eJournals

Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2009
323-4
KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 32 (2009) No. Special Issue / Themenheft Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film Herausgegeben von Jan-Oliver Decker Jan-Oliver Decker ‘K/ konkretes’ Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Thomas Sing “Semiosen der Verletzung. Ein dreistellig-funktionales Modell zur Analyse von Realitätseffekten in Fotografie und Literatur” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Susanne Reichlin “Rhetorik der Konkretisierung: Zur Darstellung von Gewalt in Hans Rosenplüts Wolfsgrube und Herrands von Wildonie Treuer Gattin” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Michael Titzmann “Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen. Semiotische Aspekte der philosophisch-pornographischen Romane der französischen Aufklärung” . . . . . . . . . 297 Andreas Blödorn & Madleen Podewski “Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’: Textuelle Konkretisierungsverfahren zwischen Zeichendeutung und Referenzialisierung in der Komödie Der Hofmeister von J.M.R. Lenz” . . . . . . . . . . . 311 Magdolna Orosz “Das übertragene Konkrete: Metaphorik und erzählte Welt in Arthur Schnitzlers Erzählungen” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Michael Müller “Die ganz normale Gewalt. Zur De-Semiotisierung von Gewalt in Cormack McCarthy’s Roman No Country for Old Men” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 3-4 Inhalt 250 Stephanie Großmann “›Lost in Prostitution‹. Sexualität und Gewalt in den Operninszenierungen von Calixto Bieito” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Eckhard Pabst “Im Reich von Handycam und Baseballkeule. Gewaltausübung und ihre Mediatisierung in Detlev Bucks K NALLHART ” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Christian Vittrup “Das konkrete Hineinschneiden: Eli Roths H OSTEL und der zeitgenössische Horrorfilm” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anschriften der Autoren / Addresses of the authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Publication Schedule and Subscription Information The articles of this issue are available separately on www.narr.de The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 118,- (special price for private persons 78,-) plus postage. Single copy (double issue) 62,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2010 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: NagelSatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen ISSN 0171-0834 3 9 8 ‘K/ konkretes’ Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film. Eine Einführung Jan-Oliver Decker Dieser Band vereint die Beiträge der Sektion “K/ konkretes Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film” des 12. “Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Das Konkrete als Zeichen” (Universität Stuttgart 9.-12.10.2008). Gegenstand der Sektionsarbeit war, an konkreten literarischen und filmischen Beispielen zu untersuchen, wie sich ein ‘Konkretes’ in Literatur und Film semiotisch beschreiben lässt und welche Funktionen es innerhalb seiner medialen und kulturellen Kontexte einnehmen kann. Einführend zu den Beiträgen wird dabei das Verhältnis des Konkreten zu narrativen und metaphorischen Prozessen im Kontext sekundärer semiotischer Systeme (nach Lotman) problematisiert. This issue comprises the contributions of the section “K/ konkretes Erzählen: Semiotisierung und Narrativierung von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film” of the 12th “Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Das Konkrete als Zeichen” (Universität Stuttgart 9.-12.10.2008). Subject of the section were the questions, i) how in a semiotic way something ‘concrete’ could be described in literature and film and ii) which function a ‘concrete’ could get in medial and cultural contexts. Introducing the contributions the relations and problems of the ‘concrete’ in narrative and metaphoric processes will be shown from a point of view that defines literature and film as semiotic systems on a secondary level of meaning constituition (cf. Lotman). 1. Das ‘Konkrete’ aus der Sicht sekundärer semiotischer Systeme Nach Jurij M. Lotman gehören Literatur und Film zur Klasse der sekundären semiotischen Systeme, das heißt, Literatur und Film bedienen sich vorgegebener primärer Zeichensysteme (Sprache, Schrift, Geräusch, Musik, Filmbilder etc.) und bilden in ihren Texten selbst neue Zeichen zweiter Stufe. 1 Diese gehorchen als sekundäre semiotische Systeme eigenen, individuell und textuell konkret entworfenen Gesetzmäßigkeiten. Literatur und Film bilden auf diese Weise wie auch die sekundären semiotischen Systeme Oper, Comic Strip und die bildenden Künste sekundäre (Vorstellungs-)Welten aus, die als kulturelle Selbstreproduktionen kulturelles Wissen ihrer Produktionskultur verarbeiten und zu diesem in ein sekundäres, alternatives Verhältnis treten (können). Auf diese Weise reduzieren Medien sinnhaft kulturelle Komplexität und können relevante Einstellungen, Probleme und Mentalitäten einer Kultur überhaupt kommunizieren und verhandeln. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Jan-Oliver Decker 252 Ein genuin ‘Konkretes’ entzieht sich damit zunächst dieser zweifach gestuften Semiose, denn ein Konkretes bedeutet aus semiotischer Perspektive zunächst nichts weiter als sich selbst. Ein Konkretes sperrt sich somit gegen seine Einbindung in Sinn gebende narrative und/ oder metaphorische Prozesse. Dagegen lassen sich in Literatur und Film prinzipiell zwei Arten unterscheiden, durch die ein ‘Konkretes’ zeichenhaft vermittelt werden kann: 1. Das ‘Konkrete’ in sekundären semiotischen Systemen sind die primären semiotischen Systeme. Diese werden als ‘konkretes’ Textmaterial bewusst gemacht und damit die Ebene der Signifikanten fokussiert, die von ihren Signifikaten und möglichen Referenten entkoppelt werden (Stichwort “konkrete Poesie” und nach Jakobson poetische Sprachfunktion 2 ). 2. In sekundären semiotischen Systemen wird genau dann ein ‘Konkretes’ auf Signifikatebene konzipiert, wenn in Literatur und Film die vermittelten Signifikate nichts weiter bedeuten als sich selbst und scheinbar nicht in ein übergeordnetes Bedeutungsgefüge des literarischen oder filmischen Textes eingebunden sind (Stichworte “Realitätseffekte”, reiner Objektbezug, bloße Referenz auf das “So-sein” an sich, Spezifikation der dargestellten Welt). 3 Gleichgültig ob die Ebene der Signifikanten oder die der Signifikate betrachtet wird, wird hier zum einen evident, dass in Literatur und Film das ‘Konkrete’ ein Texteffekt ist, der erst mittels textueller und damit mittels semiotischer Verfahren überhaupt erzeugt wird. Zum anderen wird deutlich, dass sich das ‘Konkrete’ in sekundären semiotischen Systemen im Spannungsfeld von ‘Selbstreferenz vs. Fremdreferenz’ und somit zwischen den Polen ‘Unmittelbarkeit - Authentizität vs. Semiotisierung - Narrativität’ bewegt. Das heißt, dass sich ein ‘Konkretes’ einerseits den semiotischen Kohärenzbildungsverfahren entzieht, andererseits aber gleichzeitig auch in Verfahren textuell manifester Bedeutungsproduktion eingebunden ist. Genau hier setzten die vorliegenden Beiträge an, indem sie die Konstruktion eines ‘Konkreten’ in literarischen und filmischen Texten sowie sein Zusammenwirken mit generellen Verfahren der Semiotisierung und insbesondere der Narrativierung beleuchten. Exemplarisch möchte dieser Band dabei der Vermittlung und der Funktion von Sexualität und Gewalt in Literatur und Film nachgehen, zum Ersten weil Sexualität und Gewalt Konstanten unserer medialen Kultur und damit besonders stark semiotisiert sind, zum Zweiten weil Sexualität und Gewalt paradigmatische, in Literatur und Film inszenierte semantische Felder darstellen, in denen sich ein ‘Konkretes’ konstituiert, das sich kulturellen Sinngebungs- und Semiotisierungsversuchen widersetzt. Hier möchte dieser Band am Beispiel von Sexualität und Gewalt Raum für sowohl eine theoretisch-methodologisch orientierte Beschreibung und Klassifikation der Hervorbringung eines ‘Konkreten’ bieten (vgl. den Beitrag von Sing) als auch Fallanalysen konkreter Texte oder Textkorpora bereitstellen, anhand derer sich die Bedeutungsdimensionen des ‘Konkreten’ in Literatur und Film aus einer semiotischen Perspektive im Allgemeinen und aus einer narratologischen Perspektive im Besonderen beschreiben und erklären lassen (vgl. die Beiträge von Blödorn/ Podewski, Großmann, Müller, Orosz, Pabst, Reichlin, Titzmann, Vittrup). 2. Das ‘Konkrete’ als Referenzphänomen Ausgehend von einem dreigliedrigen Zeichenmodell, das im einfachsten Falle zwischen Signifikant, Signifikat und Referent unterscheidet, lässt sich das ‘Konkrete’ zunächst als Unterbindung der Bezeichnungsfunktion zwischen Signifikat und Signifikant verstehen: 4 Der materielle Zeichenträger verweist im Falle des ‘Konkreten’ auf kein abstraktes Konzept, das Eine Einführung 253 durch eine feststehende, konventionalisierte Zuordnungsrelation in einem Kode als Inhaltsseite einer Ausdrucksseite zugewiesen wird. Dagegen lässt sich das ‘Konkrete’ unter dem Aspekt seines Objektbezuges als Referenzialisierung begreifen, bei welcher der Zeichenträger einen konkreten Referenten in einem kontextuellen Bezugsystem des Zeichens individuell und konkret benennt (Ein solches ‘Konkretes’ wäre bspw. der spontane, individuelle Schmerzensschrei einer Person, die sich den Fuß stößt. Schrei, Person und Schmerz sind scheinbar unmittelbar an eine konkrete Situation gebunden.). Selbstverständlich ist in diesem Falle festzuhalten, dass zur Wahrnehmung eines ‘Konkreten’ eine kulturell kodierte, vorgängige Wahrnehmungs- und Unterscheidungssemantik vorliegen muss, damit ein ‘Konkretes’ als ‘Konkretes’ erkannt wird. Das heißt, es muss kulturell kodiert sein, dass etwas als etwas wahrgenommen wird, das für nichts anderes als für sich selbst steht. Ohne die damit verbundenen epistemologischen Fragen auch nur anzureißen, geschweige denn klären zu können, soll hier pragmatisch nur von Bedeutung sein, dass sich ein ‘Konkretes’ in einem gewissen Sinne auf der Ebene der Beziehung von Zeichenträger und Objektbezug aus der Perspektive des Objektbezugs als Form der Selbstreferenz bestimmen lässt und aus der Perspektive des Zeichenträgers in der Kommunikation über das vermeintlich Konkrete als Herstellung einer Tautologie: Ein ‘Konkretes’ ist aus der Perspektive des Referenten und damit der Bedeutung selbstreferenziell, weil es nichts anderes außer sich selbst bedeutet; ein ‘Konkretes’ ist aus der Perspektive des Signifikanten/ des Zeichenträgers die Bildung einer Tautologie über einem als solchen konstruierten Referenzsystem außerhalb der Zeichen, auf das sich der in ein Zeichensystem eingebundene Zeichenträger in einer kulturellen Zuordnungsrelation bezieht. In diesem Zusammenhang sind die beiden zentralen Effekte zu benennen, die ein ‘Konkretes’ erzeugt: i) Ein ‘Konkretes’ signalisiert einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Signifikant und Referent und lässt sich damit als - zumindest rudimentäre - indexikalische Beziehung definieren, die scheinbar kausal, authentisch und unverstellt auf als solche kodierte reale Qualitäten verweist. ii) Umgekehrt (zer-)stört das ‘Konkrete’ als selbstreferenziell so Seiendes zugleich die Repräsentationsfunktion zwischen Zeichenträgern und ihren Bedeutungen in geordneten Zeichensystemen, weil sich das ‘Konkrete’ als Tautologie unmittelbar übergeordneten Sinngebungs- und Bedeutungsmustern entzieht. Gerade hierin liegt aus der Perspektive der in sekundären semiotischen Systemen entworfenen Vorstellungsräume das semantische Potenzial des ‘Konkreten’: i) Entweder das ‘ Konkrete’ erhöht den Spezifikationsgrad der dargestellten Welt, weil sich vorhandene Signifikate nicht in die übergeordneten Deutungs- und Sinnmuster der erzählten Geschichte und ihrer Metaphoriken einbinden lassen; ii) oder aber das ‘Konkrete’ bricht die übergeordneten Muster der Sinngebung auf, die innerhalb der erzählten Werte und Normen und Sinn gebender Metaphoriken in Literatur und Film jeweils konkret entwickelt werden. Hier entzieht sich das ‘Konkrete’ seiner Benennbarkeit, seiner sprachlichen Erfassbarkeit und Kommunizierbarkeit; es macht die kommunikative Ebene der Zeichen, denen es sich entzieht, als artifiziell und kulturell konstruiert bewusst. Im Falle der als Realitätseffekt benannten hypertrophen Ausgestaltung der dargestellten Welt ist semantisch eine Überdeterminierung zu konstatieren, das heißt, es werden mehr signifikante Terme realisiert als zur Determinierung eines Signifikates notwendig sind; 5 im anderen Falle wird durch die Konfrontation des ‘Konkreten’ mit dem Zeichenhaften eine Desemantisierung der dargestellten Welt erreicht, die im Extremfall als Dekonstruktion nicht nur in der ‘konkreten Poesie’, sondern auch in der als ‘postmodern’ etikettierten Philosophie und in ebenso klassifizierten postmodernen Medienprodukten Verwendung findet. 6 Jan-Oliver Decker 254 3. Das ‘Konkrete’ und seine Anschlusssemiosen Sowohl bei der Überdeterminierung als auch durch die Desemantisierung der dargestellten Welt kann eine umfassende und große Quantität des ‘Konkreten’ in konkret vorliegenden sekundären modellbildenden Zeichensystemen als Entropie jeweils in eine paradigmatische Qualität des ‘Konkreten’ umschlagen: Wenn nämlich nur noch eine schiere Aneinanderreihung desemantisierter Signifikanten vorliegt oder nur nicht über sich auf abstrakte Signifikate verweisende Referenten angehäuft werden, dann wird ein semantisches “Rauschen” erzeugt. Wenn kein übergeordneter narrativer oder metaphorischer Kontext als Bezugspunkt des vorliegenden ‘Konkreten’ mehr erkennbar ist, dann fehlt die Folie, auf deren Hintergrund das ‘Konkrete’ überhaupt als ein ‘Konkretes’ wahrgenommen werden kann. Wenn die Quantität des ‘Konkreten’ auf die Weise überhandnimmt, dass ein umgebendes, semantisches Bezugsystem, das durch semantische Berührung einen Sinnhorizont ausbildet, wegfällt oder nicht erkennbar ist, dann fällt das ‘Konkrete’ aus den kulturellen Unterscheidungssemantiken heraus und versinkt sozusagen hinter dem Horizont seiner möglichen Wahrnehmung. Wenn nur noch ‘Konkretes’ vorliegt, das auf nichts anderes als auf sich selbst verweist, dann ist das einzelne ‘Konkrete’ nicht mehr als diskrete Einheit wahrnehmbar, die sich semantisch von anderem unterscheidet. Damit gilt umgekehrt: Das ‘Konkrete’ erlangt nur auf der Folie eines semantischen Bezugsystems, das narrativ oder metaphorisch erzeugt wird, überhaupt den Status eines (potenziellen) Zeichens, das als distinkte Einheit von einem kohärenten Sinnzusammenhang unterschieden werden kann. Das ‘Konkrete’ ist also etwas, was sich nicht ontologisch oder absolut bestimmen lässt, sondern das ‘Konkrete’ ist etwas, das sich nur immer in Relation und vor allem relativ zu einem bedeutungshaften, Sinn stiftenden Kontext konstituiert und erst durch höher strukturierte, mit kohärenter, verweisender Bedeutung versehene Kontexte ex negativo als ‘Konkretes’ identifiziert und klassifiziert werden kann. Das ‘Konkrete’ ist also als solches nur auf der Folie eines es umgebenden, mittelbar im Verhältnis zum ‘Konkreten’ komplexeren semantischen Kontextes lesbar. Das ‘Konkrete’ ist also gerade keine - pointiert formuliert - bedeutungslose semantische “Hintergrundstrahlung”, sondern das ‘Konkrete’ ist vielmehr etwas, was in sinnhafte, umgebende Strukturen nur scheinbar nicht eingebunden ist, aber seine Eigenschaft des ‘Konkreten’, seine Schwelle zur Zeichenhaftigkeit, gerade erst durch diesen rahmenden semantischen Kontext erhält. Damit lässt sich das ‘Konkrete’ zwar nicht extensional oder intensional exakt, aber als relationale Struktur bestimmen: Das ‘Konkrete’ ist eine diskrete Einheit, die selbstreferenziell sich selbst bedeutet und sich nur auf der Folie eines relational zum ‘Konkreten’ komplexer strukturierten, nämlich über sich hinausweisenden semantischen Zeichengeflechts erkennen und lesen lässt. Das Konkrete wird sozusagen erst durch den umgebenden semantischen Kontext als ‘Konkretes’ markiert. Die Eigenschaft der Struktur des ‘Konkreten’, nur auf der Folie eines strukturierten semantischen Netzes erkennbar und deutbar zu sein, bedingt, dass das ‘Konkrete’ vor allem ein Grenzphänomen ist: Das ‘Konkrete’ markiert in seiner Eigenschaft der semantischen Nicht- Eingebundenheit und der selbstreferenziellen Bezugnahme die Grenzen einer kohärenten Vorstellungswelt. Das ‘Konkrete’ stellt sozusagen einen Bruch mit den semantischen Konventionen dar, die der konkret vorliegende literarische oder filmische Text als geltenden Standard setzt und denen das ‘Konkrete’ sich widerständig entzieht. Das ‘Konkrete’ verhandelt auf diese Weise den Gültigkeitsbereich des semantischen Bezugsrahmens, in den es eingebunden ist. Genau hier liegt eine der wesentlichen Funktionen des ‘Konkreten’ in Eine Einführung 255 Literatur und Film als sekundäre semiotische Systeme: Das ‘Konkrete’ ist eine relative Kategorie, die relational als Kontaktphänomen die Grenzen semiotischer Systeme und die Grenzen sekundärer und kulturelles Wissen verarbeitender Vorstellungswelten thematisiert. Als ‘Konkretes’, das sich zunächst einer kohärenten Deutung entzieht, provoziert das ‘Konkrete’ auf der Folie übergeordneter narrativer und metaphorischer Sinnzusammenhänge geradezu seine konsistente Einbindung in einen übergeordneten Bedeutungszusammenhang. Das ‘Konkrete’ in Literatur und Film erzeugt gleichsam einen systeminternen Widerspruch, indem es sich der Eigenschaft des sekundären semiotischen Systems zu entziehen scheint, überstrukturierende, Sinn stiftende Modelle auszubilden. Das ‘Konkrete’ evoziert damit in sekundären semiotischen Systemen die Suche nach Anschlusssemiosen, in denen sich das vordergründig ‘Konkrete’ nur als ein scheinbares erweist, das sich rückwirkend prozessual in neue, erst zu findende, neu zu abstrahierende, neu hinzuzuziehende semantische Bezugssysteme integrieren lässt. Genau dies ist die kulturelle produktive Eigenschaft des ‘Konkreten’: Das ‘Konkrete’ fordert in sekundären semiotischen Systemen dazu heraus, in einer prozessualen Anschlusssemiose entweder einen übergeordneten neuen narrativen oder metaphorischen semantischen Bezugrahmen zu suchen, der auch über den konkreten Text hinaus auf Kontexte verweist, in die das (als sekundär konstruierter Texteffekt verstandene ‘Konkrete’ (im konkreten) Text eingebunden ist. Das ‘Konkrete’ fordert dazu heraus, von der Selbstreferenz im Text auf eine Fremdreferenz des Textes zu seinen Kontexten umzuschalten, ohne dass die neuen Bezugsysteme schon im Text kohärent mitbedeutet werden (müssen). Das ‘Konkrete’ provoziert - überspitzt formuliert - seine Semiotisierung und Narrativierung in einer Anschlusssemiose, ohne dass diese Narrativierungen und Semiotisierungen eindeutig rein aus dem manifesten textuellen Material evozierbar sind. Vielmehr ermöglicht gerade die Selbstreferenz des ‘Konkreten’, dass die Grenzen des einen semantischen Bezugrahmens, auf dessen Folie sich das ‘Konkrete’ ereignet, mit vielen anderen semantischen Bezugsystemen polyvalent interagieren können. Wo Semiotisierung und Narrativierung als explizite textinterne Verfahren genau eine kohärente Bedeutungs- und Tiefenstruktur konstituieren, da ermöglicht das ‘Konkrete’ den vielfältigen Abgleich mit ganz unterschiedlichen semantischen textexternen semantischen Bezugsystemen. Gerade hier zeigen sich zwei für die mentalitätsgeschichtliche Funktion von sekundären semiotischen Systemen zentrale Eigenschaften des ‘Konkreten’: i) Das ‘Konkrete’ kann der Kalibrierung und Eichung eines semantischen Bezugssystems dienen. Das ‘Konkrete’ markiert, was in einer Kultur kohärent in ein bestimmtes semantisches Bezugsystem integriert werden kann und was nicht. ii) Darüber hinaus ermöglicht das ‘Konkrete’ (wohl vor allem) in Zeiten kulturellen Umbruchs, wenn sich die Systeme des Denkens und Argumentierens verändern und sich damit das Denksystem einer Kultur transformiert, dass durch den Aufbruch semantischer Bezugsysteme durch das ‘Konkrete’ vielfältige neue Bezugnahmen, neue Narrativierungen und damit neue kulturelle Semiotisierungen vorgenommen werden können. Ein Text kann auf diese Weise mittels des ‘Konkreten’ gehäuft in strukturellen Umbruchphasen textueller Systeme beliebige Anschlusssemiosen erzeugen, um sich als geschlossenes semantisches Bezugssystem und als semiotisches System abzugrenzen und gerade selbst nicht beliebig zu sein. In Bezug zu den Kontexten, die das selbstreferenzielle ‘Konkrete’ in eine Referenz auf neue semantische Bezugssysteme umdeuten, dient das ‘Konkrete’ damit der Kontingenzvermeidung: Semiotisierung und Narrativierung des ‘Konkreten’ dienen der Aushandlung kultureller Werte und Normen, indem neu auf die Diskurse und das Denksystem Bezug genommen und diese verarbeitet werden. Dies zeigt sich beispielhaft gerade immer wieder im Umgang mit Sexualität und Gewalt in sekundären semiotischen Systemen, die in Form der Zensur als einer kulturell Jan-Oliver Decker 256 relevanten Anschlusskommunikation an das literarische und filmische ‘Konkrete’ dem rechtswissenschaftlichen Diskurs unterworfen werden. 7 4. Die Beiträge dieses Bandes Die vorliegenden Beiträge dieses Bandes gehen alle von konkreten literarischen und audiovisuellen Beispielen aus und zeigen mehr oder weniger explizit auf, dass das ‘Konkrete’ vor allem der Verschleierung des Konstruktions- und Zeichencharakters des als Texteffekt konstruierten ‘Konkreten’ dient. Das nur als Texteffekt konstruierte ‘Konkrete’ ermöglicht (scheinbar) die Thematisierung des bisher nicht Thematisierbaren: Argumentation wird dabei durch Evidenz ersetzt. Beispielsweise zeigt Michael Müller in seiner Einzelanalyse von Cormack McCarthys No Country for Old Men, dass sich die für die dargestellte Welt konstitutive, paradigmatische Gewalt Semiotisierungen und narrativen Mustern der Sinngebung entzieht. Michael Titzmann konzentriert sich dagegen in seiner Korpus-Analyse des französischen philosophisch-pornographischen Romans der Aufklärung auf literaturinterne Prozesse um zu zeigen, auf welche Weise in konkrete Sprache überführte konkrete Sexualität der konsistenten Etablierung liberaler und aufgeklärter Werte und Normen dient, die in extremer Opposition zu religiösen Werten und Normen der Produktionszeit der Romane stehen und kohärent alternative Semiotisierungen von Sexualität in die Kultur einspeisen. Gerade diejenigen Beiträge, die Beispiele innerhalb epochaler Umbruchphasen aufgreifen, arbeiten dabei die prozessualen Semiotisierungen des ‘Konkreten’ heraus: Andreas Blödorn und Madleen Podewski weisen in ihrem Beitrag über Lenz’ Komödie Der Hofmeister nach, dass ‘Konkretes’ in der Interaktion von Nebentext und Figurenrede textintern ermöglicht, in Krisenzeiten zwischen Selbst- und Fremdreferenz als Lösungsstrategie für textintern nicht anders lösbare Aporien umzuschalten, wodurch seinerseits die Komödie selbst als Text einer Umbruchphase kenntlich wird. Susanne Reichlin fokussiert in ihrer Untersuchung der beiden Mären Die Wolfsgrube von Rosenplüt und Herrands von Wildonie Treuer Gattin fortlaufende Konkretisierungen von Metaphoriken, die ihrerseits spezifische Topoi und narrative Muster tradierter und etablierter Textsorten verarbeiten, um durch kontinuierliche Prozesse der Übertragung und Fortschreibung literarisches Wissen prozessual zu verdichten und zu reflektieren. Der Beitrag von Thomas Sing geht hier insofern einen Schritt weiter, als er ausgehend von fotografischen Beispielen in einer minutiösen Anwendung der Peirceschen Semiotik das ‘Konkrete’ als fortlaufenden Prozess der Verschiebung von Bedeutung offenlegt, der sich in postmoderne Theoriebildungen einbinden lässt. Stephanie Großmanns Korpusanalyse von Operninszenierungen Calixto Bieitos zeigt dagegen umgekehrt, dass sich Libretto, Musik und Visualisierung gerade aus der Perspektive konkret inszenierter, umdeutender und semiotisierender Gewalt- und Sexualakte kohärent zu einer konkret identifizierbaren, künstlerischen Handschrift eines Regisseurs verdichten. Ähnlich verfährt auch der Beitrag von Magdolna Orosz, der anhand ausgewählter Erzählungen Schnitzlers dessen epochenspezifische Stellung in der Literatur der Frühen Moderne auf der Basis der konkreten Ausstattung der jeweils spezifisch dargestellten Welten und ihrer zugleich metaphorischen und übertragenen Lesart verdeutlicht. Überraschenderweise kommen die Beiträge von Eckhard Pabst und Christian Vittrup jeweils in Einzelanalysen aktueller Filmproduktionen zu vergleichbaren Ergebnissen im Film: Eckhard Pabst beschäftigt sich in Detlev Bucks K NALLHART mit dem Verhältnis von (innerfil- Eine Einführung 257 misch) konkreter Jugendgewalt und ihrer (innerfilmischen) Medialisierung durch Handyvideos, das als Kreislauf gedacht wird, der nur durch Referenzunterbrechung aufgehoben werden kann. Christian Vittrup untersucht am Beispiel von Eli Roths H OSTEL aus der Perspektive des Horrorfilmgenres, wie die Darstellung konkreter Gewalt auf der Folie von Gattungswissen in H OSTEL als metafiktionales Element gelesen werden kann, wie also das ‘Konkrete’ im Film und des Films durch ein übergeordnetes kulturelles Wissen in einer (wissenschaftlichen) Anschlusskommunikation semiotisiert werden kann. Die Reihenfolge der Beiträge orientiert sich an der medialen Verfasstheit der untersuchten Beispielstexte, ihrer Chronologie und versucht einen argumentativen Bogen nachzuvollziehen: Eröffnet wird der Band von Thomas Sings detaillierter, semiotischer Beschreibung eines ‘Konkreten’ auf einer mikrostrukturellen Ebene. Der hier herausgearbeitete Prozess der Bedeutungsverschiebung findet sich aus einer rhetorischen Perspektive ähnlich in Susanne Reichlins Studie, die mit ihren Mären darüber hinaus die chronologisch frühesten literarischen Beispiele der Literatur untersucht. Es folgen nach der Chronologie ihrer untersuchten literarischen Beispiele die Beiträge von Michael Titzmann, Andreas Blödorn und Madleen Podewski, der Beitrag von Magdolna Orosz und derjenige von Michael Müller. Stephanie Großmanns Artikel zu Operninszenierung, der Untersuchungen von Libretto, Musik und Inszenierung verbindet, leitet über zu den beiden filmanalytischen Beiträgen von Eckhard Pabst und Christian Vittrup, die den Band beschließen. Literaturverzeichnis Barthes, Roland 2006: “Der Wirklichkeitseffekt”, in Ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 164-172. [Erstdruck 1968] Barthes, Roland 2007: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [Erstdruck 1977] Decker, Jan-Oliver 2005: Madonna: “Where’s That Girl? ” - Erotikkonzeption und Starimage im medialen Raum, Kiel: Ludwig (= LIMES - Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien - KIEL, 3). Decker, Jan-Oliver 2007a (ed.): Erzählstile in Literatur und Film, Tübingen: Gunter Narr (= Kodikas/ Code Ars Semeiotica, Vol. 30, No. 1-2). Decker, Jan-Oliver 2007b: “Innovativer Stil - konservative Ideologie. 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[zuerst 1972] Nöth, Winfried 2000: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler. Petersen, Christer 2003: Der postmoderne Text. Rekonstruktion einer zeitgenössischen Ästhetik am Beispiel, Robert Pynchon, Peter Greenaway und Paul Wühr, Kiel: Ludwig. Michael Titzmann 2003: “Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft - Literatursemiotik”, in: Roland Posner, Klaus Robering & Thomas A. Sebeok (eds): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Berlin/ New York: de Gruyter: 3028-3103. Anmerkungen 1 Vgl. zu sekundären semiotischen Systemen allgemein Lotman 1993, zur Literatursemiotik grundlegend Titzmann 2003 und einführend Krah 2006. Vgl. zum Zeichensystem Film zuletzt Kanzog 2007 und Decker/ Krah 2008. 2 Vgl. zur konkreten Poesie Gomringer 2005 und zur poetischen Funktion Jakobson 1971. 3 Vgl. Barthes 2006. 4 Vgl. Nöth (2000: 139f.) und allgemein Eco 1991. 5 Vgl. Decker 2005: 141f. 6 Vgl. beispielhaft Barthes 2007, vgl. zur postmodernen Literatur Petersen 2003, vgl. zur Postmoderne als Oberflächenphänomen im Film Decker 2007b. 7 Vgl. einführend zur Zensur Kanzog 2003; vgl. am Beispiel von Wedekinds Lulu eine konkrete Zensurgeschichte aus der Perspektive des Literaturskandals Decker 2009. Semiosen der Verletzung Ein dreistellig-funktionales Modell zur Analyse von Realitätseffekten in Fotografie und Literatur Thomas Sing Ausgehend von einigen Werken des amerikanischen Fotografen Clayton James Cubitt, dessen Schaffen die Nachbarschaften von Gewalt, Sexualität, Sadomasochismus, Erotik und Pornographie immer wieder neu und kreativ erkundet, soll ein theoretisches Modell einer prozessualen dreistelligen ‘Semiotik des Konkreten’ entwickelt und anschließend auf die Literatur übertragen werden. Unter Bezug auf Charles Sanders Peirces “Ten Classes of Signs” und deren Implikationen für Ästhetik (Max Bense) und Erzähltheorie (Hans Vilmar Geppert) soll dabei gezeigt werden, dass Realitätseffekte (verstanden als rhematisch indexikalische Sinzeichen: konkrete und dabei offene, rätselhafte Realitätsindizes) (1.) einen integralen Bestandteil ästhetischer, narrativer und ‘erlebter’ Semiosen ausmachen und (2.) trotz (oder gerade wegen) ihrer textuellsingulären Eigenrealität analytisch nur in ihrer Prozessualität als Zeichenfunktionen dieser ästhetischen Semiosen fassbar sind. The work of American photographer Clayton James Cubitt is known for exploring the boundaries between violence, sexuality, BDSM, erotism and pornography from a creative and always innovative point of view. This shall be the inspiration for a theoretical model of a “semiotics of the concrete” to be then applied on literature, particularly on the writings of D.A.F. de Sade. The model relates on Charles Sanders Peirce’s “Ten Classes of Signs” and their implications for aesthetics (Max Bense) and narratology (Hans Vilmar Geppert) to thus show that reality effects (as rhematic-indexical sinsigns: concrete and at the same time open, enigmatic reality indices) are firstly an integral component of aesthetic, narrative and ‘experienced’ semiosis and secondly can be analyzed as sign functions only in their processuality despite (or rather because of) their self-referential textual reality. Einleitend und als Motto meiner Überlegungen zur semiotischen Funktionsweise konkreter Text- und Bildeffekte möchte ich diesem Aufsatz einen Abschnitt aus Jean Baudrillards Essay Es ist das Objekt, das uns denkt… voranstellen: Das Wesen des Fotos besteht nicht darin, ein Objekt oder Ereignis zu illustrieren, sondern sich selbst zum Ereignis zu machen. So wie das Wesen eines Textes nicht darin besteht, ein Bild zu kommentieren, sondern selbst ein buchstäbliches Ereignis zu sein, welches genau dadurch in eine geheime Komplizenschaft mit der Buchstäblichkeit des Bildes eintritt. Dadurch nämlich, daß das Ereignis, das Foto, der Text einander grundsätzlich fremd bleiben, können sie attracteurs étranges füreinander spielen und in derselben einzigartigen Illusion konvergieren (Baudrillard 1999b: 43). K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Thomas Sing 260 Abb. 1: Clyaton Cubbit Cream 04 Abb. 2: Clyaton Cubbit Blue 05 Abb. 3: Clyaton Cubbit Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, rechte Bildhälfte 1. Schock, punctum, Index - Spuren des Konkreten Dass die Unterschiede zwischen Literatur und Fotografie eminent sind, ist zunächst offensichtlich - die Fotografie steht als indexikalischste der Literatur als der symbolischsten Darstellungsform gegenüber, die Kluft ist größer noch als beispielsweise zwischen Film und Literatur -, doch betrachtet man beide als Zeichensysteme, so werden sie nicht nur in vielen Punkten vergleichbar, sondern erhellen sich bestenfalls gegenseitig, oder anders gesagt, bzw. gefragt: Vielleicht kann uns die Indexikalität des Fotos etwas über die Literatur lehren, so wie beispielsweise umgekehrt Linguistik und Semiologie - später auch Semiotik - starken Einfluss auf viele Theorien über die Symbolizität der Fotografie genommen haben. Diese Bilder des amerikanischen Fotografen Clayton James Cubitt 1 habe ich in den letzten Monaten einigen Kollegen, Studenten und Freunden gezeigt, und die erste Reaktion war meist Zusammenzucken, Wegschauen, Erschrecken usw. oder um es gleich mit Peirce zu sagen: Der Dynamical Interpretant dieser Fotos war “shocking” 2 , den Begriff wörtlich und damit im semiotischen Kontext einmal etwas missbräuchlich genommen. Semiosen der Verletzung 261 Abb. 4: Zeichen, Objekte, Interpretanten Beim semiotisch geschulten Betrachter sind solche “Schocks” in der Regel schnell abgeklungen, und die Analyse bzw. Semiose nimmt ihren Gang. Auf dem dritten Bild beispielsweise erkennen wir Similaritäten (die Position des Fußes entspricht der in einem High Heel), damit zusammenhängend die Kodes (bestimmte Schuhe für bestimmte Anlässe etwa), die Verweisstrukturen (fehlende Behaarung und Form des Fußes lassen auf eine Frau schließen; die Segmentation der Linien im Boden etwa, oder der Schatten, oder die Beziehung zwischen Zigarettenkippe und Asche, evtl. eine Metonymie von Zigarette und Pflaster), wir übersetzen in Fachterminologie, kurz gesagt: wir interpretieren “usual” im Denken oder später in der Diskussion dann vielleicht “pragmatistic” am wissenschaftlichen Konsens orientiert. Bei entsprechender Präferenz, nebenbei gesagt, wäre natürlich auch die “sympathetische” Reaktion möglich, Identifikation oder Erregung, davon lebt schließlich ein ganzer Industriezweig. Clayton Cubitt kann man da sicher nicht einordnen, dafür sind die Zeichenspiele seiner Bilder zu dicht, zu herausfordernd bzw. zu rhematisch. Sie lassen viel mehr Möglichkeiten der Rezeption zu als nur Stimulation oder Abscheu. Aber genau das macht sie interessant. Dass ich bereits einleitend die gesamte Trichotomie des Dynamischen Interpretanten, der realen Zeichenfolge also, eingeführt habe, gibt einen Hinweis auf die Perspektive, aus der ich das Thema angehe: aus der des Rezipienten. Das heißt, wir haben vorerst nur den wahrgenommenen Effekt, um auf seine Realität zu schließen, bzw. die Folge repliziert die Ursache, das Konkrete als Texteffekt existiert erst durch das, was es in mir auslöst. Über die Fotografie in das Thema des Konkreten einzusteigen bot sich an, denn die Frage nach der in der Fotografie transportierten Realität, ihrem Dynamical Object, stellt sich ihr als visuell abbildendem Medium in besonderem Maße und die Geschichte der Theorien über Thomas Sing 262 Abb. 5: Das Konkrete und die Spur, Zeichenthematik und Realitätsthematik Fotografie ist vor allem eine Geschichte der Diskurse über die Modalität ihres Objektbezugs. Dreistellig-semiotisch übersetzt findet man diese Theoriegeschichte z.B. in Philippe Dubois’ Buch Der fotografische Akt, in dem er drei große historische Phasen nachzeichnet und ausmacht: Erstens die Fotografie als “Spiegel des Wirklichen” im 19. Jahrhundert, zweitens als “Transformation” und “Codifizierung” (Dubois 1998: 49) des Wirklichen vor allem im Poststrukturalismus des 20. Jahrhunderts, und drittens zeitgleich - hauptsächlich durch Roland Barthes - als Spur des Wirklichen. Anders und semiotisch gesagt: Realität wird im Bild ikonisch, symbolisch oder (das wäre Barthes’ Standpunkt) indexikalisch repräsentiert. Der zentrale Begriff, den Barthes für diesen Realitätsindex in seinem Buch Die helle Kammer ausarbeitet, ist der des punctum, einer Art Kurzschluss zwischen dem Betrachter und der Realität, die sozusagen an der Fotografie haftet. Einer Realität, die zwar nicht mehr unmittelbar anwesend ist, aber einmal anwesend gewesen sein muss, genau in dem Moment nämlich, als das Foto gemacht wurde und als die “natürliche[ ] Einschreibung der Welt auf die lichtempfindliche Fläche” statt fand (so Dubois 1998: 54). Bei Roland Barthes (1985: 36) liest sich das folgendermaßen: “Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)”. Die Fotografie führt also zu einer Art Übersprung - nicht zwischen Betrachter (spectator) und ihr selbst, sondern zwischen Betrachter und der Realität der Fotografie, semiotisch: ihrem Dynamical Object, welches mich wie ein Pfeil trifft, d.h. wie ein Index oder ‘Realitätsvektor’. Die Photographie, so Barthes (ebd.: 124) weiter, “wird Feststellung und Ausruf in einem; sie führt das Abbild bis an jenen verrückten Punkt, wo der Affekt (Liebe, Leidenschaft, Trauer, Sehnsucht und Verlangen) das Sein verbürgt.” In Peircescher Terminologie könnte man sagen: Das Dynamical Object des Mediums, sein Realitätsgehalt also, und zwar als spezifisch zweistelliges “Concretive”, affiziert den Dynamical Interpretant (die Zeichenfolge) scheinbar direkt und in einer Weise, welche die Medialität des Zeichens implodieren lässt und nichts bedeutet als es selbst bzw. die Erschütterung, die es in mir hervorruft. Dass es sich bei einem solchen Realitätseffekt um einen komplexen semiotischen Vorgang handelt, liegt auf der Hand, auch wenn - oder vielleicht gerade weil - sich der Verdacht aufdrängt, dass die Semiose im Kurzschluss zwischen Realität und Betrachter zusammenbricht. Doch vielleicht muss man diesen Zusammenbruch (bei dem das Medium sich einen Moment lang zu verflüchtigen scheint 3 ) als wesentliches Moment von Semiose überhaupt denken. Wenn man auf der Suche nach einem Konkreten in einem semiotischen System ist, macht es Sinn, erst einmal nach dessen Spuren zu suchen. Die Spur ist (nach Peirce, Bense und Geppert) ein dicentisch indexikalisches Sinzeichen (3.2 2.2 1.2) 4 , ein Zeichen mit vollständiger objektbezogener Realitätsthematik also (2.1 2.2 2.3), und als solches - so meine Vermutung - schon sehr nahe an dem, was wir als konkreten Texteffekt bezeichnen können. Semiosen der Verletzung 263 Abb. 6: Clayton Cubitt Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, rechte Bildhälfte, Spuren und Objekte Semiotisch geht die Spur im Effekt nicht auf, aber sie induziert ihn, als eine Art ‘Aufmerksamkeitsvektor’, der wahrscheinlich eine zentrale Position im Verständnisvorgang überhaupt einnimmt: Die Spur ist zeichenthematisch die vertikale Achse im Schema der Zeichenklassen, ihre Dualisierung ergibt realitätsthematisch die Horizontale. Sie ist die Zeichenklasse der Mengen und der Abgrenzungen - im kunsttheoretischen Zusammenhang die Klasse des Rahmens -, und ihre strukturierende Deixis macht es möglich, eine ansonsten amorphe Realitäts- und Zeichenmasse zu segmentieren, zu ordnen und letztlich zu verstehen. Suchen wir in Cubitts folgendem Bild nach Spuren, so werden wir schnell fündig: Die untere Spur ist rasch geklärt: Verletzung und Objektbezug sind klar präsentiert, das Objekt ist sogar virtuell verdoppelt. An der Spur der Asche lässt sich noch erkennen, wo die Zigarette sich befand, bevor sie ausgetreten wurde. Thomas Sing 264 Interessanter und effektiver ist die obere Spur, die sich gedoppelt präsentiert und deren Objektbezug in beiden Fällen nicht sichtbar ist. Das Pflaster verweist einerseits auf eine Verletzung (die leichte dunkle Färbung deutet auf Blut) und die (nicht sichtbare, aber unterstellte) Verletzung indiziert ein Objekt, das nicht im Bild zu sehen ist. Unser Erfahrungswissen sagt uns mit ziemlicher Sicherheit, dass es sich dabei um einen Schuh handeln muss. Für den Realitätseffekt, ist es m.E. dabei erst einmal unwichtig, ob das Objekt dieser Verletzungen gezeigt wird oder nicht. Ihre Indexikalität wirkt zwingend, auch ohne Objekt. Aber für die Narrativierung bzw. Narrativierbarkeit macht es sicher einen Unterschied: Die Erzählung - als dicentische Form - wird wahrscheinlich am ehesten die rhematischen Zeichen aufgreifen können, d.h. diejenigen, die am wenigsten disponiert sind. Was jedoch an den Concreta ohne präsentiertes Objekt sofort ins Auge springt (und dennoch auch für die anderen gilt), ist ihre performative rhetorische Dynamik: Das Präsentamen (also das Object) wird erst durch die Repräsentation geschaffen. Das klingt wie eine Platitude, und vielleicht gilt diese Performativität tatsächlich für jedes Zeichensystem, aber ich betone sie deshalb, weil sie die entscheidende Bewegung in einer Reihe von Tropen ist, die m.E. im Zentrum eines jeden Realitätseffektes stehen: Metonymie, Metalepse und Katachrese. Ich werde auf diese Tropen später genauer eingehen; zunächst möchte ich Clayton Cubitts Bild Schritt für Schritt semiotisch analysieren. 2. Gefühle, Ereignisse, Geschichten - Semiosen des Konkreten Bei meiner Analyse beziehe ich mich auf Charles Sanders Peirces “Zehn Hauptzeichenklassen” 5 , die für eine Erzählsemiotik ein hervorragendes Instrumentarium bieten. Für Peirce selbst war die den zehn Hauptzeichenklassen zugrunde liegende Einteilung in drei Hauptzeichentrichotomien von 1903 (neben sieben weiteren) die fundamentalste Zeicheneinteilung überhaupt; Max Bense hat sie in Stuttgart vor allem in den 70er Jahren vielfach weitergedacht 6 , unter anderem hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Ästhetik, und mein Augsburger Lehrer Hans Vilmar Geppert hat sie, an Peirce und Bense geschult, immer wieder für die Literaturwissenschaft, speziell die Erzählsemiotik, fruchtbar gemacht. 7 1.) 3.2 2.2 1.2 - die Spur Ich spiele nun alle möglichen Semiosen an der oberen Spur einmal durch, mit der ich - als dicentisch-indexikalischem Sinzeichen, also als realisiertem, wahren oder falschen, auf ein Object bezogenen Verweis - beginne. 1.a.) 3.1 2.2 1.2 - das Konkrete/ der Realitätseffekt Der semiotische Kern des Konkreten liegt m.E. direkt daneben: Wie bei der Spur handelt es sich um ein konkretes Sinzeichen mit indexikalischer Verbindung zu seinem Präsentamen, die Zeichenfolge bleibt jedoch rhematisch offen. Die Spur als Dicent war assertorisch, wahr oder falsch, das Konkrete dagegen wäre problematisch, hinsichtlich Wahrheit oder Falschheit unentscheidbar. Peirces Beispiel für diese Zeichenklasse ist der spontane Schrei (“spontaneous cry”, CP 2.256), den man plötzlich hört, aber nicht lokalisieren kann. Diese Suspension, diese Unmöglichkeit einer eindeutigen Interpretation macht viel von der Faszination aus, die Realitätseffekte mit sich bringen. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu untersuchen, in wie weit ganze literarische und vor allem filmische Genres (Horror, Trash, Semiosen der Verletzung 265 Abb. 7: die zehn Hauptzeichenklassen nach Peirce Thomas Sing 266 Abb. 8: Clayton Cubitt Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, rechte Bildhälfte, Semiosen Semiosen der Verletzung 267 Grind, usf.) von dieser Zeichenklasse leben. 8 Im Kontext der Narrativik ordnet Geppert (2006a: 27) “das Finden genuiner Singularität” dieser Klasse zu. 9 1.b.) 3.1 2.1 1.2 - die Evidenz der Anschaulichkeit Wirkt dieses Konkrete nun auf den Betrachter, d.h.: gibt es zwischen dem Zeichen und mir eine Art Schnittmenge (die zuständige Figur hier wäre die Metapher), so wird der Index zum Icon. Das ausschlaggebende Zeichen selbst bleibt nach wie vor präsent (sin) und die Art meiner Reaktion offen (rhe). Anders gesagt: Ich kann mir vorstellen, wie sich eine aufgeriebene Ferse anfühlt. Bense (1979: 44) nennt das “iconische Evidenz” bzw. “unmittelbare[ ] Anschaulichkeit”. 1.c.) 3.1 2.1 1.1 - die Evidenz des Gefühls Die Vorstellung dieses Schmerzes für sich wäre dann ein rhematisch-iconisches Qualizeichen, die am wenigsten generierte Klasse, die Klasse der puren Möglichkeit vor oder nach jeder Realisierung, also ein lediglich mögliches Zeichen (1.1) eigener Erfahrung (2.1) in offenem Kontext (3.1). Wenn Peirce über diese pure Firstness spricht, dann bezeichnender Weise in Worten wie “freshness, life, freedom” (CP 1.302), “present and immediate”, “fresh and new”, “initiative, original, spontaneous”, “vivid, conscious, and evanescent” (Peirce 1992: 248f.) usf. - Das ursprüngliche Bild, eigentlich Auslöser meiner Semiose, ist in dieser Zeichenklasse der puren Innerlichkeit, wenn man so sagen kann, bereits wieder verblasst. Hier gibt es nur ein diffuses Gefühl von etwas, das Schmerz sein kann. Tatsächlich gefühlter Schmerz wäre jedoch bereits wieder mehr, nämlich verweisender Index und konkretes Sin-Zeichen; vgl. Peirce (1998: 189f.). Als ich begann, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, meinte ich das Konkrete genau in der Klasse des rhematisch-indexikalischen Sinzeichens (Nr. 1.a.) fassen zu können. Inzwischen glaube ich, diese Sicht fasst es zu eng. Sieht man es nämlich als Effekt - als Texteffekt bzw. Realitätseffekt -, also als etwas, das immer nur im Vollzug einer Rezeption zustande kommt, dann muss man es eher als unter diesen vier Kategorien verteilt, bzw. zwischen ihnen hin und her oszillierend betrachten. Letztlich ist jede Semiose, ja überhaupt der Peircesche Zeichenbegriff im Ganzen als prozessual zu sehen, und jede starre Kategorisierung würde das Prinzip Peircescher Semiose sicher verfehlen. Spielen wir die Semiose einen Moment weiter in die andere Richtung, die ich die ‘Semiosen der Narration’ nennen möchte. 2.) 3.2 2.2 1.3 - die Narration Die für die Erzähltheorie bedeutendste Kategorie ist die der dicentisch-indexikalischen Legizeichen. Geppert (2006a: 27) nennt sie die “Semiosen des Erzählens”, genauer: Es handelt sich so gesehen beim Erzählen um eine reihende Zuordnung von vorgeprägten Elementen, die ihrerseits etwa imaginativ erzeugt und/ oder aus einem Repertoire genommen, ästhetisch verändert und kombiniert werden können: Man kann auch mit Sachen oder Strichen oder gezeichneten Figuren usw. ‘erzählen’. Im weitesten Sinne begriffen ist dann jedes Formulieren, Montieren, Zusammenstellen von bereits Festgestelltem ein Erzählen (Geppert 2006a: 27). Die Fotografie kann man in diese Aufzählung sicher einreihen. Schon innerhalb eines einzigen Bildes ergeben sich - sei es durch bewusste Inszenierung beabsichtigt oder durch Thomas Sing 268 Abb. 9: Clayton Cubitt Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, linke und rechte Bildhälfte, Narrativierung 1 Zufall begünstigt - “Zuordnungen” von “Elementen”, wie z.B. zwischen dem Pflaster und dem Austreten der Zigarette mit dem nackten Fuß. Eine solche Zuordnung kann dann (und somit wird sie dreistellig) Mutmaßungen, Interpretationen, Geschichten, usw. hervorrufen, z.B. ‘Unfall’, ‘Provokation’, ‘Mutprobe’, ‘hartes Mädchen’, usw. Noch eindeutiger wird diese narrative Semiose, wenn man das Bild als Teil jener Sequenz zeigt, in der sie der Fotograf präsentiert. Durch den syntgamatischen Bezug werden Kohärenzannahmen evoziert. Man stellt Zusammenhänge her, erfindet eine Geschichte - das Bild wird zur Einheit, zum Narratem einer Erzählung, die Bilder interpretieren sich gegenseitig. 2. .) 3.2 2.3 1.3 - die Narrateme Diese Narrateme (bzw. Ereignisse oder Motive) 10 für sich betrachtet, also ohne Rücksicht auf ihre Verkettung, sind dann die dicentischen Symbole. Das wären die einzelnen Propositionen, d.h. die Sätze bzw. laut Max Bense die “epische[n] Aussagen” (Bense 1998: 368) mit “symbolische[r] Evidenz” (Bense 1979: 46). Im Kontext der Narrativik müsste man sagen: die kleinsten Erzähleinheiten. 2. .) 3.3 2.3 1.3 - die Regeln und die Interpretation Argumentische Formen sind dann z.B. die formalen Kriterien, auf die sich der Fotograf bezieht (Wahl der Kamera, der Brennweite, der Belichtungszeit, Bildausschnitt, z.B. Goldener Schnitt, usw.). Auch die Regeln der Interpretation gehören in diese Zeichenklasse. Semiosen der Verletzung 269 Abb. 10: Clayton Cubitt Stormy, Suicide Girl, with Fresh Tattoo, Narrativierung 2 Springen wir wieder zurück zum dicentisch-indexikalischen Legizeichen (Nr. 2.), der Klasse der Narration also, gelangen wir direkt zu einer der interessantesten Zeichenklassen, der Max Bense den Großteil seiner semiotischen Überlegungen gewidmet hat und die ich hier ebenfalls nur äußerst verkürzend skizzieren kann: die Achse der ästhetischen Zeichenfunktion. 3.) 3.1 2.2 1.3 - die ästhetische Zeichenfunktion Diese liegt nun ihrerseits nur einen Schritt von der Zeichenklasse des zunächst vermeintlich Konkreten (3.1 2.2 1.2) entfernt (1.2 1.3) und weist im Vergleich mit den anderen Klassen zwei Besonderheiten auf, die bereits einen Hinweis auf ihre prominente Stellung im Gesamtsystem liefern: 11 1. Als Diagonale im System der Hauptzeichenklassen ist sie die einzige, die vier direkt benachbarte Klassen hat: das Konkrete (rhe-in-sin) und die Erzählsemiosen (dic-in-leg), und dann - dazu komme ich gleich - die Zeichenkompetenz (rhe-sy-leg) und die möglichen Welten (rhe-ic-leg). 2. Sie ist die einzige Zeichenklasse, deren Zeichenthematik (3.1 2.2 1.3) mit ihrer Realitätsthematik (3.1 2.2 1.3) identisch ist. Es handelt sich damit um die “offenen autoreflexiven Logiken von Zeichen” (Geppert 2006a: 27). Hier bedeutet das: das Foto in seiner selbstbezüglichen Eigenrealität, z.B. wenn ich es rahme und auf einer Ausstellung zeige. Dass das Mädchen auf dem Bild einmal als Objekt vor Thomas Sing 270 Abb. 11: die ästhetische Zeichenfunktion und ihrer vier benachbarten Zeichenklassen Abb. 12: die ästhetische Zeichenfunktion: Identität von Realitätsthematik und Zeichenthematik der Kamera referenziell existiert haben muss, ist zwar eine Eigenart der Fotografie im Vergleich mit anderen, rein fiktionalen Kunstsorten, spielt aber für den semiotischen ästhetischen Zustand des Kunstwerks keine Rolle (für den Realitätseffekt dann schon, der bei der Fotografie wahrscheinlich stärker zum Tragen kommt als beispielsweise in der Literatur). Es geht auch in der Fotografie nicht - oder zumindest nicht in erster Linie - darum, Wirklichkeit abzubilden; nicht das Objekt determiniert das Bild, sondern das Bild determiniert das Objekt, und zwar indem es dieses - indexikalisch - ‘festschreibt’. 12 Bense (1979: 100f.) spricht vom Objektbezug des ästhetischen Zustands als von einer “zufällige[n], okkasionelle[n] Wirklichkeit, die indexikalisch, nicht ikonisch aktual ist”. 13 3.i.) 3.1 2.3 1.3 - die Zeichenkompetenz Im Gegensatz zum dicentischen Narratem oder Satz, der eine Feststellung macht, formt die rhematische Variante die “Möglichkeitsform aller Zeichenkompetenz” (Geppert 2006a: 27), d.h. “das Verfügen über konventionalisierte Zeichenmöglichkeiten” (ebd.). Ich muss die Regeln der Bedeutungszuweisung also erst einmal kennen. In der Sprache bzw. Literatur liegt das auf der Hand, doch für das Foto gilt auf formaler und auf inhaltlicher Ebene letztlich dasselbe: Ich muss die Darstellungskonventionen dieses Mediums kennen und auch die Tatsache, dass man beispielsweise ein Pflaster benutzt, um eine Wunde zu bedecken - oder in diesem Fall vielleicht: Um vor weiterer Verletzung zu schützen, muss dies gelernt bzw. gewusst werden. 3.I.) 3.1 2.1 1.3 - die möglichen Welten Die letzte direkte Anknüpfung an die ästhetische Zeichenfunktion wäre das rhematischikonische Legizeichen, dem Geppert (2006a: 27) das “Entwerfen möglicher Welten” zuweist. Damit würde man an die Evidenzen der Anschaulichkeit (3.1 2.1 1.2) und des Gefühls (3.1 2.1 1.1) anknüpfen (1.3 1.2 1.1). Ebenso sind Querverbindungen in dieser Dar- Semiosen der Verletzung 271 vielfach möglich, eigentlich müsste man ein solches Schema wirklich dreistellig, d.h. dreidimensional konzipieren. 3. Metalepse, Metonymie, Katachrese - Rhetorik des Konkreten Kehren wir noch einmal zu Barthes’ punctum zurück und zu der Inneren Erfahrung, die es induziert: Im Gegensatz zu dem, was Barthes studium nennt (damit ist die reflektierende Auseinandersetzung mit einem Foto, seinen Kodes, usf. gemeint, der voll generierte dreistellige Dynamische Interpretant, den Peirce “usual” nennt) wäre das punctum eine Rezeption, die dem einstelligen sympathetischen (also ‘gefühlsmäßigen’) und/ oder dem zweistelligen percussiven Dynamischen Interpretanten entsprechen würde, der bei Peirce auch “shocking” heißt, und der das punctum m.E. treffend charakterisiert: “[D]ie Lektüre des punctum (des ‘getroffenen’ Photos, wenn man so sagen kann) ist hingegen kurz und aktiv zugleich, geduckt wie ein Raubtier vor dem Sprung” (Barthes 1985: 59). Was den Realitätseffekt des punctum nun narratologisch interessant macht, ist die Deixis, die es entfalten kann, und zwar im Sinne sozusagen einer Anschließbarkeit der Erzählungen. Barthes weiter (ebd.): “So blitzartig das punctum auftauchen mag, so verfügt es doch, mehr oder weniger virtuell, über eine expansive Kraft. Diese Kraft ist oft metonymisch.” Barthes illustriert diese (man könnte sagen: zentrifugale) Metonymie an einer Fotografie von André Kertész aus dem Jahr 1921, auf der ein Junge einen blinden Zigeunergeiger führt: “Was ich nun erblicke, mit diesem ‘denkenden’ Auge, das mich der Photographie etwas hinzufügen läßt, ist die Chausssee aus gestampfter Erde; die Beschaffenheit dieses Erdwegs gibt mir die Gewißheit, in Mitteleuropa zu sein; ich erkenne den Referenten […], ich erkenne, mit jeder Faser meines Leibs, die kleinen Ortschaften wieder, durch die ich vor langer Zeit auf Reisen in Ungarn und Rumänien gekommen bin” (Barthes 1985: 55). Der Kurzschluss zwischen dem Referenten des Bildes und seinem Betrachter hat also eine Semiose in Gang gesetzt, welche die ursprüngliche (zweistellige) Relation (Referent und Rezipient) aufgreift und (dreistellig) narrativiert. Metonymische Verknüpfungen verbinden dabei auch Sequenzen, so zum Beispiel Clayton Cubitts Serien. Je expliziter allerdings die Sequenz ist, in die ein solches Bild bereits von vornherein eingebunden ist (man könnte auch sagen: je dominanter der Diskurs, der es trägt, schon ist), umso schwächer scheint mir umgekehrt der jeweilige Realitätseffekt zu werden. Die Metonymie, welche diese Narrativierung ermöglicht, ist eine indexikalische Figur 14 : die der Verbindung bzw. Angrenzung (auch die des Kurzschlusses) zweier Sachverhalte, Zeichen oder Zeichenkomplexe innerhalb eines Kontextes. Im Hinblick auf das Konkrete in einem sekundären semiotischen System könnte man diese Definition vielleicht sogar zuspitzen zu der Annahme, das Concretum sei genau diejenige textuelle Suggestion bzw. genau dasjenige textuelle Potenzial, welches das Zeichen (als Repräsentamen) (1.) mit seinem Referenten einen Moment lang zusammenfallen lässt 15 , und (2.) in dieser Verdichtung bzw. als diese Verdichtung eine Spannung erzeugt, die mich - mit Barthes Worten - “trifft”, und man kann hinzufügen: oder auch nicht. Das “oder auch nicht” scheint mir dabei entscheidend zu sein. Im Zentrum dieser Bewegung (die man sich tatsächlich wie den Schuss eines Pfeils vorstellen kann) steht ein retrosemiosicher Vorgang: Das konventionelle Legizeichen (als intelligibles Sprachzeichen beispielsweise, oder etwa als eine formale Tradition, Technik, usf.) ‘degeneriert’ (das Wort ist Thomas Sing 272 in der semiotischen Theorie nicht abwertend, ja nicht einmal im Sinne von ‘rückläufig’ gemeint) 16 zum einfachen, ‘singulären’ Sinzeichen, welches mich treffen kann (‘shocking’) oder eben nicht. Zu fragen ist an dieser Stelle auch, inwiefern zwei weitere Tropen strukturell am Zustandekommen konkreter Texteffekte beteiligt sind: die Metalepse und die Katachrese. Wenn die Metonymie die Figur ist, welche für ‘Verdichtung’ und ‘Expansion’ des Konkreten verantwortlich wäre, und zwar zunächst einmal als textuelle Strategie, dann wäre die Metalepse das Äquivalent auf Interpretantenseite: Die Metalepse wäre nämlich die Grundannahme, dass die textuelle “assertorische” Narration (das Dicent-Symbol / der Dicent- Index, also das, was wir lesen, bzw. sehen) auf offene, unbekannte extratextuelle Möglichkeiten rekurriere, also auf Rhema-Indices oder Rhema-Icons. Die Katachrese könnte man dann als die grundsätzliche Dynamik des Gesamtvorgangs einführen: Als Oszillation zwischen Text (dic-in-leg bzw. dic-sy-leg) und Realitätseffekten (rhe-ind-sin), welche die volle (indexikalische, also ‘konkretisierende’) Potentialität von Zeichen generiert. Wie Gerald Posselt (2005: z.B. 41; 149; 183; 210) in einer neuen umfangreichen historischen und systematischen Untersuchung zu diesem Tropus ausführt, ist die Katachrese die performative Figur schlechthin. Der performative Charakter der Katachrese liegt dabei in ihrer Eigenschaft der - verstanden als Verschiebung - Refiguration des Gesamtsystems durch die Generierung neuer Bedeutungen. Dies leistet die Katachrese durch die Benennung des Unbenennbaren bzw. den uneigentlichen Verweis auf das Unbenennbare durch die missbräuchliche Benennung mit einem bekannten Namen. Aktualisiert man die Funktionsweise dieses - so Posselt (ebd.: 195) - “Gewaltakt[s]” der Katachrese für das Konkrete, so müsste man sagen: Die Katachrese arbeitet mit konventionellen Zeichen, die aber in ihrem metonymisch-metaleptischen Vollzug erst aufgebrochen und dann neukodiert werden. Das bedeutet, dass das Konkrete im Text erst einmal nichts außer es selbst bedeutet; es versperrt sich der Lektüre; aber dadurch, dass es sich selbst als Wirklichkeit präsentiert, gibt es sich wiederum der Aufnahme in den Diskurs (sin ? leg) preis. 