos (ed.) 1998: 71-90 Neuland, Eva (ed.) 2003 a: Jugendsprache - Jugendliteratur - Jugendkultur. 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Susanne Hess (Universität Bern); das hier auch nicht ansatzweise zu resümierende umfangreiche Material des Berner Rap-Corpus kann eingesehen und geprüft werden in Hess 2007 (Auszug s. dort im Anhang). 2 Alle Zitate sind im folgenden ohne Einzelnachweis diesem Corpus entnommen (s. Anm. 1). 3 Leicht bearbeitete Übersetzung ins Standarddeutsche von Susanne Hess. Quelle des folgenden Glossars zum HipHop-Jargon: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Hip-Hop-Jargon [04.04.2010] Poem und Präsenz: Primordiale (Inter)Medialität im Zeitalter der Postabstraktion Eva Kimminich Rap and Slam are incarnated and interactive forms of self-expression creating a common experience of reality. They are a reaction to social and technological developments by which abstraction, uprooting and disembodiment have been reinforced in late capitalism to a degree to which individuals react with increased requirements of presence, locality, sensual experience and authenticity. Since these forms of communication are poetic, narrative and performancebound speech culture they are to be investigated in context with functions and effects of oral poetry ever since reflected in the Ancient World. The artes liberales granted creative power only to poetry, while in Christian Annunciation the rhyme also had a particular function: it granted the spoken words with a special sense of time, consolidating the messianic time within the time of the speech-act; thus the speaker diped in an aura of incarnating God’s will by his words. The speech cultures of Rap and Slam are viewed before the background of this powerful effect of poetic speech and of the above mentioned needs of late capitalistic individuals. Presentation techniques of reality and self-presentation by Rap and Slam are examined before the background of the possible-world-theory adopted by narratology, the concept of possible selves and of histrionic narration developed by psychotherapy on the one side, and on the other side before the background of the concept of Kairos, explaining the efficacy of rhyme. Thus can be demonstrated how Rap and Slam put into practice the demands raised by the European Avantgarde already in the 1920th and 1930th, although they developed into another social context and therefore cannot be seen as the successors of the Avantgarde. Rap und Slam sind verkörperte und interaktive Formen des Selbstausdrucks und gemeinschaftsbildender Wirklichkeitserfahrung. Sie antworten auf gesellschaftliche und technologische Entwicklungen, durch die sich im Spätkapitalismus Abstraktion, Entortung und Entkörperung derart verdichtet haben, dass das Individuum mit einem gesteigerten Bedürfnis nach Präsenz, Lokalität, sinnlichem Erleben und Authentizität reagiert. Da es sich bei diesen Kommunikationsformen um poetische, narrative und an Performance gebundene Sprechkulturen handelt, sind sie im Kontext der seit der Antike reflektierten Funktionen und Wirkungen der mündlichen Dichtung zu betrachten. Wurde der Poesie als einziger der artes liberales eine schöpfende Kraft zugeordnet, so hatte der Reim auch in der christlichen Verkündigung eine besondere Stellung; er verlieh einem gesprochenen Text eine, die messianische Zeit verdichtende, an den Sprechakt gebundene eigene Zeit und dem Sprechenden eine den göttlichen Willen durch seine Worte inkarnierende Aura. Die Sprechkulturen des Rap und Slam werden vor dem Hintergrund dieser Wirkungsmacht poetischen Sprechens und der genannten Bedürfnisse des spätkapitalistischen Individuums beleuchtet. Wirklichkeits- und Selbstdarstellungstechniken des Rap und Slam werden daher einerseits vor dem Hintergrund der in die Narratologie übernommenen possible world-Theorie und der aus der Psychotherapie stammenden Konzept, der possible selves sowie des histionischen Erzählens beleuchtet, anderseits mit dem die Wirkungsmacht des Reims erhellenden Konzept des Kairos. Auf diese Weise kann gezeigt werden, wie Rap und Slam Forderungen in die Praxis umsetzen, die bereits von der europäischen Avantgarde der 1920er und 1930er Jahren erhoben wurden, auch wenn diese sich in einem anderen gesellschaftlichen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Eva Kimminich 124 Kontext entwickelt haben und daher in keiner Weise als Nachfolger der Avantgarde zu sehen sind. 1 Rap und Slam als Intermedium der Wirklichkeitserfahrung In meinem Forschungsseminar “Laut und Lyrik - Reim und Rhythmus” haben wir uns im SS 2008 mit Sprech- und Stimmkulturen befasst, die seit einigen Jahrzehnten eine auffallende Renaissance erfahren. Insbesondere in Popular-, Sub- und Jugendkulturen sind Stimmparties oder Karaoke, vor allem aber Rap und Slam zu Medien eines verkörperten Selbstausdrucks geworden. Sie sind als ausgefeilte Techniken performierten und interaktiven Sprechens zu betrachten. Wir haben es mit einer an eine raumzeitliche Situation gebundenen Präsentation emotionaler und mentaler Prozesse zu tun. Poetizität und Literarizität sind für Rap und Slam konstitutiv und charakteristisch. Es handelt sich dabei allerdings um unkonventionelle Formen, die auf den Poesie und Dichtung innewohnenden anthropologischen Eigenschaften des gereimten Sprechens und des Erzählens beruhen. Daher lassen sie sich mit Kategorien beschreiben, die seit der Antike für Poesie und Literatur diskutiert werden: Katharsis, Ethos und Kairos. Diese der Mündlichkeit und dem ursprünglichen Charakter der Poesie zugeordneten Eigenschaften waren seit der Nach-Avantgarde in Vergessenheit geraten. Erst im Rahmen der multimedialen und interaktiven Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts wurden sie auch für poetische Formen des Selbstausdrucks wiederentdeckt, allerdings nicht im etablierten Literaturbetrieb, sondern von marginalen und gegenkulturellen Gesellschaftsgruppen. Ich möchte diese Art der erlebbaren Inszenierung von Sprache primordiale Intermedialität nennen. Sie charakterisiert das gegenwärtige Zeitalter der Postabstraktion, das sich insbesondere dadurch auszuzeichnen scheint, dass es Wirklichkeit und Authentizität über eine unmittelbare Subjektivität erfährt, verbalisiert und inszeniert. Denn beim Rappen und Slammen steht nicht das sprachliche Kunstwerk, sondern der reimende, erzählende und interagierende Körper im Mittelpunkt. Er ist gleichzeitig ein Ort der Wahrnehmung und der Darstellung. Das macht ihn zur Schnittstelle individueller und kollektiver Selbst- und Wirklichkeitserfahrung und damit zu einem Intermedium. Diese Beobachtungen beruhen auf Entwicklungen, mit denen sich gleichzeitig auch das Entstehen und die Beliebtheit dieser Sprechkulturen erklären lassen. Sie scheinen dem von verschiedener Seite vorhergesagten Ende schriftbasierter Kultur eine Fülle von kreativen Sprechpraktiken entgegenzusetzen. Sieht Paul Virilio mit dem Zeitalter des Fernsehens und der Bildverarbeitung gleichzeitig ein Ende des Sprechens heraufziehen und ‘unsere Gesellschaft im Schweigen der Lämmer versinken’, so spricht Mihai Nadin hingegen von einem Jenseits der Schriftkultur und einem Zeitalter des Augenblicks. Dieses Jenseits ist ein lebendiges und kreatives Zeitalter der Interaktion, das - so Nadin - auch eine soziale Erneuerung ermöglichen kann. Er erklärt diese Verschiebung mit der durch die neuen Technologien eingeleiteten Beschleunigung unseres Lebensalltags. Sie hat unser gesamtes Dasein dynamisiert, insbesondere die kognitiven Prozesse. Dieser Dynamik kann Schriftkultur nicht mehr Folge leisten, sie kann die komplexer gewordene Praxis der menschlichen Erfahrungswelt nicht mehr erfassen. Nadin führt dies auch darauf zurück, dass in der Schriftkultur gebildet zu sein immer auch heißt, den Erfahrungen der Vergangenheit verhaftet zu sein und ihren Regeln unterworfen zu bleiben. Daher kann Schriftkultur neuen Entwicklungen nur langsam oder gar nicht folgen. Poem und Präsenz 125 Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung betrachtet Nadin die menschliche Interaktion als “konkreten Ausdruck der Einbindung unendlich vieler kognitiver Ressourcen - und sogar als die letzte verfügbare Ressource, von der die Zukunft unserer Gattung abhängen könnte” (Nadin 1999: 343). Popkulturwissenschaften sowie Cultural Studies haben hinreichend gezeigt, dass afrikanische und afroamerikanische Traditionen der Oral Culture über die westlichen Jugend- und Subkulturen in die Populärkultur eingedrungen sind und mit ihnen auch eine interaktive, verstärkt an den Körper gebundene Form der Kommunikation (siehe dazu v.a. Siedler 1995 und Fuhr 2007). Damit setzte eine Wiederaneignung und Aktualisierung mündlicher Kulturpraktiken ein, die auch mit neuen Formen der Identitätsher- und -darstellung sowie des Selbst- und Gemeinschaftserlebens in einem immer wieder neu zu erzeugenden Hier und Jetzt verbunden sind. Mit ihnen wird einerseits dem von verschiedenen Disziplinen diagnostizierten, durch die Globalisierung eingeleiteten Verlust an Orientierung und Perspektiven entgegengewirkt. Andererseits gleichen sie eine durch zunehmende virtuelle Vernetzung entstehende Entortung aus. Sie hat das Bedürfnis nach Lokalität, Authentizität und Performanz verstärkt, das nun durch eine der Selbstformung und unmittelbaren Wirklichkeitsgestaltung dienende Kreativität befriedigt wird. Die dabei entstandenen und entstehenden neuen Ausdrucksformen verlangen auch nach einer neuen Definition von Kunst und Ästhetik. Wir müssen daher auch unsere poetisch-narrativ-perfomativen Sprechkulturen im Rahmen eines Medienkulturkonzepts betrachten, das Körperlichkeit und Interaktion von Mündlichkeit berücksichtigt. Denn einerseits werden dabei die stimmlich-sinnlichen Möglichkeiten der Sprache und des artikulierenden Körpers genutzt, um die Abstraktionskraft von Sprache durch Verkörperung derselben von der Ebene der Repräsentation auf die der Präsenz zurückzuholen. Andererseits wirkt diese Verkörperung auf die kognitiven Konzepte und narrativen Strukturen der Texte zurück. 2 Kunst, Poiesis und Kreativität Kreativität, Kultur, Kunst und Körper stehen über ihre problematischen Konzeptualisierungen in einer ebenso spannungsvollen wie unauflösbaren Wechselbeziehung. Bevor der Begriff Kreativität geläufig wurde, sprach man von Schöpferkraft, ein Begriff, der tief in den das abendländisch europäische Denken strukturierenden Kategorien verankert ist und dessen konzeptuelle Aura - mehr oder weniger bemerkt - in den pragmatischen Kontext des Kreativitätsbegriffs einfloss. Als höchste Bestimmungen des Menschen (transcendentalia) ist die Schöpferkraft in die Trichotomie der Philosophie des Guten, Schönen und Wahren (Platon) involviert und sie wird den Tätigkeitstypen Theorie, Handeln und Schaffen (Aristoteles) zugeordnet, aus denen sich über Kant die Aufspaltung der Philosophie in Logik, Ethik und Ästhetik bzw. in vereinfachter Formulierung die Untergliederung von Wissenschaft, Moral und Kunst entwickelt hat. Die Philosophie der Ästhetik befasst sich mit physischen Dingen (bildende Künste) und Vorgängen (darstellende Künste) bzw. Tätigkeiten des Künstlers, nämlich mit dem Nachbilden (Mimesis), das vom Schaffen von etwas Neuem unterschieden wird. Dadurch gelangte das Konzept der Schöpferkraft in das Einzugsgebiet der bildenden Künste bzw. der philosophischen Disziplin der Ästhetik, denen sie über Jahrhunderte hinweg zugeordnet blieb, bis ihr Nutzen zur techn(olog)ischen Weltgestaltung und ökonomischen Gewinnpotenzierung ihre Entmythologisierung und Demokratisierung einleitete (siehe dazu Kimminich 2007: Eva Kimminich 126 9-21). Das schöpferische Vermögen wurde dadurch zur anthropologischen Selbstverständlichkeit und zu einem Forschungsgegenstand, den man nun auch im Alltagsleben entdeckte. Jeder rückte als Künstler ins Blickfeld - im Lebensalltag wie in der Forschung; so wandten sich weitere Wissenschaftszweige, besonders Psychologie, Sozial- und Erziehungswissenschaften, dem Phänomen der Kreativität zu. Leicht übersehen wird an der Begriffsgeschichte, wie der Philosoph und Kunsthistoriker W adys aw Tatarkiewicz in seiner Geschichte und Analyse der Grundbegriffe der Ästhetik herausstellt, dass die Begriffe Schöpfer und Künstler genuin nicht zusammengehören. Denn in der Antike unterschied insbesondere Platon den nachbildenden und sich dabei Gesetzen und Regeln unterordnenden Künstler von einem Schöpfer, dessen Schaffen sich durch Handlungsfreiheit auszeichne. Das heißt, der Kunst wurde als einer etwas herstellenden Kunstfertigkeit zunächst keine Schöpferkraft zugeschrieben. Ausnahme bildete allein die poiesis, die Dichtung. Sie wurde von der Kunst getrennt, weil der Dichter mit seinen Worten eine neue Welt erfinde. Nur das Dichten galt daher als eine schöpferische Tätigkeit. Warum das lateinische creare nicht zur Bezeichnung schöpferischen Vermögens eingesetzt wurde, erklärt sich aus der theologischen Vereinnahmung des Begriffs. Der Ausdruck creatio erfuhr in der christlichen Ära einen folgenreichen Bedeutungswandel. Er wurde zur Bezeichnung des göttlichen Schöpfertums eingesetzt, als ein Erschaffen aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Schöpferkraft wurde der menschlichen Schaffenskraft daher zunächst abgesprochen. Die antike Vorstellung der Kunst als eine mimetische Leistung blieb erhalten und wurde im Mittelalter auch auf die Dichtung ausgeweitet. Das änderte sich erst seit der Renaissance, als der Mensch mit seiner Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und Freiheit auch seine Einbildungs- und Schöpferkraft entdeckte. Die von Tatarkiewicz diagnostizierten Schwierigkeiten diesem Gefühl und Vermögen einen sprachlichen Ausdruck zu geben (2003: 359-61), sind in enger Verbindung mit dem Emanzipationsprozess von dem göttlichen Vorrecht auf ein Schöpfertum zu sehen, das in der Kraft des gesprochenen Wortes gründet. Da sich der Begriff des Schöpfens in der europäischen Kultur nicht durch seine Zuordnung zur Kunst, sondern über seine Verankerung in der christlichen Religion bzw. Emanzipation von derselben entwickelt, mündet das Bewusstsein der eigenen Schöpferkraft in letzter Konsequenz im Anspruch auf Welt- und Selbsterschaffung, die sich im Verlauf der weiteren Entwicklung einerseits in der (bio)technologischen Neuerschaffung und (Um)Gestaltung von Welt und Körper bzw. der Selbst(er)findung und -gestaltung manifestieren; sie versprechen kein Seelenheil, den Akteuren der Neuschöpfung aber Kapital bzw. Authentizität und Lebensraum. Anderseits ist die Beobachtung zu machen, dass kreatives Handeln im Sinne eines (durchaus auch auf göttliche Inspiration zurückgeführten) Schaffens, im Rahmen der in den letzten Jahrzehnten sich manifestierenden Formen der Oral poetry auch an die einst ausschließlich der poeisis zugeordnete Kraft der Invention anknüpft. Wer Welt und Mensch neu imaginieren will, muss über die Möglichkeit der Eingebung verfügen, d.h. er muss Vorstellungen haben, die die Darstellung verändern. Über die an Dominanz und Herrschaft geknüpfte Konzeptualisierung der zunächst nur als abbildend verstandenen Künste wurde die Entfaltung des kreativen Vermögens im Sinne eines Könnens über Jahrhunderte hinweg nur einer kleinen, als ‘genial’ definierten Gruppe gestattet, mit gutem Grund. Der Zugang zur Codierung des abendländischen Weltbildes war über Jahrhunderte hinweg durch Bildungsschranken bzw. Schriftwie Bildexegese geregelt und gesichert. Spätestens seit der Postmoderne stehen die Fragmente dieser Vor- und Darstellungen jedoch jedem und überall zur eigenen Bedeutung zur Verfügung. Werbung, Alltags-, Pop- und Subkulturen nutzen nicht nur zentrale christologische Metaphern, sondern greifen Poem und Präsenz 127 auch tief in die Kiste magisch mythologischer Zeichen und Rituale, um diese zu vergegenwärtigen (siehe dazu Kimminich 2006). Das heißt aber nichts anders, als dass die Kraft und Macht einer auf spezifischen Sinnzuschreibungen beruhenden Repräsentativität durch die Möglichkeit subjektspezifischer Interpretation und Präsentierbarkeit gebrochen wird: es entsteht semiotische Autonomie. Kultur und Künste werden auf diese Weise zu einem sinnlich erlebbaren und unterhaltsamen Spiel mit dem eigenen Körper und mit den Prototypen menschlicher Kommunikation (Butler 2007: 75-101 und Kimminich 2007: 53-74). Mit ihnen wird nicht nur individuelles, sondern auch soziales Wissen vermittelt, und zwar interaktiv. Auf diese Weise entfalten sich Selbst- und Gemeinschaftsbewusstsein, personale wie kulturelle Identität nicht durch eine entkoppelte Anverwandlung auslösende Rezeption, sondern durch (re)kreative Partizipation, physische Präsenz und gemeinsames Erleben. 3 Ästhetik und Demokratie Die dabei frei werdenden reflexiven (noesis) und sinnlich erfahrbaren (aisthesis) Energien kreativen Handelns rücken damit ebenso ins Blickfeld wie die Konsequenzen, die sich daraus für die Konzeptualisierung von Ästhetik und Kunst, aber auch von Unterhaltung (im Sinne einer Rekreation) ergeben, wie dies insbesondere von Richard Shusterman (2005 und 2006) erarbeitet wurde. Er versteht Ästhetik und ästhetisches Empfinden nicht mehr als eine festgeschriebene, klassenspezifisch hierarchisierte Dimension von sich in Stilen manifestierenden kulturellen Errungenschaften, sondern als ein kontinuierliches, im Alltagsleben stattfindendes Erproben. Sein methodischer Ansatz konzentriert sich daher auf die ästhetische Aufwertung von populärer Kultur und die Entmythisierung ‘hoher’ oder ‘wahrer’ Kunst. Dazu befasst sich Shusterman auf philosophisch-pragmatischer Ebene mit dem Verhältnis von Leben, Kunst und Körperlichkeit. In Performing life (2005) zeigt er, dass ästhetische Erfahrung nicht an jene dem traditionellen Kunstbegriff innewohnende Sphärentrennung gebunden ist, sondern als grundlegendes menschliches Bedürfnis betrachtet werden muss. Diese Argumentation stützt das verstärkte Aufkommen alternativer ästhetischer Kunstformen in der Populärkultur des 20. Jahrhunderts sowie von ästhetischen Lebensstilen, die sich vor allem auf die Schönheit und Gestaltung des Körpers konzentrieren. Beide sind als das Alltagsleben bereichernde Erfahrungen zu verstehen, die auf einer Verknüpfung von Affektivität und Authentizität beruhen. Ästhetische Ausdrucksformen der Populärkultur sind daher als anthropologische Konstanten zu betrachten, weil sie der künstlerischen (Selbst)Gestaltung dienen. Der Körper und die leiblich-ästhetische Erfahrung nehmen dabei einen bedeutenden Stellenwert ein. Vor dem Hintergrund einer die ästhetische Erfahrung weniger auf noesis als auf aisthesis begründenden philosophischen Anthropologie, wie sie von Shusterman entworfen wird, sind diese Techniken Anlass für die Entwicklung eines neuen Verständnisses des Körpers als Schnittstelle zwischen (re)kreativer Selbst(er)findung und -gestaltung bzw. Gemeinschaftsbildung. Im Zuge dieser ‘sinnlich-pragmatischen Wende’ des ‘Schöpfungsbegriffs’ wurde dem einstmals ‘göttlichen’ Verbum creare also eine zentrale Stellung im Rahmen der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur zugewiesen. Beide sind nun nicht mehr an die mit Macht gekoppelten Hierarchien künstlerischer Darstellung und deren spezifische, Sinn gebende oder Sinn erhaltende Rezeptionsformen gebunden, sondern beruhen, wie Gernot Böhme darlegt, auf der Wahrnehmung “verstanden als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegen- Eva Kimminich 128 ständen und Umgebungen” (Böhme 1995: 25). Böhme greift dazu auf Walter Benjamins Definition der Aura zurück, die er als “etwas räumlich Ergossenes” und als etwas, das man atmet, umschreibt: “Die Aura spüren heißt, sie in die eigene leibliche Befindlichkeit aufnehmen. Was gespürt wird, ist eine unbestimmt räumlich ergossene Gefühlsqualität” (ebd.: 27). Auf den Benjaminschen Gedanken zur Aura baut Böhme daher auch sein Konzept der Atmosphäre als eine “gemeinsame Wirklichkeit des Wahrgenommenen und des Wahrnehmenden” auf: “Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist” (ebd.). Auch Böhmes an der Befindlichkeit des Menschen ansetzende Ästhetik der Atmosphäre betrachtet diese also nicht mehr nur als Angelegenheit von Eliten, sondern als ein Grundbedürfnis des Menschen. Sie ist ein Phänomen des Alltags, das sowohl politische als auch ökonomische Dimensionen hat und sie kann individuell wie kollektiv hergestellt und genutzt werden. Als Grundbedürfnis des Menschen manifestiert sich diese Wirklichkeit des Wahrgenommenen besonders in Jugend- und Subkulturen (siehe dazu Kimminich 2008). Befindlichkeiten und gemeinsames Wahrnehmen erfüllen dort das durch den ästhetischen Schein der gewinnbringenden Selbstinszenierung der spätkapitalistischen Gesellschaft (im Sinne Guy Debords) gesteigerte Bedürfnis nach Erleben und Authentizität. 4 Präsenz und Performance Wie Boris von Preckwitz in seinem Buch zur Slampoetry herausarbeitet, weist die Slambewegung sowohl charakteristische Merkmale der Avantgarden als auch solche dissidenter Kulturen auf. Die Merkmale avantgardistischer Künste, insbesondere des Dadaismus, sind jedoch keineswegs als Vorläufer zu betrachten, da sie sich in einem völlig anderen gesellschaftspolitischen Kontext entwickelt haben, aber sie weisen im Hinblick auf die Beschreibung dieser ästhetischen Kommunikationsformen Merkmale auf, die auch auf Slam und Rap zutreffen. Dada war mit einer Revolte gegen die im Zeitalter des bürgerlichen Akademismus erschaffene Institution Kunst verknüpft und leitete eine Abkehr von Schriftlichkeit ein sowie die Entwicklung einer mündlichen Textpräsentation mit szenischen Mitteln. Diese poetologischen Neuerungen der Avantgarden waren, wie Rainer Warning und Winfried Wehle feststellen, vor allem eine Reaktion auf das “Unzeitgemäße der Wirklichkeitsbehandlung” (1982: 32). Rationalität und Abstraktionsverfahren gerieten damit in die Kritik. Betrachten wir daher zunächst die Merkmale avantgardistischer Texterzeugung und Textpräsentation ein wenig näher. Gefordert wurde eine Erneuung der Ausdrucksmittel “gegen das klassische Bildungsideal des ordnungsliebenden Bürgers”, so Raoul Hausman im seinem Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung (1995: 172). Neue Verfahren entwarf Hausmann insbesondere mit seinem sogenannten Präsentismus. In seiner Schrift PRÉsentismus: gegen den Puffkeismus der deutschen Seele (1921) (ebd.: 231f.) entwickelte er gleichzeitig eine auf dem Haptischen basierende Kunsttheorie, in der er das Sinneserleben als alleiniges Erkenntnismoment und als interaktives Verständigungsmittel propagierte: “Wir fordern die Erweiterung und Eroberung all unserer Sinne. Wir wollen unsere bisherigen Grenzen sprengen! ! ” (ebd.: 231). Das sollte die unmittelbare Inszenierung von Spannungsverhältnissen zwischen Akteur und Umgebung, also die Konfiguration der Präsenz im hic et nunc ermöglichen. Es ging ihm also um die Repräsentation der Welt in der eigenen Wahr- Poem und Präsenz 129 nehmung und zugleich in ihrer medialen Vermittlung. Was das bedeutet, führte Hausmann im seiner 2. präsentistischen Deklaration von 1929 aus (ebd.: 300f.); dort heißt es: [Wir erheben] die Forderung nach einer Erweiterung und Erneuerung unserer Sinnesemanationen nur […], weil die Geburt eines unerschrockenen und unhistorischen Menschen in der Klasse der Werktätigen vorausgegangen ist! […] Unsere Aufgabe ist es, im Sinne einer universalen Verbindlichkeit an den physikalischen und physiologischen Problemen der Natur und des Menschen zu arbeiten und wir werden unsere Arbeit dort beginnen müssen, wo die moderne Wissenschaft aufhört, weil sie inobjektiv ist, weil sie nur das System der Ausbeutungsfähigkeit verfolgt und fortwährend Standpunkte einnimmt, die einer erledigten Zivilisationsform angehören. Wir haben voraussetzungslos und unvoreingenommen die ersten Schritte einer Naturbetrachtung zu unternehmen, die Physik und Physiologie auf ihre eigentliche Wirkungsebene bringt, im Sinne einer klassenlosen Gesellschaft […]. Der Generalnenner aller unserer Sinne ist der Raum-Zeit-Sinn. Die Sprache, der Tanz und die Musik, waren Höchstleitungen der intuitiven Zeit-Raum-Funktionalität, […] (ebd.: 300f.). Hausmanns Kunsttheorie kann daher auch als eine Reaktivierung primordialer lyrischer Verfahren betrachtet werden, die wir sowohl in der Avantgarde als auch in Rap- und Slamkulturen beobachten können, selbst wenn diese in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten entstanden sind und kein direkter Zusammenhang zwischen ihnen besteht (siehe dazu auch Preckwitz 2002 und 2005). • War es Ziel des Dadaismus, die Kunst zur Lebenspraxis zurückführen, so ist es Ziel von Rap und Slam, aus der Kunst eine neue Lebenspraxis zu organisieren, um Lebensraum für Stimmlose zu schaffen. • Agierte die Avantgarde eher politisch-utopisch, so ist das Selbstverständnis von Slam und Rap politisch-pragmatisch. • War die Avantgarde auf sich selbst und ein spezielles Publikum gerichtet, so versuchen Rapper und Slammer im Moment der Performance mit ihrem Publikum zu kommunizieren; dazu wird eine gemeinsame Sphäre der Wahrnehmung hergestellt. • Im Gegensatz zur Avantgarde sind Rap und Slam nicht Produkte einer Elite, sondern entfalten sich in der Öffentlichkeit einer Gemeinschaft. Rap und Slam folgen daher auch keinen Poetiken, sondern sind als eine Summe von Verfahren, Handgriffen und Kunstmitteln zu verstehen, die selbstreferentiell für sich stehen und keinen Anspruch erheben, ein dauerhaftes Kunstwerk zu sein. Auch ihre Verschriftung hat einen anderen Stellenwert. Sie ist eher als Hilfsmittel der Erzeugung bzw. als Abfallprodukt zu verstehen. Damit aber praktizieren Rap und Slam gleichzeitig ein neues Verständnis von Dichtung und Literatur: Unmittelbarkeit, Alltagsnähe, Sprachwitz und Lustgewinn sind ihnen wichtiger als künstlerisches Expertentum. Trotz dieser konzeptionellen Unterschiede weisen Hausmanns Forderungen und Experimente eine wesentliche Gemeinsamkeit mit Slam und Rap auf: die Dimension der Verkörperung des Sprechens sowie die interaktive Erzeugung des Gesprochenen, durch die Produktion und Rezeption, Künstler und Publikum vorübergehend in eine osmotische Beziehung zueinander treten. Eva Kimminich 130 5 Sprache und Evidenz: Erlebte Wirklichkeit, Wahrnehmung und Körperlichkeit Sprache ist ein Medium, das Erlebtes und Wahrgenommenes durch Abstraktion kommunizierbar macht. Sie erzeugt Distanz als Grundlage der (Selbst)Reflexion. Sprache scheint daher der unmittelbaren sinnlich-synästhetischen Wahrnehmung entgegenzustehen. Um die leibliche Befindlichkeit, die Lust am Unmittelbaren sprachlich zum Ausdruck zu bringen und Anspruch auf Authentizität des Gesprochenen erheben zu können, wird die Abstraktionskraft von Wörtern und Sätzen daher an das körperlich-sinnliche Erleben des Sprechenden und der Hörenden, das heißt an deren Wahrnehmungen, rückgebunden. Im Rap geschieht dies zum einen durch einen auffallend häufigen Gebrauch von Verben der sinnlichen Wahrnehmung, zum anderen anhand von metaphorischen Konzepten, die Sprache zu “linguistischen Streicheleinheiten” (Beispiel 1) oder zu einem physiologischen Bestandteil des Gehirns (Beispiel 2) werden lassen. B EISPIEL 1: Le frère originaire de la terre mère / Shurik’ quoi? N éveille des sensations issues du Noumène / Vibrations provoquées par le Phénomène / Du toucher magique, poétique, physique / Caresse linguistique au son de ma musique / Le souffle de la basse sur le satin d’une peau / Achève sa courbe dans le bas du dos (IAM, “1 peu trop court”, De la Planète Mars 1991). B EISPIEL 2: Mon premier reflex / est de faire naître un texte, dans les zones de mon cortex (IAM, “La tension monte”, De la planète Mars, 1991). Eines der wohl zentralsten transnationalen metaphorischen Konzepte des Rap, das Wort ist eine Waffe (Kimminich 2001 und Neumann 2009), hat ein vielschichtiges System von Bildbzw. Assoziationsfeldern in Gang gesetzt, die dem “Kampf mit dem Wort” einen missionarischen Charakter verleihen. Er beginnt da, wo Projektionen und Klischees wirken: nämlich im Gehirn bzw. in der Psyche. Erklärtes Ziel von Busta Flex beispielsweise ist es deshalb, in die Gehirne seiner Hörer einzudringen und sie dort umzuprogrammieren. Mission de pénétrer les consciences en effraction. / Chasser l’illusion, rétablir l’information, exécuter les préjugés. / Pour libérer tes opinions, guerre cérébrale, J’m’étale dans les cerveaux en feu (Busta Flex, “Ma force”, Busta Flex, 1997). Rap wird hier als ein verbales Werkzeug zum Umprogrammieren sprachlich kodierter Einstellungen definiert, die sich ihrerseits in materialisierter Form in den Gehirnwindungen befinden, wie auch folgendes Zitat verdeutlicht: Facile et subtil, la résistance est inutile / Futile, car mon premier réflexe / Est de faire naître un texte, dans les zones de mon cortex / Promesse que leur défaite reste / Et les vexe car elle est Life sur une mémorex (IAM, “La Tension Monte”, De la planète Mars 1991). Dem Sprechenden ist also ein Sprech-Denken ‘eingehirnt’, das ihm Authentizität und Autorität verleiht. Diese Rückbindung des Sprechens an die Physiologie des Gehirns lässt ihn gleichzeitig zum ‘Wahrseher’ werden, wie das Lyric der Gruppe 2 Bal 2 Neg’ mit dem resümierenden Titel “Ma vision des choses” (auf: 3 x plus efficace, 1996) nahelegt: “Par mes yeux observe ma vision du monde, la vision d’un monde où enfer et béton se confondent. J’habite la grisaille, le tour de béton armé.” Die Vision des sprechenden Ichs wird dem Adressaten vermittelt, indem er dazu aufgefordert wird, mit den Augen der Erzählerinstanz zu sehen, weil dieser den erzählten Wirklichkeitsausschnitt bewohnt und aus eigener Anschauung kennt. Denn was der Rapper sagt, das hat er auch gesehen. Das verschafft ihm Poem und Präsenz 131 Anspruch auf Wahrhaftigkeit und erzeugt Evidenz. Folglich können seine Worte auch nicht lügen, weil seine Augen für die Wahrhaftigkeit seiner Rede bürgen, das formuliert z.B. die Gruppe La Brigade in ihrem Song “La matrice” (Le cercle de la haine 2002): “Tu doutes de moi / Alors regardes si mes yeux aussi mentent.” Bei diesem ‘Seh-sprechen’ wird dem Klang eine wichtige Rolle zugeschrieben, denn er lässt das Gesagte über ‘die Euphorie der Netzhäute durchdringen’: “C’est là [dans les sons] qu’la vision du monde se disperse / c’est là que mes dits percent / Dans l’euphorie des rétines qui s’bousculent c’est là qu’j’exerce” (Freeman “Mars Eyes”, Mars Eyes, 2004). So kann das Hören die Augen öffnen und der Rapper sein Publikum anhand einer ‘Mikrofonbrille’ eine andere Wirklichkeit sehen lassen kann: “En bref, mon taf c’est faire la toilette, armé d’un micro lunette” (Aggression verbale: “Nettoyage”. Auf: Ce n’est que le debut, 1998). Diese Beispiele zeigen einerseits, wie der Traum Raoul Hausmanns, eine synästhetische Sinnesverschmelzung in den Raum zu projizieren, im Rap zumindest teilweise seine Erfüllung bzw. Zielrichtung findet. Dies vollzieht sich über zwei gegenläufige, sich indes ergänzende Bewegungen, die Innen und Außen, Subjekt und Welt für einen Augenblick miteinander verbinden. Denn die Verkörperung des Gesprochenen beruht auf der Inkorporierung von Sprache. Nur so kann der medialen Repräsentation durch Präsenz und Authentizität eine selbst wahrgenommene, erlebte Wirklichkeit entgegengesetzt werden. Die Form des Gedichts und der Reim spielen dabei eine wichtige Rolle, weil sie einen Organismus entstehen lassen, der seine eigene, auf die Gegenwart seiner Artikulation fokalisierte Zeit entfaltet (siehe dazu Punkt 6). 6 Erzählen: possible selves und possible worlds Rapper und Slammer sind Storyteller par excellence. Sie brauchen deshalb auch Zuhörer, um sich selbst zu erleben. Wie eine Beziehung zwischen Sprecher, Zuhörern und Welt hergestellt wird, hat Edda Grimm am Slam untersucht. Sie hat sich dazu auf Überlegungen S.J. Schmidts (2001 und 2003) zum Storytelling und zur Identitätsbildung sowie auf die Possible-Worlds- Theorie gestützt. 1 Die possible-worlds theory (Surkamp 2002) geht davon aus, dass bereits vergangene Ereignisse anders hätten verlaufen können, als sie wirklich verlaufen sind. Das heißt, wir könnten in einer anderen, alternativen Welt leben, die in der Philosophie als mögliche Welt angesehen wird, wenn sie in einer Beziehung zur realen Welt (accessibility relation) steht und dabei den Prinzipien der Logik gerecht wird. Narrative Texte entwerfen aber auch philosophisch unmögliche (unlogische) Welten, die auf einem System von Möglichkeiten und Aktualisierungen beruhen, auf das der Leser oder Zuhörer sich erst einlassen muss: die textual actual world. In dieser textual actual world ist es nicht wichtig, ob bestimmte Ereignisse in unserer tatsächlichen Welt hätten passieren können. Es wird vielmehr ein eigener Referenzbereich geschaffen, der es ermöglicht zu prüfen, ob Ereignisse mit der fiktionalen Wirklichkeit der vermittelten (möglichen) Welt in Einklang gebracht werden können. Wenn eine Geschichte von einem personalisierbaren Sprecher erzählt wird, wie im Falle des Rap oder Slam, dann spricht man von einer narrational actual world. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Sprecher sein eigenes, individuelles Wirklichkeitsbild darlegt. Dabei überprüften Rapper und Slammer ihr Selbst- und Weltbild immer wieder neu, um ihre Autorität und Glaubwürdigkeit aufrecht zu erhalten. Sie können ihren Dichtungen und Eva Kimminich 132 Geschichten vor allem dadurch Wahrheitswert verleihen, dass sie sie auf ihre persönliche sinnliche Wahrnehmung zurückführen. Im Rap manifestiert sich dies sich durch die oben erwähnte auffallende Frequenz von Verben der Sinneswahrnehmung und entsprechend metaphorische Konzepte. Im Slam hängt die Überzeugungskraft und Authentizität der Identität des Slammers vor allem von der sprachlichen Inszenierung und der Performance des Slammers ab. Grimm hat den Schwerpunkt ihrer Untersuchung daher auf das Verhältnis von Narrativität und Identität gelegt. Sie stützt sich dazu auf das Konzept der possible selves von Markus und Nurius (1989) und auf das Konzept der histrionischen Selbstdarstellung von Renner und Laux (2006). Macht die Idee der possible selves deutlich, dass die vielfältige Her- und Darstellung von Identität den Slammer motiviert und die Veränderbarkeit seines Selbst ins Zentrum rückt, so zeigt die in die Antike zurückreichende histrionische Darstellungsform des Als-ob, wie sich das ständige Wiederaufgreifen und Modifizieren verinnerlichter Verhaltens- und Handlungsmuster vollzieht. Die possible selves entstehen - so Markus und Nurius (1989) - immer dann, wenn sich das Subjekt selbst zum Gegenstand seiner Wahrnehmung macht und aus der Evaluation seines eigenen Verhaltens ein facettenreiches Selbstschema entfaltet. Dies geschieht im Slam öffentlich, denn der Slammer generiert seine möglichen Selbste auf der Bühne. Er betreibt das, was Stephen Lester Thompson am Rap beobachtet hat, das persona shuttling, das heißt es wird zwischen erfundenen Charakteren gewechselt, über die aber durchaus auch persönliche Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden können: “personae are genuine extensions of lived lives of rap artists. And so lyrics are at once the words and (thus) the thoughts of actual lyricistes and the characters they adopt” (2006: 129f.). Wie Grimm an verschiedenen Texten zeigt, ermöglicht persona shuttling auch den Slammern die Facetten ihrer Selbste bzw. ihrer möglichen Selbste als Bühnen-Ichs und zwar in Interaktion mit dem Publikum zu erleben und zu erproben. Wie Grimm an verschiedenen französischen und deutschen Beispielen demonstriert, nimmt der Slammer dabei sein Publikum durch den gezielten Einsatz oder Wechsel der Personalpronomina in seine textual actual world mit und stellt eine emotionale Verbindung zwischen Publikum, sich selbst und dem Personal seiner textual actual world her. In “Qu’est-ce que change”, einem Slamtext des 12jährigen Jamal, geschieht das anhand des unpersönlichen und alle gleichmachenden ‘on’. Es macht alle Menschen gleich und verstärkt die Kernaussage: die Sinnlosigkeit von Diskrimination und Rassismus: Qu’est-ce que ça change d’être noir ou blanc / (…) on est tous des êtres humains / on est tous des frères / qu’on soit rabbin, cheikh ou encore père / c’est bon ça devient carrément relou de s’entretuer / ça me tape sur les nerfs / donc que tu sois noir ou blanc / ça change rien / alors autant un être fier. Das auf diese oder andere Weise erzeugte emotional aufgeladene Wir-Gefühl kann durch Mehrsprachigkeit auch eine universale Ausdehnung erfahren wie in “I wanna speak” der französischen Slammerin Yas. Der mit einem Wechsel zwischen “tu” und “vous” agierende Text, über den auch durch paralinguistische Techniken eine vielfältige Beziehung zum sprechenden “je” hergestellt wird, switcht zwischen Französisch, Spanisch, Italienisch und Englisch. Slam ist daher als eine Kommunikationsplattform zu betrachten, auf der gemeinsam mit einem wechselnden Publikum Selbst- und Weltbilder überprüft bzw. mögliche Alternativen entworfen und durchgespielt werden. Durch Interaktion mit dem Publikum wird eine gemeinsame Erfahrenssphäre hergestellt, in der der Slammer einerseits sein Selbst erproben kann; Poem und Präsenz 133 andererseits stellt er eine vielschichtige Verbindung zum Publikum her, über die er die Elemente der actual world in seiner textual actual world mit solchen einer possible world zusammenfließen lässt. Das Mögliche wird dadurch im virtuellen Raum der Erzählung erfahrbar. Dabei spielen auch paralinguistische und körperkommunikative Techniken eine wichtige Rolle. Aus der Analyse des Zusammenspiels aller multimodalen Ressourcen, die gleichzeitig zur verbalen Kommunikation ablaufen, lässt sich daher eine slamspezifische Typologie der Interaktion ableiten (siehe dazu den Beitrag von Adriana Orjuela, Vera Nikolai und Nikola Schrenk in diesem Band). Die interaktive Narration und Performance sind daher als Basis für den zweipoligen Verwandlungsprozess von Erlebtem in Erzähltes zu betrachten bzw. von Erzähltem in ein gemeinsam Erfahrenes. Er lässt aus Einsamkeiten Gemeinsamkeiten werden. 7 Poetizität und Kairos Ich habe primordiale Intermedialität eingangs als eine an den sprech-handelnden Körper gebundene Kommunikation beschrieben. Wir haben es daher mit einer Medialität zu tun, deren Mehrdimensionalität auf den ersten Blick nicht sichtbar ist. Deshalb könnte hier der Begriff des Kanals weiterhelfen. Primäre Medialität ist mehrkanalig, weil synästhetisch, und führt in der gesprochenen Sprache die Mehrdimensionalität von Wahrnehmung und Darstellung als etwas hic et nunc Erlebbares zusammen. Das, was Raoul Hausmann forderte, nämlich die Repräsentation der Welt in der eigenen Wahrnehmung und zugleich in ihrer medialen Vermittlung, ist das, was auch mit Rap und Slam praktiziert wird. Was Hausmann jedoch nicht diskutierte, ist die dabei entstehende Ästhetik der Atmosphäre, die mit dem Begriff des Kairos verbunden ist. Drei Aspekte des Kairos kommen in Rap und Slam zum Tragen. Einerseits die Definition der antiken Rhetorik, die den Kairos als eine auf den Augenblick gerichtete Überredungstechnik definiert. So sind Rapper und Slammer als Rhetoren zu sehen, weil sie mit ihrem Sprechen in einem Hier und Jetzt überzeugen wollen. Dabei entfaltet sich auch das, was Paul Tillich als ein entscheidendes Moment des Kairos oder als einen Wendepunkt in der Geschichte beschrieben hat. Es handelt sich um ein historisches Moment, bei dem einerseits, insbesondere im religiösen Kontext, das Ewige das Zeitliche richtet, anderseits aber auch das Mögliche als verpasste Chance in Erscheinung tritt. Beides trifft auch auf Rap und Slam zu. Insbesondere der Rap ist mit dem den Kairos prägenden Geist der Prophetie einerseits und einer Umbzw. Neuerzählung der Geschichte andererseits verbunden. Der Rapper versteht sich daher oft als Prophet. 2 Auch dass der Reim dabei eine wichtige Rolle spielt, ist kein Zufall, da auch er mit der Aura göttlichen Wissens verbunden ist; er ermöglicht eine räumliche Darstellung der messianischen Zeit, die nicht als Endzeit, sondern als eine Zeitverdichtung vor dem Ende zu begreifen ist (Agamben 2006: 72-100). Bei der Rede des Apostels handelt es sich daher um eine performative Sprache, weil in seiner Rede nicht nur Verkündigung, Glaube und Anwesenheit, sondern auch Potenz (im Sinne von Macht und Möglichkeit) mit einem energetischen und affektgeladenen Akt zusammenfallen. Dadurch wird die Möglichkeit der sprachlichen Verkündigung realisiert. In diesem Kontext lässt das paulinische Reimspiel aus einem Text einen Organismus mit einer auf die Gegenwart seiner Artikulation fokalisierten Zeit werden. Das Gedicht wirkt Eva Kimminich 134 deshalb wie “eine soteriologische Maschine, die durch eine ausgeklügelte m chan von Ankündigungen und Wiederaufnahmen der Reimwörter - die den typologischen Beziehungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem entsprechen - die chronologische in messianische Zeit verwandelt” (Agamben 2006: 96). Das aber ist der Kairos, wie Tillich ihn erläuterte, als das Eindringen des Ewigen oder der Prophetie in das Gegenwärtige. In diesem besonderen Moment kann das Abgeschlossene, die Vergangenheit, wieder aktualisiert werden und das Unabgeschlossene, die Gegenwart, eine Art des Abschlusses erfahren; man könnte auch sagen, den Taten vergangener Zeiten wird die Möglichkeit eines Ausgleichs geboten. Agamben bezeichnet das Gedicht deshalb als ein zeitliches Gebilde, das, auf Endlichkeit hin angelegt, eine eigene Zeit entfaltet. Deshalb fällt die Geschichte des Reims auch mit der Geschichte der messianischen Verkündigung zusammen: die metrische Form zerbrach in dem historischen Augenblick, in dem die Dichter Gott für tot erklärten. Das Wiederaufleben gesprochener Verse im Rap ist daher nicht zufällig mit religiösen Kontexten verknüpft. Die Prophets of da city, Gods’ Son oder die prophètes de la rue, wie sich viele Rapper oder Rapgruppen in Afrika, den USA oder Europa nennen, treten mit ihrer Reimkunst, die mit ihren Parechesen, Binnenreimen und Assonanzen eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Reimspielen der Paulinischen Texte aufweist, mehr oder weniger bewusst eine theologische Hinterlassenschaft an und als Bevollmächtigte einer göttlichen Instanz auf. Das, was sie verkünden, ist ihr ureigenstes Evangelium. Mit ihm setzen sie jene einst messianische in eine operative Zeit um, in der sie ihr Sprechen vergegenwärtigen. Das verleiht dem Rapper wie einst dem Propheten jene ‘vulkanische Kraft’, von der Tillich schrieb, dass sie “Neues in der Zeit [schafft], weil seine Deutung der Zeit die Zeit von der Ewigkeit her erschüttert und umwendet” (Tillich 1921: 4). Das aber ist genau das, was besonders im US-amerikanischen aber auch im französischen und deutschen Rap mit den zentralen Metaphern der christlichen Heilsgeschichte und ihren endzeitlichen Wirklichkeits- und Geschichtsdeutungskonzepten gemacht wird (siehe dazu Werner 2007 und Erdmann 2009). Wenn wir diesen Wirkungsmechanismus des Gedichts außerhalb seiner religiösen Kontextualisierung betrachten, dann können wir von einer gezielten ‘Erzeugung von Evidenzen’ sprechen. Sie verleihen der prophetischen Identität des Rappers Authentizität. Sie sind aber auch die Grundlage der an der Befindlichkeit des Menschen ansetzenden Ästhetik der Atmosphäre von Böhme. Er versteht Atmosphäre als eine “gemeinsame Wirklichkeit des Wahrgenommenen und des Wahrnehmenden”. Diese gemeinsame Wirklichkeit wird in Rap und Slam nicht über die denotative Eigenschaft der Sprache erzeugt, sie entsteht vielmehr durch die gemeinsame Erfahrung des Wortes, durch Präsenz, Interaktion und Performance. Das verleiht diesen Wirklichkeiten als Erfahrungshorizonte Nachhaltigkeit. 8 Fazit Das führt uns zu folgenden Schlussfolgerungen: 1. Rap und Slam sind nicht nur eine Kultur der Präsenz, sondern auch eine Kultur der Evidenz, weil sie Einsichten sichtbar und erlebbar machen. 2. Sie lassen in der Kommunikation individuelle und soziale Entfaltung, Wirklichkeitsbeschreibungen und -entwürfe über die Schnittstelle des sprechenden Körpers als Interme- Poem und Präsenz 135 dium ineinander übergehen. Auf diese Weise wird gemeinsames ästhetisches Handeln zu einem ästhetischen Lernfeld. 