Kodikas/Code
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2010
333-4
Gunter Narr Verlag Tübingen An International Journal of Semiotics KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica Volume 33 · No. July/ Dec. 2010 Page 205- 475 3 / 4 Themenheft / Special Issue Medien und Formen der europäischen Kommunikation Herausgegeben von Elize Bisanz unter Mitarbeit von Jan Oehlmann KODIKAS/ CODE Ars Semeiotica An International Journal of Semiotics Volume 33 (2010) No. 3-4 Special Issue / Themenheft Medien und Formen der europäischen Kommunikation Herausgegeben von Elize Bisanz unter Mitarbeit von Jan Oehlmann Elize Bisanz Einführende Überlegungen: Europäische Semiosphären. Zeichentheoretische Zugänge zur europäischen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 I Kulturpolitik und Ökonomie Melanie Mergler Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Annika Cornils Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut. Eine exemplarische Analyse europäischer Buchmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Svenja Hehlgans Zwischen Anpassung und Freiheit. Die Europäische Universität auf dem Weg zur Ökonomisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Lena Jöhnk Kulturpolitik als symbolische Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 09 II Öffentlichkeit und Medien Sabine Krammer Das Fremde in Europa. Strukturen kultureller Dynamik in der europäischen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Silviya Kitanova Film als Semiosphäre. . . . . . . 369 Jan Oehlmann “Und die Moral von der Geschicht’ …” Mythische Geschichten und politische Symbolik im europäischen Film . . . . . . . . . . . 389 Katharina Perge Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart . . . . . . . . . . . . 405 Christian Matzke Mediale Inszenierung europäischer Identität. Zur Unzulänglichkeit des Internet als Kommunikationsmedium der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Isabelle Prchlik Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode - Ein Ausdruck der europäischen Identität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Anschriften der Autoren / Addresses of the authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Publication Schedule and Subscription Information The articles of this issue are available separately on www.narr.de The journal appears 2 times a year. Annual subscription rate 118,- (special price for private persons 78,-) plus postage. Single copy (double issue) 62,- plus postage. The subscription will be considered renewed each year for another year unless terminated prior to 15 November. Besides normal volumes, supplement volumes of the journal devoted to the study of a specialized subject will appear at irregular intervals. © 2011 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG P.O.Box 2567, D-72015 Tübingen All rights, including the rights of publication, distribution and sales, as well as the right to translation, are reserved. No part of this work covered by the copyrights hereon may be reproduced or copied in any form or by any means - graphic, electronic or mechanical including photocopying, recording, taping, or information and retrieval systems - without written permission of the publisher. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Setting by: NagelSatz, Reutlingen Printed and bound by: ilmprint, Langewiesen ISSN 0171-0834 Einführende Überlegungen: Europäische Semiosphären. Zeichentheoretische Zugänge zur europäischen Gegenwart Elize Bisanz; Leuphana Universität Lüneburg Während über Jahrzehnte eine wirtschaftliche Vereinigung Europas vorbereitet wurde, scheint es auf der sozio-kulturellen Ebene noch erheblichen Nachholbedarf zu geben. Denn während dieses Europa international versucht, in wirtschafts- und außenpolitischen Fragen als Einheit aufzutreten und zu agieren, dominiert nach Innen stets die Frage, was diese Einheit denn überhaupt darstellen soll und worauf sie basiert. Dabei wird immer wieder auf eine gemeinsame Kultur verwiesen, ohne den kulturellen Zustand genauer zu definieren oder zu durchleuchten. Die Frage nach der kulturellen Identität in der Entwicklung der europäischen Öffentlichkeit weist auf zwei komplexe Begriffe hin, die die Fundamente einer funktionierenden Gemeinschaft bilden: Kultur und Öffentlichkeit. Kultur fungiert als die Quelle und das Produkt der Öffentlichkeit, denn sie verkörpert die Kommunikationsstruktur, den Kommunikationsraum wie auch das Kommunikationsmedium, durch die sich eine Gemeinschaft konstruiert. Zeichentheoretische Modelle der Identitätskonstruktionen öffnen analytische Zugänge zu Kernfiguren komplexer Identitätsstrukturen wie die der europäischen. Symbole, Semiosphäre sowie Intertextualität bilden dabei kategorisierende Einheiten, mit denen die Strukturmerkmale der europäischen Öffentlichkeit erklärt werden können. Europa als eine Sphäre von symbolischen Formen, als eine Semiosphäre zu verstehen, bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchungen, die jeweils über ein spezifisches Bedeutungssystem Einblicke in die Strukturmerkmale der europäischen Gegenwart ermöglichen, deren Gesamtheit die Grammatik und die Entwicklungslogik der europäischen Gegenwart beschreibt. Die disziplinäre methodische Gemeinsamkeit aller Texte sind somit die semiotisch zeichentheoretischen Hintergründe. Die kulturwissenschaftliche Perspektive der Textreihe bilden zwei zeichentheoretische Positionen; Ernst Cassirer’s Philosophie der symbolischen Formen und Juri Lotman’s Modell der Semiosphäre. Demnach berücksichtigt die Logik der Kulturwissenschaft die innere und äußere Welt, fokussiert auf die Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, erklärt Naturbegriffe und Kulturbegriffe, diskutiert die Formprobleme und Kausalprobleme und sucht nach Ausgleichen zwischen der menschlichen Individualität und der Universalität der Natur und der Kultur. Dabei bilden die materiellen Objektivationsebenen der kulturellen Logik die symbolischen Formen, eine genuine zeichenwissenschaftliche Kategorie, mit der ein analytischer Zugang zum kulturellen Korpus ermöglicht wird. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Elize Bisanz 208 Neben der Kategorie der symbolischen Kodierung bildet Juri Lotman’s Modell der Semiosphäre einen klaren methodischen Rahmen, sowohl Bedeutungsstrukturen wie auch Bedeutungsprozesse als konstitutive Instrumente der europäischen Öffentlichkeit zu erklären. Dabei wird der gesamte semiotische Raum als ein einheitlicher Mechanismus und Organismus betrachtet, in dem zum Beispiel Ökonomie, Kulturpolitik, Medien und Öffentlichkeit untergeordnete Kommunikationssphären bilden und jeweils Einblicke in die innere Logik der europäischen Gegenwart ermöglichen. Die hier ausgewählten Beispiele des ökonomischen Raums in Europa gehen von der Prämisse aus, dass der europäische Wirtschaftsraum gegenwärtig eine tiefgreifende Veränderung erfährt. Während sich die Arbeit im 19. Jahrhundert noch maßgeblich durch Produktion auszeichnete, wird Kommunikation heute zum Motor allen Handelns. Das Kapitel “Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen” untersucht exemplarisch, welche Rolle Ideen, Wissen und Kommunikation im ökonomischen System spielen und wie dieses im kulturellen System verankert ist. Die empirisch unterstützte Untersuchung zeigt, dass im Kontext der zunehmenden Erweiterung des internationalwirtschaftlichen Agitationsradius Schlagworte wie Kultur, Nation, Kommunikation, Sprache, Internationalisierung, Globalisierung, Information, Zeit, Wirtschaftlichkeit und Qualität in den Fokus rücken und einen Perspektivenwechsel erfordern. Am Beispiel des Buchmarktes wird exemplarisch diskutiert, wie Kultur und kulturelle Identität unmittelbare Auswirkungen auf ökonomische Strukturen haben bzw. sie gestalten. Es wird gezeigt, dass es nicht einen europäischen Buchmarkt gibt und geben kann. Da einem gemeinsamen Markt schon durch die unterschiedlichen Sprachen, die u. a. die Vielfalt Europas kennzeichnen, Grenzen gesetzt sind und diese allein durch Übersetzungen überwunden werden können. Vor allem der Vergleich zwischen den Buchmärkten in Ost- und Westeuropa macht erkennbar, wie politische Systeme die Verbreitung von kulturellen Informationen beeinflussen können. Regulative Instrumente des Marktes wie Urheberschaft, Preisgestaltung werden als vergleichbare formierende Elemente der europäischen Öffentlichkeit erklärt. Auch die Entwicklung der europäischen Universitätslandschaft zeigt die Folgen der ökonomisch orientierten Politik in der Bildung und dem Arbeitsmarkt. So untersucht das Kapitel “Zwischen Anpassung und Freiheit - Die Europäische Universität auf dem Weg zur Ökonomisierung” das Verhältnis zwischen Bildungs- und Arbeitsmarktstrukturen anhand dreier Universitätsmodelle: napoleonischer Weg, humboldtsches Modell und englischer Weg. Es wird festgestellt, dass eine gezielte Ökonomisierung nicht unbedingt zu den erwünschten Erfolgen führt, sondern oft Nachteile - nicht nur für die Universitäten, sondern auch für die Volkswirtschaft - zur Folge haben kann. Eine erfolgreiche Ökonomisierung der Europäischen Universität müsste den Unterschied der Eigenlogiken beider Systeme beachten sowie zukunftsstatt gegenwartsbezogen gedacht und gehandelt werden. Eine tiefgreifende, sei es subversive prägende Rolle in der Gestaltung der europäischen Gegenwart spielt die Kulturpolitik der Europäischen Union. Das Kapitel “EU-Kulturpolitik als symbolische Form” beschreibt die EU als eine Semiosphäre mit Subsemiosphären und liest deren Strukturen als symbolische Kodierungen der kulturpolitischen Logik. Kategorien wie das Fremde und Identität spielen dabei eine konstitutive Rolle. Mit Julia Kristeva argumentiert das Kapitel “Das Fremde in Europa. Strukturen kultureller Dynamik in der europäischen Gegenwart”, in dem die Bezeichnung fremd als das Ergebnis dichter Zuschreibungen von Differenz auf Menschen verstanden wird. Auch hier wird das Semiosphäremodell eingesetzt, um einerseits soziale Einheiten einzugrenzen und zugleich die kulturellen Strukturen der europäischen Gegenwart in ihrer Dynamik zu erklären. Einführende Überlegungen 209 Ein weiteres Untersuchungsfeld bilden die Medien, hier exemplarisch die Filmsprache als Kodierung von politischen Strategien gegen totalitäre Systeme. Das Kapitel “Film als Semiosphäre. Der bulgarische Film in Zeiten von Transformationen” analysiert die Rolle des Films als Transformationssprache. Diese ermöglicht Einblicke in die Situation der Menschen in den neuen Lebensumständen; der Film als symbolische Kodierung des kulturellen Austausches exemplifiziert die Grundstrukturen des Sprachlichen, die ein verbindendes Element heterogener Kulturen bildet. Der Beitrag “Mythische Geschichten und politische Symbolik im europäischen Film” zeigt, dass die kulturellen Texte identitätsstiftende Funktion erfüllen können und somit zentral in dieser Konstellation zu verorten sind. Im Zentrum der Untersuchung steht das Konstrukt Mythos und seine Leistung in der modernen Erinnerungskultur. Sie werden als Instrumente verstanden, die dazu dienen, die komplexe Realität von Gegenwart und Zukunft begreif- und deutbar zu machen. Die in Mythen vermittelten (Bild-)Geschichten sind immer auch komplexe Quellen für die Rekonstruktion von Denkbildern. Das Kapitel geht der Frage nach, ob und inwieweit die europäischen Werte im öffentlichen Zeichenraum der populären Medienkultur, wie dem Film, repräsentiert werden. Das Kapitel “Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart” diagnostiziert einen Mangel an gemeinsamen Erfahrungen, die grundlegend für die Bildung eines kollektiven Bewusstseins sind. Die zentrale These, Europa muss erfahren werden, bezieht sich sowohl auf die Erfahrung Europas als auch auf die Erfahrung der EU; dabei zeigt sich, dass, wie jede andere Kommunikation, Europa und die EU nur in und durch gemeinsame Medien erfahrbar sein können. Theoretische Grundlage hierzu bilden die philosophischen Ausführungen John Locke und Charles Peirce. Mit dem technischen Medium Internet entdeckt die Europäische Union ein neues Instrument zur Gestaltung und Inszenierung einer europäischen Öffentlichkeit. Das Kapitel “Mediale Inszenierung europäischer Identität. Zur Unzulänglichkeit des Internets als Kommunikationsmedium der Europäischen Union” analysiert das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” und wirft einen kritischen Blick auf dieses Medium, verbunden mit der Frage, inwiefern es der Europäischen Union gelingt, durch das digitale Medium eine europäische Identität zu erzeugen und zu fördern. Diese und weitere - im vorliegenden Band untersuchten - Beispiele bekräftigen die semiotische These, dass wie jede Öffentlichkeit auch die europäische durch kollektive Muster symbolhafter Strukturen getragen wird; die symbolischen Kodierungen bilden, jenseits nationaler Grenzen unterschiedliche Bedeutungs- und Strukturierungsebenen und fungieren somit als Zeichenträger eines europäischen kulturelles Bewusstsein. Darüber hinaus haben die Autorinnen und Autoren im Rahmen des Forschungsprojektes “Europas Kapitale” anhand eines Fragebogens, persönlicher Interviews und vor-Ort-Gespräche in den 25 europäischen Hauptstädten, Momentaufnahmen gegenwärtiger europäischer Meinungen dokumentiert. Zu den zentralen Fragen gehören die Fragen nach den europäischen Symbolen und nach den wichtigsten europäischen Persönlichkeiten. Dabei zielte die Frage nach den Symbolen auf eine doppelte semiotische Strukturierungsebene: das Verständnis des Zeichens Symbol und die inhaltliche Kodierungen von symbolischen Bedeutungen. Die Ergebnisse weisen auf unterschiedliche Qualitäts- und Bedeutungshorizonte hin; während die Symbole wie Flagge, Euro, eine indexikalische Relation zeigen, deuten Begriffe wie Verfassung, Hymne, Kunst, Brandenburger Tor sowie Eifelturm auf eine historische Kodierung hin. Interessante Aufschlüsse zum gegenwärtigen europäischen Bewusstsein präsentieren die Antworten zur Frage nach dem wichtigsten Europäer. Die Auswertung zeigt, dass eine große Elize Bisanz 210 Zahl der erwähnten Persönlichkeiten aus dem kulturellen Feld stammen, wodurch die verbindende Bedeutung des kulturellen Erbes verdeutlicht wird und dass zweitens, die erwähnten Persönlichkeiten mehrheitlich Westeuropäer sind, wodurch wiederum die Dominanz westeuropäischer Denkmuster im heutigen Europa bestätigt wird. Insgesamt präsentieren die Beiträge semiotisch-kulturwissenschaftliche Analysen ausgewählter Kommunikationsstrukturen Europas; ihr gemeinsames Ziel bildet die Anwendung geisteswissenschaftlicher Instrumente zur Erklärung und Modellierung der Mentefakte einer europäischen Öffentlichkeit. Übersicht der genannten Europäer David Beckham - Napoléon - Hans Christian Andersen - Marie Curie - Karen Blixen - Jacques Delors - Tony Blair - Platon - Karl Marx - Gérard Dépardieu - Johann Wolfgang von Goethe - Karl der Große - Leonardo Da Vinci - Helmut Kohl - Michel Focault - Gerhard Schröder - Adolf Hitler - Jacques Chirac - Victor Hugo - Albert Einstein - Jan van Riebeeck - Simone de Beauvoir - Pablo Picasso - Immanuel Kant - Ludwig van Beethoven - Valdas Adamkus - Günter Grass - Arvydas Sabonis - Sigmund Freud - Lady Diana - Charles de Gaulle - Charlie Chaplin - Isaac Newton - Wolfgang Amadeus Mozart - Winston Churchill - Sokrates - Thierry Henry - Thomas Mann - Douglas Adams - Romano Prodi - José Luis Rodríguez Zapatero - J. K. Rowling - Hugh Grant - Heidi Klum - Bertha von Suttner - John Lennon - Claude Monet - Luis Figo - Jürgen Habermas - Joan Míro - Bono (U2) - Jean-Paul Sartre - Margaret Thatcher - Papst Johannes Paul II - Christopher Columbus - Robbie Williams - José Barroso - Erasmus von Rotterdam - William Shakespeare - Peter Ustinov - A. Rodriguez - Paulo Coelho - Robert Schuman - Joschka Fischer - Willy Brandt - Michael Ballack - Jean Monnet - Michael Schumacher - Bertholt Brecht - Benedikt XVI - Daniel Cohn-Bendit - Ich - Otto von Bismarck - Friedrich I. Barbarossa - Hermann Hesse - Prinz Charles - Charles Darwin - Konrad Adenauer - Giacomo Casanova - Franz Beckenbauer - Maximilien de Robespierre - Aristoteles - Sokrates - Alexander von Humboldt - Franz Kafka - Wim Duisenberg - Alfred Nobel Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen Melanie Mergler; Leuphana Universität Lüneburg Communication has and becomes a major impact especially on international business interactions. The following article analyses complex cultural affected phenomena from an interdisciplinary point of view focusing as well on economics as on culture and from the perspective of a rapidly developing technological progress. There is a discrepancy between opportunities of communication and human communication skills, which constitutes the central question of the significance of cultural communication as an economic factor in international companies. Based on central theoretical discourses such as internationalization, globalization, nation and the organizational management of international companies, survey results of semi-structured expert interviews on intercultural communication processes in an international company as well as opportunities and challenges for international companies are presented by means of the three categories “language”, “culture” and “communication”. The combination of qualitative research methods, the theories of business administration and common communication models constitutes a pioneer work. Against the backdrop of proceeding globalization processes of communication structures by modern transport-, informationand communication-technology the need for individual-cultural modes of communication grows continuously. The author of this article designs a process oriented model of intercultural communication as a basic principle for economic success and illustrates the path to a globalised communication future. “Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.” (Kurt Tucholsky) 1 Internationalisierung der Wirtschaft als Herausforderung für Unternehmen Der europäische und globale Wirtschaftsraum erfährt gegenwärtig eine Veränderung, die ihren Ursprung in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fand, seit den sechziger Jahren an Schubkraft gewann, in den 1980er Jahren eine zunehmende Dynamik im internationalen Wettbewerb ausprägte und erst im 21. Jahrhundert zur vollen Ausprägung gebracht werden wird. Der beschriebene Zeitverlauf schildert die Revolution der Organisation mit der Umstellung von Bürokratie und Fließband auf ein offenes Netzwerk von Information, Kommunikation und Produktion. Zeichnete sich die Arbeit im 19. Jahrhundert noch maßgeblich durch Produktion aus, wird Kommunikation heute zum Motor allen Handelns. Beschrieb Industrialisierung von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts den Produktionsanstieg standardisierter Güter aus Rohstoffen mittels Energie und Arbeitseinsatz in Fabriken, steht heute die Internationalisierung im Vordergrund. Erzielten einst die materiellen Werte eine maximale Bewertung, K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Melanie Mergler 212 werden immaterielle Güter heute zunehmend stark bewertet (vgl. Blom & Meier 2004: 2; Baecker 2003: 18; Bruhn 2002: 407; Rosecrance 2001: 221; Didry & Wagner 2000: 45 ff.). “Das Entstehen von komplexen Produkten und Möglichkeiten hat zu einer weiteren Zunahme der Bedeutung von immateriellen Gütern wie Ideen und Wissen geführt.” (Rosecrance 2001: 221) Die Kommunikation findet im wirtschaftlichen Kontext weit über die Landesgrenzen hinaus statt, denn nach Schätzungen der UNCTAD 1 soll es inzwischen etwa 78.000 international tätige, sogenannte Multis oder Transnationals (siehe nachfolgend multinationale und transnationale Unternehmen) geben, die gemeinsam weltweit über mehr als 770.000 Tochtergesellschaften verfügen (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 240). Die Zunahme international tätiger Unternehmen erfolgt sehr rasant. 2 Vor diesem Hintergrund werden ausgewählte Formen internationaler Unternehmen und deren Herausforderungen im interkulturellen Kontext untersucht. Den in diesem Aufsatz behandelten Diskursen Internationalisierung, Management und Organisationsprozesse wird anschließend eine Praxiseinheit nachgestellt, in der die entsprechenden theoretischen Zusammenhänge am Prototyp eines europäischen Wirtschaftsunternehmens aufgezeigt werden. 1.1 Internationalität als Phänomen des globalen Strukturwandels Internationalität beschreibt zunächst einen Sammelbegriff für eine Vielzahl von Aktivitäten und Prozessen, der in der Regel eingesetzt wird, wenn Interaktionen zwischen verschiedenen Staaten stattfinden. Aufgrund des kulturwissenschaftlich-wirtschaftlichen Kontextes dieser Ausführungen soll Internationalisierung als Landesgrenzen überschreitende Aktivitäten von Unternehmen verstanden werden, wobei sie den internationalen Wettbewerb verstärken und zu einer intensiven Nutzung der Möglichkeit internationaler Arbeitsteilung führt. In einem weiten Begriffsverständnis steht Internationalisierung für eine nachhaltige und für das Unternehmen insgesamt bedeutsame Auslandstätigkeit, die von einem hohen Exportanteil am Umsatz bis hin zu einem weltumspannenden Netz von Direktinvestitionen, Tochtergesellschaften, eigenen Produktionsstätten und weltweiten Allianzpartnern reichen kann (vgl. Krystek & Zur 2002: 5). Internationalisierung könne weiterhin als ein Phänomen beschrieben werden, das ein Unternehmen konzeptionell als Ganzes erfasse (vgl. Perlitz 2000: 9), das immer mehr Menschen in die weltweite Arbeitsteilung einbeziehe, das den Fortschritt von Technik und Produktivität antreibe und Strukturwandel verschärfe, da Zeit knapper und Kapital bedeutender zu werden scheint (vgl. Berger 2002: 32). Der Grad der Internationalisierung wird in der Betriebswirtschaftslehre anhand verschiedener Indikatoren gemessen. 3 Im Rahmen von Internationalisierungsprozessen werden Wertschöpfungsaktivitäten weltweit aufgeteilt und es wird an jenen Orten produziert, geforscht, entwickelt, gekauft und verkauft, an denen die günstigsten Bedingungen vorgefunden werden, was bedeutet, dass die Wertschöpfungskette in Unternehmen globalisiert und die Wettbewerbsvorteile einzelner Länder genutzt werden (vgl. ebd.: 23 f.). Daraus resultiert eine erhöhte Komplexität, die Entscheidungen verlangsamt und Konflikte bezüglich Macht und Autorität im Management potenziell erhöht (vgl. Mosquet 2002: 223). “A big part of the problem is that managers don’t have the conceptual or the operational tools to embrace international complexity and break it into manageable pieces.” (Ebd.) Für Unternehmen stellt die zunehmende Internationalisierung somit eine Herausforderung dar, die neben den Risiken aber gleichzeitig auch Chancen bietet, die genutzt werden müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben zu können. Gegenwärtig ist der Prozess der Internationalisierung für einzelne Unternehmen durch die Aufnahme eines Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 213 Auslandsgeschäfts durch den Export von Erzeugnissen, Technologien, Management-Knowhow oder Direktinvestitionen 4 im Vertriebs- oder Fertigungsbereich geprägt (vgl. Dülfer 2001: 103). Das Begriffspaar der internationalen Unternehmung hat sich für international tätige Unternehmen sprachlich etabliert. Ein Unternehmen gilt “[…] dann als international, wenn die Auslandsaktivitäten zur Erreichung und Sicherstellung der Unternehmensziele von wesentlicher Bedeutung sind.” (Perlitz 2000: 11) Trotz dieser sehr eindeutigen Formulierung, auf welche sich die vorliegende Arbeit als Grunddefinition beruft, herrscht ein kontroverser Diskussionsansatz zur Festschreibung einer einzigen Definition 5 , da das internationale Unternehmen neben grenzüberschreitenden Interaktionsbeziehungen auch das Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften tangiert (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 296; Dülfer 2001: 8). Hinsichtlich der Kategorisierung eines internationalen Unternehmens existiert eine Vielzahl von Begrifflichkeiten, die sich inhaltlich nur marginal unterscheiden. 6 Das transnationale Unternehmen charakterisiert sich ebenfalls durch seine grenzüberschreitende Tätigkeit, wobei es versucht, globale Effizienz, lokale Anpassungsfähigkeit und weltweite Lernfähigkeit zu verbinden (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 296; Ebke 2002: 126). Durch eine Auswahl nationaler, weitgehend strategisch autonomer Einheiten zeichnet sich das multinationale Unternehmen aus, wobei die einzelnen Niederlassungen oder Tochtergesellschaften am Markt als einheimische Akteure fungieren. Unter der Berücksichtigung nationaler Differenzen wird eine starke lokale Präsenz angestrebt. Schließlich zeichnet sich das globale Unternehmen durch das Streben nach globaler Effizienz aus. Strategien werden zentralisiert und am Weltmarkt ausgerichtet (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 296). 1.2 Globalisierung als erweiterte Form der Internationalisierung Der Begriff der Globalisierung erfährt gegenwärtig eine sukzessive Verbreitung in wissenschaftlichen, aber auch populärwissenschaftlichen und journalistischen Anwendungsbereichen, wobei er - trotz fehlender Einigkeit über eine Definition - zunehmend inflationär verwendet wird. 7 Sprachlich geht Globalisierung auf das lateinische Nomen “globus” 8 zurück. Gemäß Duden beschreibt das Adjektiv global jene Phänomene, welche die ganze Erde umfassen und das Verb globalisieren bedeutet weltweit ausrichten oder auf die ganze Erde ausdehnen. 9 Mirow stellt die Phasen der Globalisierung nach dem Wiederaufbau in drei Phasen dar, die sich durch die Internationalisierung 10 sowie die erste und zweite Welle der Globalisierung 11 auszeichnen (vgl. Mirow 2002: 109 ff.). Beck hingegen unterscheidet zwischen einer ersten und einer zweiten Moderne, wobei die erste Moderne 12 durch die Vorherrschaft des Nationalstaates geprägt ist und sich die zweite Moderne 13 durch die Auflösung der ordnenden Kraft des Nationalstaates kennzeichnen lässt (vgl. Hansen 2000: 353 ff.). Die Einführung des sich zum Schlagwort etablierten Begriffs geht auf den früheren McKinsey-Direktor Ohmae zurück, der 1985 bereits erkannte, dass sich nur jene Unternehmen am Weltmarkt durchsetzen können, welche rechtzeitig als globale Mitspieler auf die neue, globale Konkurrenzsituation um Märkte und Standorte reagierten (vgl. Krätke 1997: 202). Das Forschungsfeld reicht seitdem über die zwischenstaatlichen Beziehungen hinaus und umfasst auch nichtstaatliche Akteure mit internationaler Wirkungsmacht (vgl. Ebke 2002: 126), da Globalisierung als eine globale Interaktion aufgrund der Bewegung von Informationen, Menschen oder anderen körperlichen oder unkörperlichen Gegenständen über nationale Grenzen hinweg verstanden wird, wobei die Welt als Gesamtheit erfasst wird (vgl. Albrow Melanie Mergler 214 1998: 146). Im Verlauf des Globalisierungs-Diskurses 14 wurde die Herausbildung einer Weltgesellschaft formuliert, die neben politischen und sozialen, auch wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen umfasst. Vor allem in der Kulturtheorie wurde in Bezug auf kulturelle Globalisierungsdimensionen kontrovers diskutiert, ob “Globalisierungsprozesse eine gleichförmige, mediengesteuerte und am Konsumverhalten westlicher Industriegesellschaften orientierte ‘Einheitskultur’ befördern, oder ob sie durch die Eröffnung neuer Kommunikationspotentiale und die Überwindung ethnischer und nationaler Grenzen Raum für kulturelle Vielfalt schaffen.” (Nünning 2005: 59) Diese Debatte über die Standardisierung von Kultur und sozialem Handeln im Gegensatz zur Schaffung vielfältiger kulturübergreifender Kontakte hin zu einer wachsenden Vielfalt neuer Ausdrucksformen kann gelöst werden, indem der semiotische Aspekt von Kommunikation berücksichtigt wird. Beide Prozesse könnten demzufolge parallel auf verschiedenen Ebenen stattfinden, wobei die Kommunikationskanäle beispielsweise einerseits standardisiert und die Inhalte andererseits differenziert würden (vgl. Albrow 1998: 147). Die vorliegende interdisziplinäre Arbeit streift diesen Diskurs insofern, als dass sie die Potentiale interkultureller Kommunikation im Rahmen ökonomischer Teilbereiche identifiziert. Aus einer überwiegend heterogenen Menge von Definitionsansätzen 15 lässt sich der Begriff der Globalisierung als ein Prozess der Intensivierung weltweiter politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen definieren. 16 Dabei erlangen Ereignisse nicht nur für die jeweiligen betroffenen Akteure eine weltweite Bedeutung, sondern die Existenz weltumspannender, offener Systeme lösen die einzelnen Subsysteme in Form von geschlossenen, isolierten Feldern dauerhaft durch interdependente Beziehungen miteinander ab (vgl. Kutschker & Schmid 2008: S. 161; Albrow 1998: S. 157). Globalisierung kann somit als besonders weitreichende oder sogar die regional am weitesten reichende Form von Internationalisierung beschrieben werden (vgl. Krystek & Zur 2002: S. 3 ff.; Engelhard & Dähn 1994: 262). Im ökonomischen Kontext können weltweite Verflechtungen von Wertschöpfungsketten als Symptom für die Globalisierung ausgemacht werden (vgl. Müller-Merbach 2002: 745; Albrow 1998: 132). Aufgrund eines lebhaften wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Austausches zwischen verschiedenen Ländern kommt es zu einer “Osmose von Ideen” (Kowalczyk 1998: 7), wobei die wechselseitige Beziehung zwischen Akteuren durch einen Zustand komplexer Verbundenheit geprägt ist. Diese zunehmende Intensivierung der globalen wechselseitigen Verbundenheiten bewirkt neben ökonomischen Handelsbeziehungen auch einen Austausch kultureller Praktiken (vgl. Düllo & Meteling & Suhr 2001: 17). Grenzüberschreitende Aktionen finden häufig in einem geographisch begrenzten Raum - überwiegend in dem durch die Ländergrenzen der OECD 17 gesteckten Rahmen - statt, wobei sich diese Grenzen nicht wirklich auflösen, sondern nur verschieben. Werden die Austauschprozesse auf die Grenzen westlicher Länder beschränkt, muss korrekterweise von Denationalisierung gesprochen werden. Dieser Prozess bezeichnet eine Aufweichung nationalstaatlicher Grenzen, unabhängig davon ob neue verdichtete Handlungsräume tatsächlich geographische Globalität erlangen oder nicht. In Bezug auf die beiden Kernaspekte der vorliegenden Arbeit beschreibt Denationalisierung in Hinblick auf Kommunikation und Kultur den grenzüberschreitenden Austausch oder die grenzüberschreitende Produktion von Zeichen und kulturellen Produkten und in Hinblick auf Wirtschaft den grenzüberschreitenden Austausch oder die grenzüberschreitende Produktion von Gütern, Dienstleistungen und Kapital (vgl. Zürn 1998: 87 f.). Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 215 1.3 Internationalisierung im Wandel der Zeit Auch wenn die Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie den Eindruck erwecken, die Internationalisierung sei - vor allem in Bezug auf die Ökonomie - ein Modethema, das sich erst mit der Entstehung des Internet etabliert habe, existiert sie bereits seit frühen Phasen der Menschheits- und Gesellschaftsgeschichte. Die ersten primitiven Ansätze eines gebietsübergreifenden Tauschhandels sind schon in der Jungsteinzeit um circa 5000 vor Christus zu verorten, gefolgt von einem frühen zwischenstaatlichen Handel der sumerischen und babylonischen Stadtkulturen nach 3200 vor Christus. Neben dem Tauschhandel finden sich ab 2700 vor Christus erste geldwirtschaftlich geprägte Handelsbeziehungen in Ägypten, Vorderasien und Europa. Diese ersten Formen internationaler Unternehmenstätigkeit entsprechen überwiegend nicht dem heutigen Verständnis einer internationalunternehmerischen Prägung, dennoch sind die internationalen Verflechtungen der Wertschöpfungsprozesse charakteristisch für jegliche in der Geschichte vorkommenden länderübergreifenden Handelsbeziehungen (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 7 ff.; Meier & Roehr 2004: 3 ff.; Dülfer 2002: 72 ff., 93 f.; Müller-Merbach 2002: 743; Dülfer 2001: 19). 18 1.4 Die Bedeutung des Nationalstaats im Kontext von Internationalisierung Mit der Veränderung beziehungsweise Erweiterung der Wirtschaftsräume - symbolisiert durch das Konzept der Internationalisierung - stehen sowohl der Nationalstaat als auch Unternehmen vor einer neuen Herausforderung. In erster Linie ist es zunehmend schwierig geworden, ein Unternehmen anhand der drei Kriterien Gründungsort, Konzernsitz und Nationalität des Managements national eindeutig zu verorten (vgl. Didry & Wagner & Zimmermann 2000: 16; Albrow 1998: 203, 206 f.). Bestanden früher bi- oder multilaterale Beziehungen zwischen einzelnen Staaten, wächst mittlerweile ein System vernetzter, interdependenter Volkswirtschaften, das weltweit auf arbeitsteilige Kooperations-, Produktions- und Vertriebsformen ohne territoriale Grenzen setzt (vgl. Berger 2002: 21; Ebke 2002: 126). Da sich die Beziehungen internationaler Marktteilnehmer relativ unabhängig von staatlichen Regularien entwickeln, verlangen die Gesetze der Ökonomie eine relative Unabhängigkeit von staatlicher Kontrolle (vgl. Albrow 1998: 107). Die gesteigerte Mobilität von Produktionsfaktoren beschreibt die Folge der fortschreitenden Entgrenzung, wobei die Dynamik einer voranschreitenden Globalisierung ein weltweites Netz politischer, ökonomischer, kultureller, ökologischer und sozialer Fragestellungen spannt. In Bezug auf wirtschaftlich relevante Teilbereiche betrifft die gesteigerte Faktormobilität nicht nur Güter und Dienstleistungen, sondern auch die Faktoren selbst: Kapital, Wissen und Arbeit (vgl. Steger & Kummer 2002: 184; Trotha 2002: 231). Die Produktionsfaktoren haben sich von ihrem statischen Charakter gelöst und hin zu mobilen Erfolgselementen entwickelt. Somit überschreiten sie als Motor der wirtschaftlichen Internationalisierung die Grenzen nationaler Ökonomien und werden bei nationaler Machtreduzierung global organisiert (vgl. Albrow 1998: 206). Damit büßt der Nationalstaat an Bedeutung ein, die er durch strategische Allianzen und die Bildung möglichst fester Koalitionen zu kompensieren sucht, da eine koordinierte, langfristige Zusammenarbeit mehrerer Staaten die einzige Möglichkeit darstellt, den durch die Entgrenzung entstanden wirtschaftlichen Herausforderungen zu begegnen (vgl. Steger & Kummer 2002: 186; Deutsch 1972: 38 f.). Melanie Mergler 216 Für diese Zusammenarbeit auf internationaler Ebene erfährt der Einsatz effizienter Kommunikation einen elementaren Bedeutungszuwachs. Somit stellt die Verbindung der ökonomischen Entwicklung der Ressourcen eines Landes mit einem zunehmend dichter werdenden internationalen Kommunikationsnetz die Grundlage für eine Machtpolitik neuer Qualität dar (vgl. Deutsch 1972: 39). Unternehmen tragen ihrerseits dazu bei, diesen internationalen Rahmen zu festigen, indem dessen Regeln von den Akteuren in ihren arbeitsbezogenen Tätigkeiten regelmäßig aktualisiert werden. Der internationale Rahmen wird im Kontext eines internationalen Unternehmens nur dann für seine Akteure real, wenn er innerhalb konkreter Alltagssituationen bedeutsam wird (vgl. Didry 2000: 309). Voraussetzung dafür ist, dass die “Individuen einen Komplex von Normen, Regeln, Praktiken und Konventionen einhalten, um Reziprozität, Zusammenhalt und Homogenität im Verhalten ihrer Mitglieder zu gewährleisten.” (Filion 2000: 375) Es müssen kollektive Räume zur Verhandlung der genannten Faktoren geschaffen werden (vgl. Salais 2000: 417). Abschließend ist zu konstatieren, dass der nationale Rahmen “weder für die Organisation des Wirtschaftsraums noch für die rechtliche Regelung der Arbeitsverhältnisse von Natur aus vorgegeben” (Delors 2000: 9) ist, sondern selbst das Produkt eines geschichtlichen Prozesses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellt. Auf dieser flexibel ausgerichteten Grundlage entwickeln sich die auf nationalen Voraussetzungen basierenden und miteinander verknüpften Kooperationsformen weiter zu internationalen Produktionswelten. Die europäische Wirtschaft nutzt dabei die Stärke, die sich bei der Arbeitsteilung aus den Ressourcen der unterschiedlichen beteiligten Länder ergibt (vgl. Didry & Wagner & Zimmermann 2000: 18). Auf dieser Basis haben europäische Unternehmen die Möglichkeit, der rasanten technologischen Entwicklung mit gemeinsamen Strategien zu begegnen. Im Jahre 2000 stellte Delors fest, dass fünfzig Prozent der gegenwärtig verwendeten Technologie in zehn Jahren obsolet oder durch neue Technologien ersetzt seien und bis dahin fünfzig Prozent der Arbeitnehmer nur über eine formale oder veraltete, über zehn Jahre zurückliegende Ausbildung verfügten (vgl. Delors 2000: 12). Diesen Herausforderungen muss sowohl auf nationaler, als auch auf international-kooperativer Ebene begegnet werden. Jene Unternehmen, “die ihre Produktion auf verschiedene Länder und Märkte verteilten, haben einen großen Vorsprung vor denen gewonnen, die nur im eigenen Land produzieren” (Rosecrance 2001: 15), was in Bezug auf die Bedeutung von Nationen und Nationalitäten für einzelne Arbeitnehmer besonders im operativen Alltag zum Ausdruck kommt und anhand einer empirischen Studie in einem europäischen Wirtschaftsunternehmen nachgewiesen werden konnte. 2 Das Management internationaler Unternehmen Aufgrund des sich zunehmend verschärfenden internationalen Wettbewerbs, der bestehende Organisationsstrukturen im gegenwärtigen Informations- und Wissenszeitalter mehr als in jeder anderen wirtschaftlichen Entwicklungsphase in Frage stellt, werden hohe Anforderungen an das Management 19 international agierender Unternehmen westlicher Industrienationen gestellt (vgl. Frese 1994: 3). Management soll verstanden werden als das Treffen und Durchsetzen von Entscheidungen über die Verwendung beziehungsweise Aufteilung von finanziellen Ressourcen, Sach- und Personalressourcen bei konkurrierenden Handlungsalternativen. Durch Planung, Steuerung und Kontrolle werden Engpassfaktoren berücksichtigt. Der Begriff Management wird sowohl in der angelsächsischen als auch in der deutschen Fachliteratur funktional und institutional definiert, wobei Management im funktionalen Sinne Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 217 eine Abfolge von Funktionen definiert, das heißt alle zur Steuerung eines Unternehmens notwendigen Aufgaben und Tätigkeiten. Die institutionale Bedeutung hingegen beschreibt jene Personengruppe, die eine Organisation führt und die auf einer Leitungsebene über dispositive Entscheidungs- und Anordnungskompetenzen gegenüber operativ tätigen Weisungsbefugten verfügt. Im weiteren Verlauf soll sich vorwiegend auf die funktionale Ebene bezogen werden, die grundsätzlich auf linear aufeinander folgenden Funktionen basiert. Fayol hat diese fünf den Managementprozess bestimmenden Funktionen erstmals benannt: Planen, Organisieren, Anweisen, Koordinieren und Kontrollieren. Diese Systematik wird auch in der heutigen Managementliteratur nur geringfügig modifiziert eingesetzt und findet als Plan-Do-Check- Act-Zyklus praktische Anwendung (vgl. Simon 2005: 18; Dülfer 2001: 1). In der Annahme, Management umfasse die Tätigkeiten, die in einer “multipersonalen, arbeitsteilig gegliederten Organisation zur Erreichung abgestimmter Ziele durch sparsamen Einsatz von Ressourcen” (Dülfer 2001: 2) erforderlich seien, nähert sich dieser Begriff jener Interpretation von Führung, die diese als “spezifische Art der Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Personen mit der Wirkung [sieht], daß durch die Beeinflussung von deren Verhalten bestimmte Ziele durch gemeinschaftliches Handeln erreicht werden.” (Ebd.) Die Kommunikation nimmt hier eine zentrale Position ein, wobei der Komplex informationeller Aktivitäten in Form von Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -vermittlung im Mittelpunkt steht (vgl. ebd.). In Bezug auf das wirtschaftliche Unternehmen zeichnet sich die Tätigkeit des Managements stets durch Komplexität und Ungewissheit aus (vgl. Steger & Kummer 2002: 194 f.), zumal das Ziel in der Reduzierung von Transaktionskosten 20 besteht. Die Kosten der Austauschprozesse zwischen Marktteilnehmern sollen dem Transaktionskostenansatz zufolge minimiert werden, was vor allem durch die Veränderung der Art der Beschaffung, Verarbeitung und Bereitstellung von Informationen zu erreichen ist. Fehlgeschlagene Kommunikationsprozesse erhöhen das Volumen der gesamten Transaktionskosten und sind daher möglichst zu vermeiden. Management auf internationaler Ebene liegt vor, wenn “das Operationsgebiet der Unternehmung […] über die Grenze des eigenen Staatsgebietes […] hinausreicht.” (Dülfer 2001: 5) Auf Basis einer zielbezogenen Kommunikation mit ausländischen Interaktionspartnern, kann zwischen einem echten Auslandsmanager und einem im Stammhaus tätigen Manager unterschieden werden, wobei der erste ins Ausland entsandt und der zweite mit speziellen Auslandszuständigkeiten betraut wurde. Vor allem dem international aus dem Heimatland agierenden Stammhausmanager kommt eine große Verantwortung zu, da er trotz räumlicher Distanz die nötige Sensibilität und eine richtige Kenntnis der Erfordernisse aufbringen muss (vgl. ebd.: 437). 21 2.1 Internationalisierung als strategische Aufgabe des Managements Aus Ansätzen der Planung - der Finanz-, Langfrist- und der Strategischen Planung - hat sich in den letzten vierzig Jahren die wissenschaftliche Disziplin des Strategischen Managements entwickelt, die sich vorwiegend mit strategischen Entscheidungen beschäftigt (vgl. Aaker 1989: 9 ff.; Kreikebaum 1997: 15 ff.). Der Strategiebegriff tangiert maßgeblich geplante Maßnahmen zur Erreichung der langfristigen Ziele eines Unternehmens, aber auch Entscheidungs- und Handlungsmuster für ungeplant eintretende Situationen. Bei der Erschließung von Erfolgsvorteilen, welche die Grundlage für Wettbewerbsvorteile darstellen, ist Melanie Mergler 218 es für das Unternehmen elementar, neben seiner Umwelt auch seine eigenen Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen zu berücksichtigen (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 823 f.). Der Strategieprozess, in dem durch beabsichtige Schritte und Handlungen, den Einbezug von Personen, der Auswahl an Strategieinstrumenten, Methoden und Vorgehensweisen, Strategien für Unternehmen entwickelt und realisiert werden sollen, werden die klassischen Schritte der Formulierung, Evaluierung, Implementierung und einer erneuten Evaluierung mit anschließender Fortsetzung des erreichten Zustandes oder einer Überprüfung mit nachhaltigem Wechsel durchlaufen. Dabei ist kein idealtypischer Prozess zu verzeichnen. Die Anforderungen an eine Strategie lauten, dass sie mit bereits vorliegenden Ressourcen umsetzbar sein sollte und zu Wert schaffenden Vorteilen führen müsse. Verschiedene Auffassungen von Strategie lassen den Inhalt der jeweiligen Zielsetzungen offen. Laut Steger und Kummer beschreiben Strategien alle Gegenstandsbereiche von Produkten und Prozessen, Kunden und Bürgern, über soziale Verantwortung und Selbstinteresse bis hin zur Nutzung von Ressourcen (vgl. Steger & Kummer 2002: 195 ff.). Eine Form der langfristig orientierten Vorgehensweise zur Zielerreichung und Unternehmenssicherung stellt in der Strategischen Planung das Instrument der Internationalisierung dar, welches das Management in besonderem Maße herausfordert. Einerseits begibt es sich bei der Entscheidung für eine internationale Ausrichtung des Unternehmens unmittelbar in Kontakt mit fremden Ländern, Kulturen, Wirtschafts- und Sozialsystemen und andererseits bedingt die quantitative Vergrößerung der Führungsaufgaben gleichzeitig eine qualitative Anreicherung der Herausforderungen und Lösungsanforderungen. Vor allem die Kulturverträglichkeit von Strategien wird in ihrer Bedeutung sowohl in der Praxis als auch in der Theorie häufig noch immer unterschätzt (vgl. Krystek & Zur 2002: 13, 777 ff.). Grundsätzlich bedarf der Internationalisierungsprozess eine - alle Unternehmensbereiche und -funktionen erfassende - langfristige Strategie, die neben den klassischen Gebieten Einkauf, Produktion und Distribution auch Marketing, Finanzierung, Recruiting, Forschung und Entwicklung beinhaltet (vgl. Berger 2002: 23). Im Kontext des Aufbaus weltweiter Unternehmensnetzwerke werden die grundlegenden Merkmale der Kultursensibilität der Akteure, die jeweils in unterschiedlichen kulturellen Orientierungssystemen verortet sind, häufig verkannt und vor allem in den Bereichen Kommunikation und Kultur sichtbar. 