4. Hypothesen, Sade & Sadomaso - (Un-)Logik des Konkreten Das gilt für konkrete Bildeffekte ebenso wie für konkrete Texteffekte. In einem weiteren Essay über die Fotografie und ihr Verhältnis zur Realität kommt Baudrillard (1999a: 27) wieder auf die Literatur zu sprechen und ihre gleichsam magische Fähigkeit, “etwas von der materiellen, objekthaften Autonomie der Dinge ohne Eigenschaften wieder[zufinden], von der erotischen Kraft und der übernatürlichen Unordnung einer Nullwelt”. Diese ‘Magie des Konkreten’, wenn man so will, kann in Baudriallards Sinn nur zustande kommen, wenn das entsprechende Zeichen, welches sie trägt, ‘frei’ ist, also nicht ein Einzelfall unter vielen vergleichbaren oder eine Ableitung aus einer Regel darstellt. Vielmehr muss es - wiederum nach Baudriallrd - ganz in der Zeichenklasse des Konkreten aufgehoben sein. Es ist faktisches Index-Sin, dass aber rhematisch offen ist. Das heißt, es stellt ein rätselhaftes Resultat dar, das erst einmal für sich steht, dessen Zusammenhang aber kreativ entworfen werden kann. Damit lässt sich ein Bezug zur letzten Peirceschen Hauptzeichentrichotomie herstellen, welche Gewissheit über die Natur der Gesamtsemiose gibt (“As to the Nature of the Assurance of the Utterance”, CP 8.374) und zwar: “Assurance of Form”, “Assurance of Experience” und “Assurance of Instinct” oder gemeinhin: Deduktion, Induktion und Abduktion. Semiosen der Verletzung 273 Deduktion und Induktion kommen ohne rhematische Zeichen aus. Bei der ersteren degeneriert ein Argument retrosemiosisch zu einem oder mehreren Dicents (Regel - Fall - Resultat). Die letztere generiert aus mehreren Dicents in einer Semiose ein Argument (Fall - Resultat - Regel). Die Spezifik der Abduktion liegt nun darin, dass sie immer von einem rhematischen, d.h. offenen bzw. ‘rätselhaften’ Resultat ausgehen muss, welches nur Aussagekraft erlangen kann (also zum Dicent - zum ‘Fall’ - generieren kann), indem eine Regel hypothetisch angenommen wird. Ob die Hypothese stimmt, muss dann wieder induktiv überprüft werden und kann sich schließlich zur Regel verfestigen, aus der deduktiv abgeleitet wird. 17 Ich glaube, dass sich an dieser Zeichentrichotomie die Funktionsweise des Konkreten noch einmal gut zeigen lässt und möchte dies abschließend an einigen Stellen aus Donatien Alphonse François de Sades Werk tun, der Sexualität und Gewalt so exzessiv wie kein anderer vor (und wahrscheinlich auch nicht nach) ihm thematisiert hat, und an dessen Texten die verschiedensten Emanationen von konkreten Texteffekten - oder eben deren Ausbleiben - beobachtet werden können. Der größte Teil des de Sadeschen Werkes kommt tatsächlich ohne konkrete Texteffekte aus, ohne dass uns - in Barthes Sinne - etwas ‘trifft’. De Sades Bücher mussten immer schon den Vorwurf über sich ergehen lassen, sie seien langweilig: Ausufernde Diskurse, die einander oft ähnlich sind, wechseln einander mit exzessiven, mechanisch anmutenden Orgien ab; doch genau das ist das Prinzip der Libertinage und genau in dieser wechselseitigen Verkettung liegt der Grund, warum selbst die schlimmsten Verbrechen und Ausschweifungen irgendwann gar keinen Effekt mehr erzielen, weil sie (bis auf wenige Ausnahmen eben) nur noch als völlig unselbständige Ableitungen (Deduktionen) des großen dominanten Diskurses seiner Werke auftreten, nämlich des alles verschlingenden Rationalitätsdiskurses einer zu Ende gedachten Aufklärung. Nahezu jede Orgie ist gerahmt von Argumenten, deren Resultat sie darstellt, und deren logische Verknüpfung lang und breit diskutiert wird. Die Verbrechen der Libertins sind conclusiones aus Syllogismen, deren formale Natur für ihre Richtigkeit bürgt. Wenn man beispielsweise aus dem Grundsatz, alle Natur habe Zerstörung nötig, um Neues erschaffen zu können, das Verbrechen grundsätzlich als natürlich und somit jeden einzelnen Mord als gerechtfertigt ableitet (vgl. z.B. Sade J/ J, V: 222f.), ohne sich auf irgendwelche Metaprinzipien (Ethik etwa) zu berufen, dann ist das formal korrekt. An einer anderen Stelle der Juliette (Sade J/ J, VII: 101) heißt es sogar, es sei schlechthin unmöglich, die Natur überhaupt zu beschädigen, da sie selbst die Mittel bereithalte, um Schaden anzurichten. Dass sich Eigenrealität und konkreter Texteffekt der libertinen Verbrechen in Grenzen halten, wenn diese in einen solchen argumentativen Zusammenhang eingebunden sind, liegt auf der Hand: Das Zeichen verliert sein Rätsel, seine Überraschungsfähigkeit, seine Spontaneität und seine metonymisch-expansive Kraft, die es zu einer Realität sui generis machen könnte, auf die ich mich als Leser einlassen könnte. Die libertinen Figuren sind in sich vollständige geschlossene Logiken, die den Text in keiner Weise stören, unterbrechen, sich von ihm absetzen, ihn neu ansetzen lassen usw., wie konkrete Texteffekte das tun würden, bei denen der Rezipient durch die Konfrontation mit einer Zusammenballung bzw. Verdichtung von Zeichen, die dem Diskurs erst einmal unverdaulich gegenüberstehen, geradezu provoziert wird. Solche Stellen gibt es auch bei de Sade (dass beide Formen bei ihm vorkommen, ist der Grund, dass ich ihn als literarisches Beispiel gewählt habe), und genau diese Stellen sind es, die ihn interessant, bzw. nach Foucault (1974: 260-264): modern machen. Und, nebenbei gesagt, sieht man an diesen Stellen auch gut, wie abhängig das Zustandekommen konkreter Texteffekte von ihrer Disposition ist, von der Folie, von der sie sich absetzen. Thomas Sing 274 Interessanterweise sind es stets die Frauenfiguren (und von ihnen auch nur eine Handvoll), deren Weg sich von den formal immer gleichen Vernünfteleien der anderen Libertins trennt und die stellenweise eine Alterität ins Spiel bringen, die den Text wie ein Virus infiziert, Leerstellen erzeugt, an denen jeder Sinn schweigt (Baudrillards Begriff “Nullwelt”, den ich vorhin zitiert hatte, drängt sich hier auf) und die Zeichen zu einer Eigenrealität kristallisieren lässt, deren Dichte so enorm und angespannt ist (ich erinnere an Roland Barthes’ punctum, “kurz und aktiv zugleich, geduckt wie ein Raubtier vor dem Sprung”, s.o.), dass man in sie beinahe wie in eine Stolperfalle tritt, beispielsweise wenn gegen Ende der Juliette (Sade J/ J, X: 178) der Wunsch geäußert wird, einmal Sex in einem Spital voll Syphiliskranker zu haben. Solche Stellen bringen den libertinen Diskurs durch ihre völlig unverdauliche Singularität selbst innerhalb des Sadeschen Werkes zum Stocken. Im vierten Buch der Juliette (Sade J/ J, VIII: 94) ruft Olympe, eine der interessantesten weil modernsten Gefährtinnen der Titelheldin: “Gleich einem feurigen Streitroß stürze ich auf den Pfeil zu, der mich durchbohrt.” Dieses Zitat ist das Zentrum eines langen Geständnisses an Juliette, das in seinen delirierenden Bildern der Selbstentäußerung und -verschwendung an die Romane von Georges Bataille denken lässt. Diese Stelle kann man als einen ersten Frontalangriff gegen die rationalistische Ökonomie der Libertins lesen, und von ihr aus erschließt sich de Sades Modernität: Sie ist eine Modernität im Zeichen von Verletzung und Verletzbarkeit als Voraussetzung einer zweckfreien Kommunikation, welche erst einmal nur für sich selbst steht und von der ich mich affizieren lassen kann oder nicht. Barthes’ Konzept des punctum, der Realität der Fotografie, die mich ‘trifft’, ist bei Sade hier literarisch auserzählt. Es geht um das Andere, das Unaussprechliche, eine Todesgewandtheit, die den libertinen Grundsätzen der Selbsterhaltung und Machtsteigerung derart fremd ist, dass sie zu einer Realität kondensiert, die vom Text nicht mehr eingeholt werden kann. Das Andere ist weder generalisierbarer empirischer ‘Fall’, noch Ableitung eines Grundsatzes. Diese Stellen bilden die blinden Flecken der Narration, die vom Diskurs selbst nicht einmal mehr wahrgenommen werden und vom Leser höchstens abduktiv erschlossen werden können. Über 200 Jahre später, nach der Lektüre Baudelaires, Nietzsches, Batailles, um nur drei von vielen zu nennen, haben wir - frei nach Max Bense - als externe Interpretanten Worte und Konzepte, um diese Concreta in einer die rhematischen Zeichen superierenden Interpretation abzufangen. Noch einmal zurückbezogen auf Sexualität und Gewalt, kann man den Umschlag von Rationalität zu Moderne bei de Sade auch betrachten als einen Umschlag von libertinem (semiotisch argumentischem) Sadismus hin zu freier (semiotisch offener) Erotik, die sich im sadomasochistischen Exzess von ihrer Bindung an alle libertinen Grundsätze, Regeln usw. löst, und damit eine konkrete Selbstbezüglichkeit gewinnt, welche jede Bedeutungsfunktion im Text erst einmal hinter sich lässt. In einem Aufsatz über Si(g)ns of the Flesh. Law, Violence and Inscription upon the Body stellt Christopher Stanley 1997 für sadomasochistische Praktiken genau diese Eigenrealität fest: [ ] the bodies are alienated but not in submission to law but rather in submission to desire and therefore the individual body becomes a site of power without reference to determination by external law. The law cannot see sadomasochism even though it is brought within its gaze. (Stanley 1997: 162) Dass diese Autoreferenz für jede Thirdness, für jedes Gesetz, für jede Regel also eine Gefahr darstellt, liegt auf der Hand. Dass Literatur immer eine Refiguration, eine Umerzählung eines Prätextes ist, weiß die Theorie längst. Die Zeichen ändern sich mit jedem Gebrauch. Und Semiosen der Verletzung 275 Abb. 13: Clayton Cubitt Blue 02 vielleicht haben konkrete Texteffekte - als rhematische rätselhafte Resultate, also als Zeichen, die zur Abduktion anregen und somit die einzigen Zeichen wären, die “eine neue Idee in Umlauf bringen” könnten - einen großen Anteil an diesen Umerzählungen. Ich zumindest bin davon überzeugt. Die Zensoren aller Länder und Zeiten sind das auch. Die Josefine Mutzenbacher hat die deutschen Gerichte über 20 Jahre lang beschäftigt, Henry Millers Opus Pistorum und Bret Easton Ellis’ American Psycho wären zwei weitere berühmte - aber bei weitem nicht alle - Fälle (Ellis Indizierung fand erst 1995 statt und wurde erst 2001 höchstrichterlich und abschließend aufgehoben). 18 Die Gesellschaft scheint - immer noch - in der konkreten, um ihrer selbst willen praktizierten Sexualität, bzw. ihrer literarischen und medialen Darstellung eine Bedrohung zu sehen. 19 Das scheint erst recht für sadomasochistische Inszenierungen zu gelten, 20 deren Dramaturgie jeder autoritären Struktur nicht nur (wie die Erotik) fremd gegenübersteht, sondern welche das Gesetz im role play zu einem System sekundärer Ordnung (1.) verdoppelt und (2.) durch den Rückbezug auf die eigene Begierde überschreibt. Die Zeichen bleiben erhalten (bestes Beispiel: Max Mosley, der Präsident des Welt-Automobilverbandes FIA, dem letztes Jahr - zu Unrecht - eine Naziorgie vorgeworfen wurde, die Bilder waren in allen Zeitungen) - aber die Semantik ändert sich, ja verkehrt sich geradezu. Gerald Posselt (2005: 94) spricht in seinem Rhetorikbuch in einem ganz anderen Kontext (Nietzsches Metaphysikkritik nämlich) von einer “katachrestischen Usurpation und Resignifikation”; die Formulierung scheint mir in meinem Zusammenhang einschlägig zuzutreffen. Auch die Metalepse könnte man hier wieder in Anschlag bringen, versteht man sie mit Quintilian als transsumptio, als “Übernahme”: Das Begehren ‘übernimmt’ die Macht, indem es ihre Zeichen ‘kapert’. Das Konkrete ist dabei eine wesentliche Schnittstelle, ein fragiles Übersprungsmoment sozusagen, in welchem das Zeichen nichts bedeutet als es selbst. 21 Clayton Cubitts Bild mit den blauen Flecken auf dem Po irgendeines Mädchens, das am Anfang meines Aufsatzes steht, spielt gekonnt mit dem Spannungsbogen zwischen Macht und Lust, in dem das Bild als konkretes, aber nicht eindeutig einzuordnendes Ereignis bestehen bleibt. Zumindest bis wir Cubitts Serie mit dem Titel Blue weiter betrachten. Thomas Sing 276 Im Gesamtzusammenhang der Serie wird nämlich die Hypothese immer klarer, dass es sich nicht um Missbrauch, rohe Gewalt oder dergleichen handelt, sondern “nur” um ein Liebesspiel. Und natürlich handelt es sich wieder “nur” um eine Interpretation, und wie haltbar sie ist, wird sich - wie bei jeder Interpretation - zeigen müssen. In jedem Fall ist sie eine Art Reflex auf Stellen, die sich einer klaren Bedeutungszuweisung entziehen, weil sie sozusagen in sich selbst ruhen, nirgends im Kontext verankert sind, aber dennoch eine Magie besitzen, der man sich als Leser oder Betrachter kaum entziehen kann. Insofern ist Interpretation auch - und vielleicht gerade - für das Konkrete in semiotischen Systemen unvermeidlich. Literaturverzeichnis Barthes, Roland 1968: “L’Effet de Réel”, in: Communications 11 (1968): 84-89. [Dt. Übs. zit. n.: Ders.: “Der Real(itäts)effekt”, auf: http: / / www.nachdemfilm.de/ no2/ bar01dts.html, Stand: April 2009] Barthes, Roland 1985: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Baudrillard, Jean 1999 a: “Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität…”, in: ders. 1999: Im Horizont des Objekts. Fotografien 1985-1998, ed. Peter Weibel, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz: 20-35. 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Anmerkungen 1 Die Fotos können in Farbe und in ihrem Kontext auf dem Portfolio des Fotografen betrachtet werden: http: / / www.claytoncubitt.com (Stand: April 2009). 2 Dieser Begriff und die folgenden stammen aus Peirces Überlegungen zu den “Ten Main Trichotomies of Signs”, die er 1908 in einem Brief an Lady Welby zusammenfasst (CP 8.342-8.379; dt. in: Peirce 1958: 154-167). Die Tabelle ist ebenfalls anhand dieser Aufzeichnungen konstruiert und geht in dieser Form auf Entwürfe aus Hans Vilmar Gepperts Augsburger Semiotik-Vorlesungen aus den Jahren 2001-2004 zurück. 3 Vgl. Barthes (1985: 55): “hier weist die Photographie wirklich über sich selbst hinaus: […] Sich als Medium aufzuheben, nicht mehr Zeichen, sondern die Sache selbst zu sein”. 4 Zur Notation und dem Verhältnis von Zeichenthematik und Realitätsthematik vgl. Bense 1976. 5 Vgl. Nomenclature and Divisions of Triadic Relations, as Far as They Are Determined, in: Peirce (1998: 289-299). Für eine konzise Zusammenfassung mit umfangreichem einführendem Literaturverzeichnis siehe Geppert 2006a. 6 Vgl. Bense 1975, 1976, 1979 und 1998. 7 Vgl. Geppert 2003, 2006 und 2009. 8 Der Zusammenhang zwischen Spur und konkretem Effekt ist z.B. wunderbar metaphorisch auf den Punkt gebracht in Rob Zombies H OUSE OF 1000 C ORPSES (H AUS DER 1000 L EICHEN , USA 2003), in dem die späteren Opfer einer psychopathischen, aber dennoch irgendwie sympathischen Familie degenerierter Farmer zu Beginn des Films durch eine Geisterbahn geschleust werden, deren Spur geradezu allegorisch für den Leidensweg steht, den sie im Verlauf des Films an konkreten Stationen mit konkreter Schockwirkung durchmachen werden. 9 Vielleicht liegt es auch an diesem Konkreten, dass man nur allein mit Genuss lesen kann. Das gilt übrigens auch für die Fotografie, wie Jean Baudrillard (1999a: 26) so treffend feststellt: “Die Einsamkeit des fotografischen Subjekts in Raum und Zeit korreliert mit der Einsamkeit des Objekts und mit seinem eigensinnigen Schweigen”. 10 Zur narratologischen Terminologie siehe Martínez/ Scheffel (2003, v.a. Tabelle S. 26). 11 Eine ausführliche Einbettung der semiotischen ästhetischen Zeichentheorie in die Literatur- und Erzähltheorie findet sich in Geppert 2006: 25f. 12 Die Lütticher groupe ì (Dubois u.a. 1974: 34) formuliert diese Eigenrealität in ihrer Allgemeinen Rhetorik so: “Die referentielle Funktion der Sprache [= Index, T. S.] wird also vom Dichter […] nicht zerstört und kann es nicht werden. Da aber die darin enthaltenen Bedeutungen nur noch auf Distanz wahrgenommen werden und gänzlich an der Einführung der Zeichen ‘aufgehängt’ sind, kann die Sprache des Schriftstellers lediglich Illusion schaffen, d.h. ihr eigenes Objekt produzieren. Die poetische Sprache ist als solche ohne referentielle Funktion, sie ist nur insoweit referentiell als sie nicht poetisch ist. Das bedeutet, daß die Kunst - man weiß es seit langem und vergisst es immer wieder - jenseits der Unterscheidung zwischen wahr und falsch liegt”, d.h. semiotisch: dass sie rhematisch funktioniert, nicht dicentisch oder gar argumentisch. Weiter (ebd.): “Die letzte Konsequenz dieser Verfremdung (distorsion) der Sprache ist, daß sich die poetische Sprache als Kommunikationsakt disqualifiziert. In Wahrheit kommuniziert sie nichts, oder vielmehr: sie kommuniziert nur sich selbst. Man kann auch sagen, daß sie mit sich selbst kommuniziert, und diese Intra-Kommunikation ist nichts anderes als das eigentliche Prinzip der Form. Indem der Dichter in jede Ebene der Rede und zwischen die einzelnen Reden den Thomas Sing 278 Zwang multipler Entsprechungen einschiebt, schließt er die Rede in sich selbst ab und dieses Abgeschlossensein nennt man Werk.” 13 Zur Abhängigkeit des Objekts von seinem Zeichen betont Bense an anderer Stelle (1976: 109), “daß Objektbegriffe nur hinsichtlich einer Zeichenklasse relevant sind und nur relativ zu dieser Zeichenklasse eine semiotische Realitätsthematik besitzen, die als ihr Realitätszusammenhang diskutierbar und beurteilbar ist, wobei hier unter ‘Diskutierbarkeit’ die ontologische Zuschreibbarkeit einer gewissen (externen) ‘Welt’ und unter ‘Beurteilbarkeit’ die logische Zuständigkeit (semantischer) ‘Wahrheitswerte’ verstanden werden soll.” 14 Vgl. z.B. Chandler (2002: 139) und Geppert (2006b: 53). 15 Barthes 1968: “In semiotischer Sicht ist das ‘konkrete Detail’ durch die ‘direkte’ Kollusion (Kurzschließung) eines Referenten und eines Signifikanten konstituiert.” 16 Genauer Bense 1975 (85f.): “Diese scheinbar rückläufige ästhetische Semiose ist keineswegs als desuperierende, sondern stets als superierende zu verstehen, da im Interesse der Erreichbarkeit eines singulären und innovativen, fragilen und unwahrscheinlichen Zustandes der Distribution der Mittel der ästhetische Zustand letztlich nur als hierarchisches Superisationssystem möglich ist. Das bedeutet, daß in jedem künstlerischen Produktionsprozeß jede scheinbar rückläufige Semiose vom externen Interpretanten (I e ), d.h. vom Künstler selbst und darüber hinaus auch vom Betrachter in einem abschließenden superierenden und hierarchisierenden Interpretanten, also in einer Semiose steigender Semiotizität und Repräsentation […] abgefangen wird.” 17 Zur Deduktion, Induktion und Abduktion siehe Peirce (1992: 186-199), Deduction, Induction and Hypothesis von 1878, worin sich auch das legendäre Beispiel mit den Bohnen findet), bzw. zusammenfassend Nöth (2000: 67f.) oder Bense (1976: 100f.). Eine ausführliche Darstellung und Ausarbeitung findet sich in Eco (1999: 295-336). 18 Zur Zensur in Deutschland vgl. Ohmer 2000 und 2004. 19 Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) stuft pornographische Medien in Bezug auf § 15 Abs. 2 JuSchG immer noch als “schwer jugendgefährdend” ein: “Ein Medium ist pornographisch, wenn es unter Hintansetzen aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher Weise in den Vordergrund rückt und wenn seine objektive Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf Aufreizung des Sexualtriebes abzielt.” 20 Vgl. McClintock (1993: 224). 21 Quintilian (zit. n. Posselt 2005: 138): “Denn das Wesen der Metalepsis liegt darin, daß sich zwischen dem, was übertragen wird, und dem, worauf es übertragen wird, eine Art Mittelstufe findet, die selbst nichts bezeichnet, sondern nur einen Übergang bietet.” Rhetorik der Konkretisierung: Zur Darstellung von Gewalt in Hans Rosenplüts Wolfsgrube und Herrands von Wildonie Treuer Gattin Susanne Reichlin Die Darstellung von Gewalt ist in den spätmittelalterlichen Mären häufig mit der Konkretisierung von konventionalisierten Metaphern oder literarischen Topoi verknüpft. So fällt z.B. in der Wolfsgrube von Hans Rosenplüt neben dem Ehebrecher, der als Wolf bezeichnet wird, auch das gleichnamige Tier in die Grube. In der Treuen Gattin wiederum sticht sich die Ehefrau, nachdem ihr Mann ein Auge verloren hat, ebenfalls ein Auge aus, um die ‘Gleichheit’ der Liebenden zu restituieren. Die genauere Analyse solcher ‘Konkretisierungen’ macht deutlich, dass es dabei nicht um eine Rückführung einer ‘übertragenen’ auf eine ‘primäre’ Bedeutung geht, sondern um Prozesse der Analogisierung, Verschiebung und Überlagerung tradierter Sinnstiftungen, die so reflektiert und weiterentwickelt werden. Zugleich kann dieses Spiel mit der Übertragung und Verlagerung von Bedeutungsfeldern seinerseits historisiert werden, indem die durch die Konkretisierung implizierten normativen und epistemologischen Hierarchisierungen in den Blick genommen werden. Violence goes in late medieval short-stories, called Mären, often together with a ‘rhetoric of concreteness’, e.g. traditional metaphors are used in their corporeal meaning. After, in the Wolfsgrube from Hans Rosenplüt, the adulterer is called a wolf, the animal shows up and mixes with the plans of the betrayed husband. Later in the story the husband castrates the adulterer and turns his genitals into a piece of jewellery, which he then donates to the adulteress and her maiden. The literary tradition of the metonymic gift is so transformed into a corporeal and symbolic punishment. But the emphasis of the symbolic punishment results not from the merging of the two meanings, but from their displayed difference. Likewise the analysis of Die treue Gattin from Herrand von Wildonie shows, how the ‘rhetoric of concreteness’ doesn’t consist in the reduction of a metaphoric meaning to a literal one, but in the processes of generating analogies, as well as in the displacement and transference of traditional sayings. Der Mediävist Hans Fischer hat 1968 in einer einflussreichen Monographie eine Gruppe von Kurzerzählungen in spätmittelalterlichen Sammelhandschriften als Mären bezeichnet und als eigene Gattung bestimmt. 1 Obwohl die Texte z.T. dieselben Stoffe wie Boccaccios Novellen erzählen, wählt er nicht die Bezeichnung ‘mittelalterliche Novellistik’, sondern den mittelhochdeutschen Ausdruck ‘Märe’, um damit zu markieren, dass die Texte in ihrem eigenen Bezugshorizont zu verstehen sind und nicht im Vergleich mit den Novellen Boccaccios als defizitär abgewertet werden sollen. Die Gruppe der Texte, die er mittels eines nicht unproblematischen Klassifikationssystems 2 als Mären bestimmt, ist jedoch alles andere als homogen. Es finden sich darunter sowohl moralisch-exemplarische Erzählungen von einem ‘richtigen’ höfischen Verhalten als auch Geschichten von Sexualität, Gewalt und Betrug, die K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Susanne Reichlin 280 nicht oder nur ansatzweise didaktisch domestiziert werden. Es gibt Texte, die von der wahren, aber unerfüllten Liebe erzählen, und solche, die ihre Pointen mittels sexueller oder fäkaler Komik erzielen. Was die Texte jedoch übergreifend auszeichnet - wenn es sie auch nicht klassifikatorisch von anderen kleinepischen Formen abgrenzt -, ist ihr variantenreicher Zugriff auf überlieferte literarische Muster. Die Texte entstehen durch Variation und Rekombination eines Inventars an literarischen Topoi, Metaphern und Erzählmustern, das durch die klassische höfische Literatur ausgebildet und durch die Mären selektiert worden ist. Man kann diese Texte deshalb auch als serielle bezeichnen. Damit ist aber v.a. in den späten Sammelhandschriften ein kasuistisches Erzählprinzip verbunden: Dieselbe Frage oder derselbe Problemkomplex wird in verschiedenen Erzählungen aus unterschiedlichen Sichtweisen verhandelt. 3 Dieser Umgang mit überlieferten Erzählelementen könnte eine Möglichkeit darstellen, die Frage nach der historischen Entwicklung der Textgruppe weniger von inhaltlichen und stärker von formalen Kriterien her anzugehen. 4 Da diese große Entwicklung hier aber nicht skizziert werden kann, soll bei einem spezifischen Phänomen der Bezugnahme angesetzt werden, nämlich bei der Konkretisierung von überlieferten Topoi oder Metaphern. In all den verschiedenen Ausprägungen der Mären lässt sich die rhetorische Strategie beobachten, traditionelle Wendungen ‘beim Wort zu nehmen’. An zwei inhaltlich, zeitlich und vom Erzählmuster her weit auseinander liegenden Texten soll deshalb im Folgenden untersucht werden, wie sie überlieferte Erzählelemente konkretisieren und welche Effekte sie damit erzeugen. Zugleich ist zu klären, wie und ob überhaupt - ausgehend von den Texten - zwischen einem konkreten und einem übertragenen Sprechen unterschieden werden kann. In einem größeren Rahmen ist mit dieser Untersuchung die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen der Darstellung des Konkreten und der Konkretheit des Darstellens verbunden. Denn die Schilderung von so genanntem Konkretem wie Sexualität oder Gewalt kann - so ist man sich meist einig - nicht unabhängig von den Mitteln ihrer Darstellung analysiert werden. Die Umkehrung dieser Schlussfolgerung bereitet jedoch schon mehr Schwierigkeiten: Funktioniert eine ‘Rhetorik der Konkretisierung’ themenunabhängig oder ist sie zugleich auf die Emphase, die mit dargestellter körperlicher Gewalt einhergeht, angewiesen? Eine Untersuchung solcher Fragen steht unter dem Vorbehalt, dass sowohl die Konkretheit des Referenzobjekts, das die Medialität der Darstellung transzendiert, als auch die dem Signifikanten vorgängige konkrete Materialität den Rezipienten grundsätzlich entzogen bleibt. 5 Doch möchte ich hier nicht erneut dieses vieldiskutierte Entzugsverhältnis thematisieren, sondern nach den medienspezifischen und historischen Formen des Darstellens von Konkretem (hier insbesondere von Gewalt) fragen. Denn sobald man einzelne Darstellungen von Gewalt näher betrachtet, werden die vielschichtigen Bezüge sichtbar, die die Darstellung des Konkreten erst ermöglichen. Es wird deutlich, dass das Konkrete in narrativen Texten im Unterschied zu anderen Medien wie z.B. der Photographie 6 stärker prozessual gedacht werden muss. Konkretes realisiert sich - so kann für die hier analysierten Texte vorausgreifend postuliert werden - als textuelle Bewegung der Konkretisierung, die jedoch nur dank einer Abgrenzung von einem Abstrakten, Übertragenen oder Scheinhaften zu Stande kommt - eine Abgrenzung, die je nach Text diskursiv und semantisch anders besetzt wird und deshalb auch Möglichkeiten für eine Historisierung des Konkreten eröffnet. Rhetorik der Konkretisierung 281 1. Die Wolfsgrube von Hans Rosenplüt Ich beginne mit dem späteren der beiden Texte, der Wolfsgrube, die in fünf von sechs Handschriften dem Nürnberger Handwerkerdichter Hans Rosenplüt zugeschrieben wird. 7 Die Erzählung beginnt so, wie viele andere Mären enden, nämlich damit, dass ein edelman erfährt, dass seine Frau ihn in der kommenden Nacht mit dem Pfaffen betrügen will. Der Ehemann gräbt vor seiner Hintertür eine Grube, die er mit Ästen bedeckt und vor die er als Köder eine Gans hängt. Dann versteckt er sich mit seinem Knecht und beobachtet die Grube. Als erstes kommt ein Wolf, der sich die Gans schnappt und hineinfällt. Dann kommt der ehebrecherische Pfarrer, der über die Hintertür zur Frau schleichen möchte, und gleichfalls in die Falle tappt. Als der Pfarrer nicht kommt, schickt die Frau die Magd los, damit sie den Pfarrer hole. Auch sie fällt sogleich in die Grube. Da die Magd ausbleibt, fürchtet die Ehefrau, sie vergnüge sich mit dem Pfarrer; sie geht los und tappt ebenfalls in die Falle. Nun erst erklärt der Edelmann die Jagd für beendet. 8 Er lässt die Verwandten kommen und zeigt ihnen die Ehebrecher. Die Frau bittet um Vergebung und die Verwandten stiften in einer rechtlich konnotierten Aussprache zwischen den beiden Sippen “frid und sun” (V. 151). Obwohl die Verwandten auch für den Kleriker bitten (V. 157), lässt der Ehemann ihm dagegen beide Hoden abschneiden. Der eine wird an eine Kette geschmiedet und der Magd um den Hals gehängt. Den anderen hängt der Ehemann über das Ehebett und verlangt von seiner Frau, jeden Tag davor zu “lesen”, damit ihr ihr “unrecht” in Erinnerung bleibe (V. 177; 175). Diese Erzählung berichtet einerseits von handfester Gewalt, 9 verbindet dies aber andererseits mit einer ‘Rhetorik der Konkretisierung’, die so genannte ‘übertragene’ Bedeutungen beim Wort nimmt. Dies wird bereits am Beginn hörbar, als kurz von den Ehebruchsplänen der Frau berichtet wird: sein frau [des Adeligen, d.V.] sich heimlich des vermaß, das sie einem pfaffen zu ir zilt. dem wolt sie leihen iren schilt, darein man mit solchen spern sticht, davon man selten awee spricht. (V. 6-10) 10 In verschiedenen Mären wird die im Minnesang geläufige Metaphorik des Liebeskriegs aufgegriffen, um Sexualität darzustellen. Meist besteht der Witz der Szenen darin, dass die Metaphorik ausführlich entfaltet wird: Rüstung und Angriffe der beiden Kämpfenden werden detailliert beschrieben und dabei wird kontinuierlich mit der zugleich enthüllenden und verbergenden Zweideutigkeit der Sprachbilder gespielt. 11 In der Wolfsgrube ist hingegen der Liebeskrieg nur dann kurz Thema, als der geplante Ehebruch eingeführt wird. Dennoch wird auch hier - in einer eindeutigen Zweideutigkeit - vom Speer gesagt, er sei von einer solchen Art, dass man von ihm selten spreche (V. 10). Geradezu programmatisch wird somit zwischen unterschiedlichen Bedeutungsfeldern des Gesagten unterschieden und signalisiert, dass es hier nicht um ein militärisches, sondern um ein sexuelles Bedeutungs- oder Konnotationsfeld gehen soll. Durch dieses Explizit-machen des Nicht-Explizierten wird die Aufmerksamkeit der Lesenden darauf gerichtet, ob und wie das hier bloß Angedeutete in der Folge konkretisiert, bzw. näher beschrieben wird. Dieses Spiel mit verschiedenen Bedeutungsfeldern wird in der Folge anhand der titelgebenden Wolfsgrube fortgesetzt. 12 Der Ehemann erklärt dem Knecht, er hätte einen Wolf gesehen, der nach Gänsen spähe, und möchte diesem das Handwerk legen. (V. 23-25). Die Susanne Reichlin 282 übertragene Bedeutung dieser Aussagen ist weit verbreitet. In Anlehnung an Mt. 7.15 (die Rede vom “Wolf im Schafspelz”) wird in mehreren Mären der Ehebrecher mit einem Gänse reißenden Wolf verglichen, und auch die Identifizierung von Gans und Frau ist beliebt. 13 In der Wolfsgrube verknüpft der Ehemann die Rede vom Ehebrecher als Wolf mit der Jagdmetaphorik. Aus dem Fallen-Stellen (V. 124) ergibt sich die Rede vom gefangenen “wild[]” (V. 76) und vom “wilpret[]” (V. 97). Doch erneut wird hervorgehoben, dass die verschiedenen Bedeutungsebenen nicht widerspruchslos ineinander aufgehen: Die Magd, so der Ehemann, sei ein Wildbret, das man weder brät noch kocht. 14 Der Witz der Jagdmetaphorik besteht aber nicht nur im Changieren zwischen konkreter und übertragener Bedeutung, sondern auch in ihrer traditionell unterschiedlich besetzbaren Symbolik. Denn neben der konkreten Jagd auf Tiere und der übertragenen auf Ehebrecher 15 steht die Jagd im Minnesang und in der Folge auch in den Mären für die sexuelle Jagd. 16 Diese Konnotation ist so dominant, dass sie hier kaum ausgeblendet werden kann. Vielmehr scheinen wir es mit einem hinterlistigen Erzählen zu tun zu haben, das bei der Rache des Ehemannes immer auch die Schande (den Ehebruch)präsent hält, die die Rache nötig gemacht hat. In diesen Szenen zielt der Text nicht auf ein kohärentes Ineinander-Aufgehen von konkreter und übertragener Bedeutung, sondern auf die dissonante Überlagerung verschiedener intertextuell ausgebildeter Bedeutungsfelder. Diese dissonante Überlagerung wird noch dadurch gesteigert, dass als erstes ein Wolf in die Falle des Ehemannes geht. Die Rede vom Wolf im Schafspelz wird somit handlungsweltlich konkretisiert: Statt dem in der Rede des Ehemannes primär intendierten übertragenen Signifikat (Ehebrecher) fällt das wörtliche (Wolf) in die Grube. Dadurch wird aber keineswegs das Bedeutungsspektrum auf die konkrete Bedeutung festgelegt, weil gleich darauf auch der Ehebrecher gefangen wird. Es liegen sodann der konkrete und der übertragene Referent nebeneinander in der Grube. Dies wird in der Folge für weitere Übertragungen genutzt: Der Ehemann sagt zu seinen Verwandten, er hätte “drei menschen und ein wildes tier” gefangen (V. 136). Der Wolf (bzw. der Signifikant ‘Wolf’), der zuerst als bloß metaphorischer Signifikant eingeführt wurde und dann pointenreich zu einem konkreten Gegenstand der Handlung wurde, wird so erneut in einen symbolischen Übertragungsprozess hineingezogen: Seine kulturelle Symbolik als reißerisches Raubtier wird aktualisiert und auf die drei Menschen in der Grube übertragen, um sie zu desavouieren. Das Märe interessiert sich somit für den Wolf weder in seiner konkreten noch in seiner übertragenen Bedeutung, sondern für die Verschiebungen zwischen den verschiedenen Bedeutungsfeldern, die dank des Signifikanten ‘Wolf’ vorgenommen werden können. Diese Verschiebungen sind deshalb so wirkungsvoll, weil sie nicht nur die symbolische Ökonomie des Erzählten, sondern auch die Handlungswelt betreffen. Auch die anderen Figuren der Erzählung schildern ihre Situation in einer übertragenen Sprechweise. Der in die Grube gefallene Pfaffe meint, dass ein teuflischer Koch ihm das Essen gehörig versalzen habe (V. 66-69) und die Ehefrau schickt die Magd mit der Forderung los, der Pfaffe solle kommen, solange der Krämer noch offen habe und die Ware noch käuflich sei (V. 87-89). Die (mehrfach besetzte) Jagdmetaphorik wird somit in Bezug zu anderen Bildfeldern gesetzt, die - im Falle des Kochs - dasselbe Geschehen aus einer anderen Perspektive darstellen. Dabei ergeben sich bildliche Verbindungen zwischen der versalzenen Suppe des Pfaffen und dem Wildpret des Ehemannes, das sich nicht kochen lässt. Ähnlich wie bei der Jagdmetaphorik, die gleichzeitig die sexuelle Jagd und die Jagd auf den Ehebrecher konnotiert, werden auch hier Ehemann und Ehebrecher einander angeglichen: Beide erscheinen als Verlierer, die den erstrebten Genuss nicht erreichen können. Während jedoch Rhetorik der Konkretisierung 283 dem Pfaffen die Suppe von einem Dritten versalzen wird, hat der Ehemann etwas erjagt, das er nicht seinen Wünschen entsprechend zubereiten kann. Die Krämermetaphorik der Ehefrau wiederum spielt auf das in anderen Erzählungen beliebte Erzählmuster an, bei dem der Ehebrecher sich den Ehebruch mittels Geschenken (Geld oder Wertgegenstände) erwirbt. Mit der Krämermetaphorik wird so konnotativ auf den Teil der Handlungsfolge angespielt, der gewöhnlich im Zentrum der meisten Ehebruchsschwänke steht: Die Anbahnung des außerehelichen Liebesverhältnisses, die Strategien, mit denen der Ehebruch zu verdecken versucht wird, und die Aufdeckung des Ehebruches durch den Ehemann. 17 Bei Rosenplüt wird dieser Hauptteil der meisten Schwankerzählungen auf die metaphorische Ebene verschoben, wo ihr jedoch zugleich auch eine paradigmatische Funktion zukommt: Sie weist auf das Ende voraus, wo der literarischen Tradition der Liebesgabe, mittels derer sich der Freier ein Stelldichein erkauft, erneut eine wichtige Rolle zukommt. In dieser Schlussszene geht es zwar weiterhin um die Verschiebungen zwischen konkreten und übertragenen Bedeutungen, doch wird diesmal von gegenständlichen Körperteilen ausgegangen. Der Ehemann schneidet dem Pfaffen die Hoden ab und verarbeitet sie zu Schmuckstücken. 18 Der eine Hoden wird als Anhänger an eine Kette geschmiedet, der andere zu einem Objekt verarbeitet, das sich an die Wand hängen lässt. 19 Die abgeschnittenen Hoden sind somit einerseits Resultat eines körperlichen Gewaltaktes und halten diesen indexikalisch präsent, andererseits werden sie durch die Verarbeitung symbolisch neu aufgeladen. Der Kettenanhänger verweist auf die topischen Liebesgaben (‘kleinât’), die Frauen in höfisch ausgerichteten Erzählungen als Liebeszeichen erhalten. 20 Das Schmuckstück, das gewöhnlich Teil der Liebeskommunikation ist, wird so vorab mit den Folgen des Ehebruchs kontaminiert. Dadurch wird der Symbolbereich der Liebeskommunikation mit den materiellen Spuren des Ehebruchs überschrieben und seiner Eindeutigkeit beraubt (i.e. Liebesgaben können künftig nicht mehr nur ‘reine’ Liebe bedeuten, sondern erinnern an den Ehebruch). Da Liebesgaben in den Mären jedoch nicht nur unschuldige Liebeszeichen sind, sondern oft auch Tauschobjekt, um minne materiell zu erwerben, steht der Kettenanhänger auf der Erzählebene zugleich für die Käuflichkeit der Frau. Er deutet an - was ebenfalls aufgrund der knappen Erzählweise ausgespart worden ist, aber typisches Handlungsmuster vieler Mären ist -, dass die Frau sich die Hilfs- und Kupplerdienste der Magd möglicherweise mittels Geld erkauft hat. 21 Erneut werden so zentrale Handlungselemente anderer Ehebruchsmären nicht mehr auf der Handlungsebene erzählt, sondern nur noch konnotativ eingespeist - mit dem Effekt, dass die Auseinandersetzung mit der Erzähltradition nicht mehr primär durch die Rekombination von Erzählmustern geschieht, sondern auf der Ebene von sich überlagernden Bedeutungs- und Konnotationsfeldern stattfindet. Auch beim zweiten Schmuckstück besteht die Pointe darin, dass dessen indexikalischmaterielle und dessen symbolische Bedeutungen eine intrikate Mischung ergeben: Der Hoden wird im Schlafzimmer über das Bett gehängt, und die ehebrechende Frau soll jeden Tag davor “lesen”. Der Hoden nimmt so geradezu den Platz des Kruzifixes oder eines anderen privaten Andachtsobjektes ein. Denn “lesen” (V. 177) steht in diesem Kontext wohl primär für das Lesen des Psalters oder des Stundenbuchs, wozu auch die Blickbeziehung zu einem Andachtsobjekt gehört. Beim zweiten Schmuckstück wird somit nicht die Liebeskommunikation, sondern die private Kommunikation mit Gott mit den Folgen des Ehebruchs kontaminiert. Damit wird die Frau einerseits daran erinnert, aufgrund ihrer Sünde besonders intensiv für ihr Seelenheil zu beten. Andererseits wird aber auch das tägliche Gebet von der Erinnerung an die eine Sünde dominiert, und der Ehemann oder - stärker diskursgeschichtlich formuliert - die Ehenorm verschafft sich Zugang zu einem Bereich der Innerlichkeit und private Frömmig- Susanne Reichlin 284 keit, der an sich nur schlecht kontrolliert werden kann. Im Unterschied zum Pfaffen, der nach dem Prinzip des ius talionis bestraft wird, 22 zielt die Bestrafung der beiden Frauen gerade auf die Überschreitung einer solchen rückwärtsgewandten Spiegelstrafe. Der Ehebruch wird in den Objekten nicht repräsentiert, sondern diese zielen auf eine materielle Einschreibung des Vergangenen in Zeichenprozesse der Zukunft. Am Beginn der Wolfsgrube wird mittels der Differenz zwischen vordergründig übertragenem Reden und dessen Rekonkretisierung den Rezipienten suggeriert, das ‘Reden’ bzw. Erzählen ließe sich auf ein Nicht-Sprachliches hin überschreiten. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird jedoch deutlich, dass die Sprache nicht auf etwas Konkretes hin transzendiert werden soll, sondern die Differenz zwischen übertragenem und konkretem Sprechen produktiv gemacht wird, indem sie Verschiebungen und Projektionen zwischen verschiedenen Konnotationsfeldern sowie deren Überlagerung ermöglicht. So besteht die Pointe beim Wolf nicht nur darin, dass die gegenständliche Bedeutung einer konventionalisierten Redeweise sichtbar gemacht wird, sondern darin, dass die vordergründig semantische Bewegung der Rekonkretisierung die Handlungsebene prägt: Der Wolf ist nicht nur Element der Erzählebene (discours), sondern plötzlich auch Teil der Handlungswelt (histoire). Im zweiten Teil wiederum löst der konkrete Wolf (V. 136) auf der Handlungsebene eine neue Übertragungsbewegung aus, die abschließend dazu dient, den Wolf zum Sinnbild eines (zu verurteilenden) Verhaltens zu machen. Betrachtet man jedoch nicht nur den Wolf, sondern auch die damit verknüpfte Jagdmetaphorik, stößt man mit einem dualen Modell von konkreter und übertragener Bedeutung schnell an Grenzen. 23 Denn die Jagd aktualisiert in dieser Erzählung sowohl verschiedene übertragene Bedeutungsfelder (sexuelle Jagd; Jagd auf den Ehebrecher) als auch verschiedene gegenständliche Formen der Jagd (Jagd als ‘Fallen-Stellen’; Jagd im Wald). Diese verschiedenen Bedeutungsfelder der Jagd gehen nicht stimmig ineinander auf, sondern erzeugen Inkongruenzen, die z.T. gezielt hervorgehoben werden. Dadurch kann einerseits Komik und eine die Figuren desavouierende Zweideutigkeit erzeugt werden. Andererseits stehen die verschiedenen Bedeutungsfelder auch für verschiedene literarische Traditionen von Erzählmustern und Topoi, die durch die Konfrontation der Bedeutungsfelder als literarische Muster reflektiert werden. Von einem theoretischen Standpunkt aus, insbesondere in Bezug auf die Metapherntheorie, muss zweifelsohne betont werden, dass weder der wörtlichen noch der übertragenen Bedeutung ein Primat zukommt, sondern dass es sich dabei um verschiedene, prinzipiell gleichrangige Bedeutungssysteme handelt. Blickt man dagegen auf die Texte, lassen sich (historisch spezifische) Hierarchisierungen der verschiedenen Bedeutungsfelder beobachten. In der Wolfsgrube werden z.B. gewohnte oder wahrscheinliche gegen ungewohnte oder weniger wahrscheinliche Bedeutungen ausgespielt. Ebenso wird in narrativer und persuasiver Hinsicht den materiellen Bedeutungen eine höhere Evidenzkraft zugeschrieben als den ungegenständlichen. Solche Hierarchisierungen gilt es historisch auszuwerten. Diskursgeschichtlich ist z.B. nach den semantischen Besetzungen des Konkreten und Übertragenen, aber auch nach den mit einer solchen Unterscheidung einhergehenden epistemischen Implikationen zu fragen. Literaturhistorisch wiederum ist zu beobachten, auf welch unterschiedliche Weise mit solchen Konkretisierungs- und Übertragungsbewegungen Bedeutungssysteme miteinander verknüpft werden und welche Reflexionsfiguren damit verbunden sind. Blickt man deshalb nochmals zurück auf die Wolfsgrube, so lässt sich das Verhältnis des ersten zum zweiten Teil als eine Art Reflexionsfigur auf den Prozess der Konkretisierung hin lesen. Im ersten Teil der Erzählung, bei der Gefangennahme der Ehebrecher, bildet die Figurenrede den Ausgangspunkt eines Prozesses des Konkretisierens, der sich auf die Rhetorik der Konkretisierung 285 Handlungswelt auswirkt. Im zweiten Teil dagegen, bei der Bestrafung der Ehebrecher, spielt die Figurenrede keine Rolle mehr, sondern der Übertragungsprozess geht von den Handlungen des Ehemannes aus. Die Hoden des Ehebrechers werden vom Ehemann in der Handlungswelt gewaltsam isoliert und dadurch sowohl in der Handlungswelt als auch auf der Erzählebene zu Signifikanten gemacht, denen durch die Verarbeitung neue Bedeutungsfelder eingeschrieben werden. 24 Bezieht man diese beiden Teile der Erzählung aufeinander, so wird deutlich, dass die im ersten Teil beobachtete ‘Rhetorik der Konkretisierung’ nicht unabhängig vom Signifikant gedacht werden darf, dessen Materialität und dessen Herstellung die Bedeutungsprozesse, in die er verstrickt wird, mitbestimmen. Umgekehrt darf aber auch nicht die den Signifikanten materiell eingeschriebene indexikalische Bedeutung als das ‘eigentlich’ Konkrete verstanden werden, da dieses - wie der Blick auf den ersten Teil zeigt - immer auch bereits als Auseinandersetzung mit literarischen Topoi und Motiven gelesen werden muss. 25 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Erzählung sich in einem selbstreferentiellen Spiel verstrickt, dem keine den literarischen Diskurs überschreitende Relevanz zukommt. Denn die erzählerische Intensität, die durch die Übertragungs- und Konkretisierungsprozesse erzeugt wird, steht offensichtlich auch im Dienste von nicht-literarischen Diskursen, die an der Profilierung und Sicherung von Ehe- und Geschlechternormen interessiert sind. Dies wird u.a. am Epimythion erkennbar. Der Erzähler sagt, er schenke diese Erzählung “allen reinen frauen” (V. 179), damit sie sich an diese Begebenheit erinnern und dadurch ihre Ehre in Zukunft nicht gefährden (V. 180-193). Indem er die Erzählung als Geschenk präsentiert, das den Ehebruch verhindern soll, wird die Erzählung mit dem Kettenanhänger und dem Andachtsobjekt, die der Ehemann den beiden Frauen gibt, parallelisiert. Die Erzählung erscheint damit ebenfalls als eine Erziehungsmaßnahme, die über den Verweis auf Vergangenes zukünftige Handlungen zu beeinflussen sucht. Zumindest für die nachgeborenen Rezipienten 26 wird hörbar, dass die durch Übertragungs- und Konkretisierungsvorgänge erzeugte Intensität auch diskursive Gewalt ausüben kann. 2. Die treue Gattin von Herrand von Wildonie Im Folgenden sollen die Konkretisierungs- und Übertragungsprozesse anhand einer weiteren Geschichte analysiert werden, die thematisch einem ganz anderen Themenbereich zuzuordnen ist. Herrands von Wildonie Erzählung Die treue Gattin 27 berichtet von der ‘wahren Liebe’ eines Ehepaars. Die Erzählung gehört zu den Texten, die Hans Fischer als “höfisch-galante Mären” bezeichnet hat. Gemäß Fischer stehen diese Texte in der Tradition des höfischen Romans und berichten von der “Bewährung” der Helden auf dem Feld “der beiden courtoisen Kardinaltugenden chevalerie und amour” (Fischer 1983: 109). Davon ausgehend kann man die Erzählung zugleich als Teil einer literarischen Tradition ansehen, die damit experimentiert, wie Liebe erzählend dargestellt, d.h. wie etwas nicht per se Sichtbares narrativ wahrnehmbar gemacht wird. Die Erzählung Die treue Gattin beginnt mit der topischen Schilderung eines perfekten Ehepaares. 28 Der Erzähler beschreibt zuerst die Schönheit der Frau (V. 25-37), mit der zugleich höchste Tugendhaftigkeit einhergeht. Dann wechselt der Erzähler zur Beschreibung des Mannes, aber bricht hier sogleich mit den Erwartungen der Rezipienten. Er beschreibt rhetorisch effektiv die Hässlichkeit des Mannes (V. 41-47). Diese Hässlichkeit wird jedoch - wie der Erzähler anfügt - weder von der Frau noch von der Umgebung des Ritters groß beachtet, weil seine Tugendhaftigkeit alles überstrahlt. Susanne Reichlin 286 Der tugendhafte Ehemann zieht in einen Krieg und ihm wird von einem ‘Neider’ ein Auge ausgestochen. Der Ritter leidet nicht am physischen Schmerz, aber daran, dass diese Verletzung seiner Frau Schmerz bereiten wird (V. 89-94). Er schickt seinen Neffen als Boten zu seiner Frau und lässt ausrichten, dass er bisher schon “niht ein flætic man” (V. 103) 29 gewesen, jetzt aber so verstümmelt sei, dass er ihr für immer fernbleiben wolle. Er würde sonst “ir sch? nem lîbe, ir varwe klâr” nur eine “marter” (V.121f.) sein. Die Frau erschrickt und sagt dem Boten, sie wolle ihm ein “kleinât” (V. 185) für ihren Mann mitgeben. Sie geht in ihre Kammer und sticht sich ein Auge aus. Sie bringt dem Boten blutüberströmt das Auge und sagt, wenn ihr Mann glaube, sie sei weiterhin zu schön (“ze wolgetân”, V. 200) für ihn, dann werde sie sich noch das zweite ausstechen. Der Ehemann ist entsetzt, doch ein Bekannter sagt ihm, er solle sich freuen, dies sei ein Treuebeweis (V. 229f.). Er stimmt dem zu und kehrt zu seiner Frau zurück. Der Erzähler schließt damit, dass viele, die die Frau bis dahin wegen ihrer Schönheit gerne angesehen hatten, sie nun wegen ihrer Treue noch lieber ansehen würden. 30 Bei allen Differenzen zur Wolfsgrube fällt doch auf, dass beide Texte grundsätzlich durch die Konkretisierung von übertragenen Redeweisen geprägt sind. Wie zu zeigen sein wird, kann das ausgestochene Auge in der Treuen Gattin als Konkretisierung dreier literarischer Liebeskonzeptionen gelesen werden, die dadurch thematisiert und reflektiert werden: Das dem Boten mitgegebene Auge, das von der Frau als “kleinât” (V. 185) bezeichnet wird, ruft erstens die Tradition der Liebesgabe auf. 31 Denn in vielen höfischen Liebeserzählungen werden Liebesgaben dahingehend inszeniert, dass der Liebende in dem von ihm verschenkten Objekt (metonymisch) präsent ist. Indem z.B. das Objekt dem Schenkenden gehört (hat) und sich aufgrund seiner Singularität von anderen Objekten unterscheidet, verweist es nicht nur auf den Schenkenden, sondern dieser scheint geradezu einen Teil von sich wegzugeben und dadurch trotz körperlicher Entfernung der Geliebten nah zu bleiben. 32 In der Treuen Gattin wird diese metonymische Relation nun als eine körperliche realisiert. Wenn die Ehefrau sich das Auge aussticht, gibt sie dem Boten ganz wörtlich einen Teil von sich mit auf den Weg. Doch im Unterschied zu den meisten metonymischen Liebesgaben ist an ihrem Körper sichtbar, dass ihr etwas fehlt. Die Konkretisierung der metonymischen Relation macht sichtbar, dass die metonymische Operation zwar dank der Suggestion einer materiellen Relation Emphase erzeugt, dass sie sich aber dennoch von einer körperlichen Gabe unterscheidet. 33 Mit der Selbstverstümmelung der Frau wird zum zweiten aber auch auf das Liebesideal der Verausgabung angespielt. Wenn die Ehefrau sich wünscht, dass das Unglück sie getroffen hätte (V. 175-178), und sie zugleich sagt “wan âne in sô bin ich tôt” (V. 182), 34 dann wird in z.T. topischen Formeln auf eine Liebeskonzeption der absoluten Liebe angespielt: Die Liebenden erfahren sich als eine Einheit und dementsprechend kann der eine Liebende auch ohne den anderen nicht leben. 35 Jeglicher Wert, jeglicher Sinn entsteht erst durch den Bezug zum anderen Liebenden (Horizontübernahme) und deshalb ist der eine Liebende immer bereit, sich für die Liebe bzw. den anderen Liebenden aufzugeben. Mehrere höfisch-galante Mären konkretisieren dieses Liebesideal, das v.a. durch den Tristan Gottfrieds geprägt worden ist, mittels der Schilderung des Liebestodes. 36 Der wirkliche oder geglaubte Tod des einen Liebenden führt zum Tod des anderen. Die postulierte Einheit der Liebenden zeigt sich daran, dass die Trennung nicht überlebt, aber durch den Tod überwunden wird. In der Treuen Gattin wird jedoch bei der Verstümmelung der Frau der Fokus nicht (wie in den meisten Liebestod-Erzählungen) auf die chiastische Zwei-Einheit der Liebenden, sondern auf die Verausgabung gelegt. 37 Die absichtliche Verletzung der Frau ‘beweist’ (“erzeiget”) - gemäß dem Text - ihre “triuwe” (V. 229f.). Das heißt, es wird körperlich manifest, dass die Frau Rhetorik der Konkretisierung 287 keinen eigenen Wert und kein autonomes Begehren hat, sondern diese immer vom Ehemann und dessen Befinden abhängig sind. 38 Dies wird einerseits als vorbildhaftes Verhalten dargestellt, andererseits wird erkennbar, dass die ideale Verausgabung keineswegs geschlechtlich neutral ist, sondern primär von der Frau gefordert wird. Dementsprechend wird die drohende Trennung nicht wie in vielen Liebestodgeschichten durch die Gesellschaft oder unbeeinflussbare Umstände erzwungen, sondern kommt durch eine vom Text als Fehleinschätzung gezeichnete Überzeugung des Mannes zustande. Er misst der äußerlichen Erscheinung bzw. dem Liebesideal der äußeren Gleichheit zu viel Gewicht zu, was zu einer - gemäß dem Normhorizont des Textes - unnötigen Verausgabung führt. 39 Damit ist bereits der dritte Liebestopos angesprochen, der mittels des ausgestochenen Auges konkretisiert wird, nämlich die Gleichheit der Liebenden. In vielen höfischen Liebeserzählungen spiegelt sich die Schönheit des einen Liebenden in der des anderen. Manchmal sind die Liebenden am gleichen Tag geboren oder tragen ähnliche Namen. Oft ist die Gleichheit aber auch eine ungegenständliche: Die beiden Liebenden empfinden ähnlich, handeln auch getrennt voneinander gleich oder werden mittels paralleler Formulierungen beschrieben. 40 Diese Symmetrie-Erscheinungen wollen narrativ evident machen, dass die Liebenden füreinander bestimmt sind. Dementsprechend ist es unabdingbar, dass die handlungsweltlichen Gleichheits-Merkmale nicht von den Liebenden selbst erzeugt werden, sondern ihre Verursachung durch eine providente Macht bewirkt wird oder dieser zugeschrieben werden kann. In der Treuen Gattin ist das Liebesbzw. Eheideal der Gleichheit von Beginn an Thema: Die beiden Ehepartner gleichen sich darin, dass beide vollkommen tugendhaft sind und die gleiche aufopfernde Haltung dem anderen gegenüber einnehmen. Beide denken nach dem Unglück des ausgestochenen Auges in erster Linie an den Schmerz des anderen. Den Ritter bekümmert, dass seine Frau betrübt sein wird (V. 90-94), die Frau betont, dass sein Schmerz auch der ihre ist (V. 158f.). 41 Ebenso gründet die zentrale Problemkonstellation der Erzählung auf diesem Liebesideal, das in Bezug auf das Aussehen der beiden Ehepartner nicht erfüllt ist. Der tugendhafte Ehemann ist im Unterschied zur tugendhaften Frau hässlich. Die Erzählung nutzt diese punktuelle Nichtübereinstimmung, um innere gegen äußere Werte auszuspielen: Was zählt, so der moralisierende Tenor der Erzählung, sind einzig die inneren Werte. Dementsprechend empfindet die vorbildhafte Frau ihren Mann nicht als hässlich, sondern “er dûhte sî sch? ne als Absolôn / und sterker danne Sampsôn” (V. 49f.). 42 Äußere Werte, so der Erzähler bereits zu Beginn, gelten nur dann, wenn sie an innere Werte gekoppelt sind. 43 Ihr Mangel kann jederzeit durch innere Werte wettgemacht werden, wie bereits am Beginn in Bezug auf den Ehemann konstatiert wird. 44 Dies wird am Ende erneut bekräftigt, wenn die einäugige Ehefrau dem Erzähler zufolge lieber angesehen wird als die anfänglich makellose, weil sie ihre “triuwe […] erzeiget het” (V. 268f.). 45 Doch diese eindeutigen Aussagen des Erzählers werden dadurch konterkariert, dass es gerade die äußerliche Verstümmelung, aber auch die äußere Angleichung ist, die sowohl den Ehemann als auch die Rezipienten von der Treue und damit den inneren Werten der Frau überzeugt. Intradiegetisch wird so die innerliche Liebe erst dank ihrer Veräußerlichung zur gesicherten Evidenz. Analog plädiert die Erzählung zwar mit all ihrer narrativen Kraft für das Primat der inneren Werte, auf die sich die liebenden Eheleute unabhängig vom äußeren Schein konzentrieren sollen. Doch die narrative Evidenz dieser Position wird durch die körperliche Konkretisierung der Liebesideale der Symmetrie und der Verausgabung erzeugt und gründet damit auf der körperlichen Darstellung von als innerlich postulierten Werten. Susanne Reichlin 288 Man kann dies als grundsätzliche Paradoxie eines nicht-körperlichen Wertes lesen, da dieser nur mittels Medien thematisiert werden kann, die wiederum aufgrund ihrer materiellen Eigengesetzlichkeit die Konzeption eines von jeglicher Körperlichkeit unabhängigen Wertes untergraben. Zugleich lassen sich daraus aber auch spezifischere Schlüsse für das Märe ziehen. Die treue Gattin ist Teil einer Gruppe von höfisch-galanten Mären, die die Innerlichkeit der Liebe propagieren, dies aber narrativ mittels der körperlichen Konkretisierung von Liebestopoi bewerkstelligen (insbesondere Liebestod und somatische Symptome). Die Steigerung der Innerlichkeit wird somit erstens durch eine Veräußerlichung der Liebesdarstellung erreicht. Zweitens wird aber auch erst durch das In-Szene-Setzen von Verinnerlichungs- und Veräußerlichungsprozessen eine Vorstellung von ‘Innen’ und ‘Außen’ als zwei voneinander unabhängigen Bereichen etabliert. Dass eine solche Vorstellung nicht per se gegeben ist, macht der Vergleich mit dem denselben Stoff erzählenden Märe Das Auge deutlich. 46 Wenn sich die Frau hier ein Auge aussticht, geht es um die Wiederherstellung einer Liebeseinheit, die durch den “zwivel” des Mannes gestört worden ist. 47 Es fehlt im Vergleich mit der Treuen Gattin die Entgegensetzung von äußeren und inneren Werten, so z.B. der Erzählerkommentar bei der Schönheitsbeschreibung der Frau (Treue Gattin, V. 28-30) sowie am Ende die Bemerkung zur gesteigerten Schönheit der verstümmelten Frau (V. 265-272). Dieser Vergleich zeigt, dass dem Konkreten sowie den Prozessen der Konkretisierung je nach dem dahinter liegenden epistemischen System eine andere Rolle und Bedeutung zukommt. 48 Während im Auge durch die Konkretisierung der Liebesideale eine bedrohte körperlichseelische Einheit wiederhergestellt wird, wird in der Treuen Gattin eine Liebeskonzeption der Innerlichkeit mittels einer spurhaften Veräußerlichung der Liebe dargestellt. 49 Im Unterschied zu den rekonkretisierten Elementen der Wolfsgrube handelt es sich bei denen der Treuen Gattin nicht bloß um abgeschliffene Metaphern oder literarische Topoi, sondern um Liebeskonzeptionen, die Inhalt und Form eines Textes prägen. Denn Liebesideale wie die Verausgabung oder die Gleichheit der Liebenden werden nicht nur wahlweise zur Darstellung eines Stoffes herangezogen, sondern strukturieren diesen formal und generieren ihn inhaltlich. Dadurch wird in der Treuen Gattin erkennbar - was aber prinzipiell auch für die Beispiele der Wolfsgrube gilt -, dass es sich sowohl bei der Übertragung als auch bei ihrer Rekonkretisierung um textuelle Bewegungen handelt, denen man mittels einer statischen Analyse der Semantik nicht gerecht wird, weil sie immer auch narratologische Implikationen haben. Zugleich könnte dies aber auch erklären, weshalb der Vorgang der Konkretisierung sich so gut dazu eignet, überlieferte Topoi und Erzählweisen zu thematisieren und zu reflektieren. 