3. Der Anspruch, Sätze über die Wirklichkeit der Ereignisse, Dinge und Leidenschaften und das eigene Selbst formulieren zu können, basiert bei Rap und Slam auf der Reflexion der Inszenierungsbedingungen, die in die sprachliche Performance miteinbezogen werden. So macht das persona shuttling Selbstreflexivität für einen Augenblick subjektiv wie kollektiv erlebbar. Durch Inszenierung von actual und possible worlds in der narrational textual world wird die Diskursivität des Gesprochenen aufgehoben. Das lässt Fiktionen als Fakten und Fakten als Fiktionen erscheinen, verwandelt Erzähltes vorübergehend zu (gemeinsam) Erlebtem. Bibliographie Agamben, Giorgio 2006: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Asholt, Wolfgang, Walter Fähnders (eds.) 1995: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1900-1938), Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler Böhme, Gernot 1995: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Butler, Mark 2007: “Das Spiel mit sich. Populäre Techniken des Selbst”, in: Kimminich, Eva, Michael Rappe, Heinz Geuen und Stefan Pfänder (eds.) 2007: Express yourself! Europas Kreativität zwischen Markt und Underground, Bielefeld: Tanscript, 75-101 Erdmann, Julius 2009: “Bombardement Vocale: Gewalt und Endzeitvisionen im Street- und Gangsta-Rap”, in: Kimminich, Eva (ed.) 2009: Utopien, Jugendkulturen und Lebenswirklichkeiten: ästhetische Praxis als politisches Handeln, Frankfurt a.M.: Peter Lang Fuhr, Michael 2007: Populäre Musik und Ästhetik. 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Une anthologie du slam, Paris: Spoke Edition Nadin, Mihai 1999: Jenseits der Schriftkultur: das Zeitalter des Augenblicks. Dresden/ München: Dresden University Press Neumann, Till 2009: Metaphern: Weisen der Welterzeugung im französischen und frankophonen Rap, Bachelor- Arbeit an der Universität Freiburg: Frankomedia Orjuela Adriana, Nikolai, Vera, Nikola Schrenk: “Drei Dimensionen der Slam Poetry: Performance, Ethos und Widerstand”, in diesem Band Preckwitz, Boris 2002: Nachhut der Moderne: Eine literarische Bewegung als Anti-Avantgarde, Books on Demand Preckwitz, Boris 2005: Spoken Word und Poetry Slam: kleine Schriften zur Interaktionsästhetik, Wien: Passagen Renner, Karl-Heinz und Lothar Laux 2006: “Histrionische Selbstdarstellung als performative Praxis”, in: Rao, Ursula (ed.) 2006: Kulturelle Verwandlungen. Die Gestaltung sozialer Welten in der Performanz, Frankfurt a.M.: Peter Lang Schmidt, Siegfried J. 2001: “Making stories about story-making. 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Schmidt (eds.) 2006: Kulturschutt: Über das Recycling von Theorien und Kulturen, Bielefeld: Transcript, 70-96 Siedler, Rolf 1995: FEEL IT IN YOUR BODY - Sinnlichkeit, Lebensgefühl und Moral in der Rockmusik, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag Surkamp, Carola 2002: “Narratologie und possible-worlds theory: Narrative Texte als alternative Welten”, in: Nünning, Ansgar und Vera Nünning (eds.) 2002: Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 153-183 Tatarkiewicz, W adys aw 2003: Geschichte der sechs Begriffe Kunst - Schönheit - Form - Kreativität - Mimesis - Ästhetisches Erlebnis, Aus dem Polnischen v. Friedrich Griese, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Tillich, Paul 1926: “Kairos”, in: Ders. (ed.) 1926: Zur Geisteslage und Geisteswendung. Darmstadt: Otto Reichel, 3-75 Warning, Rainer und Winfried Wehle (eds.) 1982: Lyrik und Malerei der Avantgarde, München: Fink Werner, Florian 2007: Rapokalypse. Der Anfang des Rap und das Ende der Welt, Bielefeld: Transcript Anmerkungen 1 Zur Nutzbarkeit dieses Modells für den Rap, siehe Kimminich 2004. 2 Entgegen der durch die mediale Berichterstattung stark verzerrten Vorstellung von dieser Kultur war Rap von Anfang an religiös kontextualisiert. Rap und Hip Hop wurden in den USA über die Zulu-Nation Afrika Bambaataas und durch Louis Farrakhans Nation of Islam religiös geprägt. Als sich Rap als Teil der HipHop- Kultur in den 1980er Jahren in Europa und schließlich weltweit ausbreitete, wurde er nicht nur imitiert, sondern löste auch lokale Varianten aus, die sich durch eine Appropriation und Fusion von fremden mit eigenen Kulturelementen auszeichnen und nicht selten eine Auseinandersetzung mit den fremden eigenen bzw. lokalen Traditionen mit sich brachte; in Frankreich und im Senegal wurde der religiöse Kontext aufgegriffen und in unterschiedlicher Weise ausgestaltet. Drei Dimensionen der Slam Poetry: Performance, Ethos und Widerstand Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk Slam Poetry is the contemporary version of the antique poetry contest. Processes of democratization and individualization, as well as a new code of practice have given it a new appearance. Basing their observations on the concept of Performance, originated within the field of Theatre Studies, that of Ethos, on methods of Discourse Analysis and Coordination Theory, the three authors analyse Slam Performances from France and Germany. Their results show that indeed, we are dealing with a new genre which not only serves as a means of self-presentation, but as well, as a way of creating an interactive exchange of opinion. On the one hand this new genre shows specific features and conventions on the grammatical level, as well as on the level of corporal communication, which moves gradually between an intraand interpersonal kind of performance accentuating either the spoken word or the involved audience. On the other hand, the authors observe that the process of self-representation within the text is, in fact, a rhetorical device which is bound to this specific type of text and which can be defined as an ‘Ethos of Individuality’. Not only does it contribute to the abolition of the separation between content and author, but as well to the creation of spaces for discussion, which, following Umberto Eco’s Model of Communication or rather his Concept of Guerrilla, can in turn encourage a (self)critical reception among all the persons involved. Slam Poetry ist eine neue Form des antiken Dichterwettstreits. Demokratisierungs- und Individualisierungsprozesse haben ihm eine neue Erscheinungsform und Praxis verliehen. Sich auf das Performancekonzept der Theaterwissenschaften, den Ethos-Begriff, die Diskursanalyse und die Koordinationstheorie stützend, untersuchen die drei Autorinnen Slam Performances aus Frankreich und Deutschland. Ihre Ergebnisse zeigen, dass einerseits es sich um eine neue Gattung handelt, die sowohl der Selbstdarstellung als auch einem interaktiven Meinungsaustausch dient. Sie weist dementsprechend sprachlich wie köperkommunikativ spezifische Merkmale und Konventionen auf, die sich graduell zwischen einer intra- und interpersonellen Performance bewegen, mit der der Akzent entweder auf den gesprochenen Text oder auf das angesprochene Publikum gesetzt werden kann. Andererseits wurde beobachtet, dass es sich beim Selbstdarstellungsprozess im Text um ein rhetorisches Mittel handelt. Dieses ist an die Textsorte gebunden und lässt sich als ‘Ethos der Individualität’ definieren. Er trägt dazu bei, dass die Trennung zwischen Inhalt und Autor aufgehoben wird und ein Diskussionsraum entsteht, der, wie vor dem Hintergrund des Ecoschen Kommunikationsmodells bzw. seines Guerilla-Konzepts erarbeitet wird, alle Beteiligten zu einer (selbst)kritischen Rezeption anregt. 1 Slam Poetry: Gegenstandsbestimmung Im Poetry Slam begegnen wir einem weltweiten Phänomen, das auf dem uralten Konzept des Dichterwettstreits beruht. Er wurde 1986 vom US-Amerikaner Marc Kelly Smith initiiert, der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 138 in Chicago unter dieser Bezeichnung literarische Wettkämpfe organisierte. Bei der daraus entstandenen Gattung Slam Poetry handelt es sich um eine publikumsbezogene, inszenierte und live performte Bühnenpoesie, die sich durch eine Kombination lyrischer, narrativer und szenischer Elemente auszeichnet. Das in der Jugendkultur verortete Literatur Event Poetry Slam reflektiert auf inhaltlicher und stilistischer Ebene “[…] das moderne Leben in seinen sozialen Verwerfungen, seiner Multikulturalität, Mediengelenktheit und Modebesessenheit” (Preckwitz 2005: 33). Das heißt, wir haben eine große Bandbreite von Themen, wobei sich französische Slam Texte tendenziell durch einen stärker ausgeprägten lyrischen Charakter auszeichnen als deutsche. Beide Szenen nutzen Elemente der Improvisation und der Intertextualität, etwa wie im Jazz: Zum Beispiel wenn ein Slammer den Auftritt seines Vorgängers kommentiert, auf andere Slam Texte verweist (Wiederaufnahme von Ausdrücken, bzw. Textmustern) oder diese direkt zitiert. Formal betrachtet fallen Bezüge zu literarischen Vorbildern auf und spielerische Verfremdungen von mündlichen wie schriftlichen Genres (Märchen, Fabel, Telefonat, Gebet, Ode etc.). Slam Texte zeichnen sich also durch Intertextualität, Cross-Genre, Aktualität und Kürze aus. 2 Performance und Interaktion Vor allem aber wird das aktuelle Tagesgeschehen in der Slam Poetry aus der Wirklichkeitssicht des Autors kommentiert. Er überspitzt Alltägliches und reflektiert Themen, die nicht nur gesellschaftliche Relevanz haben, sondern auch für den Einzelnen von Bedeutung sind. So wird der Slammer in zweifacher Hinsicht zum Interpreten: Er thematisiert in seinem Poem einen bestimmten Teil der lebensweltlichen Realität und dessen Bedeutung für den einzelnen oder die Gemeinschaft. Gleichzeitig tritt er in der Performance als Interpret seines eigenen Textes auf (Preckwitz 2005: 85). Performances besitzen somit Bedeutung stiftende und Identität bildende Kraft, wobei die Authentizität von größter Bedeutung ist, denn der Slammer soll den eigenen Text im Vortrag sozusagen ‘leben’. Als Ausdrucksmodi stehen ihm dazu lediglich seine Stimme und sein Körper zur Verfügung, da Hilfsmittel wie Kostüme oder Gegenstände beim Slammen verboten sind. Um glaubwürdig bzw. authentisch zu wirken, muss der Slammer daher von dem Moment an, in dem er die Bühne betritt, bis zu dem Moment, in dem er die Bühne wieder verlässt, seinen Text verkörpern: Durch den Akt der Verkörperung ist die Individualität des Autors in Szene gesetzt, der den Text in seiner eigenen Person nicht nur präsentiert, sondern ‘lebt’. Der Autor selbst ist das Medium, das seine Botschaft repräsentiert, und stellt damit einen Kommunikationskanal her, der das Publikum ebenfalls als Medium (für kollektives Feedback/ eigene Auftritte) aktiviert (Ibid. 57). Man könnte auch sagen, der Slammer inszeniert die materiale Seite der Kommunikation, indem er sie verkörpert. Der im Mittelpunkt stehende Poet wird auf diese Weise selbst zum Zeichen. Er spricht mit und durch seinen Körper zum Publikum. Deshalb gehen im Slam explizite Kommunikation, d.h. die sprachliche, und implizite, also die parasprachliche Dimension, ein symbiotisches Verhältnis ein, denn nicht nur der Text alleine zählt, sondern seine Inszenierung. Der Slam Poet trägt, wie Schulze-Tammena formuliert: […] im kurzen Moment auf der Bühne die volle Verantwortung für die Eingänglichkeit seines Vortrags und den Erfolg seines Textes, die nicht unbedingt auf der Verständlichkeit oder Drei Dimensionen der Slam Poetry 139 Klarheit des Textes basieren müssen […]. Deshalb ist die nonverbale Kommunikation (Bühnenpräsenz, Körpersprache und Kleidungsstil) genauso relevant für die Kommunikation mit dem Publikum wie der Rhythmus und Klang der Sprache, ferner die Artikulationsfähigkeit und die Modulation der Stimme (c.f. http: / / www.schule-bw.de/ unterricht/ paedagogik/ lesefoerderung/ lesetipps/ abenteuer/ text2.pdf, 02.03.09). Das gesamte Auftreten, die Bühnenpräsenz des Slammers, das heißt die Körperhaltung, die eigene Anmoderation und die Kontextualisierung, spielen demnach für die Bewertung einer Performance eine wichtige Rolle. Ebenso wichtig ist das Publikum, denn die Slam Bewegung strebte von Beginn an nach Partizipation, was zum Entstehen einer neuen Publikumskultur führte. Im Unterschied zur traditionellen, in der Hochkultur verorteten Dichterlesung, zeichnet sich der Slam durch seine offene Form aus. Sie ermöglicht es jedem, seine Stimme zu erheben (vgl. Preckwitz 2005: 30) und eröffnet eine direkte Kommunikation zwischen Autor, Publikum, Slammaster und Jury. Diese vier Aktanten befinden sich in einem Zustand der ‘Actionality’ 1 , das heißt sie sind in ständiger Bereitschaft, den jeweils anderen Feedback zu geben bzw. selbst ihrer momentanen Rolle entsprechend zu agieren. Die Aufgabe des Slammers besteht in der ästhetischen Vermittlung seines Textes, der vom Publikum und von der Jury bewertet wird. Die Juroren sollen die Vorträge kommentieren und ihre Benotung am Mikrophon begründen. Das Publikum darf über die Bewertung mitentscheiden, indem es unmittelbares Feedback auf die vorgetragenen Texte gibt oder auch selbst Punkte für die einzelnen Performances vergeben kann. Der Slammaster moderiert das gesamte Event, erklärt die Regeln, wählt die Juroren aus, bestimmt die Reihenfolge der Vorträge und präsentiert die Poeten. Zusammenfassend lässt sich Slam also folgendermaßen definieren: Es handelt sich hier um eine an Körper und Stimme gebundene Inszenierung von Texten, deren Bedeutungen performativ und erst aus der Interaktion heraus, in deren Verlauf erzeugt werden. Die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern ist daher ein konstitutives Element der Gattung Slam Poetry bzw. des Literaturevents Poetry Slam. Um dieses Interaktionsspiel zwischen Autoren und Publikum zu analysieren, stützen wir uns einerseits auf den Aufführungsbegriff von Erika Fischer-Lichte. Sie versteht die Performance als “[…] Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern […]” (zit. nach Wirth 2002: 38), der auf dem Zusammenspiel der drei Faktoren Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung basiert. Andererseits nehmen wir Bezug auf das Interaktions- und Koordinationskonzept von Deppermann/ Schmitt (2007: 17). Es fokussiert die “[…] simultan realisierten, sequenziell strukturierten und aufeinander bezogenen interaktiven Beteiligungsweisen aller Teilnehmer”, sowie das Zusammenspiel aller multimodalen Ressourcen 2 , die gleichzeitig zur verbalen Kommunikation ablaufen (Koordination). Empirische Daten liefern Beobachtungen der französischen 3 und deutschen Slam Szene 4 . Als Ergebnis ist festzuhalten, dass sich generell drei große Performance- und Interaktionstypen unterscheiden lassen. 2.1 Wenig performativ/ interaktiv: Ich und der Text Slam Auftritte, die diesem Typus angehören, zeichnen sich in Hinblick auf die performative Dimension durch den Verzicht auf ausgeprägte Mimik oder Gestik aus. Hinzu kommt, dass der Slammer seinen Text zumeist ohne Anmoderation und Vorrede in einem monotonen Tonfall abliest. Bezüglich der Interaktion lässt sich feststellen, dass der Slammer das Publikum praktisch ausschließt, indem er während seiner Performance kaum Blickkontakt, noch Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 140 irgendeine andere Art von Beziehung zum Publikum herstellt, weder durch direkte Anrede noch durch Gesten. Es handelt sich hierbei also um intrapersonelle Koordination. Der Amerikaner A LEX , der in der Bar de la Réunion auftrat, verkörpert diesen Typus. In einem Interview erklärte er uns, dass er seine Texte nur für sich schreibe: “C’est pas pour faire plaisir aux autres, c’est plutôt pour moi” (A LEX , zit. nach: Nikolai/ Orjuela 2008: 0.56). So kann er seinen Gefühlen und Gedanken Ausdruck verleihen, ihnen freien Lauf lassen und somit eine seelische Reinigung erwirken. Dies macht sich auch in seiner Performance bemerkbar. Ohne in Kontakt mit dem Publikum zu treten, bleibt sein Blick während des gesamten Vortrags auf den geschriebenen Text geheftet. Er bewegt sich nicht von der Stelle, liest schnell und ohne Pause in beinahe monotonem Tonfall. Erst am Schluss seines Vortrags, den er mit einer rhetorischen Frage beendet, hebt sich seine Stimme und er blickt für einen kurzen, prüfenden Moment auf, um das Ende des Vortrags zu signalisieren. Dieser Blick ins Publikum ist mit der Erwartung verbunden, eine Rückmeldung des Publikums zu erhalten. Kurz darauf verlässt er die Bühne. Das Publikum reagiert unmittelbar auf diese Signale und applaudiert. 2.2 Mittel performativ/ interaktiv: Ich, der Text und das Publikum Merkmale dieses Typus sind die eigene Anmoderation, der starke Einsatz von Mimik und Gestik sowie die Einbeziehung des Publikums durch direkte Ansprache und häufigen Blickkontakt. Somit wirken diese Performances interaktiver als es beim ersten Typ der Fall ist, obwohl die Texte meistens vorgelesen werden und das Publikum sich an der Gestaltung des Textes nicht aktiv beteiligt. Es handelt sich also immer noch um intrapersonelle Koordination. Der Slammer T OBIAS K UNZE , dessen Performance im Rahmen der Slam Tour mit Kuttner im Fernsehen zu sehen war 5 , beginnt seine Performance damit, den Text aus der Tasche seines Kapuzenpullovers hervorzuholen, sagt dabei kurz “Text”, lacht und das Publikum lacht mit ihm. Der Kontakt ist hergestellt und die Sympathien des Publikums scheinen ihm bereits sicher zu sein. Obgleich er seinen Text abliest, wirkt seine Performance äußerst lebendig und emotional bis leidenschaftlich, was nicht zuletzt an seiner Körpersprache, den häufigen Blicken ins Publikum und seinem schauspielerischen Talent liegt, das sich vor allem in der Art und Weise zeigt, wie er seine Stimme und seine Mimik einsetzt. Während seiner Performance steht er niemals absolut still, sondern gestikuliert und verlagert sein Gewicht rhythmisch wippend von einem Bein auf das andere. Am Ende seines Vortrags breitet er seine Arme aus, als wolle er eine Verbeugung andeuten, bedankt sich kurz und verlässt die Bühne. Obwohl er sich einer ausgeprägten Mimik und Gestik bedient, findet bei Tobias keine direkte Interaktion mit dem Publikum statt. Dennoch bezieht er das Publikum indirekt in seine Performance mit ein, indem er es häufig anblickt und es dadurch an seiner Art der Textpräsentation teilhaben lässt, d.h. er vollzieht die Belebung des Textes mit. 2.3 Stark performativ/ interaktiv: Ich und das Publikum Charakteristisch für diesen Typus ist ein freier, fließender Vortragsstil, begleitet von einer expressiven Gestik und Mimik. Körper, Stimme und Rhythmus werden nicht nur eingesetzt, um dem Text eine besondere Wirkung zu verleihen, sondern auch mit dem Ziel, bestimmte Reaktionen und Emotionen beim Publikum hervorzurufen. Ein weiteres Merkmal ist die direkte Einbeziehung des Publikums durch persönliche Anrede und ständigen Blickkontakt. Zudem fordern einige Slammer ihr Publikum des Öfteren direkt dazu auf, sich wiederholen- Drei Dimensionen der Slam Poetry 141 den Stellen laut mitzusprechen oder den Text durch Zurufe zu ergänzen. Somit ist die Möglichkeit einer interpersonellen Koordination gegeben, da der Slammer auf das unmittelbare Feedback des Publikums angewiesen ist. Sein sichtbares Verhalten wird merklich durch die Verhaltensweisen der Interlokutoren bestimmt. Bedeutung wird in diesem Falle performativ, d.h. im Verlauf des Vortrags und aus der Interaktion zwischen Publikum und Slammer heraus, erzeugt. Dieser Typus wird von dem Slammer V ERBAL verkörpert, dessen Auftritt wir in der Pariser Bar du vin in der Rue du Roi d’Alger beobachtet haben. Dem Titel seines Textes gemäß, “Je slamme, donc je suis”, performt er mit vollem Körpereinsatz. Er trägt frei und rhythmisch vor, lässt seine Blicke durch das Publikum schweifen, bedient sich vieler verschiedener Gesten, als er z.B. von seiner Wange herunter laufende Tränen mimt. Ohne seinen Vortrag zu unterbrechen, steht er langsam von seinem Hocker an der Bar auf und geht auf das Publikum zu. Seine Stimme hebt und senkt sich kontinuierlich, wird mal schneller, dann wieder langsamer. Hin und wieder macht er eine Pause, ohne das Publikum aus den Augen zu verlieren. Er bewegt sich immer weiter vorwärts, beugt sich zu einigen Zuschauern hinunter, um ihnen in die Augen zu sehen und sie direkt ansprechen zu können. Gegen Ende seiner Performance geht er rückwärts wieder zurück zu seinem Hocker. Er bleibt vor ihm stehen, spricht den letzten Satz seines Textes und bedankt sich mit einer kurzen Verbeugung. Im Unterschied zu A LEX nimmt V ERBAL also unmittelbaren Kontakt mit einzelnen Individuen im Publikum auf. Dies verleiht seiner Performance einen persönlichen und interaktiven Charakter. 3 Ethos Im Folgenden wird eine weitere Dimension der Slam Poetry beleuchtet, die sich am besten über den Begriff des ‘Ethos’ fassen lässt. Hierbei steht die Frage nach bestimmten Strategien der Selbstdarstellung und Selbstinszenierung der Slam Poeten im Mittelpunkt des Interesses. 3.1 Der Ethos Begriff Damit der Kommunikationsprozess zwischen Slammer und Publikum gelingen kann, müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein: zum einen müssen die Teilnehmer die Konstellation der Kommunikationspartner und deren jeweilige Selbstpositionierungen richtig einschätzen. Zum anderen müssen aber auch die mit der Kommunikationshandlung einhergehenden kommunikativen Regeln, Normen und Konventionen beachtet werden. Eine Kommunikationshandlung kann also erst erfolgreich sein, wenn die Rollenverteilung (Sprecher/ Hörer) von allen Kommunikationspartnern akzeptiert wird. Für den Slammer bedeutet dies, dass er, um seine Sprecherrolle in der Partnerkonstellation einnehmen zu können, seine Kompetenz nachweisen muss. Dieser Legitimationsprozess ist bereits Teil des Produktionsprozesses und hat insofern großen Einfluss auf Auswahl und Zusammenstellung der Textkomponenten auf allen Textebenen (thematische, sprachliche, pragmatische), als dieser für den Slammer darin besteht, durch seinen Diskurs ein bestimmtes, zum Kommunikationsrahmen passendes ‘Image’ von sich zu vermitteln: “Toute interaction sociale exige que les acteurs donnent par leur comportement volontaire ou involontaire une certaine impression d’eux-mêmes qui contribue à influencer leurs partenaires dans le sens désiré” (Amossy 1999: 13). Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 142 Die (selbst-)Legitimation erfolgt in der Slam Poetry also über die Selbstdarstellung, bzw. Selbstverkörperung. Um dieses zum Kommunikationsrahmen passende Image näher zu bestimmen, wird in der modernen Diskursanalyse (u.a. Ducrot, Maingueneau, Amossy), in Rückgriff auf die antike/ klassische Rhetoriklehre (Aristoteles), der Begriff des ‘Ethos’ wieder aufgenommen 6 . Ein solches Ethos entsteht aufgrund des allgemeinen Tones eines Textes und aufgrund von ‘Spuren des Sprechers’. Es handelt sich also um ein Bündel sprachlicher Merkmale, die über den Sprecher, seinen Charakter, seine Überzeugungen, gegebenenfalls sogar seinen Gemütszustand Auskunft geben und einen positiven Gesamteindruck von ihm entstehen lassen. Letzterer entspricht dem kommunikativen Rahmen und trägt somit zur erfolgreichen Durchführung der Kommunikationshandlung bei (vgl. Barthes 1966: 212). Das Ethos dient dem Sprecher zur Inszenierung seiner selbst als legitime Figur der Diskurswelt, in der die Kommunikationshandlung stattfindet. Es verweist auf “[…] la figure de ce garant qui, à travers sa parole, se donne une identité à la mesure du monde qu’il est censé faire surgir dans son énoncé” (Maingueneau 1999: 80). 7 Die Eigenschaften des Ethos, d.h. die Qualitäten des für den jeweiligen Kommunikationsakt kompetenten und berechtigen Sprechers sind textsortengebunden 8 . Je nach Textsorte wird der Sprecher mit anderen Erwartungen konfrontiert und muss, um sich in seiner Rolle zu legitimieren, anderen Maßstäben gerecht werden. So werden beispielsweise vom Verfasser eines wissenschaftlichen Textes Eigenschaften wie Objektivität, fachliche Kompetenz oder Anspruch auf Allgemeingültigkeit seines Diskurses usw. erwartet, während ein Publizist durch eine wertende, kritische Haltung gegenüber politischen Geschehnissen “aktiv an der öffentlichen Meinungsbildung teilnimmt” (Duden). Dieses Beispiel macht auch deutlich, dass das Ethos als abstrakt und überindividuell zu verstehen ist. Selbst wenn es sich als den Eindruck definieren lässt, den ein Sprecher über die Auswahl bestimmter sprachlicher Mittel in einem Text von sich selbst vermittelt, ist das Ethos aber nicht mit dem Sprecher als empirischem Wesen verbunden, sondern mit dem Sprecher als (abstrakter) Diskursinstanz (vgl. Ducrot 1984: 201 u. Maingueneau 1999: 76). Dass der Sprecher im Prozess der Selbstdarstellung gewissen Erwartungen gerecht werden muss, zeigt weiterhin, dass das Ethos des Sprechers nicht ausschließlich in einer einzelnen Kommunikationssituation entsteht: Aufgrund ihrer Textsortenkompetenz, d.h. ihrer Kenntnis der Konventionen und Regeln, die für die einzelnen Textsorten Gültigkeit besitzen 9 , haben Produzent und Empfänger eines Diskurses noch vor dessen Produktion eine mehr oder weniger klare Vorstellung von der zu dieser Kommunikationshandlung passenden Sprecherhaltung (vgl. Maingueneau 1999: 78). Es muss also zwischen einem vor der Produktion des einzelnen Textes bereits bestehenden und einem erst im Produktionsprozess entstehenden Image des Sprechers unterschieden werden; eine Unterscheidung, die in der Diskursanalyse durch das Begriffspaar ‘ethos préalable’ vs. ‘ethos discursif’ erfasst wird. Erst wenn das ‘ethos préalable’ und das ‘ethos discursif’ hinreichend übereinstimmen, sind die Bedingungen für einen erfolgreichen Legitimationsprozess des Sprechers gegeben. 3.2 Das Slammer Ethos Welchen Beitrag kann der Ethosbegriff nun zur Beschreibung von Slam Poetry als Textsorte 10 oder literarischer Gattung leisten? Wir haben gesehen, dass die (Selbst)Legitimation im Slam über die Selbstdarstellung bzw. Selbstverkörperung erfolgt. Obwohl diese Gattung Freiheit und Offenheit für sich beansprucht und jegliche Norm ablehnt, die eine bestimmte Sprecher- Drei Dimensionen der Slam Poetry 143 haltung vorschreiben würde, lässt sich bei den Slam Poeten wiederholt das Bewusstsein beobachten, bei ihren Performances in eine Rolle zu schlüpfen. H ARRY und R IM beschrieben das folgendermaßen: C’est comme un jeu, c’est comme se mettre en scène - mais sans se prendre au sérieux […] C’est comme si je jouais une pièce, comme si je jouais un personnage, mais un personnage qui est bien moi - mais un personnage quand même, à chaque fois (H ARRY , zit. nach Schrenk 2008: 2.31). Je m’amuse à me mettre dans la peau de tel ou tel personnage. […] Moi, c’[est] vraiment jouer une seconde vie pour certains textes. […] Je m’invente une autre vie (R IM , ibid.: 2.23). Derartige Aussagen sind ein Indiz dafür, dass sich die Slammer beim Vortragen bewusst inszenieren und damit auch gezielt eine bestimmte Sprecherhaltung einnehmen. Sie sind sich also bei aller gattungskonstitutiven individuellen Freiheit bewusst, als Mitglieder einer bestimmten Sprechergemeinschaft, die aus Slammern und “aficionados” (Massot 2007: Vorwort) besteht, in einem öffentlichen, inzwischen kodifizierten Kommunikationsrahmen aufzutreten und damit als Sprecher mit bestimmten Erwartungen konfrontiert zu werden. Dieses Bewusstsein fließt in den Produktionsprozess ein und bestimmt unter anderem auch die Auswahl der Mittel zur Selbstdarstellung. Der Slammer selektiert die Komponenten seines Kommunikationsbeitrages aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit erfolgreichen bzw. misslungenen Texten in ähnlichen Kommunikationssituationen. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass auch im Slam der Erfolg der Performance mit der Vermittlung eines bestimmten Ethos verbunden ist. Dieses Ethos setzt sich aus den wiederkehrenden, vielleicht teilweise bereits konventionalisierten Merkmalen zusammen, durch die sich der Sprecher als Slammer zu erkennen gibt. Einem Diskurs liegt also immer dann ein bestimmtes Ethos zugrunde, wenn sich ein Bündel kongruenter Merkmale herausarbeiten lässt, deren Zusammenspiel ein einheitliches/ kohärentes Bild des Sprechers erzeugt. Mit dem Vollzug einer Kommunikationshandlung vermittelt der Sprecher aber bereits zwangsläufig ein Bild von sich, denn, wie Ruth Amossy (1999: 9) bemerkt, ist bereits jede Ergreifung des Wortes mit der Konstruktion eines Bildes des Sprechers verbunden, unabhängig davon, ob dieses Bild gezielt hergestellt wird oder unreflektiert entsteht. Dennoch geht die Diskursanalyse davon aus, dass die Konstruktion eines solchen Bildes vom Sprecher ein, wenn auch im Einzelfall mehr oder weniger bewusst und geschickt, gesteuerter Prozess ist. Der Produzent eines Diskurses orientiert sich also an Vorstellungen, auf deren Grundlage er entscheidet, welche Sprecherhaltung zur Erfüllung seiner kommunikativen Absicht am besten geeignet ist. Das aber heißt, der Selbstdarstellungsprozess sowie die aktive Konstruktion eines bestimmten Ethos im Text ist ein rhetorisches Mittel. Folgende Vermutung liegt nahe: Je stärker kodifiziert eine Kommunikationsform/ Textsorte ist, desto ausgeprägter sind die Merkmale des jeweils passenden Ethos, und desto wichtiger ist es, dass der Sprecher die passende Sprecherhaltung einnimmt. 3.3 Das ‘Slammer Ethos’ - ein ‘Ethos der Individualität? ’ Das Ethos ist, wie dargelegt, also an die jeweilige Kommunikationsform bzw. Textsorte gebunden und lässt sich von den für sie konstitutiven Normen und Konventionen ableiten. Die Rekonstruktion eines Slammer-Ethos setzt daher eine genauere Auseinandersetzung mit den für diese Gattung konstitutiven Normen und Konventionen voraus. Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 144 Neben dem prinzipiellen Anspruch auf kreative Freiheit, soziale Grenzenlosigkeit und demokratische Offenheit sowie der Ablehnung literarischer Vorschriften, spielt im Slam auch die Dimension des Wettbewerbs (‘compétition’), die nach festen Regeln, einem “rituel dramatique” (www.new.planetslam.com, 26.08.08) ablaufen, eine wichtige Rolle. Die meisten dieser Regeln beeinflussen vor allem die Form der Performance an sich und sind für die Rekonstruktion des Slammer-Ethos irrelevant. Interessant sind in diesem Hinblick nur die Vorschriften, die mit der äußerlichen Erscheinung der Teilnehmer verbunden sind und zwar in dem Maße, wie sie das Bild des Sprechers teilweise mitbestimmen: “Les costumes et déguisements sont interdits. Le poète doit porter les vêtements qu’il porte dans la vie de tous les jours” (http: / / www.ffdsp.com, 22.8.08). Den genannten Konventionen/ Prinzipien liegen also das Bekenntnis zur Ausdrucksfreiheit und die künstlerische Gleichberechtigung aller Teilnehmenden zugrunde: Ein jeder, der diese Regeln befolgt, ist daher berechtigt, im Rahmen einer Slam Veranstaltung das Wort zu ergreifen. Paradoxerweise bringen diese Prinzipien aber die Forderung an den Slammer mit sich, auf der Bühne ‘sich selbst’ zu sein und als ‘sich selbst’ aufzutreten - d.h. als ein Authentizität garantierendes Individuum und nicht als Vertreter einer literarischen Gruppe oder Mitglied einer Gemeinschaft. Der prototypische Slammer tritt also als Individuum auf, das sich seiner Einzigartigkeit/ Individualität bewusst ist und diese als Instrument braucht, um im Wettbewerb bestehen zu können. Daraus leitet sich die Hypothese ab, dass das Slammer Ethos ein Ethos der Individualität ist, denn der erfolgreiche Selbstdarstellungsprozess im Slam besteht in der überzeugenden Inszenierung der eigenen Individualität. 3.3.1 Inszenierung von Individualität: Formen und Beispiele Die immer wiederkehrenden Formen/ Mittel dieser Individualitätsinszenierung lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Zum einen solche, bei denen explizit ein thematischer und/ oder sprachlicher Zusammenhang zwischen Sprecherfigur und vorgetragenem Text hergestellt wird, und zum anderen jene, bei denen ostentativ die eigene Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Normen demonstriert wird. Diese Kategorien entsprechen den bereits genannten Dimensionen des Ethos als das über den Diskurs zu rekonstruierende/ entstehende Bild von ‘Charakter’ und ‘Korporalität’ des Sprechers. 3.3.2 ‘Charakter’ im Slammer Ethos: Herstellung eines thematischen Zusammenhangs zwischen vorgetragenem Text und Sprecherfigur Sprachliche Merkmale • Subjektivität/ Expressivität: In einem prototypischen Slam Text greift der Slammer massiv auf subjektive Einstellungen und sprachliche Mittel zurück, die persönliche Stellungnahmen indizieren. H ARRY , R IM und J AMAL nehmen auf Basis von moralischen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen in ihren Performances direkte oder indirekte Evaluationen vor, die meist explizit ihren eigenen Meinungen entsprechen. Drei Dimensionen der Slam Poetry 145 • Deiktische Verankerung: Typisch für Slam Texte ist die Verwendung von deiktischen Morphemen (“je”, “tu”, “nous”) und Adverbialen (“aujourd’hui”). Viele Slammer sprechen ihr Publikum direkt an wie R IM (ibid.: 639) “Alors expliquez-moi pourquoi […]” oder beziehen dieses in ihre Aussagen mit ein. Hierdurch entstehen zwei unterschiedliche Kommunikationssituationen: Einerseits wird eine direkte Verbindung zum Slammer und der aktuellen Kommunikationssituation etabliert, andererseits entsteht eine fiktionale Situation, sodass die Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit, dem Sprecher als Diskursinstanz und dem Slammer als empirischem Wesen fließend werden. • Variationen im Diasystem: Im Französischen sind diatopische, diastratische und diaphasische Variationen meist negativ konnotiert und werden aus diesem Grunde im alltäglichen, offiziellen Kommunikationsrahmen vermieden. Slam Texte hingegen weisen in dieser Hinsicht einen hohen Grad an Variation auf. Die Slammer geben so zu erkennen, dass sie sich bei der Auswahl ihrer sprachlichen Mittel nicht an standardisierte Richtlinien halten und von ihrer gewohnten Ausdrucksweise nicht abweichen möchten. Zu diesen Variationen gehören wie bei R IM z.B. die Übernahme von Argot-, Verlan- und dialektalen Wörtern (“une meuf”, “si tu veux qu’un mec te tringle” (Ibid.: 6.54-56). Möglich sind auch phonologische Besonderheiten, beispielsweise ein bestimmter Akzent. • Verhältnis zum Publikum: Die für Slam Texte konstitutive Appellfunktion wird über Mittel realisiert, die dazu beitragen, den Sprecher als (normales/ durchschnittliches) Individuum erscheinen zu lassen: Über Formen der ersten Person Plural bezieht der Slammer das Publikum in seinen Diskurs mit ein, stellt sich und die Hörer aber dadurch auch als Mitglieder ein und derselben Gruppe dar. Dabei ist es nicht nötig zu präzisieren, welche Gruppe gemeint ist, wichtig ist nur, dass der Sprecher dadurch bei den Zuhörern als “einer von ihnen” gilt. Dies wird beispielsweise deutlich durch Aussagen wie: “Paroles de nos ancêtres […]” (H ARRY , Ibid: 5.34) oder “On est tous des êtres humains […]” (J AMAL , Ibid.: 8.15). Thematische Merkmale • Autobiographisches: In prototypischen Slam Texten werden Situationen und Sachverhalte thematisiert, bei denen ein autobiographischer Bezug zum Slammer naheliegend erscheint. Dieser Eindruck entsteht u.a. aufgrund des alltags- und anekdotenhaften Charakters der meisten Themen (Familie, Freunde, Krisen im Beruf, Arbeitslosigkeit, Gewalt im Alltag), bei denen sich vermuten lässt, dass die Aussagen des Sprechers auf eigenen Erfahrungen basieren, wie es beispielsweise bei H ARRYS Performance der Fall ist. • Autoproklamierte Distanzierung von den Normen: Die Inszenierung der Individualität kann auch durch die autoproklamierte Emanzipation von allen künstlerischen- oder Wirklichkeitszwängen erfolgen. Der Slammer tritt dann wie J E SUIS VENU INCOGNITO als ein Mensch auf, der sich seine eigenen Regeln setzt und nur seinen eigenen Gesetzen gehorcht. Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 146 • Nachdenken über die eigene Stellung in der Welt: Die Inszenierung von Individualität liegt auch den Texten zugrunde, in denen es den Slammern wie H ARRY oder J AMAL darum geht, sich in ihrer (sozialen, politischen, menschlichen) Umwelt zu situieren und ihren Zweifeln, Ängsten, Forderungen in diesem Hinblick Ausdruck zu verleihen. 3.3.3 ‘Korporalität’ im Slammer Ethos: Ostentative Demonstration der eigenen Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Normen durch nichtsprachliche Zeichen • Expressiv-emotionale Komponenten: Das Individuum im Sprecher kommt auch über die expressiven Komponenten im Diskurs zum Vorschein. Besonders gut sind diese in den Performances von D AME G ABRIELLE , V ERBAL und Y AS zu beobachten. Über ihre appellative Funktion hinaus verleiht eine gefühlsgeladene Vortragsweise dem Diskurs eine expressiv-emotionale Dimension, wodurch die Abstraktheit der Sprecherinstanz (als Figur der Diskurswelt) aufgehoben wird: Dadurch signalisiert der Sprecher die Übereinstimmung seiner diskursiven Rolle mit seinem empirischen Wesen, und zwar unabhängig davon, ob er als empirisches Wesen nun die Gefühle, denen er als Figur der Diskurswelt Ausdruck verleiht, empfindet oder nicht. Entscheidend ist, dass diese Gefühle ihn zum emotionalen Wesen (und nicht etwa zu einer übergeordneten abstrakten Diskursinstanz) machen. • ‘Coolness’/ Kleidung Zur expliziten Distanzierung von allen dem sozialen Menschen aufgedrängten Normen und Konventionen passt ein allgemein locker-lässiges und ungezwungenes Auftreten des Sprechers. Dies spiegelt sich auch in der, den Regeln entsprechenden, meist unauffällig alltäglichen Kleidung der Slammer wieder. Ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen/ kulturellen Gruppe oder zu einer Berufsklasse und die damit verbundenen Verhaltenskonventionen treten so in den Hintergrund. Durch ihre Haltung geben sie zu erkennen, dass sie nicht in einer dieser sozialen Rollen auftreten, sondern die Slam Bühne als einen Ort verstehen, an dem sich das Individuum nicht verstellen oder hinter Requisiten verstecken muss, einen Ort, an dem Öffentlichkeit und unverstellte Individualität vereinbar sind 11 . • Körpersprache: Zur ungezwungenen Körperhaltung gehört, wie in den Performances von D AME G ABRIELLE und Verbal, auch oftmals eine Gestik, die an diejenige des Rap erinnert. Als Fazit lässt sich festhalten, dass trotz der Vielseitigkeit und Unterschiedlichkeit der untersuchten Slam Performances, allen Künstlern eines gemein ist: Sie legen alle sehr großen Wert darauf, ihre eigene Individualität zu betonen, indem sie bewusst als Individuen auftreten und sich als solche inszenieren. Da dies zu den Regeln des Genres gehört, weil es nötig ist, ein bestimmtes Bild von sich zu erzeugen, um Erfolg zu haben, kann hier von einem Ethos des Slammers gesprochen werden. Es handelt sich um ein Mittel zur Inszenierung seiner selbst als legitime Figur der Diskurswelt (Maingueneau 1999: 80). Daher können wir von einem ‘Ethos der Individualität’ sprechen. Drei Dimensionen der Slam Poetry 147 4 Subversion und Widerstand In seinem Essay ‘Für eine semiologische Guerilla’ von 1967, der in dem Sammelband Über Gott und die Welt im Jahre 1986 wiederveröffentlicht wurde, hat Umberto Eco in visionärer Weise die mit der Kommunikation und den Massenmedien einhergehenden Probleme in der heutigen Gesellschaft erörtert, sowie deren machtpolitische Facetten und narkotisierende Wirkung auf die Rezipienten herausgestellt. Gerade dieser letzte Punkt wird von den so genannten ‘Apokalyptikern’ als ‘tragische Konsequenz’ der technologisierten und entpersonalisierten Massenkommunikation erkannt, wenn es heißt: […] Losgelöst von den Inhalten der Kommunikation empfange der Adressat der massenmedialen Botschaften nur noch eine globale ideologische Lektion, den Appell zur narkotisierenden Passivität. Im Sieg der Massenmedien sterbe der Mensch (Eco 1986: 148). Im Gegensatz zu dieser pessimistischen Position, die das Problem in der einzigen zentralisierten und industriell organisierten Quelle sowie des Kanals sieht, beginnen für Eco die Probleme vielmehr mit dem Code, der zur Entschlüsselung der technischen Kommunikation (Signal) notwendig ist. Dabei handelt es sich grundsätzlich um ein im Voraus festgelegtes System von Wahrscheinlichkeiten, das als Entscheidungshilfe der Differenzierung von intentionalen (von der Quelle gewollten) Elementen der Botschaft oder Folgen von Störgeräuschen dient. Darüber hinaus verändert sich dieser Schlüssel auf entscheidende Weise soweit er in Konnexität zur sozialen Situation des Empfängers steht bzw. aus dessen Sicht und eingebunden in sein Wertesystem einen anderen Bedeutungsgehalt erfährt. Eco spricht hier von der Interpretationsvariabilität als Grundgesetz der Massenkommunikation. Danach “[…] gehen die Botschaften von einer zentralen Quelle aus und gelangen in sehr verschiedene soziale Situationen mit sehr verschiedenen Codes” (Ibid.: 152). Insofern gilt für Eco nicht die von Marshall McLuhan propagierte These “The medium is the message”, sondern “[…] »die Botschaft ist vom Code abhängig«” (Ibid.: 153). Aus dem Umstand heraus, dass niemand den Modus reguliert, in dem der Empfänger die Botschaft gebraucht, leitet er den Ansatz zur Kontrolle ab: “Ich propagiere hier keineswegs eine neue und noch viel schlimmere Form von Kontrolle der öffentlichen Meinung. Ich propagiere ein Handeln, das die Adressaten der Medien dazu bewegt, die Botschaft und ihre vielfachen Interpretationsmöglichkeiten zu kontrollieren” (Ibid.: 155). Diese Aussage bezieht sich auf die damaligen neuen Kommunikationsformen, wie Sit-in- Meetings von Studenten auf dem Campus-Rasen, und deutet an, dass sich durch solche Aktionen eine Kommunikations-Guerilla entwickeln könnte: “Eine komplementäre Manifestation, eher ergänzend als alternativ zu den Manifestationen der Technologischen Kommunikation, eine permanente Korrektur der Perspektiven, eine laufende Überprüfung der Codes, eine ständig erneuerte Interpretation der Massenbotschaften. Die Welt der Technologischen Kommunikation würde dann sozusagen von Kommunikationsguerilleros durchzogen, die eine kritische Dimension in das passive Rezeptionsverhalten einbrächten” (Eco 1986: 156). Wenn Eco also von einer Guerilla-Taktik im Kampf gegen die Systeme der Massenkommunikation spricht, bezieht er sich auf die Notwendigkeit der Schaffung ergänzender sowie weltweit zugänglicher Kommunikationssysteme, um eine Diskussion über die Botschaft im Augenblick ihrer Ankunft und mit Berücksichtigung der jeweiligen Empfängercodes zu ermöglichen. Angesichts der Entwicklung unseres Kommunikationszeitalters sieht Eco in der Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 148 Entstehung solcher Diskussionsräume, die zu einer kritischen Rezeption anregen, die einzige Rettung für frei denkende Menschen. Aufgrund der unmittelbaren Interaktion zwischen Quelle und Adressat auf einem Poetry Slam konstituiert sich eine bestimmte Art von Diskussionsraum. Zum einen wird durch die Verkörperung der Botschaft durch den Slammer die Trennung zwischen Inhalt und Autor aufgehoben. Diese Körpergebundenheit der Botschaft, deren Bedeutung performativ und interaktiv erzeugt wird, verhindert die Entleerung derselben und verkleinert die Kluft zwischen den verschiedenen zur Verfügung stehenden Codes von Autor und Rezipienten. Da es sich aber im Falle des Slam um eine Form von ästhetischer Kommunikation handelt, wird dennoch insofern Raum für eine gewisse Interpretationsvariabilität gelassen, als die Botschaften bewusst mehrdeutig formuliert werden, um einen Reflektionsprozess beim Empfänger in Gang zu setzen. Zum anderen ist die Möglichkeit einer kritischen Rezeption in Form von Bewertungen durch die Jury und der aktiven Partizipation des Publikums gegeben. Etliche Performance Poems sind so angelegt, dass sie unmittelbare Stellungnahmen und Zwischenreaktionen des Publikums provozieren. Dieses Feedback wird vom Performer bewusst für seine Arbeit am Thema gesucht und geht in die weitere Bearbeitung seiner Texte ein (Preckwitz 2005: 85). Laut Eco kann die Idee einer alternativen Form von Gemeinschaftsleben, die sich gegen den negativen Einfluss der technologischen Kommunikationsgesellschaft wehrt, jedoch nur verwirklicht werden, indem auf die gegebenen Mittel der technologischen Mediengesellschaft zurückgegriffen wird. Das trifft auf die Slam Bewegung zu: Diese konnte sich gerade durch die Nutzung der Neuen Medien international verbreiten. So lassen sich beispielsweise über Online-Portale wie Youtube.com oder MySpace.com hunderte von Slam Videoclips betrachten und bewerten: Slam als internationale Bewegung ist von den Informations- und Kommunikationsströmen der zweiten industriellen Revolution (Computer, Multimedia, Internet) inspiriert. Ein Großteil der Vernetzungsarbeit erfolgt über interaktive Medien wie das Internet, angefangen von Websites und Homepages bis hin zu Newslettern via E-Mail (Ibid.: 32). Weiterhin lassen sich die Beliebtheit und der zunehmende Erfolg des Slam nicht nur durch seinen Event-Charakter, sondern auch durch die Anpassung seiner Strukturen und Funktionen an eine massenmedial geprägte und von bestimmten Sendeformaten beherrschte Gesellschaft erklären, insbesondere weil die vorausgesetzte Aufmerksamkeitsspanne auf die Konsumgewohnheiten des Publikums abgestimmt wird. 12 Slam Vorträge einzelner Interpreten dauern im Regelfall nicht länger als zehn Minuten, so dass sich das Publikum voll und ganz auf die Inhalte und die Performance konzentrieren kann. Dadurch sind die Zuschauer auch in der Lage, sich schnell auf den nächsten Vortrag einzustellen. Obwohl oder gerade weil sich die Slam Kultur der massenmedialen Plattformen bedient und das Publikum zur Partizipation explizit auffordert, besitzt sie möglicherweise das nötige Potential, sich zu einer ‘Kommunikations-Guerilla’ im Sinne Ecos zu entwickeln. Damit würde sie auch dessen Forderung nach einer Kontrollinstanz der Botschaft und ihrer Interpretationsvielfalt erfüllen. Abschließend ist festzustellen, dass sowohl die Legitimation, als auch das subversive Potential des Slam aus dem Ethos des gesprochenen und vor allem des verkörperten Wortes hervorgeht. Auf diese Weise kann im Sinne Ecos durchaus eine gewisse Kontrolle ausgeübt werden: Einerseits was die Bedeutung und Entschlüsselung von Botschaften anbelangt, zum Drei Dimensionen der Slam Poetry 149 anderen aber auch bei der Vermittlung und der kritischen Reflexion politisch und sozial relevanter Themen. Literatur Primärliteratur Anders, Petra (ed.) 2008: Texte und Materialien für den Unterricht: Slam Poetry, Stuttgart: Philipp Reclam Martinez, Stéphane 2002: Anthologie du Slam, Paris: Editions Seghers Martinez, Stéphane 2007: Slam entre les mots, Paris: Editions de La Table Ronde Massot, Florent (ed.) 2007: Blah! : Une anthologie du slam, Paris: Spoke Edition Sekundärliteratur Amossy, Ruth (ed.) 1999: Images de soi dans le discours - La construction de l’éthos, Lausanne / Paris: Delachaux et Niestlé Amossy, Ruth 1999: “L’éthos au Carrefour des disciplines: rhétorique, pragmatique, sociologie des champs”, in: Amossy, Ruth (ed.) 1999: Images de soi dans le discours - La construction de l’éthos, Lausanne / Paris: Delachaux et Niestlé Anders, Petra 2008: Slam Poetry, Stuttgart: Reclam Austin, John 1962: How to do things with words, Oxford: University Press Barthes, Roland 1966: Critique et vérité, Paris: Editions du Seuil Charaudeau, Patrick und Dominique Maingueneau 2002: Dictionnaire d’analyse du discours, Paris: Editions du Seuil Deppermann, Arnulf und Reinhold Schmitt 2007: “Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes”, in: Schmitt, Reinhold (ed.) 2007: Koordination: Analysen zur multimodalen Interaktion (= Studien zur deutschen Sprache 38), Tübingen: Narr, 15-54 Deppermann, Arnulf und Reinhold Schmitt 2007: “Monitoring and Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution von Interaktionsräumen”, in: Schmitt, Reinhold (ed.) 2007: Koordination: Analysen zur multimodalen Interaktion (= Studien zur deutschen Sprache 38), Tübingen: Narr, 95-128 Ducrot, Oswald 1984: Le dire et le dit, Paris: Minuit Eco, Umberto 1967: “Für eine semiologische Guerilla”, in: Eco, Umberto (ed.) 1986: Über Gott und die Welt, München: Hanser, 146-156 Eco, Umberto 1972: Einführung in die Semiotik, München: Fink Maingueneau, Dominique 1999: “Ethos, scénographie et incorporation”, in: Amossy, Ruth (ed.) 1999: Images de soi dans le discours - La construction de l’éthos, Lausanne / Paris: Delachaux et Niestlé Musner, Lutz und Heidemarie Uhl (ed.) 2006: Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften, Wien: Löcker Nünning, Ansgar (ed.) 2004: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 3. Auflage, Stuttgart: Metzler Preckwitz, Boris 2005: Spoken Word und Poetry Slam: kleine Schriften zur Interaktionsästhetik, Wien: Passagen Searle, John 1999 (1969): Speech acts, Cambridge: University Press. Sidran, Ben 1985: Black Talk. Schwarze Musik - die andere Kultur im weißen Amerika, Hofheim: Wolke Wirth, Uwe (ed.) 2002: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/ M: Suhrkamp Filmographie Kimminich, Eva (ed.) 2008: Vocal Arts - Stimm- und Sprechkulturen des 21. Jahrhunderts, bestellbar unter kimminich@aol.com Nikolai, Vera und Adriana Orjuela 2008: “Performanz”, in: Kimminich, Eva (ed.) 2008: Vocal Arts - Stimm- und Sprechkulturen des 21. Jahrhunderts, bestellbar unter kimminich@aol.com Schrenk, Nikola 2008: “Ethos und Identität - Selbstdarstellung und Selbstinszenierung in Slam Poetry”, in: Kimminich, Eva (ed.) 2008: Vocal Arts - Stimm- und Sprechkulturen des 21. Jahrhunderts, bestellbar unter kimminich@aol.com Vera Nikolai, Adriana Orjuela und Nikola Schrenk 150 Internetseiten www.ffdsp.com/ www.newplanetslam.com www.le.slam.org www.schule-bw.de/ unterricht/ paedagogik/ lesefoerderung/ lesetipps/ abenteuer/ text2.pdf www.slamburg.de www.wikipedia.org Anmerkungen 1 Der Begriff der actionality wurde von Ben Sidran geprägt, um die spezifische Kommunikationsweise der Oral Culture zu definieren. Sie beruht zunächst auf Anwesenheit und Unmittelbarkeit. Unter Actionality versteht Sidran infolgedessen das Agieren und Reagieren innerhalb eines Kommunikationsprozesses und die sensible Wahrnehmung kleinster Informationseinheiten als Grundlage spontanen Improvisierens, das er als höchste Ausdrucksform erachtet (Sidran1986: 27 ff.). 