22 2.2 Kultur und Kommunikation als strategische Aufgabe des Managements Bereits in der frühen Phase eines unternehmerisch geplanten Internationalisierungsansatzes muss ein Kulturmanagement in Hinblick auf eine Harmonisierung von Kultur und Internationalisierungsstrategie erfolgen, welches seine Extremformen in der Anpassung der Strategie an die Kultur oder der Anpassung der Kultur an die Strategie findet (vgl. Krystek & Zur 2002: 779 ff.). Innerhalb dieses zweiseitig-ambivalenten Dominanzkonzeptes scheint gleichzeitig eine starke Identifikationswirkung von bestimmten Produkten auszugehen (vgl. Dülfer 2001: 466). Der Begriff Unternehmenskultur wurde Anfang der 1980er Jahre in die Management- Literatur eingeführt und erschöpft sich gegenwärtig in zahlreichen Definitionen. 23 In der vorliegenden Arbeit wird Unternehmenskultur verstanden als die Gesamtheit der Grundannahmen, Werte, Normen, Einstellungen und Überzeugungen eines Unternehmens und seiner Mitglieder, die sich in einer Vielzahl von Verhaltensweisen und Artefakten ausdrückt und sich als Antwort auf die vielfältigen Anforderungen, die an dieses Unternehmen gestellt Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 219 werden, im Laufe der Zeit herausgebildet hat (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 684; Wieland 2002: 795; Dülfer 2001: 264 f.; Seiwert 1994: 334). Auf Grundlage dieser Definition lassen sich einerseits vom Menschen internalisierte Ideen und Motivationen, andererseits real erkennbare Symbole und symbolische Handlungen unterscheiden. In Bezug auf die Analyse von Schein 24 , der die Mehrschichtigkeit des Phänomens modellhaft deutlich macht, kann ein Symbol-, Normen- und Wertesystem auf einer Basis verortet werden, welches die drei Ebenen der Unternehmenskultur skizziert (vgl. Wieland 2002: 795; Dülfer 2001: 265). Die beiden Dimensionen Bewusstsein und Sichtbarkeit bilden den Rahmen für die Basisannahmen, Werte und Normen sowie Symbole und Zeichen. Die unsichtbaren, zumeist unbewussten und als selbstverständlich angenommenen basalen Grundprämissen vereinen elementare Überzeugungen über Umwelt, Wahrheit, Wirklichkeit, Zeit und Raum, die Natur des Menschen und zwischenmenschliche Beziehungen. Dieses tiefliegendste Element der Unternehmenskultur ist nicht direkt zugänglich, schwer zu interpretieren, bietet aber als kollektives Unterbewusstsein generelle Orientierungen für die Unternehmensmitglieder. Diese basic assumptions weisen eine geringe Sichtbarkeit bei geringem Bewusstsein auf. Teilweise bewusst und teilweise sichtbar sind die bekundeten Normen und Werte, welche auf einem hohen Abstraktionsniveau standardisierte Verhaltensrichtlinien oder Orientierungspunkte für das Handeln von Organisationsmitgliedern verbindlich festlegen. Sichtbar und bewusst sind die Symbole und Zeichen, welche in Form von Verhaltensweisen und Artefakten direkt zugänglich sind. Die Verhaltenswelt zeichnet sich durch Führungs-, Motivations-, Kontroll- und Kooperationsverhalten im engeren und Strukturen, Systeme und Strategien eines Unternehmens im weiteren Sinne aus. Als explizite Kulturträger stellen Artefakte materiell und immateriell die wahrnehmbare Realität einer Kultur dar. Als materielle Artefakte gelten beispielsweise Einrichtung und Kleidung, Briefbögen und Logos, immaterielle Artefakte sind Sprache, Rituale oder Umgangsformen, vorherrschender Sprachstil, Wortwahl, Slogans oder Zeremonien. In den Symbolen und Zeichen drücken sich die Grundannahmen, Werte und Normen aus (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 686 ff.; Flick 2007: 227 ff.; Dülfer 2001: 265). Alle drei Ebenen beeinflussen sich gegenseitig und an den jeweiligen Grenzen könnte im übertragenen Sinne von einer semipermeablen Membran 25 gesprochen werden, durch welche die Elemente diffundieren. Übertragen auf die organisatorische Praxis beschreiben die Basiselemente fest im Unternehmen verankerte Standards, welche durch die Normen regulativ festgelegt werden, zum Beispiel in Form von Kommunikationsregeln. Symbole, wie Bestandteile des Corporate Designs, kommunizieren schließlich die konkrete Firmenidentität. Dieses Drei-Ebenen-Modell von Schein kann sowohl auf zwei Ebenen heruntergebrochen, als auch auf fünf erweitert werden. Minimiert auf zwei Ebenen wird Kultur als eine selbstverständlich angenommene unsichtbare immaterielle und eine wahrnehmbare materielle Ebene dargestellt. Die sogenannte Concepta beinhaltet alle Phänomene, welche mit den Grundannahmen, Werten, Normen, Einstellungen und Überzeugungen den tiefer liegenden Bestandteil von Kultur ausmachen. Diese drücken sich als Verhaltensweise und Artefakte in der Percepta aus und werden empirisch wahrnehmbar, beobachtbar und fassbar. Visualisiert in der Eisberg-Metapher stellt die Percepta-Ebene die Spitze des Eisbergs dar, die von einem nach unten immer breiter werdenden Fundament, der Concepta-Ebene, getragen wird. 26 Fünf Ebenen weist schließlich das sogenannte Zwiebel-Modell auf, das in einer vereinfachten Visualisierung die Vielschichtigkeit einer Kultur als Häute einer Zwiebel darstellt. Im Inneren der Zwiebel befinden sich demnach die Basiselemente von Kultur und an der Oberfläche sind sichtbare Kulturäußerungen nachzuweisen. Innere Teile einer Kultur werden erst Melanie Mergler 220 erkennbar, nachdem die äußeren Ringe der Kulturzwiebel symbolisch abgeschält wurden. Die Metapher der zu schälenden Zwiebel, wobei die Augen gereizt werden, lässt sich auf die interkulturelle Begegnung übertragen. Die Konfrontation mit Basiselementen einer fremden Kultur, unabhängig ob es sich um eine Landes- oder Unternehmenskultur handelt, ist oftmals entsprechend reizbar. 27 Anhand der Skizzierung dieser Modelle kann aufgezeigt werden, dass eine Unternehmenskultur in der Regel historisch gewachsen, von den Organisationsmitgliedern gruppenspezifisch geprägt und von geteilten Werthaltungen bestimmt ist. Entscheidungen und Handlungen werden zum einen maßgeblich von diesem kollektiven Denk- und Handlungsmuster getragen und andererseits von relevanten Kulturen, wie der Privat-, Branchen- und Gesellschaftskultur beeinflusst. Als Idealform kann eine Lernkultur herausgestellt werden, welche herausragende Grundinhalte konstant festigt, aber gleichzeitig offen ist für Anpassungen und Veränderungen. Übertragen auf den aktiven und lernfähigen Strategieprozess eines Unternehmens, sollten Kulturimpulse aller Art aufgenommen und umgesetzt werden, um die Strategie inklusive der Normen und Werte eines Unternehmens in einem kulturverträglichen Maß weiterzuentwikkeln (vgl. Krystek & Zur 2002: 778 ff.). Auf die Komplexität und Varietät des Phänomens Unternehmenskultur in Bezug auf die Relevanz von Kultur für das Management soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Es sei jedoch kurz auf das Grundlagenproblem des Universalismus in Kontrast zum Kulturismus im Management verwiesen. Seit den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts stehen sich im Internationalen Management die Auffassungen der Universalisten jenen der Kulturalisten gegenüber (vgl. Keller 1982: 539 ff.). Die Universalisten verfolgen mit ihrer Culture-Free-These die Annahme, dass Managementkonzepte und die dahinterstehenden Techniken universell und unabhängig von kulturspezifischen Einflüssen gültig seien und es nur einen richtigen Weg zur Zielerreichung gäbe. Die Kulturalisten sind mit der Culture- Bound-These zufolge davon überzeugt, dass entsprechende Konzepte und Techniken des Managements kulturabhängig seien und sich viele mögliche Wege zur Erreichung des Zieles anböten (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 805). “Für die ‘harten’ Elemente der Betriebswirtschaftslehre, wie etwa für Methoden und Instrumente der Planung, der Investition, der Finanzierung, der Kostenrechnung oder auch der Produktsteuerung, gilt eher die Universalismusthese. Dagegen bestätigt sich für die ‘weichen’ Elemente der Managementlehre tendenziell die Kulturismusthese. Verhaltensbezogene Aspekte, wie Motivation, Führungsstil, Autoritätsbeziehungen, Entscheidungsfindung oder Konfliktverhalten, sind kulturell geprägt.” (Ebd.) Im Gegensatz zu den Universalisten und Kulturisten, die eine statische Perspektive einnehmen, wird das Management von den Anhängern der Konvergenz- und der Divergenzthese dynamisch betrachtet. Erstere gehen davon aus, dass sich Managementtechniken langfristig anglichen und die nationalen Unterschiede im Management zu einheitlichen Methoden führten, wohingegen letztere annehmen, dass entsprechende Techniken unterschiedlich seien und durch die Beeinflussung der jeweiligen nationalen Kulturen gegebenenfalls noch unterschiedlicher würden (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 806). Da die Strategische Planung in Form einer langfristigen Ressourcenverteilung die für das Unternehmen bedeutsamsten Vorgaben zur Erreichung zukünftiger Erfolgspotentiale festlegt, muss Kommunikation an dieser Stelle als fester Bestandteil der Strategie verankert und darf nicht lediglich als Mittel zum Zweck verkannt werden. Die oberste Führungsebene, die selbst Produkt und gleichzeitig auch Produzent von Kommunikation in Form der Unternehmens- Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 221 kommunikation ist, wird im Prozess der Strategischen Planung von Normen und Werten geleitet, die in der etablierten Unternehmenskommunikation festgelegt sind (vgl. Krystek & Zur 2002: 780). Die Relevanz der Wirkung und Wirksamkeit von Kommunikation ist anhand der Vielschichtigkeit einer Unternehmenskultur mit ihren Grundannahmen, Werten, Normen, Einstellungen und Überzeugungen deutlich geworden und muss vor allem von den Unternehmen in noch größerem Maße erkannt werden. Eine interkulturelle Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft könnte durch das Angebot von relevanten Fremdsprachenkursen am Arbeitsplatz aktiv gefördert werden, die gleichzeitig eine offene Beschäftigung mit sozio-kulturellen Besonderheiten, wie Gesellschaftsstrukturen, Normen, Ethik und Moralvorstellungen der jeweiligen Geschäftspartner beinhalten. Der Erwerb ökonomisch relevanten Kulturwissens sollte das Ziel sein (vgl. Dülfer 2001: 467 f.). “Das Verständnis der jeweiligen Kultur des Heimatlandes des Lieferanten ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Hersteller-Lieferanten-Beziehung und beeinflusst auch die Schlüsselgröße Vertrauen […] positiv.” (Redel 2002: 489) In Hinblick auf die Fragestellung des vorliegenden Aufsatzes ist eine exakt positionierte interkulturelle Kommunikation ein geeignetes Werkzeug, um der Komplexität im Managementprozess zu begegnen, da sich das Ausmaß der Internationalisierung von Unternehmen in deren Kultur, Zielsetzung, Strategie sowie den Denk- und Handlungsweisen des Managements weit mehr zeigt als in Exportquoten oder ausländischen Direktinvestitionen. Neben der Betrachtung betriebswirtschaftlicher Kennzahlen ist Internationalisierung eine Unternehmensphilosophie, die beschreibt, dass Unternehmenssicherung sowie Unternehmenswachstum nur durch nachhaltige und ausgebaute Auslandsaktivitäten möglich seien. Die mentale Öffnung gegenüber anderen Ländern und Kulturen ist ein Teil dieser Philosophie, die im Sinne eines Wunsches nach partnerschaftlicher Zusammenarbeit als “mentale Internationalisierung” (Simon 1996: 32) bezeichnet werden kann (vgl. Krystek & Zur 2002: 6). Die Bereitschaft und Fähigkeit zum gegenseitigen Austausch sowie zu grenzüberschreitender Kooperation beschreibt das wichtigste Merkmal von Internationalisierung und kommt damit dem Synthesekonzept bei Interkulturalität sehr nahe. 2.3 Interkulturelle Organisationsprozesse Wie in Form der Kulturismusthese bereits dargelegt, entscheiden vor allem bei grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen die nicht-quantifizierbaren, weichen Faktoren den Erfolg eines internationalen Unternehmens (vgl. Müller-Stewens & Willeitner & Schäfer 2002: 164). Da interkulturelles Handeln in Überschneidungssituationen erfolgt, ereignen sich auch interkulturelle Organisationsprozesse in dieser Sphäre, welche eigenkulturell geprägte Verhaltensweisen, Denkmuster und Emotionen mit fremden Verhaltensweisen, Denkmuster und Emotionen fremdkulturell geprägter Interaktionspartner konfrontiert (vgl. Holzmüller & Berg 2002: 889 f.). Stellvertretend für interkulturelle Organisationsprozesse wird die Bedeutung des interkulturellen Managements skizziert und anschließend die Bedeutung der interkulturellen Kommunikation in diesem Kontext dargestellt. Melanie Mergler 222 2.4 Die Bedeutung des Interkulturellen Managements im Organisationsprozess In internationalen Unternehmen ist das Managementverhalten länder- und kulturspezifisch zu variieren, da in einer durch nationale Grenzen bestimmten Makrokultur unterschiedliche unternehmensspezifische Mikrokulturen vorliegen. Eine Nation steht demzufolge einem Variantenreichtum an Unternehmenskulturen gegenüber, wobei erstere durch die im Enkulturationsprozess sozialisierten Mitarbeiter Einfluss auf die kulturelle Beschaffenheit eines Unternehmens nimmt (vgl. Müller-Stewens & Willeitner & Schäfer 2002: 164). Die Grundorientierungen der Makrokultur finden somit automatisch Eingang in die jeweiligen Mikrokulturen. Aufgrund des Bewusstseins für eine Makro- und Mikroebene im Internationalisierungsprozess eines Unternehmens, können betriebswirtschaftliche Herausforderungen benannt werden, mit welchen die Managementebene konfrontiert wird. Diese Herausforderung des interkulturellen Managements besteht primär darin, die Arbeitsprozesse einer zunehmenden Anzahl interkulturell gemischter Teams auf allen Ebenen zu organisieren (vgl. Holzmüller & Berg 2002: 888; Stumpf & Zeutschel 2001: 176; Kopper 1996: 229). Eine an dieser Stelle erforderliche interkulturelle Management-Kompetenz bestehe einerseits aus international betriebswirtschaftlichem Fachwissen, aber andererseits zum großen Teil aus sozialen interkulturellen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sind diese nicht ausreichend vorhanden, kann es innerhalb der interkulturellen Überschneidungssituationen im Arbeits- und Geschäftsleben zu Schwierigkeiten kommen. Hentze und Kammel benennen die vier klassischen Problemfelder mit der Negierung kultureller Unterschiede, einem Schablonendenken, Wahrnehmungsverzerrungen und ethnozentrischer Überheblichkeit (vgl. Holzmüller & Berg 2002: 883 f.). Das Ziel eines erfolgreichen interkulturellen Managements besteht darin, kulturelle Unterschiede zu erkennen und diese bewusst als weltweit nutzbare Ressource zu verstehen. Auch wenn multikulturelle Arbeitsgruppen zur Entscheidungsfindung mehr Zeit benötigen und gegebenenfalls vermehrt Konflikte auftreten, regen verschiedene kulturelle Einstellungen und Werte durch die Wahrnehmung von Unterschieden Lernprozesse an und führen daher zu Wettbewerbsvorteilen. Zu betonen sind hier aufgrund der besonderen Gruppenstruktur die Optionen auf kreative und innovative Lösungsansätze, eine bessere Anpassungsfähigkeit sowie eine höhere Produktivität, die durch verschiedenartige Perspektiven, Erfahrungen und Ideen der Gruppenmitglieder herbeigeführt werden könne. Um multikulturelle Teams erfolgreich zu führen, muss eine Umgebung der kulturellen Aufmerksamkeit geschaffen werden, welche über Motivations- und Anreizmaßnahmen verfügt, aber gleichzeitig auch eine interkulturelle Kommunikation für Leistungs-Feedbacks, die Aufstellung von Konfliktlösungsmustern und einen kultursensitiven Umgang mit Mitarbeitern sowie Fähigkeiten zur Identifikation von Kulturunterschieden entwickelt. Eine Ausbildung interkultureller Handlungskompetenzen ist eine unerlässliche Basis zur Erreichung globaler Wettbewerbsvorteile. Ohne geeignete Maßnahmen im Management jedoch könne den interkulturellen Herausforderungen nicht begegnet werden (vgl. Holzmüller & Berg 2002: 884 f.; Moosmüller & Spieß & Podsiadlowski 2001: 211 ff.; Adler 1997: 132, 138; Kopper 1996: 241; Thomas & Hagemann 1996: 194 f.; Zafarpour 1996: 488; Philips 1994: 107). Da jegliche Art unternehmensinterner Fortbildungen oder Schulungen und grundsätzlich alle unternehmensinternen Austauschprozesse sowie die Effizienz eines Unternehmens auf einer reibungslosen Kommunikation beruhen, soll der weitere Schwerpunkt auf die Bedeutung der interkulturellen Kommunikation im Organisationsprozess gelegt werden. Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 223 2.5 Die Bedeutung der Interkulturellen Kommunikation im Organisationsprozess Auf Basis einer Definition von interkultureller Kommunikation als Verständigung zwischen Personen unterschiedlicher Kulturen in kulturellen Überschneidungssituationen mit wechselseitig unbekannten sprachlichen und nicht-sprachlichen Symbolen, sind die Herausforderungen eines unternehmerischen Internationalisierungsprozess in Bezug auf Kommunikation offensichtlich. Sprachliche und kulturelle Unterschiede bedingen einerseits Verständigungsschwierigkeiten, andererseits entfällt durch die Produktion an unterschiedlichen Orten ein großes Zeit- und Kostenbudget auf Reisetätigkeiten, welche wiederum Entscheidungsengpässe durch Abwesenheitszeiten und Zeitverzug sowie Probleme der Erreichbarkeit durch unterschiedliche Zeitzonen bedingen. Eine störungsfreie Kommunikation innerhalb des gesamten Unternehmens und zwischen den einzelnen Standorten ist die Basis für die Bewältigung tiefgreifender kommunikativer Herausforderungen, wie Sprachbarrieren, unterschiedliche Werte und Normen (vgl. Behrendt 2002: 683). Zur Schaffung dieser Basis ist eine entsprechende Kommunikationspolitik nötig, die alle Äußerungen, Aussagen, Botschaften, Mitteilungen oder Informationen mit interner und externer Wirkung lenkt und die auf drei Säulen basieren sollte. Das erste Element umfasst eine interne Kommunikation 28 , das zweite Element beschreibt die Umsetzung einer Corporate Identity 29 und das dritte Element sind Mitarbeiterschulungen zur Schärfung der Kultursensibilität. Im betriebswirtschaftlichen Marketing-Verständnis ist Kommunikation einerseits Bestandteil des klassischen Marketing-Mix 30 , andererseits nimmt die Kommunikationspolitik gleichzeitig eine übergeordnete Stellung ein, da alle Elemente des Marketing-Mix kommunikativ transportiert werden müssen. Dieser erweiterte Kommunikationsbegriff erscheint somit einerseits als Gesamtmenge und andererseits als Teilmenge davon (vgl. Unger 2002: 459 f., 469). Der Forschungsgegenstand des vorliegenden Aufsatzes lässt sich mit der Betrachtung interner Kommunikationsprozesse der übergeordneten Kommunikationspolitik auf der Managementebene zuordnen. Basierend auf den beschriebenen interkulturellen Überschneidungssituationen kommt es aufgrund von unterschiedlichen Denkmustern, Arbeitseinstellungen, Lebensgewohnheiten, Auffassungen über angemessenes Führungsverhalten und einem divergierenden Rollenverständnis zu Störungen in der Kommunikation, welche das Management durch eine reibungslose sprachliche Kommunikation mit eindeutig definierten Arbeitssprachen bewältigen muss (vgl. Dülfer 2001: 462 f.). Die Voraussetzungen für eine optimale Kommunikation im kulturüberschreitenden ökonomischen Tätigkeitsfeld sind somit die Beherrschung einer fremden Wirtschaftssprache und die Aneignung kulturspezifischen Zusatzwissens. In Kriterienkatalogen für international tätige Fach- und Führungskräfte werden Kommunikationsfähigkeit und die Offenheit für andere Kulturen sowie Toleranz gegenüber fremdem Verhalten bereits genannt (vgl. Dülfer 2001: 557), dennoch ist eine ausreichende Sensibilisierung für interkulturelle Kommunikationshandlungen sowohl in Bezug auf Auslandsmanager, aber vor allem in Bezug auf international tätige Stammhausmitarbeiter noch nicht erreicht. Eine besondere Betrachtung gilt in diesem Zusammenhang den kommunikativen Beziehungen zwischen der Konzernzentrale und den national sowie regional gestreuten Unternehmensstandorten. International ausgerichtete Unternehmen greifen vermehrt auf kompetenzbezogene, vertikale Kommunikation zurück, da internationale Unternehmensaktivitäten zentral koordiniert und entschieden und anschließend als vollzugsverbindlicher Umsetzungsauftrag an die einzelnen Standorte weitergegeben werden. Vor diesem Hintergrund ist die Schaffung einer leistungsfähigen Kommunikationsinfrastruktur von elementarer Bedeutung. Diese Infrastruktur ermöglicht es heute mit Hilfe Melanie Mergler 224 von computergestützten Informations- und Kommunikationssystemen strategische und operative Informationen nahezu ohne Zeitverzug zu übermitteln, dennoch sind “ergänzende organisatorische Lösungen […] zur Institutionalisierung des Informationsaustausches zwischen Managern der Zentrale und der Landesgesellschaften erforderlich”. (Frese & Blies 2002: 227) Eine intensive Kommunikation ist für internationale Unternehmen von großem Vorteil, da diese eine einseitige Problembetrachtung verhindert und den interkulturellen Erfahrungsaustausch auf fachlicher und persönlicher Ebene verbessert, die Motivation der Mitarbeiter erhöht und die Akzeptanzprobleme gegenüber zentralen Entscheidungen verringert (vgl. ebd.: 226 f.). In Bezug auf die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens nehmen Kommunikationsprozesse einen hohen Stellenwert ein, was anhand des prozentualen Arbeitszeitanteils deutlich wird, den Top-Manager für Kommunikation aufwenden. Studien (vgl. Nix & Schnöring & Siegert 2008: 8; Behrendt 2002: 685) zufolge entfielen neunzig Prozent der Arbeitszeit auf das Tätigkeitsfeld Kommunikation, wovon der größte Teil durch Face-to-face-Kommunikation gekennzeichnet ist und asynchrone Kommunikationstechnologien wie E-Mail aufgrund eines extremen Zeitdrucks und eines hohen Aufgabenvolumens mit dem Ziel der Rationalitätssteigerung zunehmend bedeutender werden. Behrendt konstatiert 2002, dass neue Kommunikationstechnologien Wege aufzeigten, der Zeitfalle zu entkommen (vgl. Behrendt 2002: 685). Diese Aussagen stellen sich jedoch knapp zehn Jahre später zunehmend kontrovers dar. Eine Frage, welche jedoch auch gegenwärtig relevant erscheint, betrifft eine geeignete Technologieauswahl für die spezielle Aufgabenerfüllung (vgl. ebd.: 687). Anhand von drei Leitkriterien kann eine Auswahl erfolgen: • Welche Aufgaben sind durch Kommunikationstechnologien zu unterstützen? • Welche Kommunikationskomplexität ist bei diesen Aufgaben gefordert? • Welche Kommunikationstechnologien können die Kommunikationsaufgabe sowohl technisch unterstützen und entsprechen gleichzeitig ihrem Komplexitätsgrad? Bei den zu unterstützenden Aufgabenbereichen geht es in erster Linie um Informationsaustausch und -suche sowie gemeinsame Dokumentenbearbeitung. In Bezug auf die Komplexität der Kommunikationsaufgabe muss laut Rice der Grad der sozialen Präsenz bei ansteigender Kommunikationskomplexität steigen, um eine effiziente Kommunikation zu gewährleisten. Mitarbeitergespräche seien demzufolge persönlich zu führen, wohingegen Monatsberichte per E-Mail übermittelt werden könnten. Schließlich müssen die synchronen, asynchronen sowie präsentationsunterstützenden Kommunikationstechnologien 31 je nach Komplexitätsgrad positioniert werden. Als asynchrone Kommunikationstechnologie sei die E-Mail herausgestellt, welche die elektronische Übermittlung von Daten wie Texten oder Grafiken beschreibt. Die elektronische Post zeichnet sich durch eine permanente Erreichbarkeit von Adressaten, sehr kurze Übertragungszeiten sowie eine einfache Verwendung aus (vgl. Behrendt 2002: 687 ff.). 3 Interkulturelle Organisationsprozesse in der Unternehmenspraxis 32 International agierende Wirtschaftsunternehmen im Bereich Produktion und Entwicklung sind auf eine dem Markt entsprechende interne Organisationsstruktur angewiesen, um die gesetzten Unternehmensziele erreichen zu können. Diese kann sich aus Einheiten mit verschiedenen Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 225 Spezialisierungsbereichen zusammensetzen. Im Rahmen einer solchen Struktur kann eine Einheit beispielsweise zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Konstruktion und von Produktions-Management-Prozessen beitragen, indem sie sich auf einzelne Produktionselemente spezialisiert und auf deren technische Weiterentwicklung konzentriert. Der Organisationsaufbau orientiert sich dabei nicht anhand von Ländergrenzen, sondern anhand von integrierten, transnationalen Funktionseinheiten, in denen spezialisierte Fachkräfte aller Nationen im Team gemeinsam an Projekten arbeiten. Andere Funktionseinheiten koordinieren das Marketing und die technische Unterstützung für lokale Kunden oder sorgen in Form eines nach aktuellsten Standards ausgestatteten Trainingsumfeldes mit technischem Equipment wie Simulatoren oder Trainingscomputern für eine optimale praktische Vorbereitung der Anwender auf das Produkt. Ebenso können sich einzelne Einheiten schwerpunktmäßig mit dem Bereich Forschung und Entwicklung beschäftigen. In Bezug auf strategische Aspekte sei die Ausrichtung von Unternehmen nicht branchenunabhängig, wobei es internationale, multinationale, globale und verstärkt transnationale Branchen gäbe (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 299). Dennoch ist es für das Management internationaler Unternehmen generell essentiell, die in den jeweiligen Branchen vertretenen Anspruchsgruppen einerseits möglichst gleichwertig zu berücksichtigen und andererseits das Prinzip der Wirtschaftlichkeit zu verfolgen. Bei allen betrieblichen Entscheidungen spielt der ökonomische Aspekt eine maßgebliche Rolle. In welcher Form aber lässt sich interkulturelle Kommunikation in dieses monetäre Schema einordnen? 3.1 Drei Schlüsselfaktoren als Ergebnis der angewandten Reflexion Interkulturelle Kommunikation wurde vormals bereits als Verständigung zwischen Personen unterschiedlicher Kulturen in kulturellen Überschneidungssituationen mit wechselseitig unbekannten sprachlichen und nicht-sprachlichen Symbolen definiert. Die vorliegenden drei Diskursebenen Sprache, Kultur und Kommunikation sollen im Rahmen einer kritischen Betrachtung in den Kontext zweier weiterer Meta-Ebenen gestellt werden: Wirklichkeit und Bewusstsein. Diese beiden Begriffe sind der semiotischen Theorie von Jurij M. Lotman entliehen (vgl. Eimermacher 1974: XVII). Dieser beschreibt den wirklichen Ist-Zustand als chaotisch und ungeordnet, wohingegen der bewusste künstliche Soll-Zustand eine geordnete Situation darstellt. Hier lassen sich auch betriebswirtschaftliche Anknüpfungspunkte durch den Ist-Soll- Vergleich herstellen, welcher die einfachste Form des Projekt-Controllings beschreibt. Die Ist-Werte beschreiben die tatsächliche Größe, wohingegen die Soll-Werte auf die Planungs- oder Kalkulationsgröße eingehen. Diese Größen können sich beispielsweise auf Kosten, Arbeitszeit oder Arbeitsmenge beziehen. Eine Analyse der Kostenabweichungen, also der Differenz zwischen den Ist- und Soll-Kosten, dient der Kontrolle der Wirtschaftlichkeit von Unternehmen beziehungsweise untergeordneter Einheiten. Analog zu diesem betriebswirtschaftlichen Modell kann das die Wirklichkeit auszeichnende Abbild der Strukturen eines interkulturellen Unternehmens mit dem Bewusstsein verglichen werden, welches über diese Strukturen besteht. Häufig wird eine Organisation mit der Darstellung ihrer Aufbaustruktur zu verstehen gesucht, doch leicht wird diese grafische Darstellung mit der faktischen Struktur verwechselt, die nicht immer diesem Organigramm entspricht. Diese Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein soll nachfolgend mit berücksichtigt werden. Melanie Mergler 226 Der Schlüsselfaktor Sprache Auf der sprachlichen Ebene lässt sich hinsichtlich der Anforderungen an Sprache eine Rückkopplungs-, Verständnis-, aber auch Erinnerungsfunktion feststellen. Kommunikation kann in diesem Sinne erst entstehen, wenn transportierte Informationen von allen Gesprächsteilnehmern gleich verstanden wurden. Zweifach ist festzustellen, dass Sprachkompetenz interne Abläufe beeinflusst. Einerseits bewirkt ein geringes Sprachniveau eine Verlangsamung der Prozesse in Bezug auf die Kommunikation mit internationalen Kollegen 33 , andererseits bekunden weitere Fremdsprachenkenntnisse den guten Willen und Respekt gegenüber anderen Nationalitäten, was im operativen Arbeitsablauf wiederum Wege ebnen kann. 34 Sprache wird hier überwiegend auch als Fremdsprache verstanden, wobei beispielsweise die Begrüßung in der Sprache des Gastgebers oder Kunden Vertrauen schafft (vgl. Merz 1998: 106). Im vorliegenden Kontext kann somit weder der emotional verorteten Muttersprache noch der sachlichen lingua franca Englisch ein Vorzug gegeben werden, da beide von essentieller Bedeutung für den kommunikativen Erfolg sind. Aus beiden müsste optimalerweise eine Verbindung hergestellt werden, so dass die Muttersprache des jeweiligen Kommunikationspartners als Türöffner für eine gegenseitige Annäherung genutzt werden könnte und die nachfolgenden sachlichen Arbeitsgespräche in der englischen Sprache erfolgen. Es wird allerdings deutlich, dass die offizielle Meeting-Sprache - englisch - das von Platon beschriebene Werkzeug darstellt, welches die Plattform für einen Austausch bildet. Das Sprachwerkzeug fungiert somit - wie Hammer, Schraubenschlüssel oder Zange in der Produktion - als ein technisches Hilfsmittel zur Vermittlung von Informationen, was sowohl für die Mutter-, als auch für die Fremdsprache gilt. Es kann festgestellt werden, dass die englische Sprache Kollegen unterschiedlicher Nationalitäten im Unternehmen einerseits miteinander verbindet, andererseits aber auch Distanz und Missverständnisse schafft, die durch fehlende Sprachkompetenzen hervorgerufen werden. In Bezug auf den sprachlichen Diskurs kann zunächst festgehalten werden, dass die Sprache einen sehr hohen Stellenwert in einem internationalen Unternehmen einnimmt. Die Dichotomie Muttersprache 35 und lingua franca 36 ist am Arbeitsplatz täglich präsent und zeigt einen unterschwelligen Konflikt der Emotionalität von Arbeitsbeziehungen auf. 37 Daher kann festgestellt werden, dass die Sprache in engem Kontext mit der Kultur steht. “I think culture and language, you cannot really separate the two. Language and culture are certainly reflecting each other.” (US-amerikanischer Interviewpartner 1) Diese Aussage einer amerikanischen Führungskraft eines internationalen Unternehmens zeigt die Verbindung und Abhängigkeit zwischen Sprache und Kultur auf, wie sie bereits von Hall formuliert wurde. Da die Muttersprache häufig die einzige Sprache darstellt, in der sich Individuen nuanciert und differenziert ausdrücken können, bleibt die Fremdsprache ein Hilfsmittel - ein Werkzeug - um in Kontakt mit fremdsprachlichen Partnern zu treten. Auch ein ausgeprägter Fremdsprachenunterricht würde ein fremdkulturelles Verständnis nicht erzeugen, welches für die korrekte Dekodierung von Sprachmitteilungen unabdingbar ist. Da es auch gegenwärtig nicht so aussieht, als würden die einzelnen Sprachen zugunsten der seit zweihundert Jahren etablierten (vgl. Thussu 2000: 181) lingua franca Englisch aufgegeben (vgl. Schmidt 2008: S. 26, Vondran 1998: 101), könnte in Zukunft gegebenenfalls durch neue technische Möglichkeiten eine Simultanübersetzung Abhilfe schaffen. 38 Übersetzungsapparate in Form eines elektronischen Kästchens oder eines Armbandes wurden bereits vor über zehn Jahren wissenschaftlich als “translator devices” (Merz 1998: 109) beschrieben, die simultan die Sprache des anderen in die eigene Sprache übersetzen. Funktionale Werkzeu- Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 227 ge zur simultanen Sprachübersetzung liegen allerdings bislang noch nicht vor. An dieser Stelle kann allerdings eine technische Verbindung zu den mobilen Internet-Telefonen hergestellt werden, welche das Ziel einer interaktiven Nutzung und einer integrativen Verwendung verschiedener Medientypen auf der Basis der digitalen Technik verfolgen. Diese Multimedia-Geräte, welche Managern bereits als individuelle Kommunikationszentren dienen, könnten um die Funktion einer sprachlichen Übersetzung erweitert werden. Vor dem gegenwärtigen Hintergrund der Sprachlichkeit jedoch, wird die englische Sprache voraussichtlich auch in der näheren Zukunft als Kommunikationswerkzeug zwischen fremdsprachlichen Gesprächspartnern genutzt werden, wobei festzustellen ist, dass sich das international gesprochene Englisch von seiner kulturellen Dimension und lokalen Kultur abgelöst hat, kaum noch “Träger einer kulturspezifischen Denkweise und Weltsicht” (Münch 1993: 102) sein kann. Aus der Sprache als Kulturtechnik und kultureller Ausdrucksform wird auf der weltsprachlichen Ebene ein Kommunikationstool, eine Art Werkzeugkasten für den Informationsaustausch. Das Sprachniveau des Drittsprachenkontakts findet nicht auf Oxford-English- oder Harvard-American-Niveau statt, sondern entwickelt sich zu einer Common Language für die internationale Verständigung. Dieses Kommunikationstool Englisch muss die Anforderungen einer einfachen und praktischen Erlern- und Anwendbarkeit erfüllen, so dass die ihm eigenen kulturellen Konnotationen vollständig verloren gehen. Der indische Autor Satchidanandan nennt Englisch “the chief language of the computer and the internet and the accepted vehicle of global communication […].” (Satchidanandan zit. nach Thussu 2000: 182) Sprache bleibt weiterhin ein entscheidendes Kriterium für Nationalität und nationale Zugehörigkeit und das Bedürfnis nach einer nationalen Sprache wird umso größer, je relevanter Kommunikation im Kultur-Erhaltungstrieb wird. Die nationale Sprachlichkeit bietet eine Möglichkeit zur Identifikation und Abgrenzung. Die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein wird hier ganz deutlich, da einerseits die nationalen Sprachen im national-operativen Arbeitsprozess dominieren und Englisch maximal auf den Führungsetagen oder in interkulturellen Teams als gemeinsame Arbeitssprache genutzt wird. Andererseits wird Englisch als Unternehmenssprache für alle - von der Werkbank bis zur Führungsspitze - angestrebt. Der Schlüsselfaktor Kultur Der Kultur-Diskurs stellt sich sehr kontrovers dar, was sich äußerlich zunächst in einem sehr linearen beziehungsweise nicht vorhandenen Kultur-Selbstverständnis zeigt. Die gegenwärtig vorliegende Unternehmenskultur manifestiert sich primär in dem hergestellten Produkt, was als verbindendes Element betrachtet wird. Diese Verbindung bezieht sich standortübergreifend sowohl auf die technischen als auch kaufmännischen Mitarbeiter. Ebenfalls kann durch die Gleichnamigkeit des Unternehmens und des Produktes eine Verbindung abgeleitet werden. Der Unternehmensname zieht sich durch die Unternehmensgeschichte und es ist davon auszugehen, dass dieser zu einem intensiven Zusammenhalt beiträgt. Im Zuge weiterer Umstrukturierungen des Unternehmens läge die Überlegung nahe, die vier Einheiten des Unternehmens, die durch den Produkt- und den jeweiligen Ländernamen gekennzeichnet sind unter einer europäischen Gesellschaftsform und dem einheitlichen Produktnahmen zusammenzufassen. In Bezug auf eine Kultur ist es aber wichtig, dass das kulturelle Unternehmensverständnis nicht nur an das Produkt gekoppelt ist. Diese Tatsache wird in der gegenwärtigen Unter- Melanie Mergler 228 nehmensausrichtung der Internationalisierung und Globalisierung umso wichtiger, da sich alle Mitarbeiter mit dem Unternehmen und einer Unternehmenskultur identifizieren sollten. Nicht nur die Produktionsstandorte sollten das Produkt beziehungsweise dessen Namen als Wertkategorie erfahren, auch jene Standorte und Büros, die nicht unmittelbar am Produktionsprozess beteiligt sind. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Unternehmenskultur und einer einheitlichen Kommunikation dieser Kultur wird in naher Zukunft von großer Bedeutung sein, um eine Integration des Unternehmens sicherzustellen. Es sollen weltweit Industriestandorte und arbeitsteilige Partnerschaften aufgebaut werden und für die Überwindung nationaler Empfindungen ist hier ein Konzept für interkulturelle Kommunikation unerlässlich. Ein internationales Unternehmen muss von allen Mitarbeitern als internationaler Text verstanden werden, auf dem es gemeinsam weiter aufzubauen gilt. Ein Experte formulierte, dass sowohl Sprache als auch Kultur kein Problem darstellten, wenn alle die Leidenschaft und den Willen zur Zusammenarbeit verfolgten. Diese Aussage scheint sehr vereinfacht, dennoch lässt sie sich in Ansätzen auf einen Nationenbildungsprozess übertragen. Wie die Nation, gewinnt das internationale Unternehmen sein Eigenes, was es zum Wir verbindet, auch und manchmal gerade aus dem Unterschied oder Gegensatz zu anderen. Und so wie Churchill 1946 die Vereinigten Staaten von Europa visionär beschrieben hat, die durch die Entschlossenheit hunderter Millionen Menschen zu erreichen sei, erwägt der Mutterkonzern gegenwärtig eine Gesellschaft europäischen Rechts in Form einer Societas Europaea (SE) zu werden. Die Hintergründe für die jeweiligen Überlegungen sind sehr ähnlich, da es in beiden Fällen um die Erneuerung beziehungsweise Erweiterung von Technologien, wirtschaftliche Stärke, Wachstum und politisches Prestige geht. Nur ein geeintes starkes Europa beziehungsweise ein geeintes europäisches Unternehmen ist in der Lage, ausreichend große Märkte für neue Technologien zu schaffen und Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker anzuziehen, die an den benötigten Innovationen mitwirken sollen. Vor diesem Hintergrund haben sich die verschiedene Nationen bereits in den 1960er und 1970er Jahren zusammengeschlossen, um ein internationales Unternehmen aufzubauen und ähnliche Gründe sind gegenwärtig wieder Anlass dafür, über eine weitere Integration nachzudenken. Durch diese Art von Zusammenschluss lässt sich eine weitere Verbindung zu der Entwicklung von Nationen ziehen, die in den letzten sechzig Jahren ebenfalls Macht an supranationale Einheiten abgegeben haben und im Zuge der europäischen Einheit voraussichtlich auch in Zukunft noch Macht abgeben werden. Bereits in der frühen Phase eines unternehmerisch geplanten Internationalisierungsansatzes muss ein Kulturmanagement in Hinblick auf eine Harmonisierung von Kultur erfolgen. Kultur stellt hier einen Teil der Strategie dar und sollte - ebenso wie Sprache - als Werkzeugkasten verwendet werden. Der Aufbau einer Unternehmenskultur ist bereits eingeleitet worden, wobei Unternehmenswerte vermittelt und ein Wir-Gefühl geschaffen werden sollen. Im Rahmen des kulturellen Initiierungsprozesses kann festgestellt werden, dass bei dem untersuchten Unternehmen zwar ein Orientierungssystem vorliegt, sich dieses aber wenig dynamisch, sondern ausschließlich symbolisch darstellt. Die als Artefakte verstandenen Produkte werden als Kultursymbol verstanden. Eine einheitliche Unternehmenskultur kann jedoch nicht ausgemacht werden. Wie die Nation aus kollektivem Bewusstsein hervorgegangen ist, sie sich prozessual entwickelt und schließlich ausgeformt hat, ist auch eine Kultur nicht unabänderlich. Wie der Gedanke der Nation, muss auch der Gedanke der Kultur kontinuierlich fortgetragen und lebendig erhalten werden, um in diesem Falle die Identität eines Unternehmens als Bewusstseinsgesamtheit zu wahren. Veränderlichkeit und Weiterentwicklung setzten den Maßstab für ein Unternehmen, das nationale Identitäten zu einem Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 229 Teil eines größeren Ganzen zusammenzubringen sucht. Wirklichkeit und Bewusstsein sind auch hier nicht kongruent, da bislang keine einheitliche Unternehmenskultur existiert, die aber in Form von Kampagnen künstlich zu erzeugen gesucht wird. Der Schlüsselfaktor Kommunikation Die dritte Ebene der Kommunikation stellt vor dem Hintergrund des angestrebten Internationalisierungsvorhabens eine Herausforderung dar, da sie die beiden zuvor erörterten Dimensionen der Sprache und der Kultur einschließt. Kommunikation - das belegt dieser Aufsatz und darin sind sich die Experten einig - ist die Basis allen Handelns und somit die Grundlage für Weiterentwicklung, Integration und Veränderung. Handeln wiederum ist nur durch kulturell geprägte Individuen möglich, die bei unterschiedlicher fremdkultureller Prägung auch unterschiedliche Sprachen sprechen. Die klassische Form von Kommunikation wurde um die technische Dimension ergänzt. Der technische Fortschritt hat materielle Träger in Form von maschinellen Plattformen hervorgebracht, die für die Verarbeitung und Aufbewahrung von Informationen eingesetzt werden. So hat das Internet, aber vor allem das asynchrone Kommunikationsmedium E-Mail ein verändertes Kommunikationsverhalten im Arbeitsalltag 39 bewirkt. Aufgrund der asynchronen Technologie kann eine Dominanz der einseitigen Antwort herausgearbeitet werden, da durch den Austausch elektronischer Mitteilungen keine unmittelbar dialogische Kommunikationsstruktur entsteht und somit eine - die klassische Kommunikation kennzeichnende - Zweiseitigkeit nicht gegeben ist. E-Mails treten zudem vermehrt vor dem Hintergrund politischer Motivation in den Mittelpunkt. Einerseits wird diese Art der Informationsvermittlung genutzt, um Sachverhalte schriftlich zu fixieren - in diesem Fall dienen sie als Informations- und Beweisfunktion. Andererseits wird aber auch bewusst auf das Schreiben von E-Mails verzichtet, um einer möglichen Belastung zu entgehen. Diese Belastung könnte in Form von Mehrarbeit oder Rechenschaftslegung erfolgen. Hier entsteht ein Informations-Dilemma, dessen Bedeutung für die Praxis noch nicht in allen Facetten absehbar ist. Eine mögliche Lösung bestünde im optimalen Einsatz der jeweiligen Kommunikationsmittel. In Zukunft wird es von elementarer Bedeutung sein, die Balance der richtigen Kommunikationswerkzeuge zu finden. Diese Balance könnte sich aus einem persönlichen Aufbau von Beziehungen in Form von Face-to-face-Kontakten ergeben. Anschließend muss eine zeitliche Balance vor dem Hintergrund der effektivsten Kommunikation gefunden werden. Diese Effektivität kann bei kurzen Bestätigungen oder Informationsübermittlungen in der Übermittlungsgeschwindigkeit von E-Mails bestehen oder durch ein Telefonat gewährleistet werden, das zwar einen höheren zeitlichen Aufwand bedeutet, aber durch die synchrone Kommunikation eine Dialogizität und eine unmittelbare Rückkopplung ermöglicht. Die beschriebene Dichotomie bezüglich der vorliegenden E-Mail-Dominanz bei gleichzeitigem Bewusstsein eines erhöhten interaktiven Informationsaustausches in persönlichen Gesprächen wird von zwei Leerstellen flankiert: ein fehlendes Kommunikationskonzept und ein mäßig organisierter Informationsfluss. Als elementar wird die Erstellung eines Kommunikationskonzeptes auf einer Meta-Ebene angesehen, das Handlungsregeln für eine effektive - die Unternehmensstrategie unterstützende - Kommunikation aufzeigt. An dieser Stelle ist die Verbindung zu einem Werkzeugkasten offensichtlich. Wie auch die Kultur muss die Kommunikation durch das Management harmonisiert werden und im Internationalisierungsprozess zu einem Teil der Strategie werden. Kommunikation stellt somit - Kultur und Sprache verbindend - eine Melanie Mergler 230 Führungsaufgabe dar. Einerseits müssen Kommunikationsziele empfängergerecht aufbereitet werden, so dass alle Mitarbeiter die Inhalte, die Bedeutung