3. Resümee Trotz der unterschiedlichen Erzählmuster und normativen Tendenzen gleichen sich die Wolfsgrube und Die Treue Gattin darin, dass sie übertragene Redeweisen konkretisieren. Traditionelle Metaphern und Topoi der höfischen Literatur werden ‘beim Wort genommen’ und körperlich in Szene gesetzt. Dabei geht es den Texten aber nicht um einen Rückgang auf eine wie auch immer geartete primäre Bedeutung, sondern vielmehr um die Bewegung des Verschiebens von Bedeutungsfeldern bzw. die Projektion eines Bedeutungsfeldes auf ein anderes. Denn damit werden u.a. Inkongruenzen und Erwartungsbrüche erzeugt, die wiederum komische Effekte haben können; es werden Topoi oder Semantiken umbesetzt und so überlieferte literarische Muster reflektiert. Zugleich werden dadurch neue Handlungselemente Rhetorik der Konkretisierung 289 gewonnen. Denn mit der Rekonkretisierung ist ein Ebenenwechsel verbunden (von der semantischen auf die Handlungsebene), der Auswirkungen auf die Handlungswelt hat. Die beiden untersuchten Mären setzen solche Konkretisierungs- und Übertragungseffekte jedoch zu unterschiedlichen Zwecken ein und gehen dabei auch in verschiedener Weise mit den überlieferten literarischen Mustern um. Die dem 15. Jahrhundert entstammende Wolfsgrube lässt sich in dieser Hinsicht relativ leicht historisch verorten: Der Text steht in seinem Umgang mit den literarischen Topoi deutlich für eine späte - typische Nürnbergerische - Entwicklung des Märenerzählens. Die literarischen Topoi, die ausgewählt und umbesetzt werden, entstammen fast alle der Tradition des Märenerzählens und nicht wie bei der Treuen Gattin der höfischen Literatur. Die knappe Erzählweise setzt voraus, dass der typische Erzählverlauf des Ehebruchschwankes bekannt ist, denn traditionell zentrale Handlungselemente werden nur noch auf der metaphorischen Ebene angedeutet und nicht mehr erzählt. Dabei rufen sich die Konkretisierungs- und die Übertragungsbewegung gegenseitig geradezu hervor: Denn um etwas als etwas Konkretes zu präsentieren, wird es gewöhnlich aus dem Erzählgeschehen hervorgehoben und dadurch isoliert. Genau diese Isolierung bereitet aber - wie anhand der Schmuckstücke deutlich wurde - eine zukünftige Übertragungsbewegung vor, da die Isolierung etwas aus dem Kontinuum herausstellt und so zu einem möglichen Signifikanten macht. Durch solche Umschlagseffekte wird ein syntagmatischer Sog erzeugt. Bei jedem Konkretisierungs- oder Übertragungsprozess bleiben die bereits aktualisierten Bedeutungsfelder am Signifikant haften und interagieren mit dem neuen Kontext und dessen semantischen Werten. Dies alles untermauert, dass das Konkrete (zumindest in den hier untersuchten Erzählungen) nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern als Teil von sich bedingenden Konkretisierungs- und Übertragungsprozessen zu verstehen ist. Die historische Einbettung der Treuen Gattin Herrands von Wildonie bereitet mehr Probleme als die der Wolfsgrube. Bereits die Ausgangsbedingungen sind schwieriger, da der im 13. Jahrhundert entstandene Text nur in einer Fassung des 16. Jahrhunderts überliefert ist, so dass unklar bleibt, ob und welche Veränderungen gegenüber dem Text des 13. Jahrhunderts vorgenommen wurden. Dennoch fällt auf, dass im Unterschied zur Wolfsgrube fast immer auf höfische Erzählelemente zurückgegriffen wird. Mittels der Konkretisierung werden ganze Handlungsmuster zu einzelnen Bildern verdichtet und dadurch können auch ausgedehnte Handlungsmuster des epischen Erzählens in die Kurzerzählung integriert werden. In der Treuen Gattin wird diese Technik ihrerseits nochmals verdichtet, indem das ausgestochene Auge als Konkretisierung von mehreren unterschiedlichen höfischen Erzählmustern lesbar wird. Dennoch gehen diese verschiedenen Traditionsstränge auch im höfisch-galanten Märe nicht kohärent ineinander auf, sondern werden mittels dissonanter Zwischentöne je einzeln reflektiert. Stärker noch als bei der Wolfsgrube wird dabei deutlich, dass die konkrete Bedeutungsebene eine sekundäre ist, die sich ohne die vorangehende Erzähltradition nicht verstehen lässt. Die Konkretisierung ist jedoch auch in der Treuen Gattin nicht der Zielpunkt, sondern führt zu neuen Übertragungen. Dabei werden die Bewegungen des Konkretisierens- und Übertragens mit einem spezifischen Körpermodell korreliert: Die Übertragung erscheint als Verinnerlichung, die jedoch erst durch die Konkretisierung - im Sinne einer Veräußerlichung des Inneren - wahrnehmbar und darstellbar wird. Diese Korrelation hat - so kann man vermuten - langfristig zur Folge, dass die Evidenz des Körperlichen neu zur Disposition steht. 50 Dagegen wird in der Wolfsgrube den Prozessen der Konkretisierung eine eigene Evidenz und Memoria-Funktion zugeschrieben. Sie werden sowohl in der Handlungswelt als auch gegenüber den Rezipierenden dazu benutzt, Ehenormen in zukünftige Handlungen einzuschreiben. 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Fischer 1966: XII; Ortmann/ Ragotzky (1988: 108f.); zum kasuistischen Erzählen Friedrich (2005: 231f.); zum Kasuistischen in den Sammelhandschriften Westphal (1993: 20-59, 67-80 u. ö.). 4 Vgl. den überzeugenden, aber stark inhaltlich ausgerichteten Versuch einer Gattungsgeschichte von Grubmüller (2006: 77-248). 5 Vgl. Mersch (2001: 283-381). Vgl. auch die frühen Texte Barthes’, der in literarischen Texten den “effet de réel” als eine “referentielle Illusion” beschreibt. Die funktionslosen Elemente einer Beschreibung würden einen solchen Effekt auslösen, weil sie konnotativ Wirklichkeit einspielten (Barthes 2006: 171). 6 Von der Photographie ausgehend wird sogenanntes Konkretes vielfach als indexikalische Spur konzipiert; vgl. Barthes (1989: 73-131). 7 Rosenplüt lebte in Nürnberg von ca. 1400-1460. Er hat ein relativ umfangreiches und charakteristisches Werk an Sprüchen, Fastnachtsspielen, geistlichen und weltlichen Erzählungen sowie Liedern hinterlassen; vgl. dazu: Glier 1992; Glier 1988; Reichel (1985: 59-153). Zitiert wird nach Fischer (1966: 202-209), der der Leithandschrift Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Cod. 5339a (datiert auf 1471-1473) folgt; vgl. zu dieser Handschrift und zur Überlieferung Fischer (1966: 202); Reichel (1985: 29, 50, 54, 56f.); Westphal (1993: 97-100, 213-217). Die Übersetzungen lehnen sich an die Übersetzung von Spiewok (1982: 76-80) an. 8 V. 122f.: “nu hab wir es gar. / nu vach wir nimer auf dise nacht.” (“So nun haben wir sie alle. Mehr werden wir diese Nacht nicht mehr fangen”). 9 In Bezug auf die Gewaltdarstellungen stehen sich zwei Forschungspositionen gegenüber. Ein Teil der Forschung liest die Gewaltdarstellung als didaktisch funktionalisiert. Sie diene ex negativo der Darstellung der ‘rechten’ Eheordnung oder der Warnung vor der Schlechtigkeit der Frau; vgl. mit Bezug zur Wolfsgrube Tuchel (1998: 272-276); Beine (1999: 302-324). Die andere Seite weist zu recht darauf hin, dass die Exzessivität der Gewalt Rhetorik der Konkretisierung 293 in solchen didaktischen Botschaften nicht aufgeht, auch wenn diese z.B. im Epimythion explizit formuliert werden. Grubmüller (2006: 245) deutet die Gewalt deshalb als “Lust an der Gemeinheit” (in Anlehnung an Von Bloh 2001: 87) sowie als “Grenzüberschreitungen”, die er als “Ausdruck einer Epochenerfahrung” deutet; vgl. auch die Deutungen der Wolfsgrube bei Blamires (1976: 103, 106, 111); Bachorski (1998: 266-269). Die Rhetorizität der Sexualitäts- und Gewaltdarstellungen hebt Hoven hervor (1978: 257-259, 339); vgl. auch Kiening 2008, der betont, dass die Gewaltdarstellungen in den Mären zwischen Selbst- und Fremdreferenz changieren. 10 “Die Frau scheute nicht davor zurück, einen Pfaffen zu sich zu bestellen. Dem wollte sie ihren Schild leihen, in den man mit solchen Speeren stößt, von denen man nur selten spricht.” 11 Vgl. zum Motiv des Liebeskriegs Kohler 1935; Wenzel (1995: 426-431). Vgl. die Märe Die zwei Kaufleute von Ruprecht von Würzburg (Gutknecht 1966: 51-109, V. 750-778). Vgl. den nach Motiven geordneten Überblick über konkretisierte bzw. “realisierte” Metaphern in der mittelalterlichen Literatur bei Ruberg 1976. 12 Vgl. die verschiedenen Überschriften der einzelnen Handschriften in Fischer (1966: 202). 13 Explizit und reflektiert geschieht der Vergleich in Der kluge Knecht des Strickers, (in Grubmüller 1996: 10-29, V. 215-225); vgl. weitere Beispiele bei Beine (1999: 301-324); zum Vergleich von Frau und Gans vgl. die Erzählung Das Gänslein (in Grubmüller 1996: 648-664); vgl. zur Deutung des Wolfes Bachorski (1998: 268f.), der den konkreten Wolf als Verkörperung des “naturhaften Triebs” liest. 14 V. 96-98: “laß uns got danken und loben, / das er uns wilprets heint beret, / und des man doch keins seudt noch pret.” (“Lass uns Gott preisen und Dank sagen, dass er uns heute Nacht so reich Wildbret zuführt, das man aber weder kocht noch brät”). 15 Es gibt einige Mären, in denen der Ehemann vorgibt, auf die Jagd zu gehen und dann den Ehebruch entdeckt oder den Ehebrecher tötet: Der Pfaffe in der Reuse von Heinrich von Pforzen (Niewöhner 1967: 208-222); Das Herzmaere von Konrad von Würzburg (in Grubmüller 1996: 262-295). 16 Z. B. im Sperber (Grubmüller 1996: 568-589) wird mit dem getauschten Jagdvogel angedeutet, dass der Ritter gegenüber dem Mädchen sexuelle Jagdgelüste hat. Dies wird im Häslein (Grubmüller 1996: 590-617) dahingehend variiert, dass der Ritter mittels eines Sperbers einen Hasen jagt, der dann anstelle des Vogels zum Tauschobjekt wird (V. 21-36). Im Zurückgegebenen Minnelohn von Heinrich Kaufringer (Sappler 1972: 53-72) wird ebenfalls mit der Zweideutigkeit der Jagdmetaphorik gespielt, wenn der Ehemann, der vom Ehebruch weiß, die Frau und den Ehebrecher alleine lässt und auf die Jagd geht (V. 589-594). 17 Vgl. die spätere Bearbeitung des Stoffes durch Hans Sachs Der Pfaff in der Wolfsgrueben (Goetze 1893: 298-300), der - obwohl er für den Stoff insgesamt weniger Verse (62 gegenüber 192 bei Rosenplüt) braucht - diese Handlungselemente wieder ganz traditionell der Reihe nach erzählt, vgl. V. 1-7. Vgl. bzgl. des Tauschs von minne , gegen Geschenke in Mären generell Reichlin (2009: 115-235). 18 Die Verwandten der Frau bitten nicht nur um Gnade für die Frau, sondern auch für den Ehebrecher (V. 157). Der Ehemann stimmt dieser Forderung - indem er sie affirmativ wiederholt - zu und legitimiert seine kommenden Handlungen dadurch, dass er einen weiteren Ehebruch des Pfaffen verhindern wolle; V. 159-162: “wer pöslich dint, dem sol man lan, / als ie die weisen haben getan, / idoch sol man im geben zu, / das er sein fürbaß nimer tu” (“Wer Böses tut, dem soll man verzeihen, so wie es die Weisen seit jeher getan haben. Aber man soll zugleich verhindern, dass er solches erneut tun kann”). Hier wird somit auch mit der Diskrepanz von Wort und Tat gespielt. 19 Diese ‘Veredelung’ der Hoden kommt bei Rosenplüt neu zum Stoff hinzu; vgl. z.B. das Fabliau Le prestre et le leu (in Von den Boogard/ Noomen 1994: 159-162), das mit der Kastration endet; zur Stoffgeschichte vgl. Frosch-Freiburg (1971: 142-144, hier 144). Das Motiv der Veredelung der kastrierten Geschlechtsteile findet sich jedoch prominent in Kaufringers Die Rache des Ehemannes (in Grubmüller 1996: 738-768); vgl. dazu, insbesondere zur selbstreflexiven Dimension der veredelten Objekte Friedrich (1996: 10-16). 20 ‘kleinôt/ kleinât’ bedeutet eine Goldschmiedearbeit oder Schmuck bzw. etwas von hohem Wert. Vgl. dazu sowie zur literarischen Tradition der Liebesgaben Anm. 32. 21 Die Bestechung der Magd durch die Ehefrau findet sich u. a. im Märe Die zwei Kaufleute von Ruprecht von Würzburg (in Gutknecht 1966: 51-109, V. 693-700); ebenso bei Herrand von Wildonie, Der betrogene Gatte (in Fischer 1969: 10-21, V. 181-193), wo eine Verwandte der Ehefrau bestochen wird. 22 In Kaufringers Die Rache des Ehemannes (in Grubmüller 1996: 738-768) wird auch die ehebrecherische Frau durch eine solche Spiegelstrafe bestraft: Der Ehemann zwingt den Liebhaber, dass er ihr die Zunge ausbeißt (V. 379-393). 23 Es gehört zum Konsens moderner Metapherntheorien die Unterscheidung zwischen einer “eigentlichen bzw. wörtlichen und einer uneigentlichen bzw. figurativen” Bedeutung abzulehnen; vgl. dazu Wellbery (1997: 195, Susanne Reichlin 294 197). Es stellt sich jedoch die Frage, ob nur die Hierarchisierung, die mit dieser Unterscheidung impliziert ist (wenn entweder der ‘eigentlichen’ oder der ‘uneigentlichen’ Bedeutung das Primat oder gar eine Ursprungsfunktion zugeschrieben wird) zu kritisieren ist oder auch die Unterscheidung selbst. Wellbery betont bspw. “die formale Notwendigkeit […], daß eine Unterscheidung getroffen werden muß, damit überhaupt Aussagen über die Metapher gemacht werden können”. Dies führt zur Beschreibung der Metapher (in Anlehnung an Derrida) als “Einheit der Differenz” bzw. als “Thematisierung der Grenze als Paradoxie” (201f.). In diesem Sinne soll hier die Unterscheidung zwischen einer konkreten und einer übertragenen Bedeutung nicht vorausgesetzt werden, sondern es ist zu untersuchen, ob und wie die Texte solche Unterscheidungen vornehmen und sie allenfalls auch paradoxieren. Für die konkrete Analyse ist es zudem hilfreich, mit Black (1968: 25-47) davon auszugehen, dass mittels der Metapher die für ein spezifisches Bedeutungsfeld charakteristischen Verhältnisse (“system of things”) auf ein anderes Bedeutungsfeld projiziert werden (ebd.: 44f.); vgl. auch die prägnante Ausformulierung und Weiterentwicklung dieses Gedankens bei Wellbery (1999: 145f. u. ö.). Von mediävistischer Seite vgl. die Arbeiten von Köbele (2000: 214), die die Metapher “jenseits analogisierender Veranschaulichung ansiedelt und den metaphorischen Prozess […] als Zusammenspiel gegenläufiger Tendenzen begreift.” 24 Der Erzähler beschreibt zuerst die Taten des Ehemannes (Kastration; Verarbeitung der Hoden zu Schmuckstücken per Auftrag) und fügt dann an, zu welchem Zweck sie getan worden sind (V. 168-170; 174-178). Er schreibt somit den Taten einen vom Ehemann intendierten Zweck zu, womit den Objekten weitere Bedeutungen zugeschrieben werden, bzw. die Bedeutungsstiftung gelenkt wird. 25 So verweist diese Kastration intertextuell auf eine Reihe weiterer Kastrationsgeschichten (vgl. dazu Tuchel 1998: 223-288) und steht gleichfalls im Kontext des Experimentierens mit ‘Spiegelstrafen’ als ein die Erzählung strukturierendes Motiv; so z.B. in den Mären Der Zehnte von der Minne von Heinrich Kaufringer (Sappler 1972: 131-139) oder im Schneekind (Grubmüller 1996: 82-93). 26 Vgl. zur Unterscheidung zwischen der Perspektive der nachgeborenen und der zeitgenössischen Rezipienten Müller (2000: 480f.). 27 Die Erzählung ist unikal erst im Ambraser Heldenbuch (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Series nova 2663) überliefert, das 1504-1506 auf Veranlassung von Kaiser Maximilian I. geschrieben worden ist. Herrand II. von Wildonie lebte ca. 1230-1278/ 82; vgl. dazu Grubmüller (1996: 1064f.) und Curschmann 1981. Von dem steirischen Adeligen sind im Ambraser Heldenbuch vier Erzählungen überliefert; die bisherige Forschung hat diese Texte oft sehr eng aufeinander bezogen; vgl. Curschmann (1966: 69-79) und Deighton 1988; hier wird der Text dagegen stärker im Kontext der höfisch-galanten Mären betrachtet, er wird jedoch auch mit der einzig überlieferten Schwankerzählung Herrands, Der betrogene Gatte (Anm. 21), verglichen. Zitiert werden Text und Übersetzung nach Grubmüller (1996: 96-111), der die Edition von Fischer (1969) übernimmt. 28 Topisch ist vor allem auch die Eingangsformel “Ein rittter het ein schAne wîp, / diu was im liep als sîn lîp.” (V. 23f.: “Ein Ritter hatte eine schöne Frau, die liebte er wie sein Leben”), die bereits in Strickers Der begrabene Ehemann (Grubmüller 1996: 30-43, V. 2) genutzt wird, um das Eheverhältnis zu problematisieren. Bei Stricker wird damit die vollständige und blinde Hingabe des Mannes an die Frau kritisiert. Auch in der Treuen Gattin wird mit der Formel gespielt. In V. 38 wird nämlich deren Wortlaut wieder aufgenommen, aber betont, dass die Frau ihrem Mann nur “liep” ist, weil sie keinerlei “unzuht” (V. 37) bezichtigt wird. 29 Er sei “kein schöner Mann” gewesen. 30 V. 265-269: “Swer vor die frouwen gerne sach / durch die schAne, der man ir jach, / der sach sî nu vil lieber an / durch die triuwe, die sî ir man / erzeiget het; ” (“Alle, die die Dame vorher wegen ihrer vielgepriesenen Schönheit gerne gesehen hatten, die sahen sie jetzt noch viel lieber wegen der Treue, die sie ihrem Mann erwiesen hatte”). 31 Diese Pointe fehlt in der stoffgleichen Erzählung Das Auge (Niewöhner 1967: 244-250), die wohl in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden ist. Die beiden Erzählungen weisen auf der Ebene der Formulierungen nur geringe Ähnlichkeiten auf; welcher der beiden Texte der frühere ist, kann nicht eindeutig festgestellt werden; vgl. dazu Williams-Krapp 1978; Grubmüller (1996: 1067); Curschmann (1966: 58, 71-75). 32 Vgl. zu den Liebesgaben in den mittelalterlichen Eneas-Romanen Oswald (2004: 145-174); Vgl. auch die Szene mit dem Hündchen “petitcrü” im Tristan Gottfrieds von Straßburg (V. 15765-16402). 33 Zur Metonymie vgl. Wellbery (1999: 153f.). 34 “Denn ohne ihn bin ich tot”. 35 Wenn nach dem Unglück gesagt wird: “wan ir leit daz was daz sîn, / sîn leit was ouch ir leides pîn” (V. 93f.: “Denn ihr Leid war das seine, sein Leid war auch ihr Schmerz”), dann wird die chiastische Einheit der Liebenden und ihre Verausgabungsbereitschaft mittels einer topischen Formulierung betont. Rhetorik der Konkretisierung 295 36 Vgl. die Mären Der Schüler von Paris (Grubmüller 1996: 296-335); Das Herzmaere (Anm. 15); Die Frauentreue (Grubmüller 1996: 470-491); Pyramus und Thisbe (Grubmüller 1996: 336-363); Hero und Leander (Von der Hagen 1850: 317-330). Vgl. zur “Ästhetik des Liebestods” im Herzmaere Kiening 2007. 37 Auch bei der Frauentreue (Anm. 36) steht das Opfer (der bürgerlichen Ehefrau) im Vordergrund, die für einen adeligen Ritter stirbt. Zum Vergleich der Treuen Gattin mit der Frauentreue vgl. Ortmann/ Ragotzky (1988: 99-107). 38 Vgl. V. 262-264: “und solte ich tûsent ougen tragen / und gevielen dir diu niht, / sô solten sî mir sîn enwiht.” (“Und wenn ich tausend Augen hätte und die gefielen Dir nicht, dann wären sie mir nichts wert”). Vgl. auch V. 259f.: “sô solt du des getrouwen mir, / daz niuwan gên dir stê mîn gir; ” (“[so] sollst Du mir darin vertrauen, dass mein Wunsch sich auf nichts anderes richtet als auf Dich; ”). 39 Vgl. dazu Ortmann/ Ragotzky (1988: 91). 40 Pyramus und Thisbe sind im gleichnamigen Märe (Anm. 36) am gleichen Tag geboren und werden am gleichen Tag sterben und sie sind so schön, dass “in niemant wær gelich” (V. 32-36, hier 34). Auch in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur (Sommer 1846) sind die Liebenden am gleichen Tag geboren und sterben am gleichen Tag (V. 589-591, 7892-7894). Sie sehen sich so ähnlich, dass der eine Liebende bei dritten die Erinnerung an den anderen auslöst (u. a. V. 3041-3118); vgl. dazu auch Egidi (2008: 149-155). Vgl. aber auch die zweite Erzählung Herrands von Wildonie Der betrogene Gatte (Anm. 21), in der das unterschiedliche Alter der beiden Ehepartner (wie auch in anderen Mären) als ein Grund unter anderen für das Scheitern der Ehe dargestellt wird (V. 28); vgl. dazu Deighton (1988: 116). 41 Ähnliches wird auch vom Mann gesagt, vgl. V. 93f. 42 “[E]r schient ihr schön wie Absalom und stärker als Samson”. 43 Der Erzähler fügt bei der topischen descriptio hinzu, dass es nur legitim sei, die Schönheit zu loben, weil sie mit Tugendhaftigkeit gepaart ist (V. 28-30). In einer für die Schönheitskataloge der Mären höchst unüblicher Art und Weise wird somit gleich am Anfang vor der Huldigung eines Außen gewarnt, dem kein Innen entspricht. 44 “dâ von [aufgrund seiner Ehrbarkeit, S. R.] wart sîn unflætikeit / in allen landen hingeleit.” (V. 65f.: “Deswegen spielte seine Hässlichkeit überhaupt keine Rolle”). 45 Vgl. auch V. 270-272. 46 Auch der Heldenepik und der höfischen Literatur wird zugeschrieben, sie würden von einer Einheit oder Korrespondenz von Innen und Außen ausgehen, die zum Problem werde, sobald sie nicht mehr gegeben sei. Zugleich wird betont, dass es v. a. in der höfischen Literatur auch Figuren gebe, bei denen eine solche Korrespondenz nicht gegeben ist. Vgl. dazu Hahn 1977; Wenzel 1994; Müller (1998: 201-248). 47 Das Wort “zwivel” wird im Auge (Anm. 31) zu einer Art Leitwort, da es sehr oft wiederholt wird. Bereits am Beginn fürchtet der Mann, seine Hässlichkeit betrübe die Frau und hätte bei ihr “zwivels wanc” zur Folge (V. 63). Dann beschreibt der Bote das Verhalten des Mannes als “zwivel” (V. 162, 209). Wenn sich die Frau das Auge aussticht, will sie diesen “zwivel” aus dem Weg räumen (V. 234, 248, 256). 48 In einer älteren Fassung des Stoffes werden die “oculi carnales” gegen die “oculi spirituales” ausgespielt: Hier wird eine Nonne durch das Begehren eines Liebhabers bedroht und sticht sich deshalb die Augen aus. Vgl. die Fassung von Jacques de Vitry (Crane 1890: 22); zu den anderen Fassungen ebd., S. 158; sowie zur Stoffgeschichte Grubmüller (1996: 1065-1067). Die Entscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Leben findet sich im Auge (Anm. 31) wieder, aber in verkehrter Form. Der Ehemann will nach dem Unglück zum Heiligen Grab pilgern und da um die “sælikeit” beider Ehepartner bitten (V. 215-217). Indem die Frau sich das Auge aussticht, hält sie ihn davon ab. 49 Es gibt zudem bei Andreas Capellanus (Knapp 2006) einen Minnekasus, in dem gefragt wird, ob die Frau ihrem Mann, der ein Auge oder ein anderes Körperteil verloren hat, die Umarmung verweigern darf (Buch II, Kap. vii,35-36, XV). Im Unterschied zu den mittelhochdeutschen Erzählungen wird hier jedoch nicht mit der Treue, sondern mit der Tapferkeit argumentiert. Frauen würden die Tapferkeit der Männer lieben und deshalb hätten sie auch ihre Folgen zu tragen. Zugleich scheint mir, dass es im Minnekasus weniger um den Verlust von Schönheit als um den der männlichen Potenz geht. 50 Liest man die Treue Gattin als Teil einer größeren Entwicklung, aus der am Ende ein modernes Körperkonzept als Hülle eines primären Inneren resultiert, dann provoziert dieses Körperkonzept - wie sich u. a. an den Prosaromanen der Frühen Neuzeit zeigen ließe (vgl. Braun 2001; Bennewitz 1991; Schulz 2001) - die Frage, wie körperliche Reaktionen zu deuten sind. Seite 296 vakat Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen Semiotische Aspekte der philosophisch-pornographischen Romane der französischen Aufklärung Michael Titzmann Der Beitrag untersucht aus einer semiotischen Perspektive den philosophisch-pornographischen Roman der französischen Aufklärung. Gezeigt wird, dass der Gegensatz von sexuellen Normvorstellungen innerhalb des philosophisch-pornographischen Romans als Zeichen eines tiefer liegenden Gegensatzes zwischen dem vorherrschenden katholischen Normsystem und dem aufkommenden Normsystem der Aufklärung fungiert. Dabei wird die sexuelle Abweichung innerhalb der Romane semiotisch als eine ideologische Abweichung umgedeutet. Indem auf der Handlungsebene das katholisch geprägte sexuelle Normsystem sanktionslos negiert wird, kommt es innerhalb des untersuchten Korpus zur Etablierung eines dezidiert nicht religiösen Normsystems, das allein durch die Maßstäbe des Rationalen und des Natürlichen reguliert wird. Damit korreliert auf der Ebene sprachlicher Vermittlung eine umfassende Neusemantisierung und Enttabuisierung von Sprache in den Romanen. Sprache dient dabei nicht nur der Abbildung sexueller Lust, sondern sie bekommt als libertinäre Sprache einen eigenen literarischen Wert in den Romanen, der selbstreflexiv der erotischen Entgrenzung des Dargestellten und seiner Darstellung dient. The article takes a semiotic perspective on the philosophic-pornographic novel of the French Enlightenment. The paper argues that the opposition of ideas of sexual norm within the philosophic-pornographic novel is a representation of a more profound antagonism between the then prevailing catholic norm and the emerging norms of Enlightenment. Within that context the sexual deviation within the novels is semiotically reinterpreted as ideological deviation. The negation of the predominantly catholic system of sexual norms with impunity on the story level gives rise to the establishment of an unambiguously secular system of norms which is regulated by the standards of reason and nature alone. Along with that, on the discourse level the language employed in the novels was extensively resematizised and rid of its taboos. In this process, language does not only serve to designate sexual desire but as a libertine language obtains its own literary value. A value which serves to erotically dissolve the borders between what is represented and its representation. Was ich hier “philosophisch-pornographischen Roman” (im folgenden: ppR) nenne, ist eine Teilmenge der - wahrlich umfänglichen - französischen Romanproduktion im 18. Jahrhundert; mein kleines Textkorpus - siehe Anhang - umfasst etwa 20 Texte. Wie für jedes (Teil-) Korpus literarischer Texte eines gegebenen Zeitraums gilt auch für ein “pornographisches”, dass es historisch adäquat nur im denk- und literaturgeschichtlichen Kontext seiner Epoche interpretiert werden kann: Da ich diesen Versuch schon anderenorts unternommen habe (Titzmann 2009), worauf hier verwiesen sei, fasse ich nur einige Ergebnisse zusammen, um mich dann primär auf einige semiotische Aspekte des ppR zu konzentrieren. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Michael Titzmann 298 Wie jeder literarische Text kann auch ein “pornographischer” jeden beliebigen Platz auf der Skala zwischen hochkulturellen und trivialen Texten einnehmen: Unter den Texten meines Korpus sind zweifellos einige sehr bedeutende. “Philosophisch” nenne ich diese Texte, weil sie durchaus einen intellektuellen Anspruch haben, der sie mit dem Denksystem der west- und mitteleuropäischen Aufklärung verbindet. In einem System der politischreligiösen Kontrolle und Unterdrückung, mit dem die Aufklärung ja auch sonst zu kämpfen hatte, können die ppR nur anonym erscheinen, und die polizeilichen Verfolgungsinstanzen versuchen, Autoren, Drucker, Illustratoren, Händler zu ermitteln und ihre Tätigkeit juristisch zu sanktionieren. Soweit man diesen Texten schon damals oder später Autoren zuschreiben zu können glaubte, ist die Liste der Verdächtigen doch einigermaßen eindrucksvoll: darunter z.B. der Marquis d’Argens, Crébillon, der Marquis de Mirabeau, Restif de la Bretonne, Nerciat, Pigault-Lebrun, der Marquis de Sade - unverächtliche Intellektuelle und Literaten. Und auch der Teil des alphabetisierten Lesepublikums, der sich zudem den Erwerb von Büchern leistet, ist ja nicht eben die ungebildete Unterschicht. Auch erfreuen sich einige dieser Texte einer solchen Bekanntheit, dass z.B. Autoren wie la Mettrie, Voltaire, d’Holbach, Casanova die Titel als bekannt voraussetzen können. Kurz: Es sind Texte, ohne deren Kenntnis man kein adäquates Bild von der Kultur der Aufklärung haben kann. Der erst sehr viel später eingeführte Begriff des “Pornographischen” hat noch im 20. Jahrhundert Gesetzgeber und Gerichte zu hilflos stammelnden Pseudo-“Definitionen” 1 und absurden Aktionen 2 verführt. Denn was von einer kulturellen Teilgruppe als “pornographisch” empfunden und als solches bewertet wird, ist eine abhängige Variable wie auch Funktionen des Systems der Sexualnormen dieser Gruppe (NS sex ) und dieses System selbst historische Variablen sind. Mindestens seit dem 18. Jahrhundert hat es dabei einen doppelten Ausdifferenzierungsprozess gegeben: Zum einen gibt es den Ausdifferenzierungsprozess zwischen einem theoretisch als verbindlich postulierten NS sex und einem tatsächlich von der Population praktizierten NS sex , wobei das praktizierte bedeutend liberaler als das theoretische sein kann; zum anderen hat sich im 18. Jahrhundert eine weitere Ausdifferenzierung innerhalb des theoretischen NS sex angebahnt, die heute eindeutig vollzogen ist, nämlich die zwischen einem theologischen NS sextheol und einem juristischen NS sexjur , wobei letzteres weitaus liberaler ist als ersteres. Für beide Tendenzen ist der französische ppR ein signifikanter Indikator. Am Startpunkt der Aufklärung ist das NS sexjur noch nichts anderes als die sanktionsbewährte Umsetzung des NS sextheol . Die christliche - im französischen Falle: katholische - Theologie leitet aus ihren “heiligen Texten” - das “Bibel” genannte Korpus, von dem sie behauptet, ihr Gott habe es “geoffenbart” - in arbiträrer Interpretation (theologischer “Exegese” eben) ein NS sex ab, dessen universelle Verbindlichkeit sie postuliert und das sie in unzähligen mündlichen und schriftlichen Texten propagiert und jedem “Gläubigen” und “Ungläubigen” aufzuzwingen sucht. In diesem NS sextheol gilt nun: 1. Sexuelle Handlungen sind erlaubt nur 1.1 in einer “christlichen Ehe”, d.h. einer von der jeweiligen Kirche gebilligten, lebenslänglichen Beziehung, 1.2 zwischen genau zwei Personen verschiedenen Geschlechts, die 1.3 nicht “verwandt” 3 sind, und nur, wenn 1.4 der Sexualakt als genitale Vereinigung stattfindet, die 1.5 zum Zwecke der biologischen Vermehrung - nicht aber zu dem des bloßen beiderseitigen Lustgewinns - vollzogen wird, und zwar 1.6 in der Verborgenheit eines abgeschlossenen Raumes, also ohne Zeugen dieses Aktes. Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 299 Im Übrigen gelten zwei zusätzliche relevante Normen: 1.7 Sexuelle Aktivität hat vom Manne auszugehen; die Asymmetrie der Geschlechterrollen ist auch für das NS sex konstitutiv; eine begehrende Frau ist moralisch verwerflich, die ideale Frau ist asexuell und “jungfräulich”. 1.8 Sexualität ist kein Thema möglicher Konversation: hier gelten pragmatische Rederegeln: massive sprachliche Tabus. Aus diesem System resultiert eine Menge von Sexualverboten, zum einen solche, die die Partnerwahl betreffen: 2. Partnerwahlverbote: 2.1 Verboten ist - vor- oder außereheliche - Sexualität mit Partnern, mit denen man nicht verheiratet ist. 2.2 Verboten sind Partner, die im jeweiligen System als “verwandt” gelten (“Inzest”: schon zeitgenössischer Begriff). 2.3 Verboten sind gleichgeschlechtliche Partner (“Homosexualität”: den Begriff kennt die Epoche noch nicht). Weibliche Homosexualität wird theoretisch kaum berücksichtigt, für männliche ist die Todesstrafe, in Frankreich durch Verbrennen, vorgesehen. 2.4 Verboten sind nicht-menschliche “Partner” (“Sodomie” im heutigen Wortsinne). 2.5 Dabei scheint die folgende Delikthierarchie zu gelten: 2.1 < 2.2 < 2.3 = 2.4. Aus 1.4. und 1.5. resultieren weitere Normierungen: 3. Verboten sind - neben anderen vergleichbaren - die folgenden Sexualpraktiken: 3.1 manuelle Stimulation oder Befriedigung an sich selbst (“Onanie”; spätestens seit Tissots Tentamen de morbis ex manustupratione 1758 als eigenes Phänomen klassifiziert) oder an einem oder an einer anderen. 3.2 oral-genitale und oral-anale Praktiken zum Zecke der Erregung oder Befriedigung. 3.3 Analverkehr (des Mannes mit der Frau, des Mannes mit dem Manne). 3.4 Dabei scheint eine doppelte Hierarchisierung zu gelten: 3.1. < 3.2. < 3.3., wobei für jede dieser Praktiken wiederum gilt: (Mann + Frau) < (Frau + Frau) < (Mann + Mann). Mindestens 2.3. und 2.4. sowie 3.2. und 3.3. gelten dabei der christlichen Ideologie als “widernatürlich”. Aus dem Fruchtbarkeitsgebot 1.5. resultiert schließlich noch: 4. Verboten sind: 4.1 Empfängnisverhütende Maßnahmen (“Kondome” scheinen seit dem 17. Jahrhundert bekannt; “coitus interruptus”; natürlich alle Praktiken unter 3.). 4.2 Empfängnistilgende Maßnahmen: 4.2.1 Abtreibung, und - natürlich - 4.2.2 Kindstötung (nach der Geburt) 4.3 Dabei gilt die Hierarchie: 4.1. < 4.2. = 4.3. Ein semiotisch wichtiger Punkt sei festgehalten: Die Diskurse des 18. Jahrhunderts verfügen noch nicht über eine systematische Terminologie zur Benennung der aufgelisteten sexuellen Abweichungen, wenngleich sie natürlich alle bekannt sind. Da das zentrale Unterscheidungskriterium zwischen “erlaubt” vs. “verboten” das Fruchtbarkeitsgebot ist, können alle Varianten der Partnerwahl und der Sexualpraktiken, die dieses Gebot verletzen, auch in juristischen Diskursen, zusammengefasst und unter “Sodomie” subsumiert werden, welches Lexem zusätzlich auch im engeren Sinne zur Benennung von Homosexualität benutzt werden kann. 4 Michael Titzmann 300 In dem Ausmaß nun, in dem die Aufklärung sich vom Christentum ab- und nicht-christlichen (dominant deistischen, am Rande auch agnostizistischen oder atheistischen) Positionen zuwendet, verliert das NS sextheol seine theoretische Legitimation durch “heilige Schriften” bzw. deren theologische Exegese. Zwar wird es explizit nur selten im Aufklärungsdiskurs infrage gestellt, implizit und indirekt aber da, wo der rechtsphilosophische Diskurs der Aufklärung ein juristisches NS zu begründen sucht und die Normsetzungen auch des NS sexjur “rational” legitimieren will. Denn unter der neuen innerweltlichen Prämisse des Wertes eines “größtmöglichen Glücks für möglichst viele” kann rational nunmehr verboten werden, was einem/ einer Anderen “Schaden” zufügt, wozu auch gehört, wenn mit ihm oder ihr etwas gegen seinen/ ihren Willen gemacht wird. Wenngleich das Schadensprinzip sich selbst in den spätaufklärerischen Gesetzgebungen allenfalls sehr partiell durchzusetzen vermag, wären damit alle einvernehmlichen sexuellen Handlungen - “volenti non fit iniuria” - erlaubt. D.h. aus dem NS sextheol blieben nur die Verbote 4.2.2 und eventuell noch 4.2.1. erhalten. Zumindest die mentale Abkoppelung des NS sexjur vom NS sextheol ist aber schon vollzogen; literarisch vollzieht sie der ppR. Bevor ich aber zu diesem komme, muss noch ein zentraler mentalitätsgeschichtlicher Prozess erwähnt werden: die Erfindung der “Liebe” um die Jahrhundertmitte, die sich literarisch zunächst in dem “Empfindsamkeit” genannten Literatursystem manifestiert. 5 “Liebe” in diesem Sinne bedeutet eine “irrationale”, d.h. nicht begründbare Anziehung durch eine(n) potentielle(n) Partner(in), wobei der/ die andere stark emotional besetzt wird und als unaustauschbar und unersetzlich erscheint. Solche Liebe hat es natürlich literarisch wie real schon vorher gegeben: Sie war literarisch faszinierend, nicht aber sozial wünschenswert. Für die Partnerwahl waren vorher “rational”soziale Kriterien entscheidend, nicht aber “irrational”-emotionale: Ab jetzt hingegen wird zumindest in der Literatur nur eine durch “Liebe” motivierte Eheschließung als positiv erscheinen. Diese “empfindsame Liebe” ist nun aber radikal entsexualisiert; nur moralisch verwerfliche Figuren kennen im “empfindsamen Roman” (im folgenden: eR) voreheliches erotisches Begehren, und nur sie streben dessen Verwirklichung vor- oder außerehelich an; “tugendhafte” Protagonist(inn)en, die “Verführer(inne)n” erlegen sind, jammern folglich zum Steinerweichen. Neben dem eR weist aber die französische Literatur des Zeitraums eine umfängliche Menge “erotischer Romane” auf, in denen Verletzungen des oben skizzierten NS sex von den Protagonisten freiwillig vollzogen und bejaht werden. Dabei können wir zwei Textgruppen unterscheiden: die tatsächlich oder nur scheinbar normbestätigenden Romane und die eindeutig normnegierenden Romane. Diese letzteren machen das ppR-Korpus aus. Im normverletzenden, aber normbestätigenden erotischen Roman haben wir einen jugendlichen - im Regelfalle männlichen - Protagonisten, der im Hauptteil des Romans das NS sex verletzt, aber am Textende sich diesem freiwillig insofern im eigenen Verhalten anpasst, als er eine “tugendhafte”, also im Regelfalle (sofern er sie nicht schon selbst vorehelich “verführt” hat) “jungfräuliche” Partnerin heiratet und mit ihr in monogamer Ehe Kinder zeugt. Im Gegensatz zu den “tugendhaften” Figuren des eR muss er seine früheren erotischen Normverletzungen (NV sex ) nicht einmal bereuen. Dieses Modell funktioniert aber nur unter zwei Bedingungen reibungslos: a) Wenn der Protagonist männlich ist, dann wird ihm in der “Jugend” - zwischen “Kindheit” und “Erwachsenenalter” - eine “Transitionsphase” eingeräumt, in der ihm - früher wie später nicht mehr zulässige - NV sex zugestanden werden. Junge Frauen hingegen haben nicht dasselbe Recht: Sie kommen nach einer Serie von NV sex nicht mehr als Ehepartner für positiv bewertete Figuren in Betracht. Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 301 b) Wenn die NV sex des Protagonisten bestimmte Grenzen nicht überschreiten: Zulässig ist hier nur der heterosexuelle genitale Koitus mit einer unverheirateten oder verheirateten Frau (wobei sich der Ehebruch der Frau dadurch legitimiert, dass ihre Ehe keine “Liebesehe” im Sinne der Empfindsamkeit ist). Der ppR, also der normnegierende erotische Roman der Epoche, wäre nun ein Text, für den gilt: 1) Die Protagonisten können männlich oder - eine zusätzliche Provokation - weiblich sein; die sonst übliche ungleiche Behandlung der beiden Geschlechter ist hier aufgehoben. 2) Am Textende findet keine Anpassung der Protagonist(inn)en an das NS sex statt; dementsprechend wird auch normalerweise nicht geheiratet (es sei denn pro forma). 3) Die von den Figuren vollzogenen NV sex beschränken sich nicht auf die Verletzung von 1.5. und 2.1.; die Menge der darüber hinaus verletzten Normen ist variabel und textspezifisch; im Extremfall de Sades werden alle genannten Normen verletzt - und noch einige mehr. 4) Die Serie der NV sex wird vom Text legitimiert, d.h. die Verbindlichkeit der betroffenen Normen wird negiert. Die Legitimation der jeweiligen NV sex durch die Texte begründet nun meine Klassifikation dieser Romane als “philosophisch”: In den dargestellten Welten gilt das NS sex , soweit es verletzt wird, als unverbindlich: Es gilt als bloße Ansammlung von - mit einem Lieblingsbegriff der Aufklärung - rational nicht begründbaren “Vorurteilen” (“préjugés”). Es wird von den Figuren geradezu mit Selbstverständlichkeit, ohne Reue und ohne Folgen (z.B. soziale Sanktionen), verletzt. Solche mehr oder weniger umfassende und radikale implizite Kritik bzw. Infragestellung des NS sex wird in nicht wenigen Texten auch explizit vollzogen, indem Figuren theoretische Diskurse halten, die die Irrelevanz dieser oder jener Norm oder des ganzen Normensystems philosophisch zu begründen suchen, besonders konsequent und radikal natürlich im Œuvre Sades, der auch in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt, weil bei ihm nicht nur das gesamte NS sex , sondern jedes NS überhaupt negiert und im übrigen eine dezidiert christentumsfeindliche, antikatholische, klar atheistische Position vertreten wird. Solche theoretischen Diskurse finden sich schon in den beiden ersten Texten meines Korpus, der Histoire de Dom B***, portier des chartreux 1741 und Thérèse philosophe 1748. Dem Protagonisten des Dom B*** etwa wird im Kloster die Nichte eines älteren Mönches zum genitalen Gebrauch angeboten, unter der Bedingung, dass er sich gleichzeitig von diesem anal benutzen lasse. Nachdem man die Operation zu allseitiger Zufriedenheit vollzogen hat, wird eine Rede zur Verteidigung der Homosexualität gehalten: “… le sujet en fut la bougrerie; Casimir en prit la défense comme un tendre père prend celle d’un enfant chéri; il possédait à fond sa matière, il s’en acquitta parfaitement bien.” (1741: 445). “… der Gegenstand war die Homosexualität; Casimir verteidigte sie wie ein Vater ein geliebtes Kind; er beherrschte sein Thema gründlich, er erledigte seine Aufgabe vollkommen gut.” An späterer Stelle wird er in einen Geheimclub innerhalb des Klosters eingeführt: In geheimen Räumen halten sich die Mönche eine Gruppe Frauen zu freier Verfügung, darunter die leibliche Mutter des Dom B***, die sich diesem sexuell anbietet, was er ablehnt. Darauf hält ihm ein Mitmönch eine Rede zur Verteidigung dieses Inzests: Michael Titzmann 302 “Pauvre sot, me dit-il, quoi! tu es assez simple pour t’effrayer d’une action aussi indifférente; parlons raisonnablement, dis-moi un peu: qu’est-ce que la fouterie? La conjonction d’un homme et d’une femme: cette conjonction est ou naturelle ou défendue par la nature. Elle est naturelle, puisqu’il est vrai que les deux sexes ont dans le coeur un penchant invincible qui les porte, qui les entraîne l’un vers l’autre […]. Adam faisait des filles, il les foutait; Eve avait des fils, ils faisaient avec elle ce que leur père faisait avec leurs sœurs; ce qu’ils faisaient eux-mêmes quand l’occasion s’en présentait.” (1741: 451f). “Armer Trottel, sagte er zu mir, was! Du bist einfältig genug, vor einer so gleichgültigen Handlung zurückzuschrecken; reden wir vernünftig, sag mir ein wenig: was ist die Fickerei? Die Verbindung eines Mannes und einer Frau: Diese Verbindung ist entweder natürlich oder von der Natur verboten. Sie ist natürlich, denn es ist wahr, dass die beiden Geschlechter einen unbesiegbaren Hang im Herzen haben, der sie zu einander hinträgt, sie zu einander zieht […]. Adam machte Töchter, er fickte sie; Eva hatte Söhne, sie machten mit ihr, was ihr Vater mit ihren Schwestern tat; was sie übrigens selbst auch taten, wenn sich die Gelegenheit bot.” Hier wird also argumentiert, dass die Menschheit sich nicht hätte fortpflanzen können, wenn nicht die, die laut Genesis ihre Urahnen wären, eifrig Inzest betrieben hätten; ähnlich wird im übrigen auch in der d’Holbach zugeschriebenen Théologie portative, ou Dictinnaire abrégé de la religion chrétienne 1767 (Stichwort “inceste”) argumentiert - “heilige Texte” sind eben doch zu vielem gut. In Thérèse ist es ein Abbé, der seiner Geliebten wie auch der Protagonistin argumentativ hochrangige aufklärerische Diskurse zu Moral- und Religionsphilosophie hält und dabei im Übrigen eine eindeutig deistische Position vertritt. Die Serie der ppR-Texte setzt nun in etwa zeitgleich mit der Entstehung des eR ein: Wo aber der eR die emotionale Komponente erotischer Beziehungen darstellt und deren sexuelle Komponente leugnet oder minimalisiert und sie - falls sie doch auftritt - quasi kriminalisiert, da stellt der ppR die sexuelle Komponente dar und minimalisiert oder tilgt die emotionale. Der - klandestine - ppR ist also gewissermaßen das logische Komplement des - “offiziellen” - eR. Was dieser verdrängt, bricht in jenem aus - eine Abspaltung des Emotionalen und des Sexuellen, die aus dem christlichen Wert- und Normensystem resultiert. (Der tatsächlich oder scheinbar normbestätigende erotische Roman nimmt diesbezüglich eine Mittelstellung zwischen eR und ppR ein, insofern in ihm das Ausmaß der NV sex begrenzt bleibt und Emotionalität durchaus eine bedeutende Rolle spielt.) Dass sich die ppR gegen Ende des Jahrhunderts zu häufen scheinen, ist im Übrigen wohl kein Zufall: Die Aufklärung “radikalisiert” sich in ihrem Verlaufe allmählich, d.h. sie wird immer konsequenter in der Infragestellung tradierter Ideologeme. Ausgeschlossen habe ich aus meinem ppR-Korpus Texte, die zwar reichlich bejahte NV bieten, aber deren Welten in orientalisch-exotischen Räumen situiert sind oder märchenhaftfantastische Elemente aufweisen: Die Welten meines Korpus sind annähernd in der Gegenwart des Erscheinungsdatums und im europäischen Raum situiert und präsentieren das Sexualverhalten der Figuren somit als in der Realität von Autor und Leser denkbar bzw. möglich. Wenn sie aber implizit postulieren, die dargestellten Verhaltensweisen seien auch außerliterarisch realisierbar, dann laden sie gewissermaßen die Leser(innen) zur Nachahmung ein. Signifikant sind in dieser Hinsicht auch die jeweils gewählten Erzählsituationen: Es dominiert bei weitem die Ich-Erzählsituation (Stanzel) bzw. die homodiegetische (Genette). Das bedeutet wiederum, dass in der Fiktion der Texte die Authentizität und Faktizität des Dargestellten suggeriert wird, als würde hier tatsächlich jemand sein reales Leben autobiographisch erzählen; gern werden dabei eine oder mehrere, ebenfalls homodiegetische Binnenerzählungen anderer Figuren in den Haupttext eingebettet, die die scheinbaren Erfahrungen Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 303 der Protagonist(inn)en gewissermaßen ergänzen. Seltener findet sich der dramatisierte und dialogisierte ppR, in dem es, wie im Drama, keinen Sprecher des Gesamttextes gibt und der Gesamttext aus Figurenrede und “Regieanweisungen” besteht. 6 Wo im homodiegetischen ppR die Welt zwar Authentizität und Faktizität beansprucht, sie aber notwendig immer in einer relativen Vergangenheit gegenüber dem Sprechzeitpunkt der Protagonist(inn)en situiert ist, verzichtet der dramatisierte ppR zwar auf diese Fiktion, erzeugt aber den Eindruck unmittelbarer Gegenwärtigkeit des Dargestellten, dessen Zeuge der Leser somit würde: Mehr noch als der homodiegetische macht der dramatisierte ppR den Leser zum Voyeur. Um solcher Fiktionen der Authentizität, Faktizität, Unmittelbarkeit willen jedenfalls scheinen die Texte meines Korpus die auktoriale (Stanzel) bzw. heterodiegetische (Genette) Erzählsituation zu vermeiden. Da nun aber die Darstellung eigener Sexualität im Druck eine massive Verletzung der pragmatischen Rederegeln wäre und Sanktionen nach sich zöge, also extrem unwahrscheinlich und unglaubwürdig im Sinne eines mimetischen Anspruchs wäre, operieren die Texte gern mit einer zusätzlichen Fiktion: Diese verfährt etwa derart, dass die Rede der Erzählinstanz an einen privaten und befreundeten Adressaten gerichtet gewesen wäre, aber das Manuskript einem/ einer Dritten in die Hände gefallen sei und von ihm/ ihr publiziert worden wäre. Alle solche Plausibilisierungen des Dargestellten als eines realen Geschehens in Raum und Zeit der Leser(innen) erhöhen natürlich auch die Verführungskraft des dargestellten Sexualverhaltens für die Leser(innen). Während es in den dramatisierten ppR mehrere - potentiell gleichrangige - Protagonist(inn)en gibt, haben die homodiegetischen jeweils nur eine(n) Protagonisten/ Protagonistin. Diese Figur ist immer eine eingangs noch sehr junge Person, gern an der Grenze zwischen “kindlich” und “jugendlich”: Da nun in diesem Alter die sexuellen Erfahrungen in den Textwelten einsetzen, steht also am Textanfang die Initiation einer jugendlichen Figur in (normverletzende) Sexualität. Unabhängig davon, wie sich diese Initiation im konkreten Falle vollzieht, gilt in den Texten als Regel, dass schon eine grundsätzliche Erotikbereitschaft der jugendlichen Figuren gegeben ist: 7 Ein eingangs noch unklarer und unbestimmter Wunsch nach Sexualität erscheint also als anthropologisch “natürlich” und legitim, wobei der Beginn sexueller Regungen gern - kulturell provokant - möglichst früh angesetzt wird, spätestens mit den ersten Zeichen der Pubertät. Die Texte konfrontieren also dem traditionellen christlichen Gebot sexueller Enthaltung - um das ausgestorbene Lexem auch einmal zu verwenden: dem Gebot der “Keuschheit” - das Postulat der “Natürlichkeit” sexueller Bedürfnisse - und für “natürlich” erklären sie auch solche NV sex , die das Christentum als “widernatürlich” verleumdete. Besonders erstaunlich an meinem Korpus ist nun aber, dass in der absoluten Mehrheit der homodiegetischen ppR die Protagonistenrolle weiblich besetzt ist 8 (im dramatisierten ppR sind übrigens auch immer Frauen in zentralen Rollen beteiligt). Nicht nur der angehende junge Mann, sondern auch die angehende junge Frau hat hier selbstverständlich das Recht auf Sexualität (und wäre sie noch so abweichend); die Bewahrung der “Jungfräulichkeit” (mindestens bis zur Ehe) erscheint hier, in Umkehrung der katholischen Norm, als “widernatürlich”. Mehr als die theoretischen Diskurse der Aufklärung vollzieht der ppR auch eine Transformation des Systems der Geschlechterrollen: Vorgeführt wird eine Emanzipation der Frau, die das Recht auf selbstbestimmte Sexualität erhält und dabei dem Manne keineswegs untergeordnet ist. Männliche wie weibliche Sexualität ist nun in den Texten grundsätzlich nicht-ehelich. Wenn überhaupt gelegentlich Ehen geschlossen werden, so impliziert das keine Selbstverpflichtung auf Monogamie (zumal diese Ehen nicht auf “Liebe” begründet sind, die die Texte allenfalls als temporäres Gefühl kennen) - hier geht es nicht um das Erzählen glücklich-monogamer Liebe, nicht einmal, wenn sie mit normverletzenden Praktiken ein- Michael Titzmann 304 herginge, sondern um die Aufhebung des NS sex und die Rechtfertigung von NV sex . Für die normverletzende Sexualität dieser Figuren gelten aber gleichwohl Normen: Es gilt eine alte Norm, insofern das Recht auf Sexualität den Altersklassen “Jugend” und “Erwachsenenalter” reserviert ist und “Alte” aus ihm ausgeschlossen sind - wenn sie Sexualität ausüben, erscheint diese als hässlich und/ oder lächerlich; es werden zwei neue Normen eingeführt, insofern - mit der Ausnahme von de Sades Figuren - gilt, dass Sexualität zum einen auf dem freiwilligen Konsens beider/ aller Beteiligter basieren sollte (hier gibt es denn auch nicht das christliche “debitum coniugale”, die “eheliche Pflicht” - schon als Lexem nicht eben Lust steigernd) und zum anderen gilt, dass das Ziel die Lust beider/ aller Beteiligter ist. Dass alle Beteiligten zu Lust gelangen, ist gewissermaßen die ppR-Variante des Prinzips “Glück für möglichst viele”; dass der normverletzende Sexualakt im Konsens aller Beteiligten vollzogen wird, ist gewissermaßen die ppR-Variante des Prinzips der Nicht-Schädigung eines/ einer Anderen. Nur de Sade weicht bezüglich beider ppR-Normen ab: Die “Sexualobjekte” seiner “Wüstlinge” sind “Opfer”, deren Zustimmung nicht interessiert und deren Lust nicht im Interesse der “Täter” liegt; sie können denn auch gefoltert oder getötet werden. In Umkehrung des NS sextheol gilt ferner, dass Sexualität um der Lust willen, nicht aber zum Zwecke der Vermehrung angestrebt wird, die, wenn sie vorkommt, im Regelfalle nur ein “Betriebsunfall” ist (nicht anders als die Möglichkeit, sich eine Geschlechtskrankheit zuzuziehen) - tatsächlich gewollt nur, wenn sie, wie etwa in Nerciats Mon Noviciat 1792, nochmals eine Steigerung der NV sex darstellt; hier verführt die “Tochter” ihren - sozialen, aber nicht biologischen - “Vater” und freut sich auf ein Kind von ihm. Es geht dabei kaum - de Sade vielleicht ausgenommen, dessen Texte auch eine grundsätzliche Abscheu gegen Mütter aufweisen - um eine grundsätzliche Aversion der Texte gegen Vermehrung, wohl aber um eine solche gegen das katholische Vermehrungsgebot; z.B. de Sades Figuren bekämpfen es immer wieder explizit. Keine der Normen des NS sextheol wird im ppR-Korpus nicht verletzt: manche in fast jedem Text, manche selten, alle im Werk de Sades (Philosophie dans le boudoir 1795, Justine 1787, Juliette 1796). Zu den NV sex seien hier nur einige kursorische Bemerkungen (Näheres in Titzmann: 2009) gemacht: Onanie - allein oder mit anderen, auch als wechselseitige - stellt kein Problem dar; etwa in Thérèse philosophe 1748 wird sie explizit als zulässige Ersatzhandlung gerechtfertigt. Heterosexualität herrscht im Korpus vor, aber Homosexualität spielt eine bedeutende Rolle. Weibliche Homosexualität erscheint in den meisten Texten als normal und selbstverständlich (so schon in den Tableaux des mœurs 1760, nur angedeutet in Thérèse 1748), nicht nur, wenn sie, wie in Klöstern, mangels anderer Möglichkeiten praktiziert wird; dementsprechend findet z.B. häufig auch an anderen Orten die erste sexuelle Initiation der Protagonistin durch eine erfahrene Partnerin statt, wo es dann auch zu lesbischen Akten kommt; mit Ausnahme des Lesbierinnenclubs in den Confessions d’une jeune fille 1784 sind die Frauen aber im Regelfalle dominant heterosexuell, wenngleich lesbischen Spielen nicht abhold. Männliche Homosexualität - die ranghöchste NV sex überhaupt - findet sich erheblich seltener, wenngleich sie schon im ersten Text meines Korpus, Dom B*** (= “bougre” = Homosexueller) zwar schon im Titel vorkommt, in der Erzählung selbst aber nur am Rande auftritt. Auch dominant heterosexuelle Männer sind gelegentlichen (aktiven) homosexuellen Akten nicht abgeneigt (vgl. Mirabeaus Le rideau levé 1786, Nerciats Mon Noviciat 1792). Aber auch dominant homosexuelle Männer finden sich (so in Mon Noviciat oder Le diable au corps 1803 und natürlich in de Sades Romanen: der Philosophie dans le boudoir 1795, Justine 1787, Juliette 1796). Bei männlicher wie weiblicher Hetero- oder Homosexualität können alle christlich verpönten Praktiken auftreten: manuelle, oral-genitale, oral-anale, Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 305 genital-anale; der homo- oder heterosexuelle Analverkehr erfreut sich einer bemerkenswerten Beliebtheit. Die Texte treffen aus dem Angebot an NV sex je eine unterschiedliche Auswahl; den vollständigsten Katalog aller NV sex weist selbstverständlich wieder de Sade auf. Verbreitet ist auch der scheinbare (z.B. Dom B***, Le rideau levé, Mon Noviciat) oder tatsächliche (z.B. Mon Noviciat, Le rideau levé, Philosophie dans le boudoir, Justine, Juliette, Restifs Anti-Justine 1798) Inzest, bei dem die Hierarchie (Bruder + Schwester) < (Vater + Tochter) < (Mutter + Sohn) gilt; die Inzestfälle sind umso seltener, je höherrangiger sie sind (Restif und de Sade lassen aber keine der Varianten aus). Bei de Sade gibt es selbstverständlich zudem auch den homosexuellen Inzest in allen Varianten. Da Sexualität im ppR dem Lustgewinn dient und die Beziehungen höchstens kurzfristig emotionalisiert sind, gilt im Korpus auch keine Treueverpflichtung; die Protagonist(inn)en haben denn auch meist eine ganze Serie von sukzessiven oder simultanen Partner(inne)n. Nicht selten findet Sexualität nicht als solche eines Paares in Abgeschlossenheit, sondern in einer Gruppe statt, sei es bei eher zufälligen oder abgesprochenen Begegnungen mehrerer Figuren, sei es in einer Art Sexclub (so z.B. Dom B***, Confessions d’une jeune fille, Les Aphrodites 1793, Juliette); bei Sexualität zu mehreren finden dann auch Partnerwechsel und Mehrfachgruppen (z.B. Dreiergruppen: Mann-Mann-Frau, Frau-Frau-Mann) statt. Nun ist selbst die Darstellung einer vergleichsweise harmlosen NV sex (z.B. eines nichtehelichen genitalen Koitus) in doppelter Hinsicht im 18. Jahrhundert schon ein semiotisches Phänomen, sofern der Sexualakt von der Figur ohne Reue und ohne Sanktionen vollzogen und also die NV sex als normal, natürlich selbstverständlich gesetzt und damit das NS sex negiert wird: Denn ein solches Verhalten (der Figur wie des Textes) wird im Denksystem der Epoche notwendig selbst schon als Zeichen wahrgenommen - als Zeichen einer religiös abweichenden Position, einer dezidiert nicht-christlichen Einstellung. Solche sexuelle Abweichung indiziert automatisch die ideologische Abweichung, selbst wenn nichts Derartiges im Text thematisiert würde. Ist nun aber der Sachverhalt selbst schon zeichenhaft, ist es seine sprachliche Darstellung im Text umso mehr. Denn hier würden die pragmatischen Regeln des Redens über Sexualität gelten. Wenn denn überhaupt über einen Sexualakt gesprochen werden muss, sollte er in diesem System der “bienséance” nicht direkt benannt, schon gar nicht mit Hilfe jener Lexeme, die als “ordinär” oder “obszön” gelten, sondern periphrastisch und metaphorisch umschrieben werden. Genau von einem solchen präzisen, aber verbotenem Vokabular macht der ppR aber Gebrauch. 