2 Stimme, Lautstruktur, Blick, Mimik, Körperhaltung, Körperorientierung, Position im Raum und Bewegungsarten. 3 Es handelt sich um Filmaufnahmen dreier Poetry Slams im Rahmen des Forschungsseminars “Reim und Rhythmus, Laut und Lyrik” im Juli 2008 in Paris (Bar de La Réunion, Bar du vin in der Rue du Roi d'Alger, La Bellevilleoise). 4 Slam Tour mit Kuttner, Sat 1 Comedy. 5 http: / / www.youtube.com/ watch? v=48jWAPJlYFM, 17.02.09; http: / / www.sat1comedy.de/ exklusiv/ slam_tour/ , 17.02.09. 6 Aristoteles bezeichnet den Ethos neben Logos (Folgerichtigkeit und Beweisführung) und Pathos (rednerische Gewalt und emotionaler Appell) als eine der drei Arten der Überzeugung, nämlich die durch Autorität und Glaubwürdigkeit des Sprechers. 7 Die Bezeichnung der Sprecherinstanz als 'Figur' ist insofern gerechtfertigt, als dass der Leser/ Hörer mit dem im Text entstehenden Bild vom Sprecher über den allgemeinen Ton des Diskurses hinaus auch gewisse psychische und körperliche Eigenschaften verbindet; über den Diskurs entstehen Vorstellungen von 'Charakter' und äußerlicher Erscheinung ('Korporalität') des Sprechers (cf. Maingueneau 1999: 79). 8 Bzw. sie hängen von den konstitutiven Merkmalen der jeweiligen Kommunikationsform ab. Selbstverständlich soll hier nicht suggeriert werden, es handele sich bei jeder Form von Kommunikation um eine Textsorte. 9 Hierzu zählt unter Anderem auch die Zugehörigkeit des einzelnen Textes zu einem übergeordneten Diskurs. 10 Ob im Falle der Slam Poetry von einer Textsorte oder eher von einer Gattung gesprochen werden muss, wäre in anderem Rahmen noch zu klären. 11 Paradox ist hier nur, dass die Ablehnung von äußerlichen Ausdrucksformen des offiziellen Austauschs, wie er in den meisten Berufsbranchen kodifiziert ist, durch die Übernahme der Konventionen anderer sozialer Gruppen erfolgt. Auch der lässig-lockere Look folgt bestimmten Regeln. 12 Vgl. http: / / www.schule-bw.de/ unterricht/ paedagogik/ lesefoerderung/ lesetipps/ abenteuer/ text2.pdf Videoloops - Zeichen ohne Aura? Mathias Spohr The video loops shown in the dance locations (clubs) of the 1990es are the subject of this essay. I do not ask: “How do these ‘signs’ create anything like identity in the field of youth culture? ” but: “Do they convey any identity at all? ” My personal answer is ‘no’. I try to relate these signs and furthermore, the culture of these years to Walter Benjamin’s statements about early cinema. He observed a general loss of ‘aura’ caused by the mass media. - For their audience, the video loops are just passing by. They do not mediate any ‘spirit’ (Geist, as called by Hegel). On the contrary they should allow a temporary neglect of identities, such as the corporate identities of everyday life. Die Video-Loops der Techno-Kultur in den 1990er-Jahren werden hier mit dem Kino der 1930er-Jahre verglichen, von dem Walter Benjamin sagte, dass es dem Kunstwerk seine “Aura” raube. Die Reproduktion, die ihre Mechanik offen legt, ‘erwidert nicht den Blick’ ihres Betrachters, wie hier Benjamins Begriff der Aura in Anlehnung an Dieter Mersch verstanden wird, sondern sie bleibt mit Absicht etwas Blindes, Lebloses, aber Beherrschbares. Die Vorstellung, dass menschliche Formen im Gegenteil ein Wesen oder einen Geist haben könnten, wird historisch bis zu Hegel zurückverfolgt. Der Verzicht darauf, so die These dieses Aufsatzes, ist die Gemeinsamkeit zwischen dem Kunstwerk ohne Aura gemäß Benjamin und den Loops der Techno-Kultur. Das Publikum kann sich dadurch der Verpflichtung auf Konzentration, Verständnis, Identität entziehen, wie sie ein ‘Werk’ im Sinne des 19. Jahrhunderts und, noch konkreter, die Pflichten des Alltags verlangen. 1 Einleitung Loops sind kurzzeitige Aufzeichnungen, die beständig wiederholt werden. In der Frühzeit der optischen und elektroakustischen Aufzeichnungstechniken waren sie noch Schlaufen aus Film, Tonband oder Lochstreifen. Heute genügt ein Sprungbefehl in einem Computerprogramm für einen Loop. An den Anfang dieses Aufsatzes möchte ich eine persönliche Beobachtung aus der Techno-Kultur 1 Mitte der 90er-Jahre setzen: Seit sich die Herstellung von Videos durch die aufkommende Digitalisierung erheblich vereinfachte, wurden manche DJs auch zu MJs (Media Jockeys) oder VJs (Visual Jockeys) und machten sich Videoloops zu ihrer Musik, die sich von den gewohnten Videoclips unterschieden. Videoloops wurden in den Clubs als Bestandteil des Raum-Designs abgespielt, eingegliedert in ein Konzept, zu dem auch Lichtorgeln oder Lasershows gehören können. Parallelen zur Bildersprache dieser Video-Dekorationen lassen sich etwa zu Kinofilmen im Science-Fiction-Genre feststellen wie dem japanischen Animationsfilm Ghost in the Shell (1995). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Mathias Spohr 152 Ohne spezielle Szene-Kenntnisse zu besitzen, sind mir damals Loops mit bewegten Verkehrsschildern, Signalen oder Piktogrammen aufgefallen. Diagramme, technische Pläne, Anzeigegeräte, Oszillogramme, Röntgenbilder, statistische Daten ziehen vorüber. Es geschehen ziellose Fahrten durch ein Kaleidoskop von Informationen. Zahlen, Buchstaben und Hieroglyphen rauschen vorbei. Manchmal erscheinen Schriften, die von der Mehrheit der Betrachter zwar als solche erkannt, aber nicht gelesen werden können, weil sie zu schnell vorüberziehen oder weil sie aus russischen, chinesischen oder arabischen Buchstaben bestehen. Noch heute werden derartige Videos im Party-Design für elektronische Musik verwendet. 2 All das sind Bilder oder grafische Elemente mit ‘Bedeutung’, wenn man sie denn verstehen könnte oder wollte. Es handelt sich um ‘Zeichen’ im landläufigen, emphatischen Sinn, deren Entzifferung in diesem unkonzentrierten Zusammenhang nicht oder nur zum geringen Teil möglich ist. Vielmehr wirkt es entspannend oder berauschend, dass sie ohne Deutung vorüberziehen. Ein Zeigen ohne Sagen: Als wesentliche Eigenschaft der Techno-Kultur wurde oft das Wortlose oder Sprachlose ihrer Klangwelten und Bilder hervorgehoben. 3 2 Zeiger ohne Gezeigtes Was ist dann die Botschaft dieser Zeichen, wenn man sie nur als Zeichen erkennt, aber nicht liest oder lesen kann? Das Piktogramm soll etwas deutlich machen, auch wenn wir nicht wissen, was. Etwas Ähnliches vermitteln das Messinstrument oder die Sehhilfe. Sie sagen bloß: “Wir helfen dir, zu erkennen”, ohne dies im Moment leisten zu müssen. Die eigene Brille und das Piktogramm haben beide den Ruf, die Deutlichkeit eines Betrachteten oder Bezeichneten zu verbessern. Beide vermitteln zudem nicht willkürlich, sondern nach Regeln. Dies versteht man als Verbesserung der Wahrnehmung; die individuelle Schwierigkeit wird durch ein Überindividuelles bewältigt. Insofern können sich das reflexartig verständliche Piktogramm und der Blick durch Fernrohr oder Mikroskop in ihrer faszinierenden Wirkung entsprechen, auch wenn sie nicht mehr als den Gestus des Zeigens vermitteln. - Dieser Art sind die erwähnten Zeichen: Zeiger ohne Gezeigtes. Sie könnten zeigen, wo es lang geht, tun es aber nicht. Wem vermitteln sie? Die rote Ampel oder das Toilettenmännchen werden selten persönlich genommen, weil man davon ausgeht, dass ihre Botschaften für eine Öffentlichkeit bestimmt sind. Die Ideologie des modernen Piktogramms seit Otto Neuraths ‘Isotype’ ist die der größtmöglichen Öffentlichkeit und Neutralität; es ist ‘informativ’ für alle. Das “Lob der Oberfläche” (Hartmann 2006: 21) in Gestalt des Piktogramms soll niemanden ausschließen. Die Abbildung im Videoloop reißt die Zeichen aus jeder Situation heraus, in der sie ihren Sinn hätten. Piktogramme werden durch die Kamera getreu abgebildet, sind selbst aber keine Naturnachahmungen - oder höchstens stilisierte. Das illusionistische Spiel mit dem Zeichen, das aussieht wie das Ding, ohne es zu sein, findet nur zwischen der Videoprojektion und dem von ihr abgebildeten Zeichen statt. Die Betrachter mögen sich bei reflexartigen Reaktionen ertappen, wenn sie ein Warnschild sehen, wissen aber, dass es in diesem Rahmen nur Spiel ist. Kunst wird stets dafür bewundert, dass sie die Sinne täuscht. Der Reflex ist unnötig als Reaktion, aber zumindest die Erinnerung an ihn kommt zustande. Er ist zwar ein automatisierbares oder formalisierbares Verhalten, so wie die Funktionsweise des Computers, aber er ist Spiel, so wie Musik aus dem Computer. Videoloops - Zeichen ohne Aura? 153 Nichts Besonderes wird also niemand Besonderem vermittelt. Warum? Weil Bedeutung und Verpflichtung nah beieinander liegen: Der Wegfall der konkreten Bedeutung macht das Bedeutende vom Bedeuteten unabhängig und damit ‘unverbindlich’. Es ist eine Maske ohne konkretes Gesicht, fernab vom Zwang der Zuordnung. Dass es so etwas geben darf, ist nicht selbstverständlich; es braucht dazu ein legitimes gesellschaftliches Bedürfnis. 4 Die virtuellen Signale der Video-Loops werden insoweit ‘ästhetisch’, als sie keine drohenden Vorschriften oder drängenden Entscheidungsgrundlagen mehr sind. Sie sind ihrer Macht beraubt wie die sowjetischen Militärmützen, die man seit dem Fall der Berliner Mauer auf der Straße kaufen kann. Solche Käuflichkeit verstehen die Konsumenten als: “Ich habe das Mächtige in meiner Gewalt.” Durch die Maskerade wird Macht zum Schein von Macht. Die legitime Loslösung vom ursprünglichen Zusammenhang macht das Zeichen der Autorität zum Mode-Accessoire, Gestalt wird zum Design. Signale, auf die man sich im Alltag konzentrieren muss, dienen im Video-Loop der Techno-Kultur zur Entspannung. Diese gewollte Beliebigkeit entspricht der Struktur der Musik. Sie enthält erkennbare Klangfarben und Motive, manchmal Wörter oder Sprachfetzen (oft Befehle oder Aufforderungen), die als Loops wiederholt werden und dadurch eine rhythmische Funktion bekommen, anstatt ‘Bedeutung’ zu haben. Redundanz löst Bedeutung auf, statt sie zu schaffen. Sie fordert kein Verstehen, sondern erlöst vom Verstehen-Müssen. 5 Die Wiederholungen der Techno- Musik erzeugen einen Rhythmus, der keine festgelegten Tanzschritte erzwingt, sondern auf den man freiwillig und individuell mit Bewegung antwortet. Ähnlich wie der Tanz, den sie optisch begleiten, dienen die Video-Loops zur Entspannung oder sollen in Trance versetzen. 3 Verlust der Aura Welche Parallelen gibt es zwischen der aufgelösten Bedeutung des Zeichens durch seine Wiederholung im Loop und dem ‘Verkümmern’ der ‘Aura’ eines Kunstwerks, das Walter Benjamin für eine Folge der technischen Reproduzierbarkeit hielt? Benjamins Feststellungen beziehen sich auf das Kino nach 1930, also den frühen Tonfilm. Unter ‘Aura’ verstand er eine rituelle Eigenschaft, die nur das Einmalige haben könne, also etwa noch die traditionelle Theateraufführung gegenüber der Kinovorstellung. Benjamin stellte der ‘Aura’ zudem seinen Begriff der ‘Spur’ gegenüber: “In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser” (Benjamin 1982: 560). Die Aura signalisiert seiner Auffassung nach Ferne, die Spur hingegen Nähe. Wenn wir Ferne im Sinn von Respekt und Nähe im Sinn von Respektlosigkeit deuten, macht die Aura ein Bedeutetes unnahbar, die Spur hingegen macht es zugänglich. Der Begriff der Aura umschreibt nach meinem Verständnis keinen Naturzustand von Objekten, wie es bei der Lektüre von Benjamins Text scheinen mag, sondern viel eher eine Eigenschaft des bürgerlichen Kunstwerks seit dem 18. Jahrhundert. Benjamin wollte diese Kunst auf ähnliche Art entmachten wie die Schönen Künste etwa zweihundert Jahre zuvor die Religion entmachtet hatten. Die technologische Verfügbarkeit des Kunstobjekts ersetzt bei ihm die Autorität des Leben schaffenden und in dieser Hinsicht gottgleichen Autors. Dass ‘Aura’ nicht nur mit der Einmaligkeit des Objekts zusammenhängt, sondern auch mit seiner Unverfügbarkeit, wird aus folgendem Vergleich ersichtlich, der mit Absicht nicht aus der Sphäre der ‘Kunst’ stammt, sondern vielmehr aus jener des ‘Körpersinns’: Während die Leiche des unlängst gestorbenen Verwandten für uns eine Aura hat, uns also auf respektvoller Distanz hält, bedeutet die 5300 Jahre alte Mumie des Urmenschen Ötzi, die Mathias Spohr 154 1991 gefunden wurde, 6 kaum mehr als eine Spur, und seine Auswertung und Ausstellung zum Nutzen der Wissenschaft wurde nicht als Störung der Totenruhe betrachtet. Beide Körper sind einmalig, aber sie werden unterschiedlich behandelt. Die Mumie wird als anonymer Stellvertreter betrachtet, als ein erhaltenes Besonderes, das für ein verlorenes Allgemeines steht. Die Leiche des Verwandten, die weniger Seltenheitswert hat als Ötzi, steht dagegen als erhaltenes Allgemeines, als übrig gebliebenes ‘Material’ (und damit als unbequemes Skandalon) für ein verlorenes Besonderes, das nur noch in der Erinnerung existiert. Die erste Zuordnung ist eine wissenschaftliche Analyse und Synthese (oder eine imaginäre Belebung 7 ), also etwas Offensives, die zweite besteht im Ritual des Erinnerns und der Einsicht in die Vergänglichkeit, ist also etwas Defensives. Die neuerliche Mumifizierung der Mumie und ihre aufwändige Zurschaustellung machen allerdings gerade sie zu einem modernen Kunstobjekt, als konkrete Spur zu einer Welt, die unendlich fern von jeder konkret erlebten sozialen Umgebung ist, was mit der Leiche des vertrauten Menschen nicht möglich wäre. Das getestete Original bekommt den Stellenwert von Walter Benjamins technischer Kopie. Es wird zum Medienereignis. Oder, um in diesem Sinne einen noch deutlicheren Gegensatz zu schaffen: Ein Dinosaurier-Knochen steht im Unterschied zur Reliquie eines Heiligen als Spur ohne Aura da und ist der Imagination seiner Betrachter ausgeliefert, die sich die einstige Größe und Gefährlichkeit des Tieres vorstellen, ohne von ihm gefährdet zu werden. Dieses ‘Erhabene’ 8 einer vergangenen Natur kann wohl noch als Aura zelebriert werden, allerdings mit der Gewissheit, dass seine Macht endgültig vorbei ist. Archäologische Spurensuche dient der Imagination als Nahrung und tritt an die Stelle der fehlenden Erinnerung, die das leblose Objekt entwerten würde. Die Rekonstruktion jener Welt besitzt die Harmlosigkeit der Maskerade; das Übermächtige wird im Weg über das Erhabene zum angenehm Schauerlichen. Der Heilige hingegen kann in einer Umgebung, die an ihn glaubt, durchaus noch Macht entfalten. Das Fehlen einer Aura, wenn wir es wie Benjamin mit der Kinovorstellung verbinden, hängt mit der Machbarkeit des Produkts, mit den aufs Technische konzentrierten Problemlösungen zusammen. Dies lässt sich im Grunde auf alles verallgemeinern, was wir als Aufzeichnung verstehen: Einem Trägermaterial wird seine Eigendynamik geraubt und eine beliebige Form aufgedrängt. In der populären Dramatik ist die Leiche oft eine Metapher für das vergewaltigte Medium, dem das Bild oder die Schrift eingeprägt wurde, und der Mörder, der sie hergestellt hat, ist der Künstler. Die menschliche Formgebung hat der Gottesgabe ihres Materials etwas aufgezwungen, also nichts Lebendiges geschaffen, sondern das vorgefundene Lebendige eingeschränkt. Die “konkrete” Einwirkung eines Schreibens oder Gestaltens wird in der Vanitas-Tradition 9 , die etwa in den vielen Gestaltungen des Faust-Stoffs präsent ist, als eitler Gewaltakt gegen die göttliche Schöpfung dargestellt. So bleibt der Vorwurf der geraubten Aura präsent. Eine Gegenposition, die im 18. Jahrhundert an Einfluss gewinnt, versteht das Schreiben hingegen als Befreiung, die einen Gemeinnutzen bringt, statt die individuelle Machtgier zu entfesseln. Die heutige audiovisuelle und digitale Befreiung der Schrift vom Material, in das sie als Spur eingeprägt wird, hat Vilém Flusser optimistisch verstanden, der sich gegen Benjamins These vom Aura-Verlust wandte (Flusser 2002). 4 Loop und Typisierung Die Techno-Kultur stützt genau das, was Flusser als Konsequenz der neueren Entwicklungen des Schreibens betrachtet hat: “Wir sind eben daran, ins ‘Universum der technischen Bilder’ Videoloops - Zeichen ohne Aura? 155 zu übersiedeln […]” (Flusser 2002: 24). Das Sagen wird durch technikgestütztes Zeigen ersetzt. Techno hat viel unverblümt Mechanisches oder Maskenhaftes an sich, aber es treten keine Leichen oder vergewaltigte Materialien in Erscheinung, sondern viel eher die vom Körperlichen gelösten Zeichen. Weder fordern sie einen Totenkult, noch die Anstrengung einer Deutung. Das Virtuelle signalisiert einen Abstand vom Gewaltsamen und Körperlichen. Zentrales Merkmal ist der Loop. Er bedeutet einerseits die Verfügbarkeit des Moments: “Verweile doch, du bist so schön”. Der Moment kehrt von selbst zurück und verlangt keine festhaltende Erinnerung; die Mühe ritueller Wiederholungen erübrigt sich. Auf der andern Seite ist das Fixierte merklich eingefroren. Die Wiederholung macht es nicht lebendig oder ‘sinnerfüllt’, sondern lässt ihre Funktionsweise, ihre Mechanik hervortreten. Die Klangfolge könnte mit dieser Exaktheit niemals live gespielt werden. Die Kapitulation des Betrachters vor der Maschine führt zu einem ‘unkonzentrierten’ Verfolgen ihrer Tätigkeit. Auch dies hat Walter Benjamin bereits im Zusammenhang mit dem Kino festgehalten: Es ermögliche den Zuschauern eine Haltung, die “Aufmerksamkeit nicht einschließt” (Benjamin 1980: 41). Wiederholungen in der ‘klassischen’ Musik versuchen dagegen, ihr Wiederholtsein durch minime Veränderungen zu verbergen und zu individualisieren. Gegenüber dem Spiel lebendiger Musiker, die selbst dem strengsten Ostinato noch etwas ‘Organisches’ abgewinnen, 10 ist die Mechanik des Loops kein Handeln, sondern ein Funktionieren. Die Zusammensetzung der Aktionen aus fixierten Einzelteilen wird nicht durch gewandtes Lesen verborgen. Kein Interpret spiegelt sich in den Wiederholungen des Loops, um ihnen den Schein des Einzigartigen zu geben. Techno stellt die Mechanik der technischen Reproduktion offen aus. Auch die Filmprojektoren zu Walter Benjamins Zeiten flimmerten noch, womit sie unablässig auf die Stückelung der Bewegung in einzelne Bilder hinwiesen. Der im Video-Loop abgebildete Buchstabe ist genau genommen ein Buchstabe im Buchstabe, weil der Loop, als Fixiertes und Reproduzierbares, selbst so etwas wie ein Buchstabe ist: Ein Computer-Loop unterscheidet sich von der live gespielten Wiederholung ungefähr so wie Druckschrift von der Schreibschrift. Auch ‘gesampelte’ Klänge sind kurze Loops, sie entsprechen den Buchstaben einer Schrift und werden im Computer als ‘Sound fonts’ verwaltet. Ihre Elemente sind zu Mustern gemachte Beispiele (samples). Insofern sind die Loops und Samples etwas Ähnliches wie die Typen des Buchdrucks, deren Einführung Vilém Flusser für den Ursprung des “typisierenden Denkens” (Flusser 2002: 51) hielt. Schon darin äußert sich ‘technische Reproduzierbarkeit’. 5 Vanitas-Überwindungen So weit zur schockierenden oder befreienden Mechanisierung eines Rituellen durch technische Reproduzierbarkeit. Wovon befreit aber die Mechanisierung? Rituale bestätigen soziale Beziehungen über einschneidende Veränderungen hinweg und haben daher naturgemäß etwas Konservatives. Walter Benjamin richtete sich mit dem Begriff der Aura als exklusivem sozialem Rahmen allerdings nicht gegen religiöse Vorstellungen, sondern gegen eine zur Hauptsache im 19. Jahrhundert entstandene ‘bürgerliche’ Favorisierung originaler Werke, die antiaristokratische und antiklerikale Züge trägt. Dies soll hier kurz ausgeführt werden: Der Tendenz nach waren bürgerliche Institutionen seit der Neuzeit dem Vorwurf ausgesetzt, bloß eine Manifestation egoistischen Willens zu sein. Auf ihnen lastete der Verdacht der Nichtigkeit oder Vergänglichkeit. Dieser Auffassung wurden etwa die Satzung des bürgerli- Mathias Spohr 156 chen Vereins oder die Verfassung des bürgerlichen Staats als einigendes Band zwischen den Beteiligten entgegen gehalten. Es gab ein Bedürfnis, das Verachtete zum Verehrten werden zu lassen. Dieter Mersch hat eindringlich aufgezeigt, wie Georg Friedrich Hegel versuchte, diesen Vanitas-Vorwurf durch eine “Erlösung des Wesens vom Schein” (Mersch 2002: 140) abzuschütteln. Was heute als Ereignis und performativer Akt einer Aufwertung unterzogen wird, unterlag damals dem Verdikt der Sittenlosigkeit - wie es sich deutlich in Hegels Wortwahl zeigt, der von “Schall und Rauch”, von der “Beflekkung” des Wesens durch die “Sinnlichkeit” der Verkörperung spricht (Hegel 1970: 23). Der Schein sei kein Scheinen, so bemühte er sich zu beweisen. Das Wesentliche sollte nicht in der (sich im Moment erschöpfenden, aber gleichwohl mächtigen) Geste liegen, wie es der Brauch in den Hofgesellschaften war. Der bürgerliche Staat sollte nach Feierabend der Beamten nicht bloß noch ein Haufen Papier sein, sondern etwas Verbindendes und Verbindliches beibehalten. Es sollte dem Menschen seit dem 18. Jahrhundert gelingen dürfen, eine Struktur lebendig zu machen - und das gelungene Kunstwerk diente diesem Begehren als Symbol, so wie die belebte Statue Pygmalions. Die menschliche Formgebung war nichts Totes mehr, sondern “erwidert den Blick”, wie Dieter Mersch auf die Frage antwortet, was denn eine “Aura” ausmache (Mersch 2002: 93f.). Über Heideggers “Die Sprache spricht” (Heidegger 1975: 13) bis hin zu Luhmanns “Es gibt Systeme! ” (Luhmann 1978: 30f.) lässt sich die deutsch-idealistische Bemühung weiterverfolgen, den reinen Strukturen unabhängig von flüchtigen sinnlichen Ereignissen Leben zuzusprechen. Sie sind kollektive Identitäten, die ihren Lesern, Betrachtern oder Zuschauern entgegenblicken. Das Spiegelbild des Menschenwerks zeigt offenbar nicht Sinnestäuschung, sondern eine Objektivierung des individuellen Blicks. Die gegenteilige Meinung gibt es nach wie vor: Noch im Herbst 2008 sagte der Papst zur Finanzkrise, dass Geld keinen Wert darstelle, so wie alles sichtbar Gemachte, 11 und konnte damit alle Verflechtungen und Verträge wegwischen, die Geld zum Gegenstand haben. Zu solchen Argumenten, die damals erheblich einflussreicher waren als heute, musste einst eine Gegenposition aufgebaut werden. Dazu brauchte es etwa die Vorstellung eines ‘Souveräns’ oder ‘Volks’ als kollektiver Identität, die als lebendiger Geist über diesen Papieren thront oder als lebendiges Wesen in ihnen enthalten ist wie einst Gott oder der gnädige Herr. Kollektive Identitäten bleiben allerdings vage. Im 19. Jahrhundert siegte die Vorstellung der Sprache als einigendes Band einer Nation. Die Struktur, auf die man sich geeinigt hat, wie die Gewohnheit zeigt, führt scheinbar ein Eigenleben als ‘die Sprache’. Hegels “objektiver Geist”, ausdrücklich verbunden mit dem Begriff der Freiheit (Hegel 1986), wurde zu einer erfolgreichen Formulierung für kollektive Identitäten. Es gab einen Zeitgeist, einen Volksgeist oder einen Weltgeist. Man sprach vom Geist einer Epoche und stellte die Frage, was ihn denn ausmache, wodurch er als evident vorausgesetzt wurde. Sprache schien ebenso wie der Staat schon von sich aus lebendig und inspirierte oder verpflichtete Sprecher und Bürger, statt umgekehrt durch sie erst ausgemacht und geformt zu werden. Texte schienen von selbst zu sprechen, unabhängig vom Flüchtigen und Sinnlichen eines konkreten Lesens. ‘Geist’ ist die Vorstellung eines konkreten sozialen Rahmens, der im Abstraktum schon enthalten ist. Im Geist ist der Glaube enthalten, dass Vorschriften oder Vorbilder den getreuen Handlungen vorausgehen und nicht umgekehrt. In jeder Handlung wäre dann ihre Vorschrift zu finden wie eine physikalische Formel in jeder Bewegung oder ein impliziter Theatertext in jeder Äußerung. Wer dem Geist nicht entspricht, den gibt es vielleicht nicht, wie Geborene ohne Geburtsschein. Das war eine Strategie, um den Schein zu Wirklichkeit zu machen, um das Dokument zu realisieren. Verbunden wird sie oft mit der Vorstellung, dass es eine Videoloops - Zeichen ohne Aura? 157 Urschrift gebe, die allen Handlungen zugrunde liege. Alle denkbaren Handlungen würden sich dann als ein Lesen dieser Urschrift begreifen lassen. So wie es scheinbar einen in die Sprache bereits eingeschlossenen Sprecher und einen in die Nation bereits eingeschlossenen Staatsbürger gibt, als wären diese Institutionen auf konkrete Menschen nicht angewiesen, so gibt es den in Literatur und Kunst bereits eingeschlossenen Leser und Betrachter, denen sie ein verpflichtendes Vorbild sind, weil sein Konsens vorausgesetzt wird. Roland Barthes hat diese Strategie unter anderem als “Mythos” beschrieben (Barthes 1957). Sigmund Freud sammelte eine Unzahl kleiner Tonfiguren, die er als Urbilder zu verstehen versuchte, alles im Bestreben, ein Fixiertes an den Anfang aller menschlichen Handlungen zu setzen (vgl. Bernadac 2001). Noch Jacques Derrida glaubte an eine Urschrift. Schrift verhieß Emanzipation, besonders für Minderheiten, die sich ihre Bildung erkämpft hatten. Auch Umberto Eco definierte den ‘Geist’ als “System der sprachlichen Determiniertheiten” (Eco 1977: 165), nicht als Performanz also, sondern als Kompetenz. Die Formalisierbarkeit von Sprache war ein ausdrückliches Ziel seiner frühen Systematik, so wie für viele seiner Zeitgenossen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich die Digitalisierung und Automatisierung der Welt ankündigten. Als die Formalisierungen gelungen waren, wie es in der Techno-Kultur seinen Ausdruck fand, trat jedoch auch ihre Mechanik hervor. Der Papst vertritt die konservative Gegenpartei zu den enthusiastischen Anhängern der Schrift. Er sprach in der erwähnten Meditation nicht von Gottes Vorschrift als Alternative zum alles vernetzenden Geld, sondern von Gottes Wort, von einer kontingenten autoritären Handlung also, die sich an keine rechtsstaatliche Vorschrift halten muss. Eine von den Gläubigen verabschiedete Verfassung könnte ihn vor willkürlichen Handlungen bewahren. Gottes Wunder, die Ereignisse par excellence, würden dann durch Naturgesetze verhindert. - Damit will ich religiöse Vorstellungen keineswegs lächerlich machen, sondern nur illustrieren, wie man in der frühen Neuzeit über diese Angelegenheit gedacht hat. Der Ersatz der persönlichen Autorität durch einen auratischen ‘Geist’ oder ein ‘Wesen’ (als fixierte Gesetzes- oder Kunstwerke, die man lesen und auf denen man bestehen kann) hat eine politische Dimension. Insofern ist die Entwicklung, die Walter Benjamin mit dem Verlust der Aura in Verbindung brachte, schon im Erhabenen der Aura, in ihrem “delightful horror” (Burke 1958: 73) angelegt. Wer heute wieder das Ereignishafte ohne ‘Werkgrundlage’ fordert, schließt sich möglicherweise der historisch älteren Position an. Die Theaterwissenschaft der letzten Jahre hebt das Performative der Aufführungen gegenüber den Theatertexten hervor, um sich damit von deren Autorität (und der Autorität der Literaturwissenschaft) zu befreien. 12 Sprechen braucht keinen Text, Bewegen kein Bild. Auch in anderen Disziplinen wird vermehrt vom Ereignis oder von der Präsenz gesprochen, also von konkreten Erscheinungsformen des zeit- und raumlos gemachten Bildes, der Schrift oder des Loops - sofern den Ereignissen überhaupt ein solches Modell zugrunde liegt. Die Vorschrift und das Vorbild, die im 19. Jahrhundert triumphierten, haben offenbar ihr emanzipatorisches Potenzial verloren. Dies hat damit zu tun, dass die Formalisierung alltäglicher Handlungen im Zuge der Computerisierung seit Ende des 20. Jahrhunderts zu Wirklichkeit geworden ist, uns in allen Lebensbereichen umgibt, und wir daher ein Bedürfnis haben, uns mit unseren lebendigen Handlungen von einem Festgelegten und Automatisierten abzuheben. Mathias Spohr 158 6 Benjamins Kino und die Techno-Kultur Diese Ausführungen mögen ausschweifend erscheinen, sie bleiben jedoch streng beim Thema: Wenn dem Kunstwerk seit Hegel die Aufgabe zukam, eine Wirklichkeit von Strukturen unabhängig von konkreten Ereignissen zu behaupten, dann lastete auf ihm, in Gestalt seiner ‘Aura’, ein ungeheurer Bedeutungs- und Identitätsdruck. Daraus entstanden Bemühungen, sich diesem Druck zu entziehen. Walter Benjamins Kino-Erfahrungen der 1920er- und 30er-Jahre weisen Parallelen zu den Techno-Events der 1990er-Jahre auf. Sie spiegeln ein ähnliches Gemeinschaftsverständnis. Der gesellschaftliche Rahmen ist nicht als Vorschrift in ihnen eingeschlossen, sondern bleibt unverbindlich, beliebig, verfügbar, wobei die Schrift und die technische Reproduktion als etwas Entlastendes begrüßt werden. Das ‘Werk’ verleitet nicht zum Bündnis, verlangt kein nationalistisches Wir-Gefühl, verführt nicht zu Kadavergehorsam. Als Benjamin sie beobachtete, waren die Kinovorführungen zwanglose Massenveranstaltungen jenseits gesellschaftlicher Schranken. Sie waren Ausdruck neuer Technologien, in der Frühzeit der Massenmedien nach dem Ersten Weltkrieg ebenso wie in der Zeit der Digitalisierung und Virtualisierung aller Information am Ende des Jahrhunderts. Die soziale und emotionale Bewältigung der Mechanisierung und Anonymisierung durch den technischen Fortschritt, ohne sich gegen ihn zu stellen, steht hier wie dort im Vordergrund. In der Konfrontation mit Technik bildet sich ein Abstand zur Technik heraus, der das Gewaltsame einer Technisierung zum lockeren Gesellschaftsspiel macht. In den großen Techno-Events der 90er- Jahre wie der Zürcher Street Parade und der Berliner Love Parade wurde die unverbindliche Verbindung vieler Menschen gefeiert. “Gesellschaftliches Verhalten” wurde dort, wie Andreas Schmidt in einem weiteren jugendkulturellen Zusammenhang feststellt, “zum Design” (Schmidt 1996: 35): Durch Ästhetisierung verlieren die Zeichen ihre Bedeutung oder: Das Performative darf sich von einer vermittelten Botschaft lösen. Kultur besitzt hier kein Identitäts-Potenzial, sondern im Gegenteil ein Potenzial zum vorübergehenden, kontrollierten Identitätsverlust. Die karnevalesken Maskeraden von Street-Parade und Love- Parade befreiten ähnlich von einem ‘Sein-Müssen’, das den sozialen Alltag prägt, wie die Video-Loops in den Clubs mit ihrer Zeichenflut von einem ‘Verstehen-Müssen’ befreien. Erkennen und Verstehen sind dagegen Forderungen einer bildungsbürgerlichen Kultur, die eher eine Aufladung der Dinge mit Bedeutung fördern. Eine ähnliche (nicht bildungsbürgerliche und keine Identität fordernde) Kultur konnte Walter Benjamin seinerzeit beobachten. Die Ausrichtung des Kunstwerks auf “Politik” (Benjamin 1980: 18), die nach Benjamin mit dem Aura-Verlust einhergeht, ist auch eine Gefahr. Das Kino war noch vor seiner propagandistischen Inanspruchnahme durch die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts eine Gegenwelt zu den Anpassungszwängen, die den Alltag bestimmten. Die Menschen hier hatten zwar gemeinsame Vorlieben und ein Bedürfnis nach friedlichem Zusammensein, aber nicht unbedingt nach Manifestation von Gemeinsamkeit. Diese Gegenwelt zum Alltag ist hoch technisiert, aber befreit zugleich von Zwängen. Die Beteiligten sind nicht Verschworene wie die kulturellen Strömungen, die aus den Avantgarden nach 1900 oder aus der 1968er-Bewegung hervorgingen, sondern sie sind nur gemeinsame Nutzer neuer Technologien. Erwartungen an eine Jugendkultur, in der sich Identitäten formieren, werden von der Technokultur enttäuscht (vgl. Muri 1996: 165). Vor allem der Vorstellung einer Jugend- Subkultur entspricht der zwanglos kommerzialisierte Techno-Stil nicht (Meyer 2000: 30). Identitäts-Konzepte wie Raving Society oder Rave Nation wurden von der Techno-Szene als Videoloops - Zeichen ohne Aura? 159 eher äußerliche Werbebegriffe kritisiert und nicht ernst genommen. 13 Insofern entspricht Techno einem exklusiven oder gar totalitären Gemeinschaftsideal ebenso wenig wie das frühe Kino. Das Sein-Müssen und Verstehen-Müssen als fordernder Anspruch in einer Art Kultur, die sich gegenüber dem Vorwurf des Unsteten und allzu Sinnlichen verwahren musste und ihm das ‘Wesen’ menschlicher Werke entgegenhielt, das wollte Walter Benjamin mit seinem Begriff der Aura umschreiben. Literatur Anz, Philipp & Patrick Walder (eds.) 1995: techno, Zürich: Bilger Ballinger, Erich 1997: Der Gletschermann. Ein Krimi aus der Steinzeit, Ravensburg: Ravensburger Barthes, Roland 1957: Mythologies, Paris: Seuil Benjamin, Walter 1980: “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit”, in: Ders.: Gesammelte Schriften I/ 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Benjamin, Walter 1982: “Das Passagenwerk: Der Flaneur”, in: Ders.: Gesammelte Schriften V/ 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Bernadac, M. v. & H.U. Obrist (eds.) 2001: Louise Bourgeois: Destruction of the Father-Reconstruction of the Father, Schriften und Interviews 1923-2000, Zürich: Ammann Edmund Burke 1958: A Philosophical Enquiry Into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, London: Routledge Eco, Umberto 1977: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Eggebrecht, Hans Heinrich (ed.) 1967: Riemann Musik Lexikon, Sachteil, Mainz: Schott Fischer-Lichte, Erika 2004: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Flusser, Vilém 2002: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? , Göttingen: European Photogaphy Hartmann, Frank & Erwin K. Bauer 2006: Bildersprache. 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Mathias Spohr 160 4 Richard Weihe hat die Maske als kulturelles Konzept eines vom Bedeuteten trennbar gemachten Bedeutenden beschrieben, etwa mit der Feststellung, dass die Wörter für Masken in den afrikanischen Sprachen kein “Äußerliches und Oberflächliches” wie in den europäischen Sprachen bedeuten (Weihe 2004: 277). 5 “Am Rave ist man eine unbeschwerte und oberflächliche Klischeefigur”, Haemmerli, Thomas: Das Lebensgefühl. Nachrichten vom Rave, in: Anz/ Walder 1995: 185. 6 Mit Absicht erwähne ich hier Tagesereignisse der 1990er-Jahre. 7 Etwa mit Jugendbüchern wie Ballinger 1997. 8 Als Mischung von hergebrachter Ohnmacht und neu errungener Übermacht gegenüber der ‘Natur’ definierte bereits Friedrich Schiller im Anschluss an Kant das Erhabene. Insofern ist die ‘Aura’ dieses Erhabenen selbst schon ein Ersatz für seine de facto verlorene Autorität (vergleichbar mit dem wohligen Gruseln vor dem harmlos gewordenen Gespenst) - der von Benjamins diagnostiziertem “Verlust der Aura” lediglich fortgeführt wird (vgl. Schiller 1984: 93-115). 9 “Vanitas”, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, im Internet unter: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Vanitas, [09.12.08]. 10 Das Riemann-Musik-Lexikon schreibt unter dem Stichwort Ostinato: “mit dem Wiederholen verbindet sich das Verändern der Zusätze, auch des zu Wiederholenden selbst […]” (Eggebrecht 1967: 693). 11 “Wir sehen das jetzt beim Zusammenbruch der großen Banken: diese Gelder verschwinden, sie sind nichts.” Benedikt XVI: Meditation zur Eröffnung der Bischofssynode in Rom, 6. Oktober 2008, im Internet unter: http: / / www.vatican.va/ holy_father/ [09. 12. 08]. 12 Theaterwissenschaft als eine Wissenschaft der Aufführungen statt der Dramen entstand nach dem Ersten Weltkrieg, als die flüchtige, aber mächtige höfische Geste keine Konkurrenz mehr für das dauerhafte bürgerliche Werk war (vgl. Fischer-Lichte 2004: 42ff.). 13 Siehe http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Raving_Society [08.10.08]. Machinima: Zwischen Dokumentation, Performanz und Abstraktion Karin Wenz The following contribution introduces machinima under the following principles: (1) the specific use of the computer as database/ archive, (2) the principle of modularity, (3) the numeric representation and (4) transcoding. These aspects will be analyzed in respect of their concrete and abstract representation. The use of the medium for archiving and documentation can be understood as a concrete usage. The medium’s modularity has the effect that several sources can be combined to one new expression form or modified on several levels as e.g. the level of textual representation, the programming code or the interface, which can be understood as a more abstract representation on a scale from concrete to abstract. The most abstract representation is transcoding. Additionally the following questions will be answered: “Who produces machinima? ” and “what is the function of the communities producing machinima? ” Der folgende Beitrag diskutiert am Beispiel von Machinima die spezifische Nutzung des Computers als (1) Datenbank/ Archiv, (2) die Prinzipien der Modularität, (3) der numerischen Repräsentation und (4) der Transkodierung Diese Prinzipien werden unter den Aspekten von konkreter und abstrakter Repräsentation erörtert. Während die Nutzung des Mediums zur Archivierung und Dokumentation ein Beispiel für eine konkrete Nutzung ist, ist das Prinzip der Modularität des Mediums eine Option verschiedene Quellen zu einer neuen Ausdrucksform zusammenzuführen bzw. Modifikationen auf unterschiedlichen Ebenen, wie Textrepräsentation, Programmcode oder Interface durchzuführen. Auf einer Skala von konkret zu abstrakt sind diese Modifikationen in einem neutralen, mittleren Bereich anzusiedeln. Als letzte Kategorie wird die Transkodierung als abstrakte Repräsentation diskutiert. Abschließend wird die Fragen “Wer produziert Machinima? ” und “was ist die Funktion der Communities, in denen Machinima produziert werden? ” beantwortet. 