und die Ziele der gemeinsamen Strategie verstehen und für sich umsetzen können. Dies betrifft die Kommunikation in Form von geeigneten Medien. Andererseits muss die Führung eine effektive Kommunikation vorleben, um als Vorbild der praktisch umzusetzenden Strategieziele zu fungieren. Eine Form der Erfolgskontrolle könnte in effektiven und dialogisch ausgerichteten Mitarbeiterbefragungen bestehen, durch welche Missstände aufgedeckt und durch gemeinsame Veränderungsprozesse eliminiert werden könnten. Eine wiederholte Erfolgskontrolle ist von elementarer Bedeutung, um die Veränderung belegen zu können oder gegebenenfalls weitere Missstände aufzudecken. Auf diese Weise erkennen Mitarbeiter den Wert ihres Einsatzes für das Unternehmen und gegebenenfalls die Umsetzung eigener Ideen. In diesem Kontext sind sie bereit, sich für das Unternehmen einzusetzen und gegebenenfalls eigene Verhaltensweisen zu ändern. Die aktive Einbeziehung der Mitarbeiter in den Strategieprozess stellt die beste Form der Integration dar. Mitarbeiter werden ernst genommen, indem sie gefordert und aktiv aufgefordert werden, kritische Themen anzusprechen. In diesem Zusammenhang können Fehler und Erfolge als Chance für zukünftige Entwicklungen begriffen werden, da durch das Erkennen sowohl negativer als positiver Effekte ein gemeinsames Wachstum entsteht, das einen kooperativen zweiseitigen Kommunikations- und Problemlösungsansatz hervorbringt. Durch alle Ebenen hindurch müssen Schwächen, Fehler und Erfolge kommuniziert werden können, was wiederum gegenseitiges Vertrauen schafft. Kommunikation muss effektiv, das heißt zielorientiert sein. In der definitorischen Verortung wird Kommunikation mit mitteilen, teilen und vereinigen übersetzt. Im Sinne von etwas gemeinsam werden lassen entspricht es sowohl dem oben beschriebenen Optimalzustand in der Praxis als auch einer Arbeitsdefinition, welche den reziproken und zyklischen Austauschprozess von verbalen und non-verbalen Zeichen betont. Hier wird die Interdependenz in der Beziehung zweier Kommunikationspartner hervorgehoben, welche durch die wechselseitige Beeinflussung, Verhaltungsorientierung und Erringung von Aufmerksamkeit geprägt ist. Die semiotische Zeichenübermittlung ist ausschlaggebend für das gegenseitige Verstehen in Form von Ausdruck, Deutung und Reaktion, wobei ein identisches Verständnis verwendeter Zeichen und Symbole sowie ein permanenter Wechsel zwischen Kommunikator und Rezipient unabdingbar sind. Kommunikation ereignet sich daher als ein zyklischer und nicht als geradliniger Prozess, der vor allem durch die non-verbalen Zeichen eine Face-toface-Kommunikation impliziert. Dieser Auffassung von Kommunikation folgt Karl Bühler (vgl. Bühler: 1976; 1982), indem er diese als sozialen Prozess und ein wechselseitiges Mitteilungs- und Verständigungshandeln auffasst mit dem Ziel, sich aneinander zu orientieren, etwas Bestimmtes zu erreichen oder gemeinsam auf ein zukünftiges Ziel hin tätig zu sein. Bühlers Verdienst für die Sprachtheorie - den Sprechpartner wiederzuentdecken - klassifiziert exakt das Unternehmensziel, gemeinsam einen Veränderungsprozess zu bewältigen. Bühler zufolge funktioniert Kommunikation nur über Zeichen, die Sender und Empfänger als aktive Gesprächspartner austauschen. Er weist dem sprachlichen Organum die Funktionen Darstellung, Ausdruck und Appell zu, die bei Roman Jakobson (vgl. Jakobson: 1945; 1960a; 1960b; 1969; 1979) durch den Kontext, den Sender und den Empfänger repräsentiert und durch die Botschaft, den Kontakt und den Kode ergänzt werden. Aufgrund der jeweiligen Kommunikationsfunktionen der sechs Faktoren wird der Kommunikationsvorgang bei Jakobson differenzierter dargestellt. Dem Sender wird eine expressive Funktion zugewiesen, welche die subjektive Einstellung des Senders zum Gesagten in Form von euphorischen Redeweisen oder Meinungen wiedergibt. Emotionen werden Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 231 lautlich akzentuiert, was in der interkulturellen Kommunikation bei den einzelnen Gesprächspartnern - den Empfängern - aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes unterschiedliche Interpretationsansätze und dadurch unterschiedliches Verstehen bedingt. Die poetische Funktion der Botschaft beschreibt die Struktur und den Aufbau der Mitteilung. Übertragen auf operative Kommunikationsprozesse in der Praxis könnte entsprechend der Aufbau einer E- Mail unterschiedlich gestaltet sein. Entweder würden kurze Anweisungen in Hauptsatzform, Fragen oder Situationsbeschreibungen übermittelt, die dem kommunikativen Anlass einen entsprechenden Charakter geben. Der Kontext stellt Inhalte in seiner referentiellen Funktion verbal dar und bezieht sich praktisch auf den Kommunikationsgegenstand, der mit Hilfe der phatischen Funktion über den Kontakt vermittelt wird. Dieser physikalische Kanal stellt im Face-to-face-Gespräch die Luft und bei der E-Mail-Übermittlung entsprechend die technische Infrastruktur dar. Die phatische Funktion, die der Herstellung und Aufrechterhaltung der Kommunikation dient, deutet bereits eine Rückkopplungsfunktion an, die von Jakobson allerdings nicht so genannt wurde, die für eine interkulturelle Kommunikationssituation allerdings elementar ist. Der Kode beschreibt mit seiner metasprachlichen Funktion schließlich den gemeinsamen Deutungsrahmen, in dem sich Erfahrungen und Wissen widerspiegeln und auf dessen Grundlage ein gegenseitiges Verstehen erst möglich wird. Sowohl bei Bühler, als auch bei Jakobson wirken alle drei beziehungsweise sechs Komponenten in jeder Gesprächssituation zusammen, dennoch dominiert immer eine Funktion die Struktur der Mitteilung. Beide Sprachwissenschaftler legen ihren Modellen einen persönlichen Kontakt, eine Face-to-face-Gesprächssituation zugrunde. Daher ist eine direkte Übertragung des Dominanzprinzips auf technische Kommunikation nicht möglich beziehungsweise wirft in schriftlicher Form zahlreiche Interpretationsansätze auf. Auch in Bezug auf Kommunikation kann keine Übereinstimmung von Wirklichkeit und Bewusstsein festgestellt werden. Die Realität des Kommunikationsalltages zeichnet sich durch eine intensive Nutzung des asynchronen Kommunikationsmediums E-Mail aus, wobei sich die Anwender gleichzeitig darüber bewusst sind, dass der persönliche Austausch zum Teil effektiver wäre. Es kann festgestellt werden, dass vielfältige Überschneidungssituationen innerhalb der drei Diskurse Sprache, Kultur und Kommunikation vorliegen und diese weitestgehend in dem dritten Bereich der Kommunikation aufgehen. Alle drei Ebenen lassen sich durch ihren Werkzeugcharakter charakterisieren, der sich wiederum in seinen Zeichen manifestiert. Wie Zeichen eine grammatikalische Struktur schaffen, schaffen sie in Form des Werkzeugstools jeweils eine eigene Struktur für Sprache, Kultur und Kommunikation (vgl. Bisanz 2004: 34 f.). Dennoch ist festzustellen, dass auf allen Ebenen die Wahrnehmung von Wirklichkeit und Bewusstsein auseinandergeht. Wie in den einzelnen Punkten bereits zum Teil gestreift, sollten im Folgenden kurze Thesen skizziert werden, aus denen konkrete Maßnahmen für die Praxis abgeleitet werden können. 3.2 Chancen und Herausforderungen für internationale Unternehmen Internationale Unternehmen, die einerseits Integration in Bezug auf interne Strukturen und andererseits Expansion hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entwicklung anstreben, stehen vor vielen Herausforderungen. Gleichzeitig haben sie sich gegebenenfalls Ziele gesetzt: Als internationale Wirtschaftsakteure auf die interne Unternehmenskommunikation zu setzen und gleichzeitig danach zu streben, einerseits die Vielfalt zu bewahren und zu betonen sowie andererseits Englisch als allgemeine Unternehmenssprache durchsetzen. Melanie Mergler 232 Bei der Erreichung dieser Ziele sollte das vorrangige Bestreben darin liegen, die Diskrepanz zwischen den Ebenen Wirklichkeit und Bewusstsein zu minimieren und eine Annäherung der Ist- und Soll-Werte in Bezug auf Sprache, Kultur und Kommunikation herbeizuführen. Im Folgenden werden Thesen skizziert, auf deren Grundlage geeignete Maßnahmen zur praktischen Umsetzung abgeleitet werden können: 1. Fremdsprachenkenntnisse sind für die wirtschaftliche Praxis elementar. Die Intensivierung von Fremdsprachenkenntnissen beeinflusst den kommunikativen Erfolg in internationalen Unternehmen. Entweder dient die englische Sprache als lingua franca oder die Beherrschung weiterer Fremdsprachen der Überprüfung des gegenseitigen Verständnisses in der Muttersprache. 2. Unternehmenserfolg kann dauerhaft nur durch Investition in das Know-how der Mitarbeiter gesichert werden. Im Rahmen von Aus- und Weiterbildungsprogrammen müssen kommunikative und kulturelle Kompetenzen der Mitarbeiter und Führungskräfte gefördert werden, um diese mit den veränderten Arbeitsanforderungen in einer sich zunehmend internationalisierenden Umgebung vertraut zu machen. 3. In einem interkulturell-ausgeglichenen Umfeld schaffen unterschiedliche Kulturen einen Mehrwert. Findet eine Synthese bedeutsamer Elemente unterschiedlicher Elemente in der Verhaltensregulation kultureller Überschneidungssituationen statt, können in einer interkulturellkreativen Umgebung Synergieeffekte hergestellt werden. 4. Abbau von Hierarchiestufen zur Schaffung eines integrierten Unternehmens. Interkulturell zusammengesetzte Arbeitsgruppen verschiedener Hierarchiestufen schaffen eine Sensibilisierung für ein integriertes Unternehmen, indem in Projekten Integration und Interkulturalität gelebt und durch unterschiedliche Werthaltungen der Mitglieder Synergieeffekte erzeugt werden. 5. Face-to-face-Kommunikation als Basis für interkulturelle Kommunikation. Durch persönliche interpersonale Kommunikation im interkulturellen Kontext kann Vertrauen aufgebaut werden, das sich ab der ersten Begegnung durch alle weiteren interpersonalen Kommunikationssituationen zieht. 40 6. Effektives Wissensmanagement schafft die Basis für Erfolgspotenziale. In internationalen Unternehmen kann der Aufbau eines funktionellen Wissensmanagements nur durch effektive interkulturelle Kommunikation erfolgen, um die Wissensbestände aller Unternehmenseinheiten zusammenzufügen. Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 233 7. Durch Führung und Zusammenarbeit entsteht ein integriertes internationales Unternehmen. Mitarbeiter müssen aktiv in den strategischen Entwicklungsprozess miteinbezogen werden. Konkrete Maßnahmen beginnen bei Mitarbeiterbefragungen, gehen über Roadshows, könnten aber auch regelmäßige Frühstückstalks zwischen Vorstand und einem begrenzten Mitarbeiterkreis verschiedener Abteilungen und Hierarchiestufen darstellen. 41 Neben grundsätzlichen Führungsstilen könnte an dieser Stelle über Führungskonzepte nachgedacht werden, die den Mitarbeitern auf den unterschiedlichen Entscheidungsebenen mehr Verantwortung zuweisen. Kommunikation trägt hier aktiv zur Gestaltung der Führung bei. 42 4 Das Modell der interkulturellen Kommunikation als Grundlage für ökonomischen Erfolg Auf Basis der vorliegenden theoretischen und empirischen Ausführungen konnte festgestellt werden, dass das zentrale Thema zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Entwicklung von Kompetenzen zur Bewältigung von Internationalisierungs- und Globalisierungsanforderungen vor dem Hintergrund einer rasant fortschreitenden Kommunikations-, Verkehrs- und Nachrichtentechnologie darstellt. Daraus ergibt sich ein internationaler Austausch von Personen, globales Reisen, weltweite Informationsbeschaffung sowie internationale und globale Mobilität. Gleichzeitig ist festzustellen, dass die Einflüsse nationaler Kulturen noch immer eine zentrale Stellung in Organisationen einnehmen. Vor diesem erarbeiteten Hintergrund wird die weitere Entwicklung der Internationalisierung hin zu einer globalisierten Zukunft anhand zweier Theoretiker skizziert. Auf Basis aller Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit wird anschließend ein Modell für die interkulturelle Kommunikation in Unternehmen entwickelt. 4.1 Der Weg in eine globalisierte Zukunft Bezugnehmend auf die theoretischen Grundlagen der Kondratieff-Zyklen 43 arbeitet Leo A. Nefiodow den fünften und sechsten Zyklus heraus. Die einzelnen Zyklen beschreiben mehr als einfache Konjunkturzyklen. Sie stellen einen Reorganisationsprozess der gesamten Gesellschaft dar, der jeweils durch grundlegende technische Basisinnovationen hervorgerufen wird. Wurden die ersten vier Zyklen - beginnend mit Ende des 18. Jahrhunderts - bisher hauptsächlich von Energie getragen, zeichnet sich im Übergang von der vierten auf die fünfte Welle ein neues Entwicklungsparadigma in Form von Wissen und Information ab. Nefiodow zeigt hier in der Zyklentheorie den Übergang von der Industriezur Informationsgesellschaft auf. Die gegenwärtig fünfte Periode sei geprägt durch Informations- und Kommunikationstechnik, hohen Informationsfluss zwischen Mensch und Computer, hohen Bedarf nach Wissen und Kommunikation, Ausbau der betriebsinternen Kommunikation sowie Abflachung der Hierarchien. Die Übergangsphase zum sechsten Zyklus zeichne sich durch einen Wandel dieser Faktoren hin zu computergestütztem Umgang mit ungenauem Wissen und zu einer Optimierung von Informationsflüssen aus (vgl. Nefiodow 1999: 102). Die entscheidenden Wissenschaftsdisziplinen im sechsten Kondratieff-Zyklus würden in den weichen Faktoren, Melanie Mergler 234 wie effektive Zusammen- und Teamarbeit, Kooperation, Organisation und Verantwortungsgefühl liegen, so dass vor allem Kommunikation eine zunehmend wichtige Stellung einnehmen werde (vgl. ebd.: 14, 138 f.). Da die Wirtschaft gegenwärtig allerdings noch zu stark auf die Anforderungen der Industriegesellschaft ausgerichtet sei, erschienen die weichen Faktoren, wie Kommunikation und Kooperationsfähigkeit in keiner Bilanz und keiner Gewinn- und Verlustrechnung (vgl. ebd.: 140 f.). In seiner Globalisierungstheorie stellt Thomas L. Friedman die These auf, dass die Welt flach sei. Er folgt Nefiodow insofern, als dass er die Veränderung der Welt ebenfalls auf tiefgreifende technologische Veränderungen zurückführt (vgl. Friedman 2006: 48 f.). Doch er geht einen Schritt weiter, indem er aufgrund der Existenz dynamischer Software und gleicher technischer Voraussetzungen weltweit eine internationale Konkurrenz um Wissensarbeit beschreibt. Vor dem Hintergrund dieses Handlungsfeldes entwickelt Friedman eine Chronologie der Globalisierung, auf deren Basis er zehn Kräfte anführt, welche die Welt eingeebnet haben (vgl. ebd.: 7 ff., 76 ff.). Die wesentlichen Erkenntnisse aus Friedmans Überlegungen für diese Arbeit liegen im Wandel der hierarchischen Strukturen und in der Dominanz moderner Kommunikationsmittel. Einerseits würden Hierarchien von unten her in Frage gestellt oder wandelten sich selbst in horizontalere, kooperativere oder flachere Strukturen, die zwar andere Voraussetzungen als traditionelle Geschäftsmodelle erforderten, gleichzeitig aber auch ein großes Potenzial für Innovationen böten (vgl. ebd.: 48, 208 f.). Als Grundvoraussetzung für moderne und komplexe Arbeitsteilung nennt Friedman das Vertrauen in Unbekannte (vgl. ebd.: 412). Da die natürliche Kommunikation schon immer drahtlos war, müssten Werkzeuge heute in die Kommunikationsprozesse integriert werden, um die Ansprüche einer internationalisierten Welt zu erfüllen. Managern ist es wichtig, zu jeder Zeit an jedem Ort überallhin telefonieren zu können ergänzt um den Zugriff auf Daten, die Sendung von Daten, Internetzugang und Rückgriff auf Geschäftsdateien. Ein persönlicher Kontakt zu den jeweiligen Geschäftspartnern wird dabei nicht vorausgesetzt (vgl. ebd.: 195). Eine erfolgreiche Zusammenarbeit ohne persönliche Beziehungen ist nach Auswertung der empirischen Umfrageergebnisse allerdings sehr unwahrscheinlich, da eine optimale Kommunikation nur durch persönliche Beziehungen gewährleistet werden kann. Friedmans Annahme, dass der Aufbau von persönlichen Beziehungen gegenwärtig keine Bedeutung mehr habe, wird in dieser Arbeit widersprochen. Der Vorstellung einer zunehmend flacher werdenden Welt kann im Rahmen der Internationalisierung mit der Einschränkung gefolgt werden, dass Nationalstaaten noch immer eine elementare Bedeutung sowohl in wirtschaftlichen als auch in sozialen Kontexten einnehmen. Die Notwendigkeit einer Entwicklung hin zu flacher werdenden Hierarchieeinheiten ist nachvollziehbar, um Informationen schneller zu kommunizieren. Friedman skizziert in seiner Theorie eine Plattform, auf der geistiges Kapital von allen Orten der Welt geliefert werden kann, indem alles zerlegt, verschickt, verteilt und wieder zusammengesetzt wird. Hier lässt sich eine Parallele zur Gründung von internationalen Unternehmen herstellen. Einzelne Länder sehen einen Vorteil darin, sich zusammenzuschließen, um Arbeitspakte jeweils auf verschiedene Produktionsstätten zu verteilen. Liegen die Quellen des Reichtums laut Friedman gegenwärtig in der Suche nach Software, Brainpower und komplexen Algorithmen, kann am Ende dieser Arbeit herausgearbeitet werden, dass ein Algorithmus der interkulturellen Kommunikation gefunden werden muss, um den internationalen Wettbewerb ökonomisch zu bestreiten. Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 235 Abb. 1: Interkulturelles Kommunikationsmodell. (Quelle: Eigene Darstellung) 4.2 Entwicklung eines Prozessmodells der interkulturellen Kommunikation Wie im Verlauf dieser Arbeit aufgezeigt, entsteht vor dem Hintergrund fortschreitender Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse ein dialektisches Verhältnis zwischen Kultur und Kommunikation, wobei die wechselseitige Orientierung von Individuen als Voraussetzung für eine kulturelle und interkulturelle Kommunikation betrachtet werden kann. Vor diesem Hintergrund wird ein interkulturelles Kommunikationsmodell entwickelt, welches auf der zuvor aufgestellten Kommunikationsdefinition aufbaut, das dynamische Modell kultureller Überschneidungssituationen (Alexander Thomas) und die Ergebnisse einer kritischen Analyse der Kommunikationsmodelle von Karl Bühler (Organon-Modell) und Roman Jakobson (Modell der Kommunikativen Funktionen) einbezieht sowie universal für alle Sprachen und Nationen kulturell und interkulturell gültig ist. In Bezug auf die kritische Analyse der Kommunikationsmodelle von Bühler und Jakobson werden für die Entwicklung des neuen Modells die Elemente der fehlenden intersubjektiven Beziehung sowie der Rückkopplung zwischen Sender und Empfänger, die fehlende non-verbale Kommunikation und die fehlende Fragefunktion berücksichtigt. Weiterhin wird die von Jakobson angezweifelte Einheitlichkeit des Kodes insofern beachtet, als dass ein Sprecher gleichzeitig zu mehreren Sprachgemeinschaften zählen kann. Hier sind einerseits die eigene Sprachgemeinschaft mit ihrem vielgestaltigen Gesamtkode sowie fremdsprachlichen Kodes zu verorten, wobei sich der Kontakt durch Rückkopplung auszeichnen muss, um gegenseitiges Verständnis zu gewährleisten. Die erweiterte Definition für Kommunikation im interkulturellen Kontext lautet: Kulturelle, aber auch interkulturelle Kommunikation basiert auf einem reziproken und zyklischen Austauschprozess von verbalen und non-verbalen Zeichen (Z) zwischen einem Kommunikator (K) und einem Rezipienten (R) über physikalische Werkzeuge (W) und unter Verwendung sprachlicher Kodes (S). Entscheidend ist die semiotische Mitteilung von Informationen, Ideen und Haltungen, die über Stimulation (Reiz) und Response (Reaktion) hinausgeht und aufgrund eines identischen Verständnisses der verwendeten Zeichen und Symbole eine erfolgreiche Verständigung in Form von Ausdruck (expression), Deutung (interpretation) und Reaktion (response) zwischen zwei Individuen ermöglicht, deren Position permanent zwischen Kommunikator und Rezipient wechselt. Melanie Mergler 236 Abb. 2: Angewandtes Interkulturelles Kommunikationsmodell. (Quelle: Eigene Darstellung) In diesem interkulturellen Kommunikationsmodell wurden Modelle aus der Kommunikations- und Sprachwissenschaft mit interkulturellen Theorien zu einem Prozessmodell verbunden, das Kommunikation als aktiven Prozess in Form von Informationsfluss und -rückfluss darstellt. Kommunikator (K) und Rezipient (R) befinden sich vor einem interkulturellen Handlungsumfeld (Interkultureller Handlungsrahmen) und müssen sich in der jeweiligen Kommunikationssituation auf eine Handlungssprache (S) festlegen. Diese kann entweder die Muttersprache eines Gesprächspartners darstellen, welche der andere auch beherrscht oder eine dritte Verkehrssprache, welche sowohl Kommunikator als auch Rezipient als Fremdsprache zur Verständigung nutzen. Für die Kommunikation können synchrone oder asynchrone Kommunikationsmedien gewählt werden, welche aus einem modular zusammengesetzten Satz von Werkzeugen (W) bestehen, die singulär oder kombinatorisch eingesetzt werden können. Die Wahl des Werkzeuges beeinflusst und bestimmt die Übermittlung des verbalen beziehungsweise non-verbalen Zeichens (Z) erheblich. In synchronen persönlichen Gesprächssituationen oder durch die Nutzung eines bildübertragenden Kommunikationsmediums können nonverbale Zeichen beispielsweise berücksichtigt werden, was bei asynchronen Kommunikationsmedien nicht der Fall ist. Das Zeichen, die jeweilige Botschaft als Information, Idee, Haltung in Form von Ausdruck, Deutung und Reaktion ist gekennzeichnet durch die Wahl des Werkzeuges und der Sprache. Dieses Modell ist durch Reziprozität gekennzeichnet. Alle Elemente sind mit Pfeilen verbunden, da sie sich gegenseitig bedingen, beeinflussen und permanent aufeinander einwirken. Die Beziehung zwischen Kommunikator und Rezipient verbunden über das Zeichen ist hervorgehoben, da die Pfeile hier die für die Kommunikation notwendige Rückkopplung verdeutlichen. Diese Rückkopplung besteht in der Formulierung von Verständnis absichernden Fragen und Rückfragen, Wiederholungen oder Umformulierungen. Das Kommunikationsmodell ist vor einem interkulturellen Hintergrund platziert, der durch die Überschneidung zweier Kreise das interkulturelle Mehr in der Schnittmenge symbolisiert. Statt einer Synthese wird Synergie erzeugt und statt Differenz wird Diversität betont. Das Entstehen dieser Schnittmenge hängt von der Bereitschaft der Kommunikationspartner A und B ab, sich dem fremdkulturellen Orientierungssystem zu öffnen. Daher fällt die Verhaltensregulation in der Überschneidungssituation in jeder Kommunikationssituation unterschiedlich aus und ist stets durch Unvorhersagbarkeit und Vagheit gekennzeichnet. Die farbliche Markierung verdeutlicht, dass die Schnittmenge nicht eine Mischung der beiden Primärfarben blau Feld A und rot Feld B ergibt, sondern in Form von hellen Punkten durch Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 237 Diffusität gekennzeichnet ist, da das an dieser Stelle entstehende Kommunikationsprodukt nicht eindeutig prognostizierbar ist. Dieses Modell lässt sich auf alle kulturellen und interkulturellen Kommunikationssituationen in der Praxis übertragen. In Bezug auf internationale Unternehmen kann eine kommunikative Situation zwischen zwei Managern konstruiert werden, die sich zu einem bestimmten Thema auseinandersetzen. Analog zu dem theoretischen Modell befinden sich der französische Manager A und der deutsche Manager B vor einem interkulturellen Handlungsumfeld und müssen sich auf eine Handlungssprache festlegen. Diese wird mit hoher Wahrscheinlichkeit, je nach Fremdsprachenkenntnissen der Kommunikationspartner, entweder französisch, deutsch oder englisch darstellen. Es können synchrone oder asynchrone Kommunikationsmedien gewählt werden, wie beispielsweise E-Mail, Videokonferenz oder ein Face-to-face-Gespräch. Die Kommunikationspartner haben die Möglichkeit, sich durch Fragen, Wiederholungen oder Umformulierungen rückzuversichern, ob die jeweilige Botschaft richtig verstanden wurde. Ist beiden Kommunikationspartnern der kulturelle Hintergrund des anderen bekannt und sind sie bereit, sich dem jeweils anderen Orientierungssystem zu öffnen, kann in der Schnittmenge der kulturellen Überschneidungssituation ein Verständnis für die jeweils anderen Interessen entstehen. Auf dieser Grundlage kann eine erfolgreiche Kommunikation entstehen, da eine konstruktive Diskussion ohne kulturelle Vorbehalte ermöglicht wird. Dieses Modell der interkulturellen Kommunikation bietet die Möglichkeit der Orientierung in interkulturellen Gesprächs- und Handlungssituationen. Einerseits erlaubt das Modell vor Kommunikationsbeginn die Entwicklung eines Bewusstseins über die Funktion von Kommunikation und das angestrebte Kommunikationsziel. Andererseits stellt das Modell gleichzeitig den Rahmen für die Reflexion von Gesprächsverläufen auf einer Meta-Ebene dar, da das Zeichen in Verbindung mit der von dem Kommunikator und Rezipienten gewählten Sprache und dem genutzten Werkzeugen gesetzt wird. Sowohl Sprache als auch Werkzeug beeinflussen die Zeichenübertragung und das Ergebnis der Gesprächssituation. 5 Fazit Interkulturelle Kommunikation in internationalen Unternehmen ist vor dem Hintergrund eines breiten nationalen und sprachlichen Erfahrungsraumes zu betrachten und kann nicht auf eine reine Sender-Empfänger-Beziehung reduziert werden. Vor seinem individuell-kulturellen Hintergrund tritt das produktiv tätige, international agierende Individuum als “homo connectus” (Glotz 1999: 109) in Kontakt mit anderen vernetzten Individuen und muss eine Balance effektiver Kommunikationsmedien herstellen, die jeweils an den Anforderungskriterien des Kommunikationsziels auszurichten sind. Da fortgeschrittene Transport-, Informations- und Kommunikationstechnologien räumliche Entfernungen minimieren und die Welt zunehmend zu einem Informationsnetz verknüpfen, stellen Werkzeuge wie synchrone und asynchrone Kommunikationsmedien, aber vor allem die persönliche Begegnung die Voraussetzung für eine effektive interkulturelle Kommunikation dar. Vor diesem Hintergrund besteht eine zweifache Komplexität in Hinblick auf Kommunikation. Einerseits entsteht ein wachsender Kooperations- und Kommunikationsaufwand und andererseits muss Kommunikation in einem neuen Bedeutungsrahmen verortet werden. Die einleitend von Tucholsky beschriebene verflochtene Weltwirtschaft kann in diesem Sinne auf Kommunikation übertragen werden, da sie maßgeblich von den Diskursen Kultur, Nation und Sprache wechselseitig beeinflusst wird: Was die interkulturelle Kommunikation angeht, so ist sie verflochten. Melanie Mergler 238 Auf der Basis eines interdisziplinären semiotisch-betriebswirtschaftlichen Forschungsansatzes wurde empirisch ein Status Quo zu Bewusstsein und Wahrnehmung von Kommunikation in einem international-tätigen europäischen Unternehmen herausgearbeitet, der den zuvor erarbeiteten theoretischen Forschungsstand widerspiegelt und zum Teil unerwartete Aspekte aufzeigt. Die gewählten Themenschwerpunkte Kultur, Nation, Kommunikation und Sprache ermöglichten die Verifizierung der Arbeitshypothese, dass kulturelle und interkulturelle Kommunikation den ökonomischen Erfolg von Unternehmen positiv beeinflusst. Die erhöhte Komplexität interkultureller Kommunikation erfordert vor allem für internationale Unternehmen mit einer hohen inneren Komplexität ein effektives Kommunikationsmanagement, das sich an einem Bewusstsein für das vorhandene Kapital orientiert. Wird Gewinnmaximierung in ökonomischen Modellen durch eine permanente Zirkulation eines Geld- und Warenflusses angestrebt, kann dieses Prinzip von Zirkulation und Austausch auch auf die Kommunikation übertragen werden. Das Kapital bestünde entsprechend darin, dass durch den Fluss und die Teilung des Rohstoffs Information eine Maximierung von Kommunikation erzielt wird, die in einer interkulturellen Umgebung neue Perspektiven ermöglicht. Kommt das Management seiner strategischen Führungsaufgabe insofern nach, als dass es eine effektive wechselseitige Kommunikation vorlebt, kann es von ihr profitieren, da das Kapital Kommunikation auf der kulturellen Vielfalt der Mitarbeiter beruht, die als Individuen fachliche Qualifikationen sowie verschiedene Denk- und Handlungsweisen in das Unternehmen tragen. Um aus diesem Kapital einen Ertrag erzielen zu können, muss es gleichfalls durch eine effektive Kommunikation aktiviert werden. Kontextbezogen moduliert und arrangiert kann eine internationale Grammatik interkultureller Kommunikation entstehen, deren Erfolg auf kulturellem Respekt beruht. Da die Bedeutung interkultureller Kommunikation im Zuge der fortschreitenden Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft stetig wächst, besteht ein Bedarf an geeigneten Messinstrumenten, um den Erfolg einer interkulturellen Kommunikation in ein bewertbares Gut zu transformieren. Es bedarf der Entwicklung einer Strategie zur Einbeziehung von Kommunikation als weichen Faktor in ökonomische Kennzahlensysteme. 44 Um entsprechende Qualitätsindikatoren als valide Messgrößen aufzustellen, bedarf es einer größer angelegten Studie, die optimalerweise quantitative und qualitative Forschungsmethoden kombiniert, um einerseits aussagekräftige Einschätzungen und andererseits fundierte Tendenzaussagen zur möglichen Erfolgsmessung von Kommunikation in Unternehmen zu erhalten. Von einem derartigen Forschungsprojekt ist ein beträchtlicher Nutzen für die weitere Entwicklung der interdisziplinären Dimension der Kulturwissenschaft zu erwarten. Gleichzeitig würden praktische Erkenntnisse für die Betriebswirtschaftslehre und die Organisationspraxis gewonnen. Die abschließende Bilanz zeigt, dass im Kontext der zunehmenden Erweiterung des international-wirtschaftlichen Agitationsradius Schlagworte wie Kultur, Nation, Kommunikation, Sprache, Internationalisierung, Globalisierung, Information, Zeit, Wirtschaftlichkeit und Qualität in den Fokus rücken, die einen Perspektivenwechsel erfordern. Die Schaffung eines interkulturellen Verständnisses zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist daher unerlässlich, um eine effektive interkulturelle Kommunikation zu erzielen und diese als dynamischen Prozess in einem interkulturellen Handlungsfeld zu leben. Interkulturelle Kommunikation sollte schließlich als Selbstverständlichkeit auf der Führungsebene praktiziert und im operativen Alltag automatisch auf das gesamte Unternehmen übertragen werden. In einem internationalen Unternehmen, in dem zahlreiche Mitarbeiter unterschiedlicher Nationalitäten zusammenarbeiten, bestünde das Integrations-Optimum darin, dass Nationalitäten keine primäre Rolle mehr spielen, sondern die jeweiligen nationalen Eigenschaften bekannt sind, Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 239 sich ihrer bewusst gemacht wird und diese entsprechend genutzt werden. Das in den Sprachwissenschaften verortete Werkzeug Sprache, welches das Medium zur effektiven Kommunikation darstellt, wird demzufolge als aktives tool zu einer Ressource im Sinne der Betriebswirtschaft. Eine transparente interkulturelle Kommunikation stellt somit einen Schlüsselfaktor dar und bietet die Möglichkeit, zu einem wirtschaftlichen Kapital für das Unternehmen zu werden und daraus entsprechend ökonomischen Erfolg zu ziehen. Literaturverzeichnis Aaker, David A. 1989: Strategisches Markt-Management. 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Als ständiges Organ der Generalversammlung der Vereinten Nationen hat sie ihren Sitz in Genf. 2 In dem Standardwerk “Internationales Management” wurden in der Auflage zwei Jahre zuvor “nur” 60.000 international tätige Unternehmen mit insgesamt 500.000 Tochtergesellschaften genannt (vgl. Kutschker/ Schmid 2006: 234). 3 Maßgebliche Indikatoren für Internationalisierung sind unter anderem die im Ausland erbrachten Umsätze, die Anzahl der Mitarbeiter im Ausland, die Anzahl von Ausländern in Leitungsorganen, die internationale Orientierung der Manager, die Anzahl der ausländischen Tochtergesellschaften, die Zahl der ausländischen Produktionsstätten, die Höhe der ausländischen Direktinvestitionen und der Exportanteil (vgl. Krystek & Zur 2002: 5). 4 Als Direktinvestitionen bezeichnet man im Allgemeinen grenzüberschreitende Investitionen, die darauf abzielen, einen dauerhaften Einfluss auf eine Unternehmung in einem anderen Land zu erzielen (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 84). 5 Präzise Definitionsabgrenzungen finden sich bei Kutschker & Schmid 2008: 242ff. 6 Hinweise zu den Differenzierungen hinsichtlich der Dimensionen-, Größen-, Struktur- und Verhaltensabgrenzung internationaler Unternehmen finden sich bei Steinmann & Olbrich 1994: 125. 7 Auswertungen von Literaturdatenbanken belegen, dass die Verwendungen des Wortes global und die von ihm abgeleiteten Termini im Zusammenhang mit Veröffentlichungen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, vor allem seit 1993, exponentiell zunahmen (vgl. Albrow 1998: 130; Dörrenbächer 1999: 28 ff.). 8 Von lat. globus = die Kugel, die Erde. 9 Der Wortstamm wurde durch die Anfügung von Suffixen wie -ismus, -ität und -isierung stetig erweitert, woraus inhaltlich eine weltweite Ausrichtung abgeleitet wurde, die durch Prozesshaftigkeit geprägt ist (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 161; Albrow 1998: 131). Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 243 10 Die ersten Tendenzen bezüglich einer Internationalisierung waren ab Ende der 1960er Jahre zu verzeichnen. Nach dem Wiederaufbau und der folgenden Internationalisierung hat die eigentliche Globalisierung Ende der 1970er Jahre begonnen (vgl. Mirow 2002: 109). 11 Die erste Welle der Globalisierung setzte ab 1980 ein und war gekennzeichnet durch die Tendenz zur Integration der unterschiedlichen, regionalen Märkte zu einem homogenen Markt, bestehend aus den industrialisierten Ländern und expansiven, exportgetriebenen Schwellenländern. Die Ursachen für die zweite Welle der Globalisierung ab 1990 liegen in der Vergrößerung des Handlungsraumes aufgrund der Öffnung planwirtschaftlicher Systeme, dem Abbau von Handelshemmnissen, einer drastischen Verbesserung der Informations- und Kommunikationswege sowie einer weltweiten Kapitalverfügbarkeit. Zudem nimmt die Wettbewerbsintensität bei immer kürzer werdenden Technologiezyklen zu (vgl. Mirow 2002: 109 ff.). 12 Zeitlich erstreckt sich die erste Moderne vom Absolutismus des 17. Jahrhunderts bis zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. In seiner Container-Theorie versteht Beck den Staat und seine Grenzen als eine Art Behältnis, in welchem die Gesellschaft - nach außen abgeschirmt - verpackt sei. Die nationale Geschichte und die nationale Gesellschaft unterscheiden sich bis zum Eintritt der Globalisierung von den jeweiligen Nachbargesellschaften (vgl. Hansen 2000: 153 ff.). 13 Nach den Weltkriegen ist die zweite Moderne nach 1945 durch Mobilität, Transportbeschleunigung und verbilligung sowie Medien- und Kommunikationstechnik geprägt, die zu einer Entterritorialisierung führen. Neue Kommunikationsmöglichkeiten beeinflussen die Kultur und die kulturelle Souveränität der Staaten, wodurch die Welt immer ähnlicher wird und sich in der Phase des Transnationalen die Begriffstriade aus “Globalismus - Globalität - Globalisierung” ergibt (vgl. Hansen 2000: 153 ff.). 14 Eine zeithistorische Geschichte der Globalisierung mit ihren Dimensionen, Prozessen und Epochen findet sich bei Osterhammel & Petersson 2003. 15 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der vielfältigen und zum Teil gegensätzlichen Definitionslage findet sich in Kutschker & Schmid 2008: 159 ff. 16 Die Definitionsansätze umschließen weitere Lebensbereiche und Wissenschaften wie Recht, Ethik, Ökologie, Technik, Kommunikation oder Medien zunehmend von Globalisierungsprozessen erfasst, auf deren Basis Überlegungen zur Entstehung beziehungsweise zur Existenz einer Weltgesellschaft angestellt werden (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 168 ff.). 17 Die “Organization for Economic Co-operation and Development” (OECD) ist eine Internationale Organisation mit 30 Mitgliedsländern, die sich der Demokratie und der Marktwirtschaft verpflichtet fühlt (vgl. o. V. 2009). 18 Eine ausführliche historische Übersicht internationaler Unternehmenstätigkeit findet sich bei Dülfer 2002: 69-95. 19 Von ital. maneggiare = handhaben, bewerkstelligen; von lat. manus = Hand und lat. agere = tätig sein. 20 Transaktionskosten sind als Marktbenutzungskosten Aufwendungen, die notwendig sind, damit ein Kontakt zwischen zwei Wirtschaftssubjekten zustande kommt. Es handelt sich dabei vor einem Vertragsabschluss um Anbahnungs- und Vereinbarungskosten, nach einem Vertragsabschluss um Kontroll- und Anpassungskosten (vgl. Welge & Al-Laham 2002: 633; Perlitz 2000: 489 f.). 21 Eine ausführliche Definition zu Management und Internationales Management ist bei Dülfer 2001: 1-5 nachzulesen. 22 Eine Übersicht zum Themenkomplex Strategien der Internationalen Unternehmung mit einer Auswahl von Definitionen von Unternehmensstrategien zwischen 1962 und 2001 sowie theoretischen Ansätzen der Strategieforschung, Markteintritts- und Marktbearbeitungsstrategien finden sich bei Kutschker & Schmid 2008: 821 ff. 23 Eine Übersicht von unterschiedlichen Konzepten hinsichtlich der Auffassung von Unternehmenskultur von 1982 bis 1993 findet sich bei Kutschker & Schmid 2008: 685. 24 Als Professor für Organisationspsychologie und Management am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge legte Schein 1986 den Titel “Organizational culture and leadership” bei Jossey-Bass in San Francisco vor. 25 Unter einer semipermeablen Membran versteht man in den Naturwissenschaften eine halbdurchlässige Trennschicht, die nur bestimmte Partikel unterhalb einer vorgegebenen Größe durchlässt. 26 Auf dieses Zwei-Ebenen-Kulturmodell wird in der neueren betriebswirtschaftlichen Literatur bereits eingegangen (vgl. Kutschker & Schmid 2008: 673). 27 Detaillierte Informationen zum Aufbau des Kulturzwiebel-Modells finden sich bei Blom & Meier 2004: 40-45. 28 Ein Hauptelement der internen Kommunikation stellt die interne Zeitung dar, die in der Regel zur einen Hälfte aus landesspezifischen Themen und zu anderen Hälfte aus Themen der Konzernzentrale besteht (vgl. Unger 2002: 467). Melanie Mergler 244 29 Der Begriff Corporate Identity (CI), geprägt durch den widerspruchsfreien Zusammenhang von Erscheinung, Worten und Handlungen eines Unternehmens, wird je nach Autor als erklärtes Ziel, als Methode oder als Ergebnis von identitätsorientierten Bemühungen gesehen. In einem Konzern-Gestaltungshandbuch werden wesentliche Merkmale des CI festgelegt (vgl. Unger 2002: 459, 467). 30 Der erstmals von Jerome McCarthy benannte Marketing-Mix besteht aus den vier Elementen der Produkt-, Preis-, Distributions- und Kommunikationspolitik und dient der Planung und Umsetzung von Marketing- Strategien (vgl. Unger 2002: S. 460; Wöhe & Döring 2002: 500 ff.). 31 Asynchrone Technologien beschreiben Kommunikation zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten (z. B. E-Mail oder Fax), synchrone Technologien beschreiben Kommunikation zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten z. B. Video-Konferenz oder Telefon und präsentationsunterstützende Technologien nehmen eine Sonderrolle ein, da sie sich unterschiedlicher Dienste bedienen und zeitsowie ortsunabhängig eingesetzt werden können z. B. White Boards oder Intranet (vgl. Behrendt 2002: 689.). 32 Diesem Aufsatz liegt eine empirische Forschungsarbeit in einem internationalen Wirtschaftsunternehmen (über 52.000 Mitarbeiter weltweit) zugrunde. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes anonymisiert verwendet, um einen Praxis-Transfer herzustellen und geeignete Handlungsempfehlungen für internationale Unternehmen abzuleiten. Im Rahmen der empirischen Analyse werden Interviewpartnerinnen und Interviewpartner erwähnt, deren Namen und Interviews (sowohl in Audioformat als auch Transkription) vorliegen. 33 Zitat: “Language can slow down the process, because people try to understand, what was meant, what was the intent of the communication, trying to understand what people were saying.” (Britischer Interviewpartner 1) 34 Zitat: “Die Sprache ist in vielen Bereichen erstmal ein Türöffner. […] Das ist eine Respektsbekundung. Und wenn Du Leuten Respekt bekundest, ist erstmal schon mal das Eis gebrochen.” (Deutscher Interviewpartner 2, ähnlich auch internationaler Interviewpartner 3, deutsche Interviewpartnerin 1, britische Interviewpartnerin 1) 35 Zitat: “Ich glaube, [das Sprechen der Muttersprache in den nationalen Standorten] wird auch immer so bleiben.” (Deutsche Interviewpartnerin 1) 36 Zitat: “Changing the language into English will take quite a long time.” (Internationaler Interviewpartner 2) 37 Zitat: “Und Arbeitsbeziehungen haben immer auch eine emotionale Komponente.” (Deutsche Interviewpartnerin 3) 38 Zitat: “It’s just a tool and perhaps in ten years or fifteen years with the electronic system we will be able to use our own language and to have some simultaneous translation.” (Französischer Interviewpartner 2) 39 Dieses veränderte Kommunikationsverhalten bezieht sich maßgeblich auf die Kollegen, die an einem Computerarbeitsplatz sitzen. Dies ist sowohl in kaufmännischen als auch in technischen Büros der Fall. 40 In Bezug auf vorliegende Reiserichtlinien kann an dieser Stelle ein Paradoxon auftreten. Einerseits wird die Face-to-face-Kommunikation von den Experten als unabdingbar für eine effektive Zusammenarbeit eingestuft, andererseits verlangt die Unternehmenspolitik zur Einsparung von Reisekosten ggf. einen vermehrten Rückgriff auf Telefon- und Videokonferenzen. Eine Schnittstelle könnten bildübertragende Kommunikationsmedien darstellen, die an Computerarbeitsplätzen in den Büros und in den Produktionshallen eingerichtet werden könnten. In dieser Form könnte der individuelle Gesprächspartner auf dem Bildschirm visualisiert werden, was Vertrauen und Nähe schafft. Die non-verbale Kommunikation kann im Gegensatz zu Telefon- und Videokonferenzen besser berücksichtigt und der Gesprächspartner besser eingeschätzt werden. Diese Form der Kommunikation bezieht sich jedoch nur auf Gesprächssituationen zwischen zwei Personen und erfordert einen technischen sowie finanziellen Aufwand. In einem Pilotprojekt könnte die Effektivität dieses Mediums getestet werden. 41 Durch die Erzeugung von Motivation und Akzeptanz kann sichergestellt werden, dass Mitarbeiter den Wandel aktiv mittragen und gestalten. Partizipation stellt somit ein wichtiges Instrument der Unternehmenspolitik dar und kann nur durch Kommunikation getragen werden. Das Zusammenwachsen hin zu einem integrierten Unternehmen unterliegt somit einem unternehmensinternen Akkulturationsprozess, wobei der persönliche Kontakt zwischen den Kollegen unterschiedlicher Nationen essentiell ist. 42 Als Konzepte bieten sich das Management by Exception (Zuständigkeitsregelung von Routineaufgaben), Management by Delegation (Hierarchieabbau und Aufgabendelegation) oder Management by Objectives (Zielvereinbarungen) an (vgl. Weber 2007: 38). 43 Der Kondratieff-Zyklus geht auf die Theorie des sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlers Nikolai Kondratieff zur zyklischen Wirtschaftsentwicklung zurück. 1926 veröffentlichte er in der Berliner Zeitschrift “Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik” seinen Aufsatz “Die langen Wellen der Konjunktur”. Der Begriff Kondratieff-Zyklus wurde 1939 von Joseph Schumpeter geprägt (vgl. Nefiodow 1999: 2). Kulturelle Kommunikation als ökonomischer Faktor in internationalen Unternehmen 245 44 Es existieren bisher mehrdimensionale Zielsysteme, wie die Balanced Scorecard oder das 7-S-Modell nach Peters & Waterman (1982), das weiche Faktoren wie die Kunden- oder Mitarbeiterperspektive in die Erfolgsmessung einbezieht. Interkulturelle Kommunikation zwischen den internen Stakeholdern eines Unternehmens wurde bislang noch nicht als Kennzahl in Zielsystemen berücksichtigt. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Wie aus Feinden Freunde wurden Die Annäherung von Deutschen und Franzosen nach 1945, die Zeitgenossen gerne als ein „Wunder“ bezeichnet haben, war nicht nur das Werk großer Staatsmänner und auch nicht nur eine Art Nebenprodukt des „Kalten Krieges“. Sie war, historisch nahezu einzigartig, getragen und belebt von einer bis dahin unvorstellbaren Welle zivilgesellschaftlicher Annäherungsinitiativen. In diesem Band werden die unterschiedlichen Anlässe, Motive und Zielsetzungen beleuchtet, die diese zivilgesellschaftlichen Akteure aus verschiedensten Milieus und politischen Lagern antrieben. Einen besonderen Schwerpunkt bilden die Deutsch- Französischen Gesellschaften sowie Städtepartnerschaften. Am deutsch-französischen Beispiel leistet der Band damit einen wichtigen Beitrag zur Transnationalismusforschung und zum Verständnis der Rolle von Zivilgesellschaften in zwischenstaatlichen Beziehungen. Corine Defrance / Michael Kißener Pia Nordblom (Hrsg.) Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945 Zivilgesellschaftliche Annäherungen edition lendemains, Band 7 2010, 412 Seiten €[D] 58,00/ SFr 90,90 ISBN 978-3-8233-6421-4 Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut - Eine exemplarische Analyse europäischer Buchmärkte Annika Cornils; Leuphana University Lüneburg The paper analyses the states Germany, Great Britain, Poland and Rumania as European book market nations and compares them in an exemplary way. The focus will be only on the fiction sector of the book market. The dichotomy of the book, in its cultural and economic functions, will be the focus of the discussions. Questions concerning the paradoxical characteristics of the double function as well as discrepancies and similarities of the national market structures emphasise the topicality and the needs of a common European book market. The following research presents an unprecedented comparison between the above mentioned countries understanding the book market both as a cultural and an economical structure. 1 Einleitung und Forschungsstand Seit den 1980er Jahren ist eine zunehmende Beschleunigung auf den verschiedenen Ebenen der europäischen Literaturmärkte feststellbar; zunächst in den westeuropäischen Staaten, seit der Wende 1989/ 90 auch auf den osteuropäischen Buchmärkten. Neben der Konzentration und Konsolidierung im Verlagswesen 1 und Buchhandel, stieg auch die werbe- und medienwirksame Inszenierung von Literatur durch Buchmessen, Literaturpreise und zahlreiche Marketingaktivitäten. Die zentrale Frage dieser Abhandlung ist dabei, inwieweit diese Faktoren in den teilweise recht unterschiedlichen europäischen Ländern eine ähnliche oder gar gleiche Bedeutung und Ausprägung haben, und ob von einem europäischen Buchmarkt die Rede sein kann. Konkret wird dazu folgenden Kernfragen nachgegangen, die anhand der vier Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) exemplarisch analysiert und erörtert werden: - Worin unterscheiden sich der kulturelle und der ökonomische Wert des Gutes Buch? - Wie beeinflussten die Jahrzehnte des Sozialismus den polnischen bzw. den rumänischen Buchmarkt im Vergleich zu den marktwirtschaftlichen Literaturbetrieben Deutschlands und Großbritanniens und welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? - Welche Parameter der Buchpolitik und Buchökonomie sind für die vier Buchmärkte gleichermaßen relevant und worin bestehen Unterschiede? Die Doppelnatur des Buches 2 als Kultur- und Wirtschaftsgut spielt dabei in allen Teilen des Beitrags und bei allen Fragestellungen eine teils offensichtliche, teils latente Rolle. Als eine der wichtigsten Kulturindustrien in Europa erhält das Buchwesen (im Gegensatz zu beispielsweise staatlichen Theatern) die geringste finanzielle Unterstützung von den Regierungen oder K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Annika Cornils 248 der Europäischen Kommission und gehört nicht in den Non-Profit-Bereich wie andere Kulturinstitutionen. Vielmehr hat das Buch neben der kulturellen auch eine marktwirtschaftliche Funktion, die den Beteiligten im Literaturbetrieb 3 Umsatz und Gewinn bringen soll. Das Buch kann somit als Kulturgut in einer kapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden, das für kulturelle Vielfalt sorgt und den kulturellen sowie transnationalen Austausch fördert. Durch seine technische Reproduzierbarkeit seit Erfindung des Buchdrucks und in der heutigen Zeit durch digitale Verfügbarkeit, hat es sich zum Massenmedium gewandelt. 4 Als Grundlage für diese Untersuchung wurden jeweils die zwei bevölkerungsreichsten ostbzw. westeuropäischen Nationen ausgewählt, um einen objektiven Vergleich zwischen den nationalen Buchmärkten zu ermöglichen (vgl. Fischer Weltalmanach 2008: 521). Deutschland ist dabei mit etwa 82,5 Mio. Einwohnern der mit Abstand einwohnerstärkste Staat der EU. Als zweiter westeuropäischer Staat wird Großbritannien mit etwa 60,2 Mio. Einwohnern analysiert. 5 In Osteuropa (bzw. in den neuen EU-Mitgliedsstaaten seit 2004) sind Polen mit 38,2 Mio. und Rumänien mit 21,6 Mio. Einwohnern die deutlich bevölkerungsreichsten Staaten. 6 Diese statistischen Faktoren werden um folgende spezifische Merkmale ergänzt, die in dieser Analyse herausgearbeitet werden: In Deutschland, das als “Wiege des Buchdrucks” gilt, ereigneten sich entscheidende Entwicklungen im Bereich des Buchmarktes zuerst und wurden von dort in den Rest Europas und die Welt verbreitet. Zudem ist die Bundesrepublik eine der führenden Buch produzierenden Nationen Europas und nirgendwo ist das Netz aus Verlagen und Buchhandlungen ausdifferenzierter als in der BRD. Großbritannien kommt als insularer Staat Westeuropas insofern eine wichtige Bedeutung zu, als die englische Sprache weltweit dominierend ist und Großbritannien nach China und den USA drittgrößter Buchproduzent ist. Der weltweite Export englischsprachiger Literatur aus Großbritannien spielt eine wichtige Rolle für den globalen Buchhandel. Auch hier ist das Buchmarkt-System seit vielen Jahrhunderten verankert und als eine Nation mit intensiver literarischer Vergangenheit (u. a. Shakespeare, Austen, Shaw) kommt Großbritannien eine wichtige Position im Bereich der Belletristik zu. Welche Veränderungen entstehen, wenn eine Buchnation von Konzentrationsprozessen überrollt wird, kann in Großbritannien beobachtet werden. Seit 2004 Mitglied der EU, ist Polen als einwohnerstärkstes und flächenmäßig größtes mittelosteuropäisches Land bereits seit der Wende 1989/ 90 im Umbruch zu einer Marktwirtschaft, der auch in der Buchbranche zu Veränderungen führte. Als großer Lizenznehmer organisiert sich der polnische Buchmarkt seit dem Zerfall des Kommunismus nach westlichen Gesichtspunkten und mit großer Geschwindigkeit neu, so dass auch hier seit einigen Jahren Konzentrationsprozesse stattfinden. Rumäniens marktwirtschaftlicher Buchmarkt befindet sich noch in der Aufbauphase. Die osteuropäische Nation blickt zwar wie auch Polen auf eine lange Buchtradition zurück, Kriege und Kommunismus hemmten eine stete Entwicklung jedoch über lange Zeit. Das erst 2007 zur EU beigetretene Land ist besonders im Bereich der Buchdistribution noch stark entwicklungsbedürftig und nimmt in Europa in Bezug auf die Buchproduktion zurzeit noch einen der hinteren Plätze ein. Besonders im Hinblick auf die junge Mitgliedschaft in der EU wird auch die zweitgrößte osteuropäische Nation in die Untersuchung miteinbezogen. In einer kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Doppelnatur “Buch als Kulturgut versus Buch als Wirtschaftsgut” wird zunächst herausgearbeitet, welche zwei Bedeutungsträger auf dem Buch liegen. Zum einen ist es als Träger von Geist und Wissen ein immaterielles Gut, dem in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik ein besonderer Stellenwert eingeräumt Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 249 wird. Zum anderen ist das Buch eine Ware, mit der zahlreiche Beteiligte in der Wertschöpfungskette Profit machen wollen. Dieses Kapitel bildet die Grundlage für die folgende Analyse der vier europäischen Buchmärkte. Wissenschaftliche Arbeiten, welche sowohl die westals auch die osteuropäischen Staaten hinsichtlich ihrer Buchmärkte vergleichend untersuchen, existieren bisher noch nicht. 7 Dagegen sind einige Studien verfügbar, die entweder west- oder osteuropäische Buchmärkte analysieren - meist anhand einzelner literaturbetrieblicher Parameter wie beispielsweise die Buchpreisbindung (siehe u. a. Obert 2000 und Everling & Rürup & Füssel 1997) oder in Bezug auf den Sozialismus in Osteuropa (siehe wierk 1981). Marcel Canoy, Jan C. van Ours und Frederick van der Ploeg haben 2006 eine Statistik zur Buchökonomie in den 20 OECD-Staaten 8 herausgegeben, die u. a. die Buchproduktion sowie Markt- und Buchcharakteristika eruiert und ebenfalls die Frage der Buchpreisbindung ausführlich diskutiert. Für die einzelnen Länder existieren mehrere, unterschiedlich ausführliche Erhebungen und Analysen: Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gibt seit 1952 jährlich seinen Branchenbericht “Buch und Buchhandel in Zahlen” heraus und die Publishers’ Association sowie die Booksellers’ Association aus Großbritannien stellen diverse Studien und Statistiken nicht nur zum eigenen Land, sondern auch zu anderen Buchnationen zur Verfügung. Ebenfalls veröffentlicht die Publishers’ Association seit 2005 jährlich die Studie “UK Book Publishing Industry Statistics” als Pendant zum deutschen Branchenbericht - diese ist jedoch lediglich auf den Buchverkauf ausgerichtet und von geringerer Ausführlichkeit als die Studie des Börsenvereins. Von Kirsten Schlesinger (1999) liegt eine ausführliche Analyse zum verbreitenden Buchhandel in Großbritannien vor; ein ähnliches Werk hat Klaus Ziermann (2000) für den deutschen Buch- und Taschenbuchmarkt 1945-1995 publiziert. Da sich in den vergangenen zehn Jahren insbesondere in Bezug auf die Konzentration und Konsolidierung großer Buchhandlungsketten Veränderungen auf dem britischen und deutschen Buchmarkt ergeben haben, müssen die Angaben für diesen Beitrag um neuere Quellen ergänzt werden. Für Polen ist die Studie von ukasz Go biewski und Kuba Fro ow “The Polish Book Market” von 2007 als aktuellste Quelle zu nennen. Das 2006 in zweiter Auflage erschienene Buch “Book Market in Poland” von Go biewski bietet neben Zahlen viele weitere Informationen über den polnischen Buchmarkt. Die neueste Studie des Rumänischen Verlegerverbands AER stammt aus dem Jahr 2002. Da sich in den vergangenen Jahren auch die rumänische Buchindustrie transformiert hat, können diese Zahlen lediglich als Richtung weisend für die derzeitige Situation gelten und werden, soweit vorhanden, mit aktuelleren Quellen verglichen. 2 Der kulturelle Wert des Buches Die Kultur einer Gesellschaft ist von Traditionen, Normen und weiteren Mustern geprägt. Kulturgüter zählen zu den kreativen Artefakten einer Gesellschaft, denen u. a. in Form von Literatur Ausdruck und Gestalt verliehen wird. In seiner frühen Funktion zeigte sich der hohe kulturelle Wert des Buches vor allem darin, dass es wenigen Gelehrten (vor allem in Klöstern und später in Universitäten) vorbehalten war, zu schreiben. Das Buch stellte einen kostbaren Speicher für Wissen dar, der schon aufgrund der niedrigen Alphabetisierungsquote der Bevölkerung nur Wenigen zugänglich war. Mit der Bibel als dem “Buch der Bücher” behielt das Medium noch lange Zeit einen hohen kulturellen Stellenwert und ist somit grundlegend für das abendländische Denken. Zumindest in der heutigen Zeit haben nicht mehr alle Bücher einen gleichermaßen geistig-kulturellen Wert, insbesondere im Hinblick auf die verschiede- Annika Cornils 250 nen Genres, die auf dem Markt zu finden sind. So kann behauptet werden, dass Ratgeber und ähnliche Formate nicht mehr oder weniger Kultur bzw. Geist besitzen als andere Bedarfsgüter (vgl. Meyer-Dohm 1967: 93). In Bezug auf das Genre Belletristik wird in der Gesellschaft kontrovers diskutiert, welche Werke tatsächlich als kulturell wertvoll bezeichnet werden dürften und welche als triviale Lektüre der Bezeichnung als Kulturgut nicht genügten (vgl. ebd.). Dieser Diskurs beinhaltet eine Unterscheidung zwischen hoher Kultur und populärer Kultur, wobei klassische Literatur in diesem Zusammenhang der Hochkultur und Trivialliteratur der Populärkultur zugeschrieben wird; diese Unterscheidung bezieht sich auch auf weitere Bereiche der Kultur wie beispielsweise der klassischen Musik gegenüber der Popmusik (vgl. Mayer 2008: 582). In Bezug auf die Literatur sind es vor allem die in den Bestsellerlisten platzierten Titel, die als populär und für die Massen produziert gelten. Neben seinem kulturellen Wert besitzt das Buch zudem einen symbolischen Wert, der sich insbesondere im Zuge der Verbreitung anderer Medien gewandelt hat. Dienten mit Klassikern gefüllte Bücherregale im Wohnzimmer lange Zeit als Statussymbol und als Zeichen von Bildung, sind an deren Stelle heute vermehrt große Flachbild-Fernsehgeräte gerückt. Auch wenn das Fernsehen in der europäischen Kultur seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Funktion als Leitmedium vom Medium Buch übernommen hat (vgl. Faulstich 2004: 31), ist die gesellschaftliche Relevanz des Buches immer noch sehr hoch. Dem gedruckten Wort wird häufig ein höherer Wahrheitsgehalt zugesprochen als den audio-visuellen oder digitalen Medien. Etwas, das geschrieben und damit auf einem Medium sichtbar fixiert ist, wird in unserer Gesellschaft teilweise (noch) als endgültiger bewertet als etwas Gesprochenes oder Gesehenes - womöglich deshalb, weil es beliebig häufig gelesen werden kann und nicht nur in einem flüchtigen Moment wahrnehmbar ist. Daraus lässt sich schließen, dass das Buch zur Akkumulation von Humankapital einen wichtigen Beitrag leistet. Da sich ein literarischer Text erst durch das Verstehen erschließt, ist neben der Fähigkeit lesen zu können, oft auch Hintergrundwissen in unterschiedlichem Umfang notwendig - insbesondere bei komplexen Texten oder Fachliteratur (vgl. Grau 2006: 15 und Tietzel 1995: 12). 3 Der Gebrauchswert der Ware Buch Das Buch ist zweifellos auch ein wirtschaftliches Gut, da es auf einem Markt angeboten wird und die Nachfrager bereit sind, dafür einen Preis zu entrichten (vgl. Tietzel 1995: 7). Seinen wirtschaftlichen Wert erhielt das Buch jedoch erst mit der Erfindung des Buchdrucks, da es durch die in der Folge massenhaftere Produktion zu einem niedrigeren Preis abgesetzt werden konnte (vgl. ebd.: 43). Doch weist das Gut Literatur Merkmale auf, die darüber hinaus eine Einordnung als “Marktgut” notwendig machen: “Damit es [das Buch; A. C.] ‘Unterhaltung’ oder ‘Belehrung’ stiften kann, damit, ökonomisch gesprochen, das Haushaltsgut ‘Lektüre’ produziert werden kann, braucht man außer einem Buch Lesezeit, die Fähigkeit zu lesen, vielleicht auch eine Brille oder einen Sessel.” (Tietzel 1995: 11) Um den Prozess nachvollziehen zu können, durch welchen ein Buch überhaupt zu einem Wirtschaftsgut werden kann, eignet sich das marxistische Modell der Ware, in welchem dargelegt wird, wie aus einem Objekt erst ein Produkt und daraus eine Ware wird. Karl Marx definiert den Begriff Ware dabei als “[…] ein[en] äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt.” (Marx 1980: 49) Die Ware besteht aus einem relativen Tauschwert und aus einem Gebrauchswert, der sich Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 251 jedoch erst mit seiner tatsächlichen Nutzung entfaltet (vgl. ebd.: 50 ff.). “Um Ware zu werden, muß das Produkt dem andren, dem es als Gebrauchswert dient, durch den Austausch übertragen werden. Endlich kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchsgegenstand zu sein.” (Ebd.: 55) Daraus ergibt sich, dass ein Produkt, solange es nicht als Ware realisiert wird, auch keine ist - es hat lediglich die Möglichkeit, Ware zu werden. Auf das Gut Buch angewendet bedeutet dieses Modell, dass es zwar eine Ware ist, weil es den Lesern zur Verfügung steht, jedoch erst seinen Gebrauchswert verwirklicht, wenn es auch gelesen wird. Den Tauschwert des Buches betreffend lässt sich eine Besonderheit feststellen: Der Tauschwert ist zwar von Titel zu Titel unterschiedlich hoch, unterscheidet sich zumindest in einigen Ländern jedoch von dem anderer Marktgüter, da er durch den festen Ladenpreis keiner Verhandlungsbasis oder anderen Wettbewerbsbedingungen unterliegt. Durch seine ständige Verfügbarkeit und die partielle Herabsetzung seiner Inhalte zur bloßen Unterhaltung und Zerstreuung, hat sich das Buch teilweise zu einem unreflektiert rezipierten Massenmedium entwickelt. Dabei hatte die Demokratisierung des Buches zwangsläufig eine Kommerzialisierung zur Folge, wenn von einer freien Marktwirtschaft ausgegangen wird. Mehr noch, beide Faktoren bedingen sich. Indem immer mehr Menschen lesen lernten und ein Bedürfnis nach Literatur entwickelten, entstand die kontinuierlich steigende Anzahl sowohl der publizierten Titel als auch ihrer produzierten Auflagen. Der zunehmende Austausch von Literatur über nationale und kontinentale Grenzen hinweg, verlief quasi Hand in Hand mit der Ausgestaltung des Handels mit dem Trägermedium Buch und seiner Professionalisierung. Dadurch, dass das Buch als Paperback 9 den meisten Menschen zu relativ günstigen Preisen zur Verfügung steht, was erst durch die massenhafte Produktion mit kommerziellen Interessen möglich wurde, ist es zu einem demokratisierten Gut geworden. Diese Entwicklung kann sowohl negativ als auch positiv bewertet werden. Zum einen wird die Kommerzialisierung des Kulturguts Buch als negativ dargestellt, da die Idee des Buches in diesem Zuge verloren gehe und durch die scheinbar grenzenlose Publikationsvielfalt “die konsumfertige, schnellgerichtartige Zubereitung anspruchsvoller Literatur” (Meyer-Dohm 1967: 58) sowie die Zunahme trivialer Titel steige, deren alleiniges Ziel Profitabilität zu sein scheint. Auf der anderen Seite stellt gerade dieser Umstand eine Möglichkeit für unbekannte oder kritische Autoren dar, ihr Buch in einem der zahlreichen Verlagshäuser verlegen zu lassen. Die massenhafte Herstellung und Verbreitung kann somit als eine Folge der Fortentwicklung der Gesellschaft betrachtet werden. Auf diese Entwicklung wird im folgenden Kapitel eingegangen. Folglich ist das Buch sowohl ein Produkt (eine Ware) als auch eine Metapher der Sprache bzw. des Gedankens, der Idee. Durch die massenhafte Produktion büßt das Kulturgut Buch einen Teil seiner Bedeutung als ein besonderes, schöpferisches Gut ein und wird zu einem gewöhnlichen, alltäglichen Gebrauchsgut wie viele andere Gegenstände auch. Es zeigt sich, dass das Buch zumindest in der heutigen Zeit nie nur Kulturgut und nie nur Wirtschaftsgut ist, sondern stets beides in sich vereint. Seine innere Unterscheidung liegt darin, dass das ästhetische Artefakt Buch ein Werk, sein kommerzieller Nutzen der Wert ist (vgl. Grau 2006: 97). 4 Entwicklung der osteuropäischen Buchmärkte nach dem politischen Wandel 1989 In einer Übersicht über den polnischen und den rumänischen Buchmarkt stellt Siegfred Taubert eine funktionierende Produktion und Distribution dar, die über das Land verteilt in Annika Cornils 252 vielen Buchhandlungen und Verkaufsstellen eine stetige Verfügbarkeit des Buches gewährleistete (vgl. Taubert 1972: 351, 378). Dass dies nicht unhinterfragt hingenommen werden darf, zeigen die Dokumentationen über die Zeit nach 1989, in der bis heute zumindest in Rumänien kein vollkommen funktionierendes Vertriebssystem vorhanden ist. 10 In den 1980er Jahren verschlechterten sich die Bedingungen auf dem rumänischen Buchmarkt, es wurden immer weniger Titel sowohl einheimischer als auch ausländischer Autoren publiziert. Nach der Wende dauerte es daher einige Zeit, bis sich die Literaturszene an die neuen Umstände gewöhnt und ihre Themen dem neuen Zeitgeist angeglichen hatte: “Die etablierten Schriftsteller, die vor der Wende besonders durch ihre ansatzweise kritische (auch rein literarische) Stellungnahme zum Kommunismus ein großes Publikum für ihre Bücher gewonnen hatten, hatten es schwierig, sich der neuen Zeit anzupassen und an ihre früheren Erfolge anzuknüpfen, denn die Literatur wurde nicht mehr nach ihrem subversiven Potenzial befragt.” (Dondorici 2007: 114) Diese Art Literatur, die der herrschenden Ideologie des sozialistischen Rumäniens widersprach, erwähnt auch Ion Bogdan Lefter. Er sieht die 1980er Jahre als Zeitraum des literarischen Wandels in Rumänien hin zur Postmoderne durch eine junge und kritische Generation (vgl. Lefter 1999: 113). Dass diese überhaupt publiziert werden konnte, ist wohl auf die Lockerung der Zensur nach 1965 zurückzuführen, in deren Folge zunehmend auch Romane mit systemkritischen Inhalten erschienen. Nach 1989 waren es insbesondere Aufzeichnungen wie Tagebücher aus der Zeit des Kommunismus (bzw. von Exil-Autoren), die als nichtfiktionaler Bereich im Genre Belletristik in den Buchhandlungen zu finden waren (vgl. ebd.: 51). Die rumänische Buchindustrie entwickelte sich somit nach der Wende langsamer als beispielsweise die polnische, wie im Folgenden deutlich wird. Dennoch entstanden in den ersten Jahren der 1990er Hunderte neue Verlagshäuser, von denen sich eine Großzahl jedoch nicht etablieren konnte und wieder verschwand (vgl. ebd.: 91). Seit 1990 stiegen die Preise für Bücher stetig und auch die Konkurrenz durch elektronische Medien (Radio und Fernsehen) nahm zu, die während des Kommunismus u. a. aufgrund der Zensur nicht im gleichen Umfang verfügbar waren (vgl. Balaban 2007: 7). Nach der Wende setzte in Polen eine schnelle Privatisierung des Buchmarktes ein. Die größten Veränderungen zeigten sich in der “[…] Abschaffung der Zensur, der Aufhebung der staatlichen Papierzuteilung und der staatlichen Kontrolle der Lizenzvergabe.” (Grosser 1997: 11) Durch den großen Nachholbedarf der Bevölkerung an Literatur, konnten zu Beginn der 1990er Jahre viele neue oder privatisierte Verlage auf den Markt treten. Dies änderte sich ab 1994, als das Angebot die Nachfrage erstmals überstieg und viele Verlage ihre Auflagen reduzieren mussten, um bestehen zu können. Auch auf der Seite des verbreitenden Buchhandels fanden Veränderungen statt. Etwa zwei Drittel der 1.700 staatlichen Buchläden des Großhändlers Dom Ksi ki wurden ihren früheren Besitzer zurückgegeben oder verkauft. Darüber hinaus entstanden neue Buchhandlungen und auch die Zahl der privaten Großhändler stieg an; wobei sich die Infrastruktur dadurch nicht verbesserte, da viele Großhändler ihre Bücher nur in ihrer Umgebung (in den größeren Städten) vertrieben und einige Buchhandlungen somit gar nicht die Möglichkeit hatten, die komplette jährliche Buchproduktion anzubieten (vgl. Grosser 1997: 13 ff.). Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 253 5 Buchpolitik und Buchökonomie in Europa - Deutschland, Großbritannien, Polen und Rumänien im Vergleich Das übergeordnete, repräsentative Organ der im Buchwesen vertretenen Berufe bilden die Berufsverbände, welche die Interessen ihrer Mitglieder auch auf politischer Ebene durchzusetzen versuchen und teilweise an der Entstehung und Ausgestaltung dieser Rahmenbedingungen beteiligt sind; auf diese wird zunächst eingegangen. Daran anschließend werden zwei Kategorien näher beleuchtet: zum einen die gesetzlichen Bestimmungen wie das Urheberrecht und die Preisbindung bei Verlagserzeugnissen, zum anderen die medienwirksamen Ereignisse wie Buchmessen und Literaturpreise. Dabei geht es nicht um eine detaillierte Erörterung dieser Rahmenbedingungen, sondern vielmehr um ihre Darstellung und Analyse hinsichtlich der Parallelen und Unterschiede in ihrer Entwicklung und Bedeutung für die vier Staaten. 5.1 Ständegesellschaften und Verbände des europäischen Buchwesens Die Entwicklung erster Verleger- und Buchhändlerverbände begann in Deutschland und Großbritannien bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der einzelnen branchenspezifischen Professionen in Europa. Deutlich später, erst im 20. Jahrhundert, bildeten sich Schriftstellerverbände wie der 1921 in London gegründete P.E.N.- Club oder in Deutschland der Verband der Schriftsteller 1969 (vgl. Dette 2000: 431 f.). Im Hinblick auf den Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags wird an dieser Stelle das Hauptaugenmerk auf die Ständegesellschaften der Verleger und Buchhändler gelegt, die zumindest in den Jahrzehnten nach ihren Gründungen sehr einflussreich waren und auf internationalen Verlegerkongressen ab 1881 u. a. Themen wie das Urheberrecht behandelten und somit Veränderungen für die Branche anstießen (vgl. Müller 2002: 182). Mit der Gründung des Börsenvereins der deutschen Buchhändler zu Leipzig (Börsenverein) wurde 1825 der Grundstein für weitere Vereinigungen gelegt, die mit großem zeitlichem Abstand auch in anderen Staaten entstanden. Die originäre Aufgabe des Börsenvereins als Organisation der Börse bestand darin, den Zahlungsverkehr unter den Händlern auf der Leipziger Buchmesse zu regeln. 1886 wurde der Deutsche Verlegerverein gegründet und beide Organisationen schlossen sich 1925 zum Börsenverein des Deutschen Buchhandels zusammen. Dieser fungiert seitdem als Ständeorganisation sowohl der Verleger als auch der Buchhändler (Groß- und Einzelhändler) und hat demnach auch eine vermittelnde Funktion für alle drei Handelsstufen inne. Dies hat jedoch nicht nur positive Auswirkungen: “Publishers and book retailers or wholesalers can be on opposing sides; major corporations (which provide the bulk of Börsenverein finances) and one-man-band publishers have little in common.” (Weidhaas 1995: 554) Doch liegt der Schwerpunkt heute auf übergeordneten gesellschaftlichen Themen und im vermittelnden Bereich: “Politik für das Buch als Wirtschafts- und Kulturgut und für den Erhalt und Ausbau der Literaturvielfalt ist neben der Leseförderung eine zentrale Aufgabe des Börsenvereins.” (Bode 2005: 61) Drei Richtung weisende Entscheidungen brachte der Börsenverein bereits im Jahrhundert seiner Gründung für seine Mitglieder auf den Weg: Die Aufhebung der staatlichen Zensur 1848 und im gleichen Zuge die Anerkennung des Schutzes des Autors bzw. seines Werks. Vierzig Jahre später wurde mit der Krönerschen Reform 11 der Annika Cornils 254 feste Ladenpreis für Bücher eingeführt, deren Ergebnis alle Mitglieder des Börsenvereins verpflichtet waren und welche einen einheitlichen Buchpreis an allen Verkaufsstellen gewährleistete (vgl. Faulstich 2004a: 132). Seit 1834 ist der Verein Herausgeber des Börsenblatts, einer der weltweit ältesten Fachpublikationen für den Buchhandel, die ein wichtiges Informationsmedium für die Branche darstellt. Neben einem redaktionellen Teil, der über aktuelle Entwicklungen auf dem Buchmarkt berichtet, haben Verlage die Möglichkeit, in einem großen Anzeigenteil auf ihr Verlagsprogramm und einzelne Titel hinzuweisen. Dazu erscheinen regelmäßig Beilagen, in denen Titel aufgeführt werden, für welche die Preise geändert oder die Buchpreisbindung aufgehoben wurde. Eine wichtige Publikation des Börsenvereins ist die jährlich erscheinende Studie “Buch und Buchhandel in Zahlen”, die Aufschluss über die Entwicklungen des deutschen Buchmarktes gibt und Vergleiche zu den Vorjahren in Bezug auf Umsätze und andere Zahlen anstellt sowie Veränderungen kommentiert. Während der deutsch-deutschen Teilung gab es einen Börsenverein für die Bundesrepublik mit Sitz in Frankfurt am Main und einen für die DDR mit Sitz in Leipzig; beide brachten weiterhin das Börsenblatt heraus, so dass bis zur Wiedervereinigung je eine Frankfurter und eine Leipziger Ausgabe erschienen. Seit 1991 ist die Hauptgeschäftsstelle des Börsenvereins in Frankfurt am Main ansässig. In Großbritannien gibt es seit jeher zwei große Organisationen mit maßgeblicher Repräsentanz für die Branche: Die 1895 gegründete Booksellers’ Association (BA) und die 1896 gegründete Publishers’ Association (PA), die jeweils den Interessen des verbreitenden bzw. des herstellenden Buchhandels dienen und ihren Sitz in London haben. Auffallend ist, dass diese Vereinigungen in Großbritannien erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und damit 70 Jahre später als in Deutschland entstanden. Die BA vertritt Buchhändler sowohl im Vereinigten Königreich als auch in der Republik Irland. Sie versteht sich als Dienstleisterin für ihre Mitglieder und sieht ihre Aufgaben u. a. in der Organisation von Konferenzen oder der Beratung bei kaufmännischen Belangen. 12 Die PA repräsentiert die britischen Verlage über die Grenzen Großbritanniens hinaus, betreibt Lobby-Arbeit für die Buchbranche in Bezug auf den Urheberschutz und andere relevante Themen ihrer Mitglieder. 13 Wie auch der Börsenverein erstellen beide Verbände jährliche Statistiken über die britische Buchindustrie. Das größte Branchenmagazin The Bookseller wird - anders als sein deutsches Pendant - nicht von den Ständegemeinschaften herausgegeben, sondern von der Nielsen Business Media. Das 1858 gegründete (also bereits vor dem Entstehen beider Associations) Magazin definiert sich wie folgt: “It is the weekly source of incisive, objective industry news and analysis, reaching all major booksellers and publishers in the UK and in nearly 100 countries worldwide.” 14 Eine gleichwertige Organisation existiert in Polen seit 1990: Die in Warschau ansässige polnische Buchkammer Polska Isza Ksi ki (PIK) vereint Verlage, Buchhandlungen, Großhändler, Drucker und andere auf dem Buchmarkt agierende Unternehmen unter ihrem Dach. 15 Erste Bemühungen, sich gemeinschaftlich zu organisieren, gab es in Warschau. Dort wurde 1873 ein Verband von Verlegern und Händlern gegründet, der einige Jahre die Aktivitäten seiner Mitglieder auf dem florierenden Buchmarkt koordinierte (vgl. Bieñkowska & Chamerska 1990: 22). Danach bildete sich 1908 die polnische Buchhändlervereinigung Zwi zek Ksi garzy Polskich, welche sich 1918 mit Verlegern und Händler der ehemaligen drei Sektoren zum Generalverband Powszechny Zwi zek Ksi garzy i Wydawców Polskich zusammenschloss. Dieser wiederum wurde 1926 in eine Vereinigung der Verleger und eine der Buchhändler zweigeteilt, die nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch nicht fortbestanden (vgl. ebd.: 31). Durch die Verstaatlichung eines Großteils des Buchwesens hatten entsprechende Ständeorganisationen im kommunistischen Polen nicht die gleichen Aufgaben wie in den Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 255 westeuropäischen Ländern. Neben zwei staatlichen Verbänden für Verleger und die Buchgesellschaft existierten kleinere Vereinigungen der wenigen privaten Verleger oder Buchhändler. Staatliche Verbände wie die heute noch existierende Buchhändler-Vereinigung Stowarzysenie Ksi garzy Polskiech brachten u. a. Branchenmagazine heraus (vgl. Taubert 1972: 353 f. und Bieñkowska & Chamerska 1990: 39). Abgesehen von der heutigen Buchkammer existieren andere, für die polnische Buchbranche bedeutende Institutionen wie die Biblioteka Analiz, welche bis dato das einzige Unternehmen ist, das über sämtliche aktuelle Daten des polnischen Buchmarktes verfügt und diese in Form von Statistiken und Studien 16 bereitstellt. Auch veröffentlicht sie Branchenmagazine wie seit 1992 das monatliche Magazynu Literackiego Ksi ki. Der Schwerpunkt des Buchinstituts Instytut Ksi ki liegt in der Bereitstellung von Informationen über polnische Literatur und deren Autoren (vgl. Go biewski & Fro ow: 12). Seine übergeordnete Aufgabe besteht darin, “[…] die Lesebereitschaft zu fördern, das Buch als Medium und die Leselust im Land zu verbreiten, sowie für die polnische Literatur in der Welt zu werben.” 17 Der rumänische Verlegerverband Asociatia Editorilor din Romania (AER) mit Sitz in Bukarest wurde 1991 gegründet und sieht sich u. a. als Vermittler zwischen Verlagen und dem Staat: “The main objective of The Romanian Publishers’ Association [Hervorh. im Original] consists of protecting and representing the Romanian book publishers’ interests in front of any legislative institutions, public authorities, non-governmental organizations and in front of the public at large. It also consists of promoting the real values of the Romanian culture and spirit through activities that offer a different perspective to the relation between the cultural events and the public to which they are addressed.” 18 Ebenfalls erstellt der AER Analysen zum rumänischen Buchmarkt. Dass die aktuellste Studie über den rumänischen Buchmarkt aus dem Jahr 2002 stammt, zeigt die bisher noch sehr unkontinuierliche Form der statistischen Markterhebungen. Ioana Gruenwald vom Buchinformationszentrum Bukarest beklagt dies und begründet diesen Zustand damit, dass sich die Verlage der Wichtigkeit solcher Studien häufig nicht bewusst seien, bzw. ihnen Mitarbeiter fehle, Anfragen zu beantworten oder Fragebögen zu Verkaufszahlen etc. auszufüllen. 19 In der Zeit vor 1989 gab es wie auch in Polen keine mit Deutschland oder Großbritannien vergleichbaren Verbände. Zwar existierte das staatliche Buchzentrum Centrala Carþii, dessen Aufgabe jedoch vor allem darin bestand, Verkaufsstatistiken zu erstellen, den landesweiten Buchhandel zu kontrollieren und Buchmessen zu veranstalten. Ihr monatliches Magazin beinhaltete Informationen zu neuen Publikationen und anderen Buchmarkt-Themen (vgl. Taubert 1972: 379). Als Organ der Verlage und des Handels trat das Buchzentrum hingegen nicht in Erscheinung. Auf europäischer Ebene existieren zwei Dachorganisationen, die sich für die gemeinsamen Belange der nationalen Verleger- und Buchhändler-Verbände einsetzen. Die Federation of European Publishers (FEP) wurde 1967 gegründet und repräsentiert derzeit 26 Mitgliedsstaaten der EU bzw. des Europäischen Wirtschaftsraums (u. a. auch den deutschen Börsenverein, die britische Publishers’ Association und die polnische Buchkammer). Die FEP beschäftigt sich mit europäischer Gesetzgebung und berät ihre Mitgliederorganisationen bei verschiedenen Themen bspw. bezüglich des Urheberrechtes. 20 Sie veröffentlicht verschiedene Statistiken zur europäischen Buchproduktion und stellt Vergleiche einzelner Länder an. Die European Booksellers Federation (EBF) der auch Polen, Deutschland und Großbritannien angehören, gibt ebenfalls Statistiken heraus, die sich vor allem auf den Buchhandel in Europa beziehen. In ihrer heutigen Form existiert sie seit 1994. 21 Darüber hinaus gibt es im interna- Annika Cornils 256 tionalen Bereich zwei weitere Vereinigungen, die sich für das Buchwesen engagieren. Die International Publishers Association (IPA) mit Sitz in Genf vereinigt nationale und regionale Verlegervereine von allen fünf Kontinenten mit dem Ziel, die Bedeutung des Publizierens für die wirtschaftliche, kulturelle und politische Entwicklung der Gesellschaft zu stärken. Die bereits 1896 in Paris gegründete IPA tritt für Publikationsfreiheit und die Ausweitung des Urheberrechtes ein und war Initiatorin der Berner Konvention. 22 Auf der Seite des verbreitenden Buchhandels existiert ebenfalls eine internationale Vereinigung, die International Booksellers Federation (IBF), welche 1956 ins Leben gerufen wurde und als unabhängige Organisation sowohl Buchhändler-Vereinen als auch individuellen Buchhändlern eine Mitgliedschaft bietet. Die IBF sieht ihre Aufgabe neben einer weltweiten Vernetzung insbesondere darin, Lobbyarbeit für den Buchhandel zu betreiben. 23 Es wurde deutlich, dass die nationalen Organisationen der vier Staaten im Kern ähnlichen Aufgaben nachgehen und die Interessen ihrer Mitglieder in Politik und Gesetzgebung durchzusetzen versuchen. In Deutschland und Großbritannien sind die Verbände seit weit über hundert Jahren aktiv und in der Branche etabliert. Dies zeigt auch den Einfluss, den sie bei Themen wie der oft strittigen Buchpreisbindung auf Politik und Wirtschaft haben. Dahingegen sind die Vertretungen der polnischen und rumänischen Verleger und Buchhändler auch im eigenen Land noch nicht im gleichen Ausmaß gefestigt. Dies wird größtenteils darin zu begründen sein, dass private Standesorganisationen in der Zeit des Kommunismus keine Relevanz hatten bzw. gar nicht existierten und sich die staatlichen Gesellschaften eher für die Verbreitung des Buches in der Bevölkerung einsetzten und keine institutionellen Interessen verfolgten. Auch in den stark differierenden Mitgliederzahlen zeigt sich die unterschiedliche Bedeutung der Verbände auf nationaler Ebene: Während z. B. der deutsche Börsenverein etwa 6.000 Mitglieder zählt, sind es in der polnischen Buchkammer (bisher) lediglich 240. Die im Verhältnis zur Gründung der EU recht alten europäischen Dachorganisationen zeigen das Bemühen, auch in der Buchbranche Regelungen über die nationalen Grenzen hinaus zu entwickeln und einheitliche europäische Standards zu schaffen. Das gleiche gilt für die international agierenden Organisationen, die weltweite Netzwerke und einheitliche Bestimmungen schaffen wollen. 5.2 Das Urheberrecht: “Schutz des geistigen Eigentums” Etwa seit der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Ruf nach einem “Schutz des geistigen Eigentums” von Dichtern und Schriftstellern laut. Die strukturellen Veränderungen im Buchvertrieb und die stete Zunahme der Buchproduktion sowie der Wandel vom Lateinischen zu nationalen Schriftsprachen in den Büchern, verlangten eine neue Organisation ihrer Vervielfältigungsberechtigungen (vgl. Volpers 2002: 2659). Bis dahin war es den Autoren in Europa zum einen nicht möglich, gegen die stark verbreiteten ungenehmigten Nachdrucke ihrer Werke vorzugehen. Zum anderen mussten sie das Recht an ihrem Werk zumindest für eine bestimmte Zeit an den Verleger abtreten. Zwar gab es in vielen Ländern Bestimmungen, wer “autorisiert” war, Bücher zu drucken, dies hatte seine Gründe meist jedoch in der Kontrolle über die Buchproduktion und dessen Inhalte (vgl. Finkelstein & McCleery 2005: 76). Im Gegensatz zum Originalverleger, der neben den Honorarkosten für den Autor zudem das Risiko des nicht einschätzbaren Erfolgs eines Buches trug, hatte der Nachdrucker betriebswirtschaftliche Vorteile, da auf ihn lediglich Produktions- und Vertriebskosten zukamen. Dies machte das damals noch nicht strafbare Nachdrucken besonders Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 257 attraktiv (vgl. Tietzel 1995: 158). Deutsche und britische Verleger der Originalwerke versuchten auf verschiedenen Wegen, gegen den Nachdruck vorzugehen. Neben angedrohten oder umgesetzten Sanktionen setzten sie teilweise auf Subskription: Die Käufer zahlten im Voraus für ein Buch und erhielten es dafür günstiger als es nach Erscheinen verkauft wurde sowie die ersten Abdrucke, die zum damaligen Technikstand die besten waren. Durch die damit gesicherte erste Abnahmemenge konnten die Verlage ihre Auflagen zudem besser kalkulieren und durch die Vorauseinnahmen steigerten sie ihre Liquidität (vgl. Finkelstein & McCleery 2005: 63 sowie Tietzel 1995: 203 f.). Jedoch war die Subskription teilweise mit Mängeln behaftet und es kam u. a. vor, dass die Bücher nicht an ihre Abonnenten ausgeliefert wurden oder die thematischen Inhalte hinter den Erwartungen der Leser zurückblieben. 5.3 Buchpreisbindung in Europa “The fixed book price agreement (FBP) involves retail prices maintenance, by which the publisher reserves the right to set the retail prices of books. Since the publisher also influences wholesale prices, he effectively sets gross margins for retail outlets. The cultural merits ascribed to such agreements have almost reached mythical proportions. No public debate in Europe on the cultural value of books is complete without a discussion of the FBP.” (Canoy & Ours & Ploeg 2006: 743) Buchpreisbindung bedeutet, dass ein publiziertes Buch zu einem vom Verlag festgelegten Ladenpreis in jeder Region des Landes und an allen Verkaufsorten zu diesem Preis abgegeben werden muss. Der Preiswettbewerb findet dabei nur auf der Ebene der Verlage statt, die neben der Deckung ihrer Kosten (plus Gewinn) auch beachten müssen, in welchem Preisrahmen die Konkurrenz ähnliche oder gar substituierende Titel anbietet. Es wird zwischen kollektiver und individueller Preisbindung unterschieden. Bei der ersten unterliegen ausnahmslos alle Verlagserzeugnisse der Preisbindung, bei der zweiten kann der Verlag individuell für jeden seiner Titel entscheiden, ob dieser zu einem festen Ladenpreis oder vollkommen frei verkauft werden soll (vgl. ebd.: 750). Das Thema Buchpreisbindung wird in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene kontrovers diskutiert und beide Positionen bringen nachvollziehbare Argumente für ihren Standpunkt an. Auf der einen Seite setzen sich die Verlegervereinigungen, die Ende des 19. Jahrhunderts die Initiatoren für einen festen Ladenpreis waren, für eine Beibehaltung oder Einführung der Buchpreisbindung ein. Sie begründen ihre Forderung zum einen mit der kulturpolitischen Aufgabe des Buchhandels, der Bevölkerung ein vielfältiges Angebot an Büchern verfügbar zu machen und der Gefahr, dass dies bei einer freien Preisgestaltung nicht mehr in dem gewünschten Ausmaß möglich sei. Zudem sind so Querfinanzierungen und Mischkalkulationen möglich, da Bestseller nicht zu Dumping-Preisen und weniger gutverkäufliche Bücher nicht zu abschreckend hohen Preisen verkauft werden können bzw. müssen. Die Verlage sind nicht auf staatliche Subventionen für ihre weniger populären Titel angewiesen. Auf der anderen Seite steht das Argument, eine Preisbindung würde Wettbewerb verhindern und es wäre für alternative Verkaufsstellen (Tankstellen, Internet etc.) weniger attraktiv, Bücher anzubieten (vgl. ebd.: 746 ff.). Ebenso könnte sich der Markt durch feste Preise nicht mit Hilfe von Angebot und Nachfrage selbst regulieren. Auf europäischer Ebene forderte das Europäische Parlament bereits 1993 im Rahmen des Gutenberg-Programms zur Förderung des Buches in Europa “ein System eines europaweit geltenden festen Buchpreises” (Schwarz 1994: 476) sowie eine Mehrwertsteuerbefreiung für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Doch auch 18 Jahre später Annika Cornils 258 ist die Buchpolitik innerhalb der Mitgliedsstaaten der EU nicht einheitlich geregelt. Noch immer gibt es Unterschiede in der Besteuerung der Bücher und der festen bzw. freien Ladenpreise. Diese Uneinheitlichkeiten spiegeln sich auch in den vier analysierten Staaten wider. 5.3.1 Feste Ladenpreise in Deutschland Die in Deutschland bestehenden festen Ladenpreise ermöglichen auch kleineren Buchhandlungen (noch) auf dem Markt zu bestehen und zumindest in Bezug auf die Verkaufspreise nicht von Ketten und anderen Verkaufsstellen verdrängt zu werden. Wie auch in Großbritannien ist die deutsche Buchhandlungslandschaft von teilweise gigantischen Filialen großer Buchhandelskonzerne geprägt - dass sich trotzdem noch viele unabhängige Sortimenter durchsetzen können, liegt nicht zuletzt in der in Deutschland vorgeschriebenen Buchpreisbindung begründet. Diese wurde 2002 gesetzlich durchgesetzt und 2006 überarbeitet. 