9 Aber selbst diese Steigerung der Verletzung des Sachtabus (durch den Sexualakt) durch Verletzung des Sprachtabus (“ordinäre” Benennung statt “feiner” Umschreibung) erlaubt eine weitere Steigerung, indem der Sachverhalt nicht nur benannt, sondern ausführlich deskriptiv spezifiziert wird, wovon die Texte reichlich Gebrauch machen. Sie teilen uns - zum Beispiel - eben nicht nur mit, X koitiere mit Y, sondern beschreiben etwa die Stadien der Erregung (und deren körperliche Symptome) und der (totalen, auffällig oft aber auch nur partiellen) Entkleidung, die Details der entblößten Körper, die einzelnen Schritte des Sexualaktes bis zum - normalerweise - beiderseitigen Orgasmus, und natürlich die - positiven - Gefühle der Beteiligten bei all diesem. Indem sie Begehren, Erregung, Lust nicht nur nennen, sondern beschreiben, intendieren sie unverkennbar auch die Erregung der Leser(innen); Rousseau soll denn auch die ppR “ces livres qu’on ne lit que d’une main”, “diese Bücher, die man nur mit einer Hand liest” (da die andere anderweitig benötigt wird), genannt haben (Goulemot: 1991). Die damit implizierte Situation der Leser(innen) kann auch - in einer mise en abyme - im Text selbst gespiegelt werden, wenn von einer Figur (so z.B. in Mon Noviciat) ein ppR gelesen wird und diese dabei onaniert. Wir haben dann eine Homologie: In einem Text X Michael Titzmann 306 verhält sich eine Figur zu einem Text Y wie sich außerhalb des Textes X Leser(innen) zu dem Text X verhalten (sollen). Noch eine zweite - und immer auftretende - Homologie muss hier erwähnt werden: Wie der Text selbst unter Einsatz pragmatische Normen der Rede verletzender Lexeme über Sexualorgane und Sexualakte zu den Leser(innen) spricht, so tun dies auch im Text die Figuren unter einander. Zwei Typen solcher Rede sind besonders signifikant und besonders rekurrent. Zum einen haben wir häufig die Situation, dass eine sexuell unerfahrene Figur von einer sexuell erfahrene(re)n (auch) verbal in Sexualität initiiert wird: 10 Hier werden die Genitalien und die mit bzw. an ihnen ausführbaren Akte im Detail erläutert und benannt; quasi-definitorisch wird hier ein terminologisches System eingeführt, gelegentlich in einer nomenklatorischen Orgie, bei der auch die Synonyma aufgelistet werden - die sachliche Einführung ist zugleich auch eine sprachliche, und sie ist es für die Figur wie für die Leser(innen). Zum anderen haben wir in den Texten sehr häufig eben die mehr oder weniger umfänglichen theoretischen Diskurse, in denen eine Figur gegenüber anderen das NS sex diskutiert und partiell oder total negiert, am ausführlichsten bei den “Wüstlingen” de Sades, die zur Not auch mitten im Sexualakt perorieren. Doch die Darstellung abweichender Sexualität im ppR hat noch weitere relevante semiotische Aspekte. Das Frankreich des 18. Jahrhunderts ist vom politisch machtgestützten, in jeder Hinsicht repressiven Katholizismus dominiert, gegen den der Diskurs der Aufklärung - einer sehr kleinen intellektuellen Minorität - ankämpfen muss (und erstaunlich erfolgreich ankämpft). Die Auseinandersetzung mit diesem führt auf seine Weise eben auch der ppR, und das hat insofern semiotische Folgen, als religiöse Strukturen (Klöster, Klerus und deren Folgen für die Sozialisation Heranwachsender) und religiöses Vokabular thematisch werden. Recht häufig sind Klöster als Handlungsorte und Mönche, Nonnen, Priester beteiligte Figurengruppen (so schon in Dom B***). Was das Kloster und seine Insassen betrifft, manifestiert sich hier zum einen die allgemeine Aversion der Aufklärung gegen sozial parasitäre Gruppen, die nichts zum Wohle der Gesellschaft beitragen, wobei Mönche im ppR fast ausnahmslos als negativ erscheinen, während den jungen Frauen, die ihre Familie zeitweilig - zum Zwecke der “Erziehung” - oder dauernd - z.B. um sie von Erbansprüchen abzuhalten - im Kloster deponiert haben, mit Sympathie begegnet wird. Sonstige normverletzende Kleriker, insbesondere die vielen weltlichen Abbés, können durchaus als positiv erscheinen, wenn sie sich als ideologisch aufgeklärt erweisen (so z.B. in Thérèse). Bemerkenswert ist, dass es in den Texten überhaupt keine positiv bewerteten Vertreter des Katholizismus zu geben scheint. Zum anderen erscheint das Kloster, das den katholischen Wert der “Keuschheit” repräsentiert, als Ort widernatürlichen Zwanges, einer Vergewaltigung der menschlichen “Natur”, die sich dann eben in männlicher oder weiblicher Homosexualität oder in der heimlichen Einschleusung von Frauen in Männerklöster (so wiederum schon Dom B***) bzw. von Männern in Frauenklöster (z.B. Mon Noviciat) rächt. In manchen Fällen lässt der ppR in Klöstern richtige Orgien mit Gruppensex stattfinden (systematisiert bei de Sade, etwa in Juliette). Generell werden nun Sexualakte gern in einem quasi-religiösen Vokabular beschrieben. Die erste Einführung in Sexualität kann als “initiation” (z.B. in die “mystères de l’amour/ de Vénus”) benannt werden, also als eine Einweihung in einen religiösen, unzweideutig “heidnischen” (Mysterien-)Kult. Was an sich dem Willen des christlichen Gottes zuwider ist, erscheint hier gerade als Gottesdienst. Auch kann der Leib der Frau als “autel”, “altar” benannt werden, auf dem der Liebhaber, sozusagen als “Gläubiger”, ein “sacrifice”, ein Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 307 “Opfer” bringt: christlich gesehen natürlich hochgradig blasphemisch; auch hier wird der Sexualakt zum Gottesdienst. Wie sich die Figuren an der Benennung von Genitalien und Sexualakten, nicht zuletzt eben in einer “ordinären” Sprache, erregen können, so können sie sich im Extremfall auch an der Selbstbenennung als Normverletzer erregen, z.B. durch Selbstklassifikationen etwa als “putain”, “Hure”, oder “bougre”, “Arschficker”. Was christlich gesehen ein extrem negativ wertendes Prädikat wäre, wird hier zum libertinen Adelsprädikat umsemantisiert: So jubelt etwa die 15jährige Eugénie nach ihrer sexuellen Initiation in Sades Philosophie dans le boudoir: “Me voilà donc à la fois incestueuse, adultère, sodomite, et tout cela pour une fille qui n’est dépucelée que d’aujourd’hui! … Que de progrès, mes amis! … avec quelle rapidité je parcours la route épineuse du vice! … Oh! je suis une fille perdue! ” (299) “So bin ich nun zugleich inzestuös, ehebrecherisch, sodomitisch, und das alles bei einem Mädchen, das gerade erst heute entjungfert worden ist! … welche Fortschritte, meine Freunde! … mit welcher Schnelligkeit durcheile ich die dornige Straße des Lasters! … Oh! ich bin ein verlorenes Mädchen! ” Bei de Sade - auch hierin wieder alle anderen überbietend - wird der Lustgewinn seiner Normverletzer noch dadurch gesteigert, dass sie sich im jeweiligen Sexualakt gern in blasphemisch-antichristlichen Ausrufen und Flüchen ergehen; auch verdoppeln sie gern den Sexualakt durch seine sprachliche Beschreibung, indem sie entweder vor ihm sprachlich vorgeben, was geschehen soll, oder in ihm zugleich sprachlich artikulieren, was geschieht. Generell gilt, dass der sprachliche Tabubruch, das Reden über Sexualität, ob es sich nun einer eher “dezenten” oder einer “ordinären” Sprache bedient, im ppR als Luststeigerung fungiert. Wie auch in nicht-pornographischen Texten, wo die im 18. Jahrhundert ja so beliebte “(Selbst-)Verführung” auch nicht zuletzt mittels Worten geschieht, wird hier den Zeichen eine fast magisch-beschwörende, lusterzeugende oder luststeigernde Macht zugeschrieben, die quasi-religiös zelebriert wird. Der ppR radikalisiert hier nur, was auch in anderen Texten in erotischen Situationen geschieht. Es ist, wenn man so will, zugleich die emotionale Leistung dichterischer Sprache, die hier illustriert wird. Unter den non-verbalen Zeichen, die im ppR eine Rolle spielen, seien die (biologischen) Körperzeichen und die (sozialen) Kleidungszeichen noch hervorgehoben. Bei den Körperzeichen gibt es die “objektiven” Zeichen der “Geschlechtsreife”, bei den junge Frauen etwa sich allmählich abzeichnende Brüste, und die “subjektiven” Zeichen einer unerklärlichen, auch physischen Unruhe, einem Wunsche nach einem unbekannten Etwas (sehr hübsch z.B. in Dom B***), die sich auch in frühzeitiger Onanie äußern können (z.B. Thérèse). Es gibt die Zeichen der sexuellen Erregung (“bander”): Veränderungen von Gesichtsfarbe, Stimme bzw. Sprechweise, der Genitalien (Erektion bzw. feuchter Schoß: “con mouillé”). Es gibt die Zeichen des Orgasmus (“décharge”), der bei beiden Geschlechtern als “Erguß” gedacht wird. Auch bei solcher Körpersemiotik hat Sade wiederum einen Sonderstatus: Bei seinen Körperbeschreibungen gilt besondere Aufmerksamkeit der Form und Größe des Penis. In der Kultur des 18. Jahrhunderts gibt es einen eindeutigen geschlechtsspezifischen Kleidungscode: Das Geschlecht soll unzweideutig an der Kleidung erkennbar sein. Nicht nur im ppR, aber in diesem sehr rekurrent, kennt die Literatur des Zeitraums den vestimentären Geschlechtswechsel, bei dem sich ein junger Mann als Frau, eine junge Frau als Mann kleidet, wobei angenommen wird, dass das wahre Geschlecht der Figur dann nicht mehr erkennbar sei. In der Personwahrnehmung dominiert also das soziale System der vestimentä- Michael Titzmann 308 ren Zeichen eindeutig über das natürliche System der biologischen Zeichen. Wenn der Geschlechtsunterschied so sehr durch kulturelle Zeichen markiert werden muss, dann gibt es im Sozialsystem offenbar ein Problem, das an den Folgen vestimentärer Geschlechtswechsel sichtbar wird. Solche Verkleidung, die sehr verschieden motiviert sein kann, führt fast regelmäßig zu - gewollten oder ungewollten - erotischen Komplikationen: Die verkleidete Figur wird von einer gleichgeschlechtlichen Figur begehrt, also in heterosexueller Absicht, die bei Realisierung aber zu Homosexualität führt; oder sie wird von einer andersgeschlechtlichen Figur begehrt, also in homosexueller Absicht, die bei Realisierung aber zu Heterosexualität führt. Wenn das wahre Geschlecht der begehrten Figur - im ganz wörtlichen Sinne - aufgedeckt wird, kann die begehrende Figur, enttäuscht oder verärgert, von ihrem Vorhaben Abstand nehmen oder es dennoch realisieren: Nicht wenige dominant hetero- oder dominant homosexuelle Figuren des ppR sind ggf. auch zu einem Sexualakt bereit, der nicht ihrer Präferenz entspricht. Im vestimentären Geschlechtswechsel wird jedenfalls mit einer Auflösung der kulturell eindeutig festgelegten Geschlechterrollen und einer potentiellen Aufhebung der kulturell so relevanten Opposition von Heterovs. Homosexualität gespielt. Im Extremfall, also wiederum bei de Sade, sind ohnedies alle Normverletzer mehr oder weniger bisexuell, und auch die dominant homosexuellen Männer können sich sehr wohl auch für einen weiblichen Hintern begeistern. Zum Abschluss ein letzter Punkt. Die ppR-Texte sind im Regelfalle auch mit Illustrationen zu einzelnen Szenen ausgestattet. 11 Dieses ikonische Zeichensystem, das das sprachliche Zeichensystem und die mit dessen Hilfe vermittelten non-verbalen Körper- und Kleidungszeichen begleitet, würde ebenfalls eine Interpretation verdienen: was wird - und wie - illustriert? Da dieses ikonische System des ppR wiederum im Kontext der sonstigen ikonischen Praktiken des 18. Jahrhunderts funktioniert, bedürfte es dazu freilich einer kunsthistorischen Kompetenz, die ich mir nicht anmaßen kann. Literaturverzeichnis Literarische Texte Legende ? (nach Datum oder Namen): = ungesicherte Annahme [Name]: = Zuschreibung anonym erschienener Texte Verw. A.: = verwendete Ausgabe (Wenn nichts anderes angegeben ist, handelt es sich um die Erstausgabe.) L: = Prévot, Jacques (ed.) 1998 u. 2004: Libertins du XVIIe siècle, Paris. R: = Romanciers du XVIIIe siècle. Hg. von Etiemble. Bd. II. Paris 1965. RL: = Lasowski, Patrick Wald (ed.) 2000 u. 2005: Romanciers libertins du XVIIIe siècle, Paris. HE: = Heyne Exquisit. GF: = Garnier Flammarion. CG: = Classiques Garnier. 1655 Anonym: L’Ecole des filles [L II, S. 1099-1202]. 1660 [Nicolas Chorier ? ]: Aloisiae Sigeae Toletanae Satyra Sotadica De Arcanis Amoris seu Veneris. Aloisa Sigea Hispanice sripsit, Latinitate donavit Joannis Meursii. [Ausgaben 1670? , 1676, 1678; zahlreiche Übs. im 18. Jh.; zitierte Ausgabe: Joannis Meursii Elegantiae Latini Sermonis […]. Lugduni Batavorum 1752. Neudruck: a cura di Bruno Lavagnini. Catania 1935]. Zeichen der Lust - Lust am/ als Zeichen 309 1740 ? / 1741 ? [Jean-Charles Gervaise de Latouche? (1715-1782)]: Histoire de Dom B***, portier des chartreux. [Verw. A.: Paris 1969; auch in RL I, S. 333-496]. 1742 Claude-Prosper Jolyot de Crébillon / 1707-1777) : Le Sopha, conte moral. [RL I, S. 69-147]. 1745 [Anne-Gabriel Meusnier de Querlon (1702-1780)]: La Tourière des carmélites, servant de pendant au «P. des C» [= Le Portier des Chartreux]. [RL I, S. 587-628]. 1748 [Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens ? (1703-1771)]: Thérèse philosophe. [Verw. A.: Hg. von Jean-Jacques Pauvert. Paris 1998; auch in RL I, S. 867-970]. 1750 Anonym: L’Anti-Thérèse ou Juliette philosophe, Nouvelle Messine véritable par M. de T***. La Haye. 1750 [Louis-Charles Fougeret de Monbron (1706-1760)]: Margot la ravaudeuse [RL I, S. 801-863]. 1760 [Crébillon? La Popelinière (1693-1762)? ]: Tableaux des mœurs du temps dans les différents âges de la vie [RL II, S. 1-201]. 1774 [Barbe de Boyer, marquise d’Argens? ]: La Nouvelle Thérèse, ou la Protestante philosophe. Histoire sérieuse et galante. [Verw. A.: http: / / galenet.galegroup.com]. 1775 [Andréa de Nerciat (1739-1800)]: Félicia, ou mes fredaines. Londres [RL II, S. 591-872]. 1778 Anonym: Mémoires de Suzon, sœur de D.B., portier des chartreux, écrits par elle-même [RL II, S. 873-968]. 1783 [Gabriel Honoré de Riqueti, Marquis de Mirabeau]: (Le Libertin de qualité, ou) Ma Conversion. [Titel variiert in den Ausgaben; RL II, S. 973-1072]. 1784 [Mathieu-François Pidansat de Mairobert (1727-1779)]: Confession d’une jeune fille. In: ders.: L’Espion anglais, ou Correspondance secrète entre milord All’Eye et milord All’Ear. [RL II, S. 1139-1199]. 1786 [Gabriel Honoré de Riqueti, Marquis de Mirabeau? ]: Le rideau levé ou l’éducation de Laure. 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Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Tübingen: Niemeyer: 1-28. [Manuskript, im Ersch.] Titzmann, Michael 1990: “Empfindung” und “Leidenschaft”. Strukturen, Kontexte, Transformationen der Emotionalität/ Affektivität in der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts”, in: Klaus P. Hansen 1990 (ed.): Empfindsamkeiten, Passau: Rothe: 137-166. Titzmann , Michael 1991: “Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel Inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche”, in: Jörg Schönert (ed.): Erzählte Kriminalität, Tübingen: Niemeyer: 229-281. Wünsch, Marianne 2002: “Sexuelle Abweichungen im theoretischen Diskurs und in der Literatur der Frühen Moderne”, in: Christine Maillard u. Michael Titzmann 2002 (eds.): Literatur und Wissen(schaften) 1890-1935, Stuttgart: Metzler: 349-368. Anmerkungen 1 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ Wiki/ Pornografie. 2 Als in den 1970er Jahren in der Taschenbuchreihe Heyne exquisit u.a. eine Menge der ppR erschienen, hatte ein offenbar unterbeschäftigter Münchner Staatsanwalt nichts Dringlicheres zu tun (gab es denn in München keine relevante Kriminalität? ), als für jeden Band mit Hilfe von Gutachten prüfen zu lassen, ob es sich um “Pornographie” im Sinne des Gesetzes handle: Da dies an Assistenten der Universität München im Bereich Literaturwissenschaft delegiert wurde, nahm die Reihe zum Glück keinen Schaden. 3 Auch was verbotene Verwandtschaftsgrade anbelangt, gibt es erhebliche Differenzen zwischen dem kanonischen Recht und den - untereinander wiederum verschiedenen - Regelungen der staatlichen Gesetzgebungen: vgl. dazu Titzmann: 1991. 4 Daher auch die Lexeme frz. “sodomiser” und abgeleitet davon dt. “Sodomit”, “sodomiert”, “sodomisiert” für eine männliche Person, die anal penetriert wurde. Das System der Klassifikation und Benennung abweichender Sexualität, das bis heute überdauert hat, entwickelt sich erst im späten 19. Jahrhundert - vgl. dazu Foucault: 1976ff und Wünsch: 2002. 5 Vgl. dazu im Überblick Titzmann 1990. 6 Als Beispiele können etwa Crébillons Tableaux des mœurs oder Nerciats Romane Les Aphrodites und Le diable au corps genannt werden. 7 Eine Abweichung ist Sades “tugendhafte” Justine, die aber, im Gegensatz zu seiner Juliette, im ppR-Korpus insofern die Ausnahme ist, weil sie bewusst nach dem Modell der “Heldin” des eR - der hier durch ihr totales Scheitern und auch verbal explizit verhöhnt wird - modelliert ist. 8 Männliche Protagonisten haben von diesen Texten nur Dom B***, die Anti-Justine und L’Enfant du bordel. 9 Nur einige Beispiele: “con” = Vagina, “cul” = Anus, “vit” = Schwanz, “bander” = in sexueller Erregung sein, “décharger” = entladen, einen Orgasmus haben, “foutre” = ficken, “enconner” = vaginal penetrieren, “enculer” / ”sodomiser”= anal penetrieren, “(se) branler” = (sich) manuell erregen, “bougre” = Homosexueller (auch generell: jmd. mit Präferenz für Analverkehr), “godemiché” = künstlicher Penisersatz, usw. 10 So im Übrigen schon im 17. Jahrhundert in zwei Texten aus Frankreich: der Ecole des filles 1655 und der Aloisia Sigea 1660. 11 Das Material findet sich in den beiden von Patrick Wald Lasowski hg. Bänden Romanciers libertins du XVIIIe siècle, Paris 2000 und 2005. Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’: Textuelle Konkretisierungsverfahren zwischen Zeichendeutung und Referenzialisierung in der Komödie Der Hofmeister von J.M.R. Lenz Andreas Blödorn & Madleen Podewski Der Beitrag fasst das ‘Konkrete’ relational, als Resultante textinterner Prozesse von Bedeutungserzeugung. In Lenz’ Komödie Der Hofmeister ist es in ein dramenspezifisches Spektrum an Referenzerzeugungen eingebettet, die sich aus den unterschiedlichen Bezügen zwischen Haupt- und Nebentext, zwischen Reden und Handeln der Dramenfiguren und zwischen auktorialer und figuraler Perspektive ergeben. Hier lassen sich - weitgehend unabhängig von Figuren und Themen - Inkonsistenzen im Sprachgebrauch (‘authentische’ vs. ‘konventionalisierte’ Rede), Probleme in der Deutung von ‘Realität’ (Wissen vs. Nichtwissen) und im Handeln in ihr (reden vs. handeln) beobachten. Diese Referenzpluralisierung wird einzig in der Liebeskommunikation der Kindergeneration (Läuffer/ Gustchen, Läuffer/ Lise) im wechselseitigen schweigenden Anschauen still gestellt. Das ermöglicht eine Umstellung des Verhaltens von Selbstauf Fremdreferenz, die schließlich auch zum Handlungsmodell für die Elterngeneration wird. Gezeigt wird, dass diese Form der ‘Konkretisierung’ keine Sprach- oder Zeichenkritik übt, sondern dass sie in kontingente Ereignisfolgen und pluralisierte Zeichenprozesse involviert bleibt, für die das Drama insgesamt kein Erzählmodell zur Verfügung stellen kann. In this article, the ‘concrete’ is understood as a relational category, as the result of intratextual processes of meaning constitution. In Lenz’ comedy Der Hofmeister it stands in relation to various modes of reference constitution which are specific to drama, such as the relationship between primary text and stage directions, between speech and action, and between authorial and figural perspectives. In this play, inconsistencies in the use of language (‘authentic’ vs. ‘conventionalised’), difficulties in interpreting reality (‘knowledge’ vs. ‘ignorance’), and contrasting ways of relating to reality (‘talking’ vs. ‘acting’) can be observed - irrespective of themes and figures. It is only the second generation (Läuffer/ Gustchen, Läuffer/ Lise) who interrupt the resulting diversification of references in their erotic dialogues through their mutual and silent gazes. Thus, a switch from self-reference to external reference is made possible, which eventually becomes a behavioural model for the parents as well. It is argued, that this sort of ‘concreteness’ is no means of a fundamental language scepticism but that it remains embedded in a chain of accidents and in multiplied processes of signification for which this play does not provide a narrative model. Fritz und Gustchen, Cousin und Cousine, schwören sich allzu früh ewige Treue; der Hofmeister Läuffer verführt das ihm anbefohlene Gustchen; der wütende Vater schießt auf den Verführer seiner Tochter; die stürzt sich nach der Geburt ihres Kindes aus Verzweiflung in einen Teich; ihr Vater kommt ihr in letzter Sekunde zu Hilfe; Cousin und Cousine finden so K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Andreas Blödorn & Madleen Podewski 312 schließlich doch noch zueinander; der Verführer Läuffer aber kastriert sich selbst und findet dennoch seine große Liebe in der Dorfschönen Lise, die ohnehin auf Sexualität verzichten und keine Kinder haben möchte, weil sie genug “Enten und Hühner” 1 (89) zu füttern hat. Damit nicht genug: in Jakob Michael Reinhold Lenz’ im Untertitel als “Komödie” 2 bezeichnetem Drama Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (1774) droht der Vater zudem seinem ungelehrigen Sohn, “ich will dich peitschen, dass dir die Eingeweide krachen sollen” (10), “ich zerbrech dir dein Rückenbein in tausend Millionen Stücken” (10) und “Ich will dich zu Tode hauen” (11). Gewalt und Sexualität werden im Hofmeister mithin nachdrücklich präsent gehalten. Doch bei Lenz wird von all dem (beinahe) nichts gezeigt, besprochen dafür umso mehr. Einzig der Schuss auf den Verführer Läuffer wird handelnd auf der Bühne vollzogen und findet seinen Niederschlag in Haupt- und Nebentext: “MAJOR (mit gezogenem Pistol). Dass dich das Wetter! […] (Schießt und trifft Läuffern in Arm, der vom Stuhl fällt.)” (59). Die Androhung von Gewalt gegen den Sohn aber bleibt bloße Rede, und die (für die verhandelte Moral zentrale) Kastrationsszene wird lediglich nachträglich berichtet. Die sprachliche ‘Entdeckung’ der Kastrationshandlung ersetzt hier die körperlichreale ‘Ent-Deckung’ der Kastration, die auf der Handlungsebene verweigert wird, wenn der geständige Läuffer die Laken nicht aufdecken will: “Liegt Euch was auf dem Gewissen? Sagt mir’s, entdeckt mir’s unverhohlen. […] Was verzerrt Ihr denn die Lineamenten so -“ (73). Und als Läuffer seiner geliebten Lise verrät “ich kann bei dir nicht schlafen” (89), da antwortet diese nur: “So kann Er doch wachen bei mir, […] - Denn bei Gott! ich hab ihn gern.” (89). Sexuelle und gewalttätige Handlungen (bzw. deren Unterlassung) stehen in Lenz’ Hofmeister also im Mittelpunkt der Rede - im eigentlichen Sinne gehandelt wird davon jedoch wenig. Vor diesem Hintergrund wollen wir die Frage nach der ‘Konkretisierung’ im semiotischen Sinne präzisieren und dabei auf doppelte Weise fassen: 1. Zum einen formulieren wir mit Blick auf Gattungsspezifika die Frage nach der textinternen Produktion von ‘Konkretem’ als Frage nach gattungsspezifischen Erzeugungsformen von Referenz. Dramentexte präsentieren Figurenrede in den meisten Fällen direkt und ohne den Filter einer vermittelnden Kommunikationsinstanz; der Nebentext kann außerdem Informationen liefern, die nicht zum Sprachkode der Dramenfiguren gehören (zu Mimik, Gestik, Proxemik, Kleidung, Raum, Zeit). Mit der Kombination dieser beiden funktional aufeinander bezogenen Textsorten verfügen dramatische Texte über die Möglichkeit, Signifikationen über das Zusammenspiel von figuraler und auktorialer Ebene zu gestalten, d.h. über die Relationierung unterschiedlicher, hinsichtlich Fiktionalität und Geltungsanspruch zu trennender Sprecherpositionen im äußeren (Nebentext) und inneren Kommunikationssystem (Figurenrede) des Dramas. Das wiederum eröffnet Möglichkeiten zu breit gestreuten Formen drameninterner Referenz: Die Reichweite bewegt sich hier von einer handlungsbegleitenden Referenzialisierung durch den Nebentext, die im direkten Bezug auf die gerade stattfindende Aktion gewissermaßen vorgeführt (und dann beglaubigt, komplettiert oder kontrastiert) wird, bis hin zur narrativen und figurengebundenen Vermitteltheit von ansonsten nicht präsentem Geschehen (z.B. via Botenbericht oder Teichoskopie; vgl. Pfister 1988: 73ff.). Hier lässt sich zunächst einmal festhalten, dass Nebentext im Hofmeister nur sehr sparsam eingesetzt wird und die Informationsvergabe über die drameninterne Welt also hauptsächlich der Figurenrede anvertraut ist. Der Nebentext beschränkt sich zudem fast ausschließlich auf gestische und proxemische Anweisungen; Zeit und Raum, Kleidung und Mimik bleiben ebenso unspezifisch wie Angaben über den emotionalen Zustand der Figuren fast völlig Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 313 fehlen (vgl. dazu auch Schulz 1994: 193ff.). Dies bedeutet insbesondere, dass auch eine ganze Reihe von zentralen, den Geschehensverlauf bestimmenden Handlungen nicht direkt in der dramatischen Aktion, sondern über Figurenrede vermittelt, nicht aber als Handlung gezeigt und durch Regieanweisungen auktorial präzisiert werden. Das betrifft auch den Komplex ‘Sexualität’: Von der Kastration erzählt Läuffer beispielsweise nachträglich: “Ich habe mich kastriert …” (73); gleiches gilt für das eheliche Paarungsverhalten des Majors, über das dem Grafen Wermuth von der Majorin berichtet wird: Neulich hatt er wieder einmal den Einfall bei mir zu schlafen, und da ist er mitten in der Nacht aus dem Bett aufgesprungen und hat sich - He he, ich sollt's Ihnen nicht erzählen, […] Auf die Knie niedergeworfen und an die Brust geschlagen und geschluchzt und geheult, dass mir zu grauen anfing (36). Ebenso erfährt man von Pätus’ nächtlichem Überfall auf die Musikertochter erst in der Auseinandersetzung zwischen Fritz und Rehaar, auch Gustchens ‘Schändung’ ist nur in der abgebrochenen und ausgedeuteten Rede zwischen Majorin und Major präsent: “MAJORIN. Deine Dochter - Der Hofmeister. - Lauf! […] MAJOR. Hat er sie zur Hure gemacht? ” (44). Das mag noch als Rücksichtnahme auf zeitgenössische Darstellungstabus verrechnet werden, diese Art der Geschehensvermittlung gilt gleichwohl auch für andere, nicht mit solchen Tabus belegte Bereiche, so dass hier von einem texttypischen (und von der Thematik emanzipierten) Verfahren ausgegangen werden kann: Über den von Hunden verfolgten Pätus im Wolfspelz etwa wird in II, 4 von Jungfer Knicks berichtet und über Fritzens studentische Ausschweifungen wird der Vater in einem vorgelesenen Professorenbrief informiert (IV, 1). Ähnliches gilt für Läuffers Dasein als Hauslehrer (II, 1) sowie für Gustchens Selbstmordversuch inklusive Rettung. Dementsprechend wird das Rettungsgeschehen ganz hinter die Szene verlagert, ein Augenzeugenbericht wird nur vermittelt wiedergegeben (und dies ausgerechnet durch eine blinde Alte), und die Verleumdung Fritzens erfolgt durch einen nur vorgelesenen Brief Seiffenblases. Auffällig ist ebenso, dass über Aussehen, Emotionen und Verhalten von Figuren nicht im Nebentext informiert wird, sondern wiederum durch die Figurenrede (vgl. dazu auch Schulz 1994: 195). So ‘beredet’ der Major die Wirkungen seiner brachialen Erziehungsmethoden (“Seht da zieht er das Maul schon wieder. Bist empfindlich, wenn Dir Dein Vater was sagt? ”; 10) und der Graf Wermuth das veränderte Aussehen des Majors (“In der Tat, Herr Major, Sie haben noch nie so übel ausgesehen, blass, hager”; 37). Eine solche Organisation der Informationsvergabe führt im ersten Fall, d.h. im von den Figuren nachträglich erzählten Geschehen, zu einer sprachlichen ‘Überdeckung’ der Handlung, die nicht aus übergeordneter auktorialer Sicht, quasi a-perspektivisch (‘nullfokalisiert’) und nicht als direktes und innerhalb der dramatischen Welt unmittelbar präsentes Geschehen konkretisiert, sondern vielmehr figurenperspektivisch eingebunden und verbal vermittelt wird. Im zweiten Fall, der Begleitung von Handlungen durch Figurenrede, ergeben sich durch die Parallelisierung von Sprache und Physiognomie Redundanzen, die wiederum auf die unverzichtbare Relevanz einer verbalen Sprache verweisen, in welche die Körperzeichen erst einmal übersetzt werden müssen. Komplementär dazu verweist der Nebentext - und mit ihm eine Instanz, die innerhalb der drameninternen Kommunikation auf einer höheren Ebene angesiedelt sein muss - aber auch auf die Absenz von Sprache und damit auf deren Grenzen. So heißt es in der fünften Szene des zweiten Aktes - Gustchen und Läuffer befinden sich am und auf dem Bett in Gustchens Zimmer -: “GUSTCHEN: Grausamer, und was werd ich denn anfangen? (Nachdem beide eine Zeitlang sich schweigend angesehen.)” (34). Das wortlose Anschauen wiederholt sich darauf: “LÄUFFER (küsst ihre Hand lange wieder und sieht sie Andreas Blödorn & Madleen Podewski 314 eine Weile stumm an)” (35). Ähnliches findet sich in der Konstellation Läuffer/ Lise, hier bleibt Läuffer “in tiefen Gedanken sitzen” und sieht Lise “eine Weile verwirrt an” (85), während sie ihm zuvor “lang stillschweigend” zugesehen hat (85). 2. Zum zweiten betrachten wir hinsichtlich der Ausgangsfrage nach ‘Konkretisierungsverfahren’ auf der Handlungsebene des Stückes auch das Verhältnis zwischen Sprache und Handlung als Vorgabe für Möglichkeiten der Referenzerzeugung. Auffällig im Hofmeister ist, dass vor allem die im Bereich Erziehung, Gewalt und Sexualität figural explizit verhandelten Werte und Normen im Handlungsverlauf durch das vorgeführte Verhalten der Figuren widerlegt werden. Und das betrifft bemerkenswerter Weise alle Figuren des Textes, so dass es als eine Regularität der dargestellten Welt an sich gelten muss, dass Figurenrede und Figurenhandeln in diesen Bereichen einander nicht nur prinzipiell widersprechen, sondern dass Handlung vielmehr auch als Falsifizierung moralischer Rede etabliert wird. Was von den Figuren als Moral zunächst ideell-theoretisch etabliert und kommuniziert wird, erweist sich folglich im Moment ihrer ‘Übersetzung’ in die Realität der dargestellten Handlungswelt als unhaltbar. Neben den skizzierten verschiedenen Formen sprachlichen Realitätsbezugs wird damit auch der Zeichengebrauch - die Referenzerzeugung im Spannungsfeld von ‘reden’ vs. ‘handeln’ - als eines der Grundprobleme der dargestellten Welt des Hofmeister positioniert. Wie wir unten noch zeigen werden, ist genau an diesen Gegensatz von ‘reden’ vs. ‘handeln’ dann auch die Änderung des Figurenverhaltens am Ende des Dramas gekoppelt; denn die drameninterne, veränderte Realität ‘zwingt’ die Figuren, ihren zentralen Argumentationsmodus von der Selbstreferenz auf Fremdreferenz umzustellen: Nicht länger die eigene Erfahrung und die eigenen Normen und Wertvorstellungen erweisen sich am Ende als maßgeblich, sondern allein die Akzeptanz des davon abweichenden ,Anderen’ ermöglicht den Figuren das Bestehen in einer veränderten Realität (beispielsweise die schließlich freudige Akzeptanz der Heirat von Fritz und Gustchen durch deren Vater). Aus diesen Ausgangsbeobachtungen wird bereits deutlich, dass das Drama ein ganzes Spektrum von Formen, Reichweiten und Problematisierungen sprachlicher Referenzialisierung und damit auch der Kommunikationen und Handlungen zeigt, die an einen solchermaßen vervielfältigten Sprachgebrauch gebunden sind. In solche Referenzpluralisierungen sind die zentralen thematischen Komplexe von Lenz’ Drama - das Dreieck von Erziehung, Gewalt und Liebe/ Sexualität - auf signifikante Weise involviert. Damit verhandelt der Text nicht einfach nur das, worüber auch seine Figuren reden (Gewalt, Sexualität, Familie, Ehe, Erziehung, Moral etc.); mit der Vorführung eines Nebeneinanders verschiedener Formen gelingender und nicht gelingender Referenzerzeugung verhandelt er vor allem und grundsätzlich Zeichenprobleme: Probleme der sprachlichen Repräsentierbarkeit von ‘Realität’, des Wissens über sie und des Handelns in ihr. 3 Was das für die literarische Diskursivierung von Gewalt und Sexualität bedeutet, wollen wir an vier ausgewählten Problemkomplexen genauer zeigen: (I) Zeichendeuten, (II) Wissen vs. Nicht-Wissen, (III) ‘Authentizität’ vs. ‘Konventionalität’, (IV) Reden vs. Handeln. I.) Zeichendeuten Auffällig häufig sind fast alle Figuren des Dramas damit beschäftigt, beobachtete Realität sprachlich zu erfassen und dabei zum Zeichen zu machen, dessen Bedeutung erschlossen werden muss. Wo das gelingt, wird gewissermaßen vorgeführt, wie in einer Art ‘Entdekkungsprozess’ Referenz hergestellt wird: Wenzeslaus etwa ‘beredet’ in V, 3 Läuffers Physiognomie (“Ihr blickt so scheu umher […]. Was verzerrt Ihr denn die Lineamenten so”), die er Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 315 konjunktivisch selbst deutet (“Als ob er jemand totgeschlagen hätte”), um mit der Bitte um ‘Entdeckung’ (“entdeckt mirs unverhohlen”) von Läuffer das richtige Signifikat benannt zu bekommen: “Ich habe mich kastriert” (73). Die semiotische Arbeit kann aber auch zu unaufgelösten Deutungskonkurrenzen führen, wie etwa die Diskussion um das veränderte Aussehen des Majors in II, 6 zeigt: Graf Wermuth ahnt zwar, dass dessen Körperzeichen auf ein psychisches Signifikat deuten (“Sie haben noch nie so übel ausgesehen, blass, hager. Sie müssen etwas haben, das Ihnen auf dem Gemüt liegt”), fordert aber gleichfalls eine präzisierende Referenzialisierung ein: “was bedeuten die Tränen in Ihren Augen, sobald man Sie aufmerksam ansieht? ” (37). Die gibt sowohl die Majorin (“Geiz, nichts als der leidige Geiz”) als auch der Major selbst: “Ich muss wohl schaffen und scharren, meiner Tochter einen Platz im Hospital auszumachen.” (37) Ebenso (und häufiger) aber können solche Referenzialisierungsversuche scheitern: So nimmt Gustchen zwar bestimmte Veränderungen an Läuffer wahr, versteht sie aber nicht (“Aber was fehlt Ihnen denn? Sagen Sie mir doch! […] Die Augen stehn Ihnen ja immer voll Wasser”; 26), die Majorin kann die Gründe für die Veränderungen im Wesen des Majors nicht angeben (“Weiß es der Himmel”; 36), der Major wiederum nicht für diejenigen Gustchens (“Ihre Gesundheit ist hin, ihre Munterkeit, ihre Lieblichkeit, weiß der Teufel, wie man das Dings all nennen soll”; 43). Der Arzt schließlich, der Läuffers Schussverletzung untersuchen soll, verweigert geradezu die Referenzialisierung der Symptome mit Bezug auf die Gefährlichkeit der Verletzung: “Es ließe sich viel drüber sagen - nun doch wir wollen sehen - am Ende wollen wir schon sehen”, und: “Ja die Wunde ist, nachdem man sie nimmt - Wir wollen sehen, wir wollen sehen.” (61). II.) Wissen vs. Nicht-Wissen Eng damit verbunden wird ein großer Teil der Handlungen, wie wir festgestellt haben, in Figurenrede präsentiert und bleibt damit figurenperspektivisch gebunden. Innerhalb der Logik dramatischer Informationsvergabe und vor der Folie der direkten szenischen Präsentation können solche Reden nur einen reduzierten Wahrheitsanspruch erheben. Der Hofmeister verfügt im Wesentlichen über zwei Optionen, den ‘Realitätsgehalt’ von Figurenaussagen zu überprüfen und damit gesichertes ‘Wissen’ herzustellen: durch die Bestätigung bzw. Falsifizierung innerhalb der Figurenrede sowie in Kombination mit der szenischen Präsentation der fraglichen Handlung. So erweist sich der - doppelt, d.h. durch die Nacherzählung eines Briefinhaltes in V, 4 vermittelte - Bericht Rehaars über die “Höflichkeiten” Seiffenblases seiner Tochter gegenüber als falsch, weil in der folgenden Szene der Geheime Rat von Seiffenblases wahren Absichten erzählt. Gustchens Selbstmordversuch und ihre Rettung werden in IV, 4 und IV, 5 vorgeführt; alle weiteren Informationen erweisen sich auf diese Weise als falsch, so etwa Marthes Aussage: Weil sie tot ist, das gute Weib […]. Ein Arbeitsmann vom Hügel ist mir begegnet, der hat sie sich in Teich stürzen sehen. Ein alter Mann ist hinter ihr drein gewesen und hat sich nachgestürzt; das muss wohl ihr Vater gewest sein (70) und auch der Brief Seiffenblases: so werden Sie auch wohl den Unglücksfall nicht wissen mit dem Hofmeister, welcher aus Ihres gnädigen Onkels Hause gejagt worden, weil er Ihre Kusine genotzüchtigt, worüber sie sich so zu Gemüt gezogen, dass sie in einen Teich gesprungen (77). In beiden Beispielen ergibt sich die Falschheit der erzählten Ereignisse durch den Wissensvorsprung auf der auktorialen Ebene im äußeren Kommunikationssystem. Pätus zweifelt Andreas Blödorn & Madleen Podewski 316 allerdings auch als drameninterne Figur an der Richtigkeit von Seiffenblases Nachricht über Gustchens Tod (“wir müssen mehr Bestätigung haben”; 78) und schlägt als Kontrolltechnik die eigene Besichtigung vor Ort vor. Hier und in zahlreichen weiteren Passagen zeigt sich, dass die oben skizzierten Zeichendeutungsprobleme im Kontext des grundlegenderen Problems von Wissensproduktion stehen, das in auffälliger Rekurrenz auch auf der Figurenebene artikuliert wird: Immer wieder wird von den Figuren auf den Stand des eigenen oder fremden Wissens bzw. Nicht-Wissens hingewiesen, allein 19-mal fällt der Satz “ich weiß nicht”; die Thematisierung positiven Wissens aber erfolgt noch weit häufiger (z.B. “Ich weiß”, “Sie wissen ja”, “ich glaube”, “was wissen die Weiber! ”, “wer weiß”, “Weiß Gott! ”, “Weiß es der Himmel! ”, “weiß der Teufel”, “Gott weiß es”, “was weiß ich? ”, “Weißt du was? ”, “ich weiß schon zuviel”, “die ganze Welt weiß”, “Man weiß ja doch”, “Hätt ich das gewusst”, “aber so viel weiß ich”, “Weißt du noch nichts, oder weißt du alles? ” und öfter). Dabei dominiert insgesamt die optische (ergänzt durch haptische) Kodierung von Erkenntnisprozessen; 4 zugleich wird die Ungewissheit der Deutung des Sichtbaren dabei immer auch als ein an Sprache gekoppeltes Wissensproblem bewusst gehalten. So heißt es gleich zu Beginn in I, 1: Mein Vater sagt: ich sei nicht tauglich zum Adjunkt. Ich glaube, der Fehler liegt in seinem Beutel; er will keinen bezahlen. […] bei der Stadtschule hat mich der Geheime Rat nicht annehmen wollen. […] Er nennt mich immer nur Monsieur Läuffer, und wenn wir von Leipzig sprechen, fragt er nach Händels Kuchengarten und Richters Kaffeehaus, ich weiß nicht: soll das Satire sein, oder - Ich hab ihn doch mit unserm Konrektor bisweilen tiefsinnig genug diskurrieren hören; er sieht mich vermutlich nicht für voll an. - Da kommt er eben mit dem Major; ich weiß nicht, ich scheu ihn ärger als den Teufel. Der Kerl hat etwas in seinem Gesicht, das mir unerträglich ist. (5; Hervorhebungen von uns, AB/ MP) III.) ‘Authentizität’ vs. ‘Konventionalität’ Eine weitere Auffälligkeit des Textes besteht in der Verwendung von Redeformen mit unterschiedlichem Authentizitätsgrad. Fremden, weil hochgradig konventionalisierten Text reden z.B. Läuffer und die Majorin (zum Teil in der Hofsprache Französisch; aber auch als abweichender ‘hoher’ Konversationston: “O … o … verzeihen Sie dem Entzücken, dem Enthusiasmus, der mich hinreißt”; 8) oder der Brief Seiffenblases: “Die Erinnerung so mancher angenehmen Stunden, deren ich mich noch mit Ihnen genossen zu haben erinnere, verpflichtet mich, Ihnen zu schreiben und Sie an diese angenehme Stunden zu erinnern.” (77) Fremden, weil literarisierten, d.h. als intertextuelles Rollenspiel angelegten Text redet Gustchen in einer Szene mit Läuffer: “O Romeo! Wenn dies deine Hand wäre. - Aber so verlässest du mich, unedler Romeo! ” (34). Solche Bezüge zu literarischen Vorlagen, die sowohl der Artikulation von Gefühlen und der Einordnung der Paarkonstellationen dienen, sind wiederum durch ein diffuses Verhältnis zwischen Distanz und Nähe dem Prätext gegenüber gekennzeichnet. Gustchen etwa ‘spielt’ Julia ohne direkt aus Shakespeares Drama zu zitieren, sie übernimmt also nur ein Rollenmuster und nicht auch die fremde Rede der Dramenfigur; sie weiß dabei zugleich um den fiktionalen Charakter der Figur und um ihr eigenes Interesse am Rollenspiel. Diese reflexive Distanz hält sie gleichwohl nicht davon ab, in diesem Spiel fortzufahren, in das sie ihr Gegenüber Läuffer mit einbezieht: “GUSTCHEN: […] O unmenschlicher Romeo! LÄUFFER. (sieht auf). Was schwärmst Du wieder? GUST- CHEN. Es ist ein Monolog aus einem Trauerspiel, den ich gern rezitiere, wenn ich Sorgen habe. (Läuffer fällt wieder in Gedanken, nach einer Pause fängt sie wieder an.) Vielleicht bist Du nicht ganz strafbar […]. (Küsst Läuffers Hand inbrünstig.) O göttlicher Romeo! ” (35). - Am Ende des Gesprächs beteiligt sich auch Läuffer an dieser literarischen Überformung von Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 317 Realität: Den Status ihrer Beziehung klären die beiden Figuren im schlagwortartigen Rekurs auf literarische Vorbilder - eine prekäre Form der Kommunikation, die nur bei weitgehender Deckungsgleichheit des implizit bleibenden Wissens gelingen kann: “LÄUFFER. (küsst ihre Hand lange wieder und sieht sie eine Weile stumm an). Es könnte mir gehen wie Abälard - GUSTCHEN. […] Hast Du ‘Die neue Heloise’ gelesen? ” (35). - Auch das erste Gespräch zwischen Gustchen und Fritz nutzt literarische Modelle, um die eigene Situation rollenhaft besprechbar zu machen, und das wiederum in verschiedenen Bezugsformen: als bloße Übernahme des Namens, an den implizit Charaktereigenschaften der Figur gekoppelt werden (z.B.: “FRITZ: […] ich versichere Sie, ich werd in allen Stücken Romeo sein, und wenn ich erst einen Degen trage”; “Ja, wenn alle Julietten wären! ”; 14) und als metonymische Ersetzung des Werkes durch den Autor (z.B.: “GUSTCHEN: Gehn Sie doch! Ja Sie werden’s machen, wie im Gellert steht: er besah die Spitz’ und Schneide und steckt’ ihn langsam wieder ein.”; 14). Den Gegenpol bilden stark expressive Redeformen, die weniger vorgeformt und kontrolliert sind und dabei Syntax und - in manchen Fällen - auch den Sinn fragmentieren bzw. verunsichern - also solche Rede, die dem von Katja Mellmann 2006 herausgearbeiteten ‘emotiven Sprechmuster’ in Sturm-und-Drang-Texten entspricht (z.B. die Reaktion der Majorin auf Gustchens Fehltritt: “Deine Dochter - Der Hofmeister. - Lauf! ” (44); oder die Rettung Gustchens: “Hei! hoh! da ging’s in Teich […]. Nach, Berg! ”; 62). Wichtig festzuhalten ist, dass diese verschiedenen Redeformen eben nicht bestimmten Figuren oder Figurengruppen zugeordnet sind, sondern situativ eingesetzt werden. Ein großer Teil der Figuren kann damit in einer gewissen Variationsbreite über verschiedene Redeformen verfügen. So spricht etwa der Adel nicht durchweg ‘konventionalisiert’; der Major zum Beispiel überhaupt nicht, obwohl gerade er als eine Figur herausgestellt wird, die am meisten an Standesgrenzen festhält; die Majorin wird in ‘höfischer’ Konversation eingeführt, verliert aber bei Entdeckung von Gustchens Fehltritt völlig die Contenance; auch der dozierende Wenzeslaus wird von der Kastrationsnachricht erst einmal überwältigt (“Wa - Kastrier -“), bevor er das Ganze dann wortreich in einen spirituellen Zusammenhang einordnet. Die verschiedenen Redeformen sind auch nicht einheitlich bestimmten Themen zugeordnet, wie am Umgang mit Liebe und Sexualität deutlich wird, sondern ihrerseits weiteren Differenzierungen unterworfen: die asexuelle Liebesbeziehung zwischen dem kastrierten Läuffer und Lise bedient sich eigentlicher, ‘unverstellter’ Sprache, die massiv das emotive Sprechmuster bemüht: “Ich komme, weil Sie gesagt haben, es würd morgen keine Kinderlehr - weil Sie - so komm ich - gesagt haben - ich komme, zu fragen, ob morgen Kinderlehre sein wird.” (85) Die Liebe zwischen Fritz und Gustchen hingegen bedient sich uneigentlicher Sprache: die Liebenden ‘verstecken’ sich in einem intertextuellen Rollenspiel hinter literarischen Identifikationsmustern (was sich noch steigert, als der Geliebte absent ist; vgl. II, 5). Der Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und sozialem Status, Redegegenstand und Redeform ist hier offenbar aufgelöst, 5 was allerdings die interpretatorische Zuordnung der jeweiligen Figur verkompliziert: Ob eine Rede ‘authentisch’ ist, ist von der Frage sozialer Zugehörigkeit ebenso entkoppelt wie vom Redegegenstand. Daraus ergeben sich ‘Unsicherheiten’ in der Erkennbarkeit des Wahrheitsgehaltes einer Rede; das Drama thematisiert das Verhältnis von Sagen und Meinen schließlich selbst, was den Grad an Selbstreflexivität und vor allem Selbstreferenzialität zunächst einmal steigert: Es wird nicht nur über ein Thema geredet, sondern immer wieder auch darüber, wie darüber geredet wird. Dies wird z.B. deutlich, als sich der Pastor vom Geheimen Rat beleidigt fühlt und gehen will: Der Geheime Andreas Blödorn & Madleen Podewski 318 Rat nimmt darauf seine Aussage (zum Thema Hauslehrerstand) in der Form, nicht aber im Inhalt zurück: Ich habe Sie nicht beleidigen wollen und wenn’s wider meinen Willen geschehen ist, so bitt ich Sie tausendmal um Verzeihung. Es ist einmal meine üble Gewohnheit, dass ich gleich in Feuer gerate, wenn mir ein Gespräch interessant wird: alles Übrige verschwind’t mir denn aus dem Gesicht und ich sehe nur den Gegenstand, von dem ich spreche. (22) IV.) Reden vs. Handeln Auf den letzten auffälligen Befund haben wir eingangs bereits hingewiesen: auf die Diskrepanz zwischen wortreich verkündeten Lebenszielen und Verhaltensnormen und den tatsächlichen Handlungen der Figuren. Exemplarisch vorgeführt wird das Scheitern von Vorstellungen an der Realität am Beispiel der Hofmeister-Frage gleich zu Beginn des Textes. Zunächst werden die grundsätzlichen Standpunkte abgesteckt: Auf die Fragen des Geheimen Rates “Sag mir, […] was foderst du […] von deinem Hofmeister? ”, “Was soll dein Sohn werden, sag mir einmal? ” (6) gesteht sein Bruder, der Major: “Soldat soll er werden; ein Kerl, wie ich gewesen bin.” (6). Der Geheime Rat gibt sich dem gegenüber als progressiver Aufklärer: Das Letzte lass nur weg, lieber Bruder; unsere Kinder sollen und müssen das nicht werden, was wir waren: die Zeiten ändern sich, Sitten, Umstände, alles, und wenn du nichts mehr und nichts weniger geworden wärst, als das leibhafte Kontrefei deines Eltervaters - - (6). Als sich der Geheime Rat jedoch im zweiten Akt mit Pastor Läuffer über dieselben Fragen unterhält und gegen den Hofmeisterstand Partei ergreift (“Ich behaupt: es müssen keine Hauslehrer in der Welt sein! ”; 22), da sieht er sich zur Verteidigung seiner Position zuletzt gezwungen, alle theoretisch-ideellen Positionen fallen zu lassen und mit der eigenen Erfahrung zu argumentieren: “Ich bin von meinem Vater zur öffentlichen Schul gehalten worden, und segne seine Asche dafür, [und habe es selbst auch so gehalten, wäre hier zu ergänzen AB/ MP] und so hoff ich, wird mein Sohn Fritz auch dereinst tun.” (23) Wo es um den Sohn seines Bruders ging, war der Geheime Rat aufklärerisch; wo es um den eigenen Sohn geht, verfällt er ins selbe, zuvor kritisierte Argumentationsmuster wie sein Bruder. Dieser eklatante Selbstwiderspruch bei einer Figur, die sich gleich zu Beginn des Textes als souveräne, progressive Normen- und Werteinstanz ausgibt, 6 zeigt exemplarisch, was alle Figuren des Dramas zunächst tun: Sie sind selbstbezogen und referieren, was ihr Verhalten und Handeln angeht, stets auf die eigene Erfahrung. Vor allem den Bereich Liebe und Sexualität betreffend, ist damit ein Sturm-und-Drang-typischer Generationenkonflikt verbunden: Die Kinder verhalten sich anders, als von ihnen erwartet wird. So möchte der Major sein Gustchen zunächst nur “mit einem General oder Staatsminister vom ersten Range versorgt” sehen, “denn keinen andern soll sie sein Lebtage bekommen” (13); am Ende aber ergibt er sich umstandslos in die von seiner Tochter selbstgewählte Liebe zwischen Gustchen und ihrem Cousin Fritz. Ebenso verhält es sich auch mit den anderen Konflikten im Hofmeister: Nach einer Zeit der Krise und Trennung finden Eltern und Kinder sowie Liebende (wieder) zusammen - und lassen ihre Idealvorstellungen hinter sich zurück. Was der Text dabei nicht vorführt, ist der Prozess der Wandlung; die verbal postulierten und die schließlich gelebten Normen und Werte sind nicht miteinander vermittelt. Der aufs Gegenteil ausgehende Gesinnungswandel bleibt innerhalb der Figurenpsychologie unmotiviert. Einzig beim Major führt die Konkurrenz der Gegensätze anfangs in wahnsinnsähnliche Zustände, etwa, wenn es widersprüchlich aus ihm hervorbricht: “O du mein einzig teurester Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 319 Schatz! Dass ich dich wieder in meinen Armen tragen kann, gottlose Kanaille! ” (64); oder aber, wenn er selbst an der neuen Realität zu zerbrechen droht: “O sie sollte die erste Partie im Königreich werden. Das ist ein vermaledeiter Gedanke! wenn ich doch den erst fort hätte; er wird mich noch ins Irrhaus bringen.” (94) Gesinnungsänderungen werden damit ausschließlich über die Handlungen der anderen plausibilisiert. Das irreversible Handeln Gustchens hat die hochfliegenden Heiratspläne des Majors überholt und verunmöglicht: mit einem unehelichen Kind ist seine Tochter nicht nur keine “erste Partie” mehr, sondern eigentlich ‘unveräußerbar’, und er muss - seiner eigenen Handlungsrationalität nach - froh sein, um jeden, der sie überhaupt noch nimmt. Als ihm daher Fritz als der Freier seines Gustchens präsentiert wird, nimmt er ihn nicht nur freudig, sondern beinahe unterwürfig an: “Willst du meine Tochter heiraten? - Gott segne dich. Weißt du noch nichts, oder weißt du alles? […] Kannst alles vergessen? Ist Gustchen dir noch schön genug? […] Dass du so großmütig bist, dass du so edel denkst - dass du - - mein Junge bist -“ (94). Keinen Zweifel lässt der Text hier, dass es sich bei allen Figuren, die am Ende in einem ‘Schlussreigen’ ihre Versöhnungen feiern, um dieselbe Veränderung handelt: die freudige Akzeptanz der neu eingetretenen Realität. Sie ist möglich, weil die Figuren im Handlungsverlauf von Krisen, Trennungen und Verlusterfahrungen gezwungen werden, ihre Wertmaßstäbe und Handlungsgrundlagen von der ursprünglichen Selbstreferenz auf Fremdreferenz umzustellen. Lautete die Argumentation zunächst pointiert gefasst, ‘so wie ich, so soll mein Sohn sein’, so lautet die Erkenntnis am Ende, ‘so wie mein Sohn, so bin ich’; nicht das eigene Selbst, sondern die Akzeptanz der geänderten Umstände wird hier zum Maßstab erhoben und ermöglicht damit den komödiantischen Schluss eines an sich tragischen Handlungsverlaufs. Damit einher geht auch die nachträgliche Erkenntnis, dass als oberste Wert- und Entscheidungsgrundlage nicht länger das Reden, sondern das Handeln zu positionieren ist, wenn der Major hofft, dass es wahr ist, dass die Gerechten nicht allein hineinkommen [in den Himmel, AB/ MP], sondern auch die Sünder, die Buße tun. Meine Tochter hat Buße getan und ich hab für meine Torheiten und dass ich einem Bruder nicht folgen wollte, der das Ding besser verstund, auch Buße getan; ihr zur Gesellschaft: und darum macht mich der liebe Gott auch ihr zur Gesellschaft mit glücklich. (95) Wie verhält sich nun aber die Kindergeneration im Umfeld dieser Umstellung? Sie verhält sich zu den an sie gestellten Erwartungen zunächst einmal ironisch, indem sie sich ihnen entzieht. Dies lässt sich am rekurrenten Schweigen, das der Nebentext in den Liebesszenen um Läuffer auffällig vermerkt, explizieren. Jedesmal, wenn sich hier eine Liebe, beziehungsweise eine erotische Situation anbahnt, wird zunächst geschwiegen. Das deutet nicht einfach nur auf ein Sprachproblem hin, das traditionell mit Erotik korreliert ist. Vielmehr erweist sich dieses Schweigen hier als Bedingung der Möglichkeit von erfolgreicher Liebeskommunikation überhaupt. Zentral ist wiederum die Umstellung von Selbstauf Fremdreferenz, hier des egoistischen Selbstbezugs auf die Orientierung am Liebespartner. In diesem Sinne beispielsweise in II, 5, als Läuffer seinem Gustchen mitteilt, dass er den Dienst bei ihrer Familie quittieren müsse: “Du siehst, dass dein Vater mir das Leben immer saurer macht” (33). Gustchen denkt hier zunächst an sich (“und was werd ich denn anfangen? ”), um sich dann nach einem Augenblick des Schweigens - “(Nachdem beide eine Zeitlang sich schweigend angesehen.)” - argumentativ ebenfalls in die Perspektive des anderen zu begeben: “Du siehst: ich bin schwach, und krank” (34). Verknüpft mit dem ‘Anschauen’ wird so durch das Schweigen eine Beziehung zwischen den Figuren gestiftet, die sich auf sprachlichem Wege offenbar nicht herstellen lässt, die aber dann gleichwohl in sprachliche Kommunikation mündet. Andreas Blödorn & Madleen Podewski 320 Während Fritz und Gustchen zu literarisiertem Rollenspiel greifen, verschlägt es Lise und Läuffer zunächst die Sprache, bevor sie schließlich offen über Läuffers Impotenz reden. Ihr Schweigen wird dabei vom Text als eine Handlung funktionalisiert, die in der Unterlassung einer sprachlichen Handlung besteht. Unterbrochen wird dabei zugleich die Selbstreferenz: Man schweigt nicht nur, sondern man sieht den anderen an, weil man nicht (wie die Eltern! ) von sich selbst und der eigenen Erfahrung ausgehen will oder kann, sondern probeweise versucht, sprachlich handelnd Gewissheit über den anderen herzustellen. 7 Mit dieser Negation ist aber noch nicht in positiver Weise Authentizität herstellbar, denn die darauf hin wieder einsetzende Sprachhandlung kehrt zu den auch ansonsten im Drama genutzten Sprachmustern zurück. Dennoch aber, so führt der Text vor, sind Schweigen und Selbstreferenzunterbrechung notwendig, um stillschweigend Einvernehmen und sicheres Wissen über den anderen herzustellen. Eben dies wird bei Läuffer und Lise sprachlich explizit thematisiert: L ÄUFFER . Würdest du - O ich weiß nicht, was ich rede - Würdest du wohl - Ich Elender! L ISE . O ja, von ganzem Herzen. L ÄUFFER . Bezaubernde! - (Will ihr die Hand küssen.) Du weißt ja noch nicht, was ich fragen wollte. (86) Aber Lise, so zeigt sich, weiß bereits, was Läuffer sagen wollte, und antwortet so, als ob er es gesagt hätte: “Sehen Sie, einen geistlichen Herrn hätt ich allewege gern” (86). Die explizite sprachliche Bezugnahme auf den anderen und das konkrete Anschauen des anderen ermöglichen hier gemeinsam, dass gerade elliptische Rede die Kommunikation in der Weise funktionieren lässt, dass die Liebenden sich ihrer authentischen Zuneigung gewiss sein können. Im Rahmen der verschiedenen Formen, die das Drama als gelingende und als misslingende Erzeugung von Referenzen und Realitätsbezügen nebeneinander präsentiert, erscheint dieses Schweigen nun als punktuelle Vermeidung eben dieser ansonsten möglichen Pluralität und Ungewissheit, als temporärer Verzicht auf sprachliche Referenzerzeugung in einer Dramenwelt, in der die Beziehungen zwischen Signifikat und Signifikant nicht mehr eindeutig bestimmt werden können, weil es mehrere davon gibt. Die Figuren selbst ‘wissen’ davon nichts - sie praktizieren diese Pluralisierung, durchschauen sie aber nicht, so dass sie ihnen auch nicht problematisch werden kann - als Leiden an Eindeutigkeits- oder Authentizitätsverlust etwa. Dass sich aber ein solches ‘Aussetzen’ der Sprache nur bei den Figuren der Kindergeneration findet und dass es in Läuffers Liebesbeziehungen zu Gustchen und Lise eingebaut ist, lässt den Schluss zu, dass das Drama auf der auktorialen Ebene einen punktuellen Ausweg aus den unentschiedenen Referenzialisierungen genau hier sieht: In den erotischen Interessen der jungen Generation, die eben genau dann zum authentischen und sicheren Ziel geführt werden, wenn die mögliche Unsicherheit und Ungewissheit der Rede im Schweigen ausgeschaltet sind. Resümee Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die dramatische Welt im Hofmeister hauptsächlich sprachlich strukturiert ist und dabei auf verschiedenen Ebenen verschiedene Formen von Referenz präsentiert. Implizit diskutiert werden hier also Reichweiten und Relevanzen von Sprache, und zwar vor allem im Kontext der Epistemologie (Wissen/ Nichtwissen) und der Anthropologie, im Kontext der Normen und Werte im Bereich Bildung/ Erziehung und Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 321 Familien- und Paarbeziehungen. Die Komplexe ‘Gewalt’ und ‘Sexualität’ nehmen dabei keinen auffällig exklusiven Status in dem Sinne ein, dass ihnen dabei eine besondere Redeform zukäme. Über sie wird ebenso in verschiedenen Registern geredet und ebenso viel oder ebenso wenig gewusst wie über anderes im Drama auch, spezielle Formen der Referenzerzeugung lassen sich hier nicht ausmachen. Einzig die beiden erotisch funktionalisierten Schweigeszenen scheren aus: Nur hier wird der heterogene Sprachgebrauch des Dramas punktuell unterbrochen und eine Art ‘blinder Bedeutungsfleck’ erzeugt. Dessen Konturen ergeben sich differenzlogisch ex negativo - nicht als Verweigerung von Sprache und Kommunikation überhaupt, sondern nur als temporäre Suspendierung der im Drama ansonsten praktizierten Formen des Sprachgebrauchs. Damit etabliert das Drama eine Zone, die zwar nicht gänzlich jenseits von Zeichenprozessen liegt, in der sie aber vorübergehend still gestellt sind. Für die Dramenfiguren ist diese Sprachgrenze gleichwohl ebenso unproblematisch wie das Nebeneinander von Wissen und Nichtwissen und von Deutungskonkurrenzen oder wie das Auseinanderdriften von Reden und Handeln. 8 Das Krisenpotenzial, das mit der Diversifizierung sprachlicher Referenz ins Spiel kommt, bleibt somit implizit; stattdessen endet das Stück in einer allgemeinen Versöhnung, die im Kontext des zu Beginn eingeführten Werte- und Normensystems ausgesprochen unwahrscheinlich wirkt (Schulz 2001: 79). Diese erstaunliche Krisenresistenz sichert das Drama einerseits mit ‘naiven’ Figuren ab, denen weder ihr wechselnder Sprachgebrauch noch ihre sich ändernden Normen und Werte problematisch sind und die kaum psychische Kohärenz aufweisen, und andererseits mit der Einbindung des Zufallsprinzips in den Handlungsverlauf (vor allem mit dem hierfür exemplarischen Lottogewinn). Die Veränderungen, die die Figuren am Ende des Textes zeigen, sind also nicht vollständig auch ihr eigenes Werk. Sie sind rational und kausal nicht stringent motiviert und gelten überdies nur situativ und partiell. 