1 Materialität der Medien Im Kontext der digitalen Medien wurde zunächst in den 90ern besonders der immaterielle Status des digitalen Textes betont. Autoren wie unter anderem Manovich (2004), Hayles (2008), und Bouchardon (2008) haben diese Immaterialität als einen Mythos entlarvt und die Materialität der digitalen Medien unter unterschiedlichen Aspekten beleuchtet. Während Photographie noch als materielle Relation zwischen dem Photo und einem konkreten Referenten verstanden wurde - ich verweise hier nur auf die Diskussion der indexikalischen Relation (cf. Barthes) - hat sich der Status der Bilder durch die digitalen Medien verändert. Durch die Übersetzung des Bildes in numerische Daten ist die Modifikation und Transkodierung ohne weiteres möglich. Beispiele hierfür sind Programme, durch die K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Karin Wenz 162 eine Übersetzung eines Textes in ein Bild, eines Bildes in Sound etc. anbieten (cf. Christa Sommerer und Laurent Mignonneaus Verbarium oder Beispiele der ASCII-Art). Anstelle des indexikalischen Verweises des Bildes auf einen externen Referenten, wird hier ein indexikalischer Bezug systemintern erstellt. Wesentlich ist hier die Betonung des indexikalischen Bezuges systemintern, denn die Semantik des Ursprungstextes wird bei dieser Transkodierung in den meisten Fällen nicht erfasst. Eine Ausnahme stellt dabei ASCII-Art dar, denn hierbei handelt es sich um die Übersetzung von einem visuellen System, wie zum Beispiel Film, in ein anderes visuelles System, den ASCII Code, wodurch ein Teil der Semantik des Ursprungstextes beibehalten werden kann. Für alle Beispiele jedoch gilt, dass die gemeinsame numerische Kodierung die Transkodierung von einem Zeichensystem zum anderen möglich macht. Diese Transkodierung hat einen tief greifenden Einfluss auf unsere Interpretation der Zeichensysteme, was Katherine Hayles (2008) als “the mark of the digital” bezeichnet. Unter dem Begriff einer Ästhetik der Materialität werde ich die spezifische Nutzung des Computers als Datenbank/ Archiv, die Prinzipien der Modularität, der numerischen Repräsentation und Transkodierung am Bespiel von Machinima diskutieren und diese Prinzipien in den Kontext von konkreter zu abstrakter Repräsentation kurz erörtern. Während die Nutzung des Mediums zur Archivierung und Dokumentation ein Beispiel für eine konkrete Nutzung ist, ist das Prinzip der Modularität des Mediums eine Option verschiedene Quellen zu einer neuen Ausdrucksform zusammenzuführen bzw. Modifikationen auf unterschiedlichen Ebenen, wie Textrepräsentation, Programmcode oder Interface durchzuführen. Schließlich wird die Transkodierung als abstrakte Repräsentation diskutiert. 2 Technologie Machinima basieren auf der Aufnahme einer Spielsequenz eines Computerspieles als ein realtime Video auf dessen Basis dann durch Nachbearbeitung neue Videos produziert werden. Der Begriff wurde von zwei bedeutenden Machinima Produzenten Hugh Hancock und Paul Marino (2004) eingeführt. Machinima-Produzenten betonen die Bedeutung der neuen Form zum einen aufgrund ihrer Medienkonvergenz zum anderen aber auch darin, dass diese Gamevideos eine Möglichkeit bieten, mit sehr begrenzten Ressourcen Filme zu produzieren. Die notwendigen Ressourcen sind hier zum einen die Hardware, ein Computer, auf dem ein 3D-Computerspiel gespielt werden kann, und im Falle von Machinima, die auf Onlinespielen basieren eine Netzwerkverbindung. Da es verschiedene Aufnahmemöglichkeiten gibt, besteht eine Option im Gebrauch einer Videokamera, mit der die Spielsequenz aufgenommen wird. Zum zweiten die entsprechende Software: das Computerspiel, als Alternative zur Kamera wird heute eine Aufnahmesoftware, Software zur Nachbearbeitung des Videos und eventuell auch eine spezielle Machinima-Software die zwischen Spiel und Aufnahme geschaltet werden kann und durch die visuelle Repräsentation des Spieles modifiziert werden kann, verwendet. Machinima basieren auf der Möglichkeit des Replay und damit einer Erweiterung der Spielerfahrung, die seit den 1990ern von Gamedesignern diskutiert wird. Dies hat zur Bereitstellung von Tools geführt, die zunächst Replay und später auch Aufnahmen der Spielesequenzen erleichtern, aber auch zur Entwicklung spezieller Software zur Aufnahme, die im Hintergrund des Spieles mitläuft und keine weitere Hardware nötig macht. Die Produktion von Machinima ist mittlerweile durch die Entwicklung von Tools in den Spielen selbst (Second Life, Halo3) und spezieller Software, mit der man während des Spielens Spielsequenzen aufnehmen kann (wie z.B. FRAPS), einfacher geworden. Machinima: Zwischen Dokumentation, Performanz und Abstraktion 163 3 Die Dokumentation Die Materialität der digitalen Texte kann als “layered”/ geschichtet beschrieben werden, da sie aus zugrundeliegendem Kode, der Datenbank und der textuellen Repräsentation bestehen. Wesentlich für den Gebrauch von Machinima als Dokumentation ist, dass ihre Speicherung getrennt von der Ausführung ist. Die Distribution des Materials findet über verschiedene Distributionsplattformen statt. Hier finden wir spezifische Machinima-Sites, aber ebenso offizielle Seiten der Spielehersteller. Blizzard, der Entwickler von World of Warcraft, hat einen link zu einer Site, die ausschließlich World of Warcraft Videos hosted. Und natürlich werden die meisten Machinima-Videos zusätzlich auf YouTube bereit gestellt und erreichen dadurch auch diejenigen Nutzer, die das Spiel selber nicht spielen. Wer waren und sind die Produzenten von Machinima? Die ersten Machinimaproduktionen kamen aus einer Szene der Computerspieler, die ihre eigene Spielerfahrung aufnehmen wollten, das so genannte game footage. Dies hatte zwei Funktionen. Zum einen konnte so ein Video produziert werden, das als Dokumentation diente. Das Spiel konnte so erläutert werden. Spiele wurden im Schnelldurchlauf vorgestellt und zugleich die eigenen Fähigkeiten als Spieler herausgestellt, wie dies beispielsweise in Speedruns geschieht, Videos, in denen ein Spieler das Spiel so schnell wie möglich durchspielt. Damit wurden diese Videos ebenso eine Möglichkeit der Selbstdarstellung in der Szene der Computerspieler und eine Möglichkeit die eigene Spielerfahrung mit anderen Spielern zu teilen. Diese Selbstdarstellung ist verschieden von derjenigen in vielen Videos, die wir auf YouTube finden, denn die reale Person des Spielers wird nicht gezeigt, sondern ein Spielcharakter, der Avatar, mit dem der Spieler in der Spielwelt agiert. Auch die Namen, die sich die Spieler selber geben, sind so genannte Screennames, die die reale Person nicht preisgeben. Dies ist eine Schwierigkeit, will man Aussagen über die Produzenten von Machinima machen, da sich natürlich hinter solchen Namen auch kommerzielle Produzenten verbergen können, die auf diese Weise Werbung für das Produkt selbst machen und von der Spieleindustrie bezahlt werden. Die Spieler und die jeweiligen Screennames haben eine Reputation in der Machinima-Szene. Handelt es sich um Spielergruppen, die sogenannten Gilden oder Clans, sind diese Namen den anderen Spielern auf dem entsprechenden Spiele-Server bekannt. Die Dokumentation ist nach wie vor ein wichtiger Bestandteil der Machinima. In Onlinespielen werden sie häufig benutzt, um das Teamplay der Gilde zu dokumentieren und dieses wird im Anschluss dann in einem so genannten Debriefing auf den entsprechenden Foren von den Spielern analysiert und diskutiert. Oder aber es werden Machinima als Werbung, die sogenannten Promotion-Videos, produziert, um Spieler für die eigene Gilde in einem Onlinespiel anzuwerben. In diesen Promotion-Videos werden die Avatare der Spieler und die Aktivitäten der Gilde im Onlinespiel gezeigt und der Zuschauer aufgefordert, sich bei der Gilde als Mitglied zu bewerben. Voraussetzung ist natürlich, dass der Spieler das Spiel gut kennt und beherrscht und das seine Spielziele und Fähigkeiten mit denen der anderen Spieler in der Gilde übereinstimmen. Diese Promotion-Videos können die Gilde eher witzig-ironisch darstellen und den Spass des Miteinander-Spielens betonen, sehr ernsthaft rekrutieren, um die besten Spieler auf dem Server zu gewinnen oder aber sogar aggressiv-ironisch Rekrutierungsstrategien der US-Army übernehmen und ad absurdum führen, wie dies im Falle einer amerikanischen World of Warcraft Gilde geschehen ist. 1 Ausgehend von der Präsentation einiger einzelner Spielcharaktere der Gilde wird die Gruppe der Spieler als eine Armee identischer Avatare vorgestellt, die die bestmögliche Ausrüstung im Spiel bereits erworben haben. Diese Armee sucht nicht nur neue Mitspieler, die natürlich ebenso gut sein müssen, Karin Wenz 164 Figur 1: Screenshot aus dem Rekrutierungsvideo wie die aktuellen Mitglieder der Gruppe, sondern zusätzlich auch spielerfahrene, junge Erwachsene sein sollen. Deutlich wird gesagt: Kinder sind nicht erwünscht. Nach der Vorstellung der Gilde und der Frage, wer sich bewerben kann, werden die Ziele der Gilde präsentiert: “Wir erobern die Welt! ” Hierbei kommt es zu einer Vermischung der Rekrutierungstrategien der amerkanischen Armee mit einer Darstellung, die Hitler und seine Pläne Europa, und letztlich die Welt zu erobern, kopiert. Aufgefangen und abgeschwächt wird dieses faschistische Bild, das die Gilde von sich selbst erstellt, durch die Persiflage eines Plakates der amerikanischen Armee, auf dem der Avatar des Gildenmeisters, Mute, also des Anführers der Gruppe, als “Uncle Sam” dargestellt wird. Diese Promotion-Videos betonen den Status der Spieler deutlich. Spielcharaktere einer Gilde werden als Stars eingeführt, ein Status, den diese in der Tat in der Spielergemeinschaft auf dem entsprechenden Server erworben haben. Diese Dokumentation hat für die Spieler und Produzenten eine sehr konkrete Funktion: Archivierung, Selbstdarstellung und Information für die Spielergemeinschaft. 4 Modifikation Die Archivierung des game footage ermöglicht eine Nutzung des Materials, die über die reine Dokumentation hinausgeht. Durch Modifikation kann das Material dazu benutzt werden eigene Narrationen zu erstellen, was zum Teil schon in dem Rekrutieriungsvideo deutlich wurde. Machinima haben ihren Ursprung in der Hackerszene, die die Software der Spiele modifizierten, um das Spiel als Bühne für eigene Performances benutzen zu können. Nach der Hackerethik, die im Kontext des MIT entwickelt wurde 2 , geht es um einen offenen Umgang mit Software, der Distribution und Modifikation von Code und der Dokumentation. Hier liegt die Basis des so genannten Modding; Machinima werden als eine spezielle Form des Game- Modding gesehen. Modding bezeichnet, die Veränderung von Spielen durch die Spieler selbst, um ihre eigene Spielerfahrung zu erweitern oder den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Da die meisten Spiele keine Open Source Software anbieten, bedeutet dies also den Code zu hacken (oder nach der MIT Ethik “zu cracken”) und sich damit in den Bereich der Illegalität zu begeben. Ein mittlerer Weg ist, eine spezielle Machinima-Software zu gebrauchen und die Charaktere und Spielwelt mit Hilfe dieser Software zu bearbeiten. Die Frage nach den Produzenten dieser Videos ist nicht in jedem Falle einfach zu beantworten. Handelt es sich um game footage, sind dies einzelne oder oft auch mehrere Spieler, die gemeinsam an einem Video gearbeitet haben. Bei Online-Spielen wird der Name der Gilde dann oft als Produzent genannt und nicht der individuelle Spieler, oder es wird ein Name erfunden, der einen Bezug zur Spielwelt hat. Hinter solchen Namen können sich aber Machinima: Zwischen Dokumentation, Performanz und Abstraktion 165 auch Produzenten verbergen, die auf diese Weise Werbung für ein Spiel machen. Niemand weiß, wer sich hinter den Namen ‘Evilhoof’ und ‘Flayed’ verbirgt, aber jeder in der Szene weiß sofort, welches Video diese beiden produziert haben: Das Video For Porn verwendet den Song The Internet is for Porn aus dem Broadway Musical Avenue Q. Gespielt wird der Song in World of Warcraft durch verschiedene Spielcharaktere. Die Frage im Forum der Machinima-Site machinima.com, wer die Produzenten dieses Videos sind, wurde nicht beantwortet. Auch weitere Videos unter denselben Screen-Namen sind nicht zu finden. Der Bekanntheitsgrad dieses Videos ist so hoch, dass sich in anderen Videos Videokommentare zum Video von Evilhoof und Flayed finden. Ein Beispiel für einen solchen Kommentar ist in einem anderen Machinima zu World of Warcraft zu finden sind, wie in der Schlussszene (6: 25) des Videos And now the news 3 , in der sich der Nachrichtenreporter mit “nine out of ten people really do believe that the internet is for porn” verabschiedet. Die einfache Nutzung des Spiels als Bühne, zum Nachspielen einer Szene eines berühmten Dramas, Films oder Musikvideos im Spiel bis hin zum Schreiben eines eigenen Drehbuchs, das dann im Spiel mit Hilfe von mehreren Spielern umgesetzt wird, sind Beispiele des Modding, die sich im Bereich der Legalität bewegen. Diese Bespiele erschaffen eine eigene neue fiktionale Welt, die auf der virtuellen Welt des Onlinespiels basiert und ist daher auf einer Skala von konkret zu abstrakt in einer mittleren Position zu verorten, wenn wir diese Opposition hier anwenden wollen. Sie sind konkret im Sinne der Materialität des Mediums, da sie die Interaktionsmöglichkeiten eines Computerspieles nutzen, setzen sich aber über die Spielregeln und das eigentlich Ziel des Spiels hinweg, indem sie die Spielwelt zweckentfremden und ausschließlich als Rahmen ihrer eigenen Narrationen nutzen. 5 Transkodierung Die Modifikation des Materials wurde bisher als Modifikation der Interaktion mit der Spielwelt beschrieben. Eine Modifikation kann allerdings bis hin zur Veränderung des Programmcodes oder der zusätzlichen Nutzung von Software ausgeweitet werden und führt uns dann in den Bereich der Transkodierung. In den Beispielen von Alan Sondheim, einem Vertreter der Codeworks, wird die visuelle Darstellung des Computerspiels verändert. Für Alan Sondheim bedeutet Codework: Codework is a practice, not a product. It is praxis, part and parcel of the critique of everyday life. It is not canonic, although it is taken as such. It is not a genre, although it is taken as such. The term is relatively new and should always be renewed. We are suffused with code and its intermingling with surface phenomena. Wave-trains of very low frequency radio pulses for example. Phenomenology of chickadee calls. Codework is not a metaphor, not metaphorical. It exists precisely in the obdurate interstice between the real and the symbolic. It exists in the arrow. It is not a set of procedures or perceptions. It is the noise in the system. 4 Auch wenn der Begriff Codework häufig benutzt wird, um ein Genre zu bezeichnen, so ist für Sondheim der Prozess zentral und nicht das Objekt. Alan Sondheim nutzt das Onlinespiel Second Life um mit einer Gruppe von Spielern in Second Life eine Performance zu planen und Karin Wenz 166 auszuführen. Dabei spielen 4-5 Spieler zusammen mit ihren Avataren, tanzen, und bewegen sich in einer Performance, die auf Improvisation basiert. Die anschliessende Modifikation und Bearbeitung der Videos und die Veränderung der zugrundeliegenden Kodierung führt zu Resultaten, die sowohl unsere Wahrnehmung von Körperlichkeit, die zugrunde liegenden Konstruktionsprinzipien der 3-D Graphik und in den begleitenden Texten auch die Modifikation und Transkodierung zum Thema haben. Dabei erscheinen die Arbeiten von Alan Sondheim als hochgradig abstrakt - verwenden wir die Begriffe konkret und abstrakt in unserem Alltagsverständnis - denn sie sind ein Kommentar zur Materialität der digitalen Medien. Damit sind sie allerdings konkret im Verständnis des Konkretismus, als dessen Fortsetzung sich Codeworks und Codepoetry verstehen. Diese Produktionen, von Alan Sondheim ohne Kommentar oder Erklärung auf YouTube unter den Tags ‘Avatar’, ‘Sex’, ‘Nudity’ bereitgestellt und damit erst für Nutzer ab 18 Jahren zugänglich, stoßen auf ein Publikum, dessen Erwartungen hier nicht erfüllt werden, und das mit Unverständnis reagiert. Dies führt zu Kommentaren wie: “i guess something went wrong with the rendering” “okay…..highly disturbing, therefore it should be flagged” “If only Jack Kerouac had lived long enough to see this…he probably would have gone into used car sales. Bad singer, bad sex, bad poetry - The future is yours! ” 5 Alan Sondheim kommentiert dies nicht. Der Text und Gesang, der das Video begleitet, verwendet teilweise Worte aus seinem “Maya-Prayer-Extension”, einem Text Sondheims, auf den er in anderem Zusammenhang in einem Interview mit Gary Sullivan (1999) hinweist: “the chanting of the syllables of god, speaking the unspeakable”. 6 6 Communities Die Online Communities haben eine bedeutsame Funktion für die Machinima Produktion. Es werden Tutorials geschrieben, wie ein Machinima erstellt werden kann. Anleitungen gegeben, wie Software zur Nachbearbeitung gut eingesetzt werden kann, welche Video Codeci notwendig und sinnvoll sind. Die Videos werden nicht nur aufgrund ihrer technischen Qualität diskutiert und kommentiert sondern ebenso wird die Originalität eines eigenen Drehbuches kommentiert. Einige herausragende Videos führen zu Videokommentaren oder zur Verwendung einer Idee in einem anderen Kontext. So wurde The Internet is For Porn als Machinima in World of Warcraft auch als Grundlage für ein Video mit dem gleichen Titel verwendet, allerdings mit Figuren aus der Sesamstraâe (2007). 7 Eine wichtige Funktion besteht hier nicht nur im Video-Sharing, sondern auch in der Hilfe beim Ausbau der Medienkompetenz durch ein peer-to-peer Netzwerk. Vor allem die Foren, die Teil der Sites sind, zeigen aus welchem Datenmaterial der Populärkultur geschöpft wird. Die intermedialen Bezüge werden deutlich und in den meisten Fällen entweder als Kommentar oder als Parodie eingesetzt. Als Teil des Kanons der (Populär-)Kultur, auf denen einige der Videos basieren, werden nicht nur Klassiker wie Shakespeares Dramen nachgespielt, sondern ebenso Filmszenen aus Casablanca, Musikvideos beliebter Bands aber ebenso eigene Drehbücher geschrieben und umgesetzt. Machinima: Zwischen Dokumentation, Performanz und Abstraktion 167 7 Control Die Bereitstellung des Computerspiels auf dessen Basis Machinima produziert werden hat verschiedene Auswirkungen. Zum einen limitiert die Auswahl eines Spiels als Grundlage die Möglichkeiten bei der ästhetischen Gestaltung des Videos. Der Spieler und Produzent ist durch die Interaktionsmöglichkeiten mit dem Spiel beschränkt. So ist die Kameraeinstellung vorgegeben und kann nicht wirklich flexibel verwendet werden. Die Perspektive ist diejenige des jeweiligen Spielers. Die Video-Ästhetik folgt der Ästhetik des jeweiligen Spiels. Die Spieleindustrie legt fest, dass Produktionen, die auf ihrem Spiel basieren, dem Copyright unterliegen. Im Falle von Fanprodukten, die nicht kommerziell genutzt werden, führt dies normalerweise nicht zu Problemen, die kommerzielle Nutzung von Machinima hingegen ist problematisch. Zugleich nutzt die Spieleindustrie Machinima zur Eigenwerbung. Machinima- Wettbewerbe werden für spezielle Spiele ausgeschrieben und die Videos prämiert, allerdings die Rechte dann an den Spielehersteller abgetreten. Zunehmend werden Machinima in kommerziellen Produkten verwendet. Mit der großen Zunahme an Spielern von Online-Spielen weltweit, ist auch die Bekanntheit und Akzeptanz dieser Spiele gestiegen. Hatte Coca-Cola in Japan 2002 bereits einen Werbespot, der ein Machinima des Spiels Final Fantasy 9 8 darstellte, so wurde dieser im Westen aber nicht eingesetzt. Ebenso wurde 2006 ein Machinima-Film aus World of Warcraft von Coca Cola in China gezeigt. Das Interesse in Asien Machinima zu Werbezwecken einzusetzen war offensichtlich früher da, wurde aber auch durch eine höhere Akzeptanz von Computerspielen unterstützt. Toyota hat dann 2007 mit seinem WoW [World of Warcraft] Toyota Commercial ein Machinima weltweit zu Werbezwecken benutzt. 9 Für die Fernsehserie South Park, hier speziell Episode 10, wurde 2006 eine Kombination eines Machinima auf der Basis von World of Warcraft mit Techniken des Animationsfilm erstellt. 10 Die Idee entstand dadurch, dass ein Mitglied des South Park Teams in jeder freien Minute World of Warcraft spielte und generelles Interesse für Machinima in der Crew bestand. Vereinfacht wurde die Produktion dadurch, dass dieses Machinima nicht auf einem öffentlichen Server gespielt werden musste, wo es zu Störungen durch andere Spieler hätte kommen können, sondern dass Blizzard, die Entwickler von World of Warcraft, einen eigenen Server sowie drei Mitarbeiter zur Verfügung gestellt haben. Die Mitarbeit und das Einverständnis von Blizzard war natürlich die Voraussetzung, dass eine solche kommerziell genutzte Machinima-Produktion möglich war. Das Ergebnis ist eine transmediale Form, die Computerspiel und Animationsfilm auf spannende Weise miteinander verbindet. Während die Spielerfahrung eines individuellen Spielers changiert zwischen aktiver Beteiligung in der virtuellen Welt und den Einflüssen der realen Welt auf das Spiel - sei es, dass das Telefon klingelt oder Mitbewohner oder Familie in das Zimmer kommen und eine Bemerkung machen - so wird in dieser Episode die Spielerfahrung in der virtuellen Welt von World of Warcraft mit den Geschehnissen in der virtuellen Welt von South Park gekoppelt. Die Art und Weise, wie die virtuelle Welt von South Park dabei Kommentare aus dem Diskurs über Computerspiele in den Medien und Erfahrungen der Spieler aus der realen Welt integriert, führt dazu, dass South Park und reale Welt in ikonischer Weise miteinander verbunden erscheinen. Zugleich wird durch die South Park Episode deutlich, dass ebenso wie in der virtuellen Welt von South Park auch in der realen Welt in vielen Fällen Freunde aus der realen Welt gemeinsam die virtuelle Spielwelt nutzen, um miteinander zu spielen und kommunizieren. Die Kritik des einsamen Spielers, der sich aus sozialen Kontexten zurückzieht, wird so in Frage gestellt. So wie hier die Trennung von virtueller Spielwelt und virtueller South Park-Welt aufgehoben wird, hebt Karin Wenz 168 die kommerzielle Nutzung von Machinima die Trennung zwischen virtueller und realer Welt auf. Die Materialität unserer realen Welt wird auf diese Weise in die virtuelle Welt hinein projiziert. Die Opposition konkret - abstrakt scheint hier keinen Sinn zu machen, da diese immer an die Kontextualisierung und Materialität innerhalb einer konsistenten Welt gebunden ist. 8 Schlussdiskussion Die Entwicklung von Computern, die in der Lage sind nicht nur 3D-Spiele ohne Ruckeln auszuführen, sondern parallel dazu auch zugleich die Aufnahme durch Aufnahmesoftware von Spielesequenzen möglich machen, haben den technischen Aufnahmeprozess ungemein erleichtert. Während zu Beginn ein sehr hoher Grad an Medienkompetenz beim Produzenten vorausgesetzt wurde, ist dies heute weniger bedeutsam. Zugleich ist durch die Zunahme von Online-Spielern weltweit (allein World of Warcraft wird zur Zeit von 11,5 Millionen Spielern weltweit gespielt 11 ) das Interesse an dieser Medienform gewachsen und damit auch die Community, die diese Videos produziert und kommentiert. Aus einer kleinen Gruppe von Produzenten, die sich ursprünglich aus Hackern und Spielern, die als ProGamer bezeichnet werden, Spieldesignern und Studenten von Animationsfilm zusammensetzte, finden wir heute Computerspieler in großer Breite ebenso wie auch kommerzielle Nutzungen. Die Community hat durch Tutorials die Produktion ebenso gefördert, wie auch durch Einrichtung von Websites, Foren und einer Machinima Akademie in New York durch die beiden Praktiker Hugh Hancock and Paul Marino, Machinima dazu verholfen, aus dem Umfeld einer Fankultur zu einem etablierten populärkulturellen Phänomen aufzusteigen. Literatur Berkeley, Leo 2006: “Situating Machinima in the New Mediascape”, in: Australian Journal of Emerging Technologies and Society 4.2 (2006), 65-80 Bouchardon, Serge 2008: The aesthetics of materiality in electronic literature. 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ID=217 9 http: / / www.youtube.com/ watch? v=ghANtP1JPPg 10 http: / / www.southparkstudios.com/ clips/ 155263 [29.07.2009] 11 http: / / www.blizzard.com/ us/ press/ 081121.html My body style(s) - Formen der bildlichen Identität im StudiVZ Julius Erdmann Young users of virtual social networks are expected to increasingly exhibit themselves in the internet. Media reports in newspapers or television are criticizing this behavior. The article attempts to discover possible aspects of public exhibition in virtual communities and to analyse how a new body image is constructed via photographic self-portraits in virtual photo albums. Based on the semiotics of C.S. Peirce and considerations on photography by Roland Barthes, the article will show that digital self-portraits are not only maintaining the authenticity of the user, but are completing the information on his individual identity. Consequently, the young member constructs a self-contained, virtual body by exposing his photographs. Finally, it will be revealed by examining the emo subculture, how corporal construction of a virtual self is contributing to an individual, subcultural identity. Die Exhibition junger Nutzer in virtuellen Social Networks wird, nicht zuletzt aufgrund der medialen Berichterstattung, immer offensichtlicher. Der Beitrag versucht, mögliche Facetten dieser Zurschaustellung in der deutschen Community StudiVZ zu erkennen. Es wird untersucht, inwiefern in virtuellen Fotoalben über fotografische Selbstporträts ein neues Körperbild konstruiert wird. Ausgehend von der Semiotik C.S. Peirces und den Betrachtungen Roland Barthes zur Fotografie wird gezeigt, dass die digitalen Selbstporträts nicht nur der Glaubwürdigkeit und Authentizität des Nutzers dienen, sondern die Identitätsinformationen des Profils ergänzen. Somit wird vom Nutzer ein eigenständiger, virtueller Körper konstruiert. In einem letzten Punkt wird anhand der Emo-Jugendkultur gezeigt, inwiefern diese virtuell körperliche Selbstbildung insbesondere der individuellen Positionierung innerhalb einer subkulturellen Identität dienlich ist. 1 Einleitung: Exhibition 2.0 Zuletzt bewies das große ‘Internet Spezial’ der Zeit vom 1. bis zum 15. Mai 2008 die hohe Medienaufmerksamkeit für all diese neuen Anwendungen im WWW, für die neuen Geschäftsmodelle, den Einfluss auf Gesellschaftsstrukturen und letztendlich auch auf unser Ich. Doch neu ist diese Aufmerksamkeit auch nicht. Seit Beginn des deutschlandweiten Erfolgs von StudiVZ, des virtuellen Netzwerks für Studenten, Schüler und Alumni, fragt man sich beispielsweise, weshalb es zu einer scheinbaren Exhibition junger Nutzer von solchen Social Networks kommt, und spart nicht mit Kritik. So “entblößen sich viele regelrecht, schreiben auf, was sie essen, anziehen, lieben, hassen, was sie denken, wen sie mögen und welche Musik sie hören” (Hamann 2007: 1), stellt Götz Hamann ebenfalls in der Zeit fest. In den Tageszeitungen und Onlinemedien werden stetig Bedenken bezüglich des mangelnden Datenschutzes und des voyeuristischen Ausspionierens laut. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Julius Erdmann 172 Diese Bedenken sind letztendlich nicht unbegründet. Jugendliche nutzen soziale Netzwerke im Internet, um Informationen über sich selbst einzuspeisen und so in einen regelrechten Identitätsdialog mit anderen Nutzern des Netzwerks zu treten. Die Form der Selbstdarstellung in solchen virtuellen Netzwerken weicht von bisher bekannten Darstellungsweisen insbesondere durch die kompakte Form der multimodalen Informationsdarbietung ab. In der in Deutschland populären Internetanwendung StudiVZ kann man ähnlich wie in anderen Communities neben textuellen Informationen auch eigene Bilder in Fotoalben online stellen. Somit ist es nicht erstaunlich, dass Jugendliche besonders auf diese Funktion im StudiVZ zurückgreifen, um ihre realen Lebensbilder zu digitalisieren und sie mit der ständig wachsenden Community zu teilen. Dabei steht neben der Dokumentation von Urlaub und Party eben auch die Repräsentation des eigenen Körpers in einem Ich-Album im Vordergrund. Der jugendliche Nutzer vereint in einem solchen Album mehrere Selbstporträts seines eigenen Körpers. In diesem Beitrag untersuche ich, inwiefern über das Ich-Album ein neues Körperbild transportiert wird. Dieses dient in erster Linie der Unterstützung eines glaubwürdigen Images. Es soll jedoch die Frage gestellt werden, wie durch die Virtualität der sozialen Netzwerke die Möglichkeit entsteht, neue Formen von Körperlichkeit zu transportieren. In Rückgriff auf Charles S. Peirce (1993) und Roland Barthes (1989) wird geklärt, inwiefern die digitalen Selbstporträts die textuellen und hypertextuellen Identitätsinformationen des Profils nicht nur beglaubigen, sondern vielmehr ergänzen und somit eine umfassende Selbstinszenierung ermöglichen. In einem letzten Punkt wird gezeigt, dass das Ich-Album für Vertreter von jugendlichen Subkulturen eine Abgrenzung von gängigen Körperdiskursen und eine genauere Positionierung der eigenen, subkulturellen Identität bietet. 2 Das Ich im StudiVZ Als eines der am häufigsten genutzten Onlinenetzwerke Deutschlands existiert das Studentenverzeichnis, kurz StudiVZ, seit Oktober 2005 und verfügt nach eigenen Aussagen inzwischen über mehr als 5,5 Millionen Nutzer (vgl. StudiVZ Ltd. 2009). Das Netzwerk wird ebenso für Schüler (schülerVZ) angeboten, beide Plattformen wurden mit der nicht zielgruppenspezifischen Community MeinVZ gekoppelt. Ähnlich dem Vorbild Facebook bietet das StudiVZ die Möglichkeit, Userprofile zu erstellen und diese über die Mitgliedschaft in thematischen Gruppen und durch die Verbindung mit anderen Nutzern über die Metapher Freundschaft in das Netzwerk einzubetten. Der Nutzer kann bei der Generierung seines Profils auf verschiedene Ausdrucksarten zurückgreifen. Neben Beschreibungen zur Mitgliedschaft, zur akademischen Laufbahn und zum persönlichen Status (also Beziehung, politische Ausrichtung, Interessen und Musikgeschmack beispielsweise) wird das Nutzerprofil bereits auf den ersten Blick durch einen Nutzernamen und ein Bild personalisiert. Auf der Ebene der Vernetzung bieten sich Einblicke in Gruppenmitgliedschaften, befreundete User und Verlinkungen auf Fotos anderer. Ergänzt wird das Profil durch den Zugriff auf die persönlichen Fotoalben. Die Jugendlichen kommen zahlreich auf diese Funktion in der Community zurück, um wie im realen Kontakt 1 mit Freunden und Familien Fotos von Feiern, Geburtstagen, Urlauben, Treffen, etc. zu zeigen. Inzwischen ist besonders unter den jungen Mitgliedern ein neuer Trend aufgekommen: Die Erstellung einer, von mir als Ich-Album bezeichneten, Auflistung von Selbstporträts. My body style(s) 173 Als Ich-Album bezeichne ich im Folgenden ein Fotoalbum, das fast ausschließlich fotografische Selbstporträts des Nutzers versammelt. Von den Nutzern wird es schon über den Titel des Albums rein auf die eigene Persönlichkeit fokussiert. So finden sich Namen wie ‘Me Myself and I’, ‘Ich’, ‘Ich halt’ oder französisch ‘Moi’ sowie weitere Variationen derartiger Ausrichtung. Da es sich dabei um ein Album handelt, weichen die Nutzer dezidiert von herkömmlichen Selbstporträts, die vereinzelt in einem anderen Album auftauchen, ab. In einem Ich-Album werden oft mehr als fünf solcher Fotos kompakt in einer Auflistung versammelt. Auffällig ist daran eben die komprimierte Darstellung des Selbst in mehreren Aufnahmen des eigenen Körpers. Die Aufnahme der Selbstporträts erfolgt unter Nutzung einer Digital- oder Handykamera und wird durch das Vorhalten der Kamera oder über einen Spiegel realisiert. Diese Aufnahmetechnik bedingt durch den eingeschränkten Radius auch den starken Schwerpunkt auf das fotografierte Objekt, den eigenen Körper. Elemente der Umgebung sind entweder gar nicht oder nur schwach im Hintergrund erkennbar. Diese Ich-Alben sind keine Eigenart der deutschen Community StudiVZ. Im großen, inzwischen weltweit verbreiteten Social Network Myspace trifft man ebenfalls auf solche Darstellungsformen. Allerdings möchte ich mich in den folgenden Betrachtungen aus zwei Gründen auf das deutsche Studentenverzeichnis beschränken. Zunächst einmal ist die Community das dominante virtuelle Netzwerk in Deutschland, welches bezüglich der Nutzerzahlen auch von den internationalen Größen Myspace oder Facebook unerreicht ist. Des Weiteren ist das Studentenverzeichnis als Gemeinschaft auf vergleichsweise wenig multimodale Funktionen im Profil reduziert, während andere Communities auch die Einbettung von eigenen Videos und das Verlinken eines Liedes ermöglichen. StudiVZ legt dagegen eher einen Schwerpunkt auf die Netzwerkstruktur. Die nicht textuelle Darstellung im Rahmen des Profils ist auf das Nutzerbild und die eingestellten Fotoalben beschränkt. Für die Nutzer sind die Fotografien daher ein bedeutender Bestandteil der persönlichen Informationen im Netzwerk und beinahe die einzige Möglichkeit, ihre körperlich-materielle Existenz zu veröffentlichen. 3 Körperzeichen im StudiVZ Weshalb stellen nun Nutzer ihre Körperlichkeit in einem ganzen Album, über mehrere Fotografien hinweg, aus? Ich gehe davon aus, dass der reale Körper des Nutzers aus mehreren Gründen im Internet an neuer Bedeutung gewinnt. Zunächst lässt sich die auffällige Präsenz von Körperfotografien in den medialen Eigenschaften des Internets begründen. So führt nach Irmela Schneider die Immaterialität des Internets auch zur Rückbesinnung auf den eigenen Körper: Die lebensweltliche Erfahrung des Körpers spielt genau dann eine wichtige Rolle, wenn die Lebensweltlichkeit von Erfahrungen für den Alltag immer marginaler wird. Anders formuliert: Der psychophysische Körper erhält in einer Situation neue Aufmerksamkeit, in der seine physische Präsenz, sein ‘Standpunkt’ […] immer mehr an Bedeutung verliert, immer stärker in Vergessenheit geraten kann (Schneider 2000: 14 f.). Denn obgleich Jugendliche das Internet insbesondere seit den Entwicklungen, die man so gern unter dem schwammigen Begriff Web 2.0 oder Mitmach-Netz fasst, aktiv-produzierend mitgestalten, sei es durch Blogs, eigene Profile oder das Design ihrer eigenen Seiten, fehlt ihnen durch die Eigenart des Mediums ein entscheidender Bestandteil der eigenen Hand- Julius Erdmann 174 schrift: Die konkret physische und sinnliche Seite einer körperlichen Identität. Als mediale Vermittlung menschlicher Kommunikation entbehrt das Internet jegliche Form von materieller Präsenz des Nutzers. Die digitale Struktur des Mediums hebt im Internet das Bewusstsein einer physischen Präsenz noch stärker als bei anderen Kommunikationsformen auf. Nicht umsonst wird deshalb in virtuellen Welten wie SecondLife oder dem Rollenspiel World of Warcraft der menschliche Körper durch generierbare Avatare ersetzt, die dem menschlichen Vorbild immer mehr ähneln und seine Funktionen imitieren. Allerdings dient die Einführung des Körpers nicht nur der Rückbesinnung des Nutzers auf seine eigene Materie, sondern insbesondere den Grundprinzipien der Kommunikation mit anderen. Der oft gelobte Aspekt des Internets - die Vernachlässigung der Körperlichkeit, der materiellen Präsenz eines Autoren - ist in der Kommunikation, wie sie in sozialen Netzwerken eine entscheidende Rolle spielt, nicht immer unproblematisch. Die mangelnde physische Präsenz des Nutzers erschwert die glaubhafte Kommunikation. 2 Dem aktiven Internetnutzer fehlt es somit an der bestätigenden Kraft einer materiellen Präsenz. Den dadurch entstehenden Mangel an Glaubwürdigkeit nimmt Vanessa Diemand auf, wenn sie davon ausgeht, dass die Selbstdarstellung im Internet vor allem Nähe, Persönlichkeit und Authentizität suggerieren muss (vgl. Diemand 2007: 74). Ich gehe davon aus, dass die explizite Darstellung des Körpers über Fotografien dem Zweck dient, die Glaubwürdigkeit durch den Rückgriff auf die physische Präsenz in der Realität wiederherzustellen. Das “Wesen der Fotografie besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt”, wie es bereits Roland Barthes (1989: 95) treffend formuliert hat. In diesem Sinne kann man die Fotografie nach Peirce als ein Dicizeichen fassen, das in seinem Interpretantenbezug die reale Existenz des abgebildeten Objektes behauptet (vgl. Peirce 1993: 125). Im fotografischen Prozess reagiert das Material des Films physisch auf das durch das Objekt reflektierte Licht, was schlechthin zu dem Glauben führt, dass das Abbild dem Objekt entspricht. An dieser Stelle soll die semiotische Seite des Körperbildes näher präzisiert werden: Nach Peirce können Zeichen bezüglich ihres Interpretantenbezugs in drei Arten unterteilt werden: Das Rheme, das als Darstellung des Objektes in seinen Eigenschaften verstanden werden kann, das bereits angesprochene Dicizeichen, welches eine reale Existenz des Objektes repräsentiert, und letztendlich das Argument, welches als Gesetz verstanden werden kann (vgl. Peirce 1993: 126). In Bezug auf das Körperzeichen können diese Arten des Bezugs auf den Interpretanten als Ebenen aufgefasst werden. In seiner Funktion als Rheme wird in dem Abbild ein Körper eines Menschen (in Abgrenzung zu weiteren Objekten) erkannt. In der zweiten Ebene, der Eigenschaft als Dicizeichen, nimmt der Rezipient ein Zeichen wahr, welches das Dasein des abgebildeten Körpers in der realen Welt behauptet. Indem eine Person fotografische Selbstporträts innerhalb der Community veröffentlicht, nutzt sie die Wirkung des Fotos und stellt einen intensiv personalisierten Realitätsbezug innerhalb des virtuellen Mediums her. Das Körperbild muss folglich interpretiert werden, als wäre es die Abbildung eines realen Körpers. In der dritten Ebene - und dies ist eine Ebene der weitergehenden Lesart des Abbildes - wird das Körperbild als Argument gesehen. Hier kommt die Einbettung des Abbildes in den Rahmen des Nutzerprofils zum Tragen: In Verbindung mit dem personalisierten Profil ist der Rezipient beispielsweise angehalten, den dargestellten Körper als zugehörig zum Inhaber zu interpretieren. Diese Interpretation wird verstärkt durch die Bildunterschriften oder Albumtitel, welche in vielen Fällen auf den persönlichen Körper hinweisen. Jedoch stellt sich hier das Problem, dass es relativ leicht ist, mit fremden, digitalen Körperporträts eine falsche Identität zu konstruieren. Es kommt häufig vor, dass Mitglieder My body style(s) 175 von virtuellen Gemeinschaften sogenannte Fake-Charaktere erstellen, indem sie beispielsweise Bilder von Stars oder anderen Personen veröffentlichen und diese als eigene Präsenz darstellen. Meines Erachtens wird durch die dritte Zeichenebene der Selbstporträts ebenso gegen den Vorwurf eines fremden Körpers gearbeitet. Man kann den Bildern Zeichen für die dezidierte Abbildung der Beziehung zwischen Fotograf und aufgenommenem Objekt entnehmen. Barthes unterscheidet bei der Fotografie zwischen drei Tätigkeiten: Der operator - der Fotograf und Ersteller des Bildes - der spectator - der Betrachter - und das spectrum, also das, was fotografiert wird (vgl. Barthes 1989: 17). Das Erscheinen der Kamera innerhalb des Bildes, Reflektionen des Blitzlichtes im genutzten Spiegel, der empor gehaltene Arm, der die Aufnahme auslöst - diese Zeichen deuten auf den Körper in seiner doppelten Rolle als operator und spectrum. Durch das mehrfache Anzeigen dieser doppelten Bedeutung innerhalb des Albums, zumeist unter verschiedenen Aufnahmeperspektiven, muss das Körperbild in seiner Eigenschaft als Rheme tendenziell mehr auf die reale Existenz des abgebildeten Körpers und seiner Einheit mit dem Profilinhaber deuten. In dieser dritten Ebene bietet sich dem Nutzer folglich die Möglichkeit, eine komplexe Zeichenhaftigkeit aufzubauen und darüber einen neuen, virtuellen Körper zu kreieren. Über die Fotos des Ich-Albums wird eine neue Körperlichkeit in das Internet eingeführt, die sich von zuvor existierenden Versuchen der textuellen Konstruktion stark unterscheidet. So war der virtuelle Körper zu Zeiten von grafischen Avataren und textlichen Beschreibungen eher als abstrakt immaterielles Konstrukt im Internet zu erkennen: Betrachtet man die Repräsentationen des Körpers in elektronischen Kommunikationsumgebungen, so ist offensichtlich, dass der Körper hier lediglich als symbolisches und diskursives Konstrukt oder als stereotypisierte graphische Repräsentation auftritt. Entsprechend ist der Eindruck von Körperlichkeit ein vorrangig im Dialog mit anderen Netzteilnehmern über Texte und Graphiken konstruiertes Gefühl, erschaffen durch Sprache und nicht getragen von konkreten physischen und sinnlichen Eindrücken (Becker 2000: 45). Im Gegensatz zu Körperbeschreibungen, wie sie in früheren Chats notwendig waren, um sich selbst eine physische Präsenz zu verleihen, muss der User sich heutzutage nicht mehr auf stereotypisierte, grafische Konstruktionen beschränken. Es muss angenommen werden, dass inzwischen ein zumindest gradueller Unterschied zu diesen Selbstkonstruktionen vorliegt, da die Nutzer immer leichter und in komplexerer Form fotografische Zeichen im WWW veröffentlichen. Allein durch die Ähnlichkeitsbeziehungen der Körperfotografie als Rheme mit ihrem realen Objekt liegt ein tendenziell sinnlicher Eindruck in dieser Darstellung des eigenen Leibs. Zwar kommt es nach wie vor - und dies ist bis auf weiteres durch die Medialität des Internets eine Notwendigkeit - zu einer Konstruktion des Körpers. Aber diese basiert zunächst einmal auf den konkret physischen Gegebenheiten des Objekts, die per Aufnahme festgehalten und in das Internet transferiert werden. Dabei muss festgehalten werden, dass dieser neue Körper nicht isoliert als fotografische Form steht, es kommt zu einer Vermischung mit den textuellen und hypertextuellen Elementen der StudiVZ-Maske und weiteren grafischen Einheiten. So fallen z.B. noch textuelle, körperliche Selbstbeschreibungen im Profil, in Gruppenzugehörigkeiten 3 , aber auch in Form von Bildunterschriften auf. Hypertextuelle Verweise entstehen insbesondere bei der Verlinkung des Nutzers auf Fotografien anderer Mitglieder, auf denen er erkennbar ist. Grafische Symbole werden entweder in die Fotografie integriert oder neben das Körperbild gestellt und sind damit konstituierend für den Wahrnehmungskontext des Bildes. Das lichtbildnerische Selbstporträt ist nicht nur die Bestätigung der im Profil konstruierten Identität des Nutzers, sondern sie wirkt als Ergänzung, die mit den anderen symbolischen Julius Erdmann 176 Komponenten, wie beispielsweise den Informationen über den Nutzer, seinem Engagement in Gruppen, oder die konkrete Vernetzung über den Freundeskreis, in ein Wechselverhältnis gerät. Letztendlich ist jedoch der Körper “der exponierte Ort der Inszenierung des Selbst” (Scherger 2000: 246). Stellt der Nutzer des StudiVZ in einem Ich-Album Fotos ein, so erfüllt er nicht nur den geforderten Identitätsnachweis, sondern er inszeniert eine spezifische, virtuelle Identität und stellt diese aus. 4 Körperliche Selbstinszenierung Die fotografische Selbstabbildung dient in einem ersten Moment der Verankerung der virtuellen Präsenz in einem realexistierenden Bezug. Die dadurch in der Kommunikation mit anderen erlangte Authentizität stellt eine Basis für die darüber hinausgehende Funktionalisierung des Körperbilds als Konstituente der Identitätskonstruktion dar. Dafür nutzt das Community-Mitglied sein Körperbild ähnlich seinem physischen Körper: Es wird mit identitätsbildenden Symbolen ausstaffiert, dient gleichsam als Zeichenträger für - bei jungen Nutzern - die persönliche, jugend-(sub-)kulturelle Welt. In dieser komplexen Zeichenhaftigkeit des digitalisierten Körpers spiegelt sich die neue Dimension der Körperdarstellungen im Internet: Auf der körperlichen Darstellung gründend wird das Abbild mit Symbolen versehen und in ein interaktives Netzwerk eingebettet. Da sein Ich-Album aus Selbstporträts besteht, erfasst der User gewissermaßen sich selbst und manipuliert damit die “herkömmliche Struktur” (Barthes 1989: 17) eines spontanen Privatfotos nach Roland Barthes, welche sich in der Trennung zwischen operator, spectator und spectrum ausdrückt. Erstellt der operator vom menschlichen spectrum einen Schnappschuss, so kommt es beim Betrachten des Bildes durch das abgebildete Objekt oft zum Überraschungseffekt des Sich-Selbst-Sehens. Die Verunsicherung rührt vom Gegensatz zwischen dem körperlichen Selbstbild, dem Ich, und dem externen Abbild des Körpers her, welche in einer solchen Situation in einen direkten Abgleich geraten. “[Ich] wünschte”, sagt Roland Barthes, “daß mein Bild […] stets mit meinem […] ‘Ich’ übereinstimmte; doch vom Gegenteil muss die Rede sein: Mein Ich ist’s, das nie mit seinem Bild übereinstimmt” (Barthes 1989: 20). Die fotografischen Autoporträtisten im StudiVZ heben diesen Effekt auf. Bei ihnen fallen die Bestandteile operator und spectrum zusammen. Der operator übernimmt somit nicht nur die Steuerung des Auslösens, sondern zugleich die weitestgehende Kontrolle über den Ausdruck des spectrums. Das Verhältnis zwischen dem Körper und dem Bild wird umgekehrt: Der Fotograf gestaltet das Objekt, was in dem Fall sein Körper ist, nach den Vorgaben seines Selbstbildes. Er spielt mit dem Zwang des Objektes in der normalen