24 Im ersten Paragraph des Buchpreisbindungsgesetzes (BuchPrG) wird der Zweck des Gesetzes erörtert: “Das Gesetz dient dem Schutz des Kulturgutes Buch. Die Festsetzung verbindlicher Preise beim Verkauf an Letztabnehmer sichert den Erhalt eines breiten Buchangebots. Das Gesetz gewährleistet zugleich, dass dieses Angebot für eine breite Öffentlichkeit zugänglich ist, indem es die Existenz einer großen Zahl von Verkaufsstellen fördert.” (Franzen & Wallenfels & Russ 2006: 1; § 1 Zweck des Gesetzes, BuchPrG in der Fassung vom 14.07.2006.) Seitdem ist es den Verlagen nicht mehr freigestellt, ihre Erzeugnisse preislich zu binden, sie sind dazu verpflichtet (vgl. Baier 2007: 16). Durch das BuchPrG ist der Handel gezwungen, den vom Verlag festgesetzten Ladenpreis eines Titels beizubehalten; Rabattschlachten wie im Vereinigten Königreich sind hierzulande nicht zulässig. Dies gilt jedoch nur für neue Bücher. Gebrauchte Bücher sind nicht preisgebunden, was sich vor allem Internethändler wie Amazon zu Nutze machen, indem sie neben neuwertigen Titeln auch gebrauchte Bücher zu günstigeren Preisen anbieten. Da das BuchPrG nicht über die Ländergrenzen hinweg gültig ist, können in Deutschland produzierte Titel beispielsweise in der Schweiz (wo die Preisbindung 2007 außer Kraft gesetzt wurde) unter den vom Verlag festgesetzten Preisen verkauft werden. Umgekehrt unterliegen importierte Bücher der Preisbindung, wenn sie überwiegend für den deutschen Markt produziert wurden, wie es bei Fremdsprachenlehrbüchern oder deutschsprachigen Titeln aus Österreich oder der Schweiz der Fall ist. Hier müssen die Importeure verbindliche Preise festlegen, wenn diese nicht vom Verlag vorgegeben sind (vgl. Weuster 2007: 93). Dagegen sind fremdsprachige Bücher nicht preisgebunden und unterliegen damit dem Preiswettbewerb. Da in Deutschland jedoch Preisfestsetzungspflicht für Bücher besteht, müssen die Buchhändler für importierte Titel Preise festsetzen, die den im Verlagsstaat vorgeschriebenen oder empfohlenen Nettopreis (d. h. ohne Mehrwertsteuer) nicht unterschreiten darf (vgl. ebd.: 111). Die Preisbindung kann nur durch den Verlag aufgehoben werden. Die Aufhebung wird im Börsenblatt bekannt gegeben und ist frühestens 18 Monate nach Erscheinen des Titels möglich oder wenn eine aktualisierte oder anderweitig veränderte Auflage erscheint. Im Modernen Antiquariat werden die Bücher, die der Preisbindung nicht mehr unterliegen, “verramscht”, d. h. als Mängelexemplare gekennzeichnet und somit zu einem günstigeren Ladenpreis verkauft. Mängelexemplare können bereits vor Ablauf dieser Zeit von der Buchpreisbindung befreit werden. In der Novellierung des BuchPrG wurde 2006 festgelegt, “[…] dass ein Mängelexemplar sowohl einen tatsächlichen Mangel als auch eine entsprechende Kennzeichnung ausweisen muss, damit es nicht mehr der Preisbindung Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 259 unterliegt […]” (Franzen & Wallenfels & Russ 2006: 2; § 7 Abs. 1 Nr. 4, BuchPrG in der Fassung vom 14.07.2006) und nicht durch bloße Kennzeichnung die Buchpreisbindung umgangen werden kann - oder die Remission des Exemplars, weil es sich nicht verkaufen lässt. Inwieweit diese Neuerung in der Praxis jedoch berücksichtigt wird, bleibt zu fragen, da viele reduzierte Bücher in den Buchhandlungen nach wie vor bis auf den Stempel augenscheinlich keine Mängel aufweisen. 5.3.2 Freie Ladenpreise in Großbritannien, Polen und Rumänien Im Gegensatz zu Deutschland existiert in Großbritannien, Polen und Rumänien keine gesetzliche Buchpreisbindung. Dementsprechend ist es für die Buchhändler wichtig, beim Einkauf möglichst hohe Rabatte zu erzielen, um die Bücher zu einem günstigen Preis an die Endkunden abgeben zu können und wettbewerbsfähig zu bleiben. Durch ihre zentralen Masseneinkäufe können insbesondere Buchhandlungsketten höhere Rabatte bei den Verlagen und Großhändlern (Grossisten) durchsetzen und ihre Bücher zu niedrigen Ladenpreisen an die Kunden weitergeben. Dass dieses Verfahren den seit einigen Jahren boomenden Filialisten zugute kommt und unabhängige Sortimenter auf der Strecke bleiben, zeigt sich insbesondere in Großbritannien. Dort wurde 1995 nach fast hundert Jahren das Net Book Agreement (NBA) abgeschafft, das bis dahin für feste Ladenpreise sorgte. Nach mehreren gescheiterten Versuchen gelang es den britischen Ständeverbänden in Gemeinschaftsarbeit, im Jahre 1900 das NBA (in Anlehnung an die Regelung im deutschen Sprachraum) ins Leben zu rufen. Jedoch blieb es bis zu seinem Zusammenbruch umstritten und wurde durch verschiedene Gesetze infrage gestellt. 1995 lösten sich viele britische Verlage aus der Übereinkunft und setzten keine verbindlichen Verkaufspreise für ihre Titel mehr fest. Auch auf europäischer Ebene wurde in dieser Zeit über die Zulässigkeit der grenzübergreifenden gebundenen Buchpreise zwischen Großbritannien und Irland diskutiert. Darüber hinaus ließ sich das NBA auf dem unregulierten US-amerikanischen Buchmarkt, der eine große Bedeutung für das britische Exportgeschäft mit Büchern hat, insbesondere durch den dort bereits einsetzenden Internethandel, nicht aufrechterhalten. Zwei Jahre später wurde die vertikale Preisbindung für Bücher (sie bezeichnet die Verpflichtung der einzelnen Handelsstufen Verlag - Großhändler - Einzelhändler, sich an die vorgegebenen Preise zu halten), die bisher als Ausnahmeregelung vom britischen Kartell genehmigt war, als endgültig unzulässig erklärt (vgl. Obert 2000: 13ff. und Stratmann 2006: 358). Die Filialisten profitieren von der fehlenden Buchpreisbindung, indem sie Werbeaktionen in der Art “buy 2 and get 3” starten. Auch existieren Internetseiten, auf welchen die Preise eines Titels bei verschiedenen Buchhandlungen und Online-Shops miteinander verglichen werden können und so der günstigste ausgewählt werden kann. 25 Dennoch haben sich die durchschnittlichen Buchpreise zwischen 1995 und 2000 um 18,6 Prozent erhöht und lediglich Bestseller und akademische Bücher wurden günstiger (vgl. Weuster 2007: 58). “Der allgemeine Konsumentenpreisindex stieg im gleichen Zeitraum dagegen nur um 10,9 %.” (Ebd.) Während die Buchpreise im kommunistischen Polen und Rumänien vom Staat festgelegt wurden, ist es den Buchhändlern heute freigestellt, zu welchen Preisen sie die Bücher anbieten. Mit der Entscheidung der polnischen Buchkammer, sich nicht für feste Ladenpreise auf dem polnischen Buchmarkt einzusetzen, scheint die Debatte dort beendet zu sein: “Finally, Polska Izba Ksi ki (Polish Chamber of Books) has definitvely rejected the idea of statutory regulation of the book market in Poland (including fixed price system).” (Go biewski 2006: 158) Jedoch haben die Verlage die Möglichkeit, empfohlene Preise auf das Buch zu drucken Annika Cornils 260 und damit eine völlige freie Preisgestaltung des verbreitenden Buchhandels zumindest einzuschränken. Doch zeigt sich beim stationären Buchhandel in Polen eine Tendenz, wie sie in den westlichen EU-Staaten schon seit einigen Jahren zu sehen ist: Die unabhängigen Buchhandlungen können sich immer weniger gegen die verstärkt aufkommenden Ketten durchsetzen, die Bücher günstiger einkaufen und somit auch günstiger als die kleinen Buchhändler verkaufen können. Die unabhängigen Sortimenter konkurrieren ebenfalls mit Supermärkten und Buchclubs, die nur gut verkäufliche Bücher im Angebot haben und damit zwar in ihrer Vielfalt eingeschränkt sind, diese Titel jedoch 10 bis 15 Prozent günstiger anbieten. Vor allem seit dem Anstieg des Online-Versandhandels ist auch auf dem rumänischen Buchmarkt der Preiskampf unter den Buchhändlern entbrannt. 26 Auf im Internet bestellte Bücher gewähren die Händler oder Verlage bis zu 20 Prozent Preisnachlass und auf Buch(verkaufs)messen werden Bücher mit hohen Rabatten angeboten. Auch Supermärkte haben vermehrt Bücher in ihrem Sortiment und verkaufen diese bis zu 35 Prozent günstiger als die Buchhandlungen. Bezogen auf alle Mitgliedsstaaten der EU stellen die vier vorgestellten Staaten kein Abbild der tatsächlichen Situation auf den nationalen europäischen Buchmärkten dar, da etwa die Hälfte der Mitgliedsstaaten eine Buchpreisbindung besitzt und weitere - wie u. a. Belgien - derzeit Regelungen erarbeiten. 27 Auf europarechtlicher Ebene besteht eine Diskussion über die grenzüberschreitenden gebundenen Buchpreise in Bezug auf den gleichen Sprachraum. Dies betrifft insbesondere Deutschland und Österreich, bis zum Fall des NBAs gab es ebenfalls Diskussionen zur Buchpreisbindung zwischen Großbritannien und Irland. 28 Etwa 70 Prozent der in Österreich verkauften Bücher stammen aus deutschen Verlagen. Der Europäische Gerichtshof entschied im Fall des grenzüberschreitenden Buchhandels, dass Verleger oder Importeure einen Verkaufspreis festsetzen dürfen, welcher für den jeweiligen Mitgliedstaat verbindlich ist (vgl. Franzen & Wallenfels & Russ 2006: 76 f.). Dies stellt eine Ausnahme zum europäischen Wettbewerbsrecht dar, welches besagt, dass Preisfestsetzungen zwischen EU-Staaten unzulässig sind. Auch bezüglich der vom Staat erhobenen Steuer werden Bücher in vielen Ländern bevorzugt behandelt und ihnen damit ein besonderer Status als wichtiges Kulturgut zuerkannt. So gilt in Deutschland ein “halbierter Steuersatz” von sieben Prozent auf Bücher - derselbe wie auch für Lebensmittel. In Rumänien beträgt der erst vor einigen Jahren eingeführte Steuersatz für Verlagserzeugnisse derzeit neun Prozent. Bücher sind in Großbritannien seit Aufhebung der Buchpreisbindung von der Mehrwertsteuer befreit. Zur Förderung des Buchmarktes wird auch in Polen derzeit keine Steuer auf Bücher erhoben. Diese Regelung gilt allerdings nur bis 2010 und der Satz wird danach bei voraussichtlich sieben Prozent liegen (vgl. Go biewski & Fro ow 2007: 3). Der reduzierte oder erlassene Mehrwertsteuersatz gilt für gedruckte Bücher. Auf E-Books fällt in allen Ländern der reguläre Steuersatz an und bei Hörbüchern hat die Europäische Kommission im Frühjahr 2009 zwar einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz erlaubt, umgesetzt wurde er zumindest in Deutschland bisher jedoch noch nicht. Auch gilt die Buchpreisbindung nicht für diese Formen der Literatur. 29 Insbesondere für E-Books, die ein Substitut für das gedruckte Buch darstellen, ist derzeit in Deutschland umstritten, ob sie der Buchpreisbindung unterliegen (sollen) oder nicht. Als Einwand gegen die Preisbindung wird ihre Beschränkung auf körperliche Trägermedien angegeben, und dass E-Books durch ihre digitale Form leicht in andere Länder verkauft werden können, wo sie nicht preisgebunden sind (vgl. Franzen & Wallenfels & Russ 2006: 50 f.). Der deutsche Buchmarkt zeigt, dass die Buchpreisbindung keinen Einfluss auf die Ausbreitung von Filialisten hat. Dennoch besteht der Unterschied zu Großbritannien darin, Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 261 dass es noch viele unabhängige Buchhandlungen gibt, die sich zwar die so genannten “1a- Lagen” in Einkaufszentren und -straßen nicht leisten können, jedoch ein lückenloses Vertriebsnetz auch in entlegene Orte gewährleisten. Dass freie Buchpreise nicht zwangsläufig zu einer geringeren Büchervielfalt führen müssen, zeigt sich in der seit Jahren steigenden britischen Titelproduktion (wobei an dieser Stelle keine Aussage über die Qualität der publizierten Bücher erfolgen kann und soll). Dagegen ist die Titelproduktion in Polen seit einigen Jahren rückläufig und in Rumänien wird wohl erst in mittlerer Zukunft eine klare Richtung feststellbar sein. 5.4 Die Funktion der europäischen Buchmessen im Wandel der Zeit Die Bedeutung der Buchmessen hat sich in den vergangenen Jahrhunderten stark gewandelt. Waren sie zunächst ein Ort, an welchem Manuskripte ausgetauscht wurden und dadurch erst im Land verbreitet werden konnten, dienen sie heute in erster Linie dem Lizenzhandel und der Kontaktpflege. Hierfür nutzen die Teilnehmer die Messe als Plattform für ihre nationalen, internationalen und globalen Geschäftsbeziehungen. Zudem haben Buchmessen heute die Funktion eines Seismographen, der die Situation und die Entwicklungstendenzen eines (nationalen) Buchmarktes aufzeigt. Sie bieten dem Literaturbetrieb und seinen Akteuren die Möglichkeit, das erhöhte Medieninteresse am Buch(-markt) zu nutzen, um die Bevölkerung für Literatur und das Lesen zu begeistern. Ihren Ursprung hatten die Buchmessen Ende des Mittelalters mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, in dessen Folge die Buchproduktion rasch anstieg und Distributionswege für die Bücher gesucht wurden. Die erste Buchmesse etablierte sich bereits wenige Jahre nach Gutenbergs Erfindung in Frankfurt am Main, 30 wo sich die Drucker jährlich trafen, um ihre Manuskripte über Händler zu verbreiten. Mit der Ausdifferenzierung des Verlagswesens und der Entstehung neuer Berufsbilder wandelte sich auch die Bedeutung der Messe allmählich von einem Tauschzu einem Kommissionshandel. Die Händler kauften die Bücher auf Kommission und rechneten im Folgejahr mit den Druckern ab. Bereits im 16. Jahrhundert entstanden erste Messekataloge, die einen Überblick auf das Angebot der Neuerscheinungen boten. In dieser Zeit baute die Frankfurter Buchmesse ihre Bedeutung als zentrale Buchmessestadt in Europa aus. Eine Verlagerung von Frankfurt nach Leipzig als wichtigste Messestadt folgte Mitte des 18. Jahrhunderts im Zuge politischer und kultureller Veränderungen. Durch die verbesserten Vertriebsmöglichkeiten infolge der Industrialisierung verloren die Buchmessen im 19. Jahrhundert ihre Funktion für den Warenaustausch und wandelten sich zu reinen Mustermessen, zu welchen kaum mehr die Verleger selbst, sondern lediglich ihre Vertreter anreisten, um Geschäfte abzuwickeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang sowohl der Leipziger als auch der Frankfurter Buchmesse ein Neuanfang, und in den vergangenen Jahrzehnten etablierten sie sich als wichtige jährliche Branchentreffen mit individuellen Schwerpunkten neu. So entwickelte sich bereits 1946 in Leipzig eine jährlich im Frühjahr stattfindende Autoren- und Publikumsmesse, deren Besonderheit heute die Vielzahl an Lesungen darstellt, bei welchen die Autoren in direkten Kontakt mit den Lesern treten und der Literaturvermittlung hiermit eine wichtige Bedeutung zukommt. Während der deutsch-deutschen Teilung fand in Leipzig die Internationale Leipziger Buchmesse zweimal jährlich statt - im Frühjahr und im Herbst (vgl. Taubert 1972: 256). Ebenfalls bildet das Hörbuch seit einigen Jahren einen Themenschwerpunkt der Leipziger Buchmesse. In Frankfurt hingegen treffen sich seit 1949 erneut sämtliche Akteure des Literaturbetriebs im Herbst Annika Cornils 262 und die weltgrößte Buchmesse hat dort insbesondere für den Lizenzhandel eine wichtige Funktion. Die stetig wachsende Messe mit immer neuen Aussteller-Nationen wird vom Börsenverein organisiert und bildet den Rahmen für die jährliche Verleihung von Literaturpreisen. Überhaupt hat es sich etabliert, dass viele Buchmessen auch Literaturpreise verleihen. Die Frankfurter Buchmesse ist stark um den Aufbau und die Pflege internationaler Kontakte bemüht und unterhält dafür Auslandsbüros in Bukarest, Peking, Moskau, New York und Neu Delhi. 31 Diese arbeiten eng mit den nationalen Buchmärkten zusammen. In anderen europäischen Ländern entstanden ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg Buchmessen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Bedeutungen für die Branche - so beispielsweise die Bologna Children’s Book Fair in Italien seit 1963 32 . In Großbritannien wurden zunächst unregelmäßig Buchmessen veranstaltet, u. a. die World Book Fair 1964 in London. Die vergleichsweise junge London Book Fair findet seit 1996 jährlich mit Unterstützung der Booksellers’ Association als internationale Frühjahrs-Buchmesse für Fachbesucher mit dem Schwerpunkt auf Lizenz- und Rechtehandel statt. Die Messe bezeichnet sich selbst als “[…] the global publishing community’s leading spring forum for booksellers, publishers, librarians and book production services worldwide.” 33 Organisiert wird sie von Reed Exhibitions, die auch für weitere Buchmessen wie dem Salon du Livre in Paris tätig sind. Nachdem die London Book Fair vor einigen Jahren vom Zentrum an den Stadtrand gezogen war, beugte sie sich dem Druck der Branche und findet seit 2007 wieder im Earls Court Exhibition Center statt. In Polen existiert seit 1956 die jährlich zunächst in Posen, seit 1958 in Warschau veranstaltete Mi dzynarodowe Targi Ksi ki (Internationale Buchmesse), welche bis zum Ende des Kommunismus vom staatlichen Außenhandelsunternehmen Ars Polona organisiert wurde und deren internationale Kooperationen vorwiegend mit dem sowjetischen Block stattfanden. Dennoch wurde sie als wichtige Buchmesse für eine Brücke zwischen Ost und West (vgl. Taubert 1972: 368). Seit 1990 wird die Internationale Buchmesse vom privatisierten Ars Polona in Zusammenarbeit mit der polnischen Buchkammer jährlich im April weitergeführt und richtet sich - mit wechselnden Partnerländern und steigender Bedeutung in der Branche - vor allem an Verleger, Autoren und Leser aus Mittel- und Osteuropa (vgl. Go biewski & Fro ow 2007: 4). Das jährlich im Juni stattfindende Bookfest in Rumänien stellt die jüngste der hier angeführten Buchmessen dar. Erst seit 2005 wird die vom rumänischen Verlegerverband organisierte Schau in Bukarest veranstaltet und ist eher auf nationaler Ebene bedeutend. Im Gegensatz zu den bereits genannten Buchmessen ist sie auch eine Verkaufmesse, auf welcher die Besucher Bücher zu günstigeren Preisen als in der Buchhandlung erwerben können. 34 Vorgänger des rumänischen Bookfest war die zwischen 1992 und 2004 jährlich stattfindende Buchmesse Bookarest. 5.5 Literaturpreise als Auszeichnung für Autoren und Verleger Der zentrale Aspekt dieses Kapitels ist die kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Relevanz von Literaturpreisen. Dafür wird der Blick zuerst auf ihre Bedeutung für Autoren und Verleger im Allgemeinen gerichtet. Daran anschließend werden einige nationale und internationale Literaturpreise vorgestellt, um einen Eindruck für die Bedeutung ihrer jeweiligen Nation und Kultur zu erhalten. Um einen Vergleich ziehen zu können, wurden Auszeichnungen ausgewählt, die jeweils als die bedeutendsten in Deutschland, Großbritannien, Polen Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 263 und Rumänien gelten und möglichst über ihre Grenzen hinaus bekannt sind, jedoch ohne diese zu bewerten. In ihrer heutigen Form entstanden Literaturpreise Mitte des 19. Jahrhunderts und wurden häufig genutzt, um den kunstpolitischen Interessen ihrer Stifter Ausdruck zu verleihen (vgl. Vandenrath 2005: 236). Großbritannien war 1823 eines der ersten Länder, das Literaten auszeichnete. Initiiert wurde die Auszeichnung von King George IV. und der von ihm gegründeten Royal Society of Literature (vgl. English 2005: 161). Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Literaturpreise eine steigende Bedeutung in der kulturellen Szene und seit den 1980er Jahren einen immer kommerzielleren Charakter, u. a. durch zunehmende Inszenierung der Auszeichnungen für die Medien und ihrer Benennung nach den Hauptsponsoren. Jährlich werden weltweit unzählige Literaturpreise für die unterschiedlichsten Kategorien und literarischen Genres aus öffentlicher Hand oder von privaten Stiftern vergeben. Neben regionalen und nationalen Preisen, existieren auch viele länderübergreifende oder globale Auszeichnungen. Einer der bedeutendsten und bekanntesten ist der Nobelpreis für Literatur, der seit 1901 jährlich einem Autor, meist für sein Gesamtwerk, verliehen wird und zuletzt 2010 an Mario Vargas Llosa ging. Der Preis wird sowohl an berühmte als auch an weniger bekannte Schriftsteller jeder Nation oder Kultur vergeben und ist derzeit mit zehn Millionen schwedischen Kronen (etwa eine Million Euro) dotiert. 35 Kritisiert wird mitunter, dass SchriftstellerInnen den Preis in der Regel erst in fortgeschrittenem Alter erhalten und jüngere kaum eine Chance haben, ausgewählt zu werden. Nicht nur für die Autoren, auch für die Verlage, in denen die Bücher erscheinen, haben Literaturpreise - vor allem die großen und bekannten, die von den Medien beachtet werden - eine wichtige Funktion. Sie sind gut für das Image der Verlage, die sich mit den Auszeichnungen schmücken können. Den jüngeren Autoren verhelfen sie neben einer Finanzspritze zu einem gesteigerten Bekanntheitsgrad durch die erhöhte Berichterstattung in den Medien und damit einhergehend einer verbesserten Platzierung in den Buchhandlungen. Nicht zuletzt dadurch gelingt es den Preisträgern - allerdings nur der bekannten Literaturpreise - seit einigen Jahren immer häufiger, mit ihren prämierten Titeln in den Bestsellerlisten weit nach oben zu steigen (vgl. Escherig 2007: 23). Dabei sollen Literaturpreise weit mehr sein, nämlich “[…] Instrumente der Hierarchisierung von ästhetischer Kultur, Organe kulturpolitischer Steuerung.” (Cramer 1996: 13) Ihre Aufgabe besteht darin, eine Kultur, eine gesellschaftliche Entwicklung zu repräsentieren. Doch nicht selten wird Kritik an den Auswahlkriterien der Preisträger geübt und die fachliche Kompetenz der Juroren in Frage gestellt. Ebenfalls sei teilweise zu beobachten, dass ein Autor, sobald er einen wichtigen Preis erhalten hat, nahezu automatisch auch andere Preise verliehen bekäme und die wirklich guten Autoren das Nachsehen hätten (vgl. Stiller 1971: 68 und Escherig 2007: 24 f.). Die Jury, die zumeist aus Kritikern, Autoren, Literaturwissenschaftlern etc. besteht, sichtet und bewertet die eingesandten Bücher. Bei einigen Literaturpreisen (besonders bei hoher Präsenz in den Medien) gibt es mehrere Auswahlstufen bis zur Preisverleihung. So wird zunächst eine Longlist veröffentlicht und kurze Zeit vor der Preisverleihung eine Shortlist, auf denen die möglichen Preisträger- Titel angeführt werden. Bücher, die es auf die Shortlist gebracht haben, genießen bereits eine erhöhte Medienaufmerksamkeit und nicht selten erhalten sie aus Verkauf fördernden Gründen einen Aufkleber oder eine Banderole mit einem Verweis auf die Platzierung in der Shortlist. Oft können sich die Autoren nicht selbst für einen Preis bewerben, sondern die Verlage senden je nach Literaturpreis eine bestimmte Anzahl von Büchern aus ihrem Programm ein. Annika Cornils 264 Der mit 40.000 Euro dotierte Georg-Büchner-Preis gilt als der wichtigste deutsche Literaturpreis (vgl. Vandenrath 2005: 237). Zum ersten Mal 1923 an Dichter, Künstler, Schauspieler und Sänger verliehen und vom damaligen Volksstaat Hessen gestiftet, wird er seit 1951 von der Akademie für Sprache und Dichtung als reiner Literaturpreis für deutschsprachige Literatur zur Verfügung gestellt. 2010 ging der Preis an den deutschen Schriftsteller Reinhard Jirgl. Einer weiteren Auszeichnung wird schon durch seine Verleihung zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse eine hohe Bedeutung beigemessen: Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gilt seit 1950 als bedeutender deutscher Literaturpreis und wurde 2010 an den israelischen Schriftsteller David Grossman überreicht. Der mit 25.000 Euro dotierte Preis wird auch an nicht deutschsprachige Autoren vergeben und soll nach Auffassung des Börsenvereins (dem Stifter des Friedenspreises) an Schriftsteller gehen, die den Friedensgedanken umsetzen und zu einer besseren Völkerverständigung beitragen (vgl. Philipp & Philipp 2007: 97). Der jüngste hier angeführte, aber schon recht etablierte deutsche Literaturpreis ist der Deutsche Buchpreis, der 2005 ebenfalls vom Börsenverein (mit Unterstützung des Unternehmens Paschen & Companie, der Frankfurter Buchmesse sowie der Stadt Frankfurt am Main) als Pendant zum britischen Man Booker Prize ins Leben gerufen wurde und den besten deutschsprachigen Roman auszeichnet. Auch er wird jährlich auf der Frankfurter Buchmesse verliehen und sein Ziel ist es, “[…] über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch.” 36 Melinda Nadj Abonji erhielt die Auszeichnung 2010 für ihren Roman “Tauben fliegen auf”, der im österreichischen Kleinverlag Jung und Jung erschienen ist. Die sich bewerbenden Verlage müssen Mitglied im Börsenverein, bzw. in den schweizerischen oder österreichischen Pendants sein und sich verpflichten, die auf der Shortlist erscheinenden Bücher aktiv zu bewerben (vgl. Vandenrath 2005: 239). Als Auftakt zur Leipziger Buchmesse wird seit 1994 jährlich der Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen, der u. a. von der Stadt Leipzig gestiftet wird und mit 15.000 Euro dotiert ist. 2010 ging der Preis an den in Budapest geborenen Schriftsteller György Dalos für das 2009 erschienene Buch “Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa.” Einer von etwa 50 Literaturpreisen in Großbritannien ist der Man Booker Prize, der seit 1968 an Schriftsteller vergeben wird, die Bürger des Commonwealth oder der Republik Irland sind und ihr fiktionales Buch im Jahr der Verleihung veröffentlicht haben. Der renommierte französische Prix Goncourt diente ihm als Vorbild. Zudem muss das Buch auf Englisch geschrieben und darf nicht selbst verlegt worden sein. 37 Der mit 50.000 britischen Pfund dotierte prestigeträchtige und bekannteste britische Literaturpreis ging 2010 an den englischen Autor Howard Jacobsen für seinen Roman “The Finkler Question”. Bereits die Listung auf der Shortlist des von Großkonzernen 38 gesponserten Man Booker Prize gilt als Garant für eine Platzierung auf der britischen Bestsellerliste. Auch wird ihm die Funktion zugeschrieben, die britische Literaturszene zum einen wirtschaftlich erfolgreicher und populärer, zum anderen durch die möglichen Preisträger aus fünf Kontinenten multikultureller gemacht zu haben (vgl. Stratmann 2006: 366). Ergänzend wurde 2005 der Man Booker International Prize initiiert, welcher alle zwei Jahre an einen Autor vergeben wird, der entweder auf Englisch publiziert hat oder dessen Werk in englischer Übersetzung existiert. Dabei wird nicht ein einzelnes Buch, sondern das Gesamtwerk des Schriftstellers ausgezeichnet sowie sein Verdienst an der Literatur und sein Einfluss auf Autoren und Leser weltweit. 39 Die kanadische Schriftstellerin Alice Munro erhielt 2009 den mit 60.000 britischen Pfund dotierten Award. Auch in Polen werden jährlich zahlreiche Literaturpreise für verschiedene Genres verliehen (vgl. Go biewski & Fro ow 2007: 8). Schon vor 1989 wurden mehrere Preise von den Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 265 Ministerien oder Zeitungen vergeben. Als bedeutendster gilt heute der mit 100.000 Z otys (etwa 30.000 Euro) dotierte Nagroda Literacka Nike, der seit 1997 an lebende Autoren und meist für belletristische Werke verliehen und von der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza sowie der Beraterfirma Nicom Consulting gestiftet wird. Er wird zudem als Publikumspreis von den Lesern der Gazeta Wyborcza verliehen. Den Gewinnern wird somit eine ausführliche Berichterstattung in der Zeitung gesichert, was wiederum den Verkauf ihrer Bücher fördert. 2010 gewann der Schriftsteller Tadeusz S obodzianek mit seinem Buch “Nasza klasa” den Hauptpreis. 40 Ebenfalls aus Polen stammt der 2006 initiierte und mit 41.000 Euro dotierte mitteleuropäische Literaturpreis Angelus der Stadt Breslau und der Tageszeitung Rzeczpospolita. Er zeichnet das beste Buch des Jahres aus, das in Polen - auch als Übersetzung - erschienen ist und würdigt Autoren, die zeitgenössische Themen behandeln, zum Nachdenken anregen und die Kulturen einander näher bringen. 2008 wurde der Preis zuletzt vergeben und ging an den polnischen Schriftsteller Josef Škvorecký für sein Buch “Przypadki in yniera ludzkich dusz”. 41 In der Sozialistischen Republik Rumänien gab es wie auch in Polen verschiedene Literaturpreise, die regelmäßig für unterschiedliche Genres von den Ministerien verliehen wurden. Der rumänische Schriftstellerverband würdigt auch heute noch Autoren mit seinem Literaturpreis. Das Magazin Romania Literara und der Stiftung Anonimul stiften den mit 10.000 Rumänischen Leu (etwa 2.700 Euro) dotierten Prometheus Award in verschiedenen künstlerischen Kategorien - in der Literatur zum einen als Nachwuchspreis für junge Autoren (Preisträgerin war 2009 Simona Sora), zum anderen für das Gesamtwerk eines Schriftstellers (Ileana Malancioiu erhielt diese Auszeichnung 2009). 42 Alle vier Staaten besitzen eine Vielzahl an Literaturpreisen, die mehr oder weniger bekannt und renommiert sind. Sie haben sich als fester Bestandteil des Literaturbetriebs auf nationaler und teilweise internationaler Ebene etabliert. Auch wenn sich ihre Wirkung nicht immer auf den Verkauf niederschlägt, sind sie für die Autoren und Verlage wichtige Qualitätsprädikate, um nicht nur in den Buchhandlungen besser platziert zu werden, sondern auch, um bei der Verwertung der Nebenrechte oder bei Lizenzverhandlungen mit ausländischen Partnern eine gute Position beziehen zu können. Denn die Übersetzungsrechte eines Buches, das einen Literaturpreis gewonnen hat, lassen sich leichter und gewinnbringender verkaufen. Hierin sieht u. a. James F. English ein Potenzial für die Gewinnertitel: “There can also be opportuities for the literary capital of a prize to produce profits on other, adjacent fields. It is striking that five of the twelve Booker winners from 1982 to 1992 went on to become films, three of them Academy Award winners. […] Apart from their value to the author in film rights, cinematic adaptions tend to give a second life to the novel, boosting its sales beyond those of its original prize-driven success.” (English 2005: 174) Allerdings muss hier eingeräumt werden, dass die Gewinner des Booker-Prizes eine Ausnahme darstellen. Die Werke von Preisträgern anderer (nationaler) Auszeichnungen werden nicht im gleichen Maße verfilmt. Für herausragende Übersetzungen werden ebenfalls Auszeichnungen vergeben, die bislang jedoch wenig öffentliche Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Vandenrath 2005: 238). So fördert der Brücke Berlin Preis Übersetzungen mittel- und osteuropäischer Literatur ins Deutsche. Annika Cornils 266 6 Die aktuelle Situation auf den Buchmärkten in Deutschland, Großbritannien, Polen und Rumänien Aufbauend auf die dargestellten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entstehung der vier nationalen Buchmärkte sowie ihrer politischen und ökonomischen Parameter, wird im Folgenden der Blick auf ihre gegenwärtige Situation gerichtet. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass insbesondere in den vergangenen 25 Jahren eine beschleunigte Weiterentwicklung der Literaturbetriebe feststellbar ist. Um ein Verständnis hierfür zu erhalten, werden in diesem Teil die Funktionen und Arbeitsweisen sowohl des herstellenden 43 als auch des verbreitenden Buchhandels in Deutschland, Großbritannien, Polen und Rumänien betrachtet und aufgezeigt, wo Ähnlichkeiten und/ oder Verschiedenheiten bestehen. Die Buchproduktion war Anfang des neuen Jahrtausends in Großbritannien und Polen deutlich höher als gegenwärtig. In Deutschland ist sie dagegen derzeit auf dem höchsten Stand und in Rumänien wird ohne verlässliche Zahlen ebenfalls von steigender Buchproduktion ausgegangen. Auch mit Blick auf das Verhältnis der Einwohner (der vier Nationen) pro Buch zeigt sich, dass Großbritannien führend ist und dort pro Einwohner die meisten Titel verlegt werden. Rumänien hingegen bildet auch im Verhältnis zu seiner recht geringen Einwohnerzahl das Schlusslicht. Land Deutschland Großbritannien Polen Rumänien Titelproduktion 96.479 115.420 19.860 etwa 8.000 Einwohner 82,5 Mio. 60,2 Mio. 38,2 Mio. 21,6 Mio. Einwohner pro Titel 855 522 1.923 2.700 Produzierte Exemplare 984 Mio. 855 Mio. 133,6 Mio. 14,19 Mio. Exemplare pro Einwohner 11,92 14,2 2,95 0,66 Tab. 1: Verhältnis von Buchproduktion, Exemplaren und Einwohnern 44 (eigene Darstellung) 7 Schlussbetrachtung und Ausblick Die Konzentration und Konsolidierung auf den Buchmärkten seit den 1980er Jahren bestätigt, dass es sich auch bei der Vermarktung und dem Verkauf des Kulturguts Buch um eine Ware wie viele andere Konsumgüter handelt. In Zeiten marktwirtschaftlich agierender Gesellschaften ist es die konsequente Folge, dass auch Bücher über standardisierte und ökonomisierte Produktions- und Vertriebswege zu den Konsumenten und damit zum Leser gebracht werden. Der pathetische Wunsch nach einer Buchwelt mit kleinen, verwinkelten Buchhandlungen, in denen die Bücher bis unter die Decke gestapelt sind, passt kaum in eine Zeit des beschleunigten Konsums und des allgegenwärtigen Profitstrebens. Dass mitunter noch solch heimelig anmutende Buchläden vorhanden sind, zeugt vom großen Idealismus ihrer Inhaber und möglicherweise von einer guten Portion Eigenkapital, so dass der Umsatz nicht der Existenz bestimmende Faktor der Unternehmung ist, sondern eher ein Hobby und die Leidenschaft für Literatur ausgelebt werden. Dennoch ist Idealismus im Buchwesen noch immer vorhanden: Der Großteil der Autoren verdient zu wenig Geld mit seiner Schriftstellertätigkeit, um allein davon zu leben und geht häufig noch einem anderen (Haupt)beruf nach. Lediglich einige wenige (international) erfolgreiche Bestsellerautoren verdienen viel Geld mit der Schriftstellerei. Wenig anders sieht es im Verlagswesen und im verbreitenden Buchhandel Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 267 aus. Hier sind es überwiegend die Verlagskonzerne und Buchhandlungsketten, die durch bestimmte Strukturen und einer guten Marktposition teilweise enorme Gewinne erzielen können. Diesen stehen unabhängige Buchhändler gegenüber, die sich durch ein spezialisiertes Angebot von den Konkurrenten abzugrenzen versuchen und denen womöglich die Liebe zum Buch von größerer Bedeutung ist als endlose Profitsteigerung. Auch kleinere, nicht Konzernen zugehörige Verlage versuchen mit teilweise nicht mainstream-tauglichen Autoren, ihre Botschaften und Ideale durch ein auf ihre Unternehmensphilosophie abgestimmtes Programm zu verwirklichen. Hier zeigt sich, dass das Buch - auch wenn es Massen zugänglich ist und innerhalb einer Marktwirtschaft verbreitet wird - noch eine bedeutende Funktion als Kulturgut hat und nicht ausschließlich als Produkt zur Gewinnmaximierung verstanden wird. “There is no much inter-European book trade, so that book policies hardly distort the single European market. Also, characteristics of book industry, cultural and social features and political preferences of the different countries of Europe differ substantially.” (Canoy & Ours & Ploeg 2006: 758) Damit wird deutlich, dass es nicht einen europäischen Buchmarkt gibt und geben kann, da einem gemeinsamen Markt schon durch die unterschiedlichen Sprachen, die u. a. die Vielfalt Europas kennzeichnen, Grenzen gesetzt sind und diese allein durch Übersetzungen überwunden werden können. Als Ausnahme kann allenfalls englischsprachige Literatur gelten, die in geringer Menge auch in anderen europäischen Staaten als Großbritannien und Irland im Original gelesen wird. Jedoch handelt es sich hierbei insbesondere im Bereich der Belletristik um importierte Bücher aus Großbritannien oder den USA, da fiktive Literatur im jeweiligen Staat in der Regel in der Landessprache produziert wird. Im Vergleich zwischen den Buchmärkten in Ost- und Westeuropa ist erkennbar, dass Polen und Rumänien durch die vier Jahrzehnte des Kommunismus wirtschaftlich und in Bezug auf den Fortschritt auch heute noch hinter dem Westen liegen. Dabei muss jedoch betont werden, dass Polen in allen Bereichen des Buchwesens sehr viel weiter entwickelt ist als Rumänien und in weiten Teilen bereits ähnliche Entwicklungstendenzen aufweist wie Deutschland und Großbritannien. Bezüglich der Buchpolitik und Buchökonomie waren die größten Übereinstimmungen auf den Buchmärkten der vier Staaten feststellbar: Alle besitzen Ständegemeinschaften, haben ähnliche Urheberrechtsgesetze, führen Buchmessen mit (unterschiedlich hoher) internationaler Bedeutung durch und vergeben eine Vielzahl an Literaturpreisen, die zumindest auf Landesebene auf ein Medienecho stoßen und so zur Aufmerksamkeitserregung des Buches als Kultur- und Wirtschaftsgut dienen. Darüber hinaus existieren internationale Buchpreise wie der Literaturnobelpreis, internationale Urheberrechtsvereinbarungen und europäische bzw. internationale Dachorganisationen der nationalen Verlegerverbände, die alle dazu führen, dass sich die Buchmärkte einander annähern und zumindest im normativen Bereich Vereinheitlichungen schaffen. In Bezug auf die Buchpreisbindung zeigt sich dagegen ein ungleiches Bild, welches auf die gesamte EU übertragbar ist: Es bestehen noch keine einheitlichen europäischen Gesetze zur Frage der gebundenen Ladenpreise und somit ist es bisher jedem Land selbst überlassen, eine Regelung zu finden. Es bleibt abzuwarten, wie sich der rumänische Buchmarkt in den kommenden Jahren entwickelt, und ob dort mittelfristig ebenfalls aktuelle Branchenzahlen, Bestsellerlisten und ausgebaute Vertriebswege vorzufinden sind, wie es in Deutschland, Großbritannien und Polen bereits der Fall ist. In diesen drei Ländern wird die Konzentration und Konsolidierung des Buchmarktes aller Voraussicht nach weiter fortschreiten und Konzerne sowie Filialisten das Bild des Marktes immer stärker prägen. Zu hoffen ist, dass die Bedeutung des Buches als Annika Cornils 268 Kulturgut auf diesem Weg nicht verloren geht, und es durch viele Übersetzungen weiterhin einen regen Austausch zwischen den verschiedenen Sprachen geben wird. Mit der vorliegenden Analyse der vier europäischen Buchmärkte trägt dieser Beitrag zum Verständnis der verschiedenen, nationalen Buchmärkte bei, die in dieser Form eines Ost-West-Vergleichs bisher kaum wissenschaftlich erforscht wurden. Literatur Balaban, Delia Cristina 2007: “Wenig lesen, viel fernsehen. Strukturelle Faktoren der Mediennutzung in Rumänien”. In: Münchener Beiträge zur Kommunikationswissenschaft Nr. 8, August 2007. URL: http: / / epub.ub.unimuenchen.de/ archive/ 00002015 [Stand: 21.04.2008]. Benjamin, Walter 2001: Medienästhetische Schriften. 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Annika Cornils 270 Anmerkungen 1 Wenn nicht anders vermerkt, ist mit Verlag stets ein Buchverlag gemeint - andernfalls ist dies explizit erwähnt. 2 Buch wird hier gemäß der Definition der UNESCO verstanden, wonach es sich um nicht periodische gedruckte Veröffentlichungen handelt, die einen Umfang von wenigstens 49 Seiten haben, wobei der Umschlag oder Einband und Vorsatz nicht dazugezählt werden (vgl. Stockem 1988: 7). 3 Im Vordergrund der Analyse stehen die Funktionen von Verlagen und Buchhandel als Hauptakteure auf den Buchmärkten, da sie als feste Größen einen guten Vergleich der vier Staaten zulassen. Die ebenso wichtige Stellung von Autoren und Konsumenten/ Leser wird jeweils im direkten Zusammenhang mit den beiden ersten Faktoren betrachtet, wogegen Druckereien und Institutionen wie Bibliotheken komplett ausgeklammert werden. 4 Siehe hierzu ausführlich Walter Benjamins Aufsatz “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” (1936/ 1939). Benjamin bezieht sich dort zwar auf das Medium Film und nicht auf das Buch, jedoch sind viele seiner Ansätze auch auf Letzteres anwendbar. 5 Frankreich hat das Vereinigte Königreich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Bezug auf die Einwohnerzahlen überholt. In dieser Arbeit wurde dennoch Großbritannien bewusst gewählt, da es zum einen mit seiner Buchproduktion von rund 115.400 Titeln eine Schlüsselfunktion in der gegenwärtigen Entwicklung der europäischen und auch globalen Buchmärkte einnimmt, wie im Verlauf der Arbeit verdeutlicht wird. Zum anderen lag Großbritannien in den 1980er und 90er Jahren - die wegweisend für den strukturellen Wandel in der Branche und die aktuelle Situation auf den Buchmärkten waren - in Bezug auf die Einwohnerzahlen vor Frankreich. So entsteht durch die Differenz von derzeit rund 600.000 Einwohnern keine Verzerrung in der Untersuchung (vgl. Fischer Weltalmanach 2008: 521). 6 Während der Analyse wird die Reihenfolge Deutschland, Großbritannien, Polen, Rumänien stets beibehalten. Dies dient lediglich einer besseren Orientierung und impliziert keine Wertung. Ebenfalls werden Ortsnamen zum leichteren Verständnis in deutscher Schreibweise verwendet. 7 Lange Zeit veröffentlichte die UNESCO Statistiken zur weltweiten Titelproduktion, die zumindest eine Grundlage für quantitative Vergleiche bot. Dieses Zahlenwerk wurde jedoch seit der letzten Erhebung 1996 nicht weitergeführt und bisher wurde keine ähnliche Statistik initiiert. 8 Zu den OECD-Staaten (Organization for Economic Cooperation and Development) gehören: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden, Schweiz, USA. 9 Paperback ist ein Synonym für Taschenbuch: Der Buchumschlag besteht hier aus dünnem Karton oder dickerem Papier und wird am Buchrücken geklebt. Im Gegensatz dazu erhält das Hardcover bzw. das gebundene Buch neben einem festen (gebundenen) Einband häufig noch einen Schutzumschlag. 10 Vgl. Interview mit Ioana Gruenwald von BIZ Bukarest auf der Leipziger Buchmesse am 15.03.2008. 11 Die Krönersche Reform ist nach dem Verleger und damaligen Vorsitzenden des Börsenvereins Gustav Adolf Kröner benannt, der sich für die Buchpreisbindung einsetzte. 12 Vgl. www.booksellers.org.uk [29.10.2010]. 13 Vgl. ebd. 14 www.thebookseller.com/ about [29.10.2010]. 15 Vgl. www.pik.org.pl [29.10.2010]. 16 Unter anderem die in diesem Beitrag verwendeten Quellen von Lukasz Golebiewski. 17 http: / / www.instytutksiazki.pl/ de,ik,site,48,99.php [29.10.2010]. 18 http: / / www.aer.ro/ index.php? &newlang=eng [29.10.2010]. 19 Vgl. Interview mit Ioana Gruenwald von BIZ Bukarest auf der Leipziger Buchmesse am 15.03.2008. 20 Vgl. http: / / www.fep-fee.be/ 1.1.html [29.10.2010]. 21 Vgl. http: / / www.ebf-eu.org/ studies.html [29.10.2010]. 22 Vgl. http: / / www.internationalpublishers.org/ index.php/ home-mainmenu-1/ background. [29.10.2010]. 23 Vgl. http: / / www.ibf-booksellers.org/ newsite/ presentation.asp [29.10.2010]. 24 Vor 2002 waren die Buchpreise in Deutschland bereits gebunden, jedoch in privatrechtlicher Form von Sammelreversen. Diese Sammelverträge stellten gegenseitige Verpflichtungserklärungen zur Preiseinhaltung auf mehreren Stufen dar: Verlag Zwischenbuchhändler Bucheinzelhändler. Für eine ausführliche Darlegung der Entwicklung der Buchpreisbindung und der Aktualisierung des Gesetzes im Jahre 2006 siehe u. a. Franzen & Wallenfels & Russ 2006. 25 U. a. auf den Internet-Seiten www.best-book-price.co.uk und www.bookbrain.co.uk. 26 Vgl. Interview mit Ioana Gruenwald von BIZ Bukarest auf der Leipziger Buchmesse am 15.03.2008. Das Buch als Kultur- und Wirtschaftsgut 271 27 Vgl. www.ebf-eu.org [29.10.2010]. 28 Siehe ausführlich u. a. bei Obert 2000. 29 Vgl. http: / / www.boersenblatt.net/ 312963/ [29.10.2010]. 30 “The Büchermeß (book fair) in Frankfurt is first mentioned in a document in 1462, only seven years after Johannes Gutenberg completed his forty-two-line Latin Bible.” (Weidhaas 1995: 555) 31 Vgl. http: / / www.buchmesse.de/ de/ deutsche_buchbranche/ [29.10.2010]. 32 Vgl. www.bookfair.bolognafiere.it [29.10.2010]. 33 www.londonbookfair.co.uk [29.10.2010]. 34 Vgl. Interview mit Ioana Gruenwald von BIZ Bukarest auf der Leipziger Buchmesse am 15.03.2008. 35 Vgl. http: / / nobelprize.org/ nobel_prizes/ literature/ laureates/ [29.10.2010]. 36 http: / / www.deutscher-buchpreis.de/ de/ 176864 [29.10.2010]. 37 Vgl. http: / / www.themanbookerprize.com/ prize/ about/ rules-and-entry [29.10.2010]. 38 Der Preis wurde nach den Firmen Booker und Man Group benannt. Im Jahr 2000 erwarb die Supermarktkette Iceland den Preis von Booker und holte Man als Sponsor dazu, weshalb der Award auch erst in dem Jahr den Zusatz “Man” im Titel erhielt (vgl. Stratmann 2006: 362). 39 Vgl. http: / / www.themanbookerprize.com/ prize/ about/ mbi-faq [29.10.2010]. 40 Vgl. www.nike.org.pl [29.10.2010]. 41 Vgl. http: / / www.angelus.com.pl/ main.php? fid=140&pg=1&id_lang=2 [29.10.2010]. 42 Vgl. http: / / www.anonimul.ro/ 2009_mp_pc_en [29.10.2010]. 43 Zum herstellenden Buchhandel gehören neben Verlagen auch Druckereien und Buchbindereien, auf die hier jedoch nicht eingegangen wird. 44 Die Zahlen für Deutschland und Großbritannien stammen aus 2007, für Polen aus 2006. Bei den produzierten Exemplaren in Rumänien handelt es sich um Werte aus 2002 bzw. Schätzwerte; mittlerweile dürfte die Gesamtproduktion gestiegen sein, da sich auch die Anzahl der Titel seitdem um etwa 2.000 Titel auf 8.000 erhöht hat. Bei den produzierten Exemplaren für Deutschland und Großbritannien muss beachtet werden, dass ein erheblicher Teil exportiert wird - vor allem ins deutsch-, respektive englischsprachige Ausland. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de In times of political and economic globalisation proficiency in the English language has developed into a key competence. The supremacy of English has also manifested itself in academic communication; research and teaching across all disciplines are becoming more and more anglophone. Consequently, academia and the English language as a medium of academic discourse are faced with new challenges and opportunities. On the one hand, the spread of English entails the risk of Anglo-American dominance in cultural and scientific realms leading to disadvantages for non-native speakers of English. On the other hand, English as a common lingua franca is able to function as a catalyst for international cooperation in research and teaching. The articles in this bilingual (German/ English) anthology focus on discussing the advantages and disadvantages of an increasing anglophony in academia. Claus Gnutzmann (ed.) English in Academia Catalyst or Barrier? 2008, 183 Seiten, €[D] 48,00/ SFr 81,00 ISBN 978-3-8233-6341-5 Zwischen Anpassung und Freiheit - Die Europäische Universität auf dem Weg zur Ökonomisierung Svenja Hehlgans; Leuphana Universität Lüneburg The European University is in a permanent structural evolution under economical conditions since the 19 th century. To show how the development of universities oscillated between the poles of economization and de-economization, the following article starts with a general historical overview of the European universities and the economy since the 19th century. The relationship between the states, universities and the economy as well as the connection between the scientific supply and economical demand will be analyzed to show when and in what form education was exploited (respectively economized) for other functional areas in society. These results are respectively applied as a basis for an adequate evaluation of regulative concepts and developments such as the Bologna Process which currently remodels the European university landscape. 1 Einleitung Ist die Diskussion um die Ökonomisierung der Europäischen Universität tatsächlich eine Frage der Moderne? Welche Bedeutung wird Bildung für Gesellschaft und Ökonomie zugeschrieben und wie definiert sich ihr Verhältnis? Bildet die Europäische Universität ihre Absolventen für den bestehenden Arbeitsmarkt mit seinen Qualifikationsanforderungen aus und passt sich somit der Ökonomie an, oder besteht der ihr ureigene Anspruch weiter, den Studierenden das Denken zu lehren und ihnen die Freiheit zu geben, ihre Fähigkeiten zu entfalten? Die Betrachtung der letzten 200 Jahre zeigt, dass auf diese Art von Sinnfragen zeitlich und an verschiedenen Orten Europas immer wieder neue und unterschiedliche Antworten gefunden wurden. Grundlegende Veränderungen und Reformen von Systemen wie der Europäischen Universität benötigen einen längeren Zeitraum, bis ihre Wirkungen vollumfänglich einschätzbar sind. Aus diesem Grund sollte für eine sinnvolle Beurteilung, Planung und Durchführung von ordnungspolitischen Diskussionen wie dem Bologna-Prozess, welcher die europäische Hochschullandschaft gegenwärtig enorm verändert, ein Blick in die Vergangenheit geworfen werden. Für eine Ausrichtung der Europäischen Universität auf die Wirtschaft, wie sie durch die Reformen angestrebt wird, kann hierzu zunächst die Entwicklung der Ökonomie und ihrer Bedürfnisse mithilfe der Kondratieffzyklen untersucht werden. Nachfolgend wird die Geschichte der Universität anhand von drei unterschiedlichen Modellen beleuchtet, welche sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa manifestierten. Mittels dieser Erkenntnisse werden K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Svenja Hehlgans 274 in Abschnitt 4 die verschiedenen Aspekte der Ökonomisierung der Europäischen Universitäten von 1800 bis heute analysiert sowie kritisch betrachtet. Dieser Beitrag soll also als Orientierung für eine wissenschaftlich und historisch fundierte Beurteilung der Ökonomisierung der Europäischen Universität dienen und aufzeigen, wie sie sich zwischen den Polen der Anpassung an die und der Freiheit von der Ökonomie bewegt hat. 2 Das Modell der Kondratieffzyklen und die Darstellung der Kompetenzformen Die Kondratieffzyklen beschreiben sechs jeweils 45 bis 60 Jahre andauernde sinusförmige Konjunkturwellen (vgl. Nefiodow 1997: 2) seit etwa 1780. 1 Sie beginnen jeweils mit einem Aufschwung, der durch die Implementierung einer Basisinnovation am Markt begründet ist, welche wiederum “aus einer ökonomischen Notwendigkeit […] heraus […]” stattfindet (vgl. Händeler 2007b: 47). Basisinnovationen zeichnen sich v. a. durch enorme Produktivitätssteigerungen aus und erschöpfen sich nach etwa 20 bis 30 Jahren (vgl. ebd.): Die Produktivität stagniert, es kommt zunächst zur Rezession und später zur Depression, wenn sich nicht rechtzeitig eine neue Basisinnovation durchsetzt (vgl. Nefiodow 1997: 15). Nach Kondratieff werden im Verlauf des Abschwungs eines Zyklus viele Entdeckungen und Erfindungen gemacht, welche jedoch erst zu Beginn einer neuen langen Welle Anwendung finden (vgl. Kondratieff 1926: 591). Ein Rückstand in der Beherrschung der je aktuellen Basisinnovationen wirkt sich auf die gesamte Kompetenz und Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft bzw. eines Landes aus (vgl. Nefiodow 1997: 16), womit auch die wechselnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorreiterrollen der verschiedenen Länder erklärt werden können. Menschliche Kompetenz ist die Kraft, die Basisinnovationen möglich macht und trägt. Im Folgenden wird dargestellt, welche Kompetenzen für die Implementierung der Basisinnovationen in den jeweiligen Kondratieffzyklen zentral waren, sind und sein werden. In Abschnitt 4.2 werden durch Universitäten ermöglichte wissenschaftliche Kenntnisse spezifischer mit den für die Kondratieffzyklen benötigten Kompetenzen verglichen. Durch den Übergang von der Agrarin die Industriegesellschaft im ersten Kondratieff entstand die Klasse der Industriearbeiter. Diese waren in der langsam entstehenden Massenproduktion in den Fabriken tätig, wobei die dort anfallenden Arbeiten weitgehend durch Anlerntätigkeiten ausführbar waren (vgl. Hagemeister 2001: 22; vgl. Stiller 2005: 79). Schon ab diesem Zeitpunkt setzt die Arbeitsteilung ein, die den Menschen bis zum Übergang in das Informationszeitalter hinter die Maschine zurücktreten ließ, er arbeitete als “[…] Anhängsel der ihn umgebenden Maschinerie […]” (vgl. Hagemeister 2001: 23). England hatte die Innovationen des ersten Kondratieffs am besten und vollständigsten angewendet, womit seine Vormachtstellung innerhalb Europas erklärbar wird (vgl. Händeler 2007b: 52 f.). Im nachfolgenden Zyklus zog Deutschland v. a. durch die enorme Produktivitätssteigerung im Transport von Waren und Menschen durch die Eisenbahn gleich (vgl. Schumpeter 1961: 358 ff.). Ab dem dritten Kondratieff gab es wieder neue Aufgabenfelder: Der höhere Verwaltungsaufwand, welcher aus der Entstehung von Großfabriken resultierte, erforderte eine ergänzende Gesellschaftsschicht: Die Angestellten. Es bildeten sich langsam komplexere Organisationsstrukturen heraus und die Verantwortung wurde weg von der operativen, hin zur Management-Ebene verlagert. Dies kann als einer der ersten Schritte in Richtung informationsbasiertem Arbeiten gesehen werden. Die Fabrikarbeiter arbeiteten weiter als Teil der Maschinerie, während die Angestellten Informationen und Arbeitsabläufe koordinierten. Zwischen Anpassung und Freiheit 275 Weiterhin kann ab dem dritten Kondratieff eine engere Verzahnung von Ökonomie und wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Forschung und Entwicklung aufgezeigt werden (vgl. Nefiodow 1997: 6), deren Bedeutung sich im Zuge der nachfolgenden Zyklen stetig erhöhte und somit als Entwicklungsmotor betrachtet werden kann. Auch der Charakter des Unternehmertums veränderte sich in dieser Zeit: der neue “halbwissenschaftliche Unternehmertyp” begann die wissenschaftliche Betriebsführung nach Taylor sowie seine eigenen durch Ausbildung erworbenen technischen Kenntnisse für sein Unternehmen zu nutzen (vgl. Schumpeter 1961: 451 ff.). In England wurden die neuen Entwicklungen nicht adäquat umgesetzt, was dazu führte, dass das Land in seiner wirtschaftlichen Bedeutsamkeit vergleichsweise zurücktrat (vgl. ebd.: 411 ff.). Im letzten Zyklus der Industriegesellschaft, dem vierten Kondratieff, entstanden Ideen zu einem gesamteuropäischen Wirtschaftsraum, welcher zwar erst 1957 im Rahmen der EWG verwirklicht wurde, aber auch neue Anforderungen an den arbeitenden Menschen stellte (vgl. Händeler 2007a: 140, 151). Gemeinsam mit der langsam einsetzenden Globalisierung verlangte die Ökonomie dem Menschen zusätzliche Fähigkeiten ab, z. B. im Bereich der Sprachen oder der interkulturellen Zusammenarbeit. Die Durchsetzung der Basisinnovation der individuellen Mobilität durch das Auto sowie die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Wirtschaft gelang wiederum Deutschland am besten, wodurch es seinen wirtschaftlichen Vorsprung vor England und Frankreich weiterhin behielt (vgl. ebd.: 126 ff.). Der Übergang vom vierten zum fünften Kondratieff bedeutete einen grundsätzlichen Wandel in Ökonomie und Gesellschaft: Erst jetzt traten die massiven Umweltprobleme zutage, welche sich durch das bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten energieintensiven Wirtschaften ergeben hatten (vgl. Nefiodow 1997: 9 f.). Der Bericht des Club of Rome (1972) forderte ein Umdenken und warnte vor den Grenzen des bisher direkt proportional an den Energieverbrauch gekoppelten Wirtschaftswachstums (vgl. ebd.; vgl. Händeler 2007a: 145). Für das weitere Wirtschaftswachstum nach dem Ende des auf Energie basierenden Entwicklungsparadigmas wurde zu Beginn des fünften Kondratieffs ein substituierender Faktor gefunden: Die Information (vgl. Nefiodow 1997: 8, 27). Hiermit rückte der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen in den Mittelpunkt des Strukturwandels: Nur durch seine Befähigungen konnten und können Fortschritte in der Produktivität erreicht werden (vgl. ebd.: 13, 128). Das veränderte Entwicklungsparadigma beendete die Ära des leicht austauschbaren Industriearbeiters (vgl. Händeler 2007a: 236) und verlangte wieder mehr Verantwortung auf der operativen Ebene. Problemlösungsstrategien setzten immer mehr Teamarbeit voraus, sowohl unternehmensintern als auch -übergreifend. Insgesamt lässt sich ein Wandel beobachten, der weg von der energieintensiven Massenproduktion und hin zur informationsintensiven Individualproduktion führt (vgl. ebd.: 168). Europa fiel innerhalb des fünften Kondratieffs gegenüber anderen Staaten wie den USA oder China in seiner ökonomischen Stellung zurück, da zum einen ein großes Misstrauen gegenüber der Basisinnovation, dem Computer, herrschte und zum anderen zu sehr in die Trägerbranchen der vorangegangenen Zyklen investiert wurde (vgl. ebd.: 160 ff.). Bereits im fünften Kondratieff hat sich ein Wissens- und Kompetenzwettbewerb herausgebildet, der sich im sechsten Zyklus weiter verschärfen wird (vgl. Stiller 2005: 103). Denn durch die Ausweitung und weitere Differenzierung der Qualifikationen wird der einzelne Spezialist immer wichtiger und zur bedeutendsten Wertschöpfungsquelle der Wirtschaft werden (vgl. Stehr 2004: 46). Dieser rasche Wandel weg von körperlicher, hin zu geistiger Arbeit innerhalb kürzester Zeit hat sowohl Probleme als auch Chancen hervorgebracht. Eine Herausforderung wird in Zukunft die umfassende Gesundheit des Menschen darstellen, die Svenja Hehlgans 276 ihn zu produktiver Informationsarbeit befähigt (vgl. Nefiodow 1997: 118; vgl. Händeler 2007a: 276). Um diese zu gewährleisten, werden - wie in allen anderen Bereichen auch - kooperative und interdisziplinäre Zusammenarbeit von höchster Wichtigkeit sein (vgl. Nefiodow 1997: 127). Der Mensch wird mehr Zeit und Aufwand in seine Bildung (und Weiterbildung) investieren müssen, um mit der Wirtschaft Schritt zu halten. Aber diese längere Phase des Kompetenzaufbaus und der Investition wird sich auch durch die Anwendung in einer - zumindest potentiell - verlängerten Lebensarbeitszeit rentieren (vgl. Händeler 2007a: 316). Der sechste Kondratieff wird vom Menschen Selbstständigkeit, die Übernahme von Verantwortung, das Ausführen strukturierter Arbeiten, aber auch Kreativität, Motivation, Kooperation, Reflexivität und Effizienz erfordern (vgl. ebd.: 366). Es wird zu einer weiteren Spezialisierung des Einzelnen kommen, welche, um eine hohe Produktivität zu gewährleisten, gleichzeitig ein hohes Maß an kognitiven und sozialen Fähigkeiten erfordern wird (vgl. Händeler 2007b: 74). 3 Die Europäische Universität Um Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie sehr sich die Europäische Universität seit 1800 an den Anforderungen der Arbeitswelt orientierte, und v. a. ob und wie sie die Herausforderung des Überganges vom energiebasierten hin zum wissensbasierten Entwicklungsparadigma gemeistert hat, wird zunächst die Geschichte der Europäischen Universität seit 1800 dargestellt. Die Auswahl des Beginns der untersuchten Epoche lässt sich damit begründen, dass im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert grundlegende Umwälzungen im europäischen Universitätssystem stattfanden. Zum einen dezimierte sich die Zahl von 143 Universitäten in Europa im Jahr 1789 durch die Folgen der Französischen Revolution und die Eroberungen Napoleons auf nur noch 83 Universitäten im Jahr 1815 (vgl. Rüegg 2004: 17). Zum anderen waren institutionelle Veränderungen von großer Bedeutung: Auf der einen Seite wurde das bis dahin einheitliche europäische Universitätswesen durch verschiedene Hochschulmodelle abgelöst. Auf der anderen Seite wurden die verschiedenen Lehrfächer verwissenschaftlicht und spezialisiert, was auch aufgrund der einsetzenden Säkularisierung und Bürokratisierung geschah. Die Verweltlichung bewirkte eine Abwendung von der theologischen Deutungshoheit und eine Zuwendung zu einem anthropozentrischen Verständnis der Weltzusammenhänge (vgl. Habermas 2008), was sich darin widerspiegelte, dass die kirchlich geprägten Universitäten im 19. Jahrhundert überall zu weltlichen wurden (vgl. Rüegg 2004: 20). Auch die Wende vom philosophischen zum naturwissenschaftlichen Zeitalter lässt sich vor diesem Hintergrund betrachten (vgl. ebd.: 28 ff.). 3.1 Universitätsmodelle und ihr europäischer Wirkungsgrad Wie bereits angedeutet, entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts neue Universitätsmodelle, die sich in ihrem Aufbau und ihrem Selbstverständnis unterschieden. Hier sollen zunächst das französische und das Humboldtsche Modell dargestellt werden, welche als Vorlagen für die Universitätsentwicklung in anderen europäischen Staaten dienten. In England gab es zwar kein eigenes Modell im engeren Sinn, aber der Weg, der im Universitätssystem dieses Landes beschritten wurde, soll ebenfalls dargestellt werden, da er eine Besonderheit darstellt. Zwischen Anpassung und Freiheit 277 3.1.1 Das Napoleonische Modell Das so genannte Napoleonische Universitätsmodell, das in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts eingeführt wurde, war eigentlich eher ein Fachhochschulmodell. Die Universitäten wurden in Frankreich im Jahr 1793 vollständig abgeschafft (vgl. Weber 2002: 154), da sie mit ihrem scholastischen Lehrbetrieb und mit ihrer antiaufklärerischen Haltung das Ancien Régime unterstützten, welches überwunden werden sollte (vgl. Jäger 2003: 107). Stattdessen wurde 1794 beschlossen, Spezialhochschulen, die so genannten ‘grandes écoles’, zur Ausbildung “staatlicher kontrollierter wissenschaftlicher Berufe” (Rüegg 2004: 18) zu gründen (vgl. Jäger 2003: 107 f.). Diese Hochschulen konnten nur durch einen Leistungswettbewerb, den concours 2 , erreicht werden (vgl. Lundgreen 2007). Die ersten grandes écoles, welche für die Ausbildung der Elite von technischen Staatsbeamten (vom militärischen über den volkswirtschaftlichen bis hin zum Ingenieurberuf) zuständig waren (vgl. Jäger 2003: 108), wurden zum Teil bereits unter dem Ancien Régime gegründet, da der Staat die Universitäten für nicht in der Lage befand, die notwendigen Führungskräfte auszubilden (vgl. Kempf 2007: 406). Die staatliche Kontrolle bei der Ausbildung an den grandes écoles ging bis ins kleinste Detail: Nicht nur Studienplan- und Prüfungsmodalitäten, sondern auch das persönliche Verhalten wurde vorgeschrieben und streng überprüft (vgl. Rüegg 2004: 18). Weiterhin bestand ein Staatsmonopol bei der Verleihung akademischer Grade (vgl. Lundgreen 2007). Diese Reglementierung und das System der Elite-Fachhochschulen sollten dem französischen Staat erstens die Ausgebildeten garantieren, die für die politische und soziale Stabilisierung nach der Revolution nötig waren, zweitens stellten sie eine Überwachungsfunktion dar, mit der die Berufe in Einklang mit den Interessen des Staates gehalten werden sollten und drittens wurde somit die Unterdrückung des freien Geistes intendiert, der dem Staat gefährlich hätte werden können (vgl. Charle 2004: 52; vgl. Jäger 2003: 108 f.). Somit war das Hochschulsystem nicht auf Forschung und Innovation ausgerichtet, sondern auf die Ausbildung der staatlichen “Funktionselite” (ebd.: 113) Frankreichs (vgl. Geremek 2003). Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts fiel den grandes écoles die zusätzliche Rolle der Ausbildung für außerstaatliche akademische Berufe zu. Mit der Gründung dieser Hochschulen und der Existenz ehemaliger Universitätsfakultäten, die nun fachlich selbstständig agierten, wurde die Schaffung eines umfassenden Spezialhochschulnetzes beabsichtigt (vgl. Deutscher Hochschulverband 1989: 23). Die Fakultäten waren allerdings nicht in der Lage, auf demselben Niveau wie die grandes écoles zu arbeiten und verloren deshalb an Renommee und Bedeutung (vgl. ebd.). Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entstand in Frankreich so ein duales System: Während an den Universitäten Rechtswissenschaften, Medizin, Natur- und Geisteswissenschaften gelehrt wurden, waren die grandes écoles für Ingenieurs-, Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaften zuständig (vgl. ebd.). Hervorzuheben ist, dass Paris eindeutig das Zentrum des französischen Hochschulwesens war; Christophe Charle (2004: 53) bezeichnet die Situation außerhalb der Hauptstadt sogar als “wissenschaftliche Wüste”. Das französische Hochschulmodell stellte somit nie die Wissenschaftlichkeit, die Forschung 3 oder die Innovation in den Mittelpunkt, sondern diente als Ausbildungsanstalt für staatliche Zwecke (vgl. Geremek 2003). Durch die starke Spezialisierung entstanden in Frankreich viele Hochschulvarianten (vgl. Charle 2004: 44). Betrachtet man die Auswirkungen des französischen Hochschulmodells auf seine Adaption in anderen europäischen Staaten, so kann ein bereits seit dem 18. Jahrhundert vorhandener Einfluss auf die Systeme in Österreich, Spanien und den italienischen Teilstaaten Svenja Hehlgans 278 beobachtet werden (vgl. Rüegg 2004: 23). In den beiden letztgenannten spielte die Rolle der Staatsverwaltung eine dominierende Rolle (vgl. ebd.: 20). In Bukarest/ Rumänien wurde in Anlehnung an das französische Modell der Verknüpfung der akademischen Laufbahn mit der staatlichen Verwaltung eine zentrale Universität gegründet, die ebenfalls die Ausbildung der intellektuellen und politischen Elite zur Aufgabe hatte (vgl. ebd.: 23). Auch Portugal entschloss sich zu einer “Selbst-Französisierung” (vgl. Weber 2002: 155). 3.1.2 Das Humboldtsche Modell Zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt die Institution Universität in Preußen als Auslaufmodell (vgl. vom Bruch 1999: 258). Um hier Neuerungen durchzuführen, gab König Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1807 den Auftrag, in Berlin eine höhere wissenschaftliche Lehranstalt einzurichten, welche ursprünglich eine Variante des französischen Spezialschulmodells darstellen sollte (vgl. ebd.: 258 ff.; vgl. Rüegg 1994: 156). Dies wurde durch Wilhelm von Humboldt, der 1809 zum Leiter des preußischen Unterrichtswesens ernannt wurde, abgewendet. Humboldt griff stattdessen die Schriften Friedrich Schleiermachers, Friedrich Wilhelm Schellings und Johann Gottlieb Fichtes auf und schuf mit der Berliner Neugründung 1810 das Universitätsmodell, das für viele Länder Europas prägend werden sollte. Diese Entwürfe waren inspiriert durch Vorläufer wie Immanuel Kant, der 1798 mit seinem “Streit der Fakultäten” bereits kritisch herausgestellt hatte, dass bei Einteilung und Hierarchie der klassischen vier Fakultäten die Interessen des Staates wichtiger seien als die Wissenschaft und dass die Hierarchie umgedreht werden müsste (vgl. Kant 1798: 11, 21). 4 Mit diesen Ansichten und den Ideen Schleiermachers, die jener in seinen “Gelegentlichen Gedanken” entwickelt hatte, legte Humboldt (1810) in “Über die innere und äußere Organisation der wissenschaftlichen Anstalten in Berlin” 5 die Grundzüge der neuen Universitätsidee fest. Das Oberziel Humboldts war eine forschungsorientierte Universität, die im Gegensatz zum französischen Spezialschulmodell stehen sollte. Prägnant formuliert Jürgen Mittelstrass den Bezug auf Kant: “Damit wird die Philosophische Fakultät zur institutionellen Mitte und zum eigentlichen Motor der Universität; sie bestimmt im Selbstverständnis der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts das Wesen und die Zukunft der Universität.” (Mittelstrass 1994: 219) Außerdem sollte die Universität im Gegensatz zur Schule Wissenschaft als ein Problem behandeln, dass niemals aufgelöst, sondern immer nur weiter erforscht werden könne. Hierzu seien Freiheit und Einsamkeit nötig, welche erst das wissenschaftliche Arbeiten ermöglichen. Freiheit meint, dass bei Forschung und Lehre weder Inhalte noch Zwecke vorgegeben werden dürften und nur der Wissenschaftler selbst über diese entscheide (vgl. Hügli 2007: 56). 6 Das Einsamkeitskonzept zielte darauf ab, die Forschergemeinschaft an der Universität nach außen abzugrenzen und abzuschließen, was wiederum die Freiheit ermöglichen sollte (vgl. Möller 2001: 46). Die Abgrenzung in Einsamkeit sollte die Studierenden und Forschenden außerdem dazu bewegen, sich vollkommen auf ihre wissenschaftlichen Tätigkeiten zu konzentrieren, wobei die angestrebte Selbstbildung bei den Studierenden durch die Freiheit der Veranstaltungswahl gestärkt werden sollte (vgl. ebd.). Außerdem hielt Humboldt die Gemeinschaft für wichtig, welche indirekt auch die Relevanz des Dialoges hervorhebt, durch den die Wahrheitssuche vorangetrieben werden kann (vgl. Hügli 2007: 57). Eine ebenso wichtige Rolle spielte die Gleichrangigkeit von Lehrendem und Lernendem: Im Gegensatz zum hierarchischen Verhältnis in der Schule sollten an der Universität beide für die Wissenschaft da sein (vgl. ebd.). Zwischen Anpassung und Freiheit 279 Betrachtet man diese Konzeptanteile, so wird ersichtlich, dass alle auf das Bildungsideal Humboldts hinzielen, nämlich auf folgenden zentralen Satz: “Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportioni[e]rlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.” (Humboldt 1792: 106) Bildung zielt in Humboldts Verständnis demnach nicht in erster Linie auf Ausbildung für einen Beruf, sondern hat die umfassende und gleichmäßige Entfaltung der menschlichen Potentiale zur Aufgabe (vgl. Koller 2005: 80). Aber auch zu der von ihm so genannte “äußeren Organisation der Universitäten” formulierte Humboldt (1810) Vorgaben: Die bereits angesprochene Freiheit bezog sich nicht nur auf Forschung und Lehre innerhalb der Universität, sondern auch auf den Einfluss des Staates auf dieselbe. Humboldts Ausführungen zufolge hatte dieser nämlich nur zwei Aufgaben: Zum einen war er zuständig für die Auswahl der Professoren, zum anderen sollte er die Unabhängigkeit der Universitäten sichern (vgl. Rüegg 2004: 19). Somit stand in Deutschland die Gelehrtenbildung an Universitäten im Vordergrund, welche durch die Integration von Forschung und Lehre erreicht werden und als Selbstzweck bestehen sollte. Betrachtet man die Auswirkungen des Humboldtschen Modells auf andere europäische Staaten, so wird deutlich, wie groß der Rahmen wirklich war, in dem sie sich an ihm orientierten. Nicht nur in Italien wurde es nach der Einigung des Landes und v. a. nach dem Deutsch-Französischen Krieg zum Ideal der Bildung an der Universität (vgl. ebd.: 26), sondern auch beim Aufkommen der neuen Nationalstaaten Griechenland und Bulgarien sowie in Belgien spielte das deutsche Modell eine Rolle bei der Ausgestaltung der Hochschulen (vgl. Charle 2004: 51). Auch an den Universitäten Österreich-Ungarns wurden Teile des Modells adaptiert, andere Teile jedoch stark abgewandelt. Durch die hohe Funktionalität der Bildungsanstalt für den Staat wurde auf die Festlegung der Lehre hoher Wert gelegt und außerdem waren die Fakultäten, die für die Ausbildung für einen Beruf zuständig waren, bis zum zweiten Weltkrieg von größerer Bedeutung als die philosophische (vgl. ebd.: 58). In der Schweiz, in Skandinavien sowie in Russland wurde dieses Modell ebenfalls übernommen oder diente als Vorlage, um das englische oder französische Modell zu verändern oder zu ergänzen (vgl. Rüegg 1994: 158). Gründe für die weltweit dominierende Rolle des Humboldtschen Universitätsmodells waren v. a. die “staatlich geförderte selbstverantwortliche Ausrichtung auf wissenschaftliche Erkenntnis und der im Vergleich zu anderen Universitätssystemen bedeutend größere Freiraum” (ebd.: 157 f.). 3.1.3 Der englische Weg In Großbritannien gab es kein neues Universitätsmodell i. e. S., sondern ein Konstrukt aus mittelalterlicher Tradition und Teilreformen (vgl. Charle 2004: 59). Der Zugang zu Universitäten wie Oxford und Cambridge war durch das Erfordernis des anglikanischen Glaubensbekenntnisses sowie die hohen Kosten für ein Studium beschränkt, was die vorwiegend elitäre soziale Herkunft der Studierenden erklärt (vgl. ebd.: 60 u. 67). Das College-System, das sich in Großbritannien seit dem zwölften Jahrhundert herausgebildet hatte, zeichnet sich bis heute durch das Zusammenleben von Dozenten und Studierenden in den Studienhäusern, also den ‘Colleges’, aus (vgl. Ahrens 1998: 535), in denen auch eine Residenzpflicht bestand (vgl. Charle 2004: 60). Bis zur Etablierung der neuen Universitäten setzten Oxford und Svenja Hehlgans 280 Cambridge die akademischen Standards fest und bildeten die englische Elite aus (vgl. ebd.: 67 f.). Allerdings wurde diese Elite nicht im Hinblick auf den Staatsdienst als Oberzweck ausgebildet, sondern auf die Rolle als ‘gentleman’, was v. a. durch die allem anderen übergeordnete literarische sowie humanistische Allgemeinbildung und die pädagogische Betreuung der Studierenden erreicht werden sollte (vgl. ebd.: 68; vgl. Ahrens 1998: 534; vgl. Lundgreen 2007). Dass diese Art von Bildung an den englischen Colleges vorherrschte, lag zum einen daran, dass in England, im Gegensatz zum übrigen Europa, ein geringeres staatliches Interesse an der Beamtenausbildung existierte und zum anderen auch auf andere Berufe (wie den des Juristen oder Mediziners) ausgerichtete Bildung nicht Aufgabe der Universitäten war (vgl. ebd.). 7 Des Weiteren bestand - wiederum im Vergleich zu anderen europäischen Ländern - eine große Unabhängigkeit vom Staat, da das englische System v. a. durch den “[…] Reichtum an Grundbesitz und […] [die] engen Beziehungen zur anglikanischen Kirche” geprägt war (vgl. Charle 2004: 60). Zusätzlich zu den klassischen ‘College-Universitäten’ kam mit den ‘civic universities’, auch ‘brickstone’ bzw. ‘redbrick universities’ oder Backstein-Universitäten genannt, im 19. Jahrhundert ein weiterer Universitätstypus zum britischen Hochschulwesen hinzu. Diese Universitäten entstanden in den großen Industriestädten wie Birmingham, Liverpool oder Manchester (vgl. Ahrens 1998: 535). Im Vergleich zu den Colleges, in denen v. a. durch Tutorien mit wenigen Studierenden gelehrt wurde, spielten in den civic universities Vorlesungen und Seminare eine größere Rolle (vgl. Deutscher Hochschulverband 1989: 45). Laut Michael Sanderson (1988: 103, zit. n. Anderson 2004: 201) waren die civics “a prime expression of the industrial spirit, closely linked with industry, drawing their life-blood finance from it, and pumping back research and students to it”. Dies betont die enge Verbindung zwischen civic university und der Wirtschaft, die auch John Henry (2009) hervorhebt, indem er behauptet, dass diese Art von höherer Bildung genau der speziellen wissenschaftlichen und technischen Ausbildung genüge, die das industrialisierte Land erforderte. 8 Das 1828 gegründete ‘University College’ in London muss als Besonderheit herausgestellt werden, da es die oben genannte Verpflichtung auf das anglikanische Glaubensbekenntnis, welches in Oxford und Cambridge obligatorisch war, als erstes umging (vgl. Charle 2004: 60). Als Reaktion darauf gründeten die Anglikaner 1831 das ‘King’s College’. Diese beiden Institutionen wurden durch eine königliche Charter 1836 zur ‘University of London’ zusammengelegt (vgl. Ahrens 1998: 535), welcher eine wichtige Rolle als Prüfungsinstanz akademischer Grade zukam (vgl. Deutscher Hochschulverband 1989: 45). Insgesamt bleibt aber über das englische Hochschulsystem zu sagen, dass es, ebenso wie in Frankreich, mehr um die moralische und humanistische Bildung ging als darum, die Wissenschaftlichkeit in den Mittelpunkt zu rücken (vgl. Geremek 2003). Die schottischen Universitäten waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Bezug auf Finanzierung, Lehrformen und soziale Herkunft der Studenten mehr mit denen Kontinentaleuropas als mit denen Englands vergleichbar (vgl. Charle 2004: 60). 3.2 Ausdifferenzierung der modernen europäischen Hochschulsysteme Die zweite Phase der hier dargestellten Entwicklung umfasst die Ausdifferenzierung der Hochschulen, die sich im Anschluss an den Beginn der Implementierung der neuen, zuvor beschriebenen Systeme abspielte. Wie bereits angedeutet, beeinflusste das Humboldtsche Universitätsmodell immer mehr auch die Systeme der anderen Länder. So war bis 1880 die Zwischen Anpassung und Freiheit 281 neuhumanistisch-idealistische Bildung weit verbreitet und auch die Notwendigkeit der erhöhten “Produktion” von industriellem Wissen gestiegen (vgl. Weber 2002: 157). Die Universitäten waren zu einer Funktionseinheit des Staates geworden, indem sie neben der Ausbildung von hohen Beamten und kulturellen Eliten nun auch zuständig wurden für die Ausbildung von Lehrpersonal für die mittleren Schulen sowie für viele weitere Berufe (vgl. ebd.). Allerdings wurde der Bedarf an Arbeitskräften für die industrialisierten Länder nicht nur von den Universitäten, sondern auch von Spezialhochschulen gedeckt, welche nach und nach begannen, sich universitäre Rechte zu erstreiten (vgl. ebd.). 9 Damit wurde die Universität für die Wirtschaft instrumentalisiert, was wiederum Änderungen im System erforderte (vgl. ebd.: 157 f.). Somit entstanden neue Anforderungen: Die Studenten sollten möglichst gezielt und möglichst schnell ausgebildet werden. Die bevorzugten Mittel, um dieser Maxime gerecht zu werden, waren Formalisierung und Reglementierung des Studiums. So entstanden allmählich geregelte Studiengänge, welche zu bestimmten Berufen führen sollten, was im Gegensatz zu dem von Humboldt propagierten freien Studium stand (vgl. ebd.: 158). Auch das Angebot von Veranstaltungen musste sich diesem Zweck beugen: Die Professoren konnten nicht mehr auf alleinige Verantwortung Themen festlegen, sondern mussten ihre Veranstaltungen der Erwartung unterordnen, in Politik, Technik und Ökonomie Nützliches bzw. Prestigeträchtiges hervorzubringen (vgl. ebd.). Außerdem wurde die Autonomie der Universitäten in ganz Europa immer weiter durch die Berufungsbefugnisse des Staates sowie durch die wachsende finanzielle Abhängigkeit - v. a. im Bereich der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung sowie beim Ausbau der geisteswissenschaftlichen Bibliotheken - von selbigem untergraben (vgl. Charle 2004: 65). Eine weitere wichtige Entwicklung in dem in diesem Kapitel dargestellten Zeitraum war die steigende Relevanz der Naturwissenschaften. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Frankreich durch seine Spezialschulen führend, was auch schon Humboldt in seiner Zeit in Paris beeindruckte (vgl. Rüegg 2004: 29). Diese Vormachtstellung wurde aber schon seit den 1830ern von Deutschland übernommen (vgl. ebd.). Die deutschen Universitäten genossen ab etwa 1860 höchstes Ansehen im Bereich der Naturwissenschaften und brachten Pionierleistungen hervor, welche auch in der Anzahl der deutschen Nobelpreisträger erkennbar sind (vgl. Kiesewetter 1996: 185). 10 3.2.1 Entwicklung der Universitäten des Napoleonischen Modells Bereits ab 1830 erwies sich das französische Universitätsmodell als unzulänglich und wurde von mehreren Seiten kritisiert. Man versuchte, in den Fakultäten die Forschung nach deutschem Modell zu etablieren, wozu u. a. die Vorlesungen nicht mehr wie zuvor breit angelegt, sondern spezialisiertere Seminare geschaffen wurden (vgl. Charle 2004: 61). Der zweite Kritikpunkt am französischen Modell stellte das mangelnde Gleichgewicht des zentralistisch organisierten Bildungswesens dar. Um einen Ausgleich zu schaffen, wurde die Zahl der Lehrenden zwischen 1865 und 1919 verdreifacht, der Aufwand für die Fakultäten verdreifachte sich zwischen 1875 und 1913 ebenfalls (vgl. ebd.). Die Ausdifferenzierung des Systems spiegelte sich auch in einer Diversifikation der Fächer wider, in deren Verlauf an den Rechtsfakultäten im späten 19. Jahrhundert volkswirtschaftliche, politik- und sozialwissenschaftliche Studien eingeführt wurden, um die Ausbildung für Berufe im öffentlichen Dienst noch zu erweitern (vgl. Ringer 2004: 212). Dabei hatten die unterschiedlichen Fakultäten verschiedene Zugangsvoraussetzungen, was das Einheitsgefühl innerhalb der Universitäten unterband, welches so prägend für Hochschulen deutschen Typs war (vgl. Charle 2004: 62). Svenja Hehlgans 282 Die Verwaltungsreform von 1896 regelte, dass die Fakultäten wieder in Universitäten zusammengefasst wurden und von sich aus Reformen einleiten konnten (vgl. ebd.; vgl. Weber 2002: 162). Somit war zwar auf dem Papier die Dezentralisierung des französischen Universitätssystems beschlossen worden, welche faktisch allerdings langsam geschah, da Paris seine Vormachtstellung behielt und auch zwischen 1876 und 1934/ 35 etwa die Hälfte der in Frankreich eingeschriebenen Studierenden aufnahm (vgl. Charle 2004: 62). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Reform nur eine Teilreform darstellte und die staatliche Aufsicht über das Universitätssystem weiterhin bestand (vgl. ebd.: 62). Als ein weiteres Hindernis für eine erfolgreiche Reform stellten sich die grandes écoles heraus, welche den Zugang zu technischen und administrativen Berufen reglementierten. Zu den älteren ‘écoles normales’ kamen nach 1881 Handelshochschulen, ab 1894 technische Hochschulen und Verwaltungshochschulen hinzu (vgl. ebd.: 62 f.). Insgesamt verlor das Napoleonische Universitätsmodell im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung. Es gab jedoch wichtige Impulse für die Ausgestaltung der von den anderen Modellen vernachlässigten modernen technischen Zweigen selbst in den Ländern, die sich dem Humboldtschen Modell verpflichtet hatten (vgl. ebd.: 77). 3.2.2 Entwicklung der Universitäten des Humboldtschen Modells Wie bereits dargestellt, orientierten sich die Universitäten bereits nach 1840 im gesamten europäischen Raum zunehmend am Humboldtschen Modell (vgl. Weber 2002: 157). 11 Allerdings standen die Prinzipien dieses Modells über die Jahrhundertwende hinaus in zunehmend größerem Widerspruch zu dem ansteigenden Bedarf an technisch geschulten Arbeitskräften für die industrialisierte Gesellschaft. Das Modell zeigte seine Schwächen v. a. in der Integration der modernen technischen Fächer und der mangelnden Professionalisierung der einzelnen Studienrichtungen (vgl. Charle 2004: 63). Auch die Ausrichtung des Studiums veränderte sich um die Jahrhundertwende stark: Zum ersten Mal seit Jahrhunderten gab es im Jahr 1914 mehr Studenten, die an der philosophischen Fakultät eingeschrieben waren als an der juristischen (vgl. ebd.). Dies verdeutlicht, dass moderne Berufe wie die des Technikers, Ingenieurs oder Forschers im Vergleich zu den klassischen des Verwaltungsbeamten und Geistlichen viel stärker nachgefragt waren. Aufgrund ihrer pragmatischeren Einstellung wurden die häufiger auch aus sozial schwächeren Schichten stammenden Studenten dieser Fachgruppen auch als Brotstudenten 12 bezeichnet, da sie auf den Broterwerb aus waren und nicht in erster Linie nach dem Humboldtschen Bildungsideal strebten. Dies führte zu einer ideellen Krise der Universität deutschen Modells: Die praktische Orientierung des Studiums auf der einen Seite, eingefordert von den Studenten neueren Typs, und die Überzeugung der Professoren auf der anderen Seite, einem zweckfreien Bildungsideal verpflichtet zu sein, waren miteinander nicht vereinbar (vgl. ebd.: 64). Die Differenzen wurden auch dadurch verstärkt, dass ein Großteil der neuen Studenten kein humanistisches Gymnasium besucht hatte und demnach mit dieser Art von Bildung kaum in Kontakt gekommen war (vgl. ebd.). Um den Bedürfnissen der Studenten, aber auch der Industriegesellschaft gerecht werden zu können, richteten die Regierungen neue Studiengänge an den bestehenden Instituten ein und intensivierten die Beziehungen zu Forschung und Wirtschaft (vgl. ebd.), was augenscheinlich dem Humboldtschen Ideal widersprach. In den Universitäten erhielt sich zwar die Verbindung von Forschung und Lehre, allerdings wurde das deutsche Modell dem Napoleonischen immer ähnlicher, was verwunderlich erscheint (vgl. ebd.: 66), wenn man sich die Berliner Neugründung als Gegenmodell zum französischen Bildungssystem in Erinnerung ruft. Zwischen Anpassung und Freiheit 283 Eine weitere Episode der deutschen Universitätsgeschichte, die hier nicht unbetrachtet bleiben soll, ist das nach Friedrich Althoff (1839-1908) benannte System. Dieser war von 1882 bis 1907 preußischer Ministerialdirektor und betrieb eine eigene Personalpolitik, die nicht unumstritten 13 , aber insgesamt weitblickend war (vgl. Klinge 2004: 122). Durch seine Berufungen, bei denen er auf höchste Qualität der Professoren achtete, konnte Althoff die liberale Ausrichtung der Reichsuniversität entschieden beeinflussen (vgl. Koch 2008: 159). Durch sein Wirken wurde das Hochschulwesen weiter bürokratisiert und stärker unter staatliche Leitung gestellt (vgl. ebd.). Auch Schwachstellen wurden von ihm aufgedeckt, wie zum einen die mögliche wissenschaftliche Isolierung Deutschlands und zum anderen die fehlende Erlaubnis des Frauen-Studiums. Es gelang ihm, den ersten Schwachpunkt durch einen ständigen Professorenaustausch zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten zu beheben, durch den die Forschung beider Länder ab 1905 profitierte; Auch die Einführung der Zulassung von Frauen zum Studium gelang ihm kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt. Die Gründung der naturwissenschaftlichen Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft konnte nur durch seine Vorarbeit geschehen, die er aus der Erkenntnis heraus entwickelte, dass die Forschung auf diesem Gebiet immer mehr Aufwand und Personal erfordern würde; Diesen steigenden Aufwand für die Grundlagenforschung traute er den Universitäten allein nicht zu (vgl. ebd.: 161 f.). Es lässt sich sagen, dass Althoff sowohl die wissenschaftliche Forschung und Lehre, als auch das Universitätssystem mit seinen Professoren für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt instrumentalisiert hat (vgl. Klinge 2004: 122 f.). Die Betrachtung der Entwicklung der Universitäten in den Ländern, die das Humboldtsche Modell grundsätzlich übernommen hatten, lässt folgende Schlüsse zu: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts orientierte sich auch das Hochschulwesen in Österreich-Ungarn sowie den neu entstandenen Staaten des Balkans am Humboldtschen Universitätsmodell. Im Vordergrund dieser Entwicklungen standen einerseits Modernisierungen und durch Professoren- und Studentenaustausch hervorgerufene enge Beziehungen zu Deutschland und andererseits die Konzentration der akademischen Berufe auf Staatsverwaltung, Rechts- und Gesundheitswesen sowie den geistlichen Bereich. Durch die Erlaubnis, die Lehre in den landeseigenen Sprachen durchzuführen, entfernten sich die Universitäten dieser Regionen jedoch vom deutschen Modell und dem “internationalen Geistesleben” (Charle 2004: 69). In Ungarn zog das Rechtsstudium zunächst die meisten Studenten an, was sich in der Zwischenkriegszeit änderte, in der die naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Studiengänge an Bedeutung gewannen (vgl. ebd.: 69 f.). Auch in Belgien und Holland wurden Teile des Humboldtschen Systems adaptiert, unter anderem die Verbindung von Lehre und Forschung sowie die Lehrform der Seminare. Die belgischen Universitäten zeichneten sich durch ihre Offenheit aus, welche es ermöglichte, dass fähige Studenten in Frankreich, England oder Deutschland studierten und Professoren aus eben jenen Ländern nach Belgien und Holland kamen. In Holland wurden die zwar weiterhin vorbereitenden Fakultäten für Philosophie und Literatur sowie für Mathematik und Physik durch das Recht, Diplome und Doktorate zu verleihen, den anderen Fakultäten gleichgestellt (vgl. ebd.: 70). Im Norden Europas blieb das Humboldtsche Modell ebenfalls nicht ohne Nachahmer. In Oslo diente es bereits 1811 für eine Neugründung und auch bei Modernisierungen in Kopenhagen, Lund, Uppsala und Turku war es von Bedeutung. Die Einwirkungen des Humboldtschen Modells verstärkten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Fächern der Theologie, der Jurisprudenz, den Geisteswissenschaften, aber auch in Chemie und Physik, und spiegelten sich ebenso in der Verfassung von Dissertationen in deutscher Sprache und der Nutzung deutschsprachiger Lehrbücher wider (vgl. ebd.). Ein Svenja Hehlgans 284 Land, das das Humboldtsche Modell problemlos übernommen und an die eigenen Bedürfnisse angepasst hat, stellt die Schweiz dar. Hier gab es aufgrund der Zuordnung der Universitäten zu Hochschulkantonen behördliche Eingriffe und somit politische Einflüsse; Außerdem förderte die geografische Nähe der Hochschulen den Wettbewerb untereinander. Die geringe Größe und die vorher genannten Aspekte ermöglichten eine innovative Auslegung des deutschen Modells. Die Forschung wurde - wie beim deutschen Vorbild - groß geschrieben, was auch an der Ausbreitung der naturwissenschaftlichen Fächer zu erkennen ist (vgl. ebd.: 72 f.). 