9 Damit konterkarieren sie jedes aufklärerisch optimistische Postulat von konstanter Bildung und Entwicklung zum Besseren im Text, 10 das dem Stück als Titelthema doch eingeschrieben ist. Die “Vorteile der Privaterziehung” sind daher gerade solche, die nicht individuell planbar sind und die allein aus der Negation von den mit Erziehung korrelierten Wertvorstellungen - und somit nicht aus Figurensicht, sondern allein aus auktorialer ‘Übersicht’ - eine ironische Geltung beanspruchen können (vgl. Schulz 2001: 71), der daher auch von den “Nachteile[n] der Privaterziehung” spricht). Und doch wird durch Verlauf und Schluss des Dramas die Umstellung von Selbstauf Fremdreferenz prämiert, wie sie die Kindergeneration in der Verknüpfung von Anschauen und Schweigen erprobt und wo der sprachlose Blick auf das Gegenüber das Subjekt für dessen Bedürfnisse geöffnet hatte. Wenn Ideale der Aufklärung für den Text relevant sind, dann sind sie es hier, im Aufgeben egoistischer Selbstbezüglichkeit und in der Anerkennung des anderen. Der Stand des Modells ‘Anschauen und Schweigen’ ist im komplexen Dramengefüge freilich äußerst labil. Es gilt nur punktuell und zeitigt auf der Handlungsebene uneinheitliche Folgen: Bei Läuffer und Gustchen bleiben die Konsequenzen solcher Redeunterbrechung offen, bei Läuffer und Lise liegt genau hier der Ausgangspunkt für eine glückliche (aber pikanterweise ohne Nachkommenschaft bleibende) Liebesehe. Zentrale Relevanz aber gewinnt das Prinzip einer Umstellung auf Fremdreferenz in der modifizierten Adaption durch die Elterngeneration, die sich zum Ende des Stückes hin diesem Handlungsmuster anschließt und so dessen tragisches Ende (mit) verhindert. Das Ansehen und Anfassen seiner wieder gefundenen Tochter und seines Enkelkindes veranlasst den Major, seine hochfliegenden Pläne mit der Tochter fallen zu lassen, Fritz wird als Schwiegersohn akzeptiert, die Töchter und Söhne werden trotz ihrer Verfehlungen wieder geliebt und in die Familien integriert. Doch Andreas Blödorn & Madleen Podewski 322 auch diese Veränderung in den Normen und Werten der Elternfiguren wird, wie oben bereits vermerkt, nicht konsequent und widerspruchsfrei als Entwicklungsprozess oder gar als Bildungsgeschichte dargestellt (etwa der Art, dass hier eine angemessene Angleichung individueller Normen und Wünsche an die ‘Realität’ erlernt würde). Denn die Umstellung auf Fremdreferenz, die Anpassung der eigenen Normen an die von den Kindern vorgegebenen Tatsachen steht im Kontext aller der Veränderungen, die insgesamt zum komödiantisch glückhaften Ende des Textes führen und ist damit in ein komplexes Bezugsgeflecht eingebunden, welches um die Probleme von Realitätswahrnehmung, Zeichen-Erkennen und Zeichen- Deuten sowie um die Probleme der Realitätsbeschreibung kreist - ohne jedoch am Schluss eindeutige, kausalmotivierte Erklärungsmuster für ‘Realität’ und das Handeln in ihr zu geben. 11 Und so führt die Umstellung von Selbstauf Fremdreferenz im Drama zwar zur finalen Gemeinschaftsbildung, doch bleibt die Anwendung dieser Referenzumstellung dabei in ansonsten kontingente Geschehensabläufe und in die eingangs benannten verschiedenen Formen der Referenzerzeugung auf auktorialer und figurativer Ebene eingebunden. Fremdreferenz wird nicht zum auf der Figurenebene bewusst formulierten, von allen erlernten und propagierten Handlungsmuster, sondern bleibt ein situatives und ‘unbewusstes’ Figurenverhalten, für das auch der Gesamttext kein passendes Erzählmodell findet und das gleichwohl zum dominanten Faktor der Herstellung eines happy ending wird. Damit zeigt das Drama zwar eine Welt, in der Eltern und Kinder unterschiedliche Interessen verfolgen und in der bei der Bewältigung dieses Konfliktes die Regeln der Bedeutung ihre Eindeutigkeit verloren haben, in der all das aber trotzdem zu einem guten Ende führt. Warum genau das möglich ist, kann das Drama nicht gänzlich klären - nicht auf figuraler und nur eingeschränkt auf auktorialer Ebene. Auf letzterer kritisiert das Drama zunächst das Bildungs- und Erziehungskonzept der Figuren, wie die ironisch pointierte Schlusswendung zeigt, welche ausgerechnet die Position des aufklärerischen Geheimrates stärkt. Wenn Fritz schwört, er werde seinen “süße[n] Junge[n]” “nie durch Hofmeister erziehen lassen” (96), dann zwar nicht, weil er wissend der einstigen Position seines Vaters folgt, sondern, so impliziert die Logik des Textes, weil auch er durch Beobachtung der anderen ‘gelernt’ hat, zu welchen häuslichen (und d.h. erotischen) Verwicklungen und Handlungsfolgen die Beschäftigung eines Hofmeisters führen kann. Der ‘sanften’, gleichwohl nicht kausal motivierten ‘Revolution’ im privaten Bereich, so wäre daraus zum einen zu folgern, korreliert trotz allem kein Fortschritt im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich: Die Adligen bleiben unter sich, der Hofmeister begnügt sich mit seiner Dorfschönen. 12 Und Fritz, so zeigt sich zum anderen nach kontingenter Handlungsfolge ironisch, setzt letzten Endes die Erziehungsideale seines Vaters eben doch in die Tat um - so, wie dieser es sich von seinem Sohn einst erhofft hatte. Und indem er dies tut, basiert letztlich seine finale, im Schlusssatz des Dramas geäußerte Erkenntnis wiederum auf dem Prinzip der - noch einmal ironisch gebrochenen - Restituierung der Selbstreferenz. Denn indem sich Fritz auf die Beobachtung anderer (Läuffers und Gustchens) beruft, beruft er sich zugleich auch auf das eigene, ihm widerfahrene Geschehen (als gehörnter Liebhaber). Jene vom Drama nicht gelösten, aber umschriebenen Zeichen- und Kommunikationsprobleme finden sich in dieser ironisch paradoxalen Schlussfigur des Textes noch einmal abgebildet; die ironische Distanzierung am Schluss aber gilt nur für den Redeinhalt, nicht für die Redeform. So registriert das Drama zwar gewissermaßen ‘unbewusst’ die Zeichen- und Kommunikationskrisen, die das späte 18. Jahrhundert prägen (Koschorke 1999, Schäffner 2000), es wird durch sie aber geradezu bis an den Rand der Überforderung getrieben, so dass deutlich wird, dass hier noch keine adäquaten Erzähl- und Erklärungsmuster zur Verfügung stehen. 13 In der Funktionalisierung des temporären Schweigens umschreibt das Drama diesen blinden Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 323 Bedeutungsfleck: In ihm findet der Text eine Möglichkeit, ‘konkrete’ Referenzialisierung zu unterbrechen und die Wirkungen dieser Unterbrechung zu beobachten, ohne dafür selbst schon eine über Kontingenz hinausgehende Struktur zur Verfügung stellen zu können. Literaturverzeichnis Primärliteratur Lenz, Jakob Michael Reinhold 2001: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie. Anmerkungen von Friedrich Voit. Nachwort von Karl S. Guthke, durchgesehene Ausg. Stuttgart: Reclam. Sekundärliteratur Alt, Peter-André u.a. (eds.) 2002: Prägnanter Moment. 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Andreas Blödorn & Madleen Podewski 324 Anmerkung 1 Zitiert wird Lenz’ Drama nachfolgend unter Angabe der Seitenzahl im laufenden Text, und zwar nach der in Reclams Universal-Bibliothek wiedergegebenen Fassung des Erstdrucks (1774): Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie. Anmerkungen von Friedrich Voit. Nachwort von Karl S. Guthke, durchgesehene Ausg. Stuttgart: Reclam 2001. 2 Zur Gattungsfrage des Stückes vgl. allgemein Karthaus (2007: 98ff.); vgl. zur von Lenz auch theoretisch reflektierten (und in seiner Komödie Die Soldaten auch poetologisch relevanten) Gattungsneukonzeption der Komödie Nies 2005. 3 Mit diesem Blick auf den discours des Dramas sind wir also nicht daran interessiert, die Kohärenz der allgemein als inkohärent angesehenen drameninternen Realität (wieder) herzustellen, etwa in der Auffüllung von Leerstellen (vgl. die von Lappe 1980 angestoßene Debatte um Läuffers Vaterschaft); auch der - sei es sozial-, kultur- oder diskursgeschichtlich orientierte - Rekurs auf Epochenbedingungen (z.B. Familien- und Ehemodelle (etwa bei Koschorke 2002), auf die Onaniedebatte (vgl. Käser 2006) oder auf Aufklärungs-, Bildungs- und Erziehungskonzepte (vgl. Elm 2002) ‘normalisiert’ den Text durch Außenkorrelationen, hinter der oft die interne Bedeutungsproduktion des Dramas selbst schnell aus dem Blick gerät (vgl. dazu schon die Kritik von Landwehr 1996: 19ff.). Dass der discours des Textes selbst dann wiederum (literar-)historisch zu verorten ist, steht dabei außer Frage. 4 Sehen, anfassen und (im doppelten Wortsinne) ‘begreifen’ gelten den Figuren des Textes als dominante Formen der Wissensgenerierung und -überprüfung, wie der Major zu Beginn des dritten Aktes auch explizit ausführt: “Ihre Gesundheit ist hin, ihre Munterkeit, ihre Lieblichkeit, weiß der Teufel, wie man das Dings all nennen soll; aber obschon ich’s nicht nennen kann, so kann ich’s doch sehen, so kann ich’s doch fühlen und begreifen, und du weißt, dass ich aus dem Mädchen meinen Abgott gemacht habe.” (III, 1) - Zur optischen Kodierung von Erkenntnisprozessen in der Goethezeit vgl. grundlegend Titzmann 1984. 5 Unsere Textbeobachtungen können also die in der Forschung verbreitete These nicht bestätigen, Lenz markiere auf eine ‘realistische’ Weise (Karthaus 2007: 102) Individualität und Sozialstatus der Figuren über deren Sprache. 6 Eine Selbstinszenierung, die von der Forschung zumindest partiell auch geglaubt wird, wenn der Geheime Rat als Moralinstanz und Repräsentant der Aufklärung im Drama verbucht wird - v.a., wo es um die Kritik am Hofmeister-Wesen und um adelskritische Äußerungen geht. So spricht Schulz (2001: 83) davon, dass eben diese Kritikpunkte im Text “zweifellos” “[e]rnst gemeint” seien. Auf die nur scheinbar aufgeklärte Position des Geheimen Rats weist dagegen Durzak (1994: 114) hin. 7 Für Lenz Soldaten kommt Nies (2005: 33) partiell zu einem ähnlichen Befund; auch dort erweist sich (in der Konstellation von Marie und ihrem Vater) Sprache zunächst als Medium sozialer Abhängigkeit der Kindervon der Elterngeneration. 8 Von ‘Sprachkritik’ kann deshalb im eigentlichen, resp. modernen Sinne nicht gesprochen werden; vgl. dagegen die, bereits bei Schulz (2001: 88) relativierte, Analyse von Helga Madland 1984, die die Gestik im Drama als Moment eines “language scepticism” positioniert, welcher der gestischen Sprache stellenweise mehr Zuverlässigkeit als den ausgesprochenen Worten zuspricht. 9 Karthaus (2007: 102) weist in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass mit der poetologischen Konzeption des Stückes und seiner Abkehr von der Regelpoetik allerdings auch eine geringere Relevanz der Stringenz bei der Motivation und Folgerichtigkeit von Handlungselementen verbunden sei. 10 Womit der Dramentext auch Charakterisierungsversuche wie denjenigen Durzaks (1994: 113) widerlegt, nach dem hier “so etwas wie eine rudimentäre Menschlichkeit […] das Verhalten des Majors zu verändern” beginne. Richtiger scheint vielmehr Durzaks Feststellung, dass “Lenz […] die Aufspaltung des Hausvaters in liebenden Vater und Familiendespot” radikalisiert, “indem er zeigt, daß der Major von Berg beides gleichzeitig ist, ohne daß er die beiden gegensätzlichen Haltungen harmonisieren könnte” (ebd., 113f.). Das Textende allerdings, so wäre dem hinzuzufügen, führt dann nach einem letzten Zweifel (94) eben nur noch den liebenden Familienvater vor. 11 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt - unter freilich anderen Voraussetzungen und Fragestellungen - Axel Schmitt (1994: 77), wenn er nachweist, dass im Hofmeister kein “tragfähiges Deutungsmodell der Wirklichkeit” etabliert zu werden vermag. 12 Am Beispiel der Soldaten hat Nies (2005: 26) diese “werkimmanente Ambivalenz von Rebellion gegen ‘das Alte’ und seiner gleichzeitigen Konsolidierung […] als Bemühung um letztliche Integration ‘des Neuen’” treffend als Strukturmuster der Lenzschen Komödien herausgearbeitet, und zwar “sowohl im Gattungsdiskurs Sexualität und Gewalt im Spiegel von ‘Reden’ und ‘Handeln’ 325 als auch in den Lösungsvorschlägen für soziale Konflikte”. Dabei kommt auch Nies zu dem Ergebnis, dass “Lenz hier keine politische Position bezieht, obwohl die Intention des Textes als eines Gesellschaftsbildes eine politische ist” (ebd.). 13 Auch eine literaturgeschichtliche und textgenetische Begründung wie diejenige bei Karthaus (2007: 103), wonach das Drama in seiner Stilmischung auch als eine Mischform der Gattungen des Lustspiels und Trauerspiels zu verstehen sei (worauf u.a. der Untertitel in Lenz’ Handschriftfassung verweist), löst dieses Problem der Textlogik nicht. Seite 326 vakat Das übertragene Konkrete: Metaphorik und erzählte Welt in Arthur Schnitzlers Erzählungen Magdolna Orosz Literarische Texte sind als Zeichensysteme immer auf zeichenhafter Vermittlung aufgebaut und daher kaum als ‘konkret’ zu betrachten. Narrative Verfahren des Zustandebringens einer erzählten Welt können demgegenüber konkret ausgestattete und als solche wahrnehmbare erzählte Welten etablieren, die ihre Vermitteltheit - sei es wegen eines Mimesisanspruches oder aus anderen Gründen - zu “maskieren” scheinen. Somit verdankt sich die ‘konkrete’ erzählte Welt von vornherein einer unausweichlichen “Übertragung”, die sich - je nach Epoche und/ oder Autor - jeweils anderer narrativer Formen und Techniken des “Weltschaffens” und der narrativen Präsentation (an und für sich wiederum als Vermittlung verstanden) bedient. Im Beitrag wird anhand von Arthur Schnitzlers Erzählen untersucht, wie die Themen Sexualität und (physische, aber öfter vielmehr psychische) Gewalt in detailliert-konkret ausgestalteten erzählten Welten immer doch auf (in dieser Hinsicht nicht konkrete) metaphorisch deutbare Bedeutungen - oft durch intertextuell gefärbte oder metafiktional-metaleptische narrative Mittel sowie durch Perspektivierungs- und Fokalisierungstechniken - hinweisen und somit zu einer vielfältigen (von konkret-mimetischer bis zu symbolhaft-metaphorischer) Wahrnehmung und Interpretation durch den Rezipienten führen können. Literary texts as systems of signs are always based on mediation through signs and therefore can’t be considered as “concrete”. Narrative modes for the establishment of a narrated world can build up, in contrast, “concretely” equipped and as such perceivable worlds, which seem to “disguise” their mediatedness. The “concrete” narrated world is, from the outset, determined through this unavoidable mediation, which brings about - depending on a series of epochs and authors - various forms and techniques of world-producing and narrative presentation. It has to be shown how themes of sexuality and (physical or rather psychical) violence in some concretely and detailed constructed narrated worlds in Arthur Schnitzler’ novels indicate some metaphorically interpretable meanings, contributing, in this manner, to various perception and interpretation processes of the recipient reaching from concrete-mimetical to symbolicalmetaphorical readings. 1. Zeichen - Vermittlung - Erzählen Sprache als Zeichensystem hat mit der grundlegenden Eigenschaft von Zeichen zu tun, dass Zeichen immer ein Vermittlungsmoment in sich tragen: Indem ein Zeichen dadurch erst zum Zeichen wird, dass es für etwas anderes steht (unabhängig davon, wie die Elemente dieser Relation in den unterschiedlichen Zeichenkonzeptionen definiert werden 1 ), entsteht eine Referenzrelation zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem (Signifikaten und Signifikan- K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Magdolna Orosz 328 ten), deren Unabdingbarkeit und Beschaffenheit in abwechselnden historischen Zeiten unterschiedlich und oft ziemlich kontrovers aufgefasst werden kann, wie dies die mannigfachen philosophischen Diskussionen über Sprache, Sprachlichkeit und sprachliche Vermittlung belegen. Literarische Texte sind als sprachliche Gebilde/ Zeichensysteme ebenfalls immer auf zeichenhafter Vermittlung aufgebaut, die dadurch komplizierter wird, dass es eine Vermittlung zweiter Stufe, laut Lotman eine sekundäre ist. Die Bezugnahme auf etwas außerhalb der Sprache Liegendes, auf Bezeichnetes, d.h. der Objektbezug, ist bei Zeichenprozessen der natürlichen Sprache ohnehin nicht einfach; sie folgt jedoch der Grundvoraussetzung, “daß die Objekte, auf die mittels referierender Ausdrücke Bezug genommen wird, existieren” (Zipfel 2001: 50). 2 Diese Bezugnahme wird in literarischen Texten indessen dadurch komplizierter, dass hier die Referenzrelation fast ausnahmslos fiktiv wird, indem literarische Texte/ Textwelten als mentale Konstrukte ihre Referenten durch die Sprache konstruieren und daher eine spezielle Bezugnahme schaffen. 3 Die Frage der Referenz bzw. der Fiktionalität stellt sich auf genuine Weise in Bezug auf (literarische) narrative Texte, in denen die Vermitteltheit als eine selbstverständliche Voraussetzung der Narrativität selbst erscheint: Genau so wie das (sprachliche) Zeichen für etwas anderes steht, wird im Erzähltext ein Vermittlungsmodell aktiviert, wonach - im einfachsten Falle - jemand jemandem über etwas erzählt und eine vielfach modellierbare Kommunikation etabliert: “Grundlage der narratologischen Modellbildung ist die These, literarische Erzähltexte seien Elemente einer vielschichtigen Kommunikation” (Jannidis 2004: 15). 4 Obwohl narrative Strukturen in unterschiedlichen Medien und semiotischen Systemen präsent sind und danach unterschieden werden sollten, ist ihnen dieses grundsätzliche Modell gemeinsam. 5 Allerdings tauchen weitere Differenzen in Hinsicht auf die Einordnung narrativer Texte in fiktive und nicht-fiktive/ faktuale auf, da es die Art der Referenzialität solcher Texte beeinflusst: Fiktive Texte referieren auf fiktive Welten, faktuale dagegen auf die reale/ aktuale Welt, demnach ließe sich feststellen: “an appropriate analysis of fictional narratives requires not only a (general) theory of narration but also a theory of fictionality” (Martínez/ Scheffel 2003: 234). Für die Untersuchung literarischer narrativer Texte gibt es verschiedene Modelle, die unterschiedliche Aufteilungen und Auffächerungen vornehmen, um die gegenseitige Bedingtheit von erzählter Geschichte und Erzähldiskurs zu beschreiben, wobei die erzählte Welt erst durch eine erzählerische Vermittlung zugänglich wird: Grundsätzlich lassen sich Zwei- Ebenen- (Todorov), Drei-Ebenen- (Genette) und Vier-Ebenen-Modelle (Schmid) unterscheiden, wobei die differenzierteren im Grunde genommen als Ausdifferenzierungen bestimmter Elemente des Zwei-Ebenen-Modells betrachtet werden können. 6 Dabei plädiere ich für die Anwendung einer möglichen-Welt-Theorie 7 , die den Rahmen eines narrativen Textwelt-Modells bedeutet, wonach narrative Texte als komplexe, mehrfach gegliederte Strukturen verstanden werden sollten. Das integrierte Textwelt-Modell umfasst einerseits eine Deskription der erzählten Welt, ein “Handlungsmodell”, das sowohl die referenziellen Relationen (Fiktionalität) als auch die internen semantischen Bezüge der erzählten Welt (die ? Story’, die ? Geschichte’) beschreibt und Regelmäßigkeiten feststellt, die den Aufbau der erzählten Welt bestimmen. Die in der Textwelt erzählte ? Geschichte’ kann als eine fiktive ? mögliche Welt’ betrachtet werden, als “narrative Welt”, die - wie Doležel betont - als Grundeinheit einer narrativen Theorie funktioniert: “The basic concept of narratology is not ? story’, but ? narrative world’, defined within a typology of possible worlds” (Doležel 1998: 31) - damit geht es hier eigentlich um eine (Um)interpretation des Begriffs ? Geschichte’ Das übertragene Konkrete 329 (? story’) im Rahmen der möglichen Welt-Theorie, die zugleich die Kompatibilität dieser Begriffe beweist. Andererseits umfasst das Textwelt-Modell die Deskription des Erzählens, des “Erzählmodells”, d.h. die Beschreibung der Charakteristika des Erzähldiskurses, der spezifischen (text)pragmatischen Eigenschaften literarischer narrativer Texte (spezieller Kommunikationsakt, Präsentation durch einen fiktiven Erzähler), die zugleich die Möglichkeit für die “Öffnung” der Textwelt, d.h. für eine komplexe und systematische Beschreibung von intertextuellen sowie kulturellen Relationen bieten kann. 8 Das Weltschaffen, die Weltkonstruktion narrativer Textwelten schließt damit Sprachlichkeit und Vermittlung auf mehreren Ebenen ein (wie dies u.a. die Dichotomien wie primäres vs. sekundäres Zeichensystem; erzählte Geschichte/ Welt vs. Erzähldiskurs bzw. ihre Vermittlungsprozesse belegen) und gehört zum Wesen von (literarischer) Narration, wobei kaum noch von “Konkretem”, d.h. von “konkreter”, direkter Bezugnahme gesprochen werden kann. Narrative Verfahren des Zustandebringens einer erzählten Welt können demgegenüber “konkret” (detailhaft mit Erzählrahmen und Figuren, ihren Handlungen und Ereignissen u.a.m.) ausgestattete und als solche wahrnehmbare erzählte Welten etablieren, die ihre Vermitteltheit - sei es wegen ästhetischer Vorgaben wie Mimesis, Wirklichkeitsnähe oder aus anderen Gründen - zu “maskieren” scheinen: Beispielsweise lässt eine “realistische” Erzählwelt Züge erkennen, die die fiktive Textwelt mit Elementen, Ereignissen, Figuren ausstatten, deren Eigenschaften (Aufbaustrukturen, Konfliktpotentiale, Psychologie der Personen usw.) mit der “realen” Welt in vieler Hinsicht vergleichbar sind; greifen fantastische, utopische Textwelten dagegen Elemente der “realen” Welt eventuell auf, kombinieren sie aber in einer von ihr ziemlich abweichenden Weise. Die “konkrete” erzählte Welt reflektiert ihre von vornherein bestehende unausweichliche “Übertragung” in unterschiedlichem Maße, indem sie sich - je nach Epoche und/ oder Autor - jeweils anderer narrativer Formen und Techniken des “Weltschaffens” und der (an und für sich wiederum als Vermittlung verstandenen) narrativen Präsentation bedient. 2. (Be)Deutungsprozesse in Arthur Schnitzlers Erzählen Arthur Schnitzler, der sowohl als Dramatiker als auch als Erzähler ein wichtiger Repräsentant der Frühen Moderne ist 9 und auch bedeutend zu bestimmten Veränderungen des Erzählens in dieser Zeit beiträgt (vgl. z.B. die Verwendung des inneren Monologs 10 , der erlebten Rede und der vielfach gefächerten Figurenperspektive), gilt für einen großen Teil der Literaturgeschichtsschreibung als ein Autor, der seinen eigenen historischen, gesellschaftlichen und örtlichen Kontext mehr oder weniger unverhüllt, beinahe direkt, man würde sogar sagen, “konkret” in seinen Textwelten thematisiert. Le Rider stellt diesbezüglich fest: Man findet nur wenige Darstellungen der Wiener Gesellschaft und der österreichischen Kultur, die ähnlich subtil und fesselnd sind wie die im Werk Schnitzlers. Mit großer Genauigkeit werden in seinen Erzählungen, Romanen und Theaterstücken die Topographie und Soziologie der habsburgischen Hauptstadt rekonstruiert. (Le Rider 2007: 13) Neben dieser scheinbaren Verankerung im real gegebenen Kontext wird auch angemerkt, dass Schnitzler zwar keine theoretisch angelegten ästhetischen Schriften verfasst, sich aber in der sich verändernden Welt der Wiener Moderne mit Fragen der Kunst und Literatur intensiv auseinandersetzt, vor allem mit der Frage, “[w]as Kunst noch sein kann, wenn alle ästhetischen Traditionen abreißen; woran sie festzuhalten und was sie aufzugeben hat - dieses Magdolna Orosz 330 Problem tauchte immer dringlicher in Schnitzlers Werken auf” (Fliedl 2005: 13). In den Werken also, denn (so Le Rider) “[i]nnerhalb der europäischen Literatur seiner Zeit unterscheidet sich Schnitzler dadurch, dass er zu keiner Zeit eine Theorie seiner literarischen Praxis formulieren wollte” (Le Rider 2007: 19). Für die Schnitzlerschen Werke sind jedoch solche Konstruktionsverfahren charakteristisch, die diese tieferliegende poetologisch-sprachliche Bedingtheit und den Vermittlungsaspekt literarischer Textwelten durch besondere Momente der Texte/ Textwelten hervorkehren. Die dominierenden Themen von Schnitzler in den Erzählungen (im Folgenden wird es nur um sein Erzählwerk gehen) wie Liebe, Erotik, Begierde, Betrug, Täuschung (auch Selbsttäuschung) und Tod werden meist in Textwelten thematisiert, die eine scheinbar einfache “Geschichte” aufbauen und eher durch - im Erzähldiskurs vielfach perspektivierte - innere Vorgänge der Figuren bzw. ihrer Konstellationen hervortreten. Dabei lassen sich auf einer tieferen (Deutungs-)Ebene bestimmte Vorgänge erkennen, die die Problematik von Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen, bzw. die Deutbarkeit von Zeichen als “konkrete” bzw. als “übertragene”/ ”metaphorische” aufwerfen und das Gelingen oder Misslingen zum zentralen Problem der erzählten Welt sowie ihrer (jeweils von der Perspektive des Interpreten abhängigen) Interpretation machen. Somit ließe sich die Eigenart Schnitzlerschen Erzählens im Voraus so zusammenfassen (und das gilt es zu beweisen), dass die referenzialisierbaren, “konkreten” Kulissen seiner Textwelten zugleich eine Reflexion der Zeichenhaftigkeit, der Vermittlung und der Interpretation selbst voraussetzen und hinter der Oberfläche grundlegende Probleme der Epoche, der Welt- und Selbstinterpretation und der Konzeption des Individuums narrativ darlegen. 2.1 Zeichenhaftigkeit der Welt und Sprachkrise Das vieldiskutierte Sprachproblem bzw. die Sprachkritik wird bei Schnitzler nicht direkt thematisiert, taucht aber in einigen kleineren Texten auf, die dadurch eine besondere Bedeutung erhalten. Die kurze Erzählung Die grüne Krawatte (1901, Erstausgabe 1903) lässt sich in diesem Sinne als Schnitzlers Chandos-Brief lesen, denn sie steht nicht nur in zeitlicher Nähe des Chandos-Briefes, sondern wirft ebenfalls - in erzählerischer und zugleich spielerischer Form - die Problematik der Sprache auf: Indem hier die Geschichte eines jungen Mannes erzählt wird, der durch seine Krawatte(n) erkannt und anerkannt wird, erscheint dahinter auch die “Geschichte” einer Bezeichnung sowie einer Kommunikationsstörung. Der Bezeichnungsprozess, nämlich wie die Figur die Bezeichnung “der Herr mit der grünen Krawatte” erhält, veranschaulicht die Trennbarkeit des Bezeichneten vom Bezeichnenden und ihre Konventionalität sowie Willkürlichkeit: “Ah, uns wird er nicht einreden, daß diese Krawatte blau ist. Herr Cleophas trägt sie, und daher ist sie grün” (Schnitzler 1977a: 274). Auf der anderen Seite wird die Fragwürdigkeit eines durch eine solche willkürliche Bezeichnung bestimmten Sprachgebrauchs gezeigt, bei dem die Verwendung solcher Bezeichnungen auch von einer Beliebigkeit bedingt ist, die zur eigenmächtigen Abstempelung des anderen führen kann - mit weitreichenden Folgen, wie dies auch aus der durch die intertextuelle Inversion hereingespielte biblische Allusion der Verurteilung eindeutig hervorgeht, bei der die Menge den Mörder Barabbas und nicht den unschuldigen Jesus freispricht 11 . Worte sind nicht nur wegen ihrer beliebigen Bezeichnung kaum als Erkenntnismittel brauchbar, sondern auch zu verschiedenen Zwecken missbrauchbar. 12 In der Fragment gebliebenen Novellette Ich, die auf eine Tagebuchnotiz Schnitzlers aus dem Jahre 1917 zurückgeht und 1927 wiederaufgegriffen wird, sind ebenfalls die Folgen der Das übertragene Konkrete 331 Sprachkritik und der Sprachkrise der Jahrhundertwende nachspürbar. Das Erlebnis des Funktionierens der Sprache und der Relativität menschlicher Begriffe zur Erfassung zeitlicher und räumlicher Koordinaten der Welt verleitet die Figur zum Nachdenken über die Selbstverständlichkeit ihres Daseins, und dadurch geht eben diese Selbstverständlichkeit zugrunde Dies geschieht, indem Herr Huber gerade das “Sprachspiel” des Bezeichnens und Benennens wortwörtlich nachvollzieht, als repräsentierte er avant la lettre Wittgensteins Überlegungen über die verschiedenen Sprachspiele, die unseren Sprachgebrauch ausmachen: “Etwas benennen, das ist etwas Ähnliches, wie einem Ding ein Namenstäfelchen anheften” (Wittgenstein 1984: 244). 13 Die Verwirrung der Figur angesichts der Vermitteltheit nimmt zu: “Er sah nichts als gedruckte Buchstaben. […] Er atmete auf, wenn er an die hölzerne Tafel dachte. ›Park‹” (Schnitzler 1977b: 447). Mit der individuellen Rückkehr zur quasi-atavistischen Reduktion der Sprache auf die Bezeichnung der Dinge, d.h. auf ihre Referenz, den puren, “konkreten” Objektbezug, bleibt er letztendlich beim Sprachspiel des Bezeichnens stecken. Dieser Rückgang zu den Ursprüngen der Sprache, der für ihn in ein symbolhaftes Ich-Finden mündet, indem er den Zettel sich selbst anheftet, d.h. sich selbst benennt, wird von der diesen Prozess nicht nachvollziehenden Umwelt dagegen als Ich-Verlust (Krankheit, Wahnsinn) interpretiert. 2.2 Narrative Konstruktion zeichenhafter Textwelten Im Folgenden konzentriere ich mich auf vier kürzere Erzählungen, die die Sprachproblematik zwar nicht direkt thematisieren, jedoch verschiedene Fragen der Zeichenhaftigkeit und der Interpretation auf Grund der Auseinandersetzung mit Fragen von Liebe, Erotik, Betrug und Tod aufwerfen und narrativ umsetzen. Alle vier stammen aus einer etwa 10 Jahre umfassenden Zeitspanne der frühen Schaffensperiode von Schnitzler, und darüber hinaus lassen sie sich sowohl thematisch als auch durch ihre Technik der Metaphorisierung konkreter Momente/ Elemente miteinander vergleichen: Blumen (1893-1894; Erstausgabe 1894); Der Ehrentag (1897); Die Weissagung (1902; Erstausgabe 1905); Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg (1903; Erstausgabe 1904). Die Zusammenstellung mag auf den ersten Blick heterogen wirken, denn die Texte sind auf der Oberfläche unterschiedlich: Fliedl ordnet sie dementsprechend verschiedenen Werkgruppen Schnitzlers zu, indem Blumen zu den “Testamenten” (Fliedl 2005: 115), Der Ehrentag zur “Poesie”, d.h. zu den “poetologischen” Texten (Fliedl: 2005: 113), Die Weissagung und Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg zu den “Schicksalsnovellen” (Fliedl 2005: 168) gehören. Jedoch die Ansicht, dass tieferliegende thematische und strukturelle Gruppierungen im Schnitzlerschen Œuvre möglich sind, wird in der Forschung ebenfalls behauptet: Lukas vertritt (jedenfalls vornehmlich auf Grund der dramatischen Werke) die im Großen und Ganzen annehmbare These, dass es eine gut definierbare Tiefenstruktur der Schnitzlerschen Texte (Lukas 1996: 15) und zwei “Zäsuren” im Œuvre gibt: Es existieren primär zwei Zäsuren, eine erste in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, eine zweite Anfang der 20er Jahre; […] Die erste ist die entscheidende Zäsur innerhalb des Gesamtwerks: Sie markiert vor allem die entscheidende Wende zur konsequenten Psychologisierung, die ihrerseits mit einer neuen Relevanz des zeitgenössischen ‘Lebens’-Begriffs verknüpft ist. (Lukas 1996: 16) Demnach wären die von mir gewählten Texte vor der zweiten und nach der ersten Zäsur zu situieren, und tatsächlich lassen sich bestimmte Merkmale bestimmen, die eine solche Magdolna Orosz 332 Trennung ermöglichen; 14 in Bezug auf die zeichenhafte, metaphorische Umfunktionierung bestimmter Elemente der Textwelten lassen sie sich jedoch miteinander verbinden. Eine andere Trennlinie könnte thematisch verlaufen, da mit Ausnahme von Blumen alle drei anderen Erzählungen mehr oder weniger direkt mit Theater und Inszenierung zu tun haben, es kann aber in Blumen ebenfalls eine spezielle Form von Inszenierung beobachtet werden. 2.2.1 Inszenierung “durch die Blume” Die Erzählung berichtet in der Form einer Ich-Erzählung, in die eine weitere untergeordnete Ich-Erzählung eingebettet ist (der Bericht vom Tode der untreuen/ verlassenen Geliebten), über eine Liebesgeschichte, die eine ziemlich einfache Handlungsstruktur hat: Die erzählte Welt stellt einen psychischen Prozess dar, in dessen Verlauf der Ich-Erzähler, der sich als “Betrogener” (B, 98) apostrophiert und der deshalb seine Geliebte verlassen oder verstoßen hat (wobei die Motivation ihres Betrugs aus dem Text nicht hervorgeht), vom Tode der einstigen Geliebten Nachricht erhält. Durch die von der verstorbenen Frau vor ihrem Tod noch bestellten Blumen wird er zur intensiven Erinnerungsarbeit angeregt, kann sich jedoch von der Erinnerung bzw. den sie vertretenden Blumen nicht befreien und verharrt damit in der Vergangenheit, weil er unbewusst immer noch an die erste Frau gebunden bleibt. Die Blumen repräsentieren eine gewisse “Liebe über den Tod hinaus”. Erst der “Gewaltakt” der neuen Geliebten, die die Blumen entsorgt, befreit ihn von der erinnernden Zwangsvorstellung und den sie auslösenden, verdorrten Blumen und lässt ihn die lebendige Geliebte wahrnehmen. Die erzählte Geschichte lässt sich in drei Phasen gliedern: a) eine Vergangenheitsphase mit der Liebe und ihr Ende durch “Betrug”, b) eine Zwischenphase der “Erinnerung”, gekennzeichnet durch die Präsenz der nach dem Tod angekommenen Blumen, ihr Verwelken und die dadurch aufrechterhaltene Erinnerung, c) eine Endphase mit der Beseitigung der “toten” Blumen sowie der Erinnerung und der Möglichkeit für einen Neuanfang mit einer anderen Frau, die dem Ich-Erzähler zu dieser “Trauerarbeit” gewaltsam verhilft. Die Konfiguration der Personen der erzählten Welt baut auf Oppositionen auf, die innerhalb einer Person oder zwischen den Personen bemerkbar sind. Beispielsweise steht der ethische Tod der ersten Geliebten ihrem biologischen Tod entgegen, bzw. geht ihm voran: War sie nicht längst für mich gestorben? … ja, tot, oder gar, wie ich mit dem kindischen Pathos der Betrogenen dachte, »schlimmer als tot«? … Und nun, seit ich weiß, daß sie nicht »schlimmer als tot« ist, nein, einfach tot, so wie die vielen anderen, die draußen liegen, tief unter der Erde, […]. (B, 98) Damit lässt der Ich-Erzähler seine Neigung zur moralischen Verurteilung der Geliebten und seine beinahe sadistische Lust daran erkennen. Dies erklärt seine spätere, sich hinziehende Trauerarbeit durchaus als von Reue geprägt: Es war ja gewiß sehr traurig, als ich damals ihren Betrug entdeckte; … aber was war da noch alles dabei! … Die Wut und der plötzliche Haß und der Ekel vor dem Dasein und - ach ja gewiß! Die gekränkte Eitelkeit; - ich bin ja erst nach und nach auf den Schmerz gekommen! Und dann war ein Trost da, der zur Wohltat wurde, daß sie selbst leiden mußte.(B, 98) Die zweite Phase der erzählten Geschichte ist von dem seltsamen Ereignis gekennzeichnet, das jedoch eine natürliche Erklärung erhält, obwohl das “Gespenstische” auch nicht völlig getilgt wird: Die Blumen kommen auch nach dem Tode der Geliebten an, als Zeichen ihrer - unvergänglichen - Liebe: “als kämen sie von ihr, als wär’ es ihr Gruß…als wollte sie noch Das übertragene Konkrete 333 immer, auch jetzt noch, als Tote, von ihrer Liebe, von ihrer - verspäteten Treue erzählen” (B, 102). Der Prozess der Gleichsetzung der Frau mit den Blumen fängt hier an: Und da lagen, zierlich durch einen Goldfaden zusammengehalten, Nelken und Veilchen… Wie in einem Sarge lagen sie da. Und wie ich die Blumen in die Hand nahm, ging mir eine Schauer durchs Herz. (B, 102) Die Blumen und ihr sinnlicher Duft erhalten eine Nachrichtbzw. Kommunikationsfunktion, als sprächen sie die “Sprache, in welcher die stummen Dinge zuweilen zu mir sprechen” (Hofmannsthal 1991: 54) 15 : Und wie sie jetzt vor mir auf dem Schreibtisch stehn, in einem schlanken, mattgrünen Glas, da ist mir, als neigten sich die Blüten zu traurigem Dank. Das ganze Weh einer nutzlosen Sehnsucht duftet mir aus ihnen entgegen, und ich glaube, daß sie mir etwas erzählen könnten, wenn wir die Sprache alles Lebendigen und nicht nur die alles - Redenden verständen. (B, 102) Die innere Unsicherheit des Ich-Erzählers reduziert jedoch die metaphorische Deutung wieder auf die konkret wahrnehmbaren Dinge und bestreitet alle Mehrbedeutung: Es sind Blumen, weiter nichts. Es sind Grüße aus dem Jenseits…Es ist kein Rufen, nein, kein Rufen aus dem Grabe. - Blumen sind es, und irgendeine Verkäuferin in einem Blumengeschäft hat sie ganz mechanisch zusammengebunden, ein bißchen Watte drum getan, in die weiße Schachtel gelegt und dann auf die Post gegeben. - Und nun sind sie da, warum denk’ ich darüber nach? (B, 103) Die Deutung verläuft jedoch in einer Pendelbewegung, indem die metaphorische Deutung der Blumen wieder zu dominieren beginnt, so dass ihr Anblick beinahe “Gespenster” (B, 106) erzeugt und zu einer Umkehrung der beiden Pole von “Tod” und “Leben” zu führen droht: Die Tote ist nah - durch die Blumen, die “schon welk, ganz welk” (B, 104) sind, und die lebendige Freundin (die, im Gegensatz zur Toten, den Namen, “Gretel”, und damit eine gewisse Individualität hat) “kommt immer von so weit, so weit” (B, 104). Der Ich-Erzähler selbst beteuert beinahe tiefenpsychologisch andeutend: “Ich habe es nicht gern, wenn die Ecken im Dunkeln sind” (B, 105) und vollzieht die Umkehrung von “Tod” und “Leben”, indem er betont: “Tote Dinge spielen das Leben” (B, 106). Damit sieht er sich der psychischen Macht/ Gewalt der Erinnerung - trotz seinem Verdrängungsversuch - wehrlos ausgeliefert: Ich schließe das Fenster, kein Fliederduft mehr weht um mich, und der Frühling ist tot. Ich bin mächtiger als die Sonne und die Menschen und der Frühling. Aber mächtiger als ich ist die Erinnerung, die kommt, wann sie will, und vor der es kein Fliehen gibt. Und diese dürren Stengel im Glas sind mächtiger als aller Fliederduft und Frühling. (B, 106) Durch die verwelkten Blumen als konkretes Bild wird “ein komplexes Symbol [geschaffen], das gedrängt mehrere Ebenen im Bedeutungsfeld von Tod und Sterben vergegenwärtigt” (Matthias 1999: 93). Letzten Endes wird damit eine grundlegende Gegenüberstellung der Weltsegmente vermittelt, die durch die Eigenschaften “Vergangenheit/ Erinnerung”, bzw. “Gegenwart”, “Tod”, bzw. “Leben”, “Betrug” und “Trennung”, bzw. “Liebe” und “Zusammensein” und ihrer wechselnden Dominanz charakterisiert werden können. Die entgegengesetzten Weltsegmente erhalten aber dadurch eine bestimmte Ambivalenz, dass der Übergang für den Ich-Erzähler erst durch eine äussere Einwirkung möglich wird, da er selbst innerlich nicht dazu bereit ist. Der Übergang vom “Tod” zum “Leben”, von der “Vergangenheit/ Erinnerung” zur “Gegenwart” wird durch eine inszenierte Szene herbeigeführt 16 , in der der Austausch der verdorrten Blumen durch frische vor sich geht: Magdolna Orosz 334 Ein paar Sekunden blieb sie in der Türe stehen; und ich schaute sie an, ohne sie zu begrüßen. Da lächelte sie und trat näher. Sie trug einen Strauß frischer Blumen in der Hand. Dann ist sie, ohne ein Wort zu reden, bis zu meinem Schreibtisch gekommen und hat die Blumen vor mich hingelegt. Und in der nächsten Sekunde greift sie nach den verwelkten im grünen Glas. Mir war, als griffe man mir ins Herz; - aber ich konnte nichts sagen…(B, 106) Damit wird symbolisch auch die gestorbene Geliebte begraben, d.h. zu einer fernen Erinnerung gemacht: Und hält den Arm mit den welken Blumen hoch, eilt hinter dem Schreibtisch zum Fenster, und wirft sie einfach hinunter auf die Straße. Mir ist, als müßt’ ich ihnen nach; aber da steht das Mädel, an die Brüstung gelehnt, das Gesicht mir zugewandt. Und über ihren blonden Kopf fließt die Sonne, die warme, die lebendige. … Und reicher Fliederduft kommt von drüben. […] Ein so gesunder frischer Duft. […] Und ich fühle, daß der Spuk vorbei war. (B, 106f.) In dieser Szene wird die metaphorische Ersetzung der Frau mit der Blume vergegenständlicht (konkret gemacht) und zugleich auch Heines wohlbekannter Vers “Du bist wie eine Blume” intertextuell herbeigeholt, allerdings, wegen der moralischen Verurteilung der gestorbenen Geliebten, den nachfolgenden Vers “So hold und schön und rein” in einer ironischen Umkehrung durchscheinen lassend. 17 Dadurch werden die Textualität und Sprachlichkeit des transpositorischen Prozesses “Blume statt Person” sowie die konkrete, in Handlung überführte Realisierung der (metaphorischen) Wendung “durch die Blume” vollzogen (Gretel spricht nicht, sondern handelt nur): Mit der Funktionalisierung der bekannten Blumenmetaphorik erzeugt die Textwelt einen übertragenen Sinn 18 , zu deren Interpretation sie selbst die textuellen Momente bereitstellt, die jedoch durch den Erzähldiskurs des Ich-Erzählers gefiltert werden, der selbst eine Interpretation seiner eigenen Geschichte vollzieht. 2.2.2 Theatralisch inszeniert - “durch die Blume” Unter den behandelten Erzählungen vertritt Der Ehrentag eine Mischform, weil hier die Blumensymbolik von Blumen teilweise fortgesetzt und zugleich eine Verlagerung auf das Theater und damit eine starke Hervorkehrung des Theatralischen, der Inszenierung, vollzogen wird, indem sich der Konflikt im Theater und wegen einer Aufführung zuspitzt. Der Ehrentag könnte eher als der Tag der “Entehrung” betrachtet werden, als ein in drei Akten erzähltes Drama selbst. 19 Die drei Kapitel etablieren jeweils eine “Szene” des tragischen Dramas - die erzählte Geschichte gliedert sich wiederum in drei Phasen: a) die Verschwörung von August Witte, die Vorbereitungen des demütigenden Scherzes im Kaffeehaus; b) die Vorbereitungen auf die Aufführung und die Aufführung mit der sch(m)erzhaften “Ehrung” des Schauspielers Roland; c) die Suche der Primadonna nach Roland, ihre Abrechnung mit Witte und ihre Konfrontation mit dem Tod des Schauspielers. Durch die unterschiedlichen Perspektivierungen auf die inneren Vorgänge der Figuren besonders in der zweiten Phase, in der die Sicht von Roland vorherrschend ist, und in der dritten Phase, in der die Perspektive der Primadonna dominiert, erhält die Geschichte in mehrfacher Verschlüsselung “einen tieferen Sinn” (E, 148). Damit geht es in der erzählten Welt um einen Erkenntnisprozess auf mehreren Ebenen, bzw. in der Welt unterschiedlicher Figuren, der die Rolle der einzelnen Figuren für sich selbst sowie für die anderen aufdecken und zur Selbsterkenntnis, bzw. zur Erkenntnis der anderen führen sollte: Die Rolle als unbedeutender Schauspieler, die Rolle als eifersüchtiger Liebhaber der Primadonna, die Rolle als Primadonna mit Empathie nicht nur in den Rollen, sondern auch im Leben werden bis zu Ende gespielt. Roland zieht Das übertragene Konkrete 335 daraus tödliche Folgen, die Primadonna sendet Signale ihrer Sympathie, die aber nicht wahrgenommen werden und trifft am Ende eine eindeutige moralische Entscheidung. Der Schauspieler Friedrich Roland erkennt seine Unfähigkeit zum großen Schauspieler: Und plötzlich hörte er im Saale ein stürmisches Gelächter schallen; […] Er verstand es nicht. Man lachte lauter, immer lauter. Plötzlich verstand er es. Und es war ihm, als wenn er niedersinken müßte und sein Gesicht verstecken, denn man lachte ja über ihn… man höhnte ihn aus. […] (E, 154) Als Folge dieser Selbsterkenntnis und der Demütigung auf offener Szene verschließt sich die Figur jeder weiteren Beziehung und wählt den Tod als völlige Selbstaufgabe: Und mitten in dem Jubel, dem Lachen, das ihn umtoste, kam es wie eine furchtbare Verlassenheit über ihn, daß ihm das Herz stillestand. […] Viele standen hinter den Kulissen bereit, […] und hatten Lust, den Spaß aus dem Zuschauerraum hier fortzusetzen; […] Er ging langsam […], öffnete die Tür seiner Garderobe, trat ein; dann sperrte er die Tür ab. Das Schloß knarrte hinter ihm, und unten das Spiel ging weiter. (E, 154, 156) Seine Selbsterkenntnis wird jedoch damit verbunden, dass er die Zeichen der Sympathie der Primadonna nicht erkennt: Seit ein paar Wochen geschah es manchmal, daß er auf dem kleinen Tisch in seiner Garderobe Veilchen fand, er forschte gar nicht, woher sie kamen, gewiß war es ein Scherz, wie man sie schon manchmal an ihm verübt hatte; […] Die Veilchen waren auch heute wieder da; […] (E, 152) Der Intrigant August Witte, der seine Ziele zuerst maskiert, verkennt die Gefühle der Primadonna und erkennt seinen Misserfolg in seiner Beziehung zu ihr erst spät: Jetzt wußte er, daß der Anlaß zu dem Streich von heute abend nicht die Lust am Spaß gewesen war […] nein - er hatte die stille Hoffnung gehegt, daß er den kleinen Schauspieler für die Blandini lächerlich und unmöglich machen, daß sie über den lustigen Einfall Augusts lachen und sie nachher bessere Freunde sein würden als je; […] Aber schon im Theater hatte er gemerkt, daß die Sache anders auszufallen schien, als er gewünscht. (E, 158f.) Die Primadonna erkennt ihr Mitleid zum kleinen Schauspieler bzw. ihre Sympathie und gibt ihr durch die “Veilchen” (E, 152), durch das “Zittern der Stimme wie niemals früher” (E, 155), durch die “Tränen im Auge” (E, 156) einen nicht ganz eindeutigen Ausdruck, und schließlich erkennt sie auch das moralische Versagen von Witte, das sie heftig verurteilt: »Ja, geh’n Sie zur Polizei, ich bleib da … aber dem Herrn unten sagen Sie, er soll fortgehen, schnell fortgehen soll er, daß ich ihn nimmer seh’, sagen Sie ihm das, und wenn ich ihn noch treff’, sagen S’ ihm, spuck’ ich ihm ins Gesicht.« (E, 164) Durch die beiden konkret fassbaren, aber zugleich zeichenhaften Elemente der erzählten Geschichte, durch die “Veilchen” und den “riesigen Lorbeerkranz” (E, 154) wird die grundlegende Opposition aufgebaut zwischen vorgestelltem Ruhm, den sich Roland erwünscht hätte, und vorgetäuschtem Ruhm, der ihm in geräuschvoller Aufmachung zuteil werden soll. Diese Zeichen geben Anlass zu unterschiedlichen Interpretationsversuchen, die die Figuren zur Deutung von sich selbst und der anderen unternehmen (sie agieren im Leben wie im Theater in ihren ihnen zugekommenen Rollen). Dass sie daraus nicht austreten können, bedingt den Ausgang der Geschichte: Die Opposition “Wirklichkeit” vs. “Theater” führt zum “Tod”, weil die Interpretationsversuche über die Motivationen der anderen fehlschlagen. Der Schauspieler Roland interpretiert die Zeichen der Sympathie der Primadonna nur als “Scherz” (E, 152), der Magdolna Orosz 336 Intrigant interpretiert die innere Enttäuschung des verhöhnten Schauspielers und die Gefühle der Primadonna nicht entsprechend, die Primadonna interpretiert die Gefühle der beiden Männer nicht genau und nimmt erst spät eindeutig Stellung: Es entsteht ein “Reigen” von Missdeutungen und Fehlhandlungen und damit auch ein auf die zeitgenössische Realität zurückführbares genaues “Bild” als “a critical picture of the other side of the flourishing art scene” (Kuttenberg 2007: 33) 20 sowie die metaphorische Interpretationsmöglichkeit des Erzählten im Sinne von “Leben als Theater” (“theatrum mundi”). 2.2.3 Inszenierte Lebenskrisen Die zwei weiteren Erzählungen haben direkt mit dem Theater zu tun und lassen auf diese Weise in den Textwelten realisierte (konkrete) Aufführungen erkennen: Die Weissagung projiziert ein dramatisches Bild in ein Theaterstück bzw. eine Laienaufführung, Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg lässt Schauspieler einerseits ihre Rollen im Theater spielen, indem Kläre Hell die ‘Königin der Nacht’ singt, und Sigurd Ölse in der bedeutungsträchtigen Rolle des Tristan auftritt, andererseits - und für die erzählte Geschichte ist das viel wichtiger - führen sie eine Intrige mit tödlichem Ausgang in der fiktiven Wirklichkeit auf. Dabei werden in beiden Textwelten Liebe, Betrug, Täuschung und Tod inszeniert und vor allem durch inner- und interpersonale psychologische Vorgänge motiviert sowie in verschiedener Brechung und Auslegbarkeit aufgezeigt. Die Weissagung betrachtet Wünsch als phantastische Erzählung, indem sie feststellt, “daß auch bedeutende Autoren, die primär als nichtfantastisch bekannt sind, gelegentlich fantastische Texte geschrieben haben; so hat Schnitzler mindestens eine fantastische Erzählung - Die Weissagung […] - veröffentlicht” (Wünsch 1991: 73). 21 Hier wird eine mehrfach verschachtelte, auf zwei Erzähler verteilte Geschichte auf mehreren Zeitebenen erzählt, die durch ein Nachwort des Herausgebers abgeschlossen wird, das das Erzählte sowie den Rahmenerzähler mehrfach verrückt, indem der Ich-Erzähler den Herausgeber “persönlich nicht gekannt” (W, 443) haben will und obwohl er “zu seiner Zeit ein ziemlich bekannter Schriftsteller” (W, 443) gewesen sein soll, gilt er nach seinem Tod als “so gut wie verschollen” (W, 443), da er sowieso - mit zeitlicher Verschiebung der Ereignisse - “vor etwa zehn Jahren starb” (W, 443). Der namenlose Ich-Erzähler und Dramenautor fungiert als Erzähler der Rahmengeschichte, die einerseits einen Rückblick auf die Vorgeschichte gibt und den Hintergrund der ein Jahr später stattfindenden Ereignisse sowie die Aufführung “des kleinen Stückes” (W, 422) einschließt, das der Ich-Erzähler für die Laienaufführung verfasste. Der Erzähler der Binnengeschichte, der Ereignisse “vor zehn Jahren - heute vor zehn Jahren” (W, 424), ist Franz von Umprecht, der in der Rahmengeschichte als Schauspieler im Stück des Ich-Erzählers in der Laienaufführung auftreten und dadurch ein rätselhaftes Ereignis der Vergangenheit auf eine befriedigende Erklärung und Auflösung zurückführen soll. Die Rahmengeschichte funktioniert damit als Fortsetzung der Binnengeschichte, des Vorfalls mit Umprecht vor zehn Jahren. Damit werden mehrere Ebenen/ Weltsegmente einer mit wenigen Zügen ziemlich “realistisch” ausgestatteten erzählten Welt geschaffen, die einander stark gegenüberstehen: Während die “Gesellschaft […] im Schlosse” (W, 420) mit einer “zwangslosen Zusammensetzung” (W, 420) hervortritt, “die durch die dort geübte Kunst genügend gerechtfertigt schien” (W, 420) sowie “eine höhere Art von Gesellschaftsspiel” (W, 421) betreibt und damit “ein höchst anmutiges Erlebnis” (W, 421) hinterlässt, ist die Gesellschaft in der Kaserne “in einem öden polnischen Nest” (W, 424) auf “Trunk und Spiel” (W, 425) als Gesellschaftsspiel reduziert, die statt eines geselligen sich Vertragens rassistische Das übertragene Konkrete 337 Hassgefühle entfaltet. 22 Hier wie dort, in der Rahmenwie der Binnengeschichte, gibt es jedoch das verbindende Element der “Aufführung”, des theatralischen Spiels: Einerseits ist dies die Laienaufführung des Stückes des Ich-Erzählers, andererseits die “Aufführung” der Kunststücke Marco Polos, der in dieser Hinsicht als Autor und Regisseur betrachtet werden könnte. Das einen Augenblick aus dem künftigen Leben von Umprecht herbeizaubernde traumhafte “Bild”, das dann in einer Zeichnung festgehalten wird, könnte als dritte Ebene der Verschachtelung angesehen werden, die die Zeitebenen von Vorher und Nachher in einer Art Mise-en-abyme vereinigt, bzw. aufeinander projiziert: Und schon war er fort … aber auch die Kaserne war fort, […] und ich sah mich selbst, wie man sich manchmal im Traume selber sieht … sah mich um zehn Jahre gealtert, mit einem braunen Vollbart, einer Narbe auf der Stirn, auf einer Bahre hingestreckt, mitten auf einer Wiese - an meiner Seite kniend eine schöne Frau mit rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben und ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im Hintergrund und zwei Jagdleute mit Fackeln in der Nähe… (W, 429) Das projizierte Bild nimmt sogar die Fiktion in der Fiktion, d.h. die Schlussszene des aufzuführenden Dramas vorweg und etabliert zugleich eine Spannung zwischen den Zeichensystemen “Wort” und “Bild”, denn - wie die Figur von Umprecht betont - “Worte lassen sich in verschiedener Weise auslegen” (W, 428), wogegen das Bild “etwas Bestimmteres” (W, 428), d.h. Greifbares und Konkretes repräsentieren sollte. Das Interpretationsproblem wird damit selbst als symbolhaftes Element in die Geschichte eingeführt und gleichzeitig zum wesentlichen Handlungsmoment gemacht. Obwohl Umprecht alles tut, um einerseits das Bild von seinem Visionscharakter zu befreien (er lässt ein notariell versiegeltes Bild anfertigen), andererseits um seinem in der Vision projizierten Tode und den Umständen - zwischen dem Gefühl, sein “Schicksal vollkommen in der Hand” (W, 432) zu haben, und dem “Bewußtsein [s]einer Wehrlosigkeit” (W, 434) schwankend - vorzubeugen, erfüllt sich alles, in einer Kette sonst zufälliger Geschehnisse, haargenau nach der Vision und doch nicht in der lebensrettenden Weise des Dramenspiels: Das Schicksal wird vom Zufall regiert, das Rätsel “löst [sich], ohne sich aufzuklären” (W, 430). Die konkrete Interpretationsstütze, das notariell versiegelte Bild, verschwindet und macht alle weitere Deutung des Rahmenerzählers unmöglich: Den Freiherrn sprach ich am Tag darauf in Bozen; dort erzählte ich ihm die Geschichte Umprechts, wie sie mir von ihm selbst mitgeteilt worden war. Der Freiherr wollte sie nicht glauben, ich griff in die Brieftasche und zeigte ihm das geheimnisvolle Blatt; er sah mich befremdet, ja angstvoll an und gab mir das Blatt zurück - es war weiß, unbeschrieben, unbezeichnet… (W, 442) Die Zeichen für die Unsicherheit oder Unzuverlässigkeit aller Erzählinstanzen werden von nicht erklärbaren Momenten verstärkt (das Verschwinden von Marco Polo in der Binnengeschichte sowie das des Flötenspielers in der Rahmengeschichte) und lassen die Interpretation des Erzählten - damit das fantastische Element verstärkend - für den Rezipienten in der Schwebe, jedoch im metaphorischen Feld von “Leben als Theater” hängen. Die Erzählung Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg ist dagegen nicht fantastisch um eine kommunikative Verschwörung und Verstörung zentriert, die zum Tod der Titelfigur führt. Die ausdauernde Liebe des Freiherrn zur Sängerin Kläre Hell wird getäuscht durch eine Liebesnacht, deren Funktion für ihn sowie für die Sängerin ganz anders ist: Er glaubt, dass seine Gefühle endlich erwidert worden sind, sie will dem Fluch des Fürsten entgehen, so dass sie eigentlich den Freiherrn für den nächsten potentiellen Geliebten, den Sänger Sigurd Ölse Magdolna Orosz 338 opfert. Dabei verfügen die Figuren über unterschiedliches Wissen und nehmen sich selbst, ihre eigenen Gefühle und Absichten sowie die Gefühle der/ des anderen in unterschiedlichem Maße adäquat/ inadäquat wahr, wobei auch ihre Kommunikation untereinander von Verheimlichung und Scheitern gekennzeichnet ist. In den unterschiedlichen Segmenten der erzählten Welt lässt sich die Selbst- und Fremdwahrnehmung und das Wissen über die/ den andere(n) in zeitlicher Phasengliederung beschreiben (dabei werden hier die chronologischen Umstellungen im Erzähldiskurs außer acht gelassen): 1.) In der ersten Phase, die etwa zehn Jahre dauert und als Vorgeschichte betrachtet werden kann, entwickelt sich die Beziehung Leisenbohgs zu Kläre bis zum Tode des Fürsten Bedenbruck. Leisenbohg, der anfangs 25 Jahre alt, “unabhängig und rücksichtslos” (FL, 445) und voller “Huldigungen” (FL, 445) für Kläre war, die stets abgelehnt wurden, “wiegte sich in neuer Hoffnung” (FL, 445) und wird immer wieder getäuscht. Die sexuell freie und immer wieder neue Liebschaften eingehende Kläre “hatte ihre Beziehungen nie als Geheimnis behandelt” (FL, 447), verändert sich durch ihre Beziehung zum Fürsten Bedenbruck, den sie “durch mehr als drei Jahre ebenso treu, aber mit tieferer Leidenschaft geliebt [hatte] als seine Vorgänger” (FL, 449). Das hält Leisenbohg jedoch nicht davon ab, seine Gefühle und seine Hoffnung, “mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung” (FL, 449) aufrecht zu erhalten. 2.) In der zweiten Phase, die vom Tode Bedenbrucks bis zur Liebesnacht und Kläres Abreise dauert, bringt das Erscheinen des Sängers Sigurd Ölse einen gewissen Wandel, dessen Bedeutung sich erst später herausstellt: Kläre zeigt scheinbar kein Interesse für den Sänger, denn “ihr Herz blieb nach wie vor in Schlummer versunken” (FL, 449), und trotz der Begeisterung der anderen für ihn und seiner Leidenschaft für sie, schien sie “als einzige […] ungerührt zu bleiben” (FL, 450), und obwohl Leisenbohg “Mißtrauen und Angst” (FL, 452) hegt (was durch das Unterlassen der “seltsamen Handbewegung” (FL, 450) als Zeichen ihrer Entsagung genährt werden dürfte), empfängt er die Liebesnacht als “etwas Unerwartetes” (FL, 452) voller Vertrauen auf Kläres Aufrichtigkeit. 3.) Die dritte Phase reicht von der Liebesnacht bis zu Leisenbohgs Tod. Sie ist von seiner Hoffnung geprägt und der ihr widersprechenden Zeichen - “als hätten ihre Augen in der gestrigen Nacht wie im Wahnsinn geglüht” (FL, 457) - sowie von seinen Reisen auf der Suche nach ihr, die wie eine Spiegelung seiner Reisen in den ersten 10 Jahren nach ihrem Aufenthaltsort erscheinen. Letzten Endes wird er zum Opfer der beiden Schauspieler: Kläre trickst ihn nur aus, um den Fluch abzuwenden und opfert ihn für Ölse, der Leisenbohg belügt, um die Wahrheit mit dem Fluch und mit Kläre zu erfahren. Leisenbohg geht damit als ein mehrfach betrogener, düpierter Liebhaber aus und erliegt dem - sei es aus Zufall, sei es durch den Schock hervorgerufenen - Sturz. 