Porträtaufnahme “immer einen Ausdruck zur Schau zu stellen” (Barthes 1989: 20). Das Objekt posiert, und bestimmt als operator zugleich, wann es abdrückt. Das Mitglied der Community verwirklicht über diese Doppelrolle also die gezielte Konstruktion seiner kulturellen Identität und seines virtuellen Ichs, es inszeniert das Bild jenseits aller Kontingenz so, wie es sich selbst sieht. Verbindet man die neue Struktur des fotografischen Prozesses mit der interaktiven Eigenschaft der sozialen Netzwerke, ergibt sich auf der Seite der Rezipienten ein Sehen, wie andere sich selbst sehen. Meines Erachtens funktionalisieren die Autoporträtisten ihre Privatfotos bereits während der Entstehung als mögliche Exponate des Selbst. Bei den herkömmlichen Urlaubs-, Freundeskreis- und Feierbildern, ob nun im realen Kontext oder in der virtuell veröffentlichten Form, handelt es sich in Abgrenzung zu erstgenannten Abbildungen tendenziell um My body style(s) 177 Erinnerungszeichen, die in ihrer Behandlung mehr in Deponate übergehen. Diese werden kurz nach der Entstehung gezeigt, um dann nur noch bei Bedarf, sei es dem individuellen oder kollektiven Besinnen, hervorgeholt zu werden. Die aufgenommenen Leibesbilder hingegen bleiben in ihrer Rolle als Exponate stabil, nicht zuletzt da das Album in gewissen Abständen aktualisiert wird. Bestes Zeichen für die Bestimmung als Ausstellungsobjekt ist, dass eine Alltagsbindung, also die situative, temporale und geografische Kontextualisierung - hier aus zwei Gründen beinah komplett entfällt: Zunächst beschränkt sich der Dargestellte und Darstellende meist auf das Umfeld seiner Privatsphäre - das Zimmer, das Bad, die Küche - ohne eine situative Bindung zu markieren. Zudem wird die Darstellung der direkten Umgebung durch die autoporträtierende Umsetzung extrem geschmälert: Da der individuelle Körper dominierend im Fokus steht und einen Großteil der Bildfläche ausfüllt, reduziert sich der Hintergrund auf wenige, unscharfe Flächen. Die fotografischen Exponate reihen sich hierbei in die Konzeption von Social Networks ein, wo die Selbstausstellung der Nutzer nicht nur über die verschiedenen Bestandteile der Profilmaske intendiert werden, sondern auch der Zwang zur Exhibition besteht. Virtuelle Communities gehören den Social Softwares an und letztere werden als solche internetbasierten Anwendungen, die Informations-, Identitäts- und Beziehungsmanagement in den (Teil-)Öffentlichkeiten hypertextueller und sozialer Netzwerke unterstützen (Schmidt 2006: 2), gefasst. Als Sparte dieser Social Software legen die virtuellen Gemeinschaften einen Schwerpunkt auf das Identitäts- und Beziehungsmanagement. Ziel der Mitgliedschaft ist also das In- Beziehung-Treten zu anderen Nutzern. Setzt man das Profil einer Visitenkarte gleich, so muss diese bei der Masse von weiteren Mitgliedern gezwungenermaßen eine komprimierte Vielzahl an interessanten Identitätsinformationen fassen, um zumindest gleichberechtigt neben den anderen zu stehen. Welche Möglichkeiten gibt es nun zur Konstruktion von bildlichen Identitätsinformationen? Die Erstellung einer digitalen Identität durch die Veröffentlichung von Selbstporträts basiert auf der Vermittlung zwischen der realen Materialität und der digitalen Abbildung über den fotografischen Prozess. In diesen Stufen liegen die drei Ebenen einer Selbstinszenierung, in der das jeweils vorhandene Ausgangsmaterial als Zeichen behandelt und entsprechend dem Selbstbild des Nutzers gestaltet wird: a) Das realkörperliche Image, welches sich neben der Zeichenhaftigkeit des nackten Körpers an sich insbesondere in dessen Kostümierung ausdrückt, ist bereits integraler Bestandteil der kulturellen Identität. Im realen Leben spielt der Körper als materielle Präsenz des Individuums eine entscheidende Rolle innerhalb der Interaktion mit anderen, da er als Medium, im Sinne von Mittler, fungiert. In seiner Grundkonstitution, also Größe, Gewicht, Geschlechtsmerkmale, Haut-, Haar- und Augenfarbe, seiner performativen Verformung, was sich in der Haltung, Mimik und Gestik, also der Körpersprache äußert, und seiner kulturellen Kostümierung sowie Veränderung, sprich das Bedecken durch Kleidung und Make-up, die Formung der Haare durch Frisuren, die dauerhafte Veränderung durch das Färben der Haare, sowie durch Tattoos und Piercings, steht der Körper in einer dezidiert visuellen Zeichenhaftigkeit. Diese Zeichen erfordern einen Gegenüber, der sie liest, denn “[zwischen] der Welt und dem Körper […] steht immer der Akt der Wahrnehmung” (Schneider 2000: 15). Wenn der Nutzer seinen Körper in einer fotografischen Abbildung wiedergibt, so nutzt er die reale Zeichenhaftigkeit eben auch in dieser medialen Form. Julius Erdmann 178 b) Die Inszenierung innerhalb des fotografischen Prozesses ist eng mit der oben besprochenen Einheit zwischen operator und spectrum verknüpft. Der Fotograf gewinnt eine weitestgehende Kontrolle über die Abbildung seines Körpers. Diese wird des Weiteren begünstigt durch Eigenheit der Digitalkameras, also der sofortigen Ansicht des fertigen Bildes und der Unbegrenztheit des fotografischen Materials. Die Möglichkeit, Fotografien bei Nichtgefallen zu löschen und unbegrenzt neu zu erstellen, führt dazu, dass der operator nicht nur seinen körperlichen Ausdruck steuert, sondern ebenso die Art der Aufnahme: Schärfe, Belichtung, Perspektive, der Ausschnitt und der Hintergrund sind stets justierbar. c) Eine dritte Ebene der gezielten Selbstinszenierung innerhalb des Fotos liegt auf dem Niveau der digitalen Verwendung des Abbildes. Inzwischen sind die vielfältigen Anwendungen zur digitalen Nachbearbeitung von Fotografien kein Novum mehr für die versierten Internetnutzer und sie arbeiten relativ offen mit Bildbearbeitungsprogrammen. Diese dienen ihnen aber nicht nur zur Nachbearbeitung von manuellen Fehlaufnahmen, sprich der Veränderung von Helligkeit, Kontrast und Farbe, sondern auch zur aktiven Umgestaltung des Abbildes durch Filter und Effekte sowie durch das collagenartige Hinzufügen von weiteren Objekten und Kommentaren oder Zusammenstellen mehrerer Fotografien zu einem Bild. Innerhalb eines Ich-Albums findet man relativ oft die Originalaufnahme neben einem durch Filter und hinzugefügte Symbole digital neu inszenierten Abbild des eigenen Körpers. Die digitale Ebene der Selbstinszenierung zeigt sich deshalb nicht nur in der Bearbeitung des Bildes an sich, sondern auch in dessen Einbettung in die Umgebung des Albums, in dem verschiedene Aufnahmen des Körpers versammelt werden und somit auch bestimmte Merkmale eindeutig in den Vordergrund gestellt werden. Am Ende dieses Prozesses liegt ein Abbild des eigenen Körpers vor, welches stark symbolisch aufgeladen ist und den Rezipienten vor eine komplexe Inszenierung des jeweiligen Nutzers stellt. Durch die vielfältigen Möglichkeiten der Selbstinszenierung im StudiVZ eröffnet sich für die Nutzer eine visuelle Spielwiese der ludischen Identitätserprobung. Für Angela Tillmann bieten die virtuellen Communities vor allem Gelegenheit “zur Selbstdarstellung, […] zur Orientierung und für die Herstellung von Zugehörigkeit [… und zum] Durchspielen von möglichen Selbsten” (Tillmann 2006: 47). In dieser Möglichkeit trifft sich das soziale Netzwerk mit den verschiedenen Jugendkulturen, denen die jungen Nutzer angehören. 5 Jugendkultur im StudiVZ Die Schnittstelle zwischen der Jugendsubkultur und der virtuellen Community liegt insbesondere im Aspekt ‘Durchprobieren’ von ‘Identitäten’. Schließlich dient kultureller Protest, wie er sich insbesondere bei Jugendsubkulturen äußert, auch diesem Spiel. “Der subkulturelle Protest”, so Rainer Paris, ist ein Terrain, das es erlaubt, mit abweichenden Identitäten zu spielen und zu experimentieren, also Abweichung auszutesten und zugleich implizit revidierbar zu halten (Paris 2000: 55 f.). Es ist nicht erstaunlich, dass die Jugendkulturen dafür, als Vorreiter solcher Entwicklungen im Internet, auf die Möglichkeiten der Communities zurückgreifen: My body style(s) 179 Heute sind Jugendkulturen mit ihrem rasanten Tempo auf der ‘Höhe der Zeit’ - etwa als Trendsetter für Konsummuster, Mediennutzung und die Tourismusbranche. Ihre Offenheit und rasche Nutzung von neuen Technologien macht einige Jugendsubkulturen (Hacker, Computerkids, ‘Techno’-Fans etc.) sogar zu technologischen Avantgarden (Roth/ Rucht 2000: 22). Im StudiVZ können die Jugendlichen ihre subkulturellen Identitäten inszenieren, die Integration in eine Gruppe Gleichgesinnter suchen und sich zugleich als oppositionell zur Hochkultur darstellen, im weitesten Sinne können sie folglich Kulturarbeit betreiben. Meines Erachtens sind die Ich-Alben im StudiVZ prädestiniert für eine visuelle Kulturarbeit im Sinne von aktiver Identitätskonstruktion. In den Autoporträts des Albums äußert sich visuell der jeweilige subkulturelle Stil des Autors. Der subkulturelle Stil sagt einiges über die Intensität der Bindung aus und lässt Rückschlüsse auf eine spezifische Subkultur zu. Schon im bloßen Erscheinungsbild drücken sich Missachtung der oder Angriff auf die herrschenden Wertmaßstäbe aus (Brake 1981: 19 f.). Mike Brake unterscheidet beim Stil die drei Hauptkomponenten ‘Image’, ‘Haltung’ und ‘Jargon’. Das Image, das sich laut Brake im Erscheinungsbild äußert, transportiert spezifische Symbole, die den Jugendlichen als zugehörig zur Subkultur markieren und seine restliche Identität mit der als Rahmen fungierenden Kultur verbinden (vgl. Brake 1981: 20). Der Körper spielt für den Jugendlichen somit eine entscheidende Rolle zur Konstitution von subkultureller Identität. Diese symbolische Verwendung des Images dient gemäß den oben geäußerten Überlegungen nicht nur der realweltlichen Manifestation einer eigenen Subkultur, sondern kommt insbesondere in den Körperbildern des StudiVZ zum Tragen. In enger Verbindung zu den restlichen Identitätsinformationen im Profil wirken die Körperbilder als Zeichen innerhalb der gesamten Selbstinszenierung des Nutzers. Sie reihen sich folglich in die Struktur symbolischer Ausdrücke der Jugendkultur ein. Soll das Profil entsprechend der Zugehörigkeit zu einer Subkultur gestaltet werden, so muss eine - zumindest graduelle - Kohärenz zwischen den textuellen und bildlichen Informationen vorliegen. Der Nutzer sucht dementsprechend nicht nur in Interaktion mit anderen, sondern auch profilintern die Wahrung seines subkulturellen Gesichts. Das Gesicht - face - wird hier in der Notion von Goffman als “an image of self delineated in forms of approved social attributes” (Goffman 1967: 5) verwendet. Geht man von einer Konstruktion dieses Gesichts über Zeichen aus, so spiegeln sich die, von Goffman angesprochenen, sozialen Attribute im kulturellen Hintergrund der Deutung von symbolischen Zeichen. 6 Sampling, Ausdrucksarsenale und multiperspektivische Bilder Was sind nun spezielle, häufig auftretende Eigenschaften der Körperaufnahmen in den Ich- Alben der Angehörigen einer Jugendsubkultur? Im folgenden Abschnitt sollen einige symbolische Auffälligkeiten innerhalb des Ich-Albums unter dem Aspekt der jugendkulturellen Abgrenzung - und in dem Sinne auch Eingrenzung - beschrieben werden. Zusätzlich werden konkrete Beispiele aus der Jugendkultur der Emos herangezogen. Wie oben besprochen bestehen die Ich-Alben in den meisten Fällen aus mehreren Aufnahmen des Körpers. Diese zeigen jeweils individuelle Aufnahmen des Körpers in einer bestimmten Pose, mit einem bestimmten Gesichtsausdruck. Die Fotografien werden zudem mit einem Bildbearbeitungsprogramm nachbearbeitet, mit weiteren Bildern verbunden oder mit grafischen Zeichen ausgestattet. Zunächst soll die reale Präsenz des Objekts im fotogra- Julius Erdmann 180 fischen Prozess betrachtet werden. Hier fällt auf, dass der Körper tatsächlich eine starke Rolle für die Inszenierung der subkulturellen Identität spielt: Der Körper wird im Sinne der Zugehörigkeit ausgeschmückt und mit entsprechenden Symbolen versehen. Jede Jugendkultur hat in diesem Sinne ihre dominante, körperliche Symbolsprache, die sich beim Punk z.B. in grellen Haarfarben, Irokesen-Schnitten und Lederjacken mit Nieten zeigt. In den virtuellen Körperaufnahmen wird dieser Stil natürlich repliziert, um auch im Internet die physische Zugehörigkeit zu markieren. Die Emo-Kultur entstand zunächst aus einem musikalischen Genre - dem Emotional Hardcore. Dieser entwickelte sich Mitte der Achtziger Jahre aus dem Hardcore-Punk und wendete sich als Antwort auf die aggressive Musik eher gefühlsbetonten, dennoch energetischen Weisen zu. Seit ca. Ende der Neunzigerjahre ging diese Underground-Kultur einen Stilwandel ein. Die Musik wurde populär, die Subkultur wurde zum Jugendtrend, ähnlich wie es zuvor dem Punk ergangen ist. Sie entwickelte sich von der hauptsächlich musikalisch definierten Subkultur durch Erweiterung auf einen bestimmten Lifestyle und eine gewisse charakterliche Festlegung zum Modephänomen. Die Emos schöpfen heute aus dem Symbolrepertoire anderer Subkulturen, insbesondere dem Punk, dem Gothic, aber auch der Manga- Kultur und dem Cyberpunk. Letztere hängt eng mit der geschichtlichen Überschneidung von der Popularisierung der Emo-Kultur und der schnellen Popularisierung des Internets zusammen. So ist die Jugendkultur quasi im Internet groß geworden, sie wurde insbesondere durch Social Networks, wie z.B. der stark musikorientierten Plattform Myspace.com und der Videoplattform Youtube.com verbreitet. Aufgrund dieser schnellen Verbreitung im Internet sind die jugendlichen Anhänger des Emo als Lifestyle und Jugendkultur zum Teil jünger als 13 Jahre. Allgemein zeichnen sich die Emos durch eine nach außen getragene Melancholie, Introversion und Sensibilität aus. Oftmals demonstrieren sie diese Gefühlsmäßigkeit in der Verehrung bestimmter Musik, in selbstgeschriebenen Songs oder Gedichten und letztendlich auch in den Selbstporträts, die sie in virtuellen Netzwerken veröffentlichen. Wie andere Subkulturen verweisen die Emos in ihren Ich-Alben auf ihre konkret körperliche Symbolik. So erkennt man bei ihnen oftmals eine auffällig gestylte Frisur mit grellen Farben, die an Punk, aber auch an Charaktere in Manga-Comics erinnert, sind dunkel geschminkt und tragen schwarz gefärbte Fingernägel wie Gothics. Selbstverständlich tauchen auch bei den Emos direkte Modifikationen des Körpers, also Tattoos und Piercings auf, welche bei vielen Subkulturen Formen des Widerstands per se sind. Interessant ist allerdings die Neubewertung dieser Zeichen ‘harter’ Subkulturen durch die Verbindung mit einer explizit ‘mädchenhaft’ sensiblen Symbolik. Diese drückt sich in Sternchen, Herzen, rosa Kleidern und Anklängen an die sexuell konnotierte Burlesque- und PinUp-Bewegung aus 4 . Des Weiteren wird die ursprüngliche Symbolik nicht nur durch den Wiederaufgriff förmlich konsumiert, sondern auch mit Elementen der Populärkultur und der Konsumgesellschaft gemischt. Beispielhaft für diese Eigenschaft der verbreiteten Jugendkultur ist die omnipräsente Emily-the-Strange-Figur 5 , aber auch bestimmte Schuh-Marken. Die Neubewertung der Zeichen anderer Subkulturen lässt sich mit dem Begriff des Samplings fassen. Sascha Kösch fasst die Kulturmethode Sampling als Aufnahme eines Signifikanten unter Neubewertung des Signifikats (vgl. Kösch 2001: 181). Nicht nur ihr Körper, sondern insbesondere die gesammelte Darstellung mehrerer Abbilder ihres Körpers im Ich-Album erlaubt den Emos in besonderer Weise, diese Methode des Samplings durchzuführen. So wird subkulturelle Körperlichkeit in den virtuellen Fotoalben als Spiel in mehreren Perspektiven, verschiedenen Teilsymboliken, Körperausschnitten und -details neu konzipiert. Die Neubewertung des Körpers entsteht insbesondere in den späteren Ebenen des digitalfoto My body style(s) 181 Abb. 1 grafischen Prozesses. So wird beim Auslösen durch den Fotografen ein bestimmtes Bild des fotografierten Objektes festgehalten. Durch die Steuerung des Ausdrucks können die Jugendlichen mehrere Abbilder von sich selbst erstellen und im Album nebeneinander präsentieren. In diesen aneinandergereihten Momentaufnahmen liegt insbesondere ein Schwerpunkt auf der wechselnden Ausschmückung des Körpers und auf dem jeweils gezeigten körperlichen Ausdruck. Dadurch entsteht eine Art Arsenal an verschiedenen Emotionen, die über Gesichtsausdruck und Körperhaltung inszeniert werden, und Teilcharakteren. Diese repräsentieren zumeist einen entscheidenden Teil der subkulturellen Identität. Durch die Steuerung des Ausdrucks im Selbstporträt des Nutzers findet die Trennung zwischen Körper und Geist eine Auflösung - der Körper fügt sich in Posen, um Merkmale des Charakters - in der Emo- Subkultur, um es ironisch zu formulieren, zwischen vor-Schmerz-schreiend, melancholischnachdenkend und einfach nur süß (vgl. Abb. 1) - auszudrücken. Bei den Abbildungen handelt es sich um Auszüge von Nutzern aus der Community StudiVZ. Im Sinne der Anonymisierung der Nutzer wird hier auf eine genaue Quellenangabe der verwendeten Abbildungen verzichtet. Julius Erdmann 182 Abb. 2 Des Weiteren findet sich häufig die Abbildung lediglich eng gesetzter Details des Körpers (vgl. Abb. 2). Beispielsweise besteht das Ich-Album aus Detailaufnahmen von der Hand, dem Mund, den Augen, in einigen Fällen auch des Bauchnabels. Diese werden zudem oftmals durch ein resümierendes Abbild des gesamten Körpers ergänzt. Die Details werden in Funktion des Identitätsausdrucks gewählt. Jedoch wird der Mund nicht nur abgebildet, weil man ihn als schön empfindet, sondern er dient der Fokussierung subkultureller Merkmale, was sich in einem bestimmten Lippenstift oder, stärker noch, in einem Zungenpiercing ausdrückt. Die stark vergrößerte, fokussierte Aufnahme solcher Symbole legt damit einen Akzent auf die ausgewählten Identitätsmerkmale des Nutzers. Er bestimmt, welche Bestandteile seines Körpers als konstituierend für das ganze Ich stehen sollen und führt den Rezipienten somit durch die Elemente seiner Identität. Durch die Zusammenführung der Details wird eine körperliche Einheit hergestellt und wiederum mit der Identität des Nutzers gekoppelt. Im Gegensatz zur detaillierten Darstellung des Körpers scheinen die Nutzer ebenso die Abbildung der Gesamtheit zu beanspruchen. Nicht nur durch die Aneinanderreihung von My body style(s) 183 Abb. 3 Fotos im Album, sondern durch die Verkettung verschiedener Aufnahmen in einem einzigen Bild. Durch die Nachbearbeitung in Bildbearbeitungsprogrammen lassen sich so relativ komplexe Collagen erstellen, die Körperbilder ineinander verschachteln oder in einigen Beispielen kunstvoll nebeneinander stellen (vgl. Abb. 3). Durch die unterschiedliche Perspektive auf den Körper - ob er von vorn oder in der Rückansicht, ob von unten oder in der Draufsicht aufgenommen - können sich so multiperspektivische Bilder, die an die Werke von Picasso erinnern, ergeben. Dies lässt sich einerseits mit der verlorenen, körperlichen Präsenz im Internet erklären, wird doch so der Versuch unternommen, durch zweidimensionale Abbildungen der dreidimensionalen Konstitution des realen Körpers Rechnung zu tragen. In der Interaktion mit anderen Nutzern ist jedoch vielmehr der Julius Erdmann 184 pragmatische Aspekt einer solchen Darstellung zu betonen. Der abgebildete Körper wird in der dadurch intendierten Dreidimensionalität als Ganzes für den Rezipienten greifbar, es wird eine kulturelle Einheit konstruiert. Dies führt dazu, dass der Nutzer als authentische und reale Person erscheint und seine textuelle Identitätskonstruktion im Profil an Glaubwürdigkeit gewinnt. Zudem muss ein Akzent auf die Konstruktion solcher ganzheitlicher Bilder gelegt werden. Der Nutzer erarbeitet hier eine neue Form von Körperlichkeit, die nicht nur als Ersatz für die reale Existenz zu sehen ist. Vielmehr wird die Inszenierung besonders ausdrucksstark, wenn sie mit der realkörperlich subkulturellen Ausschmückung gekoppelt wird. Die Jugendlichen nutzen die Gegebenheiten im Ich-Album, um sich effektiver in ihrer Subkultur inszenieren zu können, Zugehörigkeit herzustellen und darüber hinaus jugendkulturelle Interaktion zu gewährleisten. 7 Mediale Identitäten? Die Jugendlichen stellen sich in ihren digitalen Fotoalben aus, nicht nur in Form von zufälligen, fotografischen Aufnahmen im Urlaub, sondern über gezielt für das soziale Netzwerk erstellte Autoporträts, die in Ich-Alben veröffentlicht werden. Dennoch dürfen diese Abbildungen nicht nur als Wiedergabe ihrer realen Körperlichkeit gedacht werden. Die jungen Nutzer übersteigen in ihren Körperzeichen das Niveau der Abbildung im Sinne des ikonischen Zeichens nach Peirce. Die Zeichen besitzen vielmehr eine neue, symbolische Ebene, die neben der vermittelten Glaubwürdigkeit auch der gezielten virtuellen Identitätskonstruktion dient. Jedoch ist dies nicht im Sinne von ehemaligen, grafischen Darstellungen, wie z.B. Avataren, zu verstehen. Vielmehr steht die Körperlichkeit als komplexer Anklang an die reale Existenz in elementarer Verbindung zu den restlichen textuellen, hypertextuellen und grafischen Identitätsinformationen. In diesem Sinne begegnet die Funktion der Ich-Alben der Subkultur: In beiden Bereichen suchen die jungen Nutzer nach Zugehörigkeit und Abgrenzung durch Identitätskonstruktion. Wie am Beispiel der Emo-Subkultur gezeigt wurde, kann in den Selbstporträts ein subkulturelles, virtuelles Ich kreiert werden. Die Jugendlichen inszenieren sich über die Ich-Alben im Rahmen ihrer Subkultur als Individuen - sie greifen nicht auf starre Symboliken zurück, sondern sampeln Subkulturtechniken anderer Strömungen, um sie in ihre kulturell-individualistische Symbolik einzufügen. Die Zeichen ihrer Subkultur entstehen demnach aus der diskursiven Vermittlung zwischen ihren individuellen Collagen und dem subkulturellen Konsens. Dieser Vorgang zeigt sich für alle Jugendsubkulturen im Übergang in die virtuelle Welt: Sie nutzen die Materialität des Körpers, um sie in die Virtualität zu überführen. Auf dem Weg dorthin ändert sich seine Darstellung grundsätzlich. Einerseits versuchen sie durch neue Techniken dem Anspruch der mangelnden Materialität gerecht zu werden, andererseits spielen sie mit den Techniken der Köperinszenierung, entfremden sie durch fotografische Kunstgriffe und betten sie in neue, digitale Zusammenhänge ein. Dadurch erstellen die Jugendlichen eine neue Identität für das Internet, im Sinne von Lutz Ellrich: “Mediale Identität ist […] ein genuines Phänomen und keine technische Reproduktion einer natürlichen oder eigentlichen Gegebenheit” (Ellrich 2000: 90). In der Exponierung ihres neuen Körpers im Internet stellt sich der potenzierte Widerstand der Subkultur dar: Für die Jugendlichen ist das Web keine abstrakte Welt mehr, sondern ein greifbar real-sozialer Raum zur Darstellung ihrer Identität. My body style(s) 185 Literatur Barthes, Roland 1989: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Becker, Barbara 2000: “Cyborgs, Robots und ‘Transhumanisten’ - Anmerkungen über die Widerständigkeit eigener und fremder Materialität”, in: Becker, B. & I. Schneider (Hrsg.) 2000: Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit - Identität - Medien, New York / Frankfurt/ M.: Campus, 41-70 Brake, Mike 1981: Soziologie der jugendlichen Subkulturen. Eine Einführung, Frankfurt/ M. u.a.: Campus Diemand, Vanessa 2007: “Gesicht wahren im Web 2.0 - Blogs zwischen Authentizität und Selbstinszenierung”, in: Diemand, V. (Hrsg.) 2007: Weblogs, Podcasting und Videojournalismus: neue Medien zwischen demokratischen und ökonomischen Potenzialen, Hannover: Heise, 58-89 Ellrich, Lutz 2000: “Der verworfene Computer. Überlegungen zur personalen Identität im Zeitalter der elektronischen Medien”, in: Becker, B. & I. Schneider (Hrsg.) 2000: Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit - Identität - Medien, New York / Frankfurt/ M.: Campus, 71-102 Goffman, Erving 1967: “On Face-Work. An analysis of ritual elements in social interaction”, in: Goffman, E. (Hrsg.) 1967: Interaction Ritual, New York: Anchor, 5-45 Hamann, Götz 2007: “Meine Daten sind frei”, in: Die Zeit 62.45 (31.10.2007), Hamburg: Zeitverlag Gerd Bucerius Kösch, Sascha 2001: “Ein Review kommt selten allein…”, in: Bonz, J. (Hrsg.) 2001: SoundSignatures, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 173-189 Paris, Rainer 2000: “Schwacher Dissens - kultureller und politischer Protest”, in: Roth, R. & D. Rucht (Hrsg.) 2000: Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz? , Opladen: Leske + Budrich, 49-62 Peirce, Charles Sanders 1993: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/ M.: Suhrkamp Roth, Roland & Dieter Rucht 2000: “Jugendliche heute. Hoffnungsträger im Zukunftsloch? ”, in: Roth, R. & D. Rucht (Hrsg.) 2000: Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz? , Opladen: Leske + Budrich, 9-35 Scherger, Simone 2000: “Die Kunst der Selbstgestaltung”, in: Becker, B. & I. Schneider (Hrsg.) 2000: Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit - Identität - Medien, New York / Frankfurt/ M.: Campus, 235-251 Schmidt, Jan 2006: Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie, Konstanz: UVK Schneider, Irmela 2000: “Anthropologische Kränkungen - Zum Zusammenhang von Medialität und Körperlichkeit in Mediendiskursen”, in: Becker, B. & I. Schneider (Hrsg.) 2000: Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit - Identität - Medien, New York / Frankfurt/ M.: Campus, 13-39 StudiVZ Ltd. (Hrsg.): Über uns, im Internet unter http: / / www.StudiVZ.net/ l/ press [15.01.2009] Tillmann, Angela 2006: “Doing Identity: Selbsterzählung in virtuellen Räumen”, in: Tillmann, A. & R. Vollbrecht (Hrsg.) 2006: Abenteuer Cyberspace. Jugendliche in virtuellen Welten, Frankfurt/ M. u.a.: Lang, 33-49 Notes 1 Im Folgenden wird unter der Realität in Abgrenzung zur Virtualität des Internets all das gemeint, was in der Welt außerhalb des Internets, sprich der real greifbaren Welt, stattfindet. Keinesfalls soll dadurch die Realität virtuell vermittelter Informationen oder Beziehungen hinterfragt werden. 2 Hierbei sei nur auf die anhaltende Debatte über Vertragsabschlüsse im Internet hingewiesen. 3 So gibt es Gruppen, die explizit auf bestimmte körperliche Eigenschaften, wie Haarfarbe, Gewicht, oder Augenfarbe verweisen. Diese sind interessanterweise meist mit normativen Komponenten gekoppelt, die die jeweilige Eigenschaft gegenüber anderen vorziehen. 4 Gemäßigt, aber dennoch deutlich tritt diese Neukontextualisierung auch bei männlichen Vertretern auf. 5 Dieses 'dunkle' Comic-Mädchen vereint beispielhaft die melancholisch aggressiven mit den emotional lieblichen Zügen der Emos. Inzwischen ist es auf T-Shirts, Portemonnaies, Taschen und in sämtlichen anderen Printformen erhältlich. Pimp your profile - Fotografie als Mittel visueller Imagekonstruktion im Web 2.0 Stefan Meier The text shows exemplary practices of image construction by photography in the so-called social web or Web 2.0. Especially in collaborative online applications like Flickr or social networks like MySpace, Facebook or StudiVZ you can see different style conventions. The aim of the text is to explain its reasons and to describe communicative practices in the background. Der Text stellt exemplarisch Praktiken der Imagekonstruktion mittels Fotografie im so genannten neuen Netz, social web bzw. Web 2.0 vor. Dabei zeigen sich in den verschiedenen kollaborativen Online-Anwendungen wie der Foto-Plattform Flickr und den so genannten social networks wie MySpace, Facebook oder StudiVZ unterschiedliche Stilkonventionen. Ziel des Beitrags ist es, diese analytisch zu ermitteln und die ihnen zugrundeliegenden kommunikativen Aushandlungen zu explizieren. 1 Einleitung Obwohl das so genannte Mitmachnetz als Infrastruktur userbasierter Inhaltsproduktion schon seit geraumer Zeit im öffentlichen aber auch wissenschaftlichen Fokus steht, beginnt die Beschäftigung mit den damit verbundenen Bildpraktiken erst. Grund dafür scheint die Hybridität und Dynamik des Mediums Internet zu sein, das nicht nur die vermeintlich professionelle Bildproduktion der Werbung, der PR sowie des Bildjournalismus etablierter Massenmedien aufnimmt, sondern vermehrt auch Fotografie und Bewegtbilder privater Produzenten enthält. Diese werden je nach kommunikativem Anlass und genutzter Kommunikationsform einer Weböffentlichkeit präsentiert, die durch soziale Netzwerk-Bildungen in spezifische Teilöffentlichkeiten aufgegliedert ist. Durch die zunehmende Nutzung breitbandiger Übertragungswege unterliegen außerdem die genutzten Kommunikationsformen (Blogs, Foren, Wikis etc.) ständiger technischer Erweiterung, die auch eine zunehmend datenintensivere Bildkommunikation zur Folge hat. In bestimmten Online-Plattformen wie Flickr, Youtube oder MySpace kommt es außerdem zu fortschreitenden Konvergenzen. So werden dort Fotos und Videofiles nicht nur hochgeladen und von anderen Usern kommentiert oder bewertet, sondern durch weitere Verlinkungen können diese auch in andere Webseiten eingebunden und so durch andere bedeutungsmodifizierende Inhalte als so genannte mashups kontextualisiert sein. Diese Dynamik und Hybridität des neuen Netzes erschwert es der Forschung, valide empirische Befunde und nachhaltigere medientheoretische Konzeptualisierungen zu entwikkeln (cf. Rössler und Wirth 2001; Pentzold und Fraas 2008). Jedoch kann Wissenschaft es K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Stefan Meier 188 sich nicht leisten, diese Entwicklungen zu ignorieren, wenn der inflationäre Gebrauch kooperativer Netzumgebungen nicht unreflektiert bleiben soll (cf. Meier 2008). Der Beitrag wird somit beispielhaft die kommunikative Fotopraxis in aktuellen kooperativ-kollaborativen Netzanwendungen behandeln und mögliche Konventionalisierungspraktiken rekonstruieren. Dabei wird zunächst kurz auf das hier favorisierte Konzept des Images eingegangen. Danach steht das Filter- und Ratingsystem der foto community Flickr im Fokus, das eine techniksowie kommunikationsbasierte Konventionalisierung von Fotografie zu bewirken scheint. Im Anschluss tritt exemplarisch die Folgekommunikation in den Blick, die ebenfalls die fotografische Produktion zur Kontaktstiftung und Imagekonstruktion zum Anlass nimmt. Es werden des Weiteren fotografische Praktiken innerhalb so genannter social networks (z.B. StudiVZ, Facebook) gezeigt, die eine abweichende Bildkommunikation in der Image-, Beziehungsbzw. Netzwerkarbeit (cf. Schmidt 2006) der Userinnen und User aufweisen als die dezidiert auf Fotografie fokussierte Community Flickr. Welche möglichen Motive bei diesen Praktiken eine Rolle spielen, wird anhand von Auszügen eines qualitativen Beispielinterviews gezeigt, das Bestandteil einer Studie ist, die innerhalb eines studentischen Forschungsseminars zu soziokulturellen Aspekten des Web 2.0 an der TU Chemnitz erstellt wurde. Abschließend wird der Text anhand kommunikationspragmatischer und zeichentheoretischer Überlegungen zur digitalen Imagekonstruktion im neuen Netz mögliche Ergebnisse zusammenfassen. 2 Zum Konzept des Images in der Internet gestützten Onlinekommunikation Ich vermeide in dem Beitrag den Begriff Identitätskonstruktion, obwohl dieser auch in der sozialpsychologischen Internet-Forschung (cf. Döring 2003) gängige Verwendung gefunden hat. Hier wird jedoch der Begriff des Images bzw. der Imagearbeit als kommunikatives Verhalten favorisiert, das von Goffman inspiriert als eine kontextabhängige, performative Aufführung eines Selbst (cf. Goffman 2004) in Webkontexten (cf. Meier 2008: S. 72ff.) meint. Gerade bei den hier fokussierten Plattformen und social networks wird eine kommunikative Arbeit im Sinne einer Self-PR realisiert. Sie zielt darauf ab, das dargestellte Ich als möglichst attraktives Fremdbild erscheinen zu lassen, um kommunikative Ziele, wie breite Wahrnehmbarkeit, Beliebtheit etc., zu erreichen. Diese kommunikative Arbeit ist in Form multimodaler Online-Daten im Netz manifest. Sie können ganz unabhängig davon untersucht werden, welche realen Personen hinter den Daten stehen. Aktuelle Identitätskonzepte nehmen jedoch eher eine Metaperspektive ein und gehen davon aus, dass das Individuum sich aus Teilidentitäten oder mixed identities zusammensetzt (cf. Keupp u.a. 2002). Je nach sozialer Rolle bzw. sozialem oder situativem Kontext wird das Individuum demnach bestimmten Teilidentitätszuschreibungen ausgesetzt und agiert entsprechend dieser und eigener kommunikativer Ziele. Solche Fokussierungen von Teilidentitäten setzen jedoch weiterhin voraus, dass die kontextabhängigen, unterschiedlichen Teilidentitäten immer auf ein bestimmbares Individuum zurückzuführen sind. In kollaborativen Netzwerken ist der Aktant jedoch nur hinsichtlich einer ganz konkreten, nur auf die Community bezogenen Teilidentität wahrnehmbar. Um dort als glaubhaft gelten zu können, muss er in seiner kommunikativen Aufführung als kohärente Einheit bzw. Ganzheit wahrgenommen werden, da angesichts geringerer Rückkopplungsmöglichkeiten leicht Irritationen und somit kommunikative Misserfolge verursacht werden können. Attraktivität erzielen Aktanten, indem sie dem in der Community Pimp your profile 189 unterstellten kollektiv getragenen Wertekonsens in ihrem kommunikativen Zeichenhandeln innovativ entsprechen. Dies zwingt sie zur Ausbildung und Verfolgung eines einheitlichen in diesem Sinne positiven Images, wie es auch Firmen mittels PR verfolgen, um ein angestrebtes Fremdbild in der Öffentlichkeit zu etablieren. Man ist in kollaborativen Netzwerken also nur mit jeweils einer aufgeführten Teilidentität konfrontiert, die hier als Image begriffen wird und die neben der kooperativen Konventionalisierungspraxis als Untersuchungsgegenstand bestimmt wurde. 3 Das software- und usergestützte Konventionalisierungssystem bei Flickr Das Web-Portal Flickr, das 2002 von Caterina Fake und Stewart Butterfield im kanadischen Ludicorp gegründet wurde, ist mittlerweile wohl die weltweit bekannteste Online-Plattform für Fotografie. Im Juni 2007 wurden zahlreiche Ableger in unterschiedlichen Landesprachen wie Französisch, Spanisch und Deutsch gegründet. Trotz großer Proteste gegen ein restriktives Filtersystem, das in der deutschsprachigen Version die Anzeige von Fotos unterdrückt, die von den Fotografen als mittel, oder eingeschränkt markiert wurden (Spiegelonline: http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ web/ 0,1518,488542,00.html [Zugriff 13.12.08]), genießt das Portal immense Zuwächse in der Nutzung. Während im November 2007 im deutschsprachigen Raum bereits zwei Milliarden Fotos eingestellt wurden, durchbrach die Community schon im November 2008 die drei Milliarden-Grenze (http: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Flickr [Zugriff 13.12.08]). Übertroffen wird das Portal in dieser Hinsicht nur von Facebook, das nicht explizit als Foto-Portal gilt, aber in seiner Funktion als social network (s.u.) noch größere Mengen an hochgeladenen Bildern enthält (http: / / blog.firstmedia.de/ ? p= 1622 [Zugriff 13.12.08]). Bei Flickr scheint jedoch die fotografische Praxis, Technik und Foto-Publikation im Vordergrund zu stehen, von der weitere Anschlusskommunikation entscheidend geprägt ist. Zwar lassen sich seit April 2008 dort auch Videos einstellen, allerdings wenden sich Teile von Community-Aktivisten engagiert gegen diese Funktionalität, weil sie hierdurch eine Beeinträchtigung des Portal-Profils und ihrer eigenen Netzwerkarbeit sehen (http: / / www.flickr.com/ groups/ no_video_on_flickr/ discuss/ 72157604451870444 [Zugriff 13.12.08]). Wie diese Netzwerkarbeit in Korrespondenz mit Softwaredispositionen zu Flickr spezifischen Ratings und fotostilistischen Konventionen führt, wird folgend näher beleuchtet. Die Startseite von Flickr (cf. Abb. 1: http: / / www.flickr.com [Zugriff 13.12.08]) zeigt wechselnde Fotografien, die einem recht hohen fotografischen Qualitäts-Standard bzw. einem bestimmten professionellen Genre-Muster zu entsprechen scheinen. Eine solche Musterhaftigkeit lässt sich anhand gewisser Gestaltungskriterien festmachen, die sich als visuelle Kodes im Laufe fotografischer Spezialdiskurse herausgebildet haben und die durch vergleichende Stilanalysen zu ermitteln sind. Grob lassen sich diese mustergeleiteten Kriterien in Mittel aufteilen, die sich zum einen nach bestimmten Genre-Vorgaben in der Motivauswahl und Gestaltung richten und zum anderen Techniken anwenden lassen, die das Hauptmotiv des Bildes betonen bzw. ihm Prägnanz oder Salienz verleihen. So deuten die in Abb. 1 dargestellten Titelfotos konkrete Genres wie Landschaft, Architektur, Sport und Makrofotografie mit den ihnen eigenwilligen Gestaltungsmustern an. Sie weisen dabei eine harmonische Bildaufteilung auf, die bei der Landschaftsaufnahme beispielsweise durch die Wahrung des Golden Schnitts (Flächenaufteilung ca. 1: 2) in der Positionierung des Horizonts oder in der Architekturfotografie durch die prägnante Betonung von Linienstrukturen verfolgt wird. In der Stefan Meier 190 Abb. 1: (http: / / www.flickr.com [Zugriff 13.12.08]) Sportfotografie kommt es außerdem auf eine gekonnte Schärfedarstellung von bewegten Motiven aus dynamisch wirkenden Perspektiven an und das Einfangen eines interessanten, spektakulären Augenblicks, der den Betrachter quasi zu einem Zeugen des Geschehens selbst machen soll. Gestalterisch wird zumeist die Hervorhebung eines konkreten Motives verfolgt, indem es fotografisch oder bei der Nachbearbeitung durch gezielte Schärfeverteilung betont wird. Dabei verschwinden vermeintlich unwichtige Kontexte in der Unschärfe. Ähnliches lässt sich auch mit gezieltem Lichteinsatz, spezifischer Farbgebung, Kameraeinstellung oder Hintergrund-Vordergrund-Inszenierungen erreichen. All diese Kriterien sind bei den verschiedenen Fotos auf der Startseite von Flickr prototypisch umgesetzt. Ein Klick auf die entsprechenden Namensangaben, die am unteren Rand der Fotos angebracht sind, zeigt dem User, dass die Fotos von ganz normalen Nutzern des Portals stammen. Ihr Erscheinen auf der Startseite lässt sie gleichzeitig jedoch als stilgebende Prägetexte begreifen, von denen sich das anvisierte Image des Portals ableiten lässt und nach denen sich anvisierte Userinnen und User für ihre eigene Fotoproduktion richten mögen. Dabei stellt sich die Frage, wie es zu dieser hohen professionellen Musterhaftigkeit bzw. Konventionalisierung in den aufgeführten Mitglieder-Fotografien bei Flickr kommt, einer Community, die wie MySpace oder StudiVZ vornehmlich frei, sprich unmoderiert und vermeintlich unhierarchisch organisiert ist. Um dieser Frage nachzugehen, wird zunächst auf die Funktionalitäten eingegangen, die jeder angemeldete Nutzer vermittelt durch das Flickr-Interface zur Verfügung gestellt bekommt. Darunter befindet sich eine Hauptrubrik mit dem Namen Entdecken, die durch ein Dropdown-Menü u.a. das Feature Interessantes der letzten 7 Tage anbietet. Ruft man die Pimp your profile 191 Abb. 2 entsprechend verlinkte Seite auf, so zeigen sich Miniaturfotografien (thumbnails). Auch hier werden gewisse Genre- und Gestaltungsmuster deutlich, die sich in gezielter Schärfeverteilung, Perspektiven- und Ausschnittwahl ausdrücken (siehe Abb. 2). Im gleichen Dropdown-Menü befindet sich der Link Neuste Fotos und Videos. Hier kommt man auf eine Seite, die einen Überblick über thumbnails bietet, die weniger den genannten fotografischen Mustern entsprechen (siehe Abb. 3). Man erkennt Privatpersonen in unterschiedlichen Alltagssituation sowie Bilder mit wenig kontrollierter Lichtführung und Schärfeverteilung. Nicht die Genre-Fotografie mit entsprechender Motiv-Inszenierung ist hier dominant, sondern Fotos, deren kommunikativer Gehalt auf die direkte Persönlichkeitsdarstellung bzw. auf die Dokumentation persönlicher Ereignisse bzw. Erlebnisse zielt. Zwischen den vorliegenden Rubriken Interessantes und Neue Fotos scheint somit ein Filtersystem zu wirken, das die Hervorhebung der benannten Standards in den favorisierten Fotos und somit die beschriebene Konventionalisierung veranlasst. Flickr selbst beschreibt die Wirkungsweise der Rubrik Interessantes wie folgt: Viele Faktoren beeinflussen, ob etwas auf Flickr interessant ist (oder nicht). Es kommt darauf an, woher die Klicks stammen, wer das Bild wann kommentiert, wer es als Favorit kennzeichnet, welche Tags verwendet werden und noch viele Faktoren mehr, die sich ständig ändern. (http: / / www.flickr.com/ explore/ interesting [Zugriff 29.05.08]). Stefan Meier 192 Abb. 3 Zwischen den vorgestellten Unterrubriken ist also ein Filtersystem wirksam, das seine Auswahl in einem Zusammenspiel von Useraktivität und Systemfunktionalität erstellt. Wie anhand der ungefilterten Rubrik Neue Fotos deutlich wird, besteht bei Flickr wie auch bei anderen social networks (z.B. MySpace, StudiVZ) die wenig reglementierte Möglichkeit der Imagearbeit in Form direkter fotografischer Selbstdarstellung. User können über ihre Person, aber auch über andere Gegenstände mit (audio)visuellen Mitteln frei berichten. Dennoch finden sich an favorisierter Position innerhalb der Flickr-Community eher visuelle Artefakte, die nach Maßgabe fachlicher Genrefotografie angefertigt wurden. Das eingesetzte software- Pimp your profile 193 gestützte Votingsystem befördert somit die Durchsetzung dieser fotografischen Muster. Es belohnt ein Nutzerverhalten mit größerer Wahrnehmbarkeit, sprich höherem Sozialkapital, das danach ausgerichtet ist, Fotografie als künstlerische bzw. kreative Ausdrucksform zu betreiben. Somit bilden die aktiven Mitglieder nicht nur ein softwaregestütztes Netzwerk, sondern auch eine Wertegemeinschaft (cf. Hepp und Tepe 2008), die ähnliche Ansichten über visuelle Stilgebung sowie kulturelle Funktionen von Fotografie teilt. Aus diesen Wertvorstellungen erwachsen die Kriterien für die persönliche Imagearbeit der Community-Mitglieder. Sie erreichen soziale Anerkennung, wenn sie als innovative bzw. kreative und (quasi-)professionelle Fotografen innerhalb der Community gelten und als entsprechende Referenz in den Kommentaren und Verlinkungen bekannt werden. Mit der beschriebenen netzgestützten Kollaborationspraxis weist Flickr ein grundsätzliches Strukturmerkmal des sogenannten social web (cf. Ebersbach/ Glaser/ Heigl 2008) bzw. des onlinegestützten Netzwerkens im Web 2.0 (cf. Schmidt 2008) auf. Solche Anwendungen gelten allgemein zum ersten als alternative Medien, in denen Wissensbestände produziert werden, die jenseits etablierter Nachrichtenflüsse oder institutioneller Bildungseinrichtungen wie Universitäten entstehen. Dabei bedienen sie sich alternativer jenseits des etablierten massenmedialen Systems befindlicher Distributionswege. Zum zweiten sind Produkte dieser kollaborativen Wissensproduktion weniger einer urheberrechtlich bestimmbaren Autorenschaft unterworfen, sondern unterliegen gemäß des Open-source-Gedankens einer allgemeinen Plausibilitäts- und Verwertbarkeitsprüfung sowie der freien Modifikation und Weiterverwertung (cf. Pentzold 2007; Fraas 2008; Guenther und Schmidt 2008). Dieses Merkmal ist bei Flickr jedoch eingeschränkt vorzufinden. Hier kann der User kostenlose oder durch bestimmte Bezahlung graduell abgestufte Lizenzierungen seiner Fotos erreichen. Auch ist die Einstellung fremder Fotos oder deren Bearbeitung mit anschließender Publikation untersagt. Die Community-Regeln von Flickr befördern somit eher die Produkte und damit die Imagearbeit des Einzelnen als eine kollektive Inhaltsproduktion. Allerdings gibt es auch die Möglichkeit, Gemeinschaften innerhalb der Community zu gründen und als themenorientierte Gruppen vor die Portalöffentlichkeit zu treten. Diese Praxis bewirkt die grundsätzliche Strukturierung der Community. Die daraus resultierende Wirkung auf das Filter- und Ratingsystem der Gesamt-Community wird folgend näher erläutert. Prinzipiell kann jede Nutzerin und jeder Nutzer eine thematische Gruppe gründen. Dabei wird zumeist ein besonderer fotografischer Aspekt zur Identitätsstiftung gewählt. So wenden sich Gruppen bestimmten Genres zu, nutzen ähnliche Fototechnik oder verfolgen gemeinsame fotografische Aufgaben der Motivwahl, Bildgestaltung etc. Die Gruppenmitglieder nehmen die Fotos in ihr Portfolio auf, die sie als gelungene bzw. innovative Umsetzung ihres Gruppenthemas empfinden. Dies geschieht über eine Verlinkung (tagging) des Einzelfotos. Dadurch wird eine Selektierung verursacht, die die ausgewählten Fotos gegenüber nicht ausgewählten favorisiert. Auswahlen von Gruppen bzw. stark vernetzten Einzelprofilen zählen zudem mehr als die Bestimmung eines Fotos durch einen einzelnen User mit einer geringen Anzahl von Verlinkungen. Dieser kann einzelne Fotos jedoch ebenfalls taggen und sie so als seine persönlichen Favoriten bestimmen. Eine solche für alle Userinnen und User zugängliche und wahrnehmbare Auswahlpraxis, das gemeinhin als Folksonomy bezeichnet wird, gilt als weiteres Strukturelement des social web. Tim O’Reilly, der Begründer des Web 2.0, beschreibt dieses Phänomen wie folgt: Sites like del.icio.us and Flickr, two companies that have received a great deal of attention of late, have pioneered a concept that some people call folksonomy (in contrast to taxonomy), a style of collaborative categorization of sites using freely chosen keywords, often referred to as Stefan Meier 194 tags. Tagging allows for the kind of multiple, overlapping associations that the brain itself uses, rather than rigid categories. In the canonical example, a Flickr photo of a puppy might be tagged both puppy and cute - allowing for retrieval along natural axes generated user activity (O’Reilly 2005: 2). Diese Praxis soll folgend anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Klickt man den Namen tarostas an, der am unteren Rand von einem der Titelfotos auf der Startseite von Flickr erscheint, so gelangt man auf die Profil-Seiten dieses Fotografen. Darin zeigt sich, dass tarostas zahlreichen unterschiedlichen Flickr-Gruppen angehört. Er ist somit ein sehr aktives Mitglied und wird von vielen ebenfalls bereits organisierten Aktivisten geschätzt. Betrachtet man die Kommentierungen, die von anderen Flickr-Nutzerinnen und -Nutzern unter die von tarostas publizierten Fotos hinterlassen wurden, so fallen neben der hohen Zahl an positiven Stimmen auch die zahlreichen Anfragen auf, die den Fotografen bitten, seine Arbeiten auch im Portfolio der entsprechenden Gruppe zu platzieren und als Mitglied beizutreten. Kommentierungen, Aufnahmen einzelner Fotos in den Favoritenordner einzelner Flickr-Mitglieder und in Portfolios großer Gruppen sowie die Bestimmung von Einzelarbeiten als interessant, all dies sind Komponenten, die den Flickr-eigenen Algorithmus veranlassen, bestimmte Fotografien und Fotografen an prominenter Stelle innerhalb des Netzwerkes zu präsentieren, sodass deren Wahrnehmbarkeit gesteigert wird. Da die Auswahlen sich nach den zugrundegelegten Kriterien der Nutzerinnen und Nutzer selbst organisieren, wirken die Kriterien am dominantesten, die von den meisten auswählenden Mitgliedern angelegt werden. Diese scheinen sich in der vorliegenden Community mehrheitlich nach den genannten fotografischen Mustern zu richten, was zu den beschriebenen Selektionsergebnissen führt und die Community ihrerseits wieder als Wertegemeinschaft bestätigt. Erfolgreiche Imagearbeit des Einzelnen, sprich die hohe Wahrnehmbarkeit innerhalb der Community, entsteht somit nach dem Grad innovativer und kreativer Umsetzung intersubjektiv dominanter Qualitätsvorstellungen von Fotografie und nicht durch direkte Selbstdarstellung. 