3.2.3 Entwicklung der Universitäten des englischen Modells Die Phase um das Ende des 19. Jahrhunderts war für die britischen Universitäten eine der wichtigsten, da das Universitätswesen erstmals seit der Entstehung im 13. Jahrhundert grundlegend reformiert wurde (vgl. ebd.: 66). Hierzu gehörten zum einen die Aufhebung des anglikanischen Glaubenbekenntnisses als Eintrittsschranke für die Universitäten Oxford und Cambridge, aber auch eine Ausweitung des Lehrprogramms über den bis zur Jahrhundertmitte herrschenden klassischen und mathematischen Betrieb hinaus (vgl. ebd.). In Oxford und Cambridge wurden v. a. nach 1870 neue Prüfungsfächer eingeführt, welche in Oxford den Prinzipien der klassischen, sprachlichen und philosophischen Bildung treu blieben. Cambridge räumte der Mathematik und den Naturwissenschaften einen größeren Raum ein und auch in London gab es durch eine Ausdehnung in Folge der formalen Zusammenlegung zahlreicher Spezialinstitutionen die Möglichkeit, naturwissenschaftliche, technische und medizinische Spezialfächer zu studieren (vgl. Ringer 2004: 212; vgl. Charle 2004: 67). Außerdem kamen zum Fächerspektrum Recht, Geschichte und Fremdsprachen hinzu, was auch zum deutlichen Steigen der Studentenzahlen beitrug, welche vorher stagniert hatten (vgl. ebd.: 66). Auch im Bereich der Forschung, der vorher eher vernachlässigt wurde, ergaben sich Fortschritte, z. B. durch die Gründung des ‘Cavendish Laboratoriums’ im Jahr 1871, welches später einen Großteil der technischen Elite Englands ausbildete (vgl. ebd.). Allerdings war der Ausbau der in Kapitel 3.1.3 beschriebenen civic universities für die Entwicklung des britischen Hochschulwesens in dieser Epoche von größerer Bedeutung als die Veränderungen in Cambridge und Oxford, da sie “zur Ausbildung der neuen Träger einer industriellen, städtischen Gesellschaft” (ebd.) beitrugen. Eine weitere Neuerung war die Einführung der staatlichen (Mit-)Finanzierung der Universitäten im Jahr 1889, wie sie in vielen europäischen Ländern schon früher üblich, in Großbritannien jedoch bisher durch Vermögenserträge (Oxford und Cambridge) oder private und städtische Stiftungen (Provinzuniversitäten) unnötig gewesen war (vgl. ebd.: 67). Allerdings hatte die Staatshilfe im Vergleich zu Ländern des kontinentalen Europas ein geringeres Ausmaß (vgl. ebd.). Oxford und Cambridge bildeten weiterhin die akademische Elite des Landes aus und bestimmten den akademischen Standard durch ihre Studentenselektion und Reformierung der Lehrpläne, bis sich die anderen Universitäten durchsetzten (vgl. ebd.: 67 f.). Resümierend lässt sich sagen, dass die Universitäten des Inselstaates einige Aspekte des Humboldtschen Modells übernahmen, aber ihre Strukturen nicht grundsätzlich veränderten (vgl. ebd.: 68). In Schottland wurden durch Reformen, die - früher als in England - in den Jahren 1858 und 1889 durchgesetzt wurden, neue Wissenschaftszweige in den Lehrplan eingeführt (vgl. ebd.: 60). Als ein weiterer Unterschied zu den englischen Universitäten kann in dem hier dargestellten Zeitraum die in Schottland inneruniversitäre Kombination humanistischer Zwischen Anpassung und Freiheit 285 Bildung und beruflicher Ausbildung genannt werden, während in Oxford und Cambridge ausschließlich erstere gelehrt wurde (vgl. ebd.). Durch die Einführung von Neuerungen im Jahr 1889 wurden die schottischen Universitäten den englischen immer ähnlicher, was ebenfalls bedeutete, dass auch sie Elemente des Humboldtschen Modells aufnahmen, ohne aber die grundlegenden britischen Systemstrukturen anzutasten (vgl. ebd.: 68). 3.2.4 Entwicklung der Universitäten Südeuropas Wie bereits in den vorherigen Kapiteln dargestellt, wurden die Universitäten Spaniens und Italiens vom französischen und im letzteren Fall auch vom Humboldtschen Modell beeinflusst. Im Verlauf der Epoche zwischen 1860 bis 1920 entwickelten sich ihre Hochschulsysteme weiter. In Italien wurde unter anderem 1859 versucht, die Hochschulen nach französischem Modell zu zentralisieren und die gerade in diesem Land so bedeutende Kirche durch die Abschaffung der Theologiefakultäten auszuschließen (vgl. ebd.: 73 f.). Das Projekt der Zentralisierung konnte sich allerdings nicht vollständig durchsetzen, da die lokalen Interessen an den vergleichsweise zahlreich vorhandenen Universitäten nicht gebrochen werden konnten (vgl. ebd.: 74). Die Lehrstuhlvergabe fand nach dem französischen Modell des concours statt und durch die Zuordnung zum Ministerium des öffentlichen Unterrichts wurde den Universitäten der größte Teil der Selbstverwaltung verwehrt (vgl. ebd.). Ab 1870 nahm die deutsche Wissenschaft zwar immer mehr Einfluss auf Italien, aber die alten Strukturen wurden trotzdem kaum durchbrochen. Dies bedeutete, dass die Universitäten weiterhin vorwiegend für den öffentlichen Dienst und kaum für moderne, auf die Wirtschaft ausgerichtete Felder ausbildeten (vgl. ebd.). Diese Bereiche wurden erst durch private Initiativen erschlossen, wobei unter anderem öffentliche und private Handelshochschulen sowie Ingenieurschulen eine Rolle spielten (vgl. ebd.). Insgesamt sind Einwirkungen aller drei Hauptmodelle auf das italienische Hochschulwesen festzustellen: Vom französischen Modell wurde die zentralistische Staatsleitung, vom Humboldtschen Modell die Orientierung an der Forschung und vom englischen die lokale korporative Organisation übernommen (vgl. ebd.). Betrachtet man die Entwicklung der Universitäten Spaniens, ergibt sich ein ähnliches Bild. Auch hier wurden die alten Strukturen erst ab 1898 durch Reformen mit dem Ziel überwunden, den Rückstand hinter den nordeuropäischen Universitäten aufzuholen (vgl. ebd.: 75). Dieser war eine Folge der Übernahme der auf dem französischen Modell beruhenden Zentralisierung, welche ebenso wie in Frankreich Paris, in Spanien Madrid zur Stellung einer Zentraluniversität verhalf (vgl. ebd.: 46, 75). Ebenfalls überwog die Ausbildung im Bereich des Rechts, welches gemeinsam mit den professionellen Fakultäten die geistes- und naturwissenschaftlichen Fakultäten mit ihren modernen Disziplinen weit an Bedeutung übertraf. Erst ab 1900 wurden neue Fächer in den Geistes- und Naturwissenschaften sowie Sozialwissenschaften im Rahmen der juristischen Fakultäten eingeführt (vgl. ebd.: 75). 3.3 Bildungsexpansion und Universitätstransformation zu einer Einrichtung der Massenausbildung Aufgrund der gesteigerten Selbstreflexion und den Ansprüchen, die an die Institution Universität herangetragen wurden, fanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Reformen statt. Der verlangten Demokratisierung der Universität wurde mit Hochschulgesetzen Rechnung getragen, die die Ersetzung der Professorendurch die Gruppenuniversität zum Inhalt hatten Svenja Hehlgans 286 (vgl. Koch 2008: 238). Dies bedeutete, dass universitäre Entscheidungsbefugnisse von der professoralen auf die demokratische Gremienebene verschoben wurden und allgemein ein größeres Mitbestimmungsrecht der Universitätsmitglieder angestrebt wurde (vgl. ebd.: 238 f.). 14 Die anvisierte höhere Demokratisierung durch die Universität ließ den Wunsch nach der Funktion derselben als Agentur des sozialen Aufstiegs gedeihen (vgl. Papadopoulos 1996: 84 f.): Menschen aus unteren und mittleren Schichten sollte im Rahmen der Chancengleichheit 15 das Studium ermöglicht werden, was wiederum auch die “Erschließung aller Begabungsreserven” (Weber 2002: 164) garantierte, die in der Folge des Sputnik-Schocks als Ziel ausgegeben wurde (vgl. Papadopoulos 1996: 124 ff.). Durch die Öffnung der Hochschulen für alle sozialen Schichten kam es zu einer enormen Ausweitung der universitären Einrichtungen sowie der Studenten- und Absolventenzahlen: Die Bildungsexpansion begann bereits in den 1950er Jahren in den west- und nordeuropäischen Ländern (außer in Spanien und Portugal, wo sie erst etwa 1972 einsetzte) und setzte sich ab den 1960ern breiter fort (vgl. Hartmann 2007: 61 f.). Sie ging einher mit einer rasant anwachsenden Studentenzahl, welche um das Zweibis Dreifache stieg (vgl. ebd.: 63). An der Spitze lagen dabei Italien, Frankreich und die skandinavischen Länder, während die Studierquote 16 in Ländern wie den Niederlanden, Großbritannien sowie Österreich und der Schweiz nur unterdurchschnittlich stieg (vgl. ebd.). Deshalb mussten auch die Hochschulsysteme Europas ihre Kapazitäten verdoppeln oder sogar verdreifachen (vgl. Papadopoulos 1996: 117). Sowohl die Wege als auch das Ausmaß der Bildungsexpansion in den europäischen Ländern unterschieden sich voneinander. In den meisten westeuropäischen Staaten waren alle Universitäten daran beteiligt, während z. B. die Elitehochschulen Frankreichs diesen Schritt nicht mitgingen und die Aufnahmezahl von Studenten seit 1960 bis heute nicht erhöhten sowie ihre soziale Selektivität beibehielten (vgl. Hartmann 2007: 67 ff.). Eine Expansion auf Seiten der Spezialhochschulen fand trotzdem statt, was die Gründung weiterer grandes écoles nach dem Zweiten Weltkrieg verdeutlicht (vgl. Deutscher Hochschulverband 1989: 23). In England und Schottland entstand im Zuge der Bildungsexpansion ein neuer Zweig des Hochschulsystems: Die so genannten ‘new universities’ wurden durch staatliche Initiativen gegründet und orientierten sich an den amerikanischen Campus-Universitäten, wobei sie das gemeinschaftliche Leben sowie das Tutorensystem beibehielten (vgl. Ahrens 1998: 536; vgl. Deutscher Hochschulverband 1989: 45). Inhaltlich umfassten sie meistens Ingenieurwissenschaften und v. a. angewandte Forschung und pflegten Kontakte zur Industrie (vgl. Rüegg 1985: 46). Auch in anderen Ländern kam es zur Ausdifferenzierung des Hochschulwesens. So wurde z. B. in Luxemburg, wo bisher auf eine eigene Universität verzichtet worden war, das ‘Centre Universitaire de Luxembourg’ gegründet (vgl. Deutscher Hochschulverband 1989: 75 f.). Mit der starken Bildungsexpansion gingen allerdings auch Befürchtungen einher: Erstens hielt man es für möglich, dass das Niveau der universitären Lehre nicht gehalten werden könne, da einerseits eine höhere Studentenzahl auch eine heterogenere Vorbildung bedeutete, auf die eingegangen werden musste. Andererseits verschlechterten sich die Betreuungsrelationen zwischen Lehrenden und Studierenden, was auch nicht durch das institutionelle Wachstum aufgefangen werden konnte und ebenfalls negative Folgen für die universitäre Bildungsqualität mit sich zu bringen schien. Die zweite Angst, die sich manifestierte, war die vor dem “akademischen Proletariat”: Man befürchtete in den 70er Jahren, dass nicht ausreichend viele Arbeitsplätze für die zahlreicher werdenden Akademiker zur Verfügung stehen könnten, was sich jedoch ein Jahrzehnt später als unbegründet herausstellen sollte (vgl. Schomburg & Teichler 2006: 3; vgl. Teichler 1990: 11 f.). Zwischen Anpassung und Freiheit 287 Die Bildungsexpansion hält in Europa bis heute an, was den Anforderungen der modernen Wissensgesellschaft entspricht (vgl. Hradil 2008: 107). Die Anzahl der Hochschulabschlüsse wurden seit Beginn der Bildungsexpansion besonders stark in Belgien, Irland, Spanien und Frankreich ausgeweitet; In den Ländern Dänemark, Schweiz, Österreich, Ungarn, Slowakei und Tschechien stagniert die Rate (vgl. OECD 2006: 34 u. 36, zit. n. Hradil 2008: 107). Deutschland ist heute das einzige Land Europas mit einer sinkenden Quote, was durch die um europäischen Vergleich unterdurchschnittliche Finanzierung des Bildungswesens erklärt wird (vgl. Hradil 2008: 107). 3.4 Osteuropäische Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg Als nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Ländern Ostmitteleuropas “volksdemokratische” Regime errichtet und nach 1947 sowjetisiert wurden (vgl. Bachmaier 1996: 3, 8), hatte dies zur Folge, dass die Universitäten “[…] aus der europäischen Tradition herausgerissen [wurden], mit der sie so lange verbunden waren […]” (Beneš 1992: 139). Zuvor kam es in den Jahren zwischen 1945 und 1948 zur “Demokratisierung” der Hochschulen, welche zum einen die Öffnung für breitere Bevölkerungsschichten durch Hochschulexpansion und zum anderen die “Säuberung” von allen Gegnern des Kommunismus (sowohl unter den Hochschullehrern als auch unter den Studierenden) beinhaltete (vgl. Bachmaier 1996: 3 f.). 17 Mit dem Beginn der sozialistischen Phase wurden alle Kontakte zur westlichen Wissenschaft unterbrochen (vgl. ebd.: 4). Das Ziel der Machthaber, unter deren Kontrolle die Hochschulen nun standen, war es, Spezialistenkader für leitende Funktionen in der neuen Gesellschaft auszubilden, die gleichzeitig politisch zuverlässig, d. h. der sozialistischen Ideologie treu waren (vgl. ebd.: 10). Zu diesem Zweck wurde der Marxismus-Leninismus zur einzig zugelassenen Ideologie erhoben und als Pflichtfach für alle Studenten und Hochschullehrer eingeführt (vgl. ebd.: 9). Die Wissenschaft wurde also der Ideologie unterworfen (vgl. Gerbod 2004: 89). Um dies zu gewährleisten, wurde die universitäre Autonomie gebrochen, strenge Überprüfungen durch den Staatssicherheitsdienst eingeführt sowie Einstellungsentscheidungen an das Zentralkomitee übertragen (vgl. Bachmaier 1996: 9). Da in Osteuropa eine Industrialisierung “von oben” stattfinden sollte, legte man in den Hochschulen besonderen Wert auf naturwissenschaftliche, technische und militärisch relevante Fächer, wobei ein hoher Spezialisierungsgrad der Allgemeinbildung übergeordnet wurde (vgl. ebd.). Dies erklärt auch den Vorsprung der osteuropäischen Länder in der Raumfahrt. Durch die Ausgliederung der Forschung aus den Universitäten 18 sowie der eher an Ausbildung orientierten Lehre, welche sich an regionalen oder nationalen Bedürfnissen ausrichtete, kann von einer vollständigen Negation des Humboldtschen Universitätskonzeptes in Osteuropa unter dem Kommunismus gesprochen werden (vgl. ebd.: 8 f.; vgl. Meske 1998: 267). Eine langsame Öffnung des Hochschulwesens Osteuropas nach Westen begann bereits 1956, als durch bilaterale Abkommen zwischen ost- und westeuropäischen Ländern der Wissenschaftleraustausch organisiert wurde. Verstärkt wurde die Vernetzung durch gemeinsame Forschungsprojekte nach 1972 (vgl. Bachmaier 1996: 10 f.). Zwar kam es seit den 60ern in allen Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zu einer teilweisen Verselbstständigung der Hochschulsysteme, v. a. in Polen und Ungarn. Allerdings setzten sich in der Breschnew-Ära (1964-1982) wieder eine erhöhte Kontrolle und Lenkung der Hochschulen sowie Maßnahmen zur Unterstützung der Ideologie - unter anderem mithilfe der Svenja Hehlgans 288 Verstärkung der ideologischen Erziehung und weiteren “Säuberungen” - durch (vgl. ebd.: 10 f., 19). Kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs kam es 1987 unter Gorbatschow zu einem neuen Hochschulgesetz, welches zum Ziel hatte, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu beschleunigen und das Verhältnis zwischen Hochschule und Wirtschaft zu verbessern (vgl. ebd.: 11). Außerdem ermöglichte es eine gewisse Individualisierung, sowohl hinsichtlich neuer Wahlmöglichkeiten im zuvor festen Curriculum, als auch im Unterricht sowie in Form von Selbstverwaltung und Dezentralisierung der Universitäten. Die strengen Aufnahmeprüfungen und die Ausrichtung der Hochschulen auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse blieben jedoch noch bestehen (vgl. ebd.). Resümierend können die Auswirkungen der sowjetischen Zeit auf das osteuropäische Bildungswesen folgendermaßen zusammengefasst werden: Es kam zu einem gravierenden Rückgang der Standards, zur Verschlechterung oder gar zur Abschaffung von Lehre und Forschung, zu sinkender Qualität und Kompetenz der Lehrkräfte, zum völligen Ausbleiben von Innovation sowie nach 1970 zu stagnierenden oder sogar sinkenden Studentenzahlen (vgl. Kallen 1992: 156). Nach dem Ende der sowjetischen Vorherrschaft kam es ab 1989 zur Entpolitisierung des Hochschulwesens sowie zur Wiedererlangung der Autonomie und Freiheit von Forschung und Lehre (vgl. Bachmaier 1996: 23). Das Wiedererlangen der Hochschulautonomie sowie Tendenzen zur Selbstregulierung und Dezentralisierung der Hochschulsysteme müssen jedoch relativiert betrachtet werden, da die direkte Steuerung durch eine indirekte abgelöst wurde, welche sich unter anderem durch Leistungskontrolle, Festsetzung nationaler Prioritäten oder Budgetkürzungen ausdrückte (vgl. ebd.: 24). Durch Diversifizierung und die damit einhergehende Einrichtung von Fachhochschulen sollten das homogene Hochschulsystem aufgelöst und die Studentenzahlen erhöht werden. Die marxistisch-leninistische Ideologie sollte durch die Einführung von Liberalismus und Pluralismus ersetzt werden (vgl. ebd.: 25). Auch die Öffnung nach Westen konnte sich erst nach 1989 durchsetzen. Um die Entpolitisierung weiter voranzutreiben und einen Mentalitätswandel zu erzeugen, welcher nicht durch bloße strukturell-organisatorische Änderungen hervorgerufen werden konnte (vgl. Anweiler 1992: 12), wurden die alten ideologisierten “Gesellschaftswissenschaften” durch die neuen Sozialwissenschaften ersetzt (vgl. Mitter 1992a: 19; vgl. Bachmaier 1996: 39). 19 Auf die Phase der Befreiung des osteuropäischen Hochschulwesens von der Ideologie folgte direkt die Periode der Implementierung von Marktmechanismen: Die Einführung von Studiengebühren versetzte die Studenten in die Rolle als “Konsumenten”, die eine gewisse Leistung von Hochschule und Hochschullehrern als “Produzenten” von Bildung verlangten (vgl. ebd.: 38). Ein weiterer Aspekt des Marktmechanismus ist die Ersetzung des zuvor durch Gleichschaltung geprägten Verhältnisses zwischen Hochschule und Wirtschaft durch eine offene Beziehung, in der Rationalitäts- und Effizienzkriterien die hochschulische Autonomie wiederum einschränkten (vgl. ebd.: 24, 38; vgl. Mitter 1992b: 126). Diese Entwicklung des Hochschulwesens scheint eher dem amerikanischen Modell zuzuordnen zu sein, was auch damit erklärbar ist, dass die staatliche Prägung des mitteleuropäischen Systems in Ländern, die sich erst der Übermacht des Staates im Hochschulwesen entledigt hatten, Misstrauen hervorrief (vgl. Bachmaier 1996: 26, 37). Aber nicht nur die Einführung von Studiengebühren unterwarf das Hochschulwesen Marktmechanismen, sondern auch die Anpassung von Studiengängen, Forschung und Weiterbildung an regionale Bedürfnisse eröffnete eine neue Verschränkung zwischen universitärer Bildung und wirtschaftlichen Interessen (vgl. Beneš 1992: 149). In Polen scheint die Implementierung von ökonomischen Prinzipien am schnellsten und Zwischen Anpassung und Freiheit 289 drastischsten umgesetzt worden zu sein: Man strebt nach einem “Markt für Dienstleistungen im Bildungswesen” (Bachmaier 1996: 30). 3.5 Der Bologna-Prozess Um den Bologna-Prozess im Ganzen begreifbar und analysierbar zu machen, muss zunächst seine Vorgeschichte dargestellt werden. Diese begann mit der 1988 von der Europäischen Rektorenkonferenz verabschiedeten “Magna Charta Universitatum”, welche sich einerseits den Europäischen Traditionen der Universitäten aus dem 19. Jahrhundert verpflichtete (Autonomie, Freiheit von Forschung und Lehre sowie dem Idealbild einer modernen Forschungsuniversität) und andererseits eine verstärkte Mobilität forderte, die durch Anerkennungs- und Äquivalenzregeln gestützt werden sollte (vgl. Schriewer 2006; vgl. Portal der Europäischen Union 1988). Drei Jahre später wurde mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet, welche die Rahmenzuständigkeit der Union auf das allgemeine Bildungswesen ausweitete (vgl. Schriewer 2006). Dieser Vertrag ist insofern von Bedeutung, da er in den Artikeln 126 und 127 eine Harmonisierung von Hochschulgesetzen und -Regelungen in den Mitgliedsstaaten ausdrücklich ausschließt (vgl. Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union 1992; vgl. Reinschke 2008: 10). Die Lissabon-Konvention (“Convention on the Recognition of Qualifications Concerning Higher Education in the European Region”/ Europarat 1997), die 1997 von den europäischen Mitgliedsstaaten der UNESCO sowie von den Mitgliedsstaaten des Europarates unterzeichnet wurde, hatte als Zielvorgabe die wechselseitige Anerkennung von Hochschulqualifikationen (vgl. Walter 2006: 115). Um die hierfür nötige Transparenz zu gewährleisten, wurde im Rahmen der Konvention das “Diploma Supplement” eingeführt, welches als ein erklärender Zeugniszusatz beschrieben werden kann (vgl. Schriewer 2006). Die Sorbonne-Erklärung, welche 1998 von den Bildungsbzw. Hochschulministern von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien unterzeichnet wurde, kann bereits als der Beginn des Bologna-Prozesses angesehen werden (vgl. Walter 2006: 123). Das Ziel der “Sorbonne Joint Declaration on harmonisation of the architecture of the European higher education system” 20 war die Schaffung einer “European area of higher education”, welche die Mobilität von Studierenden, Lehrenden und Forschenden stärken sollte (vgl. ebd.: 124). Um die internationale Anerkennung und Vergleichbarkeit von Abschlüssen gewährleisten zu können, sprachen sich die Minister für ein zweistufiges Studiensystem (“undergraduate” und “graduate”) aus, dessen erste Stufe eine Berufsqualifizierung und dessen zweite die Grundlage für eine wissenschaftliche Qualifikation bilden sollte (vgl. ebd.: 124 f.). Weitere Notwendigkeiten, um das angestrebte Ziel zu erreichen, stellten für die Minister ein europäisches Leistungspunktesystem sowie eine einheitliche europaweite Semesteraufteilung dar (vgl. ebd.: 125). Der Sorbonne-Deklaration schlossen sich in der Folgezeit weitere europäische Staaten an, es wurde ein weiteres gemeinsames Vorgehen im Rahmen einer Konferenz in Bologna beschlossen (vgl. ebd.: 128). Im Jahr 1999 wurde dann die “Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister” von 29 Staaten mit der Absicht unterzeichnet, bis zum Jahr 2010 einen europäischen Hochschulraum zu kreieren und ihm im globalen Wettbewerb eine gute Position zu verschaffen (vgl. Schriewer 2006; vgl. Reinschke 2008: 12). Mittlerweile nehmen 46 Staaten an diesem Prozess teil, der aufbauend auf den zuvor beschriebenen Beschlüssen und Erklärungen die folgenden Zielsetzungen beinhaltet: Svenja Hehlgans 290 • Die Einführung eines koordinierten Systems vergleichbarer und transparenter Abschlüsse, unter anderem aufgrund der Anfügung erläuternder Diploma Supplements; • Die Durchsetzung eines gestuften Studiensystems, dessen erster Zyklus mindestens drei Jahre umfassen und mit einer “arbeitsmarktrelevanten” Qualifizierung abgeschlossen werden soll; • Die Einführung eines dem European Credit Transfer System (ECTS) analogen Leistungspunktesystems; • Die intensive Förderung der Mobilität von Studierenden und Lehrenden; • Die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Qualitätssicherung; • Die Förderung der “europäischen Dimension” auch in inhaltlicher Hinsicht (im Bereich der Hochschul-Curricula etwa oder der Forschungskooperationen) (Schriewer 2006, Hervorh. im Original) Im Rahmen von Folgekonferenzen, die im zweijährigen Turnus stattfanden, wurden Fortschritte evaluiert und Prioritäten für die zukünftigen Etappen gesetzt (vgl. Reinschke 2008: 12). Letztere lagen zunächst besonders auf der Mobilität, danach auf der internationalen Anziehungskraft des europäischen Hochschulsystems und nun rückt immer mehr die Qualitätssicherung in den Vordergrund der Aktivitäten (vgl. Schriewer 2006). Die Qualitätssicherung hat zum Ziel, die Hochschulen an die neue Wissensgesellschaft anzupassen, in der es nötig sein wird, “[…] ein deutlich höheres Maß an Grund- und Spezialwissen […]” zu vermitteln, da sich alle Lebensverhältnisse beim Übergang von der Industriezur Wissensgesellschaft verkompliziert hätten (vgl. Weber 2002: 236). “Wissensinstitutionen, die dieser neuartigen Situation gerecht werden wollen, müssen also möglichst kostengünstig mehr Wissen, das zudem schneller ausgewechselt werden muß, zielgerichteter und effizienter als bisher für unterschiedliche und gegebenenfalls wechselnde Nachfragegruppen erzeugen und an diese vermitteln.” (Ebd.) Um diese Kriterien zu erfüllen, also die Qualität der Hochschulen zu sichern, bedient man sich im Rahmen des Bologna-Prozesses zweier Wege: Erstens sollen die inneruniversitären Strukturen reformiert werden, zweitens die Lehre und Forschung. 4. Aspekte der Ökonomisierung der Europäischen Universität Der Begriff der Ökonomisierung impliziert zunächst nur eine ökonomischere Gestaltung von Prozessen, welche sich durch die Einführung von Maximen der Rationalisierung, Effizienzsteigerung und Leistungsorientierung realisieren lässt (vgl. Dries 2006). Nach Andreas Novy (2007) beruht die Ökonomisierung der Universität auf drei Säulen: Erstens der Wahl von Management als Organisationsform, zweitens der Implementierung des Wettbewerbsgedankens und drittens äußert sie sich darin, dass Bildung zur Ware wird. Die Einführung von Management als Organisationsform drückt sich unter anderem als Klassifizierung einer Universität als Unternehmen aus. Die Implikationen die sich aus dieser Kategorisierung ergeben, sind unter anderem die Übertragung der ökonomischen Rationalität auf die Institution Universität sowie die Anforderung, beschäftigungsfähige Absolventen zu “produzieren”. Bei der zweiten Säule lassen sich - insbesondere verstärkt durch den Bologna-Prozess - drei Zwischen Anpassung und Freiheit 291 Ausprägungen erkennen: Wettbewerb besteht zunächst bei der Finanzierung von Lehre und Forschung, weiterhin tritt er in Form der Konkurrenz verschiedener Bildungsinstitutionen auf und drittens kommt die angestrebte Beschäftigungsfähigkeit von Universitätsabsolventen ebenfalls darin zum Ausdruck, dass sie für den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig gemacht werden sollen. Der dritte Aspekt der Ökonomisierung der Europäischen Universität, das Zur-Ware-Werden von Bildung, wird ebenso analysiert. Sowohl das Verhältnis zwischen Staat, Universität und Ökonomie als auch jenes zwischen universitärem Angebot und wirtschaftlicher Nachfrage nach bestimmten wissenschaftlichen Kenntnissen werden untersucht, um festzustellen, ob, wann und in welcher Form Bildung für Rationalisierung und Effizienzsteigerung anderer Funktionsbereiche der Gesellschaft bereits instrumentalisiert, also ökonomisiert, wurde. 4.1 Zum Verhältnis zwischen Universität, Staat und Ökonomie Seit etwa 1800 wurden die bisher unter dem Einfluss der Kirche stehenden Universitäten zu staatlichen Bildungsinstitutionen. Im Rahmen der Bürokratisierung im 19. Jahrhundert wurden sie deshalb immer mehr von der jeweiligen nationalen Bildungspolitik beeinflusst: Die Regierungen hatten die Entscheidung zu treffen, welche Rolle sie den Universitäten im Staatsbetrieb zuerkannten. In Frankreich wurden Hochschulen als Funktionseinheiten verstanden, welche die (neue) staatliche Macht sichern und stärken sollten. Das Humboldtsche Modell beruhte dagegen von Anfang des 19. Jahrhunderts an auf einer relativen Autonomie vom Staat, welcher ausschließlich für die Sicherstellung des Universitätsbetriebs zuständig war. Beim englischen Universitätsmodell hatte der Staat zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch weniger Einfluss, da den Hochschulen nicht die Aufgabe der Staatsbeamtenausbildung zugeordnet wurde. Die große finanzielle Unabhängigkeit der beiden bedeutendsten englischen Universitäten trug ebenfalls zur geringen staatlichen Lenkung bei, welche sich erst während der Epoche der Ausdifferenzierung erweiterte. Die europäischen Universitäten hatten schon seit Beginn ihres Bestehens die Aufgabe inne, die Ausbildung für bestimmte vorwiegend staatliche Berufe zu übernehmen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kann in allen Ländern Europas eine Zunahme der Berufsgruppen beobachtet werden, für die die Universität die nötige Bildung bereitstellte, auch wenn diese Entwicklung nicht immer gleichförmig und im selben Ausmaß erfolgte. Dies verdeutlicht, dass schon immer eine wechselseitige Beziehung zwischen Arbeitsmarkt und Universität bestand. Das Verhältnis beruhte bis zur Phase der Bildungsexpansion in großen Teilen Europas auf volkswirtschaftlicher Logik. Einerseits wurde von einer Abhängigkeit des wirtschaftlichen Erfolges und mit ihm des gesellschaftlichen Wohlstandes von der Produktion und Reproduktion von Bildung ausgegangen, andererseits erschien Bildung als wichtige Grundlage für die persönliche Entwicklung des Einzelnen (vgl. Hoffmann & Maack-Rheinländer 2001: 9). Dieser beidseitige Vorteil durch Bildung für Wirtschaft und Gesellschaft einerseits und dem Einzelnen andererseits könnte mit ökonomischem Vokabular als Win- Win-Situation bezeichnet werden. In Ländern, die das Napoleonische Modell zur Grundlage ihrer Universitätsgestaltung heranzogen, war die Ökonomisierung der Hochschulen bereits seit dem 19. Jahrhundert stärker vorangeschritten. Die Instrumentalisierung von Forschung und Lehre für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt unter Althoff zu Beginn des 20. Jahrhunderts Svenja Hehlgans 292 deutet außerdem bereits einen Schritt zur Ökonomisierung auch des Humboldtschen Universitätsmodells an, welche sich in Osteuropa ebenfalls seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts manifestierte. Bereits seit den 1950er Jahren veränderte sich das Bild der europäischen Hochschullandschaft. Die Universität “[…] sollte endgültig zum Motor […] der [wirtschaftlichen] Reproduktion und der unablässigen Steigerung des materiellen Wohlstands werden” (Weber 2002: 166). Hierzu wurde die “Produktion” industriell-ökonomisch verwertbaren naturwissenschaftlichen und technischen Wissens sowie wirtschaftswissenschaftlicher Kenntnisse gezielt gefördert (vgl. ebd.). Den bildungspolitisch induzierten Entwicklungen lagen also ökonomische Motive zugrunde, die nun eher der betriebswirtschaftlichen Logik folgten. Dass die Ökonomisierung der europäischen Universitäten zunahm, lässt sich ebenfalls an der steigenden Relevanz der Humankapitaltheorie sowie der Bildungsökonomie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisen (vgl. Pechar 2006: 13). 21 Der Instrumentalisierung der universitären Bildung für den wirtschaftlichen Erfolg - also der Ökonomisierung der Universität - widerfuhr bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kritik. Dies geschah vorwiegend in den Ländern, deren Universitätssysteme auf dem Humboldtschen Modell beruhten, da man ein Zurücktreten des Selbstzweckes von Bildung hinter ihre Instrumentalisierung befürchtete (vgl. ebd.). Die Annahmen der Humankapitaltheorie, der Bildungsökonomie und der jeweils vorherrschenden wirtschaft(swissenschaft)lichen Paradigmen wirkten sich ebenso auf die finanzielle Seite der Bildungspolitik aus. Seit den 1960er Jahren verlagerte sich die Finanzierung der Universitäten immer mehr vom Staat auf die Wirtschaft, wodurch Kosten reduziert sowie die Institution Universität privatisiert und kommerzialisiert werden sollten (vgl. Hoffmann 2001: 25). Bildung und Weiterbildung wird heute die Funktion zugeschrieben, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten (vgl. Hendrich & Niemeyer 2005: 12). Hier lässt sich ein qualitativer Unterschied der Ökonomisierung der Universitäten zwischen den Tendenzen der 1960er und 1970er Jahre im Vergleich zu den aktuellen Entwicklungen ausmachen. In der ersten Phase fiel die Ökonomisierung der Universitäten mit einem Demokratisierungsschub zusammen, welcher allen sozialen Schichten den Zugang zu höherer Bildung ermöglichen sollte. Durch die heutigen Trends zur Deregulierung und Privatisierung zieht sich der Staat mit der Bildungspolitik in seinem Engagement für die Universitäten noch weiter zurück (vgl. Hoffmann 2001: 26 f.). Diese rückläufige Verantwortung des Staates für die Bildung kann sich negativ auf die Chancengleichheit auswirken (vgl. Neuner 2001: 59 f.). Hermann Giesecke (2001: 16), Alfred Hoffmann (2001: 32) und Gerhart Neuner (2001: 59) vertreten die Auffassung, dass eine Ökonomisierung der Universität letztlich soziale und ökonomische Ungleichheit rechtfertigt und somit keine Chancengleichheit mehr gegeben sein kann. Eine weitere Entwicklung, die die Privatisierung von höheren Bildungsinstitutionen mit sich bringt, ist die Wiederherstellung des Zustandes vor den Demokratisierungstendenzen. Es bildet sich wieder eine Situation heraus, in der Eliteinstitutionen Eliten (aus)bilden, wobei diese Eliten nun nicht mehr ständischer oder funktionaler, sondern ökonomischer Art sind (vgl. Hoffmann 2001: 33). Diese Entwicklung ist als sehr problematisch zu betrachten: Walter Rüegg (1994: 154) legt dar, dass die Herausforderungen, welche an die Universitäten, Gesellschaft und Wirtschaft in der modernen Gesellschaft herangetragen werden, nur durch ein Offenbleiben der Hochschulen für Studierende jeglicher Herkunft entsprochen werden könne. Das einzige Zulassungskriterium dürfe seiner Ansicht nach die jeweilige intellektuelle Leistungsfähigkeit sein. In Zukunft ist eine weiter steigende Relevanz der universitären Bildung für die wissensbasierte Ökonomie zu erwarten (vgl. Pechar 2006: 13). Diese Annahme und die Zielsetzungen des Bologna-Prozesses lassen eine weitere Ökonomisierung der Zwischen Anpassung und Freiheit 293 europäischen Universitäten erwarten. Es lässt sich also folgender Bogen spannen: Die Universität stand bis etwa 1900 unter dem Einfluss der Kirche und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts unter der Beeinflussung des Staates. Seit der Bildungsexpansion verringerte sich der Anteil der staatlichen Mitgestaltung der Universitäten zugunsten der zunehmenden Einwirkung der Wirtschaft, welche sich bis heute ständig ausweitete. Mit dieser Ökonomisierung der europäischen Universitäten veränderte sich auch die Rolle der Universitäten: Von Bildungswurden sie zu reinen Ausbildungsinstitutionen, welche die für das Wirtschaftswachstum notwendigen Arbeitskräfte “produzieren” sollten. 4.2 Zum Verhältnis zwischen angebotenen und nachgefragten wissenschaftlichen Kenntnissen Betrachtet man die Entwicklung der auf dem Arbeitsmarkt erforderlichen Kompetenzen und die an den europäischen Hochschulen angebotenen Kenntnisse im Rahmen ausgewählter für die jeweiligen Kondratieffzyklen bedeutsamer Fächer, so lassen sich diese Schlussfolgerungen ziehen: Im ersten Kondratieff gab es hauptsächlich Bedarf an solchen Arbeitskräften, welche durch Anlernen unselbstständige Tätigkeiten ausführten, die keine höhere Bildung voraussetzten. Einige wenige Personen mussten dagegen technische und naturwissenschaftliche Kenntnisse besitzen, um die Dampfmaschinen - die Basisinnovation des ersten Kondratieff - zu bauen und zu warten. Dass der Bedarf an diesen Kenntnissen relativ gering war, lässt sich auch daran zeigen, dass technische Bildung in der Zeit des ersten Kondratieffs in Europa nicht an Universitäten gelehrt wurde. Allerdings muss konstatiert werden, dass das an fast allen europäischen Institutionen der technischen Bildung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angebotene Lehrgebiet Bergbau indirekt - durch die Bereitstellung der für die Dampfmaschinen nötigen Energie - auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet war. Im zweiten Kondratieff gab es Arbeitskräftebedarf v. a. in den Sektoren des Eisenbahn- Streckenbaus, der Bauindustrie, den stahlverarbeitenden Industrien sowie in zunehmendem Maße im Rahmen der Fabrikarbeit. Auch für diese Tätigkeiten waren nur wenige wissenschaftliche Kenntnisse notwendig. Die für die wirtschaftlichen Bedürfnisse notwendige Kenntnisvermittlung realisierte sich statt an Universitäten meist in Form einer Lehre oder in der reinen Praxis. Die Ausbildungsinhalte beschäftigten sich jeweils mit sehr aktuellen Problemen. Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich dies an der Vermittlung spezifischer Grundlagen für Maschinen und für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Beschäftigung mit der angewandten Mechanik belegen. In England gab es eine Tradition der Techniker-Ausbildung (vgl. Lundgreen 1973: 146), welche unter den Fabrikanten sehr geschätzt wurde (vgl. Guagnini 2004: 497). Deshalb lässt sich der Vorsprung dieses Landes in den ersten beiden Kondratieffs leicht erklären. Gelegentliche Kontakte zwischen Wissenschaftlern und industrieller Technik lassen sich dennoch konstatieren. Diese fanden im Rahmen von Auftragsarbeiten statt und hatten meist die Entwicklung “[…] zuverlässige[r] experimentelle[r] Methoden zur Lösung technischer Probleme wie der Wirksamkeit und Sicherheit von Dampf- und anderen Maschinen, der Festigkeit und Elastizität von Werkstoffen und der Klassifizierung kinematischer Prozesse […]” (ebd.: 496) zum Inhalt. Diese Form der Auftragsforschung wurde in Frankreich am stärksten praktiziert (vgl. ebd.). Es kann also festgestellt werden, dass universitäre Bildung im technischen Bereich Svenja Hehlgans 294 im frühen Stadium der Industrialisierung in Europa kaum eine Rolle spielte (vgl. Lundgreen 1973: 133; vgl. Guagnini 2004: 496). Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch immer deutlicher wurde, dass die in der Ausbildung vermittelte technische Bildung ein zu geringes wissenschaftliches Niveau besaß und man die Relevanz wissenschaftlich fundierter Kenntnisse für den Industrialisierungsprozess erkannte 22 , wurden in ganz Europa die Institutionen technischer Bildung - v. a. auf höherem Niveau - ausgebaut. Außerdem achtete man darauf, dass die technische Bildung auf eine wissenschaftlichere Grundlage gestellt wurde. Deutschland nahm bei diesem Ausbau eine Vorbildposition ein. Bemerkenswert ist, dass diese Verwissenschaftlichung der Technik mit der Industrialisierung des Landes einherging. Später herrschte sogar die Überzeugung, dass der industrielle Aufschwung Deutschlands nur auf Grundlage der Wissenschaft gedeihen konnte (vgl. Manegold 1989: 231). Auch den relativen Abstieg der englischen Industrie gegen Ende des zweiten Kondratieffs kann man mit der Art der angebotenen technischen Bildung in Verbindung bringen. Es gab zwar bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts universitäre Lehrveranstaltungen, diese wurden aber erst ab etwa 1890 verstärkt nachgefragt. Hieraus resultierte ein Mangel an wissenschaftlich ausgebildeten Technikern gegenüber anderen europäischen Ländern. An dieser Stelle lässt sich - ebenso wie bei den Schwierigkeiten bei der Einführung und Etablierung neuer Basisinnovationen - ein Festhalten am Bewährten, nämlich der englischen Ausbildungstradition, als Grund des Rückstandes verzeichnen. Vergleicht man das nun gestiegene Interesse an universitärer technischer Bildung mit den Kondratieffzyklen, so lässt sich folgendes Bild zeichnen: Während des Überganges vom zweiten zum dritten Kondratieff, also während einer wirtschaftlichen Engpassphase, gab es in der technikwissenschaftlichen Entwicklung eine Hochphase. Die theoretischen Fortschritte konzentrierten sich v. a. auf die Bereiche der Elektro- und der frühen Informationstechnik, welche in der Praxis erst im dritten Kondratieff relevant wurden. Weiterhin wurde im Rahmen des etwa ab 1880 entstehenden Laborunterrichtes danach gestrebt, bereits bekannte Prozesse zu verbessern. Man kann also davon ausgehen, dass die wissenschaftliche Entwicklung die wirtschaftliche in diesem Zeitraum unterstützte. Eine engere Wechselwirkung zwischen universitär vermittelter Theorie und praktischer Umsetzung in der Industrie bestätigen auch Anna Guagnini (2004: 504 f.), Nefiodow (1997: 6) sowie Händeler (2007a: 87). Die Elektroindustrie profitierte stark von den Technikkenntnissen der Absolventen der Technischen Hochschulen. Diese wiederum griffen Erkenntnisse sowie Fragestellungen aus der Praxis auf und optimierten auf diese Weise die Lehre und Forschung. Dass die nun für die weitere industrielle Entwicklung notwendig gewordenen theoretischen Grundlagen vorhanden waren, war auch die Folge der offiziellen Gleichstellung der Technischen Hochschulen mit den Universitäten, welche sich in ganz Europa bis Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen hatte. Auch die Forschung konnte ab diesem Zeitpunkt zum Wachsen der Produktivität beitragen. Auch im Bereich der Wirtschaftswissenschaften bzw. der Betriebsführung mit Technik arbeitender Betriebe wurde die Verbindung zwischen Universität und Ökonomie ab dem dritten Kondratieff enger. Die Anzahl der Angestellten im Führungsbereich mit Hochschulabschluss stieg und führte zu einem besseren gegenseitigen Verständnis der Mitarbeiter eines Unternehmens. Diese verbesserte Kommunikation trug zu Zuwächsen der Produktivitätsraten und somit zum Kondratieffaufschwung bei. Das bessere Verständnis zwischen operativer und Managementebene war umso wichtiger, da die Größe der Betriebe (v. a. der Fabriken) bereits im zweiten Kondratieff immer weiter zunahm. Eine Folge dieser Vergrößerung war der Zwischen Anpassung und Freiheit 295 Bedarf an Verwaltungs- und Führungspersonal mit wirtschaftswissenschaftlichen Fachkenntnissen. An den Universitäten und Handelsschulen hatte sich im Rahmen der neoklassisch geprägten Wirtschaftswissenschaften bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf das Effizienzbzw. Maximierungsproblem gerichtet. Derartige Kenntnisse konnten der Wirtschaft nun Nutzen bringen. Parallel mit dem steigenden Arbeitskräftebedarf mit wirtschaftswissenschaftlicher Bildung hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zahl der Lehrstühle an den Universitäten in Europa erhöht. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fand die wirtschaftswissenschaftliche Bildung allerdings weiterhin meist an Handels(hoch)schulen statt. Als jedoch um die Jahrhundertwende in der Praxis immer mehr Bedarf an wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Kenntnissen entstand, wurde die Kenntnisvermittlung zunehmend akademisiert. Auch Peter Lundgreen (1988: 119) legt dar, dass erst die Entstehung der Betriebswirtschaft als eigenständige Wissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts wissenschaftliche ökonomische Kenntnisse in großem Rahmen in die Praxis einfließen zu lassen vermochte. Es fällt auf, dass die Entwicklungen der Professionalisierung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Betriebsführung in die Übergangsphase zwischen dem zweiten und dem dritten Kondratieff fielen. Diese Feststellung legt nahe, dass die wissenschaftlichen Entwicklungen zum wirtschaftlichen Aufstieg beitrugen. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts - also im Übergang vom dritten zum vierten Kondratieff - kam es zu einer stärkeren Systematisierung, zu einer Erhöhung des Niveaus der wissenschaftlich vermittelten Kenntnisse sowie zur Ausweitung der Bildungsinstitutionen auf Universitätsebene. Seit dem fünften Kondratieff wurde der Mensch selbst immer mehr zur Produktivitätsquelle. Die Wirtschaftswissenschaften nahmen ihn bereits in den 1950er Jahren in den Blick: Personalpolitik und die Beschäftigung mit den Bedingungen am Arbeitsplatz wurden zu Themen der Wirtschaftswissenschaften, da man sich davon Produktivitätszuwächse erhoffte. Der vierte Kondratieff wurde besonders durch die komplexer werdende Massenproduktion, v. a. des Autos als Basisinnovation, geprägt. Diese Komplexität erforderte vertiefte Betriebsführungskenntnisse. Deshalb ist die Implementierung von Management- und Marketingdenken in die Vermittlung von wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen an den Universitäten ab den 1950er Jahren ebenfalls für den Aufschwung des Kondratieffs mit verantwortlich zu machen. Beim Übergang vom vierten zum fünften Kondratieff lässt sich ein grundlegender Wandel feststellen, welcher sich durch den Übergang vom rohstoffzum wissensbasierten Entwicklungsparadigma ausdrückte. Hierdurch wurden zwei wichtige neue Felder sowohl im ökonomischen als auch im wissenschaftlichen Bereich erschlossen: Einerseits erhöhte sich die Relevanz des effizienten Umgangs mit Informationen, andererseits wurden die durch die Industrialisierung verursachten Umweltprobleme offenbar, deren Lösung für Wirtschaft und Gesellschaft immer wichtiger zu werden begannen. Außerdem wurde seit Ende des 20. Jahrhunderts das Voranschreiten wissenschaftlicher Kenntnisse von der Wirtschaft explizit genutzt und gefordert. Es kann also von einer auf die Wirtschaft ausgerichteten wissenschaftlichen Entwicklung ausgegangen werden. Im Bereich der Informationstechnik war es die Wissenschaft, die die Grundlage für den erst später einsetzenden Kondratieffzyklus legte. Allerdings ist anzunehmen, dass die Entwicklung ohne das wirtschaftliche Interesse (ausgelöst v. a. durch den Sputnik-Schock) und die damit zusammenhängende Förderung dieses Wissenschaftsbereiches nicht so schnell hätte ablaufen können. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Umweltthemen begann zwar schon Ende des 18. Jahrhunderts, entwickelte sich aber erst durch die gesellschaftliche Relevanz, die sie unter anderem durch den Bericht des Club of Rome erhielt, zu einer ökono- Svenja Hehlgans 296 misch bedeutenden Disziplin. Aber nicht nur das aufkommende gesellschaftliche Interesse an der Lösung von ökologischen Problemen förderte die Umweltwissenschaften, sondern auch die durch neue Techniken ermöglichten besseren Beobachtungs-, Dokumentations- und Informationsperspektiven. Somit kann das Zusammenwirken von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft als Grundlage der modernen Umweltwissenschaften angesehen werden. Die notwendigen ganzheitlichen Problemlösungsstrategien erst zu Beginn der 1980er Jahre auf Grundlage der Integration des sozialwissenschaftlichen Fächerkreises in die umweltwissenschaftlichen Betrachtungen möglich. Dies unterstreicht, dass die von der Gesellschaft geforderten Handlungsstrategien nur auf der Grundlage der wissenschaftlichen Interdisziplinarität entwickelt werden konnten. Der relativ schnelle Ausbau der umweltwissenschaftlichen Bildungsangebote in den 1980er Jahren kann als Reaktion auf die höhere Relevanz von Umweltfragen für Wirtschaft und Gesellschaft eingestuft werden. Seit den 1990er Jahren wird dieses Fachgebiet der Universität von Politik und Gesellschaft in die Pflicht genommen, es soll dem Leitgedanken der nachhaltigen Entwicklung zuträgliche Handlungskonzeptionen entwickeln. Ähnliches kann für sein Verhältnis zur Wirtschaft konstatiert werden: Da der politische und v. a. der gesellschaftliche Druck auf Unternehmen immer größer wird, ihr Wirken umweltgerecht zu gestalten (vgl. O’Riordan 1996: 17 f.), profitieren sie ebenso von den wissenschaftlich fundierten Umweltwissenschaften. Die Gesundheit, welche als eine der Zukunftsbranchen mit den höchsten zu erwartenden Produktivitätsraten für den sechsten Kondratieff eingeschätzt wird, war schon seit dem 18. Jahrhundert ein häufig betrachtetes Thema. Zu dieser Zeit war die Gesundheit der Bevölkerung ein Mittel zur Machtsicherung des Staates. Dies kann bereits als Indienstnahme der Vorläufer der Gesundheitswissenschaften betrachtet werden. Der Auslöser der Entwicklung, die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Verwissenschaftlichung der Beschäftigung mit Gesundheitsproblemen führte, war v. a. der durch Epidemien induzierte Bedarf an einem wissenschaftlichen Behandlungs- und Analysefundament. Schon früh wurde erkannt, dass diese Instrumente nur mit interdisziplinärem Charakter ganzheitliche Problemlösungen bieten können, weshalb die Zusammenarbeit verschiedener gesundheitsbezogener Fächer an den Universitäten unterstützt wurde. Die Gesundheitswissenschaften wurden jedoch nicht nur zu gesellschaftlichem Nutzen eingesetzt, sondern dienten den Nationalsozialisten als Argumentationsgrundlage für ihre Gewaltverbrechen. Folgen der Industrialisierung zeigten sich in der Gesundheit der Menschen im Vergleich zur Umweltproblematik bereits früher: Im Übergang vom dritten zum vierten Kondratieff waren chronisch-degenerative Krankheiten zum größten gesundheitlichen Problem geworden. Je nach dem, ob die Gesellschaft den Gesundheitswissenschaften im Zeitverlauf eine hohe oder niedrige Relevanz zuschrieb, wirkte sich dies auf ihre finanzielle Unterstützung aus staatlichen Mitteln aus. Nach einer Phase geringer Zuwendungen wurden die öffentlichen Zuschüsse erst gemeinsam mit dem häufigeren Auftreten psychischer Krankheiten in den 1980er Jahren wieder erhöht. Besonders seit den 90er Jahren wurden gesundheitswissenschaftliche Angebote an Hochschulen ausgebaut und modernisiert. Hier erfolgte also ein gemeinsamer Aufschwung auf wirtschaftlicher wie auch auf wissenschaftlicher Seite. Allerdings geschah dies zu Beginn des fünften Kondratieffs, als Gesundheit noch nicht für eine der größten Produktivitätsreserven gehalten wurde. Möglichkeiten zur Weiterbildung und dem lebenslangen Lernen, welchen in der Wissensgesellschaft zunehmende Bedeutung erwachsen wird, sind bereits an vielen europäischen Universitäten vorhanden und werden kontinuierlich ausgebaut (vgl. Hanft & Knust 2007: 8). Es lässt sich also feststellen, dass (fast) all diejenigen Wissenschaftszweige, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt ökonomisch wichtig wurden, d. h. zur Produktivität der Kon- Zwischen Anpassung und Freiheit 297 Abb. 1: Relatives 23 Angebot an akademisch gebildeten Arbeitskräften in Relation zu den Kondratieffzyklen (Eigene Darstellung unter Verwendung der von Fritz Ringer (2004: 199 ff.) sowie von Joachim Mohr (2000) aufgeführten Daten) dratieffzyklen beitrugen, bereits zuvor Bestandteil der universitären Lehre und Forschung waren. Die einzige Ausnahme bilden die Technikwissenschaften, welche erst Ende des 19. Jahrhunderts akademisiert wurden, also im Übergang vom zweiten zum dritten Kondratieff. Allerdings zog das jeweilige Angebot - entweder weil es in zu geringem Ausmaß vorhanden war, oder weil zu geringes Interesse bestand - nicht rechtzeitig ausreichend Studierende an, weshalb wissenschaftliche Erkenntnisse nur in geringem Ausmaß zum wirtschaftlichen Aufschwung beitragen konnten. Erst in der jeweiligen Phase des Kondratieffabschwungs, welcher durch inkrementelle Weiterentwicklungen gekennzeichnet ist, diversifizierten sich die jeweiligen Fächer, so dass ihre Absolventen zu den Verbesserungen der Basisinnovationen beitragen konnten. Dies kommt einer Verspätung der ökonomisch nutzbaren Wissenschaften im Vergleich zu ihrem ökonomischen Bedarf gleich. In Abbildung 1 wird schematisch [sic! ] dargestellt, wie sich das relative Angebot an Universitätsabsolventen in Relation zu den Kondratieffzyklen entwickelt hat. Die Abbildung 1 umfasst die Arbeitslosigkeit aller Akademiker, nicht nur derjenigen, welche die für den jeweiligen Kondratieffzyklus notwendigen Kenntnisse erwarben. Die Betrachtung der einzelnen Wissenschaftszweige mit ihren jeweiligen Arbeitslosenraten kann jedoch im Rahmen dieses Beitrags nicht ausgeführt werden. An dieser Stelle soll als allgemeine Trendanalyse aufgezeigt und dargestellt werden, dass die universitäre Kenntnisvermittlung den wirtschaftlichen Bedürfnissen nicht vorausgeht, sondern eher als Reaktion auf die ökonomischen Ansprüche anzusehen ist. Diese These unterstützt Ringer (2004: 200 f.), welcher darlegt, dass erst mehr Studierende an die Universität kämen, wenn es eine erhöhte wirtschaftliche Nachfrage nach bestimmten Berufsgruppen gäbe. 24 Auch die Äußerungen von Mohr (2000) bestätigen, dass das Angebot von akademisch gebildeten Arbeitskräften der Nachfrage eine Periode “hinterherhinkt”. Die Existenz eines wissenschaftlichen Fundamentes für die Kondratieffzyklen, welches erst um den Höhepunkt der jeweiligen Zyklen einen Ausbau erfuhr, als wissenschaftliche Kenntnisse großflächig notwendig wurden, begründet die These der Ökonomisierung der europäischen Universität. Die Annahme, dass wissenschaftliche Kenntnisse für den wirtschaftlichen Aufschwung notwendig sind, lässt sich im Svenja Hehlgans 298 Gegenzug daran belegen, dass während der wirtschaftlichen Tiefphasen die akademische Arbeitslosigkeit steigt. 4.3 Die Europäische Universität als Unternehmen und Bildung als Ware Mit der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche (vgl. Gäbler 2005: 154) geriet auch die Institution Universität unter immer stärker werdenden Effizienzdruck. Aus diesem Grund wurden seit Mitte der 1980er und v. a. in den 1990er Jahren verstärkt Leistungsmessungen eingeführt, was die Übertragung der ökonomischen Rationalität auf die Universitäten ausdrückt (vgl. Wimmer 2005: 20). Es wird also davon ausgegangen, dass die Einführung ökonomischer Prinzipien in universitäre Strukturen ein effizienteres Funktionieren ermögliche (vgl. ebd.: 30 f.). Da der Staat sich zudem immer mehr aus der Verantwortung für die Finanzierung der Bildungsinstitutionen zieht, steht die Universität zunehmend unter dem Druck, selbst für die notwendigen Ressourcen Sorge zu tragen. Deshalb sollen Universitäten wie Unternehmen geführt werden und Forschung sowie Lehre an der Nachfragesituation ausrichten (vgl. ebd.: 31). Verstärkt finanziert werden deshalb v. a. Fächer, welche in Forschung und Lehre Kenntnisse “produzieren”, die direkt vermarktet werden können. Dies führt dazu, dass sich Fächer, welche weder unmittelbar verwertbare und nützliche Kenntnisse bereitstellen, noch eine berufsqualifizierende Ausbildung anbieten, ständig selbst legitimieren müssen (vgl. ebd.: 19). Besonders den Geistes- und Sozialwissenschaften wird unterstellt, nur unproduktive Kosten zu verursachen (vgl. ebd.; vgl. Sieg 2005: 10). Das Primat der Ökonomie kann in der Universität so zu geringerer Finanzierung der vermeintlich eher unnützen Fächer, und im äußersten Fall zu Schließungen einzelner Fachbereiche führen (vgl. Schmoll 2008: 6; vgl. Lege 2009: 62). Bildung und Wissen werden also vorwiegend als Produktionsfaktoren betrachtet, was Michael Wimmer folgendermaßen pointiert: “Der Bildungswert des Wissens verschiebt sich von der inhaltlichen Seite auf seine funktionale Brauchbarkeit, von dem individuellen Gebrauchswert hin zum gesellschaftlich fungiblen Tauschwert auf dem Arbeitsmarkt.” (Wimmer 2005: 35) Diese Form der Ökonomisierung von Universität und Bildung hat auch Auswirkungen auf ihr Ansehen in der Gesellschaft. Dadurch, dass Hochschul- und Wirtschaftssystem systemisch kompatibel gemacht wurden (Hoffacker 2001, zit. n. Liesner 2005: 46), nimmt die Universität den Status eines unter vielen anderen Dienstleistungsunternehmen für die Wirtschaft ein (vgl. Liesner 2005: 58). Eine solche einseitige, auf ökonomischen Kriterien beruhende Rollenzuweisung führt zu der Auffassung, Universitäten müssten ihren Absolventen die größtmögliche Beschäftigungsfähigkeit übertragen, welche auch im Bologna-Prozess als eines der Hauptziele definiert wurde. Dies forciert eine Verfach(hoch)schulung der europäischen Universitäten, die sich besonders durch das sinkende wissenschaftliche Niveau auszeichnet (vgl. ebd.: 58 f.). Einer ähnlichen Entwicklung war bereits etwa ein Jahrhundert zuvor v. a. in den Ländern, die das Humboldtsche Universitätsmodell adaptiert hatten, Kritik widerfahren: Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts äußerten unter anderem Werner Sombart und Friedrich Paulsen die Befürchtung, dass aus den Universitäten Institutionen auf der Ebene von Fachschulen geworden waren (vgl. Wimmer 2005: 28 f.). Ihre Bedenken sind vor dem Hintergrund der Akademisierung des technischen Unterrichtes zu sehen, welche für viele die Zweckfreiheit der universitären Bildung infrage zu stellen schien. Zwischen Anpassung und Freiheit 299 Dass die Ökonomisierung der Europäischen Universität unter der Zielsetzung der Beschäftigungsfähigkeit als problematisch einzustufen ist, belegen auch Einschätzungen von Absolventen sowie Studenten: In einer Umfrage aus dem Jahr 2000 unter Absolventen der alten Magister- und Diplomstudiengänge gaben im Mittel der vorliegenden Daten 58,6 % der Befragten an, dass ihr Studium für ihre jetzigen beruflichen Aufgaben nützlich gewesen sei (vgl. Mohr 2000). 2001 stimmten nur ein Viertel der Befragten in einer Studie des BMBF der Behauptung zu, dass Bachelor-Absolventen gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten (vgl. Grigat 2009: 26). Diese Zahl nahm bis 2007 sogar auf 12 % ab (vgl. ebd.). Auch wenn diese Befragungen - aufgrund des unterschiedlichen geografischen Raumes sowie den unterschiedlichen Zeitpunkten in Bezug auf das Studium - nur bedingt miteinander vergleichbar sind, so lassen sie doch die aktuellen Reformen als fragwürdig erscheinen. Wimmer (ebd.: 25) spricht im Hinblick auf die angestrebte Beschäftigungsfähigkeit der Absolventen von einer “Analogisierung von […] Universitäten mit Fabriken”. Dies verdeutlicht nicht nur, dass die Universität als Unternehmen mit ökonomischer Zwecksetzung betrachtet wird, sondern legt auch die Auslegung von Bildung als Ware nahe. Die Universitäten bieten als Dienstleistungsunternehmen das Produkt Bildung an, die Benutzer, also die Studenten, stellen “ihren Warenkorb nach Gutdünken und Marktlage zusammen […]” (Brandt 2005). Hierin spiegelt sich das veränderte Verhältnis zwischen Universität und Student wider: In der Moderne des Kapitalismus wurden die Universitätsabsolventen vor allem als produzierende Arbeitskräfte betrachtet, in der heutigen Postmoderne werden Studenten als konsumierende Kunden eingeschätzt, welche sich selbst mit dem Produkt Bildung versorgen (vgl. Hoffmann 2001: 35). Aus diesem Grund wird auch der Wettbewerbsgedanke verstärkt, da die Universitäten nun um die Studenten konkurrieren und ihre Produkte bewerben müssen (vgl. Pazzini 2005: 143). Außerdem scheint ein Anstieg der Konkurrenz zwischen den Hochschulen bessere Bildung zu versprechen und wird deshalb unter anderem durch den Bologna-Prozess gefördert (vgl. Wimmer 2005: 31). Auch der Wechsel von der Inputzur Outputorientierung (vgl. Weber 2002: 166), welcher durch das bei Bachelor- und Master-Studiengängen neu eingeführte Kreditpunktesystem intensiviert wird, unterstützt die Rolle der Universität als Unternehmen, welches seine Produkte vermarkten muss. Die zuvor dargestellten verschiedenen Facetten der Ökonomisierung der Europäischen Universität können auf zwei Ebenen beurteilt werden: Zunächst erscheint eine gewisse Orientierung an ökonomischen Prinzipien wie Effektivität und Effizienz bei dem Umgang mit Ressourcen sinnvoll zu sein, um deren Vergeudung zu vermeiden (vgl. Wimmer 2005: 31). Problematisch ist allerdings, dass die Eigenlogik des Systems Universität bei diesem Streben nach Effizienz kaum berücksichtigt wird. Die Aufgaben der Universität sind nämlich nicht ausschließlich ökonomisch definiert (vgl. ebd.) und orientieren sich an Werten, “die sich der kalkülgerechten Quantifizierung entziehen” (Zabeck 2003: 55, zit. n. Wimmer 2005: 31). Julian Nida-Rümelin hält es für gefährlich, die Universität ökonomisch und politisch zu instrumentalisieren, da sie sich nur aus sich selbst heraus entwickeln könne (vgl. Nida- Rümelin 2005: 27). Mit der ausschließlichen Ausrichtung der Hochschulen und ihrer Bildungsangebote auf die Bedürfnisse des Marktes würde nämlich das innovative Potential der Wissenschaft beschädigt (vgl. ebd.: 21). Dies lässt sich anhand der Gegenwartsbezogenheit der Ökonomisierung erläutern: Wie bereits beschrieben, werden vor allem Fächer unterstützt, welche aktuell den größten betriebswirtschaftlich messbaren Nutzen versprechen, während andere Fächer, die diesem Kriterium nicht entsprechen, sich um ihr Bestehen bemühen müssen. Svenja Hehlgans 300 Nicht nur das relativ aktuelle Beispiel der seit den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001 für Gesellschaft und Wirtschaft relevant gewordenen Islamwissenschaften, welche bis dahin als “Orchideenfach” - also nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben als unproduktiv - galten, verdeutlicht das Problem der Ausrichtung an aktuellen Bedürfnissen. Ein Blick in die Universitätsgeschichte illustriert ebenfalls, dass Fächer, welche für Gesellschaft und Wirtschaft zu Relevanz gelangten, oft schon zuvor an den Universitäten - zumindest in Grundzügen - existierten. Es zeigt sich vielmehr, dass zukünftige Bedürfnisse nicht allein mit betriebswirtschaftlicher Logik vorhersehbar sind. Es könnten zwar - unter Zuhilfenahme der Kondratieffzyklen - künftige Bedürfnisse akademischer Bildung für die Ökonomie antizipiert und infolge dessen auch gefördert werden. Allerdings wäre es sinnvoll, andere Wissenschaftsgebiete nicht zu vernachlässigen oder als unproduktiv - also “schlecht” - darzustellen, da sonst verschiedene Risiken bestünden. Eine dieser Gefahren kann ebenso am Beispiel der Islamwissenschaften veranschaulicht werden: Durch den Terroranschlag hat das Fach schlagartig eine enorme Bedeutung erlangt, welche mit betriebswirtschaftlichen Mitteln allein nicht abzuschätzen war. Hätte man ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten gehandelt, so hätte die zunehmende Ökonomisierung der Universität möglicherweise zu einem Verschwinden dieses Faches geführt. Das Risiko, welches aus der Schlechterstellung von Fächern erwachsen kann, stellt Giesecke (2001: 19) am Beispiel der Informatik dar: Mitte der 90er Jahre habe es in der Wirtschaft eine großflächige Entlassung von Informatikern gegeben, was dazu geführt habe, dass sich Studienanfänger seltener für dieses Fach entschieden hätten. Dies war insofern problematisch, als dass genau dieses akademische Wissen zu Beginn des dritten Jahrtausends notwendig wurde. Beschränkte man die Ökonomisierung auf den Verwaltungsapparat und ließe man die akademische Freiheit unangetastet, so wäre - in Umkehrung der These Nida-Rümelins - das innovative Potential der Wissenschaft größer. Denn auf diese Weise würde das Lehr- und Forschungsspektrum nicht von vornherein eingeschränkt und es könnten Kenntnisse vermittelt und Inventionen ermöglicht werden, welche erst viel später eine ökonomische Wirksamkeit entfalten könnten. Unter den dominierenden ökonomischen Gesichtspunkten wird hier nämlich die Eigenlogik des Wissenschaftssystems nicht ausreichend berücksichtigt: Erkenntnisse sind weder vorhersehbar, noch aus dem bereits Bekannten ableitbar oder gar “aus einer Zielvorgabe deduzierbar” (Koller 2005: 90). Auch Wimmer schließt sich dieser Annahme an, indem er darlegt, dass sich der Glaube durchsetze, dass man “durch die kerncurriculare Verschulung und Modularisierung des Studiums […] Kompetenzen und einen Habitus forschenden Lernens herstellen [könne]” (Wimmer 2005: 25). Diese Ausführungen zeigen, dass eine Betrachtung von Bildung als Ware - also eine Ökonomisierung - in einem gewissen Grad die Zukunftsfähigkeit der Universitäten einschränkt. 5 Fazit Die Ausführungen zeigen, dass sich das Verhältnis zwischen Kirche, Staat, Ökonomie und Universität im Lauf der letzten 200 Jahre stark verändert hat. Die jeweiligen Beziehungen ließen im Humboldtschen sowie im englischen Universitätsmodell die akademische Freiheit - zumindest bis zur Zeit der Bildungsexpansion - relativ unangetastet. Im Napoleonischen Universitätsmodell war die weitgreifende Instrumentalisierung der Universität integraler Bestandteil, weshalb auch die akademische Freiheit eingeschränkter als bei den anderen beiden Systemen war. Die Übertragung der ökonomischen Logik auf die Bildungsinstitutio- Zwischen Anpassung und Freiheit 301 nen erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wurde vor allem durch den Bologna-Prozess verstärkt. Besonders die Darstellungen im vierten Abschnitt machen hingegen deutlich, dass eine gezielte Ökonomisierung nicht unbedingt zu den erwünschten Erfolgen führt, sondern oft Nachteile - nicht nur für die Universitäten, sondern auch für die Volkswirtschaft - zur Folge haben kann. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine sinnvolle und für beide Seiten nutzenbringende Beziehung zwischen Bildungsinstitutionen und Wirtschaft geben kann. Dazu müsste allerdings der Unterschied der Eigenlogiken beider Systeme beachtet sowie zukunftsstatt gegenwartsbezogen gedacht und gehandelt werden. Unter Zuhilfenahme der Kondratieffzyklen und dem ihnen inhärenten Potential, Zukunftsmärkte und somit auch den zukünftigen Bedarf an wissenschaftlichen Kenntnissen zu erkennen, wäre ein marktgerechtes Studium theoretisch möglich. Bisher wurde jedoch das universitäre Angebot bestimmter Fächer jeweils erst ausgeweitet, als der Kondratieffzyklus, für den diese spezifischen Kenntnisse notwendig waren, seinen Höhepunkt erreicht hatte. Würde man die Fächer, welche für die Zukunft als besonders relevant erscheinen, frühzeitig ausbauen, so könnten wissenschaftliche Kenntnisse zeitgerechter den wirtschaftlichen Aufstieg unterstützen. Diese Unterstützung dürfte sich allerdings nicht nur auf finanzielle Art ausdrücken, sondern müsste darauf abzielen, die Aufmerksamkeit der Studierenden frühzeitig auf Zukunftsmärkte und mit ihnen zusammenhängende Studienangebote zu lenken. Eine Ökonomisierung der europäischen Universität darf deshalb nicht durch eine Überstülpung wirtschaftlicher Logik auf die Bildungsinstitution, also eine unreflektierte vollständige Anpassung der Universität an die Bedürfnisse der Ökonomie, umgesetzt werden. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn ökonomische Konzepte - wie das der Kondratieffzyklen - genutzt werden, um die universitäre Bildung unter Berücksichtigung ihrer eigenen Charakteristika zu verbessern und so Nutzen für die Ökonomie zu generieren. Zieht man noch einmal Wimmers These der Analogisierung von Universitäten mit Fabriken heran, so wird deutlich, dass sich jene auch durch eine “Produktion von Absolventen als Standardware” ausdrückt (Wimmer 2005: 25). Dies meint, dass es den Studenten kaum möglich ist, ihr Studium individuell zu gestalten. Es lässt sich also festhalten, dass sich an den europäischen Universitäten heute eine Standardbildung mit relativ festen Studienplänen und wenig Zeit im Ausland gegenüber der vor dem Bologna-Prozess vorherrschenden individuellen Bildung mit relativ freier Veranstaltungsauswahl und häufigeren Auslandsaufenthalten durchgesetzt hat. Vergleicht man diese Entwicklung mit derjenigen in der Arbeitswelt, so lässt sich eine gegenläufige Tendenz erkennen: Bereits im fünften Kondratieff wurden individuelle Lösungen gegenüber der Standard-Massenproduktion bedeutender. Geht man deshalb davon aus, dass auf dem Arbeitsmarkt individuelle Kenntnisse und Fähigkeiten notwendig sind, kann die These aufgestellt werden, dass das heutige Studium nicht marktgerecht ist und noch weniger langfristige Beschäftigungsfähigkeit vermitteln kann. Für eine erfolgreiche Ökonomisierung der Europäischen Universität müsste also v. a. der Freiheit von Forschung und Lehre wieder ein größerer Raum zugestanden werden, um Innovationspotentiale zu unterstützen. Dies würde viel eher den ökonomischen Bedürfnissen entsprechen, da sie sich seit der Phase des fünften Kondratieffs stark individualisiert haben. Die Problematik der aktuellen Reformen beruht insgesamt v. a. auf der mangelnden Beachtung von Vergangenheit und Zukunft: Wie dargestellt, scheinen die Reformen des Bologna-Prozesses nur auf den ersten Blick zukunftsbezogen zu sein, tatsächlich realisiert sich jedoch ausschließlich eine Ausrichtung der Europäischen Universität auf aktuelle wirtschaftliche Bedürfnisse. Für langfristig wirksame und sinnvolle Veränderungen der Europäischen Universität - auch Svenja Hehlgans 302 zugunsten der Ökonomie - sollte stattdessen der Blick für Vergangenheit und Zukunft weiter geschärft werden. 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Charle 2004: 53). 4 Die Philosophische Fakultät, der nicht vom Staat vorgeschrieben werden könne, was hier gedacht und gelernt werde, solle - da es einzig um die Wahrheitssuche gehe - an oberster Stelle stehen und die (für den Staat) “nützlichen” drei (Jurisprudenz, Medizin und Theologie) “überflügeln” (vgl. Kant 1798: 20f.). 5 Diese Schrift stammt aus dem Winter 1809/ 10 und blieb zunächst unpubliziert. Durch die Wiederentdeckung im Archiv im Jahr 1900 wurde der Mythos der so genannten Humboldt-Universität begründet (vgl. vom Bruch 1999: 262), mit dem in der heutigen Diskussion um die Universitätsentwicklung oft argumentiert wird. Die Fixierung auf Humboldt war auch nicht von Anfang an gegeben, denn zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das neue Konzept eher Schleiermacher als Humboldt zugeschrieben (vgl. Rüegg 2007: 37). 6 Diese Freiheit wurde zwar durch die Karlsbader Beschlüsse im Jahr 1819 wieder aufgehoben, konnte sich jedoch ab 1848 durchsetzen (vgl. Rüegg 1994: 157). 7 Die einzige berufliche Bildung, welche man in Oxford und Cambridge erlangen konnte, war die an das anglikanische Glaubensbekenntnis geknüpfte klerikale (vgl. Lundgreen 2007). 8 Andererseits muss dem Eindruck der “civics” als der perfekten Bildungsinstitution für die Industrie entgegengestellt werden, dass selbst im Jahr 1914 in England nur 15.000 ausgebildete Ingenieure zur Verfügung standen, während es in Frankreich 40.000 und in Deutschland sogar 60.000 waren (vgl. Anderson 2004: 201). 9 Ein gutes Beispiel dafür liefern neben den Handelshochschulen v. a. die Technischen Hochschulen, welche das Recht zur Promotion europaweit Ende des 19. Jahrhunderts erlangten (vgl. Charle 2004: 63; vgl. Guagnini 2004: 506 ff.). 10 Allerdings wurden wichtige Entdeckungen und Erfindungen auch in anderen Ländern gemacht, was darauf hindeutet, dass nicht nur diese Faktoren Deutschlands Vorsprung beeinflussten (vgl. Rüegg 2004: 29). 11 Das Humboldtsche Universitätsmodell wurde sogar über die Grenzen Europas hinaus bis nach Amerika und in den asiatischen Raum transferiert (vgl. Weber 2002: 157). 12 Dieser Begriff geht auf Schiller zurück, der bereits 1789 den Brot-Studenten und -Gelehrten dem s. g. philosophischen Kopf entgegenstellte. (vgl. Hügli 2007: 58). 13 Zur Opposition des “Systems Althoff” gehörten unter anderem Werner Sombart (1863-1941), Lujo Brentano (1844-1931) sowie Max Weber (1864-1920), deren Hauptkritikpunkt derjenige war, dass Althoff in Berufungsfragen nicht unbedingt den Vorschlägen der Fakultäten folgte, sondern seine Entscheidungen auf Grundlage von Gesprächen mit Vertrauten traf (vgl. Klinge 2004: 123; vgl. Koch 2008: 159). 14 An dieser Stelle ist anzumerken, dass somit zum ersten Mal der Staat in die inneren Angelegenheiten der Universitäten eingriff, welche zuvor autonom gehandhabt wurden. Diese staatlichen Eingriffe vermehrten sich im Laufe der Zeit und wurden immer weitgreifender (vgl. Koch 2008: 239). 15 Diese Chancengleichheit ist allerdings bis heute ein nicht vollständig erreichtes Ziel und regt immer wieder Diskussionen an, v. a. im Bereich der Studiengebühren. Dieses Thema soll aufgrund seiner Fülle an dieser Stelle nicht erörtert werden, sondern es kann nur darauf hingewiesen werden, dass zur Zeit der Bildungsexpansion soziale Verhältnisse eher reproduziert statt verändert und die gesellschaftlichen Bildungsdiskrepanzen eher vergrößert als verringert wurden (vgl. Papadopoulos 1996: 117). 16 Die Studierquote beschreibt laut dem Hochschul-Informations-System (2002: 8) den Anteil von Schulabgängern mit Hochschulzugangsberechtigung, die entweder direkt nach dem Abschluss ein Studium beginnen oder Studienabsichten bekunden. 17 Zwar gab es auch Vertreter einer “nationalen” Richtung in der Hochschulpolitik, welche die akademische Tradition berücksichtigen und die Säuberungen gering halten wollten. Diese konnten sich jedoch gegenüber der stalinistischen Richtung, welche die Übernahme des sowjetischen Modells befürwortete, nach 1947/ 48 nicht durchsetzen (vgl. Bachmaier 1996: 3 f.). 18 An Hochschulen wurden stattdessen “gewinnorientierte Abeilungen” eingerichtet, welche sich darauf konzentrieren sollten, anwendungsbezogene Forschung zu betreiben (vgl. Beneš 1992: 142). 19 Zu ersteren können unter anderem der Marxismus-Leninismus, der wissenschaftliche Kommunismus, die Politische Ökonomie sowie die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gezählt werden. Die neueren Sozialwissenschaften umfassen die Politikwissenschaft, die Ökonomie, Rechtswissenschaften sowie die Soziologie (vgl. Bachmaier 1996: 39). Zwischen Anpassung und Freiheit 307 20 Der Titel der Deklaration löste Irritationen aus, da er einen Widerspruch zu der im Vertrag von Maastricht ausgeschlossenen Harmonisierung zu implizieren schien (so z. B. bei Schriewer 2006). Der Begriff der Harmonisierung ist tatsächlich als terminus technicus der Europäischen Gemeinschaft zu verstehen, welcher sich nicht auf Inhalte oder Curricula, sondern auf die Schaffung eines gemeinsamen strukturellen Bezugsrahmens (“architecture”) bezog (vgl. Walter 2006: 126). 21 Die Humankapitaltheorie beruht auf der Annahme, dass sich Bildung als ökonomische Investition denken lässt. Bereits Adam Smith ging davon aus, dass sich ein höherer Bildungsgrad positiv auf die wirtschaftliche Produktivität auswirken kann (vgl. Maier 1994: 5). Bildung wurde somit als Ressource für den Wirtschaftsprozess gedacht, deren Ertrag sich quantitativ bestimmen lässt. Hierzu beschäftigte sich die Humankapitaltheorie v. a. mit dem Vergleich von Kosten und Nutzen von Bildungsausgaben. Die Humankapitaltheorie bildet die theoretische Grundlage für die Bildungsökonomie, welche sich insbesondere mit dem privaten monetären Nutzen von Bildung beschäftigt (vgl. Pechar 2006: 38). Bildung wird im Rahmen dieser beiden Denkansätze also als “[…] unternehmerische Tätigkeit nach dem Muster wirtschaftlicher Prozesse interpretiert […]” (ebd.: 29). Da beide Theorien an dieser Stelle nicht differenziert betrachtet werden können, sei beispielhaft auf die Ausführungen von Harry Maier (1994) sowie Rolf Becker und Anna Hecken (2008) verwiesen. 22 Dies drückte sich unter anderem darin aus, dass auch auf Seiten der Industrie ab etwa 1875 das Interesse an wissenschaftlich ausgebildeten Fachkräften stieg (vgl. Guagnini 2004: 504 f.). 23 Sinnvollerweise kann hier nur von einem relativen Angebot von akademisch gebildeten Arbeitskräften gesprochen werden, da sich die absoluten Zahlen in vollkommen unterschiedlichen Größenordnungen entwickelten. Ein Beispiel: Der prozentuale Anteil der Studierenden an der Gesamtbevölkerung Deutschlands stieg zwischen 1820/ 21 und 1920/ 21 nur um 1,1 Punkte von 0,3 auf 1,4 % (vgl. Ringer 2004: 202). Beim Jahreswechsel von 1995/ 96 lag der prozentuale Anteil der Studierenden an der Gesamtbevölkerung in Deutschland bereits bei 2,6 % (vgl. Europäische Kommission 1999: 20). 24 Das Absinken der Arbeitslosigkeit unter Universitätsabsolventen hängt stark mit der verminderten Studienaufnahme zusammen. Diese wurde aber nicht nur durch abnehmendes Interesse am Besuch einer Universität, sondern jeweils durch staatlich initiierte Maßnahmen gesenkt. Aus Angst vor einem akademischen Proletariat wurden unter anderem das Abitur oder der Numerus Clausus als Erschwerung des Universitätszugangs eingeführt (vgl. Ringer 2004: 203 f.). Auch die Akademisierung vieler Berufe, v. a. im Zeitalter der Bildungsexpansion, wirkt sich auf das Sinken der akademischen Arbeitslosigkeit aus (vgl. Maier 1994: 224). Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Anglo-American Cultural Studies kombiniert eine Einführung in die traditionellen Kategorien der Landeskunde mit einer Darstellung wichtiger Schlüsselthemen der modernen Kulturwissenschaften, wie sie in den anglistischen und amerikanistischen Studiengängen gelehrt werden. Das Arbeitsbuch dient als Grundlage für universitäre Einführungskurse und ist ebenso zum Selbststudium, zur Wiederholung und zur Prüfungsvorbereitung geeignet. Der Band ist in englischer Sprache verfasst und auf die Gegebenheiten an Universitäten im deutschsprachigen Raum zugeschnitten. Jody Skinner Anglo-American Cultural Studies UTB 3125 basics 2009, VI, 330 Seiten, €[D] 19,90/ Sfr 35,90 ISBN 978-3-8252-3125-5 EU-Kulturpolitik als symbolische Form Eine kulturwissenschaftliche Annäherung an das Kulturverständnis der Europäischen Union Lena Jöhnk; Leuphana Universität Lüneburg The following study is an analysis of the cultural concept of the European Union on the basis of the cultural-semiotic theories of Cassirer (1988; 1994a; 1994b; 1994c; 1994d) and Lotman (1990; 1993; 2000). This unique research approach has proven to be successful in terms of outlining the complexity and dynamics of the EU Culture Policy on several levels. Firstly, the approach allows for a comprehensive description of EU Culture Policy as well as the creation of new legal documents as translation processes in the EU cultural-political arena of negotiation. Secondly, the key EU Cultural Policy terms cultural diversity, cultural heritage, European identity and intercultural dialog are analyzed on the basis of the EU Culture Policy legislation texts. The results of these two analyses are combined to provide conclusions regarding the EU concept of culture. 1 Einleitung “Der Mensch hat eine neue Art des Ausdrucks entdeckt; den symbolischen Ausdruck. Dies ist der gemeinsame Nenner all seiner kulturellen Tätigkeiten: in Mythos und Poesie, in Sprachen, in Kunst, in Religion und in Wissenschaft.” (Cassirer 1988: 63) Jüngst hob der Rat der Europäischen Union in seiner “Entschließung zu einer europäischen Kulturagenda” die zentrale Rolle der Kultur im europäischen Integrationsprozess hervor (vgl. Rat der Europäischen Union 16.11.2007: Amtsblatt C 287). Kultur, so der Rat, stärke den sozialen Zusammenhalt, fördere das Wirtschaftswachstum und führe zu Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Auch im Hinblick auf die Lissabonstrategie 1 , die die Errichtung eines EU-weiten, dem Wettbewerb gewachsenen und wissensorientierten Wirtschaftsraums verfolgt, gilt Kultur als “Katalysator für Kreativität”, durch den Arbeitsplätze geschaffen und der wirtschaftliche Wohlstand gesteigert werden soll. Weiterhin wird Kultur zunehmend als ein wichtiges politisches Instrument in der europäischen Außenpolitik wahrgenommen (vgl. Rat der Europäischen Union 16.11.2007: Amtsblatt C 287; Rat der Europäischen Union 24.05.2007: Amtsblatt C 311). Dies zeigt u. a. eine kulturpolitische Konferenz in Ljubljana aus dem Jahr 2008, laut deren Ergebnissen Kultur in alle relevanten Bereiche der EU-Außenbeziehungen hineinwirkt und dazu beiträgt, die Verbreitung der Werte der EU, zu denen beispielsweise die Achtung der Menschenwürde und die Demokratie zählen, zu unterstützen (vgl. Slovenian Presidency Declaration 2008). Die hier angedeutete inflationäre Verwendung von Kultur im Kontext diverser Politikfelder der Europäischen Union ist symptomatisch für die wachsende Bedeutung, die Kultur K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Lena Jöhnk 310 in der gegenwärtigen Gestaltung der EU-Politik beigemessen wird. Offen bleibt jedoch, welche Denkmuster dem EU-kulturpolitischen Handeln zugrunde liegen, d. h. von welchem Kulturverständnis die EU ausgeht. In der EU-kulturpolitischen Forschung ist dem EU-Kulturverständnis bisher ebenfalls wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. 2 Anstatt in längeren wissenschaftlichen Arbeiten wurde es hauptsächlich essayistisch behandelt. Ein Beispiel für diese Herangehensweise ist der Text von Ljubomir Brati , der sich ausgehend von einzelnen EU-kulturpolitischen Dokumenten auf kritische Weise mit dem EU-Kulturverständnis auseinandersetzt (vgl. Brati 2008). Darüber hinaus finden sich vereinzelt längere wissenschaftliche Beiträge, die sich über die Untersuchung des Kulturartikels im EU-Primärrecht mit dem EU-Kulturverständnis befassen (vgl. Smiers 2002; Holthoff 2008). Eine systematische wissenschaftliche Untersuchung des EU-Kulturverständnisses steht hingegen noch aus. Der Mangel an wissenschaftlichen Untersuchungen steht in Widerspruch zu der großen gesellschaftlichen und politischen Relevanz, die diesem Thema auf europäischer Ebene zukommt. Das Kulturverständnis der EU wirkt sich nicht nur auf die Förderkriterien sowie Gesetzesbeschlüsse im genuin kulturpolitischen Bereich aus, sondern beeinflusst darüber hinaus die Ausgestaltung anderer Politikbereiche der EU sowie die Zusammenarbeit der EU mit verschiedenen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. 3 In letzter Konsequenz prägt es sogar den Umgang der EU mit ihren Bürgern, wie beispielsweise anhand der Einwanderungspolitik erkennbar wird. Darüber hinaus hat es erheblichen Einfluss auf die künftige Entwicklung der EU-Politik, wie sich eindrucksvoll an den Diskussionen über eine Verfassung für Europa gezeigt hat, für deren Gestaltung das EU-Kulturverständnis eine maßgebliche Rolle spielte. 4 Die Ursache für die geringe wissenschaftliche Beachtung, die das EU-Kulturverständnis trotz seiner großen Relevanz für EU-politische und gesellschaftliche Prozesse erfahren hat, lässt sich in dem besonderen Charakter dieses Untersuchungsgegenstandes vermuten. Versteht man das EU-Kulturverständnis als spezifische Bedeutungsstruktur, die sich innerhalb des institutionellen Gefüges der EU-Kulturpolitik formiert und diesem gleichzeitig zugrunde liegt, so handelt es sich um Grundlagen des Denkens und Handelns, die weder bewusst wahrgenommen noch reflektiert werden und somit nur schwerlich durch eine direkte Abfrage, wie etwa in Form eines Interviews, ermittelt werden können. 5 Die Tatsache, dass dem EU- Kulturverständnis keine individuellen, sondern kollektive Denk- und Handlungsmuster zugrunde liegen, erschwert die Untersuchung zusätzlich. Sie impliziert, dass sich die Frage nach dem EU-Kulturverständnis nicht losgelöst von seiner Formierung innerhalb der EU- Kulturpolitik beantworten lässt, sich jedoch genauso wenig auf eine bloße Beschreibung EUkulturpolitischer Strukturen und Prozesse beschränken darf. Die dritte Schwierigkeit betrifft den dynamischen Charakter des Untersuchungsgegenstandes. Durch EU-kulturpolitische Aktivitäten und gesellschaftliche Veränderungen wandelt sich auch das EU-Kulturverständnis. Eine wissenschaftlich adäquate Auseinandersetzung erfordert es, diesen Wandel zu berücksichtigen. Ausgehend von den hier kurz umrissenen Anforderungen wird die Frage nach dem EU- Kulturverständnis an dieser Stelle als kulturwissenschaftliche Herausforderung verstanden. Es gilt, den kulturpolitischen Handlungs- und Bedeutungsraum EU-Kulturpolitik zu öffnen, um die in ihm ablaufenden Translationsprozesse und dabei entstehenden kulturellen Bedeutungsstrukturen untersuchen zu können. Den analytischen Ausgangspunkt für die geplante Untersuchung bildet die Symboltheorie des deutschen Kulturwissenschaftlers Ernst Cassirer (1988; 1994a; 1994b; 1994c; 1994d) 6 , EU-Kulturpolitik als symbolische Form 311 mittels derer verschiedene kulturelle Räume als symbolische Formen betrachtet werden können. Cassirers Symboltheorie geht davon aus, dass sich das Denken und Handeln der Akteure einer Gesellschaft in kulturellen Erzeugnissen jeglicher Art - beispielsweise in Bildern, Mythen und Texten aber auch in Organisationsformen - objektiviert. Entsprechend werden kulturelle Erzeugnisse als spezielle Zeichenformationen betrachtet, in denen verschiedene Weltauffassungen und Denkweisen enthalten sind. Das Ziel einer auf Cassirers Symboltheorie basierenden Untersuchung ist es, kulturelle Bedeutungsstrukturen sichtbar zu machen. Dafür werden sowohl einzelne Zeichen als auch die Funktionsweise des gesamten Zeichensystems untersucht (vgl. Bisanz 2004: 16-18). EU-Kulturpolitik als symbolische Form zu betrachten heißt, sie als kulturelles, dynamisches Gefüge mit einer eigenen Struktur und Funktionsweise zu verstehen. Die Untersuchung dieser Struktur und Funktionsweise aber auch der konkreten sinnlichen Zeichen, d. h. der EU-kulturspezifischen Begriffe und Formulierungen, ermöglichen Rückschlüsse auf das EU-Kulturverständnis. Ergänzend zu Cassirers Symboltheorie wird das kultursemiotische Raummodell sowie der Textbegriff des russischen Literaturtheoretikers und Semiotikers Juri M. Lotman (1990; 1993; 2000) für die Untersuchung des EU-Kulturverständnisses verwendet. Gegenüber Cassirers Ausführungen zur symbolischen Form hat Lotmans Semiosphäremodell den Vorteil, dass es die genaue Beschreibung der Dynamik innerhalb des EU-kulturpolitischen Handlungsraumes ermöglicht. Dank der Kombination dieser kulturwissenschaftlichen Theorien kann einerseits die EU-Kulturpolitik als Handlungssphäre untersucht werden, andererseits ist die Analyse einzelner Begriffe und Formulierungen möglich. Die Synthese dieser beiden Untersuchungsebenen ermöglicht wiederum Rückschlüsse auf die Logik des Gesamtsystems “EU-Kulturpolitik” und somit letztlich auf das EU-Kulturverständnis. 2 Die Beschreibung der EU-kulturpolitischen Handlungssphäre nach Lotman Im Folgenden wird EU-Kulturpolitik als semiotische Handlungssphäre anhand von Lotmans Modell der Semiosphäre dargestellt. Im Zentrum dieser Betrachtung steht der EU-kulturpolitische Handlungsraum, in dem alle Texte, kulturellen Codes und institutionellen Strukturen der EU-Kulturpolitik enthalten sind und in dem neue Bedeutungen generiert werden. 7 Eine solche Betrachtung setzt den Fokus weniger auf die Machtposition der einzelnen Akteure als auf die in der EU-Kulturpolitik stattfindenden semiotischen Prozesse sowie die dabei entstehenden Texte und Codes. Dennoch werden die Akteure nicht ausgeblendet, sondern als wichtige Bestandteile der Semiosphäre in die kultursemiotische Untersuchung mit einbezogen (vgl. Lotman 1990: 288-290; Lotman 2000: 123-125). Auf der synchronen Ebene geht Lotmans semiotisches Raummodell von unterschiedlich strukturierten Bereichen innerhalb der Semiosphäre, d. h. von Subsemiosphären, aus (vgl. Lotman 1990: 294-296). In der EU-Kulturpolitik können die verschiedenen kulturpolitischen Akteure als Subsemiosphären verstanden werden. Jede dieser Subsemiosphären weist eine individuelle Organisationsstruktur sowie eigene Funktionsmechanismen auf und produziert spezifische Bedeutungsstrukturen. Das Kulturverständnis der EU ist jedoch nicht einfach die Summe dieser Bedeutungsstrukturen, sondern formiert sich erst durch die Interaktionen in der kulturpolitischen Sphäre, in der die verschiedenen Subsemiosphären verortet sind und miteinander in Interaktion treten. Dieses Zusammenspiel tritt auch in der von Lotman verwendeten Bezeichnung “Organe” zu Tage. Jedes Organ ist eigenständig und zugleich Teil eines Organismus, der erst in seiner Gesamtheit funktionsfähig ist (vgl. Lotman 1990: 288-290). Lena Jöhnk 312 Die Einbettung der einzelnen Zeichensysteme bzw. Subsemiosphären in die Semiosphäre beschreibt Lotman folgendermaßen: “Wie man jetzt voraussetzen kann, kommen in der Wirklichkeit keine Zeichensysteme vor, die völlig exakt und funktional eindeutig und in isolierter Form für sich allein funktionieren. […] Sie funktionieren nur, weil sie in ein bestimmtes semiotisches Kontinuum eingebunden sind, das mit semiotischen Gebilden unterschiedlichen Typs, die sich auf unterschiedlichen Organisationsniveaus befinden, angefüllt ist.” (Lotman 1990: S. 287) Diese Feststellung verdeutlicht, weshalb nicht nur die Beschreibung der Strukturen im Sinne einer Darstellung der einzelnen Organe der EU-Kulturpolitik wichtig ist, sondern vor allem die Untersuchung der Prozesse zwischen diesen Organen, d. h. die Interaktionen der verschiedenen Subsemiosphären im kulturpolitischen Handlungsraum. Neben der Heterogenität wird die kulturpolitische Sphäre insbesondere durch ihren asymmetrischen Aufbau bestimmt. Das Zentrum der Semiosphäre weist eine verfestigte Struktur auf, die durch eine geringe Dynamik gekennzeichnet ist. Aus diesem Zentrum heraus erfolgt die Produktion spezifischer Metatexte, die die gesamte Semiosphäre inklusive der Peripherie beschreiben und den semiotischen Raum von innen heraus stabilisieren. Mit dieser zunehmenden Verfestigung und Selbstbeschreibung des Systems geht ein Verlust an Flexibilität zugunsten von Normativität und Künstlichkeit einher (vgl. Lotman 2000: 123-130). Ein stark strukturiertes Zentrum, aus dem heraus Kultur definiert wird, lässt sich in der EU-Kulturpolitik in Form des Rates der Europäischen Union, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments 8 auffinden. Ausgehend von ihren legislativen Kompetenzen beanspruchen diese Organe der EU die Handlungssowie Definitionsmacht innerhalb des EUkulturpolitischen Raumes. 9 Durch ihre Aktivitäten, wie beispielsweise dem Verfassen von Rechtsdokumenten und der Initiierung von Kulturförderprogrammen, gestalten und beschreiben sie EU-Kulturpolitik von innen heraus und prägen sie maßgeblich. Neben den zentralen Organen der EU gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher institutioneller Strukturen, die ihren EU-kulturpolitischen Einfluss durch verschiedene Vorgehensweisen wie beispielsweise der Abgabe von Empfehlungen geltend machen. Entsprechend ihrer eingeschränkten rechtlichen Kompetenzen verfügen sie über eine geringe Handlungssowie Deutungsmacht in der EU-kulturpolitischen Sphäre, sodass sie in Lotmans