23 Von der verzichtenden Handbewegung Kläres, die als erstes Zeichen einer Verstellung gedeutet werden dürfte, verlaufen verschiedene Prozesse der Selbst- und Weltwahrnehmung der Figuren, die einander durchkreuzen und ihre “Masken” erst spät erkennen lassen: Indem Leisenbohg - obwohl er die “Handbewegung” bemerkt, ihre Deutung jedoch unterlässt - die Zuverlässigkeit des/ der anderen grundsätzlich nicht bezweifelt und dadurch seine Instrumentalisierung als Mittel zum Wegräumen der Hindernisse vor einer Beziehung mit einem anderen erst spät bemerkt, schrecken die beiden anderen Figuren vor Lüge und Täuschung Das übertragene Konkrete 339 nicht zurück, um ihre Ziele zu erreichen. Als Aufrichtigkeit maskierte Lüge, Schonungslosigkeit und Spiel mit dem Glauben des anderen im eigenen Interesse, die Erfüllung sexueller Begierde sind die Motivationskräfte der so vorangetriebenen Ereignisse, die die Möglichkeit tieferer Gefühle in Frage stellen und somit die Rolle des Freiherrn als Liebhaber in ironischer Brechung erscheinen lassen. Aufgrund der Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse der Figuren sowie der mehrfachen Wechsel in der Perspektivierung, in der Position und der Mittel des (fiktiven) Erzählers sollten die Ambivalenzen, die auf der Ebene der Figuren entstehen, als Zusammenhänge der Ebenen der Textwelt entsprechend erklärt werden. Letzten Endes wird die erzählte Geschichte von dem Ungleichgewicht der Gefühle und des Wissens über den/ die andere(n) dominiert, der Informationsvorsprung sichert die Macht über den anderen und lässt ihn emotional leer ausgehen - der physische Tod kann als logische Folge dessen angesehen werden. Durch die Perspektivierung des Erzählens überwiegt die Sicht Leisenbohgs, die jedoch unaufgehoben beschränkt bleibt: Die erzählte Welt konzentriert sich um das symbolhafte Moment des Fluchs und inszeniert das Spiel von Wissen, Nichtwissen und Mehrwissen, den Reigen auf der Szene des Lebenstheaters. Die Theatermetaphorik (und Ölses Theaterrolle) lässt es zugleich zu, die Geschichte intertextuell auch als eine etwas verdrehte Tristan- Geschichte zu interpretieren, in der nicht das Liebespaar, sondern der König/ der Ehemann stirbt (somit würde Leisenbohg die Rolle des Betrogenen zuteil werden, die er mehrfach zu spielen gewohnt ist) - damit wäre Schnitzlers Erzählung nicht nur “als Parodie auf das Genre zu lesen und als lakonisches Charakterporträt einer Dame, die ein abwechslungsreiches Liebesleben mit naivem Aberglauben zu verbinden weiß” (Fliedl 2005: 169) 24 , sondern auch als durch vielfache intertextuelle Verweise durchwobene metaphorisch angelegte Parabel über die Undurchschaubarkeit der Welt. 3. Schnitzlers metaphorisches Erzählen In den analysierten Erzählungen von Schnitzler sind solche Konstruktionsverfahren sichtbar geworden, die die Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse von Zeichen auf mehreren Ebenen - der Figuren, der Erzählinstanz(en), des Rezipienten - in den Mittelpunkt stellen. Die in den Textwelten eine besondere Bedeutung und Funktion erlangenden Momente, Gegenstände oder Handlungen (Blumen, Eifersucht, Demütigung mit vorgetäuschter Verehrung, Veilchen, Lorbeerkranz und Bejubelungsrituale, Lebenssituation abbildende Zeichnung, Fluch) werden dadurch auf einer anderen, symbolhaften Ebene deutbar, indem sie ihre konkrete Bedeutung zwar behalten, zugleich aber auch eine (immerhin von der Interpretation und der Perspektive des Interpreten abhängige) metaphorische Bedeutung erhalten. Schnitzlers Erzählen inszeniert somit grundlegende Zeichenprozesse und schließt sich der Diskussion um die Metaphorizität der Sprache 25 in einer besonderen Form an, indem die ganze Sprach- und Wahrnehmungsproblematik in ihrer Komplexität narrativ gestaltet und mit anderen Diskursen der Epoche vielfach verknüpft wird. Auf diese Weise inszeniert Schnitzler die Brüchigkeit der Welt- und Selbsterfahrung sowie der Welt- und Selbstinterpretation für das die alten Normensysteme verlassende und seine eigene Vielschichtigkeit erlebende Individuum. 26 Damit repräsentiert Schnitzler auch den “Epochenwandel vom Realismus zur Frühen Moderne” (Lukas 1996: 121) - dass dies außerdem vielfache zeichentheoretische Folgerungen zulässt, zeugt ebenfalls von Schnitzlers Modernität. Magdolna Orosz 340 Literaturverzeichnis Primärliteratur Siglen: B = “Blumen”. In: Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl. Erzählungen 1892-1907. Mit einem Nachwort von Michael Scheffel. Frankfurt a. M: Fischer 2004: 98-107. 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Doležel 1998, Eco 1995, Orosz 1996, Ronen 1994, Ryan 1991. 4 Zugleich kann dafür plädiert werden, dass dies auch im Rahmen einer ? möglichen Welt’-Theorie des Narrativen beschreibbar ist, vgl. dazu Orosz 1996, für die textinterne Modellierung der fiktiven Kommunikation und die daraus resultierenden Typen der Bezugnahmen des fiktiven Erzählers auf die erzählte Welt bzw. auf sein Erzählen vgl. Orosz 1984, 2001. 5 Vgl. zusammenfassend dazu u.a. Titzmann (2003: 179). 6 Vgl. die zusammenfassende Darstellung über die unterschiedlichen Einteilungen des Erzählten in Ebenen und Elementen in Martínez/ Scheffel (1999: 25f.). 7 Zu einer “Neuentdeckung” der Theorie ? möglicher Welten’ für die narratologische Analyse vgl. Surkamp 2002. 8 Für einen Ansatz zur Beschreibung von erzählter Welt und Erzähldiskurs sowie Intertextualität im Rahmen einer ‘möglichen-Welt’-Theorie vgl. u.a. Doležel 1998; mit Beispielsanalysen vgl. Orosz 2003. 9 Zu seiner Einordnung vgl. Lukas’ Ausführungen, der feststellt, dass “Schnitzler dieser Epoche [= der Frühen Moderne, M.O.] gänzlich angehört. Schnitzler hat […] kein einziges »realistisches« (Erzähl)Werk verfasst, auch wenn sich in einigen früheren Werken wie z.B. Frau Berta Garlan der Übergang vom Realismus zur Frühen Moderne noch greifen lässt” (Lukas 1996: 14). Zur Frage der Unterscheidung und der Unterschiede von “Realismus” und “Früher Moderne” vgl. u.a. Titzmann 2002. Magdolna Orosz 342 10 Vgl. die Analyse des inneren Monologs in zwei Erzählungen von Schnitzler in Morris 1998. Hier wird die erzähltechnische Analyse vor dem Hintergrund der Autorintention motiviert. 11 Vgl. Luk 23.18: “Da schrie die ganze Haufe und sprach: Hinweg mit diesem und gib uns Barabbas los! ”. Die biblische Allusion wird auch durch den Namen Cleophas verstärkt, indem Kleopas einer von denjenigen ist, die Jesus nach seiner Auferstehung in Emmaus erkannten (vgl. Luk 24.18). 12 Zu einer detaillierteren Analyse und intertextuell angelegten Interpretation der Erzählung vgl. (Orosz 2005: 228-236). 13 Wittgenstein (1984: 244); Wittgensteins Philosophische Untersuchungen entstanden Ende der 1940er Jahre. 14 Die Erzählungen Blumen und Der Ehrentag thematisieren z.B. die direkte Unzugänglichkeit des anderen und entfalten die Geschichte einer Befreiung des Ich durch die Loslösung von einer Bindung durch den Tod eines/ einer anderen als eine Art “Überlebensdichtung” (Matthias 1999: 90), während die beiden anderen Erzählungen die Undurchsichtigkeit und Undurchschaubarkeit der Motive des/ der anderen und damit auch den verfehlten Rückschluss auf das eigene Ich aufzeigen. 15 Die inhaltliche Nähe der Schnitzlerschen Erzählung zum Chandos-Brief scheint hier evident obwohl er zeitlich später entstand - ohne direkte Beziehung belegen beide die intensive Beschäftigung mit der Sprachlichkeit um die Jahrhundertwende. 16 Dass die Inszenierungsbzw. Theatermetaphorik nicht ganz verfehlt ist, belegt die Stelle, in der der Ich-Erzähler seinen Schmerz mit der ,theatrum mundi’-Metapher zum Ausdruck bringt: “Ich habe in irgendeinem Augenblick gewußt, daß es überhaupt weder Freuden noch Schmerzen gibt; - nein, es gibt nur Grimassen der Lust und der Trauer: wir lachen und weinen und laden unsere Seele dazu ein” (B, 100). 17 Damit vollzieht sich auch eine gewisse “Mortifikation” der Frau durch “eine männlich geprägte Perspektive”, wodurch “Lebendiges stillgestellt” werde (Surmann 2002: 28), die für die Jahrhundertwende charakteristisch sein soll (ebd.: 30f.). 18 Damit finden wir bei Schnitzler auch die uneigentliche Sprachverwendung (vgl. Titzmann 1989: 51), die für das Erzählen um die Jahrhundertwende immer charakteristischer wird, allerdings auf die Weise, dass hier die Geschichte und das Geschichtenerzählen nicht völlig verlustig gehen. 19 Schnitzlers dramatisches Talent bzw. seine Praxis als Dramenautor äußert sich nicht nur in der Themenwahl vieler Erzählungen, die das Theater zu einem verschiedenartig gearteten thematischen Element machen, sondern auch in der dramatischen Konstruktion der erzählten Geschichten. 20 Kuttenberg erblickt eine kulturelle Kritik darin: Im Ehrentag “Schnitzler used vision and perception discursively to put forward an eloquent cultural critique of aestheticizing physical and mental illness in Vienna in the 1890s and 1900s. He situated this critique in characters going through various crises, then articulated it through visually driven public and private social interaction and by revealing intimate thought.” (Kuttenberg 2007: 21f.) - dabei spielen eben die symbolhafte Bedeutung erlangenden “konkreten” Momente - hier ebenfalls “Blumen” - eine eminente Rolle. 21 Wünsch kommt zu einer Folgerung, die neben anderen Autoren auch auf Schnitzler zutreffen kann: “In der Zeit 1890-1930 bilden die Texte mit fantastischen Elementen und die realitätskompatiblen Texte nicht zwei scharf abgegrenzte Klassen von Literatur mit kategorial verschiedenen Strukturen, sondern stehen beide in einem Kontinuum der Formen, dessen gemeinsamer Nenner die in der Epoche von Anfang an manifestierte Tendenz zur Abweichung von der Normalität ist” (Wünsch 1991: 73f.). 22 Die antisemitischen Gefühle werden in der erzählten Geschichte für die Handlung so funktionalisiert, dass “gerade diese Laune des Prinzen mich mit demjenigen Menschen zusammengeführt hätte, der in so geheimnisvoller Weise die Verbindung zwischen Ihnen und mir [d.h. die vermeintliche Lösung des Rätsels in dem aufzuführenden Stück der Rahmengeschichte] herzustellen berufen war” (W, 425f.); außerdem ließe sich die Figur von Marco Polo als eine Variante des zu ewiger Wanderung verurteilten Juden Ahasverus interpretieren, wodurch weitere Bedeutungsnuancen und Interpretationsmöglichkeiten angespielt werden. Die Fragen des Antisemitismus werden damit berührt, jedoch “ist die antisemitische Thematik nach Umfang und Funktion [nicht] handlungsbestimmend” (Beier 2008: 53). 23 Durch den “Sturz” erhält Leisenbohg eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Fürsten Bedenbruck, der “durch einen Sturz vom Pferde verunglückt und […] gestorben” (FL, 444) war - allerdings ist er, wie es sich herausstellt, nur ein Stellvertreter, der den Platz des Fürsten nur vorübergehend und aus Täuschung einnehmen kann. 24 Fliedls Lektüre vereinfacht die komplexen Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse der Figurenebene sowie im Erzähldiskurs, und legt die Deutung der Figuren und ihrer Motivationen und außerdem das offene Ende auf eine Interpretation fest. Das übertragene Konkrete 343 25 Die Frage der grundlegenden Metaphorizität der Sprache wird bei Nietzsche und Mauthner intensiv behandelt, indem beide, der Sprache wegen ihres metaphorischen Charakters ihre Wahrheitsfunktion abstreitend, der Literatur einen Freiraum zulassen und in ihrer Metaphorizität ihr eigenstes Mittel erblicken (vgl. dazu auch Orosz 2002). 26 Zu Schnitzlers Personkonzept vgl. Wünsch 1991: 247. Seite 344 vakat Die ganz normale Gewalt Zur De-Semiotisierung von Gewalt in Cormack McCarthy’s Roman No Country for Old Men Michael Müller Der Aufsatz beschreibt, wie in Cormac McCarthys Roman No Country for Old Men mit semiotischen Mitteln die De-Semiotisierung und damit scheinbare “Konkretisierung” von Gewalt betrieben wird. The article points out that Cormac McCarthys novel No Country for Old Men uses semiotic processes to dissolve meaning constitution. It will be shown that in the novel this process installs a concreteness of violence on its surface. 1. Vorbemerkungen Am Beispiel des 2005 im amerikanischen Original (McCarthy 2005; im Folgenden im Fließtext zitiert als No Country) und 2008 unter dem Titel Kein Land für alte Männer in der deutschen Übersetzung erschienen Romans No Country for Old Men des amerikanischen Autors Cormac McCarthy (*1933) werde ich mich mit der Frage beschäftigen, wie Literatur die Übergänge zwischen “konkreten” Entitäten und ihrer Semiotisierung thematisieren kann; im speziellen werde ich ausführen, wie hier über den Umweg einer (Um-)Semantisierung des Konkretums “Gewalt” seine Ent-Semiotisierung vorgeführt wird. Ich stütze mich in meinen Ausführungen vor allem auf den Roman; die 2007 in die amerikanischen Kinos gekommene Verfilmung durch die Coen-Brüder (Coen 2007) werde ich ab und zu als Beispiel heranziehen, ohne auf Unterschiede zwischen Text und Film einzugehen. Im Großen und Ganzen hält sich der Film relativ genau an die narrativen Strukturen der Histoire und die Erzählsituation im Discours des Textes; alle meine interpretatorischen Beobachtungen und Folgerungen treffen daher aus meiner Perspektive auf die Diegese und die narrattiven Strukturen sowohl auf das Buch als auch auf den Film zu. Für die Frage nach der Semiotisierung von Gewalt können auch viele andere Bücher von Cormac McCarthy als Textgrundlage herangezogen werden, da in ihnen allen die Frage nach dem ontologischen und semiotischen Status von Gewalt in ähnlicher Weise gestellt und beantwortet wird: McCarthys Romane kreisen um die Frage, ob Gewalt ein Ausnahmefall ist, ein Betriebsunfall, der semiotisch darauf hinweist, dass irgend etwas in der Welt “nicht in Ordnung” sei, und der - wie es der klassische Krimi vorführt - möglichst schnell getilgt werden muss, oder ob Gewalt der Normalfall ist, ein nicht weg zu denkender oder weg zu diskutierender Bestandteil der Welt. Wer Cormac McCarthy kennt, ahnt, dass der Autor zur letzteren Antwort tendiert: Er ist bekannt für Geschichten eher düsterer Natur, und in vielen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Michael Müller 346 seiner Texte ist Gewalt ein bestimmendes Merkmal der dargestellten Welt; am deutlichsten vielleicht in seinem Roman Blood Meridian (McCarthy 1985). 2. Plotstruktur In No Country for Old Men erzählt McCarthy die Geschichte von Llewelyn Moss. Dieser, ein Vietnamveteran, lebt 1980 (erzählte Zeit) in einem Trailerpark im Süden von Texas zusammen mit seiner jungen Frau Carla Jean. Bei einem Jagdausflug in die Wüste entdeckt er drei schwere Geländewagen, umgeben von mehreren Leichen. Einer der Pickups ist mit einer großen Menge Heroin beladen. In diesem Wagen sitzt ein überlebender Mexikaner, der Llewelyn um Wasser bittet, was ihm dieser abschlägigt. Llewelyn rechnet sich aus, dass es noch einen weiteren Mann geben muss, der das Geld aus diesem missglückten Drogendeal bei sich hat. Tatsächlich findet er diesen Mann ein Stück entfernt tot unter einem Baum, neben ihm einen Koffer mit mehreren Millionen Dollar. Llewelyn nimmt den Koffer an sich. In der Nacht beschließt er aus einem, wie sich zeigen soll, völlig unangebrachten Anfall von Nächstenliebe, dem angeschossenen Mexikaner Wasser zu bringen. Dabei wird er von Männern entdeckt, die offenbar zur amerikanischen Seite der Drogenkäufer gehören. Llewelyn kann gerade noch entkommen, muss aber seinen Pickup zurücklassen. Er weiß, dass nun die Uhr tickt: Spätestens am Montag früh, wenn das Zulassungsamt öffnet, werden die Drogenhändler über das Nummernschild seine Adresse herausbekommen. Er schickt seine Frau zu ihrer Mutter nach Odessa in Texas und begibt sich selbst auf die Flucht. Nun kommen die beiden anderen Hauptfiguren des Textes ins Spiel: Anton Chigurh, ein Killer, der von den amerikanischen Drogenkäufern beauftragt wird, das Geld wiederzufinden, aber als erstes die Abgesandten seines Auftraggebers erschießt und sich selbständig macht, nachdem er von ihnen einen elektronischen Empfänger bekommen hat, mit dem ein Sender im Geldkoffer geortet werden kann. Und Ed Tom Bell, der örtliche Sheriff, der in der Folge immer zu spät kommen wird. Die einzelnen Stationen der Verfolgung von Moss durch Chigurh seien hier übersprungen; irgendwann ist dann Llewelyn Moss nach einer Schießerei mit Chigurh verletzt in einer Klinik einer mexikanischen Grenzstadt. In einem Telefongespräch droht ihm Chigurh: Wenn er ihm das Geld nicht bringe, werde er seine Frau töten; er wisse, wo sie sei. Nach seiner Genesung versucht Moss, sich mit seiner Frau in einer anderen Stadt zu treffen; auf dem Weg dorthin wird er in einem Motel von Mexikanern erschossen. Wenig später kommt Chigurh, der ihm auf der Ferse geblieben ist, an den Tatort und holt das Geld, das Moss im Lüftungsschacht versteckt hat. Später taucht der Killer bei Moss’ Frau auf und erschießt sie mit der Begründung, er habe Moss sein Wort gegeben, sie zu erschießen, falls dieser ihm nicht das Geld aushändige. Als er mit dem Auto diesen Tatort verlässt, fährt ihm eine anderer Wagen in die Seite; er kann jedoch schwer verletzt fliehen. Alle Ermittlungen von Sheriff Ed Tom Bell führen ins Leere. 3. Der Diskurs über Gewalt Schon aus der Plotstruktur wird erkennbar, dass die Frage nach dem Status von Gewalt einen zentralen Diskurs des Textes formiert. Explizit geführt wird dieser in Monologen und Dialogen des alternden Sheriffs Ed Tom Bell in Ich-Form, implizit durch die narrative Struktur des Die ganz normale Gewalt 347 Abb. 1: Diskursthemen “Gewalt” in No Country for Old Men 1 Textes, der außerhalb der Sheriff-Monologe auktorial erzählt wird. Die Monologe des Sheriffs sind im Text deutlich durch Kursivdruck als innere Gedankenrede abgesetzt; im Film sind sie als Äußerungen anderer Gattung dadurch charakterisiert, dass sie aus dem Off kommen. Sowohl Film als auch Buch beginnen mit einem Monolog Bells, der die wichtigsten Themen dieses Diskurses beinhaltet: I sent one boy to the gaschamber at Huntsville. (…) He’d killed a fourteen year old girl (…). The papers said it was a crime of passion and he told me there wasnt no passion to it. He’d been datin this girl, young as she was. He was nineteen. And he told me that he had been plannin to kill somebody for about as long as he could remember. Said that if they turned him out he’d do it again. Said he knew he was goin to hell. Told it to me out of his own mouth. I dont know what to make of that. I surely dont. I thought I’d never seen a person like that and it got me to wonderin if maybe he was some new kind. (…) They say the eyes are the windows to the soul. I dont know what them eyes was the windows to and I guess I’d as soon not know. But there is another view of the world out there and other eyes to see it and that’s where this is goin.(…) Somewhere out there is a true and living prophet of destruction and I dont want to confront him. I know he’s real. I have seen his work. (…) I wont push my chips forward and stand up and go out to meet him. It aint just bein older. I wish that it was. (McCarthy 2005: 3f; Abweichungen vom Standard-Englisch im Original). Bereits in diesem Eingangsmonolog sind die zentralen Themen des Textes präsent: 1. Die Frage nach Sinn und Zweck von Gewalt bzw. der Einbindung von Gewalt in Zusammenhänge: Bell thematisiert dies am Beispiel des Mörders, den er einmal festgesetzt hat, der seine eigene Freundin umgebracht hat. 2. Die Frage nach einer temporalen Veränderung von Gewalt: Hat sich etwas verändert? Gibt es heute mehr Gewalt als früher oder ist dieser Eindruck nur dem eigenen Älterwerden zuzuschreiben? Oder gibt es heute andere Qualitäten von Gewalt, die es früher nicht gegeben hat? 3. Die Frage, ob Gewalt zeichenhaft für irgend etwas anderes steht, für eine Art Religion oder Ideologie der Gewalt: Bell spricht von einem “Propheten der Vernichtung”, der “da draußen” sei, und dessen Werke er gesehen habe. Die Gewalttaten sind es in diesem Kontext, die auf etwas anderes verweisen, eine Schrift an der Wand, die offenbar einer nicht weiter spezifizierten Zeitenwende vorangehen. Getragen wird der explizite Diskurs im Wesentlichen vom Sheriff Ed Tom Bell, der eine Art Kommentatoren- oder Chronistenfunktion einnimmt. Tatsächlich ist der Sheriff auch vom Michael Müller 348 Abb. 2: Histoire und Discours: Umkehrung von Theorie und Praxis Gang der Ereignisse dazu verurteilt, sich auf die Rolle des Chronisten und Kommentators zu beschränken: Er kommt immer zu spät, ihm gelingt es weder, einen Mord zu verhindern, noch ihn aufzuklären. Er ist also der ohnmächtige Beobachter der Geschehnisse. Und das, obwohl er als “Sheriff” sowohl nach der kulturellen Klassifikation als auch nach den genretypischen Regeln des Thrillers derjenige sein sollte, der Normverstöße verhindert, Verbrechen aufklärt und durch das Ausschalten von Tätern Ordnungsstörungen tilgt. Diese drei Fragenkomplexe zur “Gewalt” ziehen sich durch den gesamten Text: explizit innerhalb der Monologe des Sheriffs, implizit durch die Ereignisse. Am Ende werden die mehr oder weniger explizit gestellten Fragen mehr oder weniger implizit beantwortet sein. Durch mehrere Merkmale macht der Text klar, dass die Monologe des Sheriffs erst nach dem Ende der erzählten Zeit entstanden sind: Sie sind der hilflose Versuch, den Geschehnissen nachträglich einen Sinn zu geben, sie einzuordnen. Im Discours präsentiert werden sie jedoch stückweise immer wieder als Einschub. Und da der Text mit einem Monolog des Sheriffs beginnt, funktionalisiert er letztlich die Ereignisse der Histoire als Kommentare zu den Monologen des Sheriffs. Histoire und Discours verhalten sich also wie Theorie und Praxis im Sinne einer Datengewinnung bzw. -messung: Während der Sheriff seine Theorie nach Beendigung der Datensammlung - also nach Ende der Ereignisse der Histoire - produziert, wird diese Theorie im Discours gewissermaßen wie im Prozess des Entstehens präsentiert: Theorem - Datenmessung - Theorem - Datenmessung etc. Man könnte also sagen, dass das spezifische Verhältnis von Discours und Histoire hier vorführt, wie “Abstraktes” - die Theorie - und “Konkretes” - die Ereignisse - in Relation gesetzt werden. Durch die Syntagmatik - sowohl Buch als auch Film beginnen mit einem Sheriff-Monolog - wird die ursprüngliche Reihenfolge von Faktum und Kommentar gewissermaßen umgekehrt: Jetzt kommentiert nicht mehr die Theorie die Ereignisse, sondern die Ereignisse die Theorie. Wie unten gezeigt wird, falsifizieren in einigen zentralen Punkten die Ereignisse zumindest potenzielle Theoreme des Sheriffs. Diese sind immerhin die Theoreme derjenigen Figur, die im Text qua Amt das gesellschaftliche System repräsentiert. Die ganz normale Gewalt 349 Abb. 3: Jäger vs. Schlächter 4. Die Darstellung von Gewalt “Gewalt”, insofern sie in No country dargestellt wird, ist im Wesentlichen extensional gleichbedeutend mit “Töten”: Alle Akte von Gewalt, die im Text vorkommen, haben das Ziel zu töten; wenn Menschen durch Gewalteinwirkung “nur” verletzt werden, sind das missglückte Morde. Diese Maximalvariante der Gewalt wird von Figuren wie Chigurh auch immer dann angewendet, wenn sie faktisch gar nicht nötig wäre: Als er von einem Deputy verhaftet wird, befreit er sich, indem er den Deputy mit den Handschellen erwürgt, obwohl es genügt hätte, ihn etwa bewusstlos zu schlagen (McCarthy 2005: 5f). Der Text thematisiert damit Gewalt immer in ihrer Maximalvariante und signalisiert damit, dass es ihm in diesem Diskurs um die grundsätzliche Frage nach dem Stellenwert von Gewalt geht und nicht um eine Diskussion über Entstehung oder Eskalation von Gewalt. Gewalt ist in der Textlogik also nicht skalierbar, sondern in einer gegebenen Situation entweder in ihrer Maximalform oder gar nicht präsent. Gewalt entsteht nicht, sondern sie ist plötzlich da: Es gibt gewissermaßen in diesem Text nur eine binäre Entscheidung für Gewalt oder Nicht-Gewalt und damit für Töten oder Nicht-Töten. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen qualitativen Varianten des Tötens im Text ist der zwischen dem Vorgehen des Jäger und dem des Schlächters, eine Opposition, die ziemlich früh im Text eingeführt wird. Diese Varianten des Tötens sind zwei Hauptfiguren zugeordnet: Moss wird bei seinem ersten Auftritt als Jäger eingeführt (er ist auf der Antilopenjagd), Anton Chigurh mordet, ebenfalls bei einem seiner ersten Auftritte, mithilfe eines Schlagbolzen-Apparats, wie er zum Töten von Schlachtvieh verwendet wird; diese spezielle Art des Tötens charakterisiert ihn als Schlächter. Da das “System Chigurh”, wie noch näher ausgeführt wird, das in der dargestellten Welt erfolgreiche System ist, wird die “Welt” - zumindest was die Art des Sterbens in ihr betrifft - als “Schlachthaus” semantisiert und nicht als “Jagdgrund”, was ja im Westen der USA - dem Schauplatz des Romans - eine historisch gängige Semantisierung wäre. Michael Müller 350 Eine weitere Implikation dieser Opposition ist: Bei der Jagd hat das Opfer potenziell eine Chance - auch Moss schießt eine Antilope nur an, sie kann verletzt fliehen -, im Schlachthaus dagegen nicht. Genau das führt die Histoire vor: Wer einmal als Opfer gekennzeichnet ist, hat keine Chance. Er wird sterben. Während Moss noch glaubt, in einer “Jagd” auf der Flucht zu sein, ist er in Wirklichkeit längst als Opfer im Visier des Schlächters Chigurh und hat keine Chance. Chigurh als Schlächter negiert sogar die Ökonomie: Auch wenn es ökonomisch sinnvoller für ihn wäre nicht zu töten, tötet er. Nur der Schlächter selbst kann eine Überlebenschance einräumen, er tut dies jedoch nur als sinnfreies Spiel: In einer Szene, die ansonsten keine Funktion für die Geschichte hat, zwingt Chigurh einen alten Tankstellenbesitzer, per Münzwurf um sein Leben zu spielen. Der Tankstellenbesitzer gewinnt und kommt mit dem Leben davon. Der Text macht unmissverständlich klar, dass Chigurh ihn bei einem anderen Ausgang des Spiels getötet hätte; gegen Ende des Textes spielt der das gleiche Spiel mit Llewelyns Frau, und diese verliert. Es ist der Zufall, eine Laune, die über Leben und Tod entscheidet. 5. Die Ethik der Gewalt Die Betonung des “sinnlosen” Zufall stellt einen weiteren wichtigen Aspekt des Eingangsmonologs des Sheriffs dar, nämlich die Frage nach dem “Sinn” von Gewalt bzw. die Frage nach der Einbindung von Gewalttaten in kausale Zusammenhänge. Hat Gewalt einen Zweck und ist einem Kausalzusammenhang untergeordnet oder ist sie vielmehr Selbstzweck? Sheriff Bell hatte bereits in dem oben zitierten Eingangsmonolog (McCarthy 2005: 3) von dem Mord an einem vierzehnjährigen Mädchen berichtet, der offenkundig nicht aus einem bestimmten Grund begangen wurde, außer eben dem, einen Mord zu begehen. Dies widerspricht dem gängigen Interpretationsrahmen, nach dem Morde bzw. Gewalt stets zweckgebunden sind und kausal durch ein Motiv des Täters begründet werden. Beispielhaft zeigt dieses gängige Interpretationsschema der im Text präsentierte öffentliche Diskurs mittels der Zeitung, die über die Ursachen des Verbrechens spekuliert. Die angebliche Leidenschaft als Tatmotiv ist dabei eher ein Verlegenheitsmotiv der Öffentlichkeit; Gewalt um ihrer selbst willen ist zunächst undenkbar (“The papers said it was a crime of passion”; McCarthy 2005: 3). Auch für Chigurh haben “Gewalt” bzw. Mord ihren Zweck allein in sich Er tötet zwar auch zielgerichtet, etwa um sich aus dem Gefängnis zu befreien oder um an ein Auto zu kommen. In anderen Fällen, und das sind die für den Text entscheidenden, tötet er jedoch, ohne einen objektivierbaren Nutzen daraus zu ziehen: In der beschriebenen Szene mit dem Tankstellenbesitzer hätte er getötet, wenn die Münze anders gefallen wäre, und er hätte damit jemanden getötet, der überhaupt nichts mit den eigenen Zielen zu tun hat. Wie bereits angedeutet, ist diese Szene für die eigentliche Histoire vollständig irrelevant; sie trägt nichts zum Fortgang der Handlung bei der Suche nach dem Drogengeld bei. Die Existenz dieser Szene weist damit auf eine andere Funktion hin: Sie dient im Discours der frühzeitigen Charakterisierung der Gewalt-Konzeption Chigurhs: Gewalt erhält ihre Legitimation allein als Selbstzweck. Besonders deutlich wird diese Konzeption in einer signifikanten Szene gegen Ende der Histoire: Chigurh hat Moss damit gedroht, dessen Frau umzubringen, wenn er ihm das Drogengeld nicht übergebe, was Moss bis zuletzt nicht tut. Die Geschichte ist eigentlich zu Ende, Moss ist tot und Chigurh hat das Geld längst in seinen Händen, als er Moss Witwe einen Besuch abstattet. Er erläutert ihr, warum er sie erschießen müsse, obwohl er dadurch nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren hat: Er habe Moss sein Wort gegeben: Die ganz normale Gewalt 351 You give your word to my husband to kill me? Yes. He’s dead. My husband is dead. […] Yes. But my word is not dead. Nothing can change that. You can change it. I don’t think so. Even a nonbeliever might find it useful to model himself after God. Very useful, in fact. […] She looked at him a final time. You dont have to, she said. You dont. You dont. He shook his head. You’re asking that I make myself vulnerable and that I can never do. I have only one way to live. It doesnt allow for special cases. A coin toss perhaps. […] You are asking that I second say the world. Do you see? Yes, she said, sobbing. I do. I truly do. Good, he said. That’s good. Then he shot her. (McCarthy 2005: 257 ff). Deutlich wird hier noch einmal: Der Mord an Carla Jean ist nach der gängigen Rationalität des Mordens, nach der Morde einen bestimmte Zweck erfüllen oder in die Kausalität eines Handlungszusammenhangs eingebunden sein müssen, völlig sinnlos. Das Geld hat Chigurh längst, alle anderen Beteiligten sind tot und Carla Jean ist keine Mitwisserin oder Rivalin, die Chigurh in irgendeiner Form gefährlich werden könnte. Dementsprechend tötet Chigurh auch nicht aus Leidenschaft oder sonst einer emotionalen Aufwallung. Für den Mord an Carla Jean gibt es also im gängigen kulturellen Kontext keinen Grund, was Chigurh im Gespräch mit ihr auch durchaus zugibt. Als Grund für den Mord gibt er an, er habe Moss sein Wort gegeben. Auch dies ist im gängigen kulturellen Wertsystem kein hinreichender Grund: Den Normverstoß des Wortbruchs durch den sehr viel gravierenderen des Mordens vermeiden zu wollen, ist in der normalen Ökonomie der Werte nicht nachvollziehbar. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen: a) Im Wertsystem Chigurhs ist Mord kein oder aber ein sehr viel geringerer Normverstoß als das Brechen eines Versprechens. b) Für Chigurh ist Mord niemals nur Mittel, sondern immer auch Zweck: Er verfolgt damit gewissermaßen eine pervertierte Form einer kantischen Ethik des Mordens. Die letztere Folgerung wird durch zahlreiche andere Szenen gestützt, in denen Chigurh immer auch den Mord als Selbstzweck einplant: In der Szene mit dem Tankstellenbesitzer zum Beispiel oder noch in einer weiteren Szene, in der einem Mord eine Diskussion zwischen Opfer und Täter vorangeht. Hier ist der Hintergrund, dass die amerikanischen Drogenkäufer, die zunächst Chigurh engagiert hatten, diesen wieder loswerden wollen und deshalb einen Ex- Army-Colonel namens Wells auf ihn ansetzen, der zugleich das Geld wiederbeschaffen soll. Dieser tappt aber Chigurh in die Falle; zwischen den beiden entspinnt sich ebenfalls ein Gespräch über den Sinn des Mordens. Wells bietet Chigurh Geld an, wenn er ihn laufen lasse, doch auch ökonomische Motive treiben ihn nicht an, wie aus seiner Ablehnung hervorgeht. Wie schon Carla Jean plädiert auch Carson Wells, dass es Alternativen zum Mord gäbe (McCarthy (2005: 175): “you must not do this”) und wie Carla Jean bezeichnet er Chigurh als “verrückt”, weil er ganz offensichtlich mit seinem Wertsystem dem allgemein üblichen widerspreche. In dieser Szene versteht Chigurh diesen Vorwurf auch genau in diesem Sinne. Er antwortet: “If the rule you followed led you to this of what use was the rule? ” (McCarthy 2005: 175). Chigurh weiß also, dass er ein anderes Modell von Realität (eine andere “Regel”) hat als Wells (und alle anderen Figuren), hält diese aber für zutreffender - realitätsadäquater - und erfolgreicher: Schließlich hat er die Waffe in der Hand und der andere ist das Opfer in Michael Müller 352 Abb. 4: Diskursthemen “Gewalt” in No Country for Old Men 2 spe. Die Histoire gibt Chigurh dabei Recht: Er ist - mit Ausnahme des zur Einflusslosigkeit verurteilten Sheriff - derjenige, der überlebt; alle anderen, die ein von seinem abweichendes Realitätskonzept haben, sind entweder tot oder resignieren. Das heißt, der Text setzt implizit Chigurhs Realitätskonzeption als die überlegene. Was bedeutet dies nun? Um dies zu beantworten müssen wir auf den expliziten Diskurs über Gewalt zurückkommen, der im Text geführt wird. Wie eingangs schon bemerkt, hat dieser neben der Frage nach dem Status von Gewalt zwei weitere Dimensionen: a) Die erste Dimension ist die Frage nach der Temporalisierung von Qualitäten oder Quantitäten von Gewalt: Ist die Gewalt heute anders als früher? Gibt es heute mehr Gewalt als früher? b) Die zweite Dimension ist die Frage nach der Semiotik von “Gewalt”: Hat die Gewalt, die erlebt wird, eine Bedeutung? Ist sie selbst oder ihre qualitative oder quantitative Zunahme ein Zeichen für irgendetwas? Die Frage nach der quantitativen Zunahme von Gewalt beantwortet der Text implizit negativ. Es gibt grundsätzlich keine Zunahme von Gewalt; Gewalt war immer gleich präsent. Dies wird vor allem auch durch mehrere eingeflochtene, parallele Geschichten verdeutlicht, die die ständige Präsenz von Gewalt auch in früheren Zeiten belegen und die der Sheriff mit einem alten Verwandten austauscht. Die Frage, ob sich die Qualität von Gewalt geändert hat, wird durch mehrere Textelemente ebenfalls negativ beantwortet. Allein schon die Geschichte, die der Sheriff selbst über den Jungen erzählt, den er auf den elektrischen Stuhl gebracht hat, zeigt, dass es Mörder, für die der Mord Zweck und nicht nur Mittel ist, also Mörder vom Schlage Chigurhs, auch schon früher gegeben hat. Bells alter Verwandter erzählt die Geschichte, wie einer seiner Vorfahren 1879 von einer Bande auf seiner Veranda zusammengeschossen wurde, ohne dass es einen Grund dafür gab (vgl. McCarthy 2005: 269f.). Der zweite Fragenkomplex, ob Gewalt zeichenhaft für etwas anderes stehe, wird offen mit negativer Tendenz beantwortet: Es könnte zwar sein, dass, falls es eine Zunahme an Gewalt gäbe, diese zeichenhaft für den soziokulturllen Niedergang und sogar Untergang stehen könnte, doch genau wissen kann man das nicht. Niemand, inklusive des Sheriffs, kennt das Signifikat des Signifikanten “Gewalt”, und damit ist “Gewalt” entweder kein Zeichen, oder es ist eines in einem Kode, der unbekannt ist. Die Diskursentscheidungen, die in Abb. 1 an der Oberfläche der Histoire als Alternativen dargestellt wurden, lassen sich also in der Tiefenstruktur der Diegese folgendermaßen präzisieren: Die ganz normale Gewalt 353 Abb. 5: De-Semiotisierung von “Gewalt” 5. Semiotisierung und De-Semiotisierung von Gewalt Die Versuchanordnung des Textes, in der die Ereignisse der Histoire gewissermaßen als faktische Kommentare zu den Diskursthemen des Sheriffs fungieren, erbringt also als Ergebnis die Falsifikation bestimmter Theoreme des Sheriffs, andere erweisen sich als kontingent und nicht entscheidbar. Das Modell von “Gewalt”, das sich im Text durchsetzt und das als das am meisten “realistische” gesetzt wird, ist das von Chigurh vorgelebte, das sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Gewalt/ Mord kann als Mittel zum Erreichen bestimmter Zwecke eingesetzt werden, ebenso aber auch als Zweck an sich. Letztlich ist Gewalt niemals nur Mittel, sondern immer auch Zweck. Gewalt hat keine Bedeutung, die über sie hinausweist. Sie ist ein konkreter, integraler Bestandteil der Welt und nicht aus ihr weginterpretierbar. Die Welt ist ein Schlachthaus, war immer ein Schlachthaus und wenn man Gewalt und Mord mit Euphemismen wie “Jagd” und “Krieg” versucht, semiotisch in den Griff zu bekommen, wird man der Realität nicht gerecht. Zusammenfassend kann man also sagen: Der Text betreibt systematisch, in der Relation von Kommentar (des Sheriffs) und Ereignissen der Histoire eine Um-Semantisierung von Gewalt, gefolgt von ihrer De-Semiotisierung. Das ursprünglich konkrete Faktum Gewalt steht am Ende, wenn es im Lauf der Erzählung von allen seinen kulturellen Semantisierungen und Merkmalszuschreibungen entkleidet wird, wieder als rein Konkretes da. Dieser Prozess der De-Semiotisierung lässt sich am besten in der Trennung unterschiedlicher Ebenen erläutern. Michael Müller 354 Auf einer angenommenen Ebene der außertextuellen Realität gilt die normale kulturelle Kodierung des konkreten Faktums Gewalt in derjenigen Kultur, der der Text angehört. Ein Phänomen wie “Gewalt” ist in den meisten Kulturen massiv mit semantischen Merkmalen, Konnotaten etc. aufgeladen, je nach Kultur oder Form der Gewalt mit positiven oder negativen. Solche kulturellen Kodierungen variieren von eher martialischen Systemen, die ein Ethos des Kriegers konstruieren, bis hin zu extrem pazifistischen Systemen, die Gewalt in jeder Form mit negativen Merkmalen belegen. In der Herkunftskultur von No Country ist jedenfalls Gewalt in der Form, wie sie im Text auftritt, extrem negativ bewertet und im literarischen Gewaltdiskurs auch massiv semiotisiert, was sich beispielhaft in den Monologen des Sheriffs widerspiegelt. Gewalt gilt Bell möglicherweise als Zeichen für die Zunahme des Bösen, für soziale Verwahrlosung, für Veränderungen in der Mentalität, etc. Auf der zweiten Ebene, der der dargestellten Welt des Textes, kommt “Gewalt” via Sprache als Zeichen vor. Innerhalb der erzählten Geschichte wird Gewalt jedoch als ein konkretes Faktum gesetzt, indem konkrete Morde an konkreten Menschen geschehen. Insgesamt bildet die dargestellte Welt in ihrem Nebeneinander von Sheriff-Diskurs und den Ereignissen der Histoire dabei die extratextuell-kulturelle Semiotisierung von Gewalt ab: Der Sheriff stellt angesichts von Gewalt genau diejenigen Fragen, die sich die Kultur auch außerhalb des Textes stellt, bzw. stellen könnte. Auf einer dritten Ebene, der des sekundären Kodes im Lotmanschen Sinn (Lotman 1972), wird “Gewalt” zu einem potenziellen sekundären Zeichen, also einem Zeichen, dem über die allgemeine kulturelle Kodierung noch weitere, textspezifische semantische Merkmale zugeschrieben werden. Der Roman nutzt die Möglichkeit der Bildung sekundärer Signifikate nicht dahingehend, zusätzliche Signifikatsmerkmale/ Konnotate mit Gewalt zu verknüpfen, sondern er negiert, bzw. löscht auch noch die im kulturellen Diskurs mit “Gewalt” verknüpften Konnotate bzw. Signifikatsmerkmale. Auf der Ebene des sekundären Kodes wird also in der oben beschriebenen “Versuchsanordnung” des Textes die De-Semiotisierung von “Gewalt” betrieben: Gewalt bleibt als konkretes Faktum und grundsätzliches Paradigma von Welt bestehen, das nicht durch Semiotisierung über sich hinausweist. Auf einer vierten Ebene, der der Relation zwischen Text und extratextueller Realität, fungiert der Text in seiner Herkunftskultur als ein Diskursbeitrag unter vielen. Der Beitrag, den No Country zu diesem Diskurs liefert, ist der der De-Semiotisierung von Gewalt. Der Text sagt damit aus, dass Gewalt letztlich ein konkretes Faktum sei, das in der Welt existiert, nicht für etwas anderes steht, sondern das nur auf sich selbst verweist. “Gewalt” ist nicht ein Zeichen für etwas anderes und ist daher auch nicht, etwa durch Beseitigung dieses “anderen” (z.B. sozialer Verwahrlosung, schlechter Erziehung, Armut, etc.) aus der Welt eliminierbar: Gewalt ist Gewalt, sie war immer da und wird immer da sein. Der Text ist also im außertextuellen kulturellen System ein Diskursbeitrag, der den Appell darstellt, Gewalt als das zu sehen, was sie (nach der Ideologie des Textes) ist: Ein konkreter Bestandteil der Welt, den man nicht durch Semantisierung und theoretische Einbindung in den Griff bekommen kann. Gewalt ist - so die These des Textes und auch des Films - kein Zeichen, sondern ein Konkretum. Die ganz normale Gewalt 355 Literaturverzeichnis Lotman, Jurij M. 1972: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink (= UTB 103). McCarthy, Cormac 1985: Blood Meridian Or The Evening Redness in the West, New York: Alfred A. Knopf. McCarthy, Cormac 2005: No Country for Old Men, New York: Vintage Books. [deutsch unter dem Titel Kein Land für alte Männer. Reinbek: Rowohlt 2008] Filmographie N O C OUNTRY FOR O LD M EN (USA 2007, Ethan und Joel Coen) Seite 356 vakat “Lost in Prostitution”* Sexualität und Gewalt in den Operninszenierungen von Calixto Bieito Stephanie Großmann Dieser Beitrag beschreibt zunächst das Spannungsverhältnis, das Calixto Bieito in seinen von Sexualität und Gewalt dominierten Inszenierungen durch die Gegenüberstellung eines ‘Konkreten’ auf der visuellen Ebene und den stark konventionalisierten, ästhetischen Zeichen des Librettos und der Musik generiert. Dann untersucht er, welche Rückkopplungseffekte sich durch Kohärenzbildung für die Ebenen Libretto und Musik durch den Einbezug der Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ auf der visuellen Ebene ergeben und legt schließlich dar, wie sich die Unmittelbarkeit der Aufführungssituation in der Oper auf ein ‘Konkretes’ in den Bieito-Inszenierungen auswirkt. The paper focuses on three aspects of Calixto Bieito's opera performances in which sexuality and violence dominate. 1. It describes the tension which Bieito generates by confronting the ,concrete signs’ of the visual level with the strongly conventionalized and aesthetic signs of libretto and music. 2. It examines the implications of the dimensions ,sexuality’ and ,power’ at the visual level and how they are transferred onto the level of libretto and music. 3. It finally demonstrates how the immediacy of opera performances in general influences the ,concreteness’ in Bieito’s opera performances. “Die moralischen Skandale sind doch längst hoffähig: Wir kaufen Zeitungen, weil sie uns Affairen auftischen, schauen Horror-Filme, um uns an Gewalt zu laben. In der Oper ist das Grauen aber direkt - es steht körperlich im Raum. Es ist echt. Mit dieser Direktheit können einige nicht umgehen. Statt die Wirklichkeit zu akzeptieren, wollen sie die Oper als letzten aristokratischen Ort bewahren. Als elitäre Veranstaltung, in der die gute alte Zeit widergespiegelt wird. Wir brauchen ein neues Opernpublikum.” Calixto Bieito (Brüggemann 2003: 33) Auch eine Operninszenierung bildet - genau wie Literatur und Film - ein Zeichensystem zweiter Stufe und damit ein sekundäres semiotisches System im Sinne Jurij M. Lotmans (Lotman 1993 4 : 22f.). Die für die Oper konstitutiven primären Zeichensysteme umfassen Sprache, Schrift, Musik 1 , Bühnenbild, Kostüme, Maske/ Frisur, Körperlichkeit der Darsteller, Requisiten, Licht, Proxemik, Gestik und Mimik. Für die Analyse bietet es sich an, diese Zeichensysteme zu größeren Einheiten zusammenzufassen und in drei Ebenen zu gliedern: 1. das Libretto, 2. die Musik und 3. die Visualisierung - also die Umsetzung der Oper auf der Bühne. Hierbei haben die Ebenen Libretto und Musik einen eher überzeitlichen Charakter, da sie schriftlich fixiert und nur wenigen Veränderungen im Zeitverlauf unterworfen sind. Sie bilden zusammen den ‘potentiellen Bedeutungsrahmen’ einer Oper. Die Ebene Visualisierung K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Stephanie Großmann 358 hat hingegen, verglichen mit den beiden anderen Ebenen, einen eher kurzfristigen Charakter; sie stellt immer nur eine mögliche Umsetzung des ‘potentiellen Bedeutungsrahmens’ dar, bei der bestimmte Anteile dieses Bedeutungsrahmens fokussiert, aktualisiert und transformiert werden. Die Inszenierung, die nach Pavis als “Inbezugsetzung aller Signifikantensysteme, insbesondere der Verlautbarung des dramatischen Textes […]” (Pavis 1989: 14) verstanden werden kann, 2 ist nur zugänglich über die Aufführung, die ein singuläres Ereignis - oder auch die Konkretisierung des abstrakteren Inszenierungstextes - darstellt, die maßgeblich durch die Co-Präsenz von Darstellern und Rezipienten mitbestimmt wird. Der katalanische Regisseur Calixto Bieito wird seit seiner skandalträchtigen Inszenierung des Don Giovanni an der Staatsoper Hannover (2001) 3 als brillanter Provokateur der deutschen Opernszene in den Feuilletonkritiken gehandelt. Eine Gemeinsamkeit seiner Inszenierungen ist die forcierte Darstellung von Sexualität und Gewalt. Durch diese Strategie manifestiert sich in seinen Inszenierungen gleich in zweifacher Hinsicht ein ‘Konkretes’ - zum Ersten paradigmatisch, “weil Sexualität und Gewalt […] inszenierte semantische Felder darstellen, in denen sich ein ‘Konkretes’ konstituiert, das sich kulturellen Sinngebungs- und Semiotisierungsversuchen widersetzt” (vgl. Decker in diesem Band), und zum Zweiten bedingt durch die spezifische Medialität der Oper, die durch die simultane Präsenz von Akteuren und Rezipienten ein ‘Konkretes’ im Sinne von ‘Unmittelbarkeit’ und ‘Authentizität’ mit einschließt. Grundlage der folgenden Untersuchung sind die Inszenierungen von Bieito, die mir als Aufzeichnung zugänglich waren: • Die Entführung aus dem Serail, Singspiel in drei Aufzügen, Uraufführung 1782 in Wien, Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Dichtung von Christoph Friedrich Bretzner, frei bearbeitet von Gottlieb Stephanie d.J., inszeniert an der Komischen Oper Berlin, Aufzeichnung von 2004. 4 • Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni, Dramma giocoso in zwei Akten, Uraufführung 1787 in Prag, Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Dichtung von Lorenzo Da Ponte, Co-Produktion des Gran Teatre del Liceu (Barcelona) mit der English National Opera und der Staatsoper Hannover, Aufzeichnung von 2002. • Madame Butterfly, Tragödie einer Japanerin in drei Aufzügen, Uraufführung 1904 in Mailand, Musik von Giacomo Puccini, Dichtung von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa, inszeniert an der Komischen Oper Berlin, Aufzeichnung von 2005. • Elektra, Tragödie in einem Aufzug, Uraufführung 1909 in Dresden, Musik von Richard Strauss, Dichtung von Hugo von Hofmannsthal, inszeniert am Theater Freiburg, Aufzeichnung von 2006. 5 • Wozzeck, Oper in drei Akten, Uraufführung 1925 in Berlin, Musik von Alban Berg, Dichtung von Georg Büchner, Co-Produktion des Gran Teatre del Liceu (Barcelona) mit dem Teatro Real (Madrid), Aufzeichnung von 2006. Die Auswahl der Inszenierungen wurde also nicht anhand von Epochen oder Komponisten getroffen. Die Analyse der in diesem Sinne disparaten Gegenstände hat sich jedoch als fruchtbar erwiesen, da trotz dieses recht kleinen Korpus konstante konzeptionelle Merkmale der Inszenierungsstrategien Bieitos erkennbar sind, die zumindest auf die unterschiedlichen Tendenzen der werkimmanenten Strukturen dieser Opern und deren Darstellbarkeit auf der Bühne verweisen. “Lost in Prostitution” 359 1. Spannungsverhältnis Wie allgemein bekannt sein dürfte, verhandeln alle diese Opern auf der Ebene des Librettos unter anderem auch die Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’: Wozzeck wird von Marie mit dem Tambourmajor betrogen und tötet sie im Wahn. Elektras Vater wurde von ihrer Mutter und deren Liebhaber erschlagen, dieser Mord wird im Laufe der Handlung durch Elektras Bruder Orest blutig gesühnt. Madame Butterfly wird als Ehefrau an einen amerikanischen Leutnant verkauft und begeht am Ende der Oper eine rituelle Selbsttötung. Don Giovanni hat laut Leporellos Liste bereits 1965 Frauen verführt, ermordet zu Beginn der Oper den Komtur und vergewaltigt im Laufe der Handlung eine Bäuerin. In der Entführung aus dem Serail wird den verschleppten Frauen Konstanze und Blonde im Harem des Bassa Selim angedroht, dass sie zur Liebe gezwungen werden und ihren Rettern Belmonte und Pedrillo drohen Folter und Mord. Der Regisseur Bieito stellt die Größen ‘Gewalt’ und ‘Sexualität’, die auf der Ebene der Libretti häufig nur in Form einer Teichoskopie oder implizit als Leerstellen aufgegriffen werden, in seinen Visualisierungen der Opern sehr offensiv und drastisch dar, wodurch eine starke Spannung zwischen den Ebenen Libretto und Visualisierung sowie Musik und Visualisierung erzeugt wird. 1.1 Libretto - Visualisierung Die Relation zwischen den Ebenen Libretto und Visualisierung sind in den Inszenierungen von Bieito sehr unterschiedlich ausgeprägt. Drei seiner Inszenierungsstrategien werden im Folgenden an Beispielen aus der Entführung aus dem Serail, Elektra und Wozzeck dargestellt: Das Libretto der Entführung aus dem Serail erzählt die Geschichte von Konstanze und ihrer Dienerin Blonde, die im Serail des Bassa Selim gefangen gehalten werden. Bassa Selim wirbt um die Liebe Konstanzes und Blonde ist dem Aufseher Osmin versprochen. Belmonte, der Geliebte Konstanzes, dringt in das Serail ein, um die beiden Frauen zu retten. Sein Diener Pedrillo steht bereits im Dienste des Bassa und will Belmonte bei der Planung der Flucht behilflich sein. Die “Entführung” wird allerdings durch Osmin vereitelt. Bassa Selim bestraft jedoch überraschenderweise die beiden Paare Konstanze-Belmonte und Blonde-Pedrillo nicht, sondern entlässt sie gnadenvoll in ihre Heimat. Im 1. Aufzug, 3. Auftritt droht Osmin dem ihm verhassten Pedrillo in seiner Arie: Erst geköpft, dann gehangen, Dann gespießt auf heißen Stangen, Dann verbrannt, dann gebunden Und getaucht; zuletzt geschunden (Mozart 2005: 12). Der Arie ist ein gesprochener Dialog zwischen Osmin und Pedrillo vorangestellt, der verdeutlicht, dass die hierarchische Struktur zwischen Osmin und Pedrillo zu Gunsten Pedrillos ausfällt, da dieser Osmin Befehle (Feigenpflücken) geben kann, die jener ausführen muss. Diese Struktur ist darauf zurückzuführen, dass der Bassa Selim Pedrillo vertraut und ihn gegenüber seinem Aufseher Osmin bevorzugt. Im Gesamtkontext des Librettos unter Einbezug der gesprochenen Dialoge wird daher deutlich, dass es sich in der Arie des Osmin um eine leere Drohung handelt. Bieito verzichtet in seiner Inszenierung jedoch auf einen großen Teil der gesprochenen Dialoge und ersetzt einige durch eigene, stark aktualisierende und modifizierte Texte. Daher ist es Bieito auch möglich, dass er in seiner Inszenierung diese Arie Stephanie Großmann 360 Abb. 1 Komische Oper Berlin/ Monika Rittershaus (Osmin: Jens Larsen, Pedrillo: Christoph Späth, Statistinnen der Komischen OperBerlin) des Osmin als konkrete Gewalthandlung gegen Pedrillo darstellt, ohne die Logik der Handlung zu gefährden. Diese Visualisierung setzt den auf der Ebene Libretto als einen in die Zukunft projizierten Wunschtraum konzipierten Text der Arie in gegenwärtige, konkrete Handlung auf der Bühne um. Es wird nicht das gesamte Programm der genannten Foltermethoden abgearbeitet, sondern - als Pars pro toto - die Textzeile “Dann gespießt auf heißen Stangen” durch eine anale Vergewaltigung Pedrillos visualisiert, zu der eine Domina ihre Lederpeitsche schwingt (Abb. 1). Dagegen basiert Hofmannsthals Libretto auf der griechischen Tragödie Elektra von Sophokles 6 und erzählt die mythologische Geschichte der Elektra, die ihren Bruder Orest zum Mord an ihrer Mutter Klytämnestra und deren Geliebten Aegisth anstachelt, da diese gemeinsam den Vater Agamemnon nach seiner Rückkehr aus dem trojanischen Krieg erschlagen haben. Monika Meister arbeitet die Opposition ‘Erinnern’ vs. ‘Vergessen’ als zentrale Größen der dargestellten Welt heraus (vgl. Meister 2000). Elektra ist ganz in ihrer Erinnerung an ihren Vater verhaftet, ihre Gedanken kreisen ausschließlich um die Rache an ihrer Mutter. Ihre Schwester Chrysothemis und ihre Mutter Klytämnestra versuchen die Vergangenheit zu vergessen und zu verdrängen. Aus der Perspektive der Figur Elektra ist ‘Erinnern’ mit ethischem Handeln und einer heroischen Existenz korreliert, ‘Vergessen’ hingegen wird “zum Zeichen des Nicht-Mensch-Seins, des Tiers” (Meister 2000: 76). Die Vergangenheit wird im Libretto nur durch die Rede über Vergangenes vermittelt, in seiner Inszenierung stellt nun Bieito diese Vergangenheit auch visuell dar: Im vorderen Teil der Bühne befinden sich eine Hundehütte und ein Gartenstuhl, die einen Bereich außerhalb des Hauses markieren. Im hinteren Bereich der Bühne sind auf einer Drehbühne mit unterschiedlich hohen Podesten verschiedene Innenräume eines Hauses realisiert (Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad), deren Mobiliar einem Ikea-Katalog entnommen zu sein scheint. In diesen Innenräumen wird parallel zur librettogetreuen Handlung im vorderen Bühnenbereich die Vergangenheit Elektras visualisiert. Durch die simultane Darstellung der zeitlich weit auseinander liegenden Ereignisse konkretisiert Bieito in seiner Inszenierung die Kindheit Elektras und liefert damit ein psychologisches und soziologisches Erklärungsmuster für ihr gegenwärtiges Handeln und Fühlen. Die sich um sich selbst drehenden Innenräume bilden darüber hinaus eine Äquivalenz zu Elektras um die Vergangenheit kreisende Gedanken und werden so zum Zeichen für ihr Verhaftetsein in der Vergangenheit. In seiner Visualisierung des Wozzeck folgt Bieito wiederum einer Inszenierungsstrategie, mit der er vor allem die im Libretto vermittelte Gewalt forciert. Die im Libretto konzipierte dargestellte Welt ist durch massive Ausbeutung der Schwachen gekennzeichnet, als deren Konsequenz Wozzeck wahnsinnig wird und letztendlich seine Geliebte Marie ersticht und sich ertränkt. Dieses zentrale, im Libretto durch die Figurenkonstellation vermittelte Paradigma der sozialen Unterdrückung weitet Bieito in seiner Visualisierung aus. Er situiert die Oper in einem Raum, der durch ein gigantisches Rohrgeflecht dominiert wird. Die durch die Einheitskleidung mit einem roten Overall entindividualisierte Masse (alle Figuren mit Ausnahme des Tambourmajors, des Doktors und des Hauptmanns), die abgeschieden von “Lost in Prostitution” 361 Abb. 2 Komische Oper Berlin/ Monika Rittershaus (Konstanze: Maria Bengtsson, Bassa Selim: Guntbert Warns, Osmin: Jens Larsen, Statistin der Komischen Oper Berlin) Tageslicht und jeglicher Form von Natur lebt, erscheint winzig klein vor diesem grauen, verworrenen und technisierten Metallkonstrukt. Bieito inszeniert die Masse als unterdrückte Arbeiter, die in einer menschenfeindlichen Parallelwelt für eine “Oberschicht” (figuriert durch das Triumvirat Tambourmajor, Doktor und Hauptmann) schuften müssen, während sie durch giftige Dämpfe und Gase erkranken und zu ersticken drohen. 7 Im Gegensatz zu den Inszenierungen von Die Entführung aus dem Serail und Elektra - bei denen Bieito Leerstellen des Librettos mit visuellen Größen füllt, die unmittelbar aus dem Libretto rekonstruierbar sind - weitet er bei seiner Inszenierung des Wozzeck den im Libretto behandelten Bedeutungshorizont aus und expandiert in seiner Visualisierung das Konfliktpotential der Oper mit den Größen ‘Zerstörung des Lebensraumes’ und ‘negative Konsequenzen der Industrialisierung’. 