4 Fotografische Kommunikation in social networks Durch die beschriebene Folksonomy-Praxis weist Flickr zwar ein weiteres Strukturmerkmal des social web auf, das Jan Schmidt (2006) anhand von Weblogs mit der Praxis der Identitäts- und Beziehungsorganisation beschreibt, jedoch bleibt bei Flickr die Fotografie das Hauptthema zur Strukturierung der Kommunikation und Netzwerkdynamik. Nicht die Nutzerinnen und Nutzer stehen im Vordergrund, sondern ihre fotografischen Arbeiten. Dies scheint in genannten social networks wie MySpace, Friendster oder StudiVZ, die ebenfalls der onlinegestützten Vergemeinschaftung dienen, anders organisiert zu sein. Hier machen sich an prominenten Stellen die Userinnen und User mittels Fotografie selbst zum Thema. Sie entwerfen ein Bild von sich, arbeiten direkt an einem Image, das sie anderen Portal-Mitgliedern zur Kenntnis geben. Ähnlich wie bei Flickr wählen oder erstellen die Mitglieder dieser social networks Profilfotos, die nicht nur auf den eigenen Seiten zu sehen sind, sondern immer erscheinen, wenn das entsprechende Mitglied kommunikativ aktiv ist. Sie werden zudem präsentiert, wenn ein angemeldeter oder nicht angemeldeter Gast bestimmte Suchkriterien wie Alter, Geschlecht, Hobbies etc. in die Suchmaschine des Portals eingibt. Die Suchmaschine erzeugt dann eine Liste von Mitgliedern, die diesen Kriterien nach ihren Profilangaben bzw. realisierten Imagekonstruktionen am ehesten entsprechen. Die Liste zeigt die entsprechenden Pimp your profile 195 Abb. 4: Profilfoto-Thumbnails bei Myspace Deutschland (http: / / www.myspace.com [Zugriff 29.05.08]) Profilfotos, die somit dem Suchenden als visuelle Repräsentationen der Mitglieder dienen (siehe Abb. 4). Sie sind Teil des kommunizierten Images auf den Mitgliedsseiten, sie geben ihnen quasi ein Gesicht. Schaut man sich die einzelnen Profilfotos an, so fällt auf, dass diese erheblich weniger den anhand von Flickr vorgestellten fotografischen Codes entsprechen. Es dominiert das Porträt, das jedoch kaum eine gezielte Lichtführung bzw. Hintergrund- Vordergrund-Gestaltung der Genrefotografie enthält. Vielmehr scheint hier das Motiv bzw. die dargestellte Person selbst im Fokus zu stehen. Das Porträt ist nicht als Genre thematisiert, sondern als Mittel der direkten Imagekonstruktion bzw. Selbstdarstellung des entsprechenden Users oder der Userin. Auch in den Fotostrecken auf den persönlichen Seiten der Community- Mitglieder zeigen sich sehr häufig Personen in konkreten situativen Kontexten wie Partys, Urlaub, Freizeitaktivitäten. Oftmals lassen sich konkrete Personen durch ihr bestimmbares Stefan Meier 196 Antlitz ausmachen. Die Networker zeigen sich somit in ihren vermeintlich privaten Offline- Kontexten, geben so dem realisierten Image eine authentische Anmutung. Sie arbeiten mit bildlichen Andeutungen auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale mittels Szene-Insignien (z.B. Tatoos, Kleidung) und zeigen bestimmte Fanorientierungen (z.B. erkennbare Band-Logos, Vereins-Wappen). Sie inszenieren sich als attraktive und aktive Mitglieder in Vergnügungsgemeinschaften und Eventkulturen, visualisieren somit das angestrebte Fremdbild direkt, wobei die Profilfotos bei Flickr eher durch kreative Perspektiven, Ausschnitte, Motivwahlen etc. dem hegemonialen Werte- und Geschmackskonsens kreativer Fotografie als Mittel der Selbstdarstellung verpflichtet zu sein scheinen. Die genannten social networks favorisieren dem gegenüber verstärkt die dokumentarische Funktion von Fotografie. Hierfür wird kalkuliert, was gezeigt, sprich fotografisch preisgegeben werden kann und was nicht. Fotografie wird somit als Mittel der bildlichen Präsentation realer Personen und deren Charaktereigenschaften angesehen und weniger als ästhetische Ausdrucksform. Dies zeigt sich in einem qualitativen Interview, das Master-Studierende der Medienkommunikation im Rahmen regelmäßig stattfindender Forschungsseminare geführt haben. Auf die Frage, wie der Interviewpartner mit Fotos in social networks umgehe, antwortet dieser wie folgt: Das kommt aufs Netzwerk an. Sind meistens Fotos, wo ich schon erkennbar bin, aber auch nicht ganz. Naja ich hab das ’ne zeitlang mal ziemlich intensiv betrieben, mit Fotos und Partyfotos hochladen und da war irgendwann mal der Punkt: die Daten können verkauft werden und das kriegst du eh nicht mit. Und da hab ich aufgehört, so viele Fotos reinzustellen. Nehme aber jetzt immer Fotos, also Profilfotos, da sieht man zwar das Gesicht, aber du würdest mich in der Realität nicht erkennen, bei MySpace, StudiVZ nicht erkennbar, bei Facebook würdest du mich erkennen. Hat aber den Hintergrund, dass ich bei Facebook viel mehr oder schneller Kontakte knüpfe. An einer anderen Stelle gibt der Interviewpartner Auskunft, wie er die Fotos der anderen User nutzt. Hierbei zeigt sich, dass die Nutzer vermittels der Bilder zuweilen das Gefühl haben, den anderen in ihren bildlich inszenierten Offline-Welten zuzuschauen. Damit werden das Bedürfnis nach Selbstdarstellung und der voyeuristische Drang nach verborgener Beobachtung von Personen synchron bedient. Hierdurch kann es zu konkreten Handlungsentscheidungen kommen, wie es sich im folgenden Zitat zeigt: Du hast halt beispielsweise bei 20 Mädels ja angeklickt. Dann kriegen die ne Benachrichtigung, gucken dein Profil an, deine Fotos und sagen: ‘Ey, der ist ja ganz süß’, und dann weißt du das auch, und dann suchst du dir halt irgendeinen Punkt auf ihrer Website, wo du anhaken kannst. In einer weiteren Interviewstelle zeigt sich nochmals, dass Fotos als Authentizitätsabgleich herangezogen werden. Durch die Betrachtung der im Album gezeigten Bilder versucht der Suchende über die visuellen aber auch charakterlichen Eigentümlichkeiten der Person Hinweise zu bekommen. Er unterstellt der Fotografie eine Darstellungsfunktion bezogen auf die entsprechende Offline-Person und erwartet durch die Fotografien, die er sich auch aus unterschiedlichen Portalen zusammensucht, den realen Menschen näher kennen zu lernen. Nur so lässt sich sein Erstaunen bei dem folgend geschilderten Zusammentreffen mit einer Online-Bekanntschaft erklären: Und ich wusste halt nicht, dass sie vietnamesischer Abstammung ist, also zur Hälfte, das hab ich zum Beispiel auch nicht über die Facebook-Seite rausbekommen. Auch nicht über die Fotos, als ich sie jedoch live gesehen hab, schon ein bisschen, weil da sieht man ja schon ein bissl anders aus als auf den Fotos. Pimp your profile 197 5 Fazit Es wurde deutlich, dass Fotografie in der Image- und Beziehungsarbeit in so genannten Web 2.0-Anwendungen eine besondere Rolle spielt. In den einzelnen Portalen lassen sich jedoch Unterschiede hinsichtlich Funktion und Gestaltung ermitteln. Während in der Community Flickr aufgrund eines komplexen Voting- und Ratingsystems das Foto selbst bzw. seine Erstellung als Leitthema fungiert, dient es in den so genannten social networks eher als Mittel der direkten Selbstdarstellung und Veranschaulichung realer Personen. Sie bilden Verkörperungen der Netzwerk-Teilnehmerinnen und -teilnehmer im digitalen Raum. Diese unterschiedlichen Funktionen haben Auswirkungen auf die visuelle Umsetzung der Fotos. Mittels einer bestimmten Nutzung des kollaborativen Folksonomy-Systems hat sich bei Flickr ein dominanter Wertekonsens herausgebildet, der Fotografie als ästhetische Ausdrucksform begreift. Daran koppelt sich die Beschäftigung und Umsetzung bestimmter fotografischer Stilcodes, die sich in fachlichen Spezialdiskursen entwickelt haben. Die prominent wahrnehmbaren Community-Aktivisten gründen ihr kollektives Selbstverständnis auf der variierenden Reproduktion des in diesen Spezialdiskursen produzierten Wissens und nutzen es als Mittel der Vergemeinschaftung nach innen sowie der Distinktion nach außen. Beziehungsstiftung bzw. positive Imagezuschreibungen organisieren sich so zum einen aus der unterstellten Fülle des in den Einzelbildern umgesetzten fotografischen Wissens, zum anderen aus einer als innovativ und ideenreich empfundenen Brechung dieser Stilkonventionen. Entscheidend ist zudem die Beteiligung am community-internen networking, das die Gründung und Bekanntmachung von Gruppen beinhaltet sowie den Aufbau eines durch taggen einzelner Bilder verursachtes Verlinkungsgeflecht. Hieraus entsteht soziales Kapital. Das Mitglied oder eine Gruppe wird so in eine prominente, sprich leichter wahrnehmbare Position innerhalb der Community versetzt. In so genannten social networks kommt Fotografie ebenfalls intensiv zum Einsatz. Es zeigt sich dort jedoch, dass Fotografie bzw. ihre Machart nicht als konkretes Leitthema dient, sondern dass die Imagepflege, Beziehungsstiftung sowie -arbeit im Vordergrund steht. So werden eher die Bildinhalte thematisiert, in denen konkrete Personen bzw. deren Eigenschaften gezeigt werden. Fotos dienen damit der Spezifizierung des angestrebten Images in den Profilen. Sie fungieren als kommunikative Mittel zur visuellen Charakterisierung des dargestellten Selbst. Dabei ist weniger die ästhetische Umsetzung der Bilder entscheidend, auch wenn dies ebenfalls als Mittel der Imagearbeit eingesetzt werden kann, sondern die glaubhafte Vorführung einer bestimmten Persönlichkeit in authentisch anmutenden Offline- Situationen. Diese Praxis mag Attraktivität bei den Betrachtenden erreichen, indem ihnen das Gefühl vermittelt wird, einen Ausschnitt realen Lebens der entsprechenden Person beobachten zu können. Dabei scheint es zunächst egal zu sein, ob sich das einzelne Profil an eher anonyme Rezipienten oder an bereits aus Offline-Kontexten bekannte Adressaten richtet. Gerade wenig gestaltete Fotos können für diese dokumentarische Wirkung zweckdienlicher sein, da ihnen höhere Evidenz, Situativität und konkrete Verortung zugeschrieben werden kann. Denn Fotos werden zur Herstellung von Authentizität unter den Interaktanten genutzt, die sich in der online-medialen Kommunikationssituation in einem entkörperlichten und örtlich entkontextualisierten Austausch befinden. Neben dieser unterstellten dokumentarischen Funktion von Fotografie kommen außerdem die sogenannten Profilfotos als visuelle Repräsentationen der Portal-Nutzerinnen und -nutzer zum Einsatz. Diese Funktion unterscheidet sich zwischen den communities und social networks kaum. Profilfotos sind visuelle Ansichten des kommunizierten Images und stiften Stefan Meier 198 (körperliche) Präsenz innerhalb der digitalen Welt des Netzwerks. Sie können dabei jedoch auch hohe Arbitrarität zum entsprechenden networker besitzen, da sie selbst bestimmte visuelle Eigennamen sind, die nur bestimmte Eigenschaften des anvisierten Images zu fokussieren brauchen. Profilfotos sind demnach visuelle Stellvertreter eines Images mit bildkommunikativer Kommentarfunktion. Dabei lassen sich durchaus Parallelen zu der Wahl bestimmter Nicknames wie blumenkind, superman etc. in Chat- und Foren-Kommunikationsformen finden. Allerdings verursachen die syntaktische Dichte und Fülle der ikonischen Repräsentationen eine bildspezifische Wahrnehmungs- und Interpretationsaktivität beim Rezipienten und damit eine andere Art der Vorstellung über den Interaktionspartner als arbiträre Symbolzeichen. Literatur Döring, Nicola 2003: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Göttingen: Hogrefe Ebersbach, Anja und Markus Glaser und Richard Heigl 2008: Social Web, Konstanz: UTB Goffman, Erving 2004: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 2. Auflage, München: Piper Fraas, Claudia 2008: “Online-Diskurse - Neue Impulse für die Diskursforschung”, in: O. Stenschke und S. Wichter (eds.): Wissenstransfer und Diskurs, (= Transferwissenschaften 7), Frankfurt a.M.: Lang: 363-379 Fraas, Claudia und Christian Pentzold 2008: “Online-Diskurse. Theoretische Prämissen, methodische Anforderungen und analytische Befunde”, in: I. Warnke und J. Spitzmüller (eds.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin u.a.: de Gruyter: 291-326 Guenther, Tina und Jan Schmidt 2008: Wissenstypen im ‘Web 2.0’ - eine wissenssoziologische Deutung von Prodnutzung im Internet, im Internet unter http: / / www.schmidtmitdete.de/ pdf/ Web20Wissenstypen2008preprint.pdf [Zugriff 12.12.08] Hepp, Andreas und Tepe Daniel 2008: “Digitale Produktionsgemeinschaften: Open-Source-Bewegung als deterritoriale Vergemeinschaftung”, in: Open Source Jahrbuch 2008, im Internet unter http: / / www.opensourcejahrbuch.de/ portal/ scripts/ download? article=tepe-produktionsgemeinsch.pdf [Zugriff 12.12.08] Keupp, Heiner u.a. 2002: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, 2. 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Perspektiven, Probleme, Potentiale, Köln: Halem: 280-302 Schmidt, Jan 2008: Abschlussbericht zum DFG-Projekt ‘Praktiken des onlinegestützten Netzwerkens - Stellenwert und Konsequenzen von ‘social software’ für die Strukturierung interpersonaler Kommunikation’, im Internet unter http: / / www.schmidtmitdete.de/ pdf/ AbschlussberichtSCHM2359_11.pdf [Zugriff 13.12.08] Schmidt, Jan 2006: Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie, Konstanz: UVK O’Reilly, Tim 2005: What Is Web 2.0, im Internet unter http: / / www.oreillynet.com/ pub/ a/ oreilly/ tim/ news/ 2005/ 09/ 30/ what-is-web-20.html? page=2 [Zugriff 13.12.08] “Aus Liebe zu dir”: Selbst- und Fremdrepräsentationen in Profilen auf Schweizer online-Partnerbörsen Daniel H. Rellstab For a very long time, the printed personal ad was one of the most important means to increase the search radius of people looking for a partner. Nowadays, the printed personal ad has been displaced by profiles of online dating-sites; online dating-sites have become very popular in the last few years. A quantitative analysis of profiles of two Swiss dating-sites shows that people advertising themselves online still use a set of categories similar to the set used in printed personal ads. However, the qualitative analysis reveals that online dating-sites grant people much more freedom to perform themselves, to construct complex self-images, and to transcend thereby the genre of the printed personal ad. Für Partnersuchende war die printmediale Kontaktanzeige lange Zeit eines der wichtigsten Instrumente zur Erweiterung ihres Suchradius. Diesen Rang dürfte sie verloren haben, denn die medial vermittelte Suche nach einem Partner findet heute vorwiegend im Internet statt: Virtuelle Kontaktbörsen erfreuen sich großer Beliebtheit. Wie die quantitative Analyse von Profilen zweier Schweizer Kontaktbörsen zeigt, benutzen die Suchenden hier immer noch Kategorien der Selbst- und Fremdrepräsentation, die auch in printmedialen Kontaktanzeigen gefunden werden können. Die qualitative Analyse aber zeigt, dass virtuelle Kontaktbörsen viel komplexere Selbstdarstellungen zulassen und damit den Suchenden die Möglichkeit geben, die Beschränkungen der printmedialen Anzeigen zu überwinden und mit neuen Arten der Selbstinszenierung gleichzeitig auch die kommunikative Gattung “Kontaktanzeige” zu transzendieren. 1 Partnersuche im Medienwandel Aus Sicht der Evolutionsanthropologie sind Partnersuche und Partnerwahl Grundaufgaben des Menschen (cf. etwa Buss 1994). Allerdings variiert natürlich die Art der Partnersuche mit dem historischen und kulturellen Kontext. Die Beschreibungen und Analysen ihrer historischen und kulturellen Ausprägungen füllen anthropologische, kulturhistorische, soziologische, ja selbst linguistische Bände und Zeitschriften (cf. etwa Berghaus 1985; Eustace 2001; Fitzmaurice 2009; Otte 2007). Ein Blick zurück macht deutlich, dass sich die Möglichkeiten der Partnersuche auch mit der Entwicklung der Medien und insbesondere der Massenmedien veränderte. Die Kontaktanzeige etwa entstand mit der Zeitung. Die ersten überlieferten Exemplare dieser kommunikativen Gattung, die bis ins letzte Jahrhundert wohl präziser als Heiratsanzeige zu bezeichnen wäre (cf. Riemann 1999: 38), erschienen gegen Ende des 17. Jahrhunderts und damit knapp hundert Jahre, nachdem mit der Zeitung “ein neues Medienzeitalter” (Schröder 1995: 1) eingeläutet worden war. Sie stammen aus England und wurden dort am 19. Juli 1695 vom Herausgeber der Collection for the Improvement of Husbandry and K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Daniel H. Rellstab 200 Trade im Auftrag suchender Herrschaften publiziert. Sie sind nicht als Selbstinserate der Suchenden, sondern aus einer Außenperspektive verfasst; in den Vordergrund werden Vermögensverhältnisse gerückt: A Young Man about 25 Years of Age, in a very good Trade, and whose Father will make him worth £ 1000, would willingly embrace a suitable match. A Gentleman about 30 Years of Age, that says he has a Very Good Estate, would willingly Match Himself to Some Young Gentlewoman that has a Fortune of £ 3000 or thereabout (zit. in Kaupp 1968: 9). Schon diese Kontaktanzeigen weisen ein Merkmal auf, welches Justine Coupland 300 Jahre später als typisch für gedruckte Kontaktanzeige bezeichnet: Suchende und Gesuchte erscheinen als “commodified selves”, als verdinglicht und zu Produkten geronnen, die auf dem Heiratsmarkt erfolgreich abgesetzt werden können (cf. Coupland 1996). Trotzdem scheinen diese Anzeigen nicht erfolgreich gewesen zu sein. Wie Werner Kaupp schreibt, sah sich der Herausgeber der Collection einen Monat nach Erscheinen der Anzeigen dazu gezwungen, die Beteuerung zu publizieren, dass das Ansinnen der Inserenten ernsthaft sei und er allfällige Heiratsanträge mit “much Secresie and Prudence” behandeln werde (Kaupp 1968: 9) - ein Zeichen dafür, dass die Zielgruppe offensichtlich noch nicht über die Kompetenz verfügte, die Texte den Intentionen der Schreibenden gemäß zu interpretieren. In Deutschland erschienen ähnliche Inserate gut vierzig Jahre, in Frankreich knapp hundert Jahre später, und die Gattung fand schon bald einen festen Platz im “kommunikativen Haushalt” der deutsch- und französischsprachigen Gesellschaften. 1 Dafür spricht die Tatsache, dass schon 1787 Ch. M. Favarts Le mariage singulier. Comédie en un acte, en prose, mêlée de vaudevilles, eine Komödie um einen Junggesellen, der per Inserat eine Frau sucht, in Paris uraufgeführt wurde; in Deutschland fand zur selben Zeit Friedrich Ludwig Schröders Die Heirat durch ein Wochenblatt (1786) großen Zulauf (cf. Kaupp 1968: 10). Einen festen Platz im kommunikativen Haushalt hält die Kontaktanzeige auch heute noch inne. Ihre Funktion, Partnersuchende zusammenzubringen, teilt sie heute mit einer Reihe anderer Gattungen. Zwar ist die Partnersuche per Hörfunk oder per Inserat und Ansagetext auf Tonband nicht mehr populär. 2 Die Partnersuche per Fernsehen, wie sie Kontakt- und Flirtshows ermöglichen sollen 3 , hat an Beliebtheit nichts eingebüßt und erscheint in ihren neuesten Varianten als bundesdeutsches Bauer sucht Frau auf RTL oder schweizerisches Bauer, ledig, sucht… auf 3+ (cf. Riemann 1999: 46; Vollberg 1997). Wichtigstes Medium zur Partnersuche dürfte aber heute das Internet geworden sein. 2 Virtuelle Kontaktbörsen: Viele User, große Vielfalt Wie Patti Valkenburg und Jochen Peter in ihrem Überblick über die Nutzung virtueller Kontaktbörsen schreiben, haben sich die Möglichkeiten, im Internet Beziehungen zu knüpfen und zu unterhalten, in den letzten paar Jahren vervielfacht: Zwischen 2005 und 2007 stieg die Zahl weltweit um 17 % (cf. Valkenburg & Peter 2007: 849). Die Akzeptanz, virtuelle Kontaktbörsen zu nutzen, ist in der westlichen Welt sehr hoch. Valkenburgs und Peters Befragung holländischer Internetnutzer zeigt, dass 43 % der Alleinstehenden das Internet nutzen, um eine Partnerin oder einen Partner zu suchen; einer amerikanischen Studie des Pew Internet and American Life Projects aus dem Jahr 2006 gemäß nutzen 37 % der amerikanischen Internetnutzer, die auf Partnersuche sind, die Möglichkeiten virtueller Kontaktbörsen (cf. “Aus Liebe zu dir” 201 Madden & Lenhart 2006); die erste repräsentative Studie für Deutschland geht davon aus, dass rund 12 % der Internetnutzer mindestens gelegentlich auch virtuelle Kontaktbörsen nutzen. Das wären für Deutschland immerhin 5.4 Mio. Personen. 4 Wie eine erste repräsentative Erhebung der Demographie deutscher Cyberdater zeigt, sind diese mehrheitlich männlich, um die Dreißig und im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eher höher gebildet. Sie leben in städtischen Gebieten oder großen Ballungszentren vorwiegend in Einpersonenhaushalten (cf. Schulz et al. 2008). Für die Schweiz fehlen bis jetzt repräsentative Studien. Allerdings kommt eine Stichprobenbeschreibung von Nutzern der Schweizer Kontaktbörse partnerwinner.ch zu ähnlichen Ergebnissen: 5 Das Durchschnittsalter der Befragten beträgt hier 34.4 Jahre, 89 % sind ledig, geschieden, verwitwet oder getrennt, 59 % leben allein und 62 % sind männlich (cf. Bühler-Ilieva 2006: 197-213). Dass sich Kontaktbörsen derart großer Beliebtheit erfreuen, ist nicht erstaunlich. Erstens vergrößern sie den Suchradius in lokaler und zeitlicher Hinsicht enorm: Partnersuche kann hier ständig, selbst während der Arbeitszeit, erfolgen; der Suchradius ist theoretisch bloß auf die Internetnutzer beschränkt. Die Nutzer von Kontaktbörsen schätzen zudem die Anonymität, die Möglichkeit, unverbindliche Kontakte knüpfen zu können, und sie erleben die Kommunikation auf Kontaktbörsen als zwangloser und einfacher als die face-to-face-Interaktion. Die von den Nutzern genannten Nachteile sind die sprichwörtliche Kehrseite der Medaille: Die in face-to-face-Interaktion unterstellte Maxime, die Wahrheit zu sagen, fällt weg: “Schreiben kann man alles.” Die Reduktion der Sinneskanäle wird als fehlende Präsenz des andern erlebt und kann sogar zur Überforderung werden: “Man kann sich kein Bild des anderen machen”. Einigen scheint die Kommunikation auf Partnerbörsen gar zu enthemmt zu sein, andere wiederum schätzen die Erfolgschancen als sehr gering ein (Bühler-Ilieva 2006: 237-38; cf. auch Ellison 2006). Allerdings machen die Nachteile die Vorteile längst wett - diesen Schluss legen jedenfalls die Umsatzzahlen der Branche nahe: Die neuen Kanäle der Partnervermittlung sind ein einträgliches Geschäft. Laut Financial Times Deutschland wurden 2007 in Deutschland 138.1 Mio. für Online-Partnervermittlungsdienste ausgegeben; ein Jahr später waren es schon 163.6 Mio. . In den USA sollen die Umsatzzahlen um ein Drittel höher ausfallen als in Deutschland (cf. Bayer 2009) - für die Schweiz liegen die Umsatzzahlen noch nicht vor. Die virtuelle Kontaktbörse gibt es allerdings nicht, denn der Service, der Aufbau der Websites und die Benutzerkosten variieren stark. Behauptet Parship, einer der kommerziell erfolgreichsten Anbieter der Branche, Partnersuchende gezielt und auf “wissenschaftlicher Grundlage” zusammenzuführen und verlangt dafür nicht gerade geringe Abonnementsgebühren 6 , so sind andere Anbieter fast oder vollständig kostenlos, bieten aber auch nichts anderes als eine Plattform mit Profilen, die durchsucht werden können, plus vielleicht einen Chatroom und die Möglichkeit, andere kontaktieren zu können. Zudem variieren die Zielgruppen beträchtlich. Neben Anbietern, die sich an alleinstehende heterosexuelle Singles ohne spezifische Bedürfnisse richten, finden sich Kontaktbörsen für alleinerziehende Singles (www.halbvoll.net), für Menschen mit körperlichen Besonderheiten (www.rundnaund.ch, www.partnervermittlung.ch), für Ältere (www.fiftyplus.ch), für wiedergeborene Christen (www.feuerundflamme.ch, www.christl-singles.ch) oder praktizierende Katholiken (www.kathtreff.org), für Naturschützer (www.lovepeace.ch), für Schwule und Lesben (www.gayromeo.com, www.lesarion.de), oder, als alternative Version, für Lesben, Schwule, Bisexuelle und deren Freunde und Freundinnen (www.purplemoon.ch). Die Möglichkeiten, Partner zu suchen, haben sich also vervielfältigt. Die kommunikativen Anforderungen an Partnersuchende sind damit aber keineswegs kleiner geworden. Daniel H. Rellstab 202 3 Von der ‘Kontaktanzeige’ zum Profil auf der virtuellen Kontaktbörse - neue Möglichkeiten, neue Anforderungen Printmediale wie auch virtuelle Anzeigen haben die Funktion, eine bestimmte Handlung des anderen zu evozieren. Das anvisierte Verhalten besteht nicht bloß in der Rezeption und dem Verstehen der Intention des Autors, sondern einem “aktiven Antwortverhalten” (Marfurt 1978: 30). Verfasser von Kontaktanzeigen und Profilen auf Kontaktbörsen stehen deshalb vor der Aufgabe, in einer Eigenbeschreibung ein möglichst attraktives Bild ihrer selbst zu konstruieren. Die Differenz zwischen Eigenbeschreibung und Realität darf indessen nicht zu groß sein, da die anvisierte Beziehung zum Gegenüber ja selten in der Virtualität verbleiben soll. Wer also einen Partner per Inserat oder Kontaktbörse sucht, überlegt sich normalerweise genau, wie er sich präsentieren soll, welche Hinweise über sich er wie in sein Profil integrieren könnte, um damit bestimmte Effekte zu evozieren (cf. Ellison 2006: 424-425). Der Textproduzent printmedialer Kontaktanzeigen kann zur Lösung dieser Aufgabe auf ein vor allem durch ökonomische Sachlagen stark standardisiertes Textmuster zurückgreifen, a text genre closely allied in its formal characteristics to media advertisements for the selling and buying of houses, cars, or second-hand furniture - small ads which, interestingly enough, are conventionally used for trading in used rather than new goods (Coupland 1996: 188). Das Selbst wird im Text auf eine Liste wünschenswerter und als attraktiv erscheinender demografischer, physischer und auch emotionaler Attribute reduziert. 7 Denn die Inserierenden sind dazu angehalten, sich auf möglichst kleinem Raum in möglichst positivem Licht zu präsentieren. Die Gattung veranlasst den Schreibenden dazu, sich zu einem Personentypus zu verdinglichen. Das Gleiche gilt für die Beschreibung des Wunschpartners: Auch dieser muss auf eine Liste von Attributen reduziert werden. Die Gattung fordert zudem von ihrem idealen Rezipienten, dass er sich in der typisierten Darstellung wiederfindet - und sich damit ebenfalls verdinglicht (cf. Coupland 1996: 188). Dass auch die Beziehungsbeschreibung typischerweise lakonisch ausfällt, zeigt folgendes, schon fast historisches Beispiel: Gemütlicher Pfeifenraucher, Kaufmann, 30jährig, sucht nach schwerer Enttäuschung eine nette und aufrichtige schlanke Sie, zum Verbringen der Freizeit. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Hobbys: Volksmusik, Reisen, Tanzen, miteinander ein Leben aufbauen, Geselligkeit. Fühlst du dich angesprochen, zögere nicht und sende mir ein Brieflein mit einem Foto unter Chiffre … (Berner Zeitung, 4. Juni 1983). Die kommunikative Binnenstruktur der Kontaktanzeige ist stark standardisiert. Das Register ist einfach, Vokabular und Syntax sind simpel. Die sequentielle Struktur folgt typischerweise dem Muster 1. Suchender, 2. sucht, 3. Ziel, 4. Zweck, 5. Kommentar, 6. Referenz. Ebenfalls typisch ist die Vorherrschaft von Abfolgen von Nomen und Adjektiven. Diese Standardisierung ist teilweise sogar kultur- und subkulturunabhängig, und Variationen lassen sich, wenn überhaupt, vor allem auf der lexikalischen Ebene finden (cf. Bruthiaux 1994; Coupland 1996: 192-93; Jones 2000: 39ff.; Nair 1992). Kontaktbörsen können Partnersuchenden neue Möglichkeiten der Selbst- und Fremddarstellung eröffnen und den Inserierenden die Gelegenheit geben, sich in den Profilen differenzierter und vielschichtiger zu präsentieren, als dies in printmedialen Kontaktanzeigen der Fall ist. Auch ist die Standardisierung hier aus verschiedenen Gründen weniger ausgeprägt. Erstens besteht im Internet nur bedingt ein ökonomischer Druck, der Inserierende dazu veranlasst, sich möglichst kurz zu fassen (cf. dazu auch Coupland 1996). Gegen starke “Aus Liebe zu dir” 203 Standardisierungstendenzen spricht zweitens die Tatsache, dass die Möglichkeiten der individuellen Gestaltung des Profils von Anbieter zu Anbieter variieren. Fällt die Standardisierung weg, fallen auch wichtige Hilfestellungen bei der Abfassung von Texten weg. Die neuen medialen Möglichkeiten, einen Partner zu suchen, stellen Cyberdater damit vor neue kommunikative Anforderungen. Im Netz muss das Selbst in einem multimodalen Text präsentiert werden. Also sind die zu kalkulierenden Wirkungen anders. Bilder können einerseits Unbestimmtheiten reduzieren, welche in der Sprache, wie schon Charles S. Peirce schrieb, notwendigerweise herrschen (cf. etwa Peirce 2000: 343), und eröffnen damit eine Reihe neuer Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Doch muss der Verfasser mit Text und Bild so geschickt umgehen, dass ein möglichst glaubwürdiges Profil entsteht. Denn Angaben auf Kontaktbörsen stehen unter dem Verdacht, nicht oder zumindest nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen (cf. Bühler-Ilieva 2006: 238). 4 Daten und Methoden Um Selbst- und Fremddarstellungen auf Kontaktbörsen im Internet zu untersuchen, wählte ich zwei Börsen aus, die sich an unterschiedliche Zielgruppen wenden: www.swissflirt.ch und www.purplemoon.ch. Swissflirt (Abk. SF), eine der bedeutendsten virtuellen Kontaktbörsen der Schweiz, ist seit über zehn Jahren in Betrieb und hat laut Eigenwerbung über 300’000 registrierte Benutzer. Laut eigenen Angaben verzeichnet SF über 14’000 Besucher pro Tag und sechs bis acht Millionen Seitenaufrufe pro Monat. Zielgruppe von SF sind vor allem heterosexuelle Singles. Darauf weist die Eigenwerbung hin: Swissflirt schreibt, dass die “Rubriken sie sucht ihn und er sucht sie” eine “unkomplizierte Kontaktaufnahme” erlauben würden und dass dank SF viele “ihren Partner fürs Leben gefunden, den Bund der Ehe geschlossen oder gar Nachwuchs bekommen” hätten. SF ist einerseits werbefinanziert. Gleichzeitig muss, wer seine Suchresultate abspeichern oder auf eine Annonce antworten will, Abonnent werden, was ihn 4.90 sFr pro Monat kostet. 8 Purplemoon (Abk. PM), ebenfalls eine Schweizer Plattform, ist viel kleiner. Laut www.singleboersen-vergleich.ch 9 nutzen rund 5’000 Personen das Angebot. PM richtet sich, anders als etwa www.gayromeo.ch, der große Anbieter für männliche Homosexuelle, nicht nur an Männer, sondern auch an Frauen, und nicht nur an Homo- und Bisexuelle, sondern auch an Heterosexuelle: “Auch Heteros sind willkommen! ” Anstößige Inhalte bildlicher und verbaler Art sind ausdrücklich verboten. PM ist kostenlos, allerdings wird man, wenn man PM finanziell unterstützt, “Power-user”. PM will sich also von kommerziellen, an ein hetero- oder homosexuelles Zielpublikum gerichtete Kontaktbörsen unterscheiden und positioniert sich bewusst “anders”. 10 Der untersuchte Datensatz ist nicht repräsentativ, mein Interesse ein exploratives. Der Datensatz umfasst 100 Profile, je 50 Profile von PM und 50 Profile von SF. Um gender- und altersspezifische Unterschiede zu umgehen, wählte ich aus jeder Kontaktbörse zufällig 50 Profile von Männern zwischen 30 und 40 Jahren, die eine “ernsthafte” Beziehung eingehen wollen. Die Auswahl der Alters- und Geschlechtergruppe drängte sich in Anbetracht der Tatsache, dass Männer kurz nach Dreißig die häufigsten Nutzer von Kontaktbörsen sind, auf. Die sexuelle Orientierung spielte bei der Auswahl der Profile keine Rolle. Es geben jedoch alle Männer des Samples von SF an, heterosexuell zu sein. Auf PM identifizieren sich 8 als heterosexuell, 14 als bisexuell und 38 als homosexuell. Alle Profile waren zum Zeitpunkt der Daniel H. Rellstab 204 Datensammlung im September 2008 öffentlich zugänglich. Auf www.swissflirt.ch sind sie es, falls sie noch vorhanden sind, immer noch; www.purplemoon.ch ist in der Zwischenzeit zu einer passwortgeschützten Kontaktbörse geworden. Die Profile sind nur noch für Mitglieder sichtbar. Die Mitgliedschaft ist aber nach wie vor kostenlos. 11 Die Analyse selbst ist dreigestuft, um die spezifischen multimodalen Bedingungen sowie die Unterschiede der Kommunikationstechnologien berücksichtigen zu können. In einem ersten Schritt wird analysiert, welche Möglichkeiten der Selbst- und Fremddarstellung die beiden Kontaktbörsen bieten. Diese Analysen dienen als Basis der weiteren Untersuchungen. In einem zweiten Schritt werden Aspekte der Selbst- und Fremddarstellung der Profile beider Plattformen quantitativ erhoben und verglichen. Dieser Vergleich ermöglicht erste Aussagen über bestehende Gemeinsamkeiten und Differenzen bei den Selbst- und Fremddarstellungen der beiden Börsen und damit die Skizzierung des Kontextes, in welchem die einzelnen Profile stehen, die in einem dritten, qualitativen und semiotisch informierten Schritt analysiert werden. Hier stehen drei unterschiedliche Profile und deren Selbstinszenierungen im Zentrum, und hier interessiert vor allem der Umgang der Profilinhaber mit den Möglichkeiten des Systems 12 und die durchgeführten kommunikativen Akte visueller und sprachlicher Art (cf. dazu van Leeuwen 2004), also die multimodalen Inszenierungen des Selbst. Methodisch orientiere ich mich dabei an semiotisch informierten Ansätzen zur “Sprache und Identität”- Forschung, wie sie innerhalb der linguistischen Anthropologie entwickelt wurden (cf. etwa Bucholtz 2004; Bucholtz & Hall 2007). 5 Swissflirt und Purplemoon: Aufbau der Börsen und der Profile SF ist nach dem Karteikartenprinzip aufgebaut. Auf der Einstiegsseite (cf. Abb. 1) erscheint als erstes eine Suchmaske, die drei Genauigkeitsstufen enthält. Suchparameter sind auf der untersten Stufe das eigene Geschlecht, das Geschlecht des gesuchten Partners, die Altersspanne möglicher Partner, der geografische Suchradius sowie das Alter des Profils. Auf der zweiten Stufe können die Profile nach Rubriken (“Alle”, “Reden/ E-mail”, “Spontan”, “Ernsthaft”, “Abenteuer”, “Heirat”, “Reisen/ Ferien”, “Party”, “Anlass”, “Freizeit”, “Sport”, “Tanzen”, “Kino”, “Wiedersehen”, “Klassenkameraden”, “Andere”), Körperbau (“Alle”, “keine Angaben”, “normal”, “schlank”, “athletisch”, “einige Extrapfunde”, “anderer”), Körpergröße sowie Sternzeichen gefiltert werden. Die dritte Stufe erlaubt es, die Profile nach Zivilstand, Kindern und Kinderwunsch sowie Rauchgewohnheiten zu filtern. Die Registerkarten der Einstiegsseite, die sich hinter der Suchmaske verbergen, beinhalten 1. das eigenen Konto, 2. den Flirt-Radar, 3. den Foto-, 4. den Video-Flirt, 5. die Chat-Plattform. Der Flirtradar zeigt in Form einer Zielscheibe an, welche Profile auf SF dem eigenen Profil am nächsten kommen; unter den Reitern “Foto-Flirt” und “Video-Flirt” lassen sich diejenigen Profile finden, die ein Foto bzw. ein Video aufweisen. 13 Die Suchresultate werden in Form von Listen angezeigt. Diese Listen enthalten die Überschrift des Profils, das Profilfoto, Geschlecht, Alter, Wohnregion und Datum der Abfassung des Profils. Die Profile selbst bestehen aus einer Hauptseite, welche zuoberst die gewählte Beziehungskategorie enthält. Darunter folgen die wichtigsten Angaben des Profils: Foto, Nickname, Alter und Herkunft, ein Textfenster mit Überschrift sowie auf der rechten Seite weitere Fotos, falls vorhanden. Der Link “Ganzes Profil ansehen” öffnet eine Box mit den vier Registerkarten “Über mich”, “Allgemein”, “Bilder” und “Video” (cf. dazu Abb. 5). Auf der Registerkarte “Über mich” erscheinen noch einmal der Nickname und das Alter. “Aus Liebe zu dir” 205 Abb. 1 Neue Informationen sind hier die Herkunftsregion, die sexuelle Orientierung, das Sternzeichen, die Nationalität sowie der Zeitpunkt der letzten Anmeldung auf SF. Auch Angaben zum Aussehen sind hier publiziert. Genannt werden können Augenfarbe, Haarfarbe, Größe, Gewicht, Körperbau und Fitnesslevel. Unter “Allgemeines” erscheinen weitere Angaben zur Person: Aszendent, Zivilstand, Kinder, Kinderwunsch, Schulbildung, Beruf und Beschäftigungssituation, Rauchgewohnheit, Religion und Heiratsvorstellung, Freizeit/ Hobbies, Haustiere, Musik und Sport (cf. Abb. 6). Der linke Rand der Registerkarte enthält zwei Links, die der Kontaktaufnahme dienen: der eine ermöglicht das Abschießen eines Amorpfeils, der andere das Senden einer Meldung. Ein weiterer Link ermöglicht das Weiterempfehlen, einer das Blockieren des Profils, der dritte die Meldung eines Missbrauchs der Plattform, der etwa dann vorliegen könnte, wenn “falsche und unsittliche Inhalte sowie solche, die gegen geltendes Recht verstossen”, platziert sind. 14 Außer bei Größe, Augenfarbe, Haarfarbe, Gewicht und Beruf werden die Angaben auf den Registerkarten aus einem Set vorgegebener Möglichkeiten ausgewählt. Gestaltungsspielraum bietet Swissflirt vor allem bei Nickname, Bildern, Überschrift des Profils und dem Textfenster, dessen Umfang nicht beschränkt ist. Allerdings stellt Swissflirt gerade für die Bereiche, wo individualisierte kommunikative Akte möglich sind, Regeln auf: Der “Textinhalt der Kontaktanzeige” darf nicht “zweckentfremdet” sein, das heißt für kommerzielle oder finanzielle Interessen genutzt werden, er darf nicht “anrüchig, rassistisch, geschlechtsfeindlich oder fundamentalistisch religiös” sein, er darf zudem keine persönlichen Kontaktinformationen enthalten und nicht ein Plagiat von Texten anderer Inserenten sein. Die Bilder der Kontaktanzeige dürfen nicht “überdimensioniert” sein, nicht “zweckentfremdet eingesetzt” werden, keine “pornografischen oder rassistischen Darstellungen” sowie keine “unkenntlich gemachten Bildausschnitte” wie Zensurbalken enthalten. 15 Daniel H. Rellstab 206 Abb. 2 Purplemoon bezeichnet sich selbst als “Online-Community für Lesben, Schwule, Bisexuelle und deren Freundinnen und Freunde”. Die Einstiegsseite besteht grob gesagt aus einem großen, zwei mittleren und einem kleinen Rechteck (cf. Abb. 2). Die zwei kleineren Rechtecke am linken Bildrand dienen der Registrierung und Anmeldung. Das große Rechteck in der Mitte ist in vier Bereiche geteilt. Im linken, oberen Teil wird beschrieben, welche Kommunikationsmöglichkeiten PM bietet. Hier macht PM auch deutlich, dass man sich nicht allein als Beziehungsanbahnungsplattform versteht. Der Hinweis darauf, dass man auf Purplemoon einen Partner suchen kann, ist ganz ans Ende der Auflistung möglicher Handlungsziele und hinter eine konditionale Adverbialbestimmung gesetzt: Auf Purplemoon kannst du chatten, Freunde finde, diskutieren, Spass haben und - bei Bedarf - nach einem Partner Ausschau halten. 16 Auf der rechten Seite steht die Suchmaske, gleich darunter beschreibt PM die eigene Ideologie: “Jeder ist willkommen - egal mit welchem Geschlecht, Sexualität oder Alter. Auch ohne etwas zu bezahlen kann man fast alles ohne Einschränkung nutzen. Rein sexuelle Kontakte sind nicht erwünscht. Eine einfache und angenehme Kommunikation steht für uns im Vordergrund”. Auf der linken Seite stehen News über PM-spezifische Aktivitäten. Die einfache Suchmaske erlaubt ein Filtern der Profile nach Geschlecht, sexueller Orientierung, Land und Region. Eine erweiterte Suchmaske ermöglicht es, Profile nach Alter, Beziehungsstatus, Rauch-, Ess- und Trinkgewohnheiten, Kindern und Kinderwunsch sowie religiösen und politischen Orientierungen auszuwählen. Wie bei SF werden die Suchresultate in einer Liste präsentiert. Der einzelne Listeneintrag beinhaltet Foto, Nickname, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, den Begrüßungstext, eine präzise Angabe zur Herkunft der Profilschreiber und deren Status als normale oder “Power-user”. Gleichzeitig wird auch ersichtlich, ob und wie lange der Profilinhaber schon online ist. “Aus Liebe zu dir” 207 Das Profil selbst ist auch in Registerkartenmanier aufgebaut (cf. dazu Abb. 10). Es besteht aus “Steckbrief”, “News”, “Über mich”, “Bildern”, einer Karte mit “Freunden” und einer Karte mit der Überschrift “Gästebuch”. Der Steckbrief, der gleichzeitig auch die Eingangsseite des Profils ist, beinhaltet in einer ersten Zeile Nickname, Altersangabe, Geschlecht, sexuelle Orientierung sowie wieder einen Hinweis darauf, ob der Schreiber Power-user ist. Dann folgt eine Navigationsleiste, welche das Wechseln zwischen dem Steckbrief und den anderen Karteikarten ermöglicht. Anschließend folgen acht Teiltexten sowie das Profilbild. Im Teiltext “Über mich” werden der reale Vorname, der Spitzname - damit ist nicht der Nickname gemeint, sondern der Spitzname aus der “realen” Welt -, Wohnort, Sternzeichen, Sprachkenntnisse und Beruf aufgelistet. Unter “Aussehen” werden ethnische Herkunft, Körpergröße, Gewicht, Haarfarbe und -länge, Augenfarbe und Gesichtsbehaarung angegeben. Unter “Überzeugungen” können Rauch-, Trink- und Essgewohnheiten aufgelistet, die politische Ausrichtung, Kinder und Kinderwunsch angegeben sowie ein Hinweis darauf publiziert werden, ob und bei wem sich der Profilinhaber schon geoutet hat - dies ist eigentlich die einzige spezifisch “subkulturelle” Kategorie, die vorhanden ist. Unter “Kontakt” stehen Kontaktinformationen, die aber nur dann sichtbar werden, “wenn du dir ein Profil erstellt hast und damit eingeloggt bist”. Unter dem Profilbild erscheint ein Hinweis darauf, wie viele Bilder auf dem Profil vorhanden sind sowie eine Notiz darüber, wie viele PM-user der Profilinhaber persönlich kennt. Unter “Überzeugungen” erscheint der so genannte “Vorschautext, der anderen Usern einen Eindruck” dessen gibt, “was sie auf deinem Profil erwartet”. Dieser muss mindestens 20 Zeichen betragen. Unter diesem Vorschautext erscheinen die ersten News-Einträge, die wie Blog-Einträge mit Datum, Zeit der Abfassung und einer Überschrift versehen sind. Alle News-Einträge sind auf der zweiten Registerkarte ebenfalls publiziert. Der Steckbrief wird abgeschlossen durch die Rubrik “Wen ich kennenlernen möchte”. Diese ist zweigeteilt. Im einen Teil kann erläutert werden, wen man “Für Freundschaften” sucht, im anderen, wen “Für eine Beziehung”. In beiden Teiltexten kann spezifiziert werden, welches Geschlecht präferiert wird, wie weit entfernt zukünftige Bekanntschaften wohnen dürfen und wie sie denn so sein sollten. Die Angaben zum eigenen Aussehen, dem eigenem Beziehungsstatus und den Überzeugungen sowie zum gewünschten Geschlecht der Freunde/ Partner und deren Alter und Wohnregion sind vorgegeben. Doch besteht Spielraum für eigene Gestaltungsmöglichkeiten: Die Wunschpartner und -freunde können in Textfeldern beschrieben werden, das Selbst kann auf der Registerkarte “Über mich” näher charakterisiert werden. Die Auswahl möglicher Kategorien ist hier riesig: Zuerst werden Hobbies, Lieblingsmusik, Lieblingsfilme, Lieblingsbücher, Lieblingsmusicals und -theater sowie Lieblingsspiele angegeben. Unter “Über meine Person” können die Profilinhaber ihr Äußeres in zehn Stichworten, sich selbst in drei Sätzen beschreiben, ihr Inneres nach außen kehren, das, was ihnen wichtig ist, was am eigenen Ich gefällt oder missfällt und was sie gerne an sich ändern würden, mitteilen. Hier können sie kund tun, was sie von anderen Menschen unterscheidet, was ihre Vorstellung von Glück ist. Hier können sie ihre Wünsche preisgeben, ihre Strategien für schlechte Zeiten verraten, ihre drei Lieblingsgegenstände benennen, das peinlichste und das schönste Erlebnis und ihre Stärken und Schwächen schildern, beschreiben, was ihnen Geld und Status und Liebe bedeuten. Sie können ihr Lebensmotto hinschreiben, ihre größte Leidenschaft beschreiben, den Sinn des Lebens skizzieren und darüber sinnieren, wo sie in zehn Jahren stehen werden. Unter “Erlebnisse/ Aktivitäten” können sie noch einmal ihre Hobbies und Interessen beschreiben. Daniel H. Rellstab 208 Hier können sie auch erzählen, was sie tun, wenn sie nichts tun, was für sie ein perfekter Abend ist, welche Bedeutung Sex für sie hat oder welche drei Dinge sie auf eine Insel mitnehmen würden. Unter “Andere Menschen/ Lebewesen” können sie kund tun, was sie an anderen mögen und was nicht, was Freundschaft und Liebe für sie ausmacht, was sie einem Partner nie verzeihen würden, was der Partner über sie wissen müsste, was nie in einer von ihnen verfassten Kontaktanzeige stehen würde, ob sie Tiere mögen und wenn ja, welche, und welches die drei wichtigsten Personen in ihrem Leben sind. Hier können sie auch angeben, wieso sie sich anderen empfehlen würden oder wie sie ihr Coming-out erlebten. Hier sind einzig die Angaben darüber, wie gerne man Sport betreibt, ins Kino geht, liest oder spielt, vorgegeben. Alle anderen Angaben werden in Textboxen ohne Zeichenbeschränkung gemacht. 6 Selbst- und Fremddarstellungen: Ein quantitativer Vergleich Ein quantitativer Vergleich der beiden unterschiedlichen Kontaktbörsen ist ein eingeschränkter Vergleich. Denn quantitativ können nur diejenigen Aspekte der Selbst- und Fremddarstellung erfasst und verglichen werden, die auch auf beiden Plattformen vorkommen. 6.1 Selbstdarstellung Bei den Selbstdarstellungen sind vor allem diejenigen Aspekte vergleichbar, die von den Systemen vorgegeben sind. Dies sind notabene auch solche Angaben, die oft in printmedialen Kontaktanzeigen auftauchen: Alter, Sternzeichen und das Erscheinungsbild. Von letzterem sind folgende Angaben vergleichbar: Haar- und Augenfarbe werden auf allen SF-Profilen angegeben; auf PM nennen 49 von 50 Profilen die Augenfarbe, die Haarfarbe 48 von 50. 17 Auch Körpergröße, Gewicht und Körperbau werden auf beiden Kommunikationssystemen angegeben: 18 Die Körpergröße wird auf SF in allen, auf PM in 49 von 50 Profilen genannt. 19 Erste statistisch signifikante Unterschiede sind beim Umgang mit Körperbau und Gewicht zu finden. Auf PM geben 47 Männer ein Gewicht an, das notabene nicht das ihre sein muss. Auf SF sind es bloß 33, was statistisch signifikant ist: Purplemoon Swissflirt Gewichtsangabe 47 33 Keine Gewichtsangabe 3 17 Zweiseitige Signifikanz < 0.001 Chi-Quadrat-Wert 12.250 Freiheitsgrade 1 Tab. 1 Umgekehrt proportional sind die Resultate für die Kategorie “Körperbau”. Auf PM spezifizieren lediglich 13 Männer ihren Körperbau, jedoch betrachten die meisten Männer des Samples von SF die Angabe des Körperbaus als wichtigen Bestandteil ihrer Selbstdarstellung: “Aus Liebe zu dir” 209 Purplemoon Swissflirt Körperbau 13 47 Keine Angabe 37 3 Zweiseitige Signifikanz < 0.001 Chi-Quadrat-Wert 48.167 Freiheitsgrade 1 Tab. 2 Offensichtlich geben die Männer auf PM lieber Informationen über ihr Gewicht als ihren Körperbau preis. Umgekehrt verhält es sich mit den Männern auf SF. Diese geben eher ihren Körperbau als ihr Gewicht an. Allerdings bedarf diese Tendenz einer etwas genaueren Analyse. 25 Profilinhaber auf SF bezeichnen ihren Körperbau als “normal”, 11 als “athletisch”, 8 als “schlank”, und nur 3 geben an, “einige Extrapfunde” aufzuweisen. Die häufige Verwendung der Kategorie “normal” auf SF ist bemerkenswert und wohl nicht ganz zufällig. “Normal”, ein Adjektiv mit einer ausgesprochen vagen Wortbedeutung, ermöglicht es unterschiedlichsten Männern, die Kategorie “Körperbau” zu verwenden. Wie ein kleiner Test der 16 Männer, die gleichzeitig ihr Gewicht, ihre Größe und die Kategorie “Normaler Köperbau” angeben, zeigt, ist die Spannbreite derer, die behaupten, einen “normalen” Körperbau zu haben, sehr groß. Legt man den Body Mass Index zugrunde, dann gehören stark und schwach übergewichtige wie auch normalgewichtige Profilinhaber dazu. Sich selbst einen “normalen” Köperbau zu geben ist demnach ein wichtiger performativer Akt, um sich “normal” zu machen. Wichtig sind natürlich auch die Angaben der Hobbies. Vergleichbar sind aber erstens nur diejenigen Angaben, die auf beiden Plattformen auftauchen. Dies sind folgende: SF Swissflirt Purplemoon Signifikanz gemäß Chi 2 -Test: Auto 15 1 < 0.001 Filme 34 22 Nicht signifikant Fotografieren 0 6 Nicht berechenbar Kochen 32 4 < 0.001 Lesen 17 18 Nicht signifikant Musik 29 33 Nicht signifikant Natur 25 3 < 0.001 Reisen 37 9 < 0.001 Shoppen 15 2 < 0.001 Spiele 10 14 Nicht signifikant Sport 41 17 < 0.001 Tiere 15 7 Nicht signifikant Tab. 3 Daniel H. Rellstab 210 Jedoch dürfen nur “Sport” und “Filme” verglichen werden, denn die Männer auf SF haben ihre Angaben zu den Hobbies aus einem Set vorgegebener Möglichkeiten auszuwählen. Neben der Möglichkeit, in mehreren Textboxen Hobbies anzugeben, steht auf PM auch ein Auswahlset für Hobbies zur Verfügung, und dieses beinhaltet “Kunst”, “Musik”, “Lesen”, “Filme/ Sendungen”, “Sport”, “Spiele” und “Theater”. Also sind nur “Sport” und “Filme” vergleichbar. Hier bestehen allerdings signifikante Unterschiede: Die Männer des SF-Samples geben öfter “Sport” und “Filme” als Hobbies an, als dies die Männer auf PM tun. Fünf weitere Aspekte der Selbstdarstellung sind sowohl auf PM wie SF vorhanden und deshalb vergleichbar: Beruf, Religion, Rauchgewohnheiten, Kinder haben, Kinderwunsch. 27 Männer auf SF geben ihren Beruf an; auf PM sind es 29. Unterschiede im Hinblick auf die Angabe der Religiosität sind vorhanden, aber ebenfalls nicht signifikant: 25 Männer auf PM verwenden die Kategorie “Religion”, um sich zu beschreiben, auf SF sind es 16. Auf beiden Plattformen verweisen je 46 Männer auf ihre Rauchgewohnheiten. Hier ist der Unterschied der Antworten statistisch signifikant ist: Auf PM geben 25 an zu rauchen, auf SF sind es lediglich 9: Purplemoon Swissflirt Raucher 25 9 Nichtraucher 25 41 Zweiseitige Signifikanz < 0.001 Chi-Quadrat-Wert 11,943 Freiheitsgrade 1 Tab. 4 Diese Rechnung verbirgt aber, dass die Plattformen Raucher unterschiedlich behandeln. Während der rauchende Inserent auf PM angeben kann, ob er “fast nie”, “nur am Wochenende”, “mittelmäßig viel” oder “viel” raucht, gibt es auf SF keine Zwischenstufen, sondern nur ein Entweder-Oder. So ist es gut möglich, dass jemand, der auf PM die Kategorie “nur am Wochenende” wählen würde, sich auf SF als Nichtraucher bezeichnen würde. Der Vergleich der Angabe der Kinder ist uninteressant: Auf SF geben 5 Männer an, Kinder zu haben, 37, dass sie keine haben, 8 lassen die Frage unbeantwortet. Auf PM weist 1 Mann darauf hin, Kinder zu haben (einer der 8 heterosexuellen), 34 geben an, dass sie keine haben, 12 lassen die Kategorie leer. Interessanter ist der Vergleich der Kinderwünsche. Obwohl gleichgeschlechtliche Paare in der Schweiz keine Möglichkeit haben, Kinder zu adoptieren, können Partnersuchende auf PM genauso wie auf SF angeben, ob sie Kinder möchten oder nicht. Die Angabe zu dieser Frage ist für die Männer des PM-Samples wie für diejenigen des SF-Samples fast gleich relevant: Sie wird in 28 PM-Profilen und in 31 SF- Profilen beantwortet. Allerdings bestehen Unterschiede hinsichtlich des Kinderwunsches. Auf PM geben 19 an, keine Kinder zu wollen, 4 möchten gerne Kinder. 20 5 geben an, es noch nicht zu wissen. 21 Auf SF wollen nur 5 keine Kinder haben; 11 geben an, unentschlossen zu sein, 15 möchten gerne Kinder haben. Diese Verteilung ist signifikant: “Aus Liebe zu dir” 211 Purplemoon Swissflirt Kinder wollen 4 15 Keine Kinder wollen 19 5 Unentschlossen 5 11 Zweiseitige Signifikanz < 0.001 Chi-Quadrat-Wert 16,676 Freiheitsgrade 2 Tab. 5 Inwiefern sich hier Stereotypen oder auch die bestehenden Gesetze bemerkbar machen, müsste eine viel umfassendere, anders ausgerichtete und repräsentative Studie zeigen. Vergleichen lassen sich auch die Profilbilder. Signifikante Unterschiede gibt es hier indessen nicht. Auf PM weisen 36 Profile ein Foto auf, das höchst wahrscheinlich die Inserenten abbildet; zwei User verwenden als Profilfoto Abbildungen fremder Personen, einmal dasjenige eines weiblichen Musikstars, einmal dasjenige eines amerikanischen High School Studenten aus einem Jahrbuch der 1970er Jahre. Auch 36 SF-Profile enthalten ein Bild des Inserenten. Hier sind aber keine Darstellungen vorhanden, die offensichtlich fremde Personen darstellen. Auf SF präsentieren sich 24 Männer auf einem Porträtbild, 8 präsentieren ihren Torso, 4 stellten Ganzkörperfotos ins Netz. Auf PM sind die Porträts etwas weniger häufig (15), dafür kommen etwas öfter Torsi (14) und Ganzkörperfotos (7) vor - signifikant sind diese Unterschiede aber nicht. Genau gleich viele Männer auf PM und SF, nämlich je 8, präsentieren sich mit halb verdecktem Gesicht, sei dies mit einer Sonnenbrille und/ oder einer Mütze, die ins Gesicht gezogen wurde. Ein augenfälliger Unterschied besteht darin, dass 7 der 36 Männer auf PM mit nacktem Oberkörper posieren, etwas, was bei SF nicht vorkommt. Alle der etwas freizügigeren Männer identifizieren sich als homosexuell. Das Ergebnis des quantitativ ausgerichteten Vergleichs der Selbstdarstellung von Männern auf PM und SF lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die wichtigsten Aspekte der Selbstdarstellung lassen sich quantitativ zwar vergleichen, die Unterschiede sind meist nicht signifikant. Die wichtigsten körperlichen Attribute werden sowohl auf PM wie auch auf SF genannt. Die Männer des PM-Samples geben eher das Gewicht, die Männer auf SF eher den Körperbau an, allerdings oft mit dem nicht gerade gehaltvollen Adjektiv “normal”. Unterschiede bestehen auch darin, dass die Männer der SF-Profile öfter angeben, Sport zu treiben und Filme zu mögen und Kinder zu wollen. Die Männer auf PM geben eher an, dass sie rauchen, allerdings können sie ihre Rauchgewohnheiten differenziert darstellen - auf SF müssen sich die Profilinhaber dafür entscheiden, sich als Nichtraucher oder Raucher zu präsentieren. 6.2 Partnerdarstellung Die beiden Systeme bieten unterschiedliche Möglichkeiten, den Wunschpartner zu beschreiben. Auf PM wird die Charakterisierung des gewünschten Partners dem User nahe gelegt (cf. Abb. 3): Daniel H. Rellstab 212 Abb. 3 Will der Inserent auf SF seinen Partner beschreiben, so muss er sich zuerst überlegen, wo er dies tun könnte. Die einzige Möglichkeit dazu findet er in der Box “Text” (cf. Abb. 4). Diese Unterschiede müssen bei dem quantitativen Vergleich berücksichtigt werden. Die Angaben der Altersspanne der Wunschpartner kann nicht verglichen werden, weil diese Angabe von PM nahe gelegt wird, von SF aber nicht. Verglichen werden kann aber, ob überhaupt ein Wunschpartner skizziert wird - und interessanterweise entspricht das Resultat nicht der Erwartung, dass aufgrund der Systemkonfiguration mehr Männer auf PM Angaben über gewünschte Eigenschaften eines Partners machen würden als auf SF. Von den 50 PM- Profilen nennen nur gerade 21 Profile wünschenswerte Attribute eines zukünftigen Partners. Auf SF sind es immerhin 34 Profile, in denen steht, wie die Wunschpartnerin sein sollte. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant: Purplemoon Swissflirt Angaben über Wunschpartner 21 34 Keine Angaben über Wunschpartner 29 16 Zweiseitige Signifikanz 0.009 Chi-Quadrat-Wert 6,828 Freiheitsgrade 1 Tab. 6 Die Fremdbeschreibungen der Profile auf beiden Kontaktbörsen bestehen vor allem aus Adjektiven (“humorvoll”) oder Nomen (“Ehrlechkeit”) und einzelnen Phrasen (“en gwösse Ehrgiz”). Insgesamt werden in den 55 Profilen der beiden Plattformen, die Fremddarstellungen beinhalten, 134 verschiedene Eigenschaften der Wunschpartnerin oder des Wunschpartners genannt. Der Vergleich zeigt, dass die Attribute, die auf PM und auf SF verwendet “Aus Liebe zu dir” 213 Abb. 4 werden, weder gendernoch subkulturspezifisch sind. Eine Ausnahme bildet einzig das Attribut “nichttuntig”, das 1 mal auf PM auftaucht. Zur Charakterisierung einer Wunschpartnerin eignet es sich natürlich nicht. Da die Eigenschaften auf beiden Börsen in freiem Text aufgelistet werden, sind Mehrfachnennungen einer Eigenschaft schon auf einer Kontaktbörsen selbst eher selten, und nur gerade folgende 27 der insgesamt 134 genannten Eigenschaften werden auf beiden Plattformen verwendet: Daniel H. Rellstab 214 Eigenschaft Purplemoon Swissflirt Aufgestellt 1 2 Bodenständig 2 2 Direkt 1 2 Ehrlich 6 12 Einfach 1 2 Hübsch 1 1 Humorvoll 2 7 Klug 1 2 Liebevoll 1 1 Nichtraucher 2 1 Offen 4 4 Romantisch 2 4 Schlank 2 1 Spontan 2 4 Sportlich 2 9 Sympathisch 2 2 Treu 2 11 Unkompliziert 1 5 Unternehmungslustig 1 2 Viel Freiraum gebend 1 1 Wie ich 2 7 Witzig 1 1 Zärtlich 4 3 Zufrieden 1 1 Zuverlässig 2 1 Tab. 7 Einen Unterschied, der statistisch signifikant wäre, gibt es hier nicht. Etwas aussagekräftiger wird das Bild, wenn alle aufgelisteten Eigenschaften in semantische Felder gegliedert und diese Felder verglichen werden. Diese fünf Felder werden konstituiert aus 1. Wesenseigenschaften der zukünftigen Partnerin oder des zukünftigen Partners (z.B. “liebevoll”, “ehrlich”, “offen”, “keine Schlaftablette”), 2. Aspekten des Erscheinungsbildes (z.B. “stilvoll”, “hübsch”, “süss”), 3. Aspekten, welche die Beziehungsgestaltung betreffen (z.B. “viel Freiraum geben”, “treu”, “kein Verarscher”), “Aus Liebe zu dir” 215 4. Hobbies (z.B. “kunstliebhabend”, “liebt Autos”), 5. Adjektiven, die das Berufsleben betreffen (“erfolgreich”). Auf beiden Plattformen werden Lexeme aus den ersten vier Bereichen genannt. Die letzte Kategorie taucht nur auf PM auf: ad 1. Auf PM werden 49 verschiedene Adjektive zur Wesenscharakterisierung verwendet. Insgesamt werden in 18 Profilen 70 mal Adjektive verwendet, die das Wesen des Wunschpartners charakterisieren. In 27 SF-Profilen werden 42 Adjektive zur Wesenscharakterisierung verwendet, und insgesamt werden 63 mal Adjektive verwendet, die das Wesen der Partnerin charakterisieren. ad 2. Auf PM werden 10 Adjektive zur Charakterisierung des Äußeren verwendet; Adjektive aus dieser Kategorie werden in 9 Profilen 17 mal verwendet. Auf SF sind es 12 Adjektive, insgesamt werden 23 mal Adjektive aus dieser Kategorie in 14 Profilen verwendet. ad 3. Auf PM werden in 9 Profilen 10 Adjektive, die für die zukünftige Beziehung relevant sind, verwendet, insgesamt 26 Mal, auf SF werden 9 Adjektive dieses Feldes insgesamt 16 mal in 18 Profilen verwendet. ad 4. Auf PM wird nur 1 Adjektiv verwendet, das passende Hobbies nennt, und zwar nur 1 mal in einem Profil, auf SF werden 3 Adjektive insgesamt 5 mal in je 5 Profilen verwendet. ad 5. Das einzige Adjektiv, das den Beruf beschreibt, ist “erfolgreich”; es wird 1 mal auf PM erwähnt. Wie Mann-Whitney-Tests zeigen, sind jedoch die Unterschiede im Hinblick auf die Häufigkeit der genannten Adjektive in keiner Kategorie signifikant. Auffallend ist einzig, dass die Beschreibung wünschenswerter Wesenszüge auf beiden Plattformen mehr Raum einnimmt als die Beschreibung des Äußeren des oder der Zukünftigen oder die Aufzählung von Eigenschaften, welche die Beziehungsgestaltung betreffen. Der quantitative Vergleich zeigt aber auch, dass die Fremddarstellungen beider Kontaktbörsen ausschließlich Kategorien verwenden, die auch in printmedialen Kontaktanzeigen auftauchen könnten. Der quantitative Blick konstatiert deshalb vor allem die Kontinuität zwischen den beiden kommunikativen Gattungen “printmediale Kontaktanzeige” und “Profil auf einer virtuellen Kontaktbörse”. Anders sieht dies bei der qualitativen Analyse aus. 7 Zweimal Swissflirt, einmal Purplemoon: Qualitative Analysen Auf Swissflirt beschränken sich die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten des Profils auf die Bilder und das Textfenster (cf. Abb. 4). Die Vorgaben von SF sind aber nicht so eng wie bei printmedialen Kontaktanzeigen, denn die Länge des Textes im Fenster “Text” ist nicht beschränkt. Zwar bietet SF mit dem Titel “Kontaktanzeige” auch eine Gattungsvorgabe und damit gleichzeitig eine Formulierungshilfe an; zwar gibt es spezifische Richtlinien, an welche sich die Verfasser halten müssen (cf. Kap. 5). Wie der Text geschrieben, strukturiert und gestaltet wird und wie er sich ins Gesamt des Profils einfügen soll, das lässt SF aber offen. Deswegen ist es nicht erstaunlich, dass die Textgestaltungen und damit auch die Selbst- Daniel H. Rellstab 216 Abb. 5 präsentationen auf SF variieren. Die Bandbreite der Variabilität lässt sich anhand zweier Beispiele illustrieren. Purplemoon dagegen bietet seinen Nutzern sehr viel mehr Raum, um ein individuelles Profil zu entwerfen. Dieser Raum wird genutzt und führt zur Texten, in welchen zwar die kommunikativen Teilhandlungen, welche in der printmedialen Kontaktanzeige mit Hilfe der einzelnen Textbausteine realisiert werden, noch auffindbar sind. Die Selbstdarstellungen, die hier entstehen, sind indessen mit den Reifizierungen der traditionellen Kontaktanzeige nicht mehr vergleichbar. Dies zeigt eindrücklich Beispieltext 3. 7.1 Swissflirt 1: “Gibt es denn keine Frau…..” Der gewählte Nickname, der in der Abbildung eingeschwärzt wurde, nennt Alter sowie eine Charaktereigenschaft des Inserenten. Im Textfenster steht: Gibt es denn keine Frau….. die nicht mehr allein sein will. Ein bisschen die selben Interessen sollten vorhanden sein. Ansonsten bin ich offen. Also schreibt , bitte nur mit Fotos. Gruss Das Profil selbst ist sehr ökonomisch gestaltet. In der Textbox schreibt der Inhaber nur an einer Stelle über sich selbst: Er charakterisiert sich als “offen”. Die Möglichkeiten der Selbstdarstellung, welche durch die Registerkarten gegeben sind, nutzt er aber bis auf die Angabe des Aszendenten alle. Er nennt Alter, Wohnort, Sternzeichen, Nationalität, beschreibt sein Äußeres mit der Angabe von Größe und Gewicht. Seinen Körperbau bezeichnet “Aus Liebe zu dir” 217 Abb. 6 Abb. 7 er als “normal”, den Fitnesslevel als “durchschnittlich”. Er ist alleinstehend, hat keine Kinder, gibt an, Angestellter und Christ zu sein und kann sich vorstellen zu heiraten. Mit Hilfe der Aufzählungen unter Freizeit/ Hobbies präsentiert er sich als sportlichen und aktiven Menschen, der gerne reist, Autos und Motorräder mag und sich um seine Gesundheit und sein Äußeres kümmert. Haustiere hat er keine; 22 auf eine bestimmte Musikrichtung legt er sich nicht fest: Offensichtlich hört er, abgesehen von E-Musik, alles (cf. Abb. 6). Mit Hilfe der Angaben auf den Registerkarten konstruiert der Inserent allerdings kein sehr präzises Bild seiner Selbst. Die Vielzahl von Angaben unter Sportarten und Musik evozieren vielmehr Unbestimmtheit; die Verwendung der Adjektive “durchschnittlich” und “normal” verstärken diesen Eindruck des Unbestimmten. Einzig der Hinweis darauf, dass er raucht, verleiht dem Profilinhaber etwas Eigenständigkeit, denn die Raucher sind im Sample von SF klar in der Minderheit (cf. Kap. 6.1). Auf dem Profilbild blickt der Inserent direkt in die Kamera, das Gesicht ist nicht verdeckt. Der Fotografierte befinden sich irgendwo draußen: Im Hintergrund ist ein blätterloser Baum sichtbar. Die Kleidung ist unauffällig: Graues Kapuzenshirt und Jeansjacke. Wie ein Blick in sein Fotoalbum zeigt (cf. Abb. 7), ist das Profilbild ein Ausschnitt aus einem Ganzkörperbild, das dort zu sehen ist. Der Mann steht auf einer Brücke, die über einen begradigten Bach führt, in einer unspektakulären Landschaft, die sogar etwas trist wirkt. Es liegt etwas Schnee, der Himmel ist wolkig. Das Farbspektrum des Bildes ist verhalten: Blasse Grau-, Blau- und Grüntöne herrschen vor. Das verwendete Profilbild hilft damit nur bedingt, den Eindruck des Unbestimmten zu zerstreuen. Denn es zeigt nicht mehr vom Inserenten als dessen Äußeres. Es akzentuiert weder eines seiner Hobbies noch illustriert es eine seiner Freizeitaktivitäten. Das konstruierte Selbst dieses Profilinhabers bleibt so auch mit Bild relativ unbestimmt und unterkomplex, und die Informationen, welche der Profilinhaber über sich selbst kund tut, unterscheiden sich kaum von Informationen, wie sie auch in einer printmedialen Kontaktanzeige zu finden wären. Das sieht im nächsten Beispiel anders aus. Daniel H. Rellstab 218 Abb. 8 7.2 Swissflirt 2: “nun bin ich an der Reihe” Dieser Profilinhaber wählte einen englisch klingenden Fantasienamen als Nickname. Im Textfenster seines “Profils” steht: Hallo, Nun ist es Zeit, die Sache selbst anzupacken; so wie alle die hier inserieren, bin auch ich auf der Suche nach meiner Hälfte. Ich bin mitte September 40 geworden und ich bin immer noch single; ich hoffe es wird ab nun ändern. Sport brauche ich, um den Altagsstress ab zu baun; mein Haupsport ist Wasserball; neben bei spiele ich auch gerne Beachvolley (leider in diesem Sommer nicht dazu gekommen), fahre Rad. Abends lese ich oder mache Kreuzworträtzel um besser einschlafen zu können. Ich backe auch gerne, sowie bereite Desserts vor. Ich bin eine Vertrauensperson mit eher ruhigem Karakter. Ich habe keine Altlasten. Nun zu dir : gerne etwas jünger als ich, Du solltest auch Sport mögen. Ideal hast Du helleres Haar mit braune Augen; aber eben idealerweise. Und sonst was man sich so als Traumfrau sich vorstellt. Nicht Raucherin wäre von Vorteil. Auf den Fotos sieht man mich mit einem Rottweiler; keine Angst es ist leider nicht meiner; ich muss allerdings sagen, war; man hat ihn vor zwei Wochen einschäfern müssen. Ich mag Tiere, aber aus Mitleid habe ich keins; ich habe keine Zeit mich um sie zu kümmern, meine Arbeitszeit lässt es nicht zu. Ach, was Du auch noch wissen solltest, ich komme aus dem Kanton Neuenburg; Französisch ist meine Hauptsprache; spreche aber sonst Hochdeutsch, ich wollte es einfach sagen. Da ich gerne Autofahre oder Rad, macht es mir noch nichts aus, wenn Du etwas weiter wohnst. “Aus Liebe zu dir” 219 Abb. 9 So, wenn jetzt noch mehr schreibe, wird sich keine mehr trauen, mir zu antworten : -) Wenn Du noch ein Foto mit der Antwort beilegst bin ich ganz froh. Ich wünsche alle die meine Anzeige bis zum Ende gelesen haben einen schönen Tag. Liebe Grüsse. (Nickname) Anders als im ersten Fall lässt der Inhaber dieses Profils einige Angaben zu seiner Person auf den Registerkarten offen: Er nennt Nationalität und Gewicht nicht - letzteres ist auf SF allerdings nicht erstaunlich (cf. Kap. 6.1). Er lässt die Angaben zu Beruf und Heiratswunsch ebenfalls offen. Er gibt aber an, dass er keine Kinder hat, aber gerne Kinder haben würde, und bezeichnet sich selbst als Atheist. Wie der Inserent des ersten Beispiels gibt auch er eine Vielzahl unterschiedlicher Freizeitaktivitäten und Hobbies an. Sein Musikgeschmack ist aber schon viel präziser definiert, als dies im ersten Beispieltext der Fall war, und bei den Sportarten beschränkt er sich darauf, drei zu nennen (cf. Abb. 9). Sein Profilbild ist eine Illustration seiner Freizeitgestaltung und damit gleichzeitig auch ein Beleg der Wahrhaftigkeit dieser Angaben. Es zeigt ihn auf einem Feldweg in Sportkleidung neben einem Rottweiler kniend, um den er den Arm gelegt hat. Damit signalisiert er Sportlichkeit, Naturverbundenheit und Tierliebe - Sport, Natur und Tiere sind denn auch Lexeme, die auf seiner Registerkarte unter Freitzeit/ Hobbies auftauchen. Dieses Selbstbild, das auf dem Foto und den Registerkarten inszeniert wird, wird im Textfenster weiter verdichtet, den Informationen auf Bild und Registerkarten damit mehr Sinn verliehen. Der Inserent präzisiert hier sein Alter und gibt dieses auch als Grund dafür an, weshalb er jetzt auf SF inseriert. Er erläutert, welcher Sport und weshalb ihm Sport wichtig ist. Er begründet, weshalb er liest, und wiederholt, dass er gerne in der Küche steht. Er beschreibt seinen Charakter und erklärt, weshalb er selbst kein Haustier mehr hat. Mit dem Verweis auf den gemäß landläufiger Meinung gefährlichen Hund auf dem Bild, neben dem er kniet, signalisiert er gleichzeitig auch ein gewisses Maß an Eigenständigkeit. Er präzisiert ebenfalls seine Herkunft und informiert darüber, dass seine Muttersprache Französisch sei. Der Inserent hier will sicherlich nicht als Durchschnittstyp erscheinen. Seine Selbstdarstellung weist gleichzeitig Brüche auf. Das Bild, das in dieser Anzeige entsteht, ist nur bedingt das eines rundum erfolgreichen Mannes. Zwar ist er “eine Vertrauensperson” und hat “keine Altlasten”; zwar scheint er ein aktiver Berufsmann zu sein. Doch sein Le- Daniel H. Rellstab 220 ben ist nicht einfach problemlos: Der Schreibende braucht Sport, um Alltagsstress abbauen zu können. Dies präsupponiert, dass er Stress hat. Er liest, um abends besser einschlafen zu können. Dies implikiert, dass er nicht einfach gut einschläft. Außerdem scheint er wenig Zeit zu haben, denn er kann sich kein Haustier halten: “meine Arbeitszeit lässt es nicht zu”. Diese Selbstoffenbarungen wirken nicht nur als Brüche, sondern suggerieren auch Nähe, denn in intimer Kommunikation darf über eigene Schwächen geschrieben werden (cf. Laurenceau et al. 1998). Diese Nähe zu seinen Rezipienten verstärkt der Inserent mit Hilfe sprachlicher Merkmale: Er schreibt keine traditionelle Kontaktanzeige, sondern einen Brief an ein unbestimmtes Du, der mit “Hallo” beginnt und mit “Liebe Grüße” endet. Und er emuliert mit dem Seufzer “Ach” und dem Adverb “So” Mündlichkeit, was ebenfalls Näher suggeriert. 23 Das Bild, das er so von sich selbst konstruiert, ist komplex, aber nicht undeutlich, weist Brüche auf, aber so, dass sie ins Bild passen. 7.3 Purplemoon: “Ich habe dich sehr gern, drum lass ich dich los” Das letzte Beispiel widerlegt Ellisons These, dass Inserenten auf online-Kontaktbörsen genau überlegen, was sie publizieren, um ein möglichst ideales Bild ihrer selbst zu präsentieren, zwar nicht (cf. Ellison 2006). Es zeigt aber, dass ein Selbstbild auf Kontaktbörsen nicht unbedingt aus gemeinhin als attraktiv erscheinenden Charaktereigenschaften oder beschönigten Gewichtsangaben bestehen muss. Denn nicht allen gefällt das Gleiche, und Geschmack ist kulturell und subkulturell geprägt (cf. Bourdieu 1982). Dass jedoch ein solchermaßen komplexes Selbstbild konstruiert werden kann, wie dies hier der Fall ist, liegt nicht nur in der Intention des Inserenten begründet. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Inszenierung liefert die Systemarchitektur der Website von PM. In seinem “Steckbrief” (cf. Abb. 10) kommuniziert der Inhaber dieses Profils Name, Nickname - dieser weist ihn als Liebhaber von Pflanzen aus -, Wohnort, Sternzeichen, Sprachkenntnisse, Beruf, Beziehungsstatus, Aussehen und seine Überzeugungen. Augenfällig sind seine Einträge unter der Rubrik “Spitznamen”: Er listet fünf Spitz- und Rufnamen auf und signalisiert mit Auslassungspunkten, dass er noch mehr Rufnamen hat. Gleichzeitig stellt er klar, dass der Gebrauch des einen Namens jemandem vorbehalten ist: “so nennt mich aber nur jemand ganz spezieller! ” Er indiziert mit diesen Angaben, dass er Mitglied eines Netzwerks von Freunden ist und dass er zu jemandem in einer speziellen Beziehung steht - was für ein Profil auf einer Kontaktbörse einigermaßen erstaunlich ist, denn wer will seinen zukünftigen Partner schon mit “jemand ganz spezieller” teilen? 24 Relevant ist auch sein Hinweis darauf, dass er bei allen geoutet ist: Mit seiner Homosexualität scheint er keine Probleme zu haben. Auf dem Profilbild, einem Porträt, trägt der Inhaber eine Schirmmütze und zieht eine leichte Grimasse. Er inszeniert sich damit als Mann mit Witz und Selbstironie. Gleichzeitig zeigt schon die Bildlegende, die darauf hinweist, dass er insgesamt 33 Bilder in 3 Ordnern publiziert hat, dass er auch keine Probleme damit hat, sich den anderen auf dieser Plattform zu präsentieren. Viel über sich gibt der Profilinhaber auch auf der Registerkarte “Über mich” preis. Die Einträge hier sind konsequent aus der Ich-Perspektive formuliert. Allerdings signalisiert der Profilinhaber auch, dass ihm das Abfassung von Selbstbeschreibungen Probleme bereitet: ja … viles halt … ach ja, und malen … wer lust hat, kann die bilder ja angucken … nicht? www.yyy.com 25 “Aus Liebe zu dir” 221 Abb. 10 Kunst und Musik interessieren ihn, wie er angibt, stark. Auf einzelne Künstler oder Musiker will er sich aber nicht festlegen. Zu Kunst sagt er: “entweder gefällt es, oder es gefällt nicht.” Und: “jeder mensch macht kunstwerke”. Zu den Büchern, die er gerne liest, schreibt er: Es gibt so viele, ich kann sie nicht aufzählen. Lesen ist Wissen, Verstehen. Man kann nicht genug lesen! Etwas zeitgenössisches: Lies mal “Die Mitte der Welt” oder “Die Lewins” … beides umwerfende Bücher, über 500 Seiten und man wünscht sich, es wären mehr Seiten … Auch Filme/ Sendungen interessieren ihn “stark”: “ups… alles, ich sammle gute Filme … und hab deshalb schon über 600… : -) Filmabend? : -)”. Diesem Profilinhaber ist es wichtig, als eigenständige Person mit einem reichen Innenleben wahrgenommen zu werden. In “Über meine Person”, “Aktivitäten und Hobbies” und “Lebenseinstellungen” beschreibt er seine Wünsche, Ansichten, Gefühle, Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte en détail. Er tut seine Lebenseinstellungen mit Lebensmotto und Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Bedeutung von Geld und Status, von Liebe und Sex, der größten Leidenschaft und der politischen Ausrichtung kund, und er teilt den anderen mit, was er an anderen Menschen mag. Zu seinem Äußeren aber schreibt er: Hm…wieso soll ich mich beschreiben? Schau dir die Fotos an und du weisst, was auf dich zukommt … oder eben nicht. Äußeres und Gefallen ist ja so was von relativ. Oder nicht? Auf die Frage, wieso er sich anderen empfehlen würde, schreibt er: Wieso sollte ich? Ich will so erwünscht oder begehrt sein, wie ich bin. Freundschaften und Liebe sind doch kein Business, für das man Werbung macht und Empfehlungen abgibt … Der Profilinhaber indiziert, dass er gerne diskutiert. Zu “Was mir Liebe bedeutet” schreibt er an Ende des Eintrags: “Diskussionsstoff für einen Abend, aber nicht für diese Box”. Zu “Das bedeutet Sex für mich” meint er: “Sex ist für mich etwas ganz spezielles und nichts alltäg- Daniel H. Rellstab 222 liches wie ein Einkauf. Und auch ein abendfüllendes Thema”. Und er versucht auch gleich, seinen Rezipienten in ein Gespräch zu verwickeln: Er adressiert oft ein Du, das teilweise eine bestimmte Person ist, teilweise auch den unbekannten Leser meint (“Mach mir etwas Mut, Chrigi, ok? ”; “Filmabend? : -)”). Er streut Interjektionen und tag-questions in seine Texte und suggeriert damit Nähe auch zu dem ihm noch unbekannten Leser. 26 Der Profilinhaber benutzt sein Profil auch als Plattform, um aus seinem Leben zu erzählen. In News lässt er seine Leserschaft an einer kurzen Liebesbeziehung mit einem “Prinzen” teilhaben. Dies geschieht aber nicht einfach in erzählendem Modus. In zwanzig Einträgen, die an Bloggs erinnern und sich über gut drei Wochen erstrecken, montiert er Beschreibungen seiner eigenen Befindlichkeiten mit Songtexten von Depeche Mode (“Playing the Angel”, “Damaged People”, “Precious”, cf. 13. September) und Rosenstolz (“Aus Liebe wollt ich alles wissen”, cf. 21. September) und mit Gedichten, eigenen und fremden (cf. 15. September, 27. September). Der Gefühlshaushalt und dessen Umwälzungen stehen hier im Vordergrund: Von “ich habe den prinzen kennen gelernt. und er hat angst, wie mir scheint” (1. September), über “Jetzt ist es raus. Das Nein.” (8. September) und “Ich vermisse dich sehr! ” (11. September) “genug! ich will weiter! ” (13. September), den “Schrecken des Wiedersehens” (21. September), bis hin zum “Ich fühl mich besser. Ich hoffe, du auch! ” (25. September) und einem “Man darf mich anschreiben, ja, das darf man! ”. Der Profilinhaber scheut sich nicht davor, seine aktuelle Partnersuche explizit im Kontext dieser unglücklich verlaufene Episode zu verorten und formuliert gar den Begrüßungstext als Nachruf auf den verlorenen Prinzen und nicht als direkte Aufforderung an einen noch Unbekannten, sich mit ihm in Verbindung zu setzen: Ich habe dich sehr gern, drum lass ich dich los. Aus Liebe zu dir und für etwas besseres zwischen uns. Und öffne mein Herz für denjenigen, der mich so will, wie es mit uns nicht sein konnte. Und selbst die Anforderungen an einen zukünftigen Partner sind aus der Perspektive der missglückten Beziehung formuliert. “Für eine Beziehung” wünscht er sich jemanden, der daran interessiert ist, “etwas aufzubauen, statt bei ersten Problemen wegzulaufen”. Zwar könnten alle Teiltexte, die hier auftauchen, als Entfaltungen von Textbausteinen interpretiert werden, die auch in printmedialen Kontaktanzeigen vorkommen. Selbst die unglückliche Liebesgeschichte wäre dann nichts anderes als die Entfaltung dessen, was etwa unter “nach schwerer Enttäuschung” zu subsumieren wäre (cf. Zitat Kap. 3). Aber aus der Anzeige ist eine komplexe Collage über die Befindlichkeit eines Mannes geworden, der an einer missglückten Beziehung leidet. Die Collage selbst ist unabgeschlossen, Spuren der Revision bleiben sichtbar. Damit wirkt sie aber auch sehr authentisch: Hier wird ein Individuum mit seinen Wünschen, Hoffnungen und Erfahrungen konstruiert, das sich vordergründig dem Heiratsmarkt dadurch verweigert, dass es etwa sein Äußeres relativiert und sich einer expliziten Selbstempfehlung verweigert. Doch vielleicht ist gerade dies eine Strategie, die auf PM zum Erfolg führen könnte. 8 Fazit Selbst- und Fremdinszenierung auf virtuellen Kontaktbörsen sind bedingt durch mediale Gegebenheiten und entstehen in komplex strukturierten, teilweise stark durch das Medium gelenkten Auswahl- und Formulierungsprozessen. Die Lenkung durch das Medium ist “Aus Liebe zu dir” 223 vollkommen anders, als dies bei der traditionellen Kontaktanzeige der Fall ist: Nicht ökonomische Bedingungen, sondern die Systemarchitektur der Website, die Auswahlmöglichkeiten sowie die Freiheiten, Texte zu gestalten, entscheiden darüber, wie individuell ein Profil sein kann. Da die Systemarchitekturen von Website zu Website variieren, dürfte die Spannbreite der Möglichkeiten der Selbstinszenierungen im Netz viel breiter werden, als dies bei der Kontaktanzeige jemals der Fall war. Dies hat Konsequenzen für User von Kontaktbörsen. Anders als die Schreibenden von traditionellen Kontaktanzeigen müssen sich Inserierende und Rezipierende auf je spezifische Gegebenheiten der Systeme einlassen. Es geht nicht mehr nur darum, in einem standardisierten Kurztext ein Ich zu zeichnen, das für einen potenziellen Partner attraktiv sein könnte, sondern auch darum, die zur Verfügung gestellten Möglichkeiten so zu nutzen, dass im multimodalen Text ein möglichst attraktives und wahrhaftiges Bild des Selbst entsteht. Die textuellen Kompetenzen der Nutzer sind daher stärker gefordert, als dies bei printmedialen Kontaktanzeigen der Fall war. Der Wegfall des sprachökonomischen Druckes führt dazu, dass die Selbstpräsentationen komplexer werden und auch Brüche aufweisen dürfen. Zwei der drei Inserenten zeigen, dass auf den Profilen der Kontaktbörsen Selbstoffenbarungen möglich sind, wie sie in Kontaktanzeigen nicht vorkommen. Damit entsteht auf Kontaktbörsen auch etwas Neues. Ob das “Profil auf einer virtuellen Kontaktbörse” allerdings so viel Bestand haben wird wie die printmediale Kontaktanzeige, ist offen. Vielleicht wird es im Zeitalter virtueller sozialer Netzwerke einmal vollkommen überflüssig werden? Literatur Bayer, Tobias 2009: “Das große Geschäft mit der Liebe”, in: Financial Times Deutschland, 05.06.2009 Beißwenger, Michael 2005: “Interaktionsmanagement in Chat und Diskurs. Technologiebedingte Besonderheiten bei der Aushandlung und Realisierung kommunikativer Züge in Chat-Umgebungen”, in: Beißwenger, Michael & Angelika Storrer (eds.) 2005: Chat-Kommunikation in Beruf, Bildung und Medien. Konzepte, Werkzeuge, Anwendungsfelder, Stuttgart: Ibidem, 64-87 Berghaus, Margot 1985: Partnersuche angezeigt. 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Die Verfasser der Studie meinen dazu: “Als Hauptgrund für diese Diskrepanz wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass derartige Analysen häufig vor dem Hintergrund kommerzieller Interessen angefertigt werden und deshalb dazu tendieren können, den tatsächlichen Stand der Nutzer zu überschätzen, indem beispielsweise leere, ungenutzte oder doppelt angelegte Profile in die Zählungen eingehen” (Schulz et al. 2008: 281). 5 Diese Kontaktbörse fusionierte kürzlich mit www.swissfriends.ch, einer anderen Schweizer Kontaktbörse, und ist nur noch über www.swissfriends.ch/ partnerwinner abrufbar. 6 Cf. http: / / www.parship.ch/ editorial/ das_ist_parship/ das_parship_prinzip/ wissenschaftliche_grundlagen.html, acc. 1.12.2009. 7 Cf. dazu aus sozialpsychologischer Perspektive etwa Derlega et al. (1987). 8 Cf. dazu https: / / www.swissflirt.ch/ media/ pressemitteilungen/ 20080428, acc. 1.12.2009. 9 Cf. http: / / www.singleboersen-vergleich.ch/ spezial-singleboersen.htm, acc. 1.12.2009. 10 Cf. http: / / www.purplemoon.ch/ about/ terms_of_use.html, acc. 1.12.2009. 11 Da die Profile öffentlich zugänglich waren, sind sie vergleichbar mit Kontaktanzeigen in Tageszeitungen und damit meines Erachtens öffentliche Texte. Um jedoch die Nutzer der Plattformen zu schützen, werden alle Beiträge anonymisiert, Nicknames geändert und Fotografien, sofern sie verwendet werden, so verfremdet, dass die abgebildeten Personen nicht mehr kenntlich sind. 12 “System” verstanden im Sinn von Michael Beißwenger (2005). 13 Von den 300’000 Nutzern hatten zum Zeitpunkt der Datenerhebung bloß vier Männer und eine Frau ein Video auf ihr Profil gestellt, wovon im Prinzip nur zwei die Profilinhaber zeigen, beide übrigens beim Musizieren. 14 Cf. https: / / www.swissflirt.ch/ agb/ index, acc. 1.12.2009. 15 Cf. https: / / www.swissflirt.ch/ account/ ad/ new, acc. 05.10.2008. 16 Cf. www.purplemoon.ch, acc. 27.09.2008. 17 Die fehlenden Angaben zu Haarfarbe und Augenfarbe kompensiert eine Anzeige mit einem aussagekräftigen Foto. 18 Allerdings trauen viele Kontaktbörsennutzende diesen Angaben nicht und gehen davon aus, dass sie inadäquat sind. Cf. dazu Gibbs et al. (2006: 169-170). 19 Das Profil ohne Angabe der Körpergröße liefert die fehlende Information mit Hilfe eines aussagekräftigen Fotos. 20 Davon identifizieren sich 2 als bi-, 1 als hetero- und 1 als homosexuell. 21 Davon sind 3 homo-, 1 hetero- und 1 bisexuell. 22 Dass die Angaben von Hobbies in Profilen auf virtuellen Kontaktbörsen nicht immer ganz akkurat sind, zeigen die Aussagen von online-Datern in Ellison (2006: 426): “For instance, I am also an avid hiker and [scuba diver] and sometimes I have communicated with someone that has presented themselves the same way, but then it turns out they like scuba diving but they haven’t done it for 10 years, they like hiking but they do it once every second year … I think they may not have tried to lie; they just have perceived themselves differently because they write about the person they want to be … In their profile they write about their dreams as if they are reality. (Christo1)” 23 Zur emulierten Mündlichkeit cf. z.B. Schlobinsiki (2005: 132). 24 Zur Pragmatik von Eigennamen cf. etwa de Klerk & Bosch (1996) oder Wierzbicka (1992: 302). 25 www-Adresse geändert. 26 Zum Problem der Nähekommunikation in elektronisch vermittelter Kommunikation cf. etwa Dürscheid (2004, 2006). Emoticons als metaphorische Basiskonzepte Franc Wagner In this paper, it is argued that emoticons in the writing of adolescents fulfill metaphorical functions in the sense of the cognitive conception of metaphor and that emoticons can be interpreted as embodied metaphors or as basic concepts in a metaphorical sense. The theoretical placement of emoticons will be explained during a short introduction to the cognitive metaphor theory. The analysis of emoticons in the writing of adolescents will show, whether emoticons are used metaphorically, and which semantic functions are realized by using them. Hier soll die These vertreten werden, dass Emoticons im Schreiben Jugendlicher metaphorische Funktionen erfüllen und im Sinne der kognitiven Metaphernkonzeption von George Lakoff & Mark Johnson als Körpermetaphern, resp. als metaphorische Basiskonzepte betrachtet werden können. Eine kurze Darstellung der kognitiven Metaphernkonzeption soll aufzeigen, wie Emoticons darin eingeordnet werden können. Im Anschluss daran soll anhand konkreter Beispiele aus dem Schreiben Jugendlicher untersucht werden, ob und wie Emoticons metaphorisch verwendet werden. 