1.2 Musik - Visualisierung Im 2. Aufzug, 3. Auftritt der Entführung aus dem Serail droht Bassa Selim der von ihm gefangen genommenen Konstanze mit Folter, falls sie seinem Liebeswerben bis zum nächsten Tag nicht nachgeben sollte. Konstanze widersetzt sich jedoch seinen Drohungen und singt in ihrer “Martern-Arie”, dass selbst Folter und der Tod sie nicht zur Untreue gegenüber ihrem Geliebten Belmonte bewegen können: Martern aller Arten Mögen meiner warten, Ich verlache Qual und Pein. Nichts soll mich erschüttern. Nur dann würd ich zittern, Wenn ich untreu könnte sein. Laß dich bewegen, verschone mich! Des Himmels Segen belohne dich! Doch du bist entschlossen. Willig, unverdrossen Wähl ich jede Pein und Not. Ordne nur, gebiete, Lärme, tobe, wüte! Zuletzt befreit mich doch der Tod (Mozart 2005: 29). Während dieser Arie hält Bassa Selim Konstanze auf einem Stuhl fest. Osmin lässt sich zu ihren Füßen zuerst von einer Prostituierten oral befriedigen, knebelt diese dann und fügt ihr Schnittwunden mit einem Messer am nackten Oberkörper, Rücken und an den Armen zu. Nachdem die Prostituierte während dieser Verstümmelungen an einem Schnitt durch die Kehle verblutet ist, malträtiert Osmin ihren Körper weiterhin mit dem Messer (Abb. 2). Als Höhepunkt des Gewaltaktes schneidet Osmin der toten Prostituierten die linke Brustwarze ab. Auf der visuellen Ebene wird also parallel zu Konstanzes Arie vorgeführt, was sie erwartet, falls sie sich weiterhin dem Werben des Bassa Selim widersetzt. Die Visualisierung präzisiert somit die auf der Ebene Libretto eingeführte Größe ‘Martern’. Stephanie Großmann 362 Die sehr plastische Darstellung von offensiver Gewalt gegen die Prostituierte wird durch die Co-Präsenz von Akteuren und Rezipienten gesteigert und führt zu Abwehrreaktionen, die der Rezipient körperlich mitfühlen kann. Die imaginierten Schmerzen der Prostituierten übertragen sich auf das eigene Köperempfinden. Die drastische Inszenierung der Szene intensiviert zum einen die Aufmerksamkeit für das Bühnengeschehen und aktiviert zugleich auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Diese Art der Interaktion zwischen Dargestelltem und Rezipient ruft eine besondere Art der Identifikation hervor, die ich in Abgrenzung zur Rollenidentifikation als eine Form von körperlicher Identifikation bezeichnen möchte. Die starke Spannung der beschriebenen Szene ist aber nicht allein mit der Darstellung massiver Gewalt und der körperlichen Identifikation zu erklären. Die Musik Mozarts steht im Widerspruch zum ‘Konkreten’ auf der Ebene Visualisierung. In dieser Arie dominiert die ästhetische Funktion der Musik und damit dominiert der musikalische kommunikative Rahmen die Visualisierung. Die Arie folgt den musikalischen Konventionen der Wiener Klassik, ihr liegt die Tonart C-Dur zugrunde, der Mittelteil der Arie steht in der parallelen Molltonart a-Moll. Ihr thematischer Aufbau folgt dem Schema A B C B’ C’. In dieser Arie lassen sich aus der Gesanglinie und der vom Orchester gespielten Musik zwei unterschiedliche “gestische Formen” 8 abstrahieren, die über Analogiebildung zu einem “abstrakten Bewegungsraum” mit bestimmten Emotionen korreliert werden können. Die Teile A (Takt 1-32, Mozart 1928: 83 f.) und C (Takt 89-125, Mozart 1928: 87 f.) sind sich in ihrem musikalischen Gestus sehr ähnlich. Beide Teile sind durch einen pulsierenden und antreibenden Rhythmus gekennzeichnet. Das Orchestertutti setzt der Gesangsstimme häufig Doppelakkorde entgegen, die den Eindruck eines Schlagabtausches zwischen Gesangsstimme und Orchester hervorrufen. Den ableitbaren emotionalen Gestus dieser beiden Teile kann man mit Begriffen wie ‘kraftvoll’, ‘bestimmt’, ‘überlegen’ bis hin zu ‘wütend’ beschreiben. Der musikalische Gestus des Teiles B (Takt 33-88, Mozart 1928: 84 f.) ist hingegen eher lyrisch. Die Melodielinien werden zumeist aufwärts geführt und haben rhythmisch einen ruhigeren und fließenderen Charakter als die Teile A und C. Es werden hauptsächlich Holzbläser als Soloinstrumente eingesetzt, die mit der Melodielinie von Konstanzes Stimme verschmelzen. Aus diesem Teil lassen sich Größen wie ‘Bitten’ und ‘Flehen’ ableiten. Auch wenn die Arie durchaus impulsive Passagen aufweist, ist sie harmonisch und rhythmisch klar strukturiert, wodurch sie einen scharfen Kontrast zur visuellen Ebene bildet: Sichtbar sind Gewalthandlungen, die als sehr konkret zu bezeichnen sind, wohingegen die Musik mittels wohlklingender, ästhetisch-abstrakter Zeichen kommuniziert. Die Inszenierung baut in dieser Szene durch die Opposition zwischen den Ebenen Musik und Visualisierung eine deutlich spürbare Spannung auf. In der Schlussszene des Don Giovanni erzielt Bieito durch seine Inszenierung hingegen eine gegenseitige Verstärkung der Ebenen Musik und Visualisierung. Laut Nebentext des Librettos wird Don Giovanni nach dem Händedruck mit dem steinernen Gast (alias der getötete Komtur) von den Flammen der Hölle verschlungen (Mozart 1986: 75). Bieito bringt den Schluss der Oper jedoch folgendermaßen auf die Bühne: Nachdem Don Giovanni den Komtur erneut erstochen hat, wird er von Don Ottavio mit dem Rücken zum Publikum auf einem Stuhl gefesselt. Während des Schlusssextetts üben alle Beteiligten (Don Ottavio, Zerlina, Masetto, Donna Anna, Leporello und Donna Elvira) Selbstjustiz an Don Giovanni und stechen mit einem Küchenmesser auf ihn ein. Diese Messerstiche werden punktgenau zum Rhythmus der Musik gesetzt. Diese Parallelisierung hat zwei Effekte: Zum einen wird die Wahrnehmung des musikalischen Rhythmus deutlich hervorgehoben und die anderen Parameter der Ebene Musik (Melodie, Harmonie, Dynamik) rücken in den Hintergrund. Zum “Lost in Prostitution” 363 anderen gewinnt die Gewalthandlung auf der Bühne durch die Rhythmisierung an Drastik, so dass ein körperliches Mitempfinden der Stiche beim Rezipienten evoziert wird. 9 Wie verhält es sich aber nun bei Opern, in denen nicht nur die Ebene Libretto auf die Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ rekurriert, sondern auch die Ebene Musik diese Größen aufgreift und hörbar macht? In den Opern Elektra und Wozzeck wird die im Libretto beschriebene Gewalt auch auf der Ebene Musik umgesetzt. Die kompositorischen Strategien von Strauss und Berg - zu denen der vermehrte Einsatz von Dissonanzen, Ausweitung der Dur-Moll-Polarität zur Polytonalität, Atonalität, rhythmische Deklamation, Einbezug von U- Musik und das Aufbrechen der formalen Strukturprinzipien zählen - machen es möglich, eine auditive Äquivalenz zur Ebene Visualisierung zu bilden. Klänge, die ganz konkret im Zusammenhang mit Gewalt, Schmerz und Angst stehen, sind eben nicht strukturiert, nicht geordnet und nicht dur-moll-systematisch im Zeichensystem Musik konzipierbar. Sie sind vielmehr durch extreme Unordnung, Impulsivität, einen schrillen Klang und Brüche der musikalischen Struktur gekennzeichnet, die in dieser Prägnanz nicht in den regelkonformen Kompositionsstrategien der Musik vor der Wende zum 20. Jahrhundert dargestellt werden konnten. Richard Strauss schreibt selbst über seine Musik der Opern Elektra und Salome: “[I]ch bin in ihnen bis an die äußersten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie (Klytämnestras Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen” (Strauss 1949: 187) und Erhardt beschreibt den Klangeindruck sehr treffend als “polyphonen Exzeß” und “vulkanische[…] Eruption […], die mit ihren übereinander getürmten Dissonanzen die Tonalität mit einer Kühnheit hinwegschwemmt, wie sie auch von den konsequentesten “Atonalen” kaum überboten worden sein dürfte” (Erhardt 1953: 218f.). In Alban Bergs Wozzeck wird die Ermordung Maries in der Musik besonders eindringlich durch den abrupten Wechsel der Dynamik vom Pianissimo (III. Akt, Takt 96, Berg 1923: 194) zum Fortefortissimo (III. Akt, Takt 103, Berg 1923: 196) umgesetzt. Hiß vergleicht diese dynamische Steigerung mit einer klanglichen Explosion des Orchesters (Hiß 1988: 147). Des Weiteren prägen dissonante Intervalle und chromatische Figuren diese Szene, so dass Wozzecks rasende Eifersucht und Maries Angst auch musikalisch verdeutlicht werden. Eine zentrale Differenz, die sich durch die unterschiedliche musikalische Darstellungsweise in den untersuchten Opern ableiten lässt, ist die Perspektivierung des Leidens der Figuren. In den Opern von Mozart und Puccini wird das Leiden durch die Musik ästhetisiert, wohingegen Berg und Strauss das Leiden ihrer Figuren musikalisch unter anderem durch den Einsatz von Dissonanzen konkretisieren. 1.3 Relation der Ebenen Libretto, Musik und Visualisierung Ganz allgemein können Äquivalenzen zwischen den einzelnen dargestellten Größen auf den Ebenen Libretto, Musik und Visualisierung abstrakt als Schnittmengen dieser Zeichensysteme verstanden werden. Die Schnittmenge zwischen den Ebenen Libretto und Musik ist für jede Oper spezifisch, wobei bestimmte Tendenzen im Bezug auf die Größe und die Elemente der Schnittmenge vom dominanten Kompositionsstil einer Epoche abhängen. Die Visualisierung ist eine mögliche Umsetzung des ‘potentiellen Bedeutungsrahmens’ einer Oper, der sich aus dem Zusammenwirken der Ebenen Musik und Libretto ergibt. Die Anzahl der unterschiedlichen Visualisierungen einer Oper ist beliebig groß. Daher bildet jede Visualisierung einer Oper eine für sie spezifische Schnittmenge mit den Ebenen Libretto und Musik (vgl. Abb. 3). Wie bisher ausgeführt, ist die Schnittmenge zwischen Libretto und Visualisierung in Bezug auf die Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ für die untersuchten Inszenierungen Bieitos Stephanie Großmann 364 Abb. 3 Eigene Darstellung Abb. 4 Eigene Darstellung keine leere Menge. Die Größe der Schnittmenge variiert in Abhängigkeit von den Literatursystemen der Epochen, in denen die Libretti verfasst wurden. Auf der Ebene Musik lassen sich jedoch große Unterschiede in Bezug auf die Schnittmengenbildung zu den Größen ‘Gewalt’ und ‘Sexualität’ feststellen, die sich wiederum auf das Spannungsverhältnis der gesamten Inszenierung niederschlägt. Vereinfacht kann man so die untersuchten Opern zwischen den beiden Polen ‘spannungsreicher’ und ‘spannungsärmer’ verorten. Ausschlaggebend für die Positionierung der Opern zwischen diesen beiden Polen ist zumeist die Größe der Schnittmenge der Ebenen Musik und Visualisierung (Abb. 4). 10 Bei den ‘spannungsärmeren’ Opern wirkt die Musik zu den Bildern auf der Bühne fast wie paraphrasierende Filmmusik; die auf der Ebene Visualisierung dargestellten Größen nähern sich dem durch die Musik vermittelten emotionalen Gestus an. 2. Rückkopplungseffekte Mit dem Begriff ‘Rückkopplungseffekt’ soll im Zusammenhang mit der Inszenierungsanalyse von Opern folgendes Phänomen bezeichnet werden: Größen, die über eines der drei konstitutiven Zeichensysteme Musik, Libretto, Visualisierung vermittelt werden, können zur Reinterpretation von Größen eines der anderen beiden Zeichensysteme führen, um die Kohärenzannahme für den Gesamttext Oper zu erfüllen. Es werden also Bedeutungselemente einer Ebene in das Zeichensystem einer anderen Ebene eingeschleust, wodurch eine Umdeutung der zweiten Ebenen motiviert wird. “Lost in Prostitution” 365 Es ist nicht verwunderlich, dass die stärkeren Rückkopplungseffekte durch Kohärenzbildung in den Operninszenierungen auftreten, in denen das Spannungsverhältnis zwischen den Ebenen Musik und Visualisierung besonders groß ist - bei den vorliegenden Inszenierungen sind dies die Opern Die Entführung aus dem Serail, Don Giovanni und Madame Butterfly. Hierbei lassen sich zum einen Rückkopplungseffekte innerhalb einer Szene oder Arie feststellen - also in der Mikrostruktur der Oper. Zum anderen beeinflussen Rückkopplungseffekte auch die Bedeutungsgenerierung in der Makrostruktur der Inszenierung. 2.1 Rückkopplungseffekte in der Mikrostruktur Die im Libretto der Madame Butterfly dargestellte Welt ist durch die semantischen Räume ‘Japan’ und ‘USA’ strukturiert. 11 Durch die Ehe mit dem amerikanischen Leutnant Pinkerton legt Cho-Cho-San (alias Madame Butterfly) die für den semantischen Raum ‘Japan’ bindenden Raummerkmale ab und nimmt die konstitutiven Merkmale des semantischen Raumes ‘USA’ an (Wechsel der Konfession, Glaube an die Wahrhaftigkeit ihrer Ehe, Bruch mit der japanischen Verwandtschaft). Die Überschreitung der topographischen Grenze in den semantischen Raum ‘USA’ vollzieht sie jedoch nicht, da Pinkerton nach dem ersten Akt den Raum ‘Japan’ ohne sie verlässt. Während des ersten Aktes und des ersten Teiles des zweiten Aktes der Oper hält der durch den “Verlust der Raumbindung” (Renner: 41) herbeigeführte inkonsistente Zustand an, da Cho-Cho-San trotz Abwesenheit Pinkertons die Merkmale des semantischen Raumes ‘USA’ nicht ablegt und damit zur Fremden im semantischen Raum ‘Japan’ wird. Dieser Zustand wird erst mit der Rückkehr Pinkertons und dessen amerikanischer Ehefrau gelöst. Nachdem Cho-Cho-San erfahren hat, dass Pinkerton nur zurückgekehrt ist, um das gemeinsame Kind mit in die USA zu nehmen, ersticht sie sich mit dem Dolch ihres Vaters, der die Inschrift “Ehrenvoll sterbe, wer nicht mehr in Ehren leben kann” (Puccini 2006: 111) trägt. Mit dem Vollzug dieser Tat wird der inkonsistente Zustand getilgt, da Cho- Cho-San nun wieder geleitet von den Werten und Normen des semantischen Raumes ‘Japan’ handelt und damit für sich die Merkmale ihres Ausgangsraumes restituiert. In seiner Visualisierung folgt Bieito den auf der Ebene Libretto etablierten Strukturen bis zur Rückkehr Pinkertons im zweiten Teil des zweiten Aktes. Das Haus von Cho-Cho-San ist mit vielen Requisiten ausgestattet, die zeichenhaft für den semantischen Raum ‘USA’ stehen. Die musikalisch mit einem Summchor unterlegte Szene, in der Cho-Cho-San laut Nebentext mit Suzuki und ihrem Kind zusammen in ihrem Haus die Ankunft Pinkertons hinter dem Shoji (mit Papier bespannte Wand) erwartet, setzt Bieito als eine Traumsequenz um, in der ebenfalls durch die Kostüme der Statisten (Mickey Mouse, Mädchen mit blondgelockten Haaren, weißen Kleidern und glänzenden Schönheitsköniginnenkronen, Jungen im schwarzen Anzug mit Cowboyhut und Sheriff-Stern) auf den amerikanischen Raum verwiesen wird. In dieser Sequenz wird die Ermordung von Unschuldigen als ein weiteres zentrales Merkmal des semantischen Raumes ‘USA’ eingeführt: Mickey Mouse führt sechs Jungen und Mädchen an, die alle zugleich mit Pistolen und Gewehren auf eine wehrlose schwangere Frau schießen und sich dann mit einem triumphierenden Lächeln um die niedergeschossene Frau scharen. Nach vollbrachter Tat halten sowohl Mickey Mouse als auch die zwölf Kinder ihre amerikanischen Pässe in die Höhe. Der amerikanische Pass wird so zum Zeichen der Legitimation für diesen Mord. Cho-Cho-San nimmt im weiteren Verlauf der Handlung auch dieses Merkmal an, indem sie sowohl ihre Dienerin Suzuki als auch ihr Kind mit dem Samurai-Schwert ihres Vaters ersticht (Abb. 5). Stephanie Großmann 366 Abb. 5 DVD (Cho-Cho- San: Juliette Lee, Statist der Komischen Oper Berlin) Cho-Cho-San tilgt alle Figuren, die sie an den semantischen Raum ‘Japan’ binden. Die im Nebentext des Librettos beschriebene Selbsttötung wird hingegen nicht realisiert. Das Schlussbild der Inszenierung zeigt Cho-Cho-San allein auf der Bühne, sie hält den amerikanischen Pass in der Hand, der ihr zuvor vom Konsul Sharpless für die Zustimmung zur Übergabe ihres Kindes an Pinkerton übergeben wurde. In der Logik der Inszenierung gilt folglich: Nur wer Unschuldige ermordet, kann ein Amerikaner werden. Cho- Cho-San erfüllt diese Norm und geht damit im Gegenraum ‘USA’ auf. Diese sehr starken Modifikationen der Ereignisstruktur des Librettos haben zur Folge, dass einige Textstellen des Librettos im zweiten Teil des zweiten Aktes durch die Kopplung an die visuellen Zeichen eine Umdeutung erfahren. Während Cho-Cho-San ihr Kind ersticht, singt sie: Mein Liebling, leg dich an mein Herz. Ruh mit dem Herrgott und ich mit meinem Schmerz. Hell strahle Dir der Sterne Gold. Mein Liebling schlafe (Puccini/ Illica/ Giacosa/ Bieito 2005: 60: 20). Die Formulierungen “Schlafen” und “Ruhen”, die im Libretto zunächst keinen Tropus bilden, werden durch die Visualisierung in einen Euphemismus für ‘Töten/ Ermorden’ transformiert. Durch die Ergänzung “mit dem Herrgott” erhält dieser Euphemismus eine besonders starke Schlüssigkeit, da diese Formel zusätzlich einen Beerdigungsritus konnotiert. Umgekehrt wird durch die von Bieito visuell etablierte Umdeutung von ‘Schlafenlegen’ in ‘Ermorden’ diese Lesart des Librettos dominant gesetzt, privilegiert und legitimiert. Im 1. Aufzug, 7. Auftritt der Entführung aus dem Serail bringt Konstanze in einer Arie ihren Schmerz und ihre Trauer über die Trennung von ihrem Geliebten Belmonte zum Ausdruck. Der Text dieser Arie beschreibt die Opposition zwischen einer glücklichen Vergangenheit und einer unglücklichen Gegenwart, die jeweils von der Anbzw. Abwesenheit Belmontes abhängt. Diese Gegenüberstellung visualisiert Bieito im Zeichensystem Kostüm: Konstanze trägt zu Beginn der Arie einen cremefarbenen Faltenrock und eine cremefarbene Strickjacke (Abb. 6). Nachdem Bassa Selim Konstanze aus einem Käfig geholt hat, entkleidet er sie. Unter der Strickjacke und dem Rock trägt Konstanze einen hautfarbenen BH und eine gemusterte Frotteeunterhose (Abb. 7). Die vier Kleidungsstücke konnotieren die Merkmale ‘altmodisch’, ‘prüde’ und ‘sexuell unerfahren’, sie stehen außerdem für die besungene, glückliche Vergangenheit und damit auch für Konstanzes Beziehung zu Belmonte. Durch das Kostüm wird diese Beziehung mit den eben genannten Größen korreliert und als frei von Sexualität gesetzt. Die aus Konstanzes Perspektive unglückliche Gegenwart wird im Zeichensystem Kostüm mit einem weißen Pelzmantel korreliert, den Bassa Selim ihr über die Schultern legt (Abb. 9). Dieser Pelzmantel konnotiert ‘Eleganz’, ‘materiellen Reichtum’, ‘Extravaganz’ und kann aus dem Kontext der Visualisierung im “Rotlichtmilieu” als Gegenleistung für körperliche Liebe interpretiert werden. Während Bassa Selim Konstanze umkleidet, greift er ihr in die Frotteeunterhose und stimuliert sie gegen ihren Willen (Abb. 8). Durch diese visuellen Zeichen findet eine Rückkopplung in Bezug auf die Textzeile “Kummer ruht in meinem Schoß” (Mozart 2005: 17) statt. Auf der Ebene Libretto wird der Begriff “Schoß” metaphorisch benutzt. Durch die Visualisierung kann er jedoch auch konkret auf den Unterleib Konstanzes bezogen werden. Somit wird der Bereich der Sexualität für die Figur “Lost in Prostitution” 367 Abb. 9: DVD (Konstanze: Maria Bengtsson, Selim: Guntbert Warns) Abb. 6: DVD (Konstanze: Maria Bengtsson) Abb. 7: DVD (Konstanze: Maria Bengtsson) Abb. 8: DVD (Konstanze: Maria Bengtsson, Selim: Guntbert Warns) Konstanze als etwas Negatives semantisiert. Außerdem generiert die visuelle Ebene in dieser Szene auch einen Rückkopplungseffekt auf der Ebene Musik. Die von Konstanze gesungenen Koloraturen bilden hier nicht nur eine Äquivalenz zu ihrer emotionalen Disposition, sondern können auch als Ausdruck des Schmerzes und des Widerstandes gegen die sexuelle Stimulation durch Bassa Selim gedeutet werden. Durch das ‘Konkrete’ der Visualisierung werden an dieser Stelle der Inszenierung die Koloraturen der Musik zu Zeichen modifiziert, die zwischen dem Status konkret und abstrakt oszillieren. 2.2 Rückkopplungseffekte in der Makrostruktur Calixto Bieito fokussiert ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ in seinen Inszenierungen und erhebt sie zum absoluten Dreh- und Angelpunkt der Opern. In der Gesamtkonzeption der Oper Die Entführung aus dem Serail wird der im Libretto eingeführte Handlungsraum “Serail” - also der Palast eines osmanischen Herrschers - visuell als Bordell umgesetzt. Somit wird die im Libretto dargestellte Welt in einen aktuellen und konkreten semantischen Raum transformiert. Dieser Raum kann - zumindest aus der Perspektive des prototypischen Opernbesuchers - als gesellschaftlicher Taburaum bezeichnet werden, in den Sexualität und Gewalt ausgegrenzt und zugleich fokussiert werden. Neben dieser Ausgrenzung von ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ in einen Taburaum stellt Bieito in seiner Visualisierung aber auch eine Verbindung der dargestellten Welt zur gesellschaftlich konformen und akzeptierten extratextuellen Welt her. Das Bühnenbild besteht aus mehreren rechteckigen Glaskästen, die den Blick in einzelne Zimmer des Bordells suggerieren. In Stephanie Großmann 368 Abb. 10: DVD (Belmonte: Finnur Bjarnason, Pedrillo: Christoph Späth, Statisten und Statistinnen der Komischen Oper Berlin) diesen Glaskästen werden im Laufe der Handlung zahlreiche sexuelle Zusammenkünfte zwischen Prostituierten und Freiern vollzogen. Jeweils eine Seite dieser Glaskästen ist zeitweise mit einem großformatigen Werbeplakat behängt. Diese Plakate werben für Parfum, Dessous, Stöckelschuhe, Lippenstift und Mascara (Abb. 10). Diese Produkte haben die Gemeinsamkeit, dass sie von Frauen mit dem Ziel benutzt werden, ihre erotische Ausstrahlung zu vergrößern. Der überdimensional groß dargestellte Lippenstift und die Mascarabürste konnotieren darüber hinaus in ihrer Form einen Phallus. Die Plakate bauen somit eine Äquivalenz zwischen weiblicher Verschönerung und männlicher Erregung auf, der sich als Kausalzusammenhang lesen lässt: Frauen modifizieren ihr Äußeres mit Make-up, um Männer sexuell zu erregen. Es handelt sich bei diesen Plakaten zwar nicht um extratextuell existierende Werbeplakate, sie greifen jedoch auf eine extratextuell weit verbreitete Darstellungsästhetik der Kosmetikwerbung zurück. Die Positionierung dieser Werbeplakate auf einer Seite der Glaskästen baut eine Relation zwischen ‘Oberfläche - Werbung für und mit weiblicher Schönheit/ Erotik’ und ‘Tiefendimension - Prostitution’ auf. Hinter der gesellschaftlich akzeptierten Darstellung von Erotik verbirgt sich eine Form der nicht-akzeptierten konkreten Sexualität. Das lässt sich auch als zeichenhafte Darstellung von Doppelmoral interpretieren. Das Zeichensystem Bühnenbild suggeriert in dieser Inszenierung, dass sich die exzessive Sexualität, die die Unterdrückung, Misshandlung und Entmündigung von Frauen miteinschließt, unter dem Deckmantel der gesellschaftsfähigen Schönheitsindustrie verbirgt. Beide Konzepte werden in der Inszenierung somit als äquivalent bewertet, da in beiden Formen die Frau zum Objekt gemacht wird. Die konkrete Darstellung von ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ in der Visualisierung werden mit gesellschaftlich nicht-legitimierter Sexualität korreliert, wohingegen die zeichenhaft verschlüsselte Darstellung von Sexualität mit dem Bereich der gesellschaftlich legitimen Sexualität korreliert wird. Für die Makrostruktur dieser Inszenierung ergibt sich als Rückkopplungseffekt von der Visualisierung auf den durch das Libretto und die Musik konstituierten ‘potentiellen Bedeutungsrahmen’ der Oper ein analog semantisiertes Verhältnis wie das soeben beschriebene Verhältnis von konkreter Sexualität und ästhetisierten Zeichen im Zeichensystem Bühnenbild. Hierbei bilden Libretto und Musik reziprok eine ‘Oberfläche’, die mit ästhetischen Zeichen gesellschaftskonforme Propositionen vermittelt, wohingegen die Visualisierung die dahinterliegende ‘Tiefendimension’ abbildet, die unter Einbezug von ‘Konkretem’ gesellschaftlich nicht-legitimierte Propositionen abbildet. So wie das Bühnenbild eine Doppelmoral innerhalb der dargestellten Welt konnotiert, so konnotiert die gesamte Inszenierung Bieitos eine Doppelmoral des Mediums Oper - oder präziser - des Singspiels und damit auch der konservativen Zuschauerschicht dieses Genres. 3. Unmittelbarkeit der Aufführungssituation Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte vergleicht die ästhetische Wahrnehmung einer Aufführung mit dem Konzept der “perzeptiven Multistabilität”. Die Wahrnehmung “Lost in Prostitution” 369 oszilliere zwischen “der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das phänomenale Sein des Leibes oder Dings und derjenigen auf seine Zeichenhaftigkeit” (Fischer-Lichte 2006: 138). Demzufolge kann zwischen zwei Blickwinkeln auf das Medium Oper gewechselt werden, die ich mit den Begriffen ‘Aufführung’ und ‘Inszenierung’ voneinander abgrenzen möchte. Unter ‘Inszenierung’ verstehe ich die Bedeutungsgenerierung, die sich aus dem simultanen Zusammenspiel der Ebene Libretto, Musik und Visualisierung konstituiert und die analog zur Literatur und zum Film als ein sekundäres semiotisches System nach Lotman bezeichnet werden kann. Aus diesem Blickwinkel auf das Medium Oper wird die Wahrnehmung des Zeichenhaften fokussiert. Unter ‘Aufführung’ verstehe ich hingegen die unwiederholbare, unmittelbare, singuläre und konkrete Umsetzung einer Operninszenierung. Dieser Blickwinkel hebt das Performative, Atmosphärische des Mediums Oper hervor und fokussiert dabei die Interaktionen zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum, also zwischen den Akteuren und den Rezipienten. Hierbei tritt auch die Wahrnehmung des “phänomenalen Seins des Leibes” in den Vordergrund, also die Wahrnehmung der konkreten Materialität der primären Zeichensysteme der Körperlichkeit der Akteure, ihre Mimik, Gestik und Proxemik. In den Momenten, in denen auf der visuellen Ebene ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ dargestellt werden, ist es sehr durch den kulturellen Tabubruch sehr wahrscheinlich, dass die Wahrnehmung der Rezipienten besonders häufig vom konzeptionell Zeichenhaften der ‘Inszenierung’ zum sinnlich Konkreten der ‘Aufführung’ wechselt, da hier die Konzeption eines ‘Konkreten’ auf der Signifikatebene auch das ‘Konkrete’ der Signifikanten hervorhebt. Das hat zur Folge, dass der “Authentizitätsvorsprung”, den das Medium Oper im Vergleich zu anderen Medien aufweist, den Rezeptionsprozess stört. Die Wahrnehmungsoszillation zwischen den Polen ‘konkret’ und ‘zeichenhaft’ beeinflusst den narrativen Prozess und bricht die Abgeschlossenheit des textuellen Rahmens der dargestellten Welt auf. Neben der Unmittelbarkeit, die durch die simultane Präsenz von Rezipienten und Darstellern erzeugt wird, gibt es bei der Oper einen weiteren Bereich der direkten Wirkung auf den Rezipienten. Musik kann unmittelbar und präverbal auf die Emotionen des Rezipienten wirken, so dass sich ein Teil der Bedeutungsgenerierung eher implizit, unbewusst und unbemerkt vollzieht. Hierbei handelt es sich zumeist um eine Übertragung des dargestellten musikalischen Gestus auf die Körperfunktionen (zum Beispiel Herz- und Atemfrequenz) des Hörers (Bierwisch 1978: 166). In den untersuchten Aufführungen der Operninszenierungen von Calixto Bieito hat sich gezeigt, dass die Visualisierung der Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ besonders starke Abwehrreaktionen bei den Zuschauern hervorruft, wenn die visuelle Ebene in einem starken Spannungsverhältnis zur Ebene Musik steht. Dies lässt sich auf folgende drei Punkte zurückführen: 1. Die dur-moll-harmonische Musik von Mozart und Puccini baut eine Form der emotionalen Offenheit für den Rezeptionsakt der Oper auf. Dadurch wird eine innere Distanz zum Dargestellten erschwert. In den Momenten, in denen eine Kohärenzbildung zwischen der Visualisierung und der Musik durch Rückkopplungseffekte möglich ist - wie z.B. bei Konstanzes Koloraturen in der Arie “Ach ich liebte” - wird darüberhinaus eine körperliche Wahrnehmung des Visuellen durch die Musik verstärkt. 2. Die Musik kann in der Oper eine vermittelnde Funktion übernehmen - ähnlich der Erzählinstanz in Erzähltexten -, indem sie eine Art emotionale Folie liefert, vor der das Libretto und die Visualisierung zu lesen sind. Im Gegensatz zur Musik von Berg und Strauss, die explizit ‘Gewalt’ thematisiert und sie durch die Korrelation mit disharmonischen Klängen als etwas Negatives, Bedrohliches kennzeichnet, übt die Musik von Mozart und Puccini keine Kritik an der dargestellten Gewalt und Sexualität. Die un- Stephanie Großmann 370 mittelbare Wirkung der Musik zwingt dem Rezipienten implizit eine kritiklose Haltung gegenüber der Visualisierung auf, so dass sich dieser umso deutlicher gegen diese Haltung zur Wehr setzen muss. 3. Nicht zu vernachlässigen ist natürlich auch die Erwartungshaltung der Rezipienten. Bei Opern wie Wozzeck und Elektra sind die Zuschauer darauf eingestellt, dass ihnen auf der Bühne keine “leichte Opernkost” dargeboten wird. Im Gegensatz dazu erwarten sie aber bei den Genrebezeichnungen “Singspiel” für Die Entführung aus dem Serail und “Dramma giocoso” für Don Giovanni normalerweise relativ unbeschwerte Unterhaltung und bei Puccinis Madame Butterfly anrührenden Herzschmerz. Genau diese Erwartungshaltung unterläuft Calixto Bieito aber in seinen Inszenierungen. 4. Fazit Bieito konzipiert in seinen Inszenierungen, so lässt sich zusammenfassen, sehr drastische Szenen, in denen die detaillierte und unmittelbare Darstellung von Sexualität und Gewalt die Schmerzgrenze der Rezipienten häufig überschreitet. Die Analyse einzelner Aspekte der Inszenierungen hat gezeigt, dass die konkreten Zeichen vor allem in Verbindung mit der durmoll-harmonischen Musik Mozarts und Puccinis eine starke Spannung generieren, die sich zunächst einem Sinngebungsversuch widersetzt. Befreit man sich jedoch von den Klischees, mit denen besonders die Opern Die Entführung aus dem Serail, Don Giovanni und Madame Butterfly in ihrer Rezeptions- und Inszenierungsgeschichte aufgeladen wurden, dann ist es möglich, unter Einbezug der konkreten Zeichen die Bedeutungskonstitution der Ebenen Libretto und Musik zu reinterpretieren, so dass eine in sich schlüssige Welt modelliert wird. Die verbreiteten Vorwürfe, Bieito wähle diese Inszenierungsstrategie allein, um Aufmerksamkeit zu erregen und Skandale hervorzurufen, kann damit entkräftet werden, da Bieito die Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ nicht als provokativen Selbstzweck einsetzt, sondern sie vielmehr zu zentralen Bedeutungsträgern in seinen Visualisierungen macht, mit denen er den potentiellen Bedeutungsrahmen der Opern auf gegenwärtige gesellschaftliche Missstände bezieht. In diesem Sinne kann Bieitos Forderung: “Wir brauchen ein neues Opernpublikum” (Brüggemann 2003: 33) als Forderung nach einem Publikum verstanden werden, das bereit ist, die Oper nicht als “Goldenes Kalb” anzubeten, sondern sich kritisch mit den Werten und Normen auseinanderzusetzten, die über die Ebenen Libretto und Musik vermittelt werden. Literaturverzeichnis Inszenierungen Berg, Alban / Büchner, Georg / Bieito, Calixto 2006: Wozzeck. Oper in drei Akten, Co-Produktion des Gran Teatre del Liceu (Barcelona) mit dem Teatro Real (Madrid), Opus Arte. Musikalische Leitung: Sebastian Weigle, Symphonie Orchester und Chor des Gran Theatre del Liceu, Regie: Calixto Bieito, Bühnenbild: Alfons Florens, Kostüme: Mercé Paloma, Wozzeck: Franz Hawlata, Marie: Angela Denoke, Tambourmajor: Reiner Goldberg, Margret: Vivian Tierney, Doktor: Johann Tilli, Hauptmann: Hubert Delamboye, Andres: David Kuebler. Mozart, Wolfgang Amadeus / Da Ponte, Lorenzo / Bieito, Calixto 2002: Don Giovanni. Dramma giocoso in zwei Akten, Co-Produktion des Gran Teatre del Liceu (Barcelona) mit der English National Opera und der Staatsoper Hannover, Opus Arte. “Lost in Prostitution” 371 Musikalische Leitung: Bertrand de Billy, Orchester Akademie des Gran Theatre del Liceu, Kammerchor des Palau de la Música Catalana, Regie: Calixto Bieito, Bühnenbild/ Ausstattung: Alfons Flores, Kostüme: Mercé Paloma, Don Giovanni: Wojtek Drabowicz, Leporello: Kwanchul Youn, Donna Anna: Regina Schörg, Don Ottavio: Marcel Reijans, Donna Elvira: Véronique Gens, Zerlina: Marisa Martins, Masetto: Felipe Bou, Il Commendatore: Anatoly Kocherga. Mozart, Wolfgang Amadeus / Stephanie d.J., Gottlieb / Bieito, Calixto 2004: Die Entführung aus dem Serail. Singspiel in drei Aufzügen, DVD-Mitschnitt der Komischen Oper Berlin, Aufzeichnung von 2004. Musikalische Leitung: Kirill Petrenko, Regie: Calixto Bieito, Bühnenbild: Alfons Florens, Kostüme: Anna Eiermann, Konstanze: Maria Bengtsson, Belmonte: Finnur Bjarnason, Blonde: Natalie Karl, Pedrillo: Christoph Späth, Osmin: Jens Larsen, Bassa Selim: Guntbert Warns. Puccini, Giacomo / Illica, Luigi / Giacosa, Giuseppe / Bieito, Calixto 2005: Madame Butterfly. Tragödie einer Japanerin in drei Aufzügen, DVD-Mitschnitt der Komischen Oper Berlin, Aufzeichnung von 2005. Musikalische Leitung: Daniel Klajner, Regie: Calixto Bieito, Bühnenbild: Alfons Florens, Kostüme: Anna Eiermann, Cho-Cho-San: Juliette Lee, Suzuki: Susanne Kreusch, Kate: Julia Bossen, F.B. Pinkerton: Marc Heller, Sharpless: Tom Erik Lie, Goro: Christoph Späth. Strauss, Richard / Hofmannsthal, Hugo von / Bieito, Calixto 2007: Elektra. Tragödie in einem Aufzug, DVD- Mitschnitt vom Theater Freiburg, Aufzeichnung vom 18. Februar 2007. Musikalische Leitung: Patrik Ringborg, Regie: Calixto Bieito, Bühne/ Kostüm: Rifail Ajdarpasic und Isabell Unfried, Chor: Bernhard Moncado, Dramaturgie: Dominica Volkert, Elektra: Cynthia Makris, Klytämnestra: Leandra Overmann, Chrysothemis: Sigrun Schell, Aegisth: Patrick Jones, Orest: Neal Schwantes, 1. Magd: Anja Jung, 2. Magd: Karen Job, 3. Magd: Yaroslava Vikhrova, 4. Magd: Nicole Chevalier, 5. Magd: Lini Gong, Aufseherin: Anke Maurer, Der Pfleger des Orest: Radu Cojocariu, Die Vertraute: Christina Gindele, Die Schleppträgerin: Kyoung-Eun Lee, Ein junger Diener: Robert Gionfriddo, Ein alter Diener: Jesse Coston. Primärliteratur Berg, Alban 1923: Georg Büchners Wozzeck. Oper in 3 Akten (15 Szenen). Op. 7. Klavierauszug von Fritz Heinrich Klein, Wien/ Leipzig: Universal Edition. Mozart, Wolfgang Amadeus 1928: Die Entführung aus dem Serail. Singspiel in drei Aufzügen. Klavierauszug. Nach dem in der Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin befindlichen Autograph herausgegeben von Kurt Soldan, Leipzig: C.F. Peters. Mozart, Wolfgang Amadeus 1986: Don Giovanni. KV 527. Komödie für Musik in zwei Akten. Libretto von Lorenzo Da Ponte. Übersetzung von Thomas Flasch. Nachwort von Rudolph Angermüller, Stuttgart: Philipp Reclam jun. Mozart, Wolfgang Amadeus 2005: Die Entführung aus dem Serail. KV 384. Singspiel in drei Aufzügen. Text von Johann Gottlieb Stephanie d.J. nach einem Bühnenstück von Christoph Friedrich Bretzner. Nachwort von Henning Mehnert, Stuttgart: Philipp Reclam jun. Puccini, Giacomo 2006: Madame Butterfly. Tragedia giapponese in due atti. Japanische Tragödie in zwei Akten. Textbuch Italienisch / Deutsch. Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica (nach John L. Long und David Belasco). Übersetzt und herausgegeben von Henning Mehnert, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 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Ein solcher Kontext ist für die Musik in der Oper durch das Libretto und die Visualisierung gegeben. 2 Pavis führt zum Begriff der Inszenierung in Abgrenzung zur Aufführung weiter aus: “In diesem Sinne ist die Inszenierung also weder der empirische Gegenstand, die inkohärente Ansammlung von Materialien, noch viel weniger die vor der Präsentation des Stückes ablaufende, oft fälschlich als Inszenierung definierte Tätigkeit des Regisseurs und seines Teams, sondern vielmehr ein Erkenntnisgegenstand, nämlich jenes System von Beziehungen, das die Produktionswie die Rezeptionsinstanz (Schauspieler, Regisseur, Bühne im allgemeinen vs. Zuschauer) zwischen den (erst dadurch als Signifikantensysteme konstituierten) szenischen Materialien herstellen” (Pavis 1989: 14). Pavis führt seinen Inszenierungs-Begriff für das Schauspiel ein, seine Ausführungen sind aber analog auf die Oper übertragbar. “Lost in Prostitution” 373 3 “3500 niedersächsische Musikfreunde hatten nach Bieitos Inszenierung von Mozarts Don Giovanni vor einem Jahr ihr Abonnement gekündigt” (Siemes 2003: 42). 4 Die DVD-Mitschnitte der Generalproben der Opern Die Entführung aus dem Serail und Madame Butterfly wurden mir freundlicherweise von der Komischen Oper Berlin zur Verfügung gestellt. 5 Der DVD-Mitschnitt der Elektra-Generalprobe wurde mir freundlicherweise vom Theater Freiburg zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank an Dominica Volkert. 6 Zur Analyse der Bezüge zwischen Hofmannsthals Elektra und den Elektra-Tragödien von Sophokles, Aischylos und Euripides (Flashar 2000: 47-58). 7 Die Projektion eines mit Öl bedeckten Vogels, der verzweifelt mit den Flügeln schlägt, gliedert den dargestellten Raum in den Diskurs der fossilen Energiegewinnung ein. Die Rohre und Leitungen im Bühnenbild erinnern deutlich an eine Bohrinsel, wobei die dargestellte Welt unterhalb der Erdoberfläche und nicht oberhalb des Meeresspiegels situiert ist. 8 Der Begriff der “gestischen Form” in der Musik wurde durch Manfred Bierwisch geprägt (Bierwisch 1978: 161ff.). 9 Vgl. zur Inszenierung dieser Szene auch (Risi 2004: 122). 10 Eine Ausnahme bildet die Schlussszene des Don Giovanni, da hier eine Äquivalenz zwischen der visualisierten Gewalt und dem Rhythmus der Musik gebildet wird. Jedoch stehen in dieser Szene die Ebenen Libretto und Visualisierung in einem großen Spannungsverhältnis. 11 Zu dem Begriffen der ‘semantischen Räume’ und zur Grenzüberschreitungstheorie vgl. Lotman 1993 4 und die Erweiterungen von Renner 1983, Krah 1999, Titzmann 2003. Vakatseite 374 Im Reich von Handycam und Baseballkeule. Gewaltausübung und ihre Mediatisierung in Detlev Bucks K NALLHART Eckhard Pabst Detlev Bucks Romanverfilmung K NALLHART (D 2006) schildert die Erlebnisse des 15jährigen Schülers Michael, der an einer Realschule in die Fänge einer brutalen Schulhofgang gerät. Ausgehend von einer knappen Skizze des filmischen Raumsystems, das die Berliner Stadtteile Zehlendorf und Neukölln in Opposition zueinander setzt, thematisiert der Artikel die spezifischen Rituale der Gewaltausübung unter den Jugendlichen und den Drogendealern. Signifikant ist auf der Handlungsebene die Funktionalisierung der Überführung konkreter Gewalt in mediatisierte Gewaltdarstellungen zum Zweck der Einschüchterung der so genannten ‘Opfer’. Die Argumentation soll dabei zeigen, dass die Jugendlichen der dargestellten Wirklichkeit in einer gewalthaltigen Umwelt leben, in der ihren eigenen Gewalttaten immer schon mediale Abbilder von Gewalt vorausgehen, wodurch sich ein endloser Zirkel der Gewaltwiederholungen ergibt. Die Durchbrechung dieses Kreislaufs erfordert eine Zeichenlektüre, die die kursierenden Gewaltzeichen nicht einzig als Machtinstrumente wahrnimmt, sondern gleichsam naiv auf die Relevanz und ‘Realität’ der Zeichenreferenten schließt. Detlev Bucks feature film T OUGH E NOUGH (D 2006) deals with the 15 years old Michael who is tormented by a brutal school yard gang lead by the Turkish Erroll. Starting with a brief discussion of the spatial system that divides Berlin into Zehlendorf and Neukölln this article describes the specific rituals of violance and power between gang members, their victims, and drug dealers and directs attention to the functualization of video representations of the acts of violance (via cell phone cameras). The film switches the order of acts of violance and their video representations. The result is a continuous cycle of violance. Einleitung Als Detlev Bucks Spielfilm K NALLHART 1 am 9. März 2006 in die deutschen Kinos kam, flankierte er eine Debatte zur Jugendgewalt, die seit einigen Monaten in den Medien geführt wurde. In Frankreich eskalierten seit Monaten Krawalle von Jugendlichen, die in mehreren Großstädten gegen Perspektivlosigkeit und die Lebensbedingungen minderprivilegierter sozialer Schichten protestierten; und nur wenige Wochen zuvor hatte sich die Schulleitung einer Berliner Oberschule, der Rütli-Schule aus Neukölln, mit einem offenen Brief an den Senat gewandt. Darin beschrieb sie die dramatischen Zustände, die von eskalierender Gewalt gegen Personen und Gegenstände in der Schule, von der Angst der Lehrerkollegen und der Schüler und von einem Anteil von Schülern nicht deutscher Herkunft von über 80% geprägt sind. Detlev Bucks Spielfilm scheint die gewaltgeladene Situation an sozialen Brennpunkten K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Eckhard Pabst 376 mit einigen ihrer schlimmstmöglichen Folgeerscheinungen exemplarisch zu illustrieren, wobei er den Blick freilich über den begrenzten Rahmen des Schulkomplexes hinaus in eine weiter gefasste soziale Wirklichkeit richtet. Besonders auffällig ist hierbei, dass der Film für Buck - eigentlich ein Spezialist im Komödienfach - ungewohnt drastisch Gewalt darstellt und Vorurteile zu bedienen scheint: Es gibt kein versöhnliches Ende; es gibt kaum dialektische Ansätze zur Differenzierung von Ursache und Wirkung der Jugendgewalt. So eröffnet der Film also einen scheinbar ungefilterten Blick auf die Erscheinungsweise einer bestimmten sozialen Realität, die einem Teil der Öffentlichkeit so nicht bekannt gewesen sein mag. 2 Plausibilisiert wird das tragische und konfliktreiche Geschehen u.a. durch die filmische Konstituierung eines begrenzten Raumsystems, das hier durch die städtischen Teilräume Zehlendorf und Neukölln oppositionsreich konturiert ist: 3 In diesem Neukölln herrschen spezifische gewalthaltige Verhältnisse, und indem die Narration konsequent der Erlebnisperspektive des 15-jährigen Helden folgt, werden diese Verhältnisse als ‘gegeben’ und ‘unhintergehbar’ inszeniert. 4 Zentrale Requisiten der hier etablierten Regeln im Umgang der Jugendlichen miteinander sind Baseballkeule und Handycam - beide Objekte stehen für unterschiedliche Strategien der Gewaltanwendung - der unmittelbar physischen und einer medial transponierten. Dieses Nebeneinander von konkreter und mediatisierter Gewalt führt den Protagonisten schließlich in die finale Katastrophe und zwar deshalb, so die hier zu verhandelnde These, weil der konkreten Gewalt immer schon ein mediatisiertes Gewaltzeichen vorausgeht, das gleichsam seine Einlösung erfordert. 1. Narrative Grundordnung Nach der kurzen Etablierung eines Erzählrahmens, der das Nachfolgende als retrospektives Geständnis des Protagonisten im Polizeirevier ausweist, beginnt der Film damit, den Eintritt des Protagonisten in den für ihn fremden Raum Neukölln zu motivieren. Der fünfzehnjährige Michael Polischka lebte die letzten Jahre mit seiner Mutter bei deren Lebensgefährten Dr. Peters in einer großzügigen Villa in Zehlendorf. Nun müssen sie dieses Domizil verlassen, da Dr. Peters sich eine neue Erotikpartnerin zu suchen beabsichtigt. Als sie ihre schäbige Zweizimmerwohnung in Neukölln erreichen, könnte der Kontrast zu ihrem vorherigen Luxusdomizil kaum radikaler ausfallen: Die Wohnung ist klein, düster und hellhörig, der Hinterhof gleicht einer Müllkippe. Dass Michael mit seinem Eintritt in diese Welt ein gefährliches Terrain betreten hat, wird in der sich anschließenden Sequenzfolge deutlich, die seinen ersten Tag in der neuen Schule beschreibt. Nach einer etwas chaotischen Mathestunde und einem ersten Kennenlernen mit seinem Klassenkameraden Crille und dessen jüngerem Bruder Matze auf dem Schulhof rempelt Michael beim Verlassen der Schule aus Versehen den Türken Erroll an, der mit seiner Clique auf der Treppe steht. Auf dem Nachhauseweg wird Michael von Erroll abgefangen, brutal geschlagen und “abgezogen”, wie man sagt. Mit der Aufforderung, ihm am Folgetag 50 Euro zu bezahlen, lässt Erroll sein Opfer zurück. Um diese nun täglich fälligen Gelder bezahlen zu können, bricht Michael mit Crille und Matze bei Dr. Peters ein; sie erbeuten u.a. ein teures Handy, das sie an den Dealer Hamal verkaufen, der damit auf Michael aufmerksam wird. Abermals lauert Errolls Bande Michael auf, um ein grausames Spiel mit ihm zu spielen: Man setzt ihm einen Blecheimer auf den Kopf, um ihm dann diesen Eimer mit einer Baseballkeule vom Kopf zu schlagen. Im Reich von Handycam und Baseballkeule 377 Abb. 1: Michael auf dem Weg zur Polizeistation Von schweren Blessuren gezeichnet, kehrt Michael nach Hause zurück, wo ihn der Hausmeister beiseite nimmt und ihm einen Tipp gibt: Michael solle ein kleines Metallrohr in die Faust nehmen und damit Erroll ins Gesicht schlagen. Bald darauf trifft Michael im Humboldthain auf Errolls Bande. Erroll setzt bereits zur nächsten Drangsalierung an, als ihn unvorbereitet Michaels Schlag auf die Nase trifft. Erroll zieht ein Messer, doch bevor er Michael verletzen kann, erscheint Barut, Hamals Handlanger, mit einigen Helfern wie aus dem Nichts, nimmt Michael zu sich und macht Errolls Bande eindrucksvoll verständlich, dass Michael von nun an unter Hamals Schutz stünde. Michael versteht das Angebot, das Hamal ihm macht: Michael arbeitet als Drogenkurier und erhält dafür Personenschutz. Das geht eine Weile gut, bis Errolls Bande Michael auf dem Rückweg von einem Kokainkunden auflauert. Sie treiben ein im Grunde harmloses Spiel mit Michael, werfen aber seinen Rucksack mit 80.000 Euro auf das Dach eines S-Bahnzuges. Das Geld ist weg. Hamals Schergen treiben Erroll auf und Michael muss seine Loyalität beweisen, indem er den wehrlosen Erroll unter einer Autobahnbrücke mit einem Kopfschuss hinrichten soll. Ohne eine wirkliche Wahl zu haben, erschießt er Erroll, weigert sich aber, anschließend in Hamals Wagen zu steigen. Er geht zur Polizei, sein folgendes Geständnis ist die Rückblende der Filmhandlung. 2. Raumordnung und Bewegung Bereits die erste Einstellung des Films zeigt Michael auf dem Mittelstreifen einer mehrspurigen Straße gehend (vgl. Abb. 1, 0: 00: 43), ohne Ausgangspunkt, ohne Ziel - ein unpassender Ort für einen Fußgänger zwischen den geregelten Bewegungsrichtungen der Autos. Im Prinzip wird Michael diesen Bewegungsmodus die Filmhandlung über beibehalten. Eckhard Pabst 378 Abb. 2: Michael und seine Mutter vor der Villa Dr. Peters in Zehlendorf Sein Verbleib im jeweiligen Raum hat stets etwas transitorisches, vorläufiges. Und im Grunde stellt die Filmhandlung Michaels Versuch dar, innerhalb des filmischen Raumsystems 5 seine Bewegung auf ein Ziel hinzusteuern, an dem die Bedingungen seines Herkunftsraumes wieder hergestellt sind. Dieser Herkunftsraum, gleichsam die Außenseite Neuköllns, ist im filmisch konstituierten Raumsystem Zehlendorf. Von dort werden Mutter und Sohn eingangs der Binnenhandlung vertrieben: aus einem Refugium der Sicherheit und des Luxus, um nicht zu sagen aus einem Paradies. Dr. Peters’ Villa trägt Züge einer unzugänglichen Festung, die ihre Bewohner von allen Einflüssen der Außenwelt schützt (vgl. Abb. 2, 0: 04: 31). Folgerichtig heißt es dazu, dass Michael nicht Dr. Peters vermissen wird, sondern dessen PC und DVD-Anlage (0: 04: 00). Michael hat sich während seiner Zeit hier in einer virtuellen Realität eingerichtet, um dabei durch einen Zaun und fensterlose Wände vom Außenraum isoliert zu sein. Steht der Stadtteil Zehlendorf in der filmischen Logik also für einen gewissen sozialen und ökonomischen Wohlstand, so tritt für den Extremraum Villa Dr. Peters diesen Attributen besonders das Merkmal der Abschirmung von der außersprachlichen Realität hinzu. Dies heißt auch, dass Michael in der Zehlendorfer Villa mediatisierte (Alltags-) Erfahrungen konkreten vorgezogen hat. Bereits auf der Taxifahrt zur neuen Wohnung zeigt sich dann, dass der Übertritt in den Raum Neukölln den Verlust von Bindungen an (schützende) Innenräume bedeutet: Der launische Taxifahrer setzt Michael und seine Mutter mitsamt ihrem Gepäck mitten auf der Hermannstraße aus (0: 05: 00). Bevor die unvollständige Familie also ihre neue Bleibe in Neukölln beziehen kann, macht sie einen Zwischenstopp im ungeschützten, öffentlichen Raum, was als Hinweis auf die Relevanz dieser Sphäre für das Leben in diesem Stadtteil gelesen werden kann: Wer sich nach Neukölln begibt, muss sich im Außenraum, auf der Straße, behaupten. Das Subjekt ist damit in viel stärkerem Maße, als es in Zehlendorf der Fall war, den Einflüssen und Bedingungen eines großstädtischen Horizontes ausgesetzt. Folglich spielt der Film dann auch zu großen Teilen draußen: auf den Straßen, in Im Reich von Handycam und Baseballkeule 379 Parkanlagen, auf trostlosen Parkdecks zwischen Plattenbauten und in verlassen wirkenden Passagen. Im Fortgang der Handlung wird dann immer wieder deutlich, dass Michael danach strebt, ruhige und sichere Räume zu finden, in die er sich vor den gewalttätigen Einflüssen der Außenwelt zurückziehen kann: Die Wohnung von Crille und Matze, in denen die Brüder während der Abwesenheit ihres Vaters (eines gewalttätigen Fernfahrers) wochenlang auf sich gestellt und unkontrolliert ihre Freiräume genießen können, ist ein solches Ersatzrefugium (zumindest solange, bis der Vater von einer Tour zurückkehrt); der türkische Friseursalon, in dem Michael zum ersten Mal Hamal trifft und Wasserpfeife raucht (0: 33: 40), ein anderes. Michaels neue Wohnung bietet diesen Schutz nur unzulänglich - so dauert es nicht lange, bis einer der neuen Partner seiner Mutter Michaels Geld stiehlt. Die Schutzräume im Einflussbereich Hamals, die Michael erreicht - die großen Sportlimousinen oder die elegant-orientalisch eingerichtete Wohnung des Dealers - nehmen ihn nur zeitweise auf; Michael ist hier jeweils nur Gast, der für seine Anwesenheit hier einen hohen Preis zu zahlen hat. Immerhin verweigert Michael am Ende der Binnenhandlung, erneut zu Hamal ins Auto zu steigen (und damit also seine unheilvolle Bewegung buchstäblich fortzusetzen). Seine Verweigerungshaltung ist der Ausstieg aus der Gewaltspirale und der Suche nach einem eigenen Raum; gerade dadurch erlangt er nach abgelegtem Geständnis in der Untersuchungshaftzelle auf dem Polizeirevier einen Augenblick der Ruhe und Sicherheit. Die letzte Einstellung, in der ihn seine Mutter vom Revier abholt, deutet allerdings an, dass seine Bewegung doch noch nicht an ihr Ende gekommen ist. 3. Körperzeichen: “Opfer” und “Nicht-Opfer” Schon die narrative Grundordnung und die Raumordnung und die Figurenbewegungen machen deutlich, welchen Rang Gewalt im Handlungsgeschehen einnimmt: Durch Gewaltandrohung und -ausübung beanspruchen und stabilisieren Errolls Gang wie diejenige des Dealers Hamal ihre Macht. Das Subjekt findet sich in einem Systemkreislauf von Gewaltandrohungen wieder, die ihm von Beginn an, also von der Vertreibung aus seinem Zehlendorfer Paradies, keine Wahl der Entscheidung lassen. Michael ist nicht in der Lage, sich in einem Raum außerhalb erlittener Gewalt einzurichten, sondern muss sich einer der beiden Seiten unterwerfen. Sein Freund Crille erklärt ihm Errolls Seite: “Is ganz simpel: Entweder Du kriegst so viel Kohle ran oder die hau’n Dir so oft aufs Maul, bis denen langweilig wird, Mann. Such’s Dir aus” (0: 25: 03). Hamal wird ihn aus dieser Zwangslage befreien, aber nur um ihn einem neuen Zwang zu unterwerfen. Michael ist durchaus nicht feige - das zeigt sein selbstbewusstes Auftreten gegenüber Hamal, als er diesem das gestohlene Handy zum Kauf anbietet und das zeigt auch sein entschlossener Schlag ins Gesicht seines Peinigers Erroll. Aber er ist als Einzelgänger in einem System, dessen Macht ausübende Parteien immer in Form von Bündnissen und Gangs auftreten, prinzipiell unterlegen. Michael hat keine Eingewöhnungszeit, sondern er wird von Errolls Gang umstandslos zum Opfer gemacht und erklärt. “Opfer” ist im Kiezslang ein Zentralbegriff, dessen besondere Bedeutung offensichtlich in seiner Umdeutung liegt. Der Begriff “Opfer” löst offenbar nicht mehr selbstverständlich Empfindungen aus, die von Empathie gekennzeichnet sind, sondern er wird benutzt, um sich der eigenen Identität zu versichern und alles abzuwehren, was mit dem Opfersein verbunden wird: Schwäche, Verluste, Ängste, Versagen, eben “looser” [sic! ] zu sein oder zu werden. Die Benutzung des Wortes Eckhard Pabst 380 “Opfer” als Schimpfwort ist Ausdruck einer enormen und unbewussten Angst vor der Opferrolle und des unbewussten Zwanges, alles, was mit ihr zu tun hat, aus der Entwicklung männlicher Identität zu verbannen. […] der Versuch, männliche Identität auf diese Weise herzustellen und zu bewahren, stärkt nicht nur die Aufrechterhaltung des Systems männlicher Herrschaft, sondern impliziert langfristig eine weitere Schwächung der Position von Opfern: Nicht Empathie ist gefragt, sondern Abgrenzung vor dem Hintergrund der Angst, selbst zum Opfer zu werden. (Voß 2008: 58) Die in diesem Zitat enthaltenen psychologischen und sozial-psychiatrischen Befunde sollen hier nicht näher diskutiert werden; aus semiotischer Perspektive erscheint mir hier vor allem das differenzlogische Kalkül der Begriffsbildung relevant, das dem Terminus “Opfer” seine Funktion zuweist: Sein Gegenüber als “Opfer” zu bezeichnen, heißt also, sich selbst zum “Nicht-Opfer” zu erklären. Michaels Status als Unterworfener ist systemisch notwendig, insofern er die Gegenseite von Errolls eigenem Status repräsentiert. Der Überfall auf Michael weist in diesem Sinne mehrere Ebenen auf: Eine erste der unmittelbaren physischen Gewaltanwendung, die einer ganz konkreten Unterwerfung entspricht; eine zweite der Signifizierung als “Opfer”, die ihn klassifiziert, damit entindividualisiert und also ins Symbolsystem des Raumes einträgt; eine dritte Ebene ist die der Mediatisierung dieses Überfalls zum Zwecke einer dann sekundären Auswertung (vgl. unten Kap. 5.). Durch die erlittene Gewalt ist Michael nun bezeichnet: Ohne Schuhe, mit lädierter Nase und vollgeblutetem T-Shirt geht er durch die Straßen. Damit trägt er ähnliche Male des Misshandelt- und Unterworfenseins wie z.B. die Mitschülerin, die in der Klasse neben ihm sitzt. Die Welt der Jugendlichen ist in diesem Film strukturiert durch auffällige Signifikanzen: Die Opfer tragen Zeichen erlittener Gewalt, die Nicht-Opfer zeichnen sich durch ihr mehr oder minder dominantes Auftreten als die Machthaber aus. Der Körper ist Zeichenträger, die Blessur bzw. die ausgestellte Unverwundetheit wenn nicht gar Unverwundbarkeit bezeichnen den Status der Person. 4. Machtstrategien 1: Raumkontrolle Im Folgenden ist auf zwei Aspekte einzugehen, durch die sich Errolls Machtgebaren auszeichnet: Zum ersten ist dies eine besondere Raummacht, die Erroll und seine Gang einnehmen. Diese Kontrolle des Raumes verdankt sich einer gezielten Mise-en-Scène der filmischen Vermittlung, die dem Rezipienten zwar Überblicke über den Bildraum gewährt, gleichwohl aber die Sphäre unmittelbar außerhalb des aktuell präsentierten Bildraumes zur Quelle der Gefahr für Michael werden lässt. Dies wird deutlich im ersten Angriff von Errolls Gang auf Michael (0: 10: 20): Während Michael die Hermannstraße entlanggeht, dringen seine Angreifer ohne Vorankündigung aus dem Off ins Bild und stoßen ihn in eine Tordurchfahrt, wo sie ihn verprügeln und demütigen. Damit ist der unmittelbar erfahrbare Bildraum hochgradig destabilisiert: Der Blick in den städtischen Außenraum garantiert keinen Überblick, das Gesichtsfeld erfasst nicht die Quellen der Bedrohung, die Gefährdung wird dieserart allgegenwärtig. Eben hierin liegt ein besonderes Merkmal der Straße, das bereits oben angedeutet wurde und hierin liegt für Michael das fortwährende Risiko begründet, Erroll in die Fänge zu laufen. Erroll und seine Schergen sind überall und jeder öffentliche Raum bietet genügend Hinterhalte, aus denen heraus Erroll hervortreten und in die man umgekehrt Michael hineintreiben kann, um ihm ungestört Gewalt anzutun. Diese Strategie wendet der Film auch im zweiten Überfall Errolls auf Michael an (0: 46: 20): Michael kommt soeben vom Polizeirevier zurück. Da die Polizei inzwischen in Im Reich von Handycam und Baseballkeule 381 Abb. 5: Errolls Bande überfällt Michael das zweite Mal; rechts im Hintergrund hält jemand ein Handy und filmt die Szene. Sachen Einbruch bei Dr. Peters ermittelt, musste er als ehemaliger Mitbewohner der Villa seine Fingerabdrücke abgeben. Auf dem Heimweg fangen ihn Erroll und seine Schläger ab. Auch in dieser Sequenz herrscht ein Inszenierungsprinzip, das den Hinterhalt, aus dem Errolls Überfall erfolgt, nicht mit den Bedingungen der Architektur begründet, sondern Erroll gleichsam eine Omnipräsenz im Off zugesteht, aus dem heraus er jederzeit angreifen kann. Wie schon in der ersten Beispielsequenz ist Erroll also wieder mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Zur Raumbeherrschung Errolls trägt dann weiterhin bei, dass er und seine Gang sich geschickt an Schlüsselpositionen postieren - in der Schule etwa auf einem Wendepodest der Treppe oder im Verbindungsflur zwischen zwei Korridoren. Hier muss jeder vorbei, hier kann er jeden abfangen. Als Michael, der Empfehlung des Hausmeisters folgend, der nächsten Konfrontation nicht ausweicht, sondern sich ihr stellt, um Erroll mit einem gezielten Schlag auszuschalten - “Schnapp dir gleich den Anführer (…), und ich schwör Dir, der kippt um wie ? n Baum und Du hast ein Problem weniger” (0: 46: 20) -, in dieser Sequenz nun, die auf den Aussichtsplattformen auf dem Flakturm im Humboldthain angesiedelt ist, scheint Errolls Raummacht tatsächlich gebrochen. Er erscheint nicht plötzlich und unvorbereitet aus dem Off heraus, sondern biegt in weiter Distanz um die Ecke (0: 48: 05); im Aufeinanderzugehen hat Michael genügend Zeit, seinen Faustschlag vorzubereiten, und tatsächlich kann er seinen Kontrahenten durch einen beherzten Schlag auf die Nase niederstrecken. Dieser Startvorteil aber ist schnell verspielt; nun scheint er nicht “ein Problem weniger” zu haben, sondern eines mehr. Hysterisch schreiend, gibt Erroll seinen Helfern Anweisung, Michael zu halten, während er selbst ein Messer zieht; in diesem Moment betreten Hamals Schergen die Szene, in Deus-exmachina-Manier von oben kommend. 6 Jetzt sind sie es, die absolute Raummacht besitzen, die plötzlich aus dem Hintergrund auftauchen - als ob sie, die einen neuen Drogenkurier brauchen und Michael bereits in die engere Wahl gezogen haben, nur auf diese Gelegenheit gewartet hätten, die sie dann dazu nutzen können, Michael in ihre Abhängigkeit zu bringen. 