1 Die Metaphernkonzeption von Lakoff & Johnson Obwohl die kognitive Metaphernkonzeption weitgehend bekannt ist, sollen hier die wichtigsten Thesen des Ansatzes kurz skizziert werden, da diese für die nachfolgende Argumentation benötigt werden. Die kognitive Metapherntheorie wurde von Johnson & Lakoff in den 80er-Jahren entwickelt, u.a. in Lakoff & Johnson (1980/ 2007), Johnson & Lakoff (1982) und Lakoff (1987), eine Einbettung in die kognitive Theorie erfolgte in Lakoff & Johnson (1999). Die Theorie fasst die Metaphern nicht primär als lexikalische Einheiten auf, sondern als kognitive Einheiten, die in den Einzelsprachen jeweils unterschiedlich lexikalisiert werden. Die primäre Funktion der Metapher ist es, einen neuen Erfahrungsbereich in den Termini eines bereits bekannten fassbar zu machen. Diese Konzeption erinnert an die hermeneutische Metaphernauffassung (vgl. z.B. Ricoeur: 1996). Im kognitiven Ansatz wird die Metapher allerdings nicht als Bild, sondern als Abbildung von einem Ursprungsauf einen Zielbereich verstanden. Lakoff & Johnson verstehen Metaphern entsprechend als metaphorische Konzepte wie z.B. ‘ZEIT IST GELD’, d.h. als Abbildungen von einem Erfahrungsbereich (Geld) auf einen anderen (Zeit). Dabei werden Eigenschaften vom Ursprungsbereich auf den Zielbereich übertragen. In unserem Beispiel werden etwa die Eigenschaften ‘kostbar’, ‘Begrenztheit der Ressource’, und ‘quantifizierbar’ von Ursprungsbereich ‘Geld’ auf den Zielbereich ‘Zeit’ übertragen. Dies hat zur Folge, dass die Zeit als quantifizierbar, begrenzt und vor allem als kostbar dargestellt wird. Lakoff & Johnson gehen davon aus, dass Metaphern als kognitive Einheiten nicht nur die Sprache, sondern auch die Wahrnehmung und somit das Denken strukturieren. Metaphern K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Franc Wagner 228 betrachten sie als kognitive Einheiten, die nicht von einer Einzelsprache abhängig sind und die innerhalb einer Einzelsprache mittels unterschiedlicher Lexeme realisiert werden können. Die eindeutige Zuordnung zwischen Lexem und Metapher, wie sie in den klassischen Metapherntheorien galt, ist damit aufgehoben. Zwei Beispiele von metaphorischen Modellen mögen dies illustrieren: Die Beispiele 1 und 2 zeigen, dass die Wahl des Ursprungsbereichs einer Abbildung in hohem Maße das Resultat beeinflusst, da bei der Abbildung die Eigenschaften und Werte des Ursprungsbereichs mit übertragen werden. So ergibt sich in Bsp. 2 ein anderes Modell von Argumentieren als in Bsp. 1: Argumentieren wird hier statt als eine aggressive, auf Vernichtung angelegte Tätigkeit, als eine kooperative Tätigkeit modelliert. In den beiden Beispielen werden zwei unterschiedliche metaphorische Szenarien entworfen. Wenn wir einen Text analysieren, wissen wir zunächst nicht, welche Metaphernmodelle diesem zu Grunde gelegt wurden. Aus den verwendeten Lexemen können aber Metaphernszenarien rekonstruiert werden: “angreifen”, “verteidigen” und “schlagen” konstituieren zusammen ein Kriegsszenario; “Austausch” und “Argumente einbringen” verbinden sich hingegen zu einem Kooperations-Szenario. Das hat zur Folge, dass aus den Lexemen eines Textes prinzipiell rekonstruierbar ist, welche metaphorischen Konzepte dieser enthält (vgl. Wagner 2007b). Für die metaphorische Strukturierung eines Gegenstandsbereichs stehen unterschiedliche Arten von Metaphern zur Verfügung: Primärmetaphern und komplexe Metaphern. Primärmetaphern sind elementare, auf Erfahrung basierende Abbildungen wie z.B. ‘oben ist positiv’ oder ‘unten ist negativ’. Nach Lakoff & Johnson akquirieren wir automatisch ein großes System von Primärmetaphern und verwenden diese, ohne uns dessen bewusst zu sein. Sie betonen sogar, dass wir in diesen Prozess nicht eingreifen können: “We have no choice in this” (Lakoff & Johnson 1999: 47). Abstraktere Phänomene wie z.B. ‘Staat’ oder ‘Gerechtigkeit’ können nicht mit Primärmetaphern erfasst werden, sondern erfordern komplexe Metaphern, die aus den Primärmetaphern zusammengesetzt werden wie Moleküle aus Atomen. Da die komplexen Metaphern auf Primärmetaphern basieren, enthalten sie auch deren Strukturen und Werte. 2 Die Rolle der Körpermetaphern Lakoff & Johnson gehen davon aus, dass es einige grundlegende metaphorische Konzepte gibt, die auf der Erfahrung unseres Körpers beruhen. Unter diesen befinden sich viele körperbasierte Konzepte, so z.B. die Konzepte ‘innen’ und ‘außen’, sowie ‘vorne’ und ‘hinten’, die basal für unsere Alltagswahrnehmung sind (vgl. Bsp. 3). Bsp. 1: Das metaphorische Konzept ‘ARGUMENTIEREN ist KRIEG’ findet sich z.B. in den sprachlichen Ausdrücken ‘ein Argument angreifen’, ‘ein Argument verteidigen’, ‘eine Argumentationsstrategie entwerfen’, ‘den Gegner argumentativ schlagen’ usw. Bsp. 2: Als alternative Abbildung wäre etwa ‘ARGUMENTIEREN IST KOOPERATION’ denkbar. Dies findet sich in Ausdrücken wie z.B. ‘Austausch von Argumenten’, ‘Argumente in die Diskussion einbringen’ usw. Emoticons als metaphorische Basiskonzepte 229 Bei der Modellierung von ‘vor’ und ‘hinter’ in Bsp. 3 wird deutlich, dass es sich um ein anthropomorphe Sicht der Dinge handelt, da sich die Verwendung der beiden Bezeichnungen vollständig auf den Menschen bezieht und die Gegenstände nur unter dem Aspekt ihrer Funktionalität für diesen betrachtet werden. Die körperbasierten Konzepte sollen gemäß Lakoff & Johnson die klarsten und grundlegendsten Konzepte sein, da sie auf direkter physikalischer und kultureller Erfahrung beruhen. Sie bilden sogenannte Bildschemata (image schemas), d.h. schematische Abbildungen von Strukturen, die in unserer täglichen Erfahrung der Welt eine wichtige Rolle spielen. Beispiele solcher basaler und für unsere Alltagserfahrung elementarer Bildschemata sind das Behälter-, das Weg- und das Verbindungs-Schema (vgl. Bsp. 4). Das Beispiel zeigt, wie einfach und grundlegend die metaphorischen Basiskonzepte definiert werden müssen, um nicht auf zahlreiche weitere Konzepte zurückgreifen zu müssen. In Beispiel 4 müssen die Konzepte ‘Punkt’, Begrenzung’ und ‘umschließen’ verwendet werden. Dabei handelt es sich zumindest um elementar geometrische Konzepte, welchen eine gewisse Unabhängigkeit von der jeweiligen Einzelsprache bescheinigt werden kann. Bildschemata sind für unterschiedliche kognitive Tätigkeiten relevant. Sie eignen sich beispielsweise zur Integration unterschiedlicher Erfahrungen in ein und demselben Schema und zur Konstitution von Kohärenz über Kontextgrenzen hinweg. Die körpernahen Bildschemata werden dabei als die für unsere Erfahrung elementaren Basiskonzepte betrachtet. Bsp. 3: Die Konzepte ‘vor’ und ‘hinter’ betrachten Lakoff & Johnson als “körperhafte Projektionen” (1999: 34). Was wir sehen, wenn wir geradeaus schauen, bezeichnen wir als vorne, was sich hinter unserem Rücken abspielt als hinten. Unser Körper ist dabei der implizite Origo. Dieses Verständnis projizieren wir auch auf Objekte: Bei Geräten wie z.B. Bildschirmen bezeichnen wir jene Seite als vorne, die uns zugewandt ist und mit der wir interagieren. Diese Konzeptualisierung verwenden wir auch dann, wenn diese uns nicht zugewandt sind. Die Konzepte ‘vor’ und ‘hinter’ sind also körperbasiert und implizieren, dass alles eine Vorder- und eine Rückseite hat. Bsp. 4: Das Behälterschema: Lakoff & Johnson betrachten dieses als grundlegend für unsere Wahrnehmung von Räumlichkeit. Es hat eine Gestaltstruktur und besteht aus einem Bereich, der von einer Begrenzung umschlossen und als ‘innen’ bezeichnet wird, aus der Begrenzung selbst und aus einem Bereich jenseits der Begrenzung, der als ‘außen’ bezeichnet wird. Schematisch kann dies so dargestellt werden: A B I Der Punkt I wird von der Begrenzung B vollständig umschlossen: er liegt in B. Der Punkt A wird nicht von der Begrenzung B umschlossen: er liegt außerhalb von B. Franc Wagner 230 Lakoff & Johnson behaupten, dass sich die Basiskonzepte besonders dazu eignen, andere Konzepte zu verstehen, die nicht unmittelbar unserer Erfahrung zugänglich sind. Die einfachen Strukturen der konkreten Basiskonzepte werden dazu auf abstraktere Konzepte übertragen. Die abstrakteren Konzepte werden dabei mittels der Strukturen der konkreteren Konzepte definiert und der abstrakte Erfahrungsbereich wird in die Termini des konkreten gefasst. Aus dem bisher Gesagten lassen sich drei Aussagen zur Rolle der Körpermetaphern ableiten: 1. Sowohl die Basiskonzepte als auch die abstrakten Konzepte unseres konzeptuellen Systems sind weitgehend metaphorischer Natur. 2. Körpermetaphern sind eng mit unserer körperbasierten Erfahrung verbunden und bilden als Basiskonzepte ein Fundament für komplexe Metaphern. 3. Körpermetaphern nehmen zusammen mit den Raummetaphern eine besondere Stellung innerhalb der Basiskonzepte ein: Sie bilden laut Lakoff & Johnson (1999: 30) das “Herz unseres konzeptuellen Systems”. 3 Körpermetaphern im Schreiben Jugendlicher in neuen Medien Nach der Klärung der Funktion der Körpermetaphern in der kognitiven Metapherntheorie sollen die gewonnen Erkenntnisse auf die Analyse von Texten aus neuen Medien Jugendlicher angewendet werden. Im Fokus stehen dabei die körperbasierten Bildschemata der Emoticons. Hierzu sollen zuvor ein kurze Charakterisierung der Schreibsituation Jugendlicher in neuen Medien und ein Überblick über die schriftsprachlichen Mittel zum Ausdruck von Emotionen erfolgen. 3.1 Charakterisierung der Schreibsituation Jugendlicher in neuen Medien Als empirische Überprüfung des genannten Fazits aus der kognitiven Metaphernkonzeption soll nun die These überprüft werden, dass Emoticons im Schreiben Jugendlicher metaphorische Funktionen erfüllen und entsprechend als metaphorische Basiskonzepte betrachtet werden können. Hierzu sollen Beispiele aus Texten von Jugendlichen analysiert werden, welche aus dem Projekt “Schreibkompetenz und neue Medien” stammen. Das Projekt wurde vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert 1 und am Deutschen Seminar der Universität Zürich unter Leitung von Prof. Dr. Christa Dürscheid von Sarah Brommer, M.A., lic. phil. Saskia Waibel und mir durchgeführt. Im Projekt sollte untersucht werden, ob sich in der Schreibkompetenz Jugendlicher Veränderungen feststellen lassen, die möglicherweise auf deren Schreiben in neuen Medien zurückgeführt werden können (vgl. Wagner 2007c). Die Texte wurden uns von Zürcher Schülerinnen und Schülern im Alter von ca. 13-16 Jahren zur Verfügung gestellt. Beim Schreiben in neuen Medien handelt es sich um eine computerbasierte Form schriftsprachlicher Kommunikation. Diese erfolgt nicht wie ein Gespräch in einer Face-to-Face- Situation, d.h. es besteht kein Sichtkontakt zu den Kommunikationspartnern. Mangels Sichtkontakt können keine Körpersignale wie z.B. Gestik oder Mimik kommuniziert werden. Sämtliche paraverbalen Informationen wie Intonation, Lautstärke usw. stehen nicht zur Emoticons als metaphorische Basiskonzepte 231 Verfügung. Als einziger Informationslieferant fungiert der Schriftkanal; es steht keine Bild- oder Toninformation der Kommunikationspartner zur Verfügung. Die Kommunikation ist auf den Informationsgehalt der Schriftzeichen beschränkt. Die Kommunikation zwischen den Kommunikationspartnern erfolgt weiter räumlich getrennt, eine Verbindung besteht nur über das technische Medium (vgl. Wagner 2007a). Die Kommunikation ist nach Ehlich auch zeitlich “zerdehnt”, d.h. sie erfolgt asynchron oder bestenfalls (in einem schnellen Chatsystem) quasisynchron. Sie erfolgt in unterschiedlichen Kommunikationsformen wie z.B. E-Mail, Chat, Instant Messaging oder in Social- Networking-Sites wie Facebook oder StudiVZ. Die einzelnen Kommunikationsformen haben verschiedene technische Möglichkeiten, wie z.B. die genannten Unterschiede in der zeitlichen Realisierungsmöglichkeit einer Rückantwort. Weiter weist jede Kommunikationsform ihre eigenen Charakteristika auf und es bilden sich darin unterschiedliche Stile und Konventionen heraus. Die Kommunikation der Jugendlichen erfolgt im öffentlichen oder im privaten Raum. Hierbei ist maßgeblich, ob diese etwa in öffentlichen Chatgroups oder in geschlossenen Gruppen innerhalb eines Instant-Messaging-Systems stattfindet. Kommuniziert werden überwiegend private Themen, manchmal aber auch Themen, die mit Schule und Ausbildung zusammenhängen. Die Kommunikation Jugendlicher ist als soziale Interaktion vor dem Hintergrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zu betrachten. Hier haben wir es insbesondere mit verschiedenen Gruppen der Jugendkultur (vgl. Clarke & al. 1979) zu tun. Bereits Henne (1986) wies auf die gruppen- und identitätsbildende Funktion von Jugendsprache hin, vernachlässigte nach Schlobinski, Kohl & Ludewigt (1993) dabei aber deren kommunikative “Gebrauchsfunktionen”. Schlobinski (1995) spricht daher von “jugendlichen Sprachstilen” im Sinne von verfügbaren Registern, die an die Kommunikationssituation angepasst und funktional eingesetzt werden können. Inzwischen war die Jugendsprachforschung Gegenstand mehrerer Monographien (vgl. Androutsopoulos 1998; Schlobinski 1998, Neuland 1999), Sammelbände (vgl. Dürscheid & Spitzmüller 2006b; Neuland 2007) und Fachtagungen (vgl. Neuland 2003; Dürscheid & Spitzmüller 2006a). Bereits von 1988 bis 1991 wurden im sogenannten “Sprachfähigkeiten-Projekt” in Zürich Schultexte untersucht (vgl. hierzu Sieber 1994). Im Rahmen diese Projektes wurde auch das Zürcher Textanalyseraster erarbeitet (vgl. auch Nussbaumer & Sieber 1995). Im Vergleich zu älteren Schultexten konnten Veränderungen hin zu einem Schreibstil festgestellt werden, den die Autoren als “Parlando” bezeichneten. Sieber (1998: 52) charakterisierte den Parlando-Stil wie folgt: “Authentizität und Direktheit sind vom Rezipienten höher zu werten als sprachformale und ästhetische Stimmigkeit”. Das bedeutet, dass bereits zu Beginn der 90er-Jahre in Schultexten eine Tendenz zu einem Schreibstil festgestellt werden konnte, in dem versucht wird, die Autorin, resp. den Autor persönlich hervortreten und das Geschriebene möglichst “echt” wirken zu lassen. Dies gilt für das Schreiben in neuen Medien in verstärktem Masse, da es sich dabei meistens um ein Schreiben in der Freizeit handelt, bei dem mit anderen Jugendlichen kommuniziert wird und ein entsprechend freundschaftlicher und lockerer Stil gepflegt wird. Ein zentrales Charakteristikum der Kommunikation von Jugendlichen in neuen Medien ist der Austausch von emotionaler Information. Diese individualisiert das Geschriebene zusätzlich und schafft eine gesprächsähnliche Atmosphäre. Es ermöglicht es den Kommunikationspartnern, trotz räumlicher und zeitlicher Trennung, etwas Persönliches über sich selbst zu kommunizieren und so eine Beziehung zueinander aufzubauen. Die kommunizierten Emotio- Franc Wagner 232 nen schaffen einerseits eine Atmosphäre der emotionalen Nähe, ermöglichen es andererseits den Jugendlichen aber auch, ihre Einstellung zum Geschriebenen zu kommunizieren. 3.2 Schriftbasierter Ausdruck von Emotionen Es existieren verschiedene sprachliche Mittel, um Emotionen auszudrücken, die hier mit kurzen Beispielen angeführt werden sollen. Dabei handelt es sich, da die Texte aus Zürcher Schulen stammen, um eine Mischung aus standardsprachlichen und mundartlichen (dialektalen) Ausdrücken: 3.2.1 Lexikalische Mittel: • Betonung und Verstärkung durch Lexeme mit emotionaler Konnotation: voll, mega, giga (meist jugendsprachliche oder umgangssprachliche Ausdrücke) • Interjektionen als Kommentierung: haha, heheh, jopsaaa • Akronyme zur Bezeichnung von emotionalen Handlungen: lol, rofl • Verdoppelung von Lexemen zur Verstärkung: soso, schönschön, guetguet, jepjep 3.2.2 Lexikalische Mittel zum Ausdruck speziell von Empathie: • Emotionale Begrüßungsformeln: heey salüü duu, hejjjj zämee • Emotionale Abschiedsgrüße: bussi, kussi, kussia, cüüss, lieb dii • Inflektive zur Symbolisierung emotionaler Handlungen: *schluchz*, *anliebel* 3.2.3 Zeichenbasierte Mittel: • Buchstabenwiederholungen zur Verstärkung der Emphase: sooo, laaang, meeegaaa coool • Wiederholung von Satzeichen: Zum Glück! ! ! ! ! , Viele Grüße! ! ! ! • Durchgängige Großschreibung als Zeichen für Schreien: MINI CHATZ ISCH NÖD FETT! Emoticons als metaphorische Basiskonzepte 233 3.2.4 Emoticons Ein Spezialfall zeichenbasierter Mittel sind die Emoticons. Diese existieren in vier Varianten: 1. Die um 90 Grad im Gegenuhrzeigersinn gekippte Sonderzeichen-Variante, die mittels Satzzeichen notiert wird. Bsp.: : -), : -(. 2. Die ebenfalls um 90 Grad gekippte Alphabet-Variante, in der Buchstaben zum Einsatz kommen. Bsp.: xD (lachender Smiley). 3. Die Inline-Variante als Verbindung von Buchstaben und Sonderzeichen. Hierbei handelt es sich nach Shirai (2006) um sogenannte “Kawaicons”aus Japan: ^^, O_O. 4. Die Icon-Variante, bei der meist automatisch aus der Variante 1 Icons generiert werden. Bsp.: , . 3.3 Emoticons als Körperschemata Die Smiley-Schemata sind zwar schon seit den 70er-Jahren bekannt und verbreitet, in den neuen Medien haben sie aber eine spezielle Rolle erhalten. Die erstmalige Verwendung eines Emoticons in neuen Medien wird allgemein auf den 19. September 1982 datiert, als Scott E. Fahlman von der Carnegie-Mellon-Universität einen Doppelpunkt, gefolgt von einem Minus und eine schließende Klammer als Markierung für ironische Postings vorgeschlagen hatte - das erste Text-Smiley. Emoticons basieren auf einem Gesichts-Schema, bestehend aus Augen, Mund und teilweise einer angedeuteten Nase. Die nahe liegende psychologische Deutung als Kindchenschema erklärt lediglich, warum den Emoticons eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil wird. Für eine Erklärung der Bedeutung und Funktion der Emoticons in der Kommunikation greift sie aber zu kurz. Da Emoticons auf der schematisierten Darstellung von Gesichtern beruhen, handelt es sich dabei - in der Terminologie der kognitiven Metaphernkonzeption - um körperbasierte Bildschemata. Sie enthalten grundlegende Körpererfahrungen wie z.B. diejenige, dass nach oben angewinkelte Mundwinkel verbunden sind mit positiven Emotionen. Da es Metaphern sind, können damit Bedeutungsübertragungen realisiert werden. Diese erfolgen durch Abbildungen von dem Erfahrungsbereich des Face-to-Face-Kontakts auf die computerbasierte Kommunikationssituation, in der dieser Kontakt fehlt. Bei der Abbildung werden die Körpererfahrungen mit übertragen: ansteigende Mundwinkel stehen stark vereinfacht für positive, abfallende für negative Emotionen. Welche Emotion mit einem Emoticon genau gemeint ist wie z.B. Trauer, Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung, wird erst in Zusammenhang mit dem Kontext klar, in welchem das Emoticon verwendet wird. Denn obwohl eine große Zahl unterschiedlicher Emoticons existiert, bleibt deren Informationsgehalt schematisch und damit offen für Interpretationen. Die Art der gemeinten Emotion wird nur angedeutet und bedarf der Konkretisierung im Kontext einer Äußerung. 3.4 Beispiele von Emoticons in neuen Medien An Textbeispielen aus dem Schreibkompetenz-Projekt soll überprüft werden, ob Emoticons tatsächlich wie Metaphern funktionieren. Dazu sollen die mit den Emoticons realisierten Franc Wagner 234 kommunikativen Funktionen analysiert werden. Dazu reicht es nicht, auf die zahlreichen Listen zu verweisen, die angeblich die Bedeutung der Emoticons erklären. Diese enthalten keine Bedeutungsexplikation. Dort finden sich lediglich Angaben wie z.B. “: -] lachend” oder “: -/ wütend”, die nur den ikonischen Gehalt des Emoticons umschreiben, nicht aber dessen Funktion im Text. Die Listen erklären bestenfalls, wie ein Emoticon zu deuten ist, wenn es isoliert auftritt. In Texten werden diese aber auch mitten im Kommunikationsfluss eingesetzt und können nicht ohne Bezug auf das Vorangegangene interpretiert werden. Ihre Bedeutung konkretisiert sich erst im Kontext einer Äußerung. Der Bezug auf den Text wird auch deutlich, wenn man bedenkt, dass Emoticons in den neuen Medien zu dem Zweck eingeführt wurden, ironisch gemeinte Texte zu markieren. Hier soll aber die These vertreten werden, dass Emoticons nicht auf die Markierung von Ironie u.ä. reduziert werden können, sondern dass diese im Textzusammenhang unterschiedliche semantische Funktionen realisieren. In der Folge sollen einige davon anhand von Beispielen aus dem Schreiben von Schülerinnen und Schülern aus dem Projektkorpus belegt werden. Zu jeder Funktion wird ein kurzer Textausschnitt angeführt und, wenn Dialektausdrücke enthalten sind, zusätzlich eine standardsprachliche Variante. 3.4.1 Emoticon als ironische Relativierung Häufig finden sich in den Texten Emoticons, die eine ironische Relativierung ausdrücken. Diese Funktion entspricht derjenigen, für welche die Text-Smileys ursprünglich in die neuen Medien eingeführt wurden. Das Emoticon steht dabei am Ende einer Sequenz, und markiert deren Modus als ironisch. Dabei kann mittels Emoticons aber weit mehr als nur Ironie zum Ausdruck gebracht werden, wie das folgende Bsp. zeigt: bei uns heißt es auch nicht abi sondern matur: -P Im oben stehenden Beispiel handelt sich um ein Emoticon, das die Zunge herausstreckt. Inhaltlich wurde in der Sequenz eine Kontroverse über die korrekte Bezeichnung des höchsten Schulabschlusses in der Schweiz ausgetragen. Die AutorIn weist dabei die LeserIn auf die richtige Bezeichnung hin. Die Bedeutung des Emoticons für sich genommen ist zunächst unklar. Es kann sowohl Spott als auch scherzhaftes Necken ausdrücken. Im Kontext dieses Beispiels nimmt es die kontroverse Situation auf, interpretiert sie in eine kindliche Konkurrenzsituation um und verleiht so dem Geäußerten eine scherzhafte Relativierung. Relativiert wird dabei der Ernst und damit die Schärfe der Zurechtweisung. 3.4.2 Emoticon als emotionale Stellungnahme Emoticons können sich nicht nur auf Äußerungen oder auf Äußerungssituationen beziehen, sondern auch auf die Person, die die Äußerung realisiert. Sie können eine bestimmte Stimmung der AutorIn zum Ausdruck bringen, wie das folgende Beispiel zeigt: Ich weiß nur noch, dass es um die Frisur ging XD” bah, bin so vergesslich O_O o Emoticons als metaphorische Basiskonzepte 235 An Ende der ersten Sequenz steht ein lachender Smiley der Variante 2. In der Äußerung thematisiert die AutorIn eine Wissenslücke und relativiert diese ironisch. Am Ende der zweiten Sequenz steht ein Kawaicon (Variante 3) mit einer Träne neben dem rechten Auge, d.h. ein weinendes Smiley. Die beiden Emoticons drücken also gegensätzliche Stimmungen aus. Das erste Emoticon scheint das Thema ‘Frisur’ zu ironisieren. Die Äußerung in der zweiten Sequenz kommentiert den Inhalt der Äußerung in der ersten Sequenz, indem die AutorIn eine persönliche Schwäche offenbart. Das Emoticon fügt noch eine emotionale Stellungnahme der AutorIn hinzu. Dabei ist zu beachten, dass die Standardbedeutung des Emoticons die Interpretation fehlleiten kann. Die durch Emoticons angedeuteten Emotionen sind nicht nur schematisch sondern auch dramatisch übertrieben. So soll im Beispiel nicht angedeutet werden, dass die AutorIn weint, sondern dass sie der genannte Sachverhalt traurig stimmt oder dass sie zumindest darüber nicht glücklich ist. 3.4.3 Ausdruck unterschiedlicher Funktionen mittels Emoticons man sieht sich … mich kannst du nicht übersehen … bin 1.93 m gross … haha Diese Sequenz enthält drei unterschiedliche Emoticons: ein augenzwinkerndes, ein lachendes und ein die Augen zukneifendes Smiley, jeweils in der Icon-Variante 4. Die beiden ersten Emoticons realisieren eine freundschaftliche Geste und eine ironische Kommentierung des Gesagten. Das dritte Emoticon drückt eine eher verärgerte Einstellung gegenüber der zuvor genannten Körpergröße der AutorIn aus. Auch hier ist wieder die schematisierte Bedeutung des Emoticons zu relativieren. Es bedeutet hier nicht, dass ihr ihre Größe körperlichen Schmerz oder Ärger verursacht, sondern dass sie diese als unangenehm empfindet. Die abschließende Interjektion haha löst die geäußerte negative Emotion aber wieder auf, indem die Sequenz als Ganze mit einem Lachen ironisiert wird. In diesem Beispiel werden also mittels Emoticons innerhalb einer einzigen Sequenz mehrere unterschiedliche Funktionen realisiert. Zumindest eines davon kann als Ausdruck einer “Sprechereinstellung” gegenüber dem zuvor Geäußerten interpretiert werden, die auch eine Prädikation über die AutorIn enthält. Franc Wagner 236 3.4.4 Emoticons im Dialog verflucht krass das mit den baby ja schon, musst dir vorstellen es gibt jeden tag so ein dilemma … ____solche sachen finde ich schlimm … ___ Hier handelt es sich um eine kurze Dialogsequenz mit Emoticons. Der erste und der zweite Beitrag stammen von zwei verschiedenen Personen. Der erste Beitrag endet mit einem Emoticon mit einem traurigen Gesicht. Darin wird das Schicksal eines Babys kommentiert, das in einer Fernsehsendung dokumentiert wurde, die beide Dialogpartner gesehen haben. Das Emoticon bringt die Trauer zum Ausdruck, welche die erste Person gegenüber dem gezeigten Schicksal empfunden hat. Der zweite Beitrag nimmt direkt Bezug auf den ersten Beitrag und schließt dies mit einem Emoticon mit “betretener Miene” ab, das vermutlich die Betroffenheit und die Ratlosigkeit der AutorIn ausdrücken soll. Unmittelbar darauf folgt eine explizite emotionale Stellungnahme ähnlichen Inhalts, ebenfalls abgeschlossen mit dem gleichen Emoticon. Die Wiederholung des Emoticons fungiert dabei als Verstärkung der damit zum Ausdruck gebrachten Einstellung gegenüber dem Gesagten. Interessanterweise wird das Emoticon auch der expliziten Stellungnahme beigefügt, obwohl diese auf der propositionalen Ebene eine ähnliche Einstellung zum Ausdruck bringt wie das Emoticon. Das bedeutet, dass offensichtlich die propositionale und die graphostilistische Realisierung als unterschiedlich empfunden werden. Das bedeutet auch, dass beide nicht äquivalent sind, da sonst die eine Realisierungsform durch die andere ersetzt werden könnte und das zweite Emoticon trotz emphatischer Wirkung überflüssig wäre. Dies könnte als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Realisierung einer emotionalen Einstellung mittels Emoticons eine andere Äußerungsqualität zugeschrieben wird, als der propositionalen Realisierung mittel Wort- und Satzbedeutung. 3.5 Beispiele von Emoticons in Schultexten Nicht nur in den Freizeittexten aus neuen Medien, sondern auch in einigen Schultexten des Projektkorpus sind Emoticons zu finden. Dabei handelt es sich um ein Novum, da in den Texten des Sprachfähigkeiten-Projekts (1988-1990) noch keinerlei graphostilistische Elemente enthalten waren. Diese Veränderung im schulischen Schreiben dürfte wohl eindeutig auf den Einfluss des Schreibens in den neuen Medien zurückzuführen sein. Allerdings muss diese Aussage dahingehend relativiert werden, dass es sich beim Auftreten von Emoticons in Schultexten um Einzelfälle handelt. Bei der Analyse von 260 in der Schule geschriebenen Texten enthielten lediglich 12 Texte Emoticons. Neu ist immerhin, dass diese überhaupt in Schultexten auftreten. Auch hier seien mögliche Funktionen der Verwendung kurz anhand einiger Beispiele erläutert: Emoticons als metaphorische Basiskonzepte 237 3.5.1 Emoticons am Ende eines Textabschnitts In unseren Schultexten befinden sich die meisten Emoticons am Ende eines Textabschnitts, meist sogar am Ende des gesamten Textes wie im folgenden Beispiel: Im oben stehenden Beispiel steht ein augenzwinkerndes Smiley am Ende des letzten Satzes des Textes. Es kann als Ironisierung des vorangehenden Satzes, resp. der beiden vorangehenden Sätze interpretiert werden. Bei dem Text handelt es sich um eine fiktive Erzählung unter den Titel “Ich… als verlorenes Sandkorn am Strand” und die letzen beiden Sätze schließen die Erzählung mit einem Ausblick in die weiter zu erwartende Entwicklung ab. Insofern könnte sich die ironische Stellungnahme auf den ganzen Abschluss der Erzählung und damit auch auf die Erzählung als Ganzes beziehen und so deren fiktionalen Charakter thematisieren. 3.5.2 Emoticons im Textinneren In den Schultexten finden sich ebenfalls Emoticons im Inneren von Texten, d.h. nicht am Textende: In diesem Beispiel steht ein lachendes Smiley der Variante 2 am Ende eine Satzes. Von diesem ist es durch ein Satzschlusszeichen abgetrennt. Trotz der Abtrennung bezieht es sich offenbar in ironisierender Weise auf die resümierende Feststellung des vorangehenden Satzes. Es könnte hier als Modus-Indikator für die im Satz realisierte Äußerung dienen. Dieser Text berichtet von den Erfahrungen während einer Schnupperlehre im Schuhmarkt. Das Emoticon mit dem angedeuteten traurigen Gesicht steht am Ende eines Satzes, in dem Franc Wagner 238 dargestellt wird, auf welche Weise Schuhe gestohlen werden. Die Standardbedeutung des Emoticons als ‘Trauer’ reicht aber zur Interpretation nicht aus. Das Emoticon drückt wohl das Bedauern über die im vorangehenden Satz geschilderte Beobachtung aus. Bemerkenswerterweise ist das Satzschlusszeichen erst nach dem Emoticon gesetzt. Das bedeutet, dass im Unterschied zum oben stehenden Beispiel hier das Emoticon nicht außerhalb des Satzes steht, sondern offenbar als Teil des Satzes und damit auch der Satzbedeutung betrachtet wird. Das Emoticon enthält hier nicht eine Modus-Prädikation über eine Äußerung, sondern ist selbst Teil der Äußerung. Da sich in den untersuchten Texten mehrere Beispiele dieser Art befinden, stellt sich die Frage, ob es sich um eine andere Verwendung von Emoticons handelt. Ein Unterschied zwischen den beiden Beispielen kann etwa darin gesehen werden, dass der Sachverhalt im zweiten Beispiel neutraler geschildert ist als im ersten und entsprechend eher eines zusätzlichen Modus-Indikators bedarf. Ein anderer Unterschied liegt darin, dass es sich im ersten Beispiel um eine Ironisierung handelt, d.h. um eine standardisierte Form der Verwendung eines Emoticons. Im zweiten Beispiel drückt das Emoticon eine etwas differenziertere Form der emotionalen Einstellung gegenüber dem Geäußerten aus. Mit der Art des verwendeten Emoticons hat es aber wohl nichts zu tun, da sich im Untersuchungskorpus auch lachende Smileys finden, die sich innerhalb der Satzgrenze befinden. Entscheidend könnte sein, wie stark der Bedeutungsgehalt des Emoticons auf die Satzprädikation bezogen wird. Im Beispiel des Emoticons außerhalb des Satzes scheint es die Äußerungsbedeutung des Satzes zu kommentieren, im Beispiel innerhalb des Satzes scheint es mit dieser zu verschmelzen. Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass wir es mit zwei unterschiedlichen Formen funktionaler Verwendung zu tun haben. Wichtig ist dabei, dass die semantische Verschmelzung des Emoticons mit der Prädikation nur wegen der semantischen Offenheit des Emoticons möglich ist. Diese beruht darauf, dass bei dessen Verwendung nicht die schematisierte Standardbedeutung aus den Emoticonlisten wirksam wird, sondern dass die körpernahen Erfahrungen des Basiskonzepts aus dem Face-to-Face-Kontakt auf die in der konkreten Äußerung entworfene Situation übertragen werden. Dabei erhalten die Emoticons eine an den Kontext angepasste Bedeutung. Nur diese kann mit der Satzbedeutung zu einer gemeinsamen Äußerungsbedeutung verschmelzen. 3.5.3 Emoticons in Kombination mit anderen graphostilistischen Elementen Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, ob es sich bei Emoticons tatsächlich um einen Sonderfall in der graphostilistischen Verwendung von Zeichen (vgl. auch Spitzmüller 2006) handelt, d.h. ob die angeführten Funktionen nicht ebenso durch andere Zeichen übernommen werden könnten. Hierzu sollen wiederum zwei Beispiele aus dem Schreiben in der Schule betrachtet werden. Diese Sequenz bildet den Abschluss eines Schultextes. Sie enthält eine pointierte Äußerung, die das Ende des Textes markiert. Der Satz wird durch ein Ausrufezeichen abgeschlossen. Diese bekräftigt die Geltung des Gesagten und verstärkt den endgültigen Charakter der Sequenz. Dennoch wird ein augenzwinkerndes Emoticon der Variante 1 angehängt. Dieses relativiert das Geäußerte und steht damit im Gegensatz zur pointierten Formulierung der vorausgehenden Äußerung, deren Endgültigkeit durch das Ausrufezeichen noch verstärkt Also das wars jetzt aber! ; -) Emoticons als metaphorische Basiskonzepte 239 wurde. Unabhängig von der Frage, wie dieser Gegensatz zu deuten ist, kann festgehalten werden, dass in diesem Beispiel die Funktionen des verwendeten Satzzeichens und des Emoticons so verschieden sind, dass sie eine gegensätzliche Wirkung entfalten. Das hat zur Konsequenz, dass mit beiden unterschiedliche Arten von Teilprädikationen realisiert werden und dass offensichtlich nicht einfach ein Typus graphostilistischer Zeichen durch einen anderen ersetzt werden kann. Um einen ähnlichen Fall handelt es sich auch in diesem Beispiel. Thematisch geht es um eine explizite Stellungnahme zu dem Vorwurf, Jugendliche könnten wegen ihrer Nutzung neuer Medien nicht mehr richtig schreiben. Den Vorwurf kontert die SchreiberIn mit einem Hinweis auf die Nutzungshäufigkeit neuer Medien durch Erwachsene und verstärkt dies mit einem abschließenden Ausrufezeichen. Das nachfolgende Emoticon ist keiner der angeführten vier Varianten zuzuordnen. Vielmehr liegt eine individuelle Gestaltung eines Emoticons vor, bei der dargestellt wird, dass es entweder im Sinne eines Lachens den Mund weit öffnet, oder aber die Zunge herausstreckt, zum Zeichen des Spotts oder des Neckens. In beiden Fällen bringt das Emoticon eine gewisse Genugtuung der AutorIn über das von ihr eingebrachte Argument resp. über die gelungene Replik zum Ausdruck. Für unsere Argumentation handelt es sich um eine gutes Beispiel dafür, dass mit Emoticons differenzierte Äußerungseinstellungen kommuniziert werden und dass diese über die standardisierten Varianten hinausgehend individualisiert und so in ihrer Ausdrucksfähigkeit noch erweitert werden können. 4 Abschließendes Fazit Anhand von Beispielen aus dem Korpus des Projekts “Schreibkompetenz und neue Medien” konnte gezeigt werden, dass SchülerInnen Emoticons in unterschiedlicher Funktionalität einsetzen und zwar sowohl im Schreiben in neuen Medien als auch im schulischen Schreiben. In den Texten werden häufig die klassischen Emoticons wie das lachende oder das augenzwinkernde Smiley eingesetzt. Daneben finden sich aber auch viele andere Emoticons, auch Kawaicons und sogar selbst individuell gestaltete. Ebenfalls breit angelegt ist die vorgefundene Funktionalität der Emoticons. Diese kann stark vereinfacht in zwei Gruppen gegliedert werden: (1) das Realisieren von Modusresp. Illokutions-Indikatoren und (2) das Realisieren von differenzierten emotionalen Stellungnahmen mit und ohne “Sprecherbezug”. Ad (1): Die Markierung eines Modus war bereits der Zweck der erstmaligen Verwendung eines Emoticons in den neuen Medien. Sie ist weiterhin eine wichtige Grundfunktion von Emoticons. Neben Ironie können damit weitere Modi markiert werden und dadurch kann auch der Illokutionstyp präzisiert werden. Durch eine zusätzliche Angabe dazu, wie das Geäußerte aufzufassen ist, wird dessen Verstehen erleichtert. Dies belegt auch folgende Aussage aus einem Schultext: Franc Wagner 240 Das Emoticon kann in dieser Funktionalität als eine Art Metaprädikation über die Äußerung aufgefasst werden, deren Modus es anzeigt. Die Markierung des Modus einzelner Sätze oder ganzer Textpassagen kann in der schriftbasierten Kommunikation die Aufgabe übernehmen, fehlende Information aus dem nicht vorhandenen optischen und akustischen Kanal auszugleichen und so die Kommunikation zu sichern. Ad (2): Neben der Indikatorfunktion sind weiter differenziertere Formen der Realisierung von emotionalen Stellungnahmen möglich. In den Texten konnten unterschiedliche Arten von Bezügen auf die vorangehenden Äußerungen festgestellt werden. Mittels Emoticons wurden die Äußerungen kommentiert, oder aber modifiziert und mit einem neuen Sinn versehen. Es wurden damit auch “Sprechereinstellungen” realisiert, indem deren Emotionen gegenüber einer Äußerung kommuniziert wurden. Jedenfalls stellen die Emoticons eine Erweiterung der schriftlichen Ausdrucksmöglichkeiten im emotionalen Bereich dar. Eine ähnliche Einschätzung findet sich auch in einem der Schultexte: In dieser zweiten Funktionalität werden mit Emoticons keine Meta-, sondern Zusatz- und Teilprädikationen realisiert. Die Emoticons kommentieren die Äußerungen, auf die sie sich beziehen, nicht von außen, sondern werden selbst Teil der Äußerung. Dies ist nur möglich durch die semantische Offenheit der Emoticons. Diese basiert auf der Übertragung der Bedeutung des Basiskonzepts auf die Äußerungssituation. Dieser Vorgang einer konzeptuellen Abbildung ist im Sinne der kognitiven Metaphernkonzeption ein eindeutig metaphorischer Prozess. Emoticons können somit als Ad-hoc-Metaphern aufgefasst werden, die sich mit der Semantik und den emotionalen Konnotationen der Bezugsäußerung zu einer neuen Äußerungsbedeutung verbinden. Emoticons können damit sowohl als körperbasierte Bildschemata als auch als metaphorische Basiskonzepte aufgefasst werden. Literatur Androutsopoulos, Jannis K. 1998: Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen, Frankfurt a.M.: Lang Clarke, J. & al. 1979: Jugendkultur als Widerstand, Milieus, Rituale, Provokationen, Frankfurt a.M.: Syndikat Dürscheid, Christa & Spitzmüller, Jürgen (eds.) 2006a: Perspektiven der Jugendsprachforschung. Trends and Developments in Youth Language Research, Frankfurt a.M.: Lang Emoticons als metaphorische Basiskonzepte 241 Dürscheid, Christa & Spitzmüller, Jürgen 2006b: Zwischentöne. Zur Sprache der Jugend in der Deutschschweiz, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung Henne, Helmut 1986: Jugend und ihre Sprache Darstellung, Materialien, Kritik, Berlin/ West New York: Walter de Gruyter Johnson, Mark / Lakoff, George (1982): Metaphor and Communication. Trier: Linguistic Agency, University of Trier (LAUT) (Series A) Lakoff, George 1987: Women, Fire and Dangerous Things. 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(ed.) 2 1996: Theorie der Metapher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 361ff. Schlobinski, Peter 1995: Jugendsprachen: “Speech Styles of Youth Subcultures”, in: Stevenson, P. (ed.): The German Language and the Real World: Sociolinguistic, Cultural and Pragmatic Perspective on Contemporary German, Oxford: Clarendon Press, 315-337 Schlobinski, Peter 1998: Jugendliche und “ihre” Sprache. Sprachregister, Jugendkulturen und Wertesysteme empirische Studien, Opladen: Westdeutscher Verlag Schlobinski, Peter, Kohl, Gaby & Ludewigt, Irmgard 1993: Jugendsprache. Fiktion und Wirklichkeit, Opladen: Westdeutscher Verlag Shirai, Hiromi 2006: “Kawaicons: Emoticons im japanischen Chat (? _? )”, in: Mediensprache.net. Rubrik Websprache, im Internet unter http: / / www.mediensprache.net/ de/ websprache/ chat/ emoticons/ kawaicons.asp [07.07.2008] Sieber, Peter 1998: Parlando in Texten. Zur Veränderung kommunikativer Grundmuster in der Schriftlichkeit (= Reihe Germanistische Linguistik 191), Tübingen: Niemeyer Sieber, Peter (ed.) 1994: Sprachfähigkeiten - besser als ihr Ruf und nötiger denn je! Ergebnisse und Folgerungen aus einem Forschungsprojekt (Sprachlandschaft 12), Aarau/ Frankfurt a.M./ Salzburg: Sauerländer Spitzmüller, Jürgen (2006). Typographie. In: Dürscheid, C. (Hrsg.) Einführung in die Schriftlinguistik. Ergänzt um ein Kapitel zur Typographie von Jürgen Spitzmüller (3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Studienbücher zur Linguistik 8). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 207-238 Wagner, Franc 2007a: “Zur Intermedialität in den neuen Medien”, in: Kodikas/ Code - Ars Semeiotica 29 (1-3): 45-56 Wagner, Franc 2007b: “Metaphernszenarien als soziale Repräsentationen”, in: Scheibler-Meißner, P. (ed.): Soziale Repräsentationen über Gesundheit, Krankheit und Medikamente. 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Hess-Lüttich Institut für Germanistik Universität Bern Länggass-Str. 49 CH-3000 Bern 9 hess@germ.unibe.ch Dept. of Modern Foreign Languages Stellenbosch University Private Bag X1 Stellenbosch 7602 South Africa Prof. Dr. Eva Kimminich Universität Potsdam Institut für Romanistik Karl-Liebknecht-Straße 24-25 D-14476 Golm kimminich@aol.com Prof. Dr. Angela Krewani Philipps-Universität Marburg Institut für Medienwissenschaft Wilhelm-Röpke-Straße 6A D-35039 Marburg fauli@staff.uni-marburg.de Dr. Stefan Meier Technische Universität Chemnitz Institut für Germanistik, Medien-, Technik- und Interkulturelle Kommunikation Thüringer Weg 11 D-09107 Chemnitz stefan.meier@phil.tu-chemnitz.de Vera Nikolai Merzhauser Str. 159f D-79100 Freiburg i. Br. vera_nikolai@yahoo.de Prof. Dr. Beate Ochsner Universität Konstanz Fachbereich Literaturwissenschaft Fach D 158 D-78457 Konstanz Beate.Ochsner@uni-konstanz.de Adriana Orjuela Lehenerstrasse 55 79106 Freiburg i.Brg. magicdolph@yahoo.es Dr. Daniel H. Rellstab Institut für Germanistik Universität Bern Länggass-Str. 49 CH-3000 Bern 9 daniel.rellstab@germ.unibe.ch Nicolas Romanacci Branderstrasse 58 86154 Augsburg ncr@romform.com Anschriften der Autoren / Addresses of the authors 244 Prof. Dr. Klaus Sachs-Hombach Institut für Pädagogik und Philosophie Technische Universität Chemnitz Reichenhainer Str. 41 D-09107 Chemnitz klaus.sachs-hombach@phil.tu-chemnitz.de Prof. Dr. Dagmar Schmauks TU Berlin Arbeitsstelle Semiotik Sekr. FR 6-3 Franklinstr. 28/ 29 D-10587 Berlin schmauks@mail.tu-berlin.de Nikola Schrenk Schlossbergring 36 79098 Freiburg nikolaschrenk@gmail.com Martin Siefkes, M.A. TU Berlin Institut für Sprache und Kommunikation Arbeitsstelle für Semiotik Franklinstraße 28/ 29 Sekr. FR 6031 10587 Berlin Martin_Siefkes@gmx.de Dr. Mathias Spohr Mathias Spohr Eggbühlstr. 9 8050 Zürich mspohr@bluewin.ch Dr. Franc Wagner Universität Zürich Deutsches Seminar Plattenstr. 28 8006 Zürich wagner@franc.ch Prof. Dr. Karin Wenz Bloemenweg 17 6221 TS Maastricht k.wenz@maastrichtuniversity.nl Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift K ODIKAS / C ODE (ca. 10-30 S. à 2.500 Zeichen [25.000-75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2-3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarz-weiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3-5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für K ODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht (“…”). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im S PIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “normalen” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “[…] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “f.” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern […], Hinzufügungen durch Initialien des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “(Hervorh. im Original)” oder “(Hervorh. nicht im Original)” bzw. “(Hervorh. v. mir, Initial)” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “[sic]” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 246 werden in einfache Anführungszeichen gesetzt (“… ‘…’ …”). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet.” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “Fähe bedeutet ‘Füchsin’.” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “*Rettet dem Dativ! ” oder “*der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: […] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z.B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben”, in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1-2 (1999): 27-41 Duck, Donald 2000: “Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag”, in: Duck (ed.) 4 2000: 251-265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “und” oder “&” (bei mehr als drei Namen genügt ein “et al.” [für et alii ] oder “u.a.” nach Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 247 dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “etc.”): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u.a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘graue’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck (“Zürich: Diss. phil.”), vervielfältigte Handreichungen (“London: Mimeo”), Manuskripte (“Radevormwald: unveröff. Ms.”), Briefe (“pers. Mitteilung”) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis”, in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47-67 Duck, Daisy 2001 b: “Zum Rollenverständnis des modernen Erpels”, in: Ente und Gesellschaft 19.1-2 (2001): 27-43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “Schon wieder keinen Bock”, in: Franz Gans’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15.01.2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o.J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15.01.2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15.01.2009] Instructions to Authors Articles (approx. 10-30 pp. à 2'500 signs [25.000-75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3-5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotations marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn't make sense; one is taken out of context; one isn't even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the 'normal' texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets […], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “…‘…’ …”. Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘Enlightenment’); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘I learn English since ten years’: The Global English Debate and the German University Classroom”, in: English Today 18.2 (2002): 9-13 Modiano, Marko 1998: “The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union”, in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241-248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe”, Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5-7 October 2001. http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15.01.09].