5. Machtstrategien 2: Mediatisierung der Gewalt Der zweite Aspekt in Errolls Machtgebaren ist die bereits eingangs angesprochene Mediatisierung seiner Handlungen. Es fällt auf, dass bei jedem der überlegt durchgeführten Angriffe Errolls irgendjemand aus seiner Gang die Aktionen mit dem Handy filmt (vgl. Abb. 5). Diese Filme erfüllen im Handlungsgeschehen klare Funktionen: Als Michael wenige Tage nach dem ersten Überfall Erroll die geforderten 50 Euro zahlen will, erklärt dieser ihm, dass er aufgrund der Verspätung Zinsen erheben müsste. Michael hat einen neuen Betrag zu entrichten und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, zeigt er Michael eines seiner Eckhard Pabst 382 Abb. 6a: Erroll zeigt Michael ein Handyvideo. Abb. 6b: Detail aus Abb. 6a: Handyvideo Videos (vgl. Abb. 6a) und verleiht diesem Gewaltzeichen mit der entsprechenden Drohung Nachdruck: “Man, guck hin! Das passiert auch mit Dir, wenn Du nicht morgen 50 Euro bringst, verstehst Du? Morgen 50 Euro, du Penner! ” (0: 24: 30) Das Video vergegenwärtigt demjenigen, dem man es zeigt, die Folgen, die es haben wird, wenn er den gestellten Forderungen nicht nachkommt. Die konservierte Gewalttat an einem Opfer wird zum Zeichen für Kommendes, sie weist damit über sich als Einzeltat hinaus auf weitere Tatoptionen und repräsentiert paradigmatisch Gewalt. Das Opfer, dessen Peinigung der Film festhält, wird zur Platzhalterfigur für künftige Opfer, zum Signifikanten also nicht bloß eines Individuums, sondern einer Klasse von Individuen, nämlich aller potenziellen Opfer. Dazu trägt bei, dass das aktuelle, individuelle Opfer auf dem Film, das von Errolls Gang zusammengeschlagen wird, nicht eindeutig zu erkennen ist. Die Gesichtszüge verschwimmen aufgrund der Bewegungsunschärfe und der geringen Auflösung. Mehr, als dass ein Mensch geschlagen wird, ist im Grunde nicht zu erkennen (vgl. Abb. 6b). Dem Subjekt ist im Abbildungsprozess seine Individualität genommen. Sie ist durch diese Form der Mediatisierung gleichsam zur Verfügungsmasse der Peiniger geworden, die ja noch wissen, wen sie da auf dem Video verprügeln. Für den einzuschüchternden Beobachter ist bloß die Tat als solche und damit eben die Bereitschaft zu weiteren Nachfolgetaten zu erkennen. Zwar muss dieser mediatisierten Form von Gewalt eine konkret erfolgte Gewalt vorausgegangen sein - man kann nur filmen, was sich in einer vorfilmischen Realität zuträgt (Die Möglichkeit, dass diese Filme auf der Handlungsebene bloß inszeniert sind, wird durch die innerfilmischen Umgangsweisen mit den Handyfilmen ausgeschlossen). Der Spielfilm K NALLHART jedoch kehrt diese Systematik auf seiner Discoursebene um. Denn bevor es zur ersten physischen Gewalttat kommt, präsentiert der Film bereits eine mediatisierte Gewalttat. Dies ist der erste Auftritt Errolls im Film: Die Szene spielt auf dem Wendepodest der Schultreppe, wo sich Erroll und seine Gang postiert haben; während sie das Video auf dem Handy ansehen, beobachten (um nicht zu sagen: kontrollieren) sie gleichzeitig die vorbeiströmenden Schüler (0: 09: 31). Aus der Art und Weise, wie der Spielfilm diesen ersten Handyfilm inszeniert, lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Einerseits ist der Handyfilm integrierendes Kernelement der Gang. Die Jungs stehen um den winzigen Bildschirm des Handys herum und starren mit dem Ausdruck Im Reich von Handycam und Baseballkeule 383 Abb. 3: Erroll (2. von links) und seine Gang auf der Treppe im Schulgebäude beim Betrachten eines Handyvideos Abb. 4: Michael wird in die Mitte von Errolls Bande gestoßen der Gebanntheit, des Amüsements und der Zustimmung auf die repräsentierten Ereignisse, deren Urheber und Akteure sie sind (vgl. Abb. 3). Die entindividualisierte Repräsentation wird zur abstrakten Formel des Gruppensinns, der mittels des jederzeit verfügbaren Handyfilms wie eine symbolische Kernhandlung, über die sich die Gruppe definiert, kollektiv vollzogen werden kann. Wenn aber die symbolisch-integrierende Kernhandlung der Gruppe mittels eines mediatisierten Gewaltaktes vollzogen wird, deren Ergebnis auch immer die Anonymisierung und Entindividualisierung des Opfers ist, dann liegt die Annahme nahe, dass das abstrakte Bild mit einer neuen leidenden Individualität aufgefüllt werden muss, um die Aktualität der Bedeutung zu gewährleisten. Diesem bloß abstrakten, zeichenhaften Akt wird also wieder ein physisch-konkreter folgen müssen, womit dann ein sich stets fortsetzender Kreislauf konkreter Gewaltakte und seiner medialen Abbilder in Gang gesetzt wird. Aus dieser Sequenz wird dann auch zweitens deutlich, warum sich die Gruppe gerade Michael aussucht: Wenn auf der Handlungsebene seine augenscheinliche Harmlosigkeit, sein gepflegtes Äußeres, sein braves Gesicht und sein vermeintlicher ökonomischer Wohlstand hinreichend Gründe für Gewalttaten geben mögen, wird auf der Discoursebene diese Wahl delegiert, weil Michael durch die unglückliche Rempelei genau an die Stelle des anonymen Abbildes gestoßen wird (vgl. Abb. 4). 7 Michael gerät damit nicht nur räumlich in die Nähe der Gang, indem er ihren privilegierten Platz an der strategisch wichtigen Stelle auf der Treppe betritt, er betritt auch ihr symbolisches Refugium. Michael stört die Rezeptionsgemeinschaft, er verdrängt geradezu - wenn auch unfreiwillig - ihr zentrales Konstitutions-Objekt und setzt sich an dessen Stelle. Insofern scheint es dann nur konsequent, wenn die Gruppe alle Anstalten trifft, den Störer in einem ersten Schritt in den Status des Opfers und simultan dazu für die Sekundärverwertung in den Status eines abstrakten, entindividualisierten Zeichens zu überführen. Damit korrespondiert dann im weiteren Fortgang der Handlung, dass Erroll ihm im Zuge des zweiten Überfalls einen Eimer über den Kopf stülpen lässt (0: 43: 42) - diese Geste beinhaltet nichts anderes als eben die Tilgung des Gesichtes des Opfers und damit die erste, radikalste Tilgung der Individualität. Der Film führt damit vor, dass die zeichenhafte Gewaltrepräsentation eine Konkretisierung der Gewalt nach sich zieht, die dann ihrerseits wieder in zeichenhaft-abstrakte Konstruktionen transformiert wird. Eckhard Pabst 384 Abb. 9: Crille demonstriert an seinem Bruder Matze Fernfahreralltag in Russland Abb. 8: Kleinkind mit Spielzeuggewehr Das zeigt sich in der schlimmstmöglichen Wendung des Films, nämlich der erzwungenen Ermordung Errolls mit Michael als Vollstrecker. Dieser Tötungsakt ist auf der Handlungsebene eine konkrete Tat - ein Kopfschuss aus nächster Nähe mit Todesfolge. Was für Erroll also eine unmittelbar physische Konsequenz hat, ist für den Dealer Hamal und seine Entourage jedoch nur ein symbolischer Akt, mit dem Michael seine Loyalität beweist: “Es geht hier um eine Geste” (1: 21: 38), sagt er zu Michael. Irgendwo fährt jetzt ein S-Bahn-Zug durch die Stadt mit einem Schülerrucksack auf dem Dach, in dem sich 80.000 Euro Drogengeld und Hinweise auf den Besitzer des Rucksackes finden. Dadurch dass er ihn zur Ermordung Errolls erpresst, glaubt Hamal sich für den Fall abzusichern, dass der Rucksack gefunden wird und somit eine Beweisspur zu seiner Organisation gelegt sein könnte. Der Todesschuss ist also nicht der Vollzug einer Unterwelt-internen Gerichtsbarkeit an dem Störenfried Erroll, sondern vielmehr ein Initiationsritus des Neuzuganges Michael. So erklärt Hamal dem um Gnade flehenden Erroll denn auch: “Du denkst, es geht um Geld, hm? Geld hat damit nichts zu tun. Du bist eine Schande. Und um Dich geht es hier schon lange nicht mehr. Du kannst nur noch beten” (1: 23: 35). Damit wohnt der Erschießung Errolls ein ähnliches Moment inne wie Errolls Opfermisshandlungen, nämlich eine deutliche Entindividualisierung des Betroffenen, eine Entkopplung von Zeichenbedeutung und Zeichenträger. Interessanter Weise geht diesem auf der Handlungsebene konkreten Tötungstakt ein mediatisierter Tötungsakt voraus, und zwar in Form eines Aufklärungsposters im Klassenraum: Dort hängen hinter den davon sichtlich nicht beeindruckten Schülern Plakate, die mit als Zitaten gekennzeichneten Aussagen offensichtlich Involvierter über Zusammenhänge von Gewaltanwendung aufklären wollen. “Ich musste töten…” (Abb. 7, 0: 07: 29), lautet eine dieser Bildunterschriften. In diesem Fall sorgt eine Umgebung, in der mediatisierte Gewaltdarstellungen kursieren, jedoch nicht dafür, Gegenentwürfe zu Gewalt zu entwickeln, sondern nur zu ihrer Konkretisierung. Und es finden sich in dem Film viele weitere Formen medial vorgestellter Formen von Gewaltanwendung, die - vor dem Hintergrund der hier verhandelten These - ihrer eigenen konkreten Selbsterfüllung vorausgehen: Erwähnt seien hier nur der spielerische Umgang mit Schusswaffen (vgl. Abb. 8 und 9), der offenbar früh eingeübt wird, oder die drogenabhängige Mutter eines Kleinkindes, die von ihren Dealern abgewiesen wird, da sie den aktuellen Tagespreis für ihren täglichen Drogenbedarf nicht zahlen kann. Im Reich von Handycam und Baseballkeule 385 Abb. 10: drogenabhängige Mutter mit Tätowierung Mit ihrer an ein Skelett erinnernden Ganzkörpertätowierung (vgl. Abb. 10) erscheint sie wie ein Todesengel oder gar der Tod selbst, der hier bereits sein nächstes Opfer, nämlich das ihrer Obhut anvertraute Baby, im Kinderwagen vor sich herschiebt. 8 6. Mediatisierte Gewalt, konkrete Gewalt - ein Kreislauf Wenn sich nun die Handlungen Errolls und seiner Gang einerseits und andererseits die Ermordung Errolls in genau dem einen Punkt ähneln, dass es sich um Gewalttaten handelt, die medial vorgeprägt waren und denen nun ihre konkretisierende Realisierung nachfolgt, dann setzt der Film diese Struktur offensichtlich als universell, womit sich dann ein ebenso universeller, medienkritischer Ansatz ergibt: Medien generieren Wirklichkeit, indem der Konsum medialer Produkte zu einer außerhalb von Medien realisierten Kopie der bloß medial zeichenhaft dargestellten Wirklichkeit anregt. Eine Begründung, warum mediatisierte Gewalt immer ihre Konkretisierung nach sich zieht, liefert der Film nicht. Dass die agierenden Jugendlichen durch unkritischen Konsum von Gewaltdarstellungen in diversen Medien an Gewalt gewöhnt sind und sie gleichsam notwendig als alternativlose soziale Praxis verinnerlicht haben, mag eine mögliche Schlussfolgerung sein, die der Film aber nicht grundsätzlich privilegiert: K NALLHART lässt sich kaum als Plädoyer gegen Medienkonsum lesen, dazu ist das hier eröffnete Feld sozialer Konfliktlagen zu offen und zu komplex, dazu artikuliert der Film für die konkreten Gewalttaten zu viele Begleitumstände sozialer Verwahrlosung und Verelendung. In diesem Sinne liegt seine Überzeugungskraft vielleicht gerade darin, bloß einen nach vielen Seiten offenen Ausschnitt einer sozialen Realität größeren Maßstabes zu zeigen. Als Unterbrechungsmöglichkeit der fatalen Kreisläufe von mediatisierter und konkreter Gewalt setzt der Film ein - wenn auch zu spät einsetzendes - Verantwortungsgefühl. Das aber heißt, dass das Subjekt zu einer gleichsam naiven Haltung den medialen Zeichen Eckhard Pabst 386 gegenüber zurückkehrt, indem das Subjekt die ursprünglichen Bedeutungen - und vor allem Referenzialisierungen - der Zeichen wieder anerkennt: Die gepeinigte Kreatur ist nicht bloß Zeichen für die Macht des Peinigers, sondern eben auch ein konkretes gequältes Individuum. So zumindest könnte man die Schlussszene der Binnenhandlung lesen: Michael steht nach dem abgegebenen Todesschuss nicht bloß vor dem leblosen Beweis seiner Treue zu seinem Dienstherren, sondern vor einem toten Menschen, den er, nachdem der Dealertrupp ohne ihn abgefahren ist, mit seiner Jacke zur letzten Ruhe bettet. Wenn Hamal den noch lebenden Erroll zum bloßen Objekt in einem Machtspiel erklärte, versetzt Michael den Erschossenen jetzt mit dieser um Würde bemühten Geste rückwirkend in den Status einer Person (1: 29: 06). Im 5. Abschnitt dieser Ausführungen wurde dargelegt, dass der Film auf der Discoursebene die handlungslogische Reihenfolge von konkreter Gewalt und ihrer Mediatisierung umkehrt. Im großen Bogen der Filmdramaturgie ist diese Systematik allerdings gebrochen, um nicht zu sagen: Die Anordnung von konkretisierter und mediatisierter Gewalt entspricht wieder ihrer originären Reihenfolge. Denn in der Erzählgegenwart - dem Geständnis, das Michael auf der Polizeiwache ablegt - sind die geschilderten Gewalttaten bereits vollzogen. Michaels Geständnis, also die Mediatisierung des Films, folgt den konkreten Ereignissen nach. Seine Bewertung der Erlebnisse als etwas im justiziablen Rahmen Mitzuteilendes führen überhaupt erst dazu, dass er die Ereignisse erzählt, also mediatisiert. Der Bericht über Gewalt ist funktionalisiert zu einem Diskurs über Gewalt zum Zwecke ihrer Sanktionierung; die Mediatisierung dient hier erstmalig im Film nicht mehr einer auf Machterhaltung abzielenden Herrschaftsstrategie, sondern gerade deren Überwindung. Die Rahmenstruktur der filmischen Narration bedient einerseits fatalistische Implikationen, weil Michael auf der Discoursebene bereits zum geständigen Täter geworden ist, bevor er überhaupt aus seinem Zehlendorfer Kokon vertrieben wurde; der katastrophale Endpunkt von Michaels Bewegung erscheint determiniert. Andererseits aber überwindet das Subjekt das im Raum Neukölln herrschende Regelsystem, indem es sich schließlich einer übergeordneten Norminstanz unterwirft. Ein Teilschritt auf diesem Weg ist die Etablierung einer Umgangsweise mit Zeichen der Gewalt, die den Rang der Taten als Verstöße gegen Würde und Normen (wieder) anerkennen. Literaturverzeichnis Balci, Güner Yasemin 2008: Arabboy. 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Gedreht wurde K NALLHART an Berliner Originalschauplätzen in Zehlendorf, Neukölln, Kreuzberg und Wedding. 2 Ungefiltert insofern, als der Film ungewöhnlich stark ausgeprägte Klischeevorstellungen (z.B. hinsichtlich der Involviertheit von Türken und Arabern in Drogen- und Gewaltdelikte) bedient und diese nicht durch dramaturgische Kunstgriffe (Stichwort ‘Happy End’) zu überwinden versucht. 3 Der Film wird auf Filmplakaten und DVD-Covers als “Großstadtfilm” lanciert. 4 Mittlerweile ist Berlin-Neukölln im ästhetischen Diskurs zur vielbemühten Projektionsfläche für Narrationen geworden, die sich mit eskalierender Jugendgewalt und Integrationsproblematiken befassen. Genannt seien hier neben K NALLHART (Roman 2004, Film 2006) der Spielfilm J ARGO (D 2004, Maria Solrun) und die Texte Arabboy (2008), Nord Neukölln. Frontbericht aus dem Klassenzimmer (2008), Der große Bruder von Neukölln (2008) und die Glossensammlung Neulich in Neukölln (2008). Der im Zusammenhang mit K NALLHART oft zum Vergleich herangezogene TV-Film W UT (WDR 2007, Züli Aldað) spielt übrigens in Neuköllns Nachbarbezirk Berlin-Tempelhof. 5 Auf die Einführung zentraler Begriffe zur semantischen Raumordnung wird hier verzichtet. Siehe dazu grundlegend Krah (2006: 292f.) mit Bezug auf Lotman 1972 und Renner 1983 u. 1987. Zur Anwendung der Begriffe in filmanalytischen Zusammenhängen siehe Kanzog (1991: 28f.) und Pabst 2009. 6 Für diejenigen Rezipienten, die in dem Handlungsschauplatz den Flakturm im Berliner Humboldthain als Drehort wiedererkennen, ist die Lesart der aus dem Himmel niedersteigenden Retter besonders einsichtig, kommen Barut und seine Kumpane doch von der höchsten Plattform des Bunkers herunter - über ihnen ist buchstäblich nur noch der Himmel. Auf der Handlungsebene ist die Wahl des Schauplatzes dagegen wenig einleuchtend, weil nicht klar wird, warum Michael, Crille und Matze im einigermaßen weit von Neukölln entfernten Wedding auf Erroll treffen und warum nun auch noch Barut und sein Trupp sich hier aufhalten. Diese Fragestellung allerdings ist unzulässig, da sie den filmischen Raum mit dem realen Berlin gleichsetzt. 7 Genau genommen wird Michael von Tiger, einem Gangmitglied, angerempelt. Damit wird der Anlass dafür, dass Michael in Errolls Aufmerksamkeit gerät, letztlich von der Gang selbst gestiftet. So zeichnet sich ein Szenario ab, in dem Errolls Bande die ‘Provokationen’, auf die sie dann reagieren, selbst inszeniert. Dass man sich Michael aber gezielt aussucht, lässt sich nicht belegen. Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, dass Tiger, der etwas verspätet zu seiner Gruppe eilt, gleichgültig in Kauf nimmt, ob und wen er auf seinem Weg zum Treffpunkt anrempelt. Dass sich dieserart neue ‘Opfer’ produzieren lassen, ist möglicherweise ein intendierter Nebeneffekt seiner insgesamt aggressiv-raumgreifenden Attitüde. 8 Hier ist auch an den im 2. Kapitel erwähnten Umstand zu erinnern, dass Michael sich in Dr. Peters Villa vornehmlich mit Produkten der Unterhaltungselektronik beschäftigt hat; wenn hier die Vorstellung nahe liegt, dass dazu auch ein wie auch immer zu quantifizierendes Maß an Computerspielen gewalthaltigen Inhalts zählte, strebt also auch diese zunächst nur medial präsentierte Gewalt ihrer Konkretisierung im Alltag zu. Seite 388 vakat Das konkrete Hineinschneiden: Eli Roths Hostel und der zeitgenössische Horrorfilm Christian Vittrup Im Kontext einer knappen Diskussion relevanter Positionen des Horrorfilmgenres steht Eli Roths Spielfilm H OSTEL als Repräsentant spezifischer Tendenzen des zeitgenössischen amerikanischen Horrorfilms im Mittelpunkt des folgenden Artikels. H OSTEL erzählt von einer allgegenwärtigen Lust an gewalttätiger Dominanz und entgrenztem Handeln in einer als ideologisch instabil gezeichneten Welt. Mit Rückgriff auf den Film umgebende Paratexte wie Filmtrailer und Plakatmotive wird dargestellt, dass H OSTEL als selbstreflexiver Horrorfilm gelesen werden kann, der das Genre und die Position von Gewalt im Horrorfilm kommentiert. Abschließend wird ein Beispiel der Inszenierung körperlicher Gewalt im Detail analysiert und bezüglich etablierter Genrekonventionen diskutiert. The following essay focuses on Eli Roth’s feature film H OSTEL as a representative example of recent contributions to the horror film genre. A look on conventions and key features of the contemporary horror film precedes the analysis. H OSTEL deals with the topic of an omnipresent lust for violent domination and generally uninhibited behaviour in a world presented as morally highly unstable. In reference to accompanying texts (trailer, posters) surrounding the film H OSTEL is further shown to be commenting on genre conventions and the social function of the horror film. With regard to specific details of one sequence of torture the representation of violence is discussed in the context of its tradition and position within the horror genre. 1. Einleitung Im Zuge einer Beschäftigung mit semiotisierter und narrativ funktionalisierter Gewalt und Sexualität führt im Kontext der Filmwissenschaft kein Weg am Genre des Horrorfilms vorbei. Im Horrorfilm ist Gewalt das zentrale Thema: Das Genre erzählt sowohl von abstrakten, ideologisch aufgeladenen Konflikten als auch von expliziten und oftmals sexualisierten gewalttätigen Übergriffen. In Bezug auf aktuelle Filme des Genres - wie den Remakes T HE H ILLS H AVE E YES (USA 2006, Alexandre Aja) und T HE T EXAS C HAINSAW M ASSACRE (USA 2003, Marcus Nispel) oder Filmen wie S AW (USA 2004, James Wan) und H OSTEL (USA 2005, Eli Roth) - wird das Thema der Gewalt und ihrer Darstellung sowohl im journalistischen als auch im wissenschaftlichen Diskurs wieder hochfrequent diskutiert. Im Folgenden werde ich mich auf eine exemplarische Interpretation und Diskussion des Films H OSTEL konzentrieren, der einer der größeren kommerziellen Erfolge des Horrorfilmgenres der letzten Jahre war und schon zeitnah zu seinem Erscheinen als einflussreicher Repräsentant eines bezüglich der Darstellung von Gewalt neo-expliziten Horrorfilm-Subgenres identifiziert wurde, das in entsprechenden Diskussionen zumeist unter dem Begriff K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 32 (2009) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Christian Vittrup 390 torture-porn geläufig ist. 1 Bei lediglich etwa viereinhalb Millionen Dollar Produktionskosten spielte der Film weltweit mehr als 80 Millionen Dollar alleine an den Kinokassen ein und konnte sich zwischenzeitlich sogar den ersten Platz der amerikanischen Kinohitliste sichern. 2 Ein Sequel wurde zwei Jahre später veröffentlicht (H OSTEL : P ART II, USA 2007, Eli Roth). Ausschlaggebend für diesen Erfolg sind sicherlich zwei Faktoren der paratextuellen Positionierung des Films, die ihm von Beginn an eine gesteigerte Aufmerksamkeit bescherten und ihn aus der Masse veröffentlichter Genrefilme herausstechen ließen: Zum einen der Name des beteiligten Produzenten Quentin Tarantino, der in jeder Pressemeldung, auf jedem Plakat, in jedem Teaser und in jedem Trailer als eine Art Pate des Projektes lanciert wurde, zum anderen die herausfordernde Ankündigung besonders intensiv und radikal inszenierter Gewalt, die die Bewerbung des Films dominiert. 3 Tatsächlich erzählt H OSTEL nicht nur auf der Handlungsebene von extremen Ausprägungen sadistischer Gewalt, der Film thematisiert auf einer selbstreflexiven Ebene das Genre des Horrorfilms und die Position von Gewalt und die Darstellung von Gewalt innerhalb dieses Genres. 1.1 Strukturkonventionen des Horrorfilmgenres Typische Horrorfilmnarrationen erzählen von einer in ihrer extremen Ausprägung hochsignifikanten Verletzung von Ordnung und kontrastieren einen Zustand der Normalität und relativen Sicherheit mit einem resultierenden Zustand der Instabilität und Gefahr. Im Sinne Lotmans kann diese Ordnungsverletzung als das zentrale narrative Ereignis des Horrorfilms beschrieben werden (vgl. Lotman 1972 und Renner 1983): Exemplarische Weltausschnitte, die zumeist auf Basisannahmen und gesellschaftlichen Bedingungen der außersprachlichen Wirklichkeit referieren, repräsentieren im Horrorfilm einen Raum der Normalität. Durch das Auftreten einer monströsen Größe, einer Figuration des Undenkbaren, die als signifikant andersartig und zugleich als horrific und bedrohlich gezeichnet wird, entsteht eine Inkonsistenz, die als ereignishafte Ordnungsverletzung beschrieben werden kann. Trotz des durchaus charakteristischen Spiels mit Deutungsmöglichkeiten auf der Discoursebene wird die Realität selbst der phantastischsten monströsen Größe nahezu generell bestätigt. Dadurch wird zwangsläufig deutlich, dass das etablierte System der Normalität nicht alle Bereiche der Realität integriert. Die implizit behauptete Deckungsgleichheit von Normalität und Realität wird durch die Existenz des Anderen als Systemideologie entlarvt. Im Horrorfilm stellt die monströse Größe nicht nur eine direkte letale Gefahr dar, sie ist in dieser Hinsicht immer auch eine ideologische Bedrohung, zeugt sie doch von verdrängten Elementen, die sich akut als nicht zu leugnende Realität zurückmelden. Es entsteht ein Raum der Gefahr, der auf einer abstrakten Ebene durch die umfassende Instabilität etablierter ideologischer Positionen bestimmt ist. Die Realität des Nicht-Normkonformen bedeutet die Realität normativer Willkür. Je eindeutiger die Inszenierung dieser Instabilität, desto paranoider der Horrorfilm, um ein Schlagwort des britischen Filmwissenschaftlers Andrew Tudor abzuwandeln, das dieser im Zuge einer paradigmatischen Abgrenzung des modernen Horrorfilms von einer klassischen Ausprägung des Genres verwendet (vgl. Tudor 1989 und Tudor 2002). Die nicht-normkonforme monströse Größe ist in diesem Sinne vorrangig als Strukturelement zu begreifen. Nicht allein die spezifische Markierung seiner Andersartigkeit durch phantastische Merkmale - man denke nur an die Vielzahl von Vampiren, Werwölfen, Geistern oder Riesenameisen, die das Horrorkino bevölkern - auch die Unterscheidung Das konkrete Heineinschneiden 391 zwischen phantastischen und nicht-phantastischen Störern der Ordnung ist auf dieser Abstraktionsebene zunächst zweitrangig. Ob sich die jeweiligen Vertreter der Normalität mit Wolfsmenschen wie in T HE W OLF M AN (USA 1941, George Waggner), mit lebenden Toten wie in N IGHT O F T HE L IVING D EAD (USA 1968, George A. Romero), mit rächenden Geistern wie in T HE R ING (USA 2002, Gore Verbinski) oder aber mit psychopathischen, unklar motivierten Teenagern wie in S CREAM (USA 1996, Wes Craven) konfrontiert sehen, macht zunächst keinen prinzipiellen Unterschied. Das heißt natürlich nicht, dass das paradigmatische Ersetzen einer Riesenspinne mit einem mordlustigen boyfriend keine Konsequenzen mit sich bringt. Vereinfacht lassen sich zwei Extreme unterscheiden, zwischen denen das moderne Horrorfilmgenre heute oszilliert. Erzählt der phantastische Horrorfilm - wie etwa D AWN OF THE D EAD (USA/ J/ F 2005, Zakk Snyder) - von der Bedrohung einer Gemeinschaft oder gar der ganzen Menschheit, hat der nicht-phantastische Horrorfilm eher die Verunsicherung des Privaten zum Thema. Auch hier jedoch werden Weltbilder als instabile ideologische Konstrukte entlarvt. So ist es im Extremfall nicht der Fremde - wie etwa in W OLF C REEK (AU 2005, Greg McLean) oder W RONG T URN (USA/ CDN/ D 2003, Rob Schmidt) -, sondern der Nächste, der zur Bedrohung wird, derjenige also, dessen Enttarnung als pathologischer Serienkiller - wie etwa in S CREAM , U RBAN L EGEND (USA/ F 1998, Jamie Blanks) oder H AUTE T ENSION (F 2003, Alexandre Aja) - zunächst undenkbar war. Hinsichtlich dieser tendenziellen Kategorien ist H OSTEL als eine Art Bindeglied der Extreme zu bewerten: Als nicht-phantastischer Horrorfilm erzählt er von einer weltumfassenden Verschwörung mordender ‘Jedermänner’ und denkt gleichzeitig das für den modernen Horrorfilm zentrale Thema des monströsen Nächsten weiter, indem er den zentralen Protagonisten mit Schrecken die eigenen monströsen Potentiale entdecken lässt. Neben Rückgriffen auf genrespezifische Motiv- und Bildarchive unterscheiden eine Vielzahl inszenatorischer Konventionen, die mit dem oben beschriebenen narrativen Modell korrelieren, den Horrorfilm von anderen Genres wie etwa dem Kriminalfilm. Der Horrorfilm ist vor allem von Sequenzen dominiert, in denen die schockierende Konfrontation mit der Realität des Undenkbaren und Monströsen stets aufs Neue durchgespielt wird. Jedes Mal, wenn eine Figur um eine Ecke blickt und sich mit der Realität einer unvorstellbaren, tödlichen Bedrohung konfrontiert sieht, bildet der Horrorfilmtext seine narrative Makrostruktur pars pro toto ab. Das Hereinbrechen der monströsen Größe in die als realitätsumfassend konzipierte Normalität wird in solchen Sequenzen dabei häufig über die Inszenierung überwundener topographischer Grenzen illustriert. Insbesondere die Funktionalisierung von Filmarchitektur in diesem Zusammenhang, wie sie etwa von Eckhard Pabst 2000 analysiert wurde, ist sicherlich ein Charakteristikum des modernen Horrorfilms, der den abstrakten Zustand der Instabilität als umfassende Unsicherheit und Bedrohung über die Wiederholung vergleichbarer Sequenzen ins Zentrum des Erzählten rückt. 2. Hostel Als typischer Horrorfilm erzählt H OSTEL von der Konfrontation mit der Realität eines Undenkbaren: Zwei amerikanische Rucksacktouristen, Josh und Paxton, und ihr isländischer Bekannter Oli treffen nach einem gemeinsamen Bordellbesuch in Amsterdam auf Alexej, der ihnen empfiehlt, in die Slowakei zu reisen und die Herberge einer bestimmten Stadt aufzusuchen. Dort seien die schönsten und abenteuerlustigsten Frauen Europas anzutreffen. In Osteuropa angekommen, werden die Freunde getrennt und finden sich nacheinander in den Christian Vittrup 392 Händen von Folterknechten wieder, die sich als Kunden einer Firma namens Elite Hunting herausstellen, die zahlungskräftigen Klienten Folter- und Mordopfer vermittelt und die Herberge des Ortes zur Akquise dafür vorgesehener Personen funktionalisiert. Schockiert erkennt Paxton als letzter Überlebender der Gruppe, dass Menschen sich das Recht erkaufen, andere Menschen zu quälen und zu töten, dass gar eine weltumfassende verschwörerische Organisation Realität ist, die eben dies ermöglicht. Die Ordnung der Welt erscheint im Licht dieser Erkenntnis als hochgradig instabil. Jeder Mensch kann einer der Verschwörer sein, Unbeteiligte können jederzeit als Opfer in das System der sadistischen Organisation integriert werden. Dass die konkrete Konfrontation mit der Folterorganisation in Europa und dazu noch im Osten stattfindet, hat zum Kinostart vielerlei zumeist recht oberflächliche Interpretationen herausgefordert. Filmkritiker haben H OSTEL sowohl als Satire auf eine bestimmte Art amerikanischer Europatouristen als auch als Ausdruck spezifischer amerikanischer Ressentiments und allgemeiner Xenophobie gelesen. 4 Sicherlich ist das Europa des Films ein Raum der Gefahr, und sicherlich können sowohl satirische Seitenhiebe auf vermeintliche Eigenarten amerikanischer Reisender als auch eine Thematisierung spezifisch antiamerikanischer Aggressionen ausgemacht werden, eine auf diese Aspekte beschränkte Analyse verstellt jedoch den Blick auf den Kern des Erzählten - und damit auf die Elemente, die den Film letztlich interessant machen: Die fatalistische Perspektive, die H OSTEL auf die moralische Integrität auch der zentralen Protagonisten einnimmt und die dem Film inhärente selbstreflexive Diskussion des Horrorfilmgenres. 2.1 Monströse Potenziale Indem er Figuren beschreibt, die mit Lust entsprechende Grenzen überschreiten, erzählt H OSTEL von einer Allgegenwart antizivilisatorischer Reflexe. Die Mitglieder und Kunden der Folterorganisation sind als globalisierte Repräsentanten einer extremen Ausprägung dieses Primitivismus zu lesen, vor deren Hintergrund auch das Handeln der anderen Figuren betrachtet werden muss. Der Film erzählt im Einzelnen von einer Selbsterkenntnis der Hauptfigur Paxton in die eigenen monströsen Potenziale und seiner Hingabe an das Anti-Prinzip des lustgesteuerten, entgrenzten Handelns. Dies macht ihn letztlich von den monströsen Figuren der Folterer nicht mehr unterscheidbar. Ausgangspunkt dieser Interpretation ist die zweiteilige Struktur des Films, die in vielen Rezensionen als Kuriosum und Manko zur Sprache kam. Kritisiert wurde in diesem Zusammenhang, dass Eli Roth in seinem Film zunächst die voyeuristischen Bedürfnisse des jugendlichen Publikums ausführlich befriedigen würde, indem er eine ganze Armee nackter Brüste aufmarschieren lässt, bevor er im zweiten Teil des Films auf voyeuristische Erwartungen expliziter Gewaltdarstellungen eingeht. 5 Betrachtet man jedoch die spezifische Semantisierung und Inszenierung von Sexualität einerseits und Gewalt andererseits, wird deutlich, dass der Rezipient - man muss wohl sagen: doch wenig subtil - aufgefordert wird, Vergleiche anzustellen; nicht allein bezüglich der narrativen Abfolge von Zuständen, sondern auch bezüglich einer paradigmatischen Ersetzbarkeit des jeweils Dargestellten. So parallelisiert der Text durch die Mise-en-scène vieler Einstellungen sowie durch sich spiegelnde Dialoge explizit die Welt der Amsterdamer Kneipen und Bordelle zu Beginn des Films mit der Welt der Folterkammern, die den zweiten Teil des Films beherrscht. Während Oli und Paxton es kaum erwarten können, ein Bordell zu besuchen, äußert Josh Bedenken: “Paying to go into a room to do whatever you want to do to someone isn’t exactly Das konkrete Heineinschneiden 393 Abb. 1.1: Schuss: Ein Folterer und Kunde von Elite Hunting (links) und Paxton (rechts) in der Umkleidekabine der alten, verlassenen Fabrik a turn-on.” [“Dafür zu bezahlen, in ein Zimmer zu gehen und mit einem Menschen alles zu tun, wozu man Lust hat, ist nicht gerade verlockend.” Übersetzung d.V.] (00: 06: 57) Paxton und Oli jedoch genießen das Gefühl, über die Frauen des Bordells verfügen zu können. Sobald sich eine Möglichkeit ergibt, zählt für sie lediglich die Befriedigung der eigenen Lust. Der Film macht nicht allein in dieser Sequenz deutlich, dass die Reise nach Europa spezifisch als Reise in einen Freiraum konzipiert ist, in dem sich die jungen Touristen entgrenzter ausleben, als sie es zu Hause tun würden. Der Europatrip ist eine Lustreise, bestimmt von Drogenkonsum, Bordellbesuchen und Voyeurismus. Gegenläufig zu den Erwartungen genrekundiger Rezipienten, die in dem zurückhaltenden und nachdenklicheren ‘Final Girl’ Josh den prädestinierten letzten Überlebenden und zentralen Protagonisten eines typischen Horrorfilms erkennen, steht Paxton im letzten Drittel des Films als Hauptfigur im Mittelpunkt der Handlung. 6 Auf der Suche nach seinen verschollenen Freunden, die bereits Opfer der Folterorganisation geworden sind, wird er von seiner Zimmergenossin Svetlana auf ein altes Fabrikgelände geführt, wo er überwältigt wird und in der Hand der Folterknechte am eigenen Leib erfahren muss, was es bedeutet, wenn Menschen sich das Recht erkaufen, über andere zu verfügen. “I get a lot of money for you and that make you my bitch! ” [etwa: “Ich bekomme viel Geld für dich, und nun bist du meine Hure! ” (Übers. d.V.)] (00: 53: 49), ruft ihm Svetlana in gebrochenem Englisch zu, nachdem sie ihn an die Organisation verkauft hat. Im Gegensatz zu seinen Freunden kann Paxton seinen Peiniger im Folgenden überwältigen und aus der Folterkammer entkommen. Auf den einzelnen Stationen seiner Flucht wird er dabei in Kongruenz zu der Parallelisierung von Bordell und Folterkammer immer wieder mit den sadistischen Elite Hunting-Kunden assoziiert. Er legt die Schutzkleidung und Maske der Folterer an, wechselt im Umkleideraum in den Anzug eines Klienten und muss schließlich ganz und gar eine entsprechende Rolle spielen, als er sich dort mit einem Mann konfrontiert sieht, der sich gerade auf einen erkauften Mord vorbereitet. In dem sich zwangsläufig ergebenden Gespräch zwischen Paxton und diesem Folterkunden wird der Vergleich zwischen dem Handeln der Protagonisten zu Anfang des Films und dem Handeln der Folterer noch einmal explizit. Der Mann illustriert eine exemplarische Entwicklung: Er erzählt, dass er in jedem Bordell und jedem Stripclub der Welt gewesen sei und nun nach noch stärkeren Christian Vittrup 394 Abb. 1.2: Gegenschuss: Paxton und der Folterkunde in der Unkleidekabine Eindrücken suche. Wie die drei amerikanischen Rucksackreisenden zu Beginn des Films wird er als rastloser Sensationstourist gezeichnet, der nach immer extremeren Erfahrungen greift, um sich zu befriedigen. Paxton blickt während des Gesprächs mit dieser beispielhaften Figur quasi in sein eigenes, wenn auch leicht verzerrtes Spiegelbild, so dass sein angewiderter Gesichtsausdruck als Reaktion auf die enthüllten Zusammenhänge zugleich das schockierende Erkennen der eigenen Monstrosität indexikalisiert. Als eine Art Konjunktion ist in der Mitte des Films eine Sequenz eingefügt, die den Rezipienten auf eben diesen Moment der Selbsterkenntnis einstimmt. Voll Abscheu betrachten Paxton, Oli und Josh einen Mitreisenden, der seinen Salat mit den Fingern isst (und der sich später als einer der Folterkunden herausstellt). Der Film findet hier nicht allein einmal mehr ein Bild dafür, dass Figuren sich auf der Suche nach vermeintlich Natürlicherem und neuen Sensationen von gesellschaftlich-kulturellen Normen entfernen, die Sequenz entlarvt vor allem die Diskrepanz zwischen dem Anspruch, den die Hauptfiguren an andere Menschen haben, und ihrem eigenen Handeln: Eine kritische Selbstreflexion findet auf Seiten der jungen Männer offensichtlich nicht statt. Nachdem sie sich zu zweit eine Prostituierte geteilt, einer Domina, die ihren Freier halb totschlägt, zugesehen und wenige Minuten zuvor ihre nackten Hintern im Zugabteil fotografiert haben, ist es Ihnen unerträglich, jemanden ohne Besteck essen zu sehen. Nachdem er sich aus der Folterkammer befreit hat, muss sich Paxton gemäß der Handlungslogik immer wieder mit Gewalt durchsetzen, um zu entkommen, der letzte dargestellte Gewaltakt - der zudem ausführlicher inszeniert ist - erscheint jedoch anders motiviert und zieht dementsprechend andere interpretatorische Konsequenzen nach sich: Am örtlichen Bahnhof angekommen, kann Paxton unentdeckt einen Waggon besteigen und seinen Verfolgern entkommen. Als er in einem Großraumabteil einen Passagier als einen der Folterer identifiziert, gibt Paxton der Lust auf Rache impulsiv nach und ermordet den Mann auf einer Bahnhofstoilette. Die Bilder, mit denen dieser Rachemord inszeniert ist, machen noch einmal deutlich, dass Paxtons Handeln trotz aller Unterschiede mit dem mörderischen Sadismus der Folterer zu vergleichen ist. Die inszenatorische Annäherung an die Ikonographie der Folterknechte ist überdeutlich: Paxton kündigt sich mit der Visitenkarte der Organisation an, überfällt in dem Anzug einer der Verschwörer den in einer Kabine sitzenden Mann, schneidet diesem die Das konkrete Heineinschneiden 395 Abb. 2: Paxton und sein Opfer spiegeln sich verzerrt in der Spülung der Bahnhofstoilette. Abb. 3: Paxton ist im Anzug des Folterkunden am Ende des Films zum Täter geworden. Finger ab und ertränkt ihn in der Toilette. Alle relevanten Elemente der Inszenierung wurden in vorherigen Filmsequenzen sorgfältig eingeführt, der Zuschauer auf diesen Moment des Wiedererkennens bereits bezeugter Situationsmerkmale vorbereitet. Ebenfalls parallel zu einer früheren Foltersequenz, in der Täter und Opfer in einem zerbrochenen Spiegel zu sehen sind, spiegeln sich die Gesichter von Paxton und dem zum Opfer gewordenen Täter in der Spülung der Toilette, ein Unterschied ist kaum mehr auszumachen. Wenn in der letzten Einstellung des Films der im davonfahrenden Zug sitzende Paxton zu sehen ist, erscheint der Anzug des Folterkunden endgültig nicht mehr als Verkleidung sondern vielmehr als semantisch adäquates Attribut des zum Täter gewordenen Protagonisten. 7 H OSTEL kommt ohne moralisch überlegene Hauptfigur aus. Paxtons Entscheidung zur Selbstjustiz, die sich an die Erkenntnis der eigenen monströsen Potenziale anschließt und mit der er sich letztlich in die Gruppe der Mörder einreiht, stellt der Film argumentativ nichts entgegen. Anhand einer kriminellen Bande wird vielmehr beispielhaft illustriert, dass schon Kinder auf der Jagd nach dem nächsten Kaugummi zu Mördern werden. Hinter jedem Fami- Christian Vittrup 396 lienvater kann ein Freizeitsadist stecken, gesellschaftliche Autoritäten - hier am Beispiel der örtlichen Polizei illustriert - sind zutiefst korrupt, die vereinzelten moralischen Impulse der Protagonisten erweisen sich als inkonsequente und unverhältnismäßige Heuchelei in einer Welt, in der die Grenze zwischen dem Monströsen und dem Normalen längst verschwommen ist. 2.2 Hostel als Metahorrorfilm H OSTEL markiert seinen Status als Film und seine Position innerhalb des Horrorfilmgenres filmintern und funktional für seinen Aussagezusammenhang und erweist sich damit als selbstreflexiver Horrorfilm, der das Genre als kulturelle Institution und die Position und Tradition expliziter Gewaltdarstellung innerhalb dieses Genres thematisiert. 8 Im Gegensatz etwa zu den prominenten Genrevertretern S CREAM (USA 1996, Wes Craven), S CREAM 2 (USA 1997, Wes Craven) und S CREAM 3 (USA 2000, Wes Craven), die Selbstreflexivität ins Zentrum des Erzählten rücken, indem sie zentrale Protagonisten über Horrorfilme diskutieren lassen, die Produktion von Filmsequels thematisieren und das ‘System’ Hollywood selbst fokussieren, stellt H OSTEL seine selbstreflexive Ebene jedoch weniger offensiv aus. Neben Bezügen auf andere Filme und filmhistorische Kontexte, beispielsweise durch den Cameo- Auftritt des japanischen Regisseurs Takashi Miike, der für seine unkonventionellen und in ihrer Gewaltdarstellung expliziten Filme bekannt ist, weisen nicht zuletzt die ihn umgebenden, werbenden Paratexte darauf hin, dass H OSTEL als ein Kommentar zum Horrorfilmgenre gelesen werden kann. H OSTEL wird in den offiziellen, werbenden Epitexten sowohl bezüglich der Quantität und der Qualität seiner Inszenierung von Gewalt als extremer Genrebeitrag etabliert. Dass ein Film diesbezüglich als außergewöhnlich markiert wird, ist sicherlich charakteristisch für das Horrorfilmgenre, dessen kommende Attraktionen typischerweise einer Überbietungslogik folgend beworben werden. Die oberflächliche Eindimensionalität der Bewerbung des Films, die Dominanz des Komplexes Gewalt, ist jedoch als durchaus exzeptionell zu bewerten. Beispielhaft seien das am weitesten verbreitete deutsche Plakatmotiv und der offizielle deutsche Kinotrailer des Films kurz näher betrachtet. Jenseits des Themas sexualisierter, fetischisierter Gewalt lassen die Plakatmotive generell nur bedingt Rückschlüsse auf die spezifische Filmhandlung zu. 9 So ist auf dem in Deutschland hauptsächlich eingesetzten Plakatmotiv, das auch als Covermotiv der DVD-Erstausgabe dient, der Kopf einer männlichen Person zu sehen, in deren geöffnetem Mund eine Bohrmaschine platziert ist. Neben den Credits und dem Filmtitel ist als Bilduntertitel die Tagline “Wie viel Schmerz hältst Du aus? ” zu lesen. Der Trailer des Films ist etwas informativer: Einer Totalen der Ruine einer Fabrikhalle folgen Einstellungen mit obskuren Detailaufnahmen feucht-schmutziger Raumoberflächen. An Stühle gefesselte Personen, Männer in eigentümlicher Schutzkleidung, Werkzeuge und OP-Instrumente sind in weiteren knappen Einstellungen zu sehen. Animierte Textüberblendungen kommentieren die Bilder: Es gibt einen Ort, an dem alle deine dunkelsten, abscheulichsten Fantasien möglich werden. Wo du erleben kannst, was immer du begehrst. Wo du alles tun kannst: Foltern, strafen oder töten für Geld. (offizieller dt. Trailer 0: 00: 09-0: 00: 47) Einige Einstellungen lassen spezifische narrative Motive des Films erahnen. So kann auf eine Fluchtsituation und den Mord an einem zuvor eingeführten Folterer geschlossen werden. Das Hauptinteresse des Trailers ist jedoch offensichtlich, eine Reihe von spektakulären Inszenierungen von Gewalt in Aussicht zu stellen. Das konkrete Heineinschneiden 397 Abb. 4.1: Der Folterer drückt die Bohrmaschine auf Joshs Körper herunter. Signifikant ist neben diesen Beobachtungen die Einbindung des Rezipienten als direktem Adressaten, durch die die Grenze zwischen erzählter Welt und außersprachlicher Wirklichkeit konsequent, wenngleich spielerisch, verunsichert wird. Einerseits wird suggeriert, es gebe eine Organisation wie Elite Hunting, andererseits wird der Gedanke eingeführt, dass es gilt, über das Genre des Horrorfilms und das Verhältnis von Horrorfilm und Rezipient nachzudenken. “Es gibt einen Ort, an dem alle deine dunkelsten, abscheulichsten Fantasien möglich werden.” (offizieller dt. Trailer 00: 00: 09-00: 00: 25) - dieser Ort ist für den Rezipienten nicht die Folterkammer sondern der Film als medialer Raum und das Kino als Erlebnisraum, in denen der er sowohl erleben kann, wie es sich anfühlt, wenn der Boden unter den Füßen verschwindet (Untertitel des Filmplakates: “Wie viel Schmerz hältst Du aus? ”), als auch wie es sich anfühlt, in die Rolle des entgrenzten Täters zu schlüpfen (“[…] Ort, an dem alle deine dunkelsten Fantasien möglich werden”). 10 Der Sensationstourismus, dem sowohl die Folterknechte als auch die Lustreisenden Paxton und Josh nachgehen, wird der Suche nach neuen Sensationen im Kino und spezifisch der Suche nach immer extremeren Ausprägungen des Horrorfilmgenres angenähert. Die betrachteten werbenden Epitexte bestätigen die Implikationen des Vergleichs von Folterkammer und Horrorkino, indem sie sich beide ganz auf Gewalt als Faszinosum und Objekt der Begierde verlassen, während sie gleichsam darauf hinweisen, dass H OSTEL Gewalt innerhalb eines selbstreflexiven Aussagezusammenhangs verhandelt. Auch auf der Ebene der Inszenierung lässt sich eine selbstbewusste Thematisierung genretypischer Gewaltdarstellungen identifizieren. Der Einstieg in die erste ausführliche ‘Foltersequenz’ des Films, in der Josh von einem der Foltertouristen mit einer Handbohrmaschine misshandelt wird, ist hierfür ein Beispiel. Wie der Zuschauer im Kinosaal, der im Dunkeln und selbst nicht handlungsmächtig das unausweichlich Folgende erwarten muss, findet sich Josh auf einen Stuhl gefesselt in einem spärlich erleuchteten Raum wieder. Die erste Einstellung der Sequenz ist eine entsprechend beklemmende Point-of-View-Einstellung, die, soweit möglich, der optischen Perspektive Joshs angenähert ist, der durch das Loch in einer ihm über den Kopf gestülpten Kapuze zu erkennen versucht, wo er ist und was ihn erwartet. Raumoberflächen werden fokussiert, auf Tischen sind medizinische Geräte und Werkzeuge zu sehen, eine Tür öffnet sich und ein mit einem medizinischen Mundschutz maskierter Mann in Schutzkleidung betritt den Raum. In dem Moment, in dem dieser Josh die Christian Vittrup 398 Abb. 4.2: Zu sehen ist im Anschluss, wie indexikalisch Blut Joshs Bein herunter läuft; zu hören sind Joshs Schreie Abb. 4.3: Angeschlossen wird in einer ‘Wundeinstellung’ ein Close Up des Bohrers, der in Joshs Körper eindringt Kapuze vom Kopf zieht, endet die lange subjektive Einstellung, und der Film verzichtet im weiteren Verlauf zunächst auf ähnlich extreme Annäherung an die Perspektive des Folteropfers. Vielmehr dominieren Einstellungen, die maximale Sichtbarkeit gewährleisten, den Rest der Sequenz, in der die erwartete Ausübung körperlicher Gewalt nun ausführlich visuell geschildert wird. Die auffälligste der folgenden Einstellungen ist eine Detailaufnahme des in das Bein des Folteropfers eindringenden Bohrers, die in ihrem Montagekontext betrachtet die Frage nach Funktion und Wert vergleichbarer ‘Wundeinstellungen’ aufwirft, wie sie im Horrorgenre seit B LOOD F EAST (USA 1963, Herschell Gordon Lewis) zu beobachten und seit den 1970er Jahren zu erwarten sind. Die Einstellung, in der die Geste des Folterers zu sehen ist, der die Bohrmaschine herunterdrückt, und die folgende Einstellung, in der auf der Bildebene als indexikalisches Zeichen das am Bein herunterlaufende Blut zu sehen und auf der Tonspur Joshs Schmerzensschrei zu hören ist, umfassen alle Informationen, die man zur Rekonstruktion des Erzählten benötigt. Es folgt jedoch die perspektivisch und in Bezug auf die Einstellungsgrößen auffällig in die Sequenz montierte ‘Wundeinstellung’. Die nächste Einstellung der Sequenz ist nun wieder mit der Einstellung vor der expliziten Fokussierung der Wunde vergleichbar: Joshs Schreie, die durch die Gänge der alten Fabrik hallen, indizieren, dass die Verletzung mit dem Bohrer erfolgt ist. Die in dieser Sequenz betonte Überdeterminierung der Verwundung lässt die ‘Wundeinstellung’ in Relation zu Narration und Darstellung als ‘Konkretes’ erkennbar werden: Die Einstellung ist als ein jenseits dieser übergeordneten Bedeutungsgefüge eigenwertiges Textelement ausgestellt, dessen Verhältnis zur Narration befragt und dessen Funktion und Bedeutung innerhalb verschiedener Kohärenzzusammenhänge diskutiert werden muss. Sicherlich sind vergleichbare Überdeterminierungen von Verwundung genretypisch und erfüllen genrebezogene Rezeptionserwartungen. Von einem modernen Horrorfilm wird die in Das konkrete Heineinschneiden 399 Abb. 4.4: Joshs Schreie verhallen in den Gängen der alten, verlassenen Fabrik der einleitenden Genrediskussion schon beschriebene Abfolge von Sequenzen erwartet, in denen die gewalttätige Konfrontation mit dem Undenkbaren und Monströsen wiederholt durchgespielt wird und die sich oft durch das auch in der besprochenen Foltersequenz zu beobachtende Nebeneinander von impliziten und expliziten Inszenierungen von Gewalt und Verwundung auszeichnen. Als Höhepunkt solcher Sequenzen erscheint die ‘Wundeinstellung’ zuweilen als Pendant zum ‘Money Shot’ des pornographischen Films (in dem die externe Ejakulation eines männlichen Sexualpartners zu sehen ist), die Konfrontationssequenzen erscheinen den ‘Nummern’ des pornographischen Films vergleichbar, wie sie Linda Williams in ihrer Arbeit zum Pornofilm diskutiert (Williams 1995, 165ff., vgl. auch Meteling 2003). Wie Williams es für den pornographischen Film beschrieben hat, unterbrechen die ‘Nummern’ des Horrorfilms nur scheinbar die Handlung. In ihnen werden vielmehr zentrale Konflikte der erzählten Welt wiederholt durchgespielt, bis der Text zu einer Konklusion kommt. Dennoch unterscheiden sich beide - der pornographische Film mehr, der gewalt- und splatterlastige moderne Horrorfilm doch beträchtlich weniger - von der Ikonographie und Narration konventionellerer Erzählfilme ohne entsprechende ‘Nummern’ (vgl. Meteling 2003). Dementsprechend wird die explizite Inszenierung von Gewalt und Verwundung innerhalb des Genres, die ‘Nummern’ und die ‘Wundeinstellungen’ als (auch buchstäblich) hineingeschnittenes ‘Konkretes’ in verschiedenen Kohärenzzusammenhängen verortet und diskutiert, sei es in Bezug auf das Genre, das Kino oder andere allgemeine kulturelle Kontexte. Ist aus einer Perspektive das konkrete Textmaterial als realisierter und gefilmter Spezialeffekt von Interesse, werden die ‘Wunddarstellung’ und die Quantität von Gewalt im Film andernorts etwa in Hinblick auf Konventionen des Darstellbaren oder auf das Verhältnis von Kultur und Körperlichkeit bezogen betrachtet (vgl. z.B. Köhne/ Kuschke/ Meteling 2005). Mit dem Vergleich zwischen Folterkammer und Horrorfilm verortet H OSTEL diese für den modernen Horrorfilm charakteristische Tendenz zur maximalen Sichtbarkeit und der einhergehenden Überdeterminierung der Verwundung als Befriedigung einer ebenso allgegenwärtigen wie unmoralischen, antizivilisatorischen Lust an Entgrenzung. Wie ernst dem Film diese provokante Selbstverurteilung ist, sei dahingestellt. Indem der Film die Lust der Zuschauer in den monströsen Figuren spiegelt und keinen Protagonisten überleben lässt, der eine positive Identifikation zulassen würde, erscheint das moralische Lehrstück selbst als sadistisches Instrument der Folter. Christian Vittrup 400 Filmographie (chronologisch und alphabetisch) T HE W OLF M AN (USA 1941, George Waggner) B LOOD F EAST (USA 1963, Herschell Gordon Lewis) N IGHT OF THE L IVING D EAD (USA 1968, George A. Romero) S CREAM (USA 1996, Wes Craven) S CREAM 2 (USA 1997, Wes Craven) U RBAN L EGEND (USA/ F 1998, Jamie Blanks) S CREAM 3 (USA 2000, Wes Craven) T HE R ING (USA 2002, Gore Verbinski) H AUTE T ENSION (F 2003, Alexandre Aja) T HE T EXAS C HAINSAW M ASSACRE (USA 2003, Marcus Nispel) W RONG T URN (USA/ Kanada/ D 2003, Rob Schmidt) S AW (USA 2004, James Wan) D AWN OF THE D EAD (USA/ Japan/ F 2005, Zakk Snyder) H OSTEL (USA 2005, Eli Roth) H OSTEL (offizieller dt. Trailer, 2005 [http: / / www.youtube.com/ watch? v=esYsj70HBR8, am 30.07.09]) W OLF C REEK (Australien 2005, Greg McLean) T HE H ILLS H AVE E YES (USA 2006, Alexandre Aja) H OSTEL P ART II (USA 2007, Eli Roth) Literaturverzeichnis Barck, Karlheinz et al. (eds.) 2002: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler Verlag. Borstnar, Nils & Eckhard Pabst & Hans Jürgen Wulff 2008 (2. Auflage): Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft (UTB 2362). Clover, Carol J. 1993: Men, Women and Chain Saws. Gender in the Modern Horror Film, Princeton: Princeton University Press. Genette, Gérard 1992: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/ New York: Campus. Grant, Barry Keith (ed.) 1996: The Dread of Difference. Gender and the Horror Film, Austin: University of Texas Press. Jancovich, Mark (ed.) 2002: Horror. The Film Reader, London/ New York: Routledge. 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Anmerkungen 1 Vgl. etwa David Edelstein: “Now Playing at Your Local Multiplex: Torture Porn”, New York Magazine, 28.01.06. 2 Diese Zahlen beziehen sich auf Angaben der auf die Veröffentlichung vergleichbarer Daten spezialisierten Internetseite www.boxofficemojo.com (http: / / www.boxofficemojo.com/ movies/ ? id=hostel.htm, am 07.04.09). 3 Zu den Begriffen Paratext und Epitext im Folgenden siehe Genette 1992. 4 Vgl. etwa Andreas Busche: “Frivole Freude am Knacken der Knochen”, taz, 29.04.06; Hanns Georg Rodek “Hütet Euch vor Bratislava”, Die Welt, 28.04.06. 5 Vgl. etwa Friedrich, Florian: “Hostel. Ein Film von Eli Roth”, mannbeisstfilm.de (http: / / www.mannbeisstfilm. de/ kritik/ Eli-Roth/ Hostel/ 63.html) 6 Zum Konzept des Final Girl siehe vor allem Clover 1993, zur Diskussion dieser Figurenkonzeption siehe Jancovich (2002: 57ff). 7 Ein inhaltlich vergleichbares alternatives Ende fiel bei den Zuschauern der Probescreenings durch: Paxton ermordet in dieser Version nicht den Folterer, er entführt dessen kleine Tochter. Suchend bleibt der Vater auf dem Bahnsteig zurück, während Paxton mit dem schreienden Mädchen in seiner Gewalt davonfährt. 8 Für eine kurze Diskussion der hier zu Grunde liegenden Definition der Selbstreflexivität vgl. Borstnar/ Pabst/ Wulff (2008, 94ff). 9 Eine Auswahl an Plakat- und Covermotiven des Films ist beispielsweise in der Internet Movie Database (imdb.com) zu finden: http: / / www.imdb.com/ title/ tt0450278/ mediaindex, am 03.08.09. 10 Im Gegensatz zum Text des deutschen Trailers, der aus dem englischen Original übersetzt ist, stellt der Untertitel des deutschen Plakats und DVD-Covers eine Neuschöpfung dar. Die Verunsicherung der Grenze zwischen Diegese und außersprachlicher Wirklichkeit findet sich in vergleichbarer Form jedoch auch in den amerikanischen Epitexten, die H OSTEL beigeordnet sind. So impliziert das amerikanische DVD-Cover mit dem Untertitel “Welcome to Your Worst Nightmare” ebenfalls die Infragestellung der entsprechenden Grenze. Auch andere paratextuelle Elemente und andere Paratexte spielen mit dieser Verunsicherung. So findet sich etwa im deutschen Booklet des Films die Behauptung, der Film beruhe insofern auf einem realen Hintergrund, als dass Regisseur Eli Roth von einer nicht belegten Internetseite, auf der von vergleichbaren Vorgängen in Thailand berichtet wurde, zu der Erzählung um die Folterorganisation inspiriert worden sei. Auf diesen vielfältig kolportierten Entstehungsmythos bezieht sich auch der Hinweis im Trailer, der Film sei “n wahren Ereignissen” inspiriert. Seite 402 vakat Anschriften der Autoren / Addresses of the authors Dr. Andreas Blödorn Bergische Universität Wuppertal Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturgeschichte Gaußstraße 20 D-42097 Wuppertal Bloedorn@uni-wuppertal.de Prof. Dr. Jan-Oliver Decker Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien Leibnizstraße 8 D-24118 Kiel und Universität Passau Neuere deutsche Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Literaturtheorie D-94030 Passau Stephanie Großmann, M. A. Universität Passau Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft D-94030 Passau Stephanie.grossmann@gmail.com Dr. Michael Müller SYSTEM + KOMMUNIKATION Reichenbachstr. 10 D-80469 München rubemueller@t-online.de Prof. Dr. Magdolna Orosz ELTE - Eötvös-Loránd-Universität Germanistisches Institut Lehrstuhl für deutschsprachige Literaturen Rákóczi út 5 H-1088 Budapest / Ungarn magdolna.orosz@gmail.com Dr. Eckhard Pabst Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien Leibnizstraße 8 D-24118 Kiel e.pabst@t-online.de Dr. Madleen Podewski Bergische Universität Wuppertal Neuere deutsche Literaturgeschichte Gaußstraße 20 D-42119 Wuppertal podewski@uni-wuppertal.de Dr. Susanne Reichlin Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich sreichlin@ds.uzh.ch Anschriften der Autoren / Addresses of the authors 404 Thomas Sing, M. A. Universität Augsburg Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft / Europäische Literaturen Eichleitnerstr. 30, Geb. F2 D-86159 Augsburg Thomas.Sing@Phil.Uni-Augsburg.de Prof. Dr. Michael Titzmann Universität Passau D-94030 Passau Michael.Titzmann@uni-passau.de Christian Vittrup, M. A. Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Leibnizstraße 8 D-24118 Kiel cvittrup@web.de Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift K ODIKAS / C ODE (ca. 10-30 S. à 2.500 Zeichen [25.000-75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2-3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarz-weiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3-5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für K ODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht (“…”). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im S PIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “normalen” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “[…] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “f.” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern […], Hinzufügungen durch Initialien des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “(Hervorh. im Original)” oder “(Hervorh. nicht im Original)” bzw. “(Hervorh. v. mir, Initial)” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “[sic]” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 406 werden in einfache Anführungszeichen gesetzt (“… ‘…’ …”). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet.” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “Fähe bedeutet ‘Füchsin’.” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “*Rettet dem Dativ! ” oder “*der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: […] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z.B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben”, in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1-2 (1999): 27-41 Duck, Donald 2000: “Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag”, in: Duck (ed.) 4 2000: 251-265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “und” oder “&” (bei mehr als drei Namen genügt ein “et al.” [für et alii ] oder “u.a.” nach Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 407 dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “etc.”): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u.a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘graue’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck (“Zürich: Diss. phil.”), vervielfältigte Handreichungen (“London: Mimeo”), Manuskripte (“Radevormwald: unveröff. Ms.”), Briefe (“pers. Mitteilung”) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis”, in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47-67 Duck, Daisy 2001 b: “Zum Rollenverständnis des modernen Erpels”, in: Ente und Gesellschaft 19.1-2 (2001): 27-43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “Schon wieder keinen Bock”, in: Franz Gans’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15.01.2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o.J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15.01.2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15.01.2009] Instructions to Authors Articles (approx. 10-30 pp. à 2'500 signs [25.000-75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3-5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotations marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn't make sense; one is taken out of context; one isn't even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the 'normal' texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets […], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “…‘…’ …”. Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘Enlightenment’); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘I learn English since ten years’: The Global English Debate and the German University Classroom”, in: English Today 18.2 (2002): 9-13 Modiano, Marko 1998: “The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union”, in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241-248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe”, Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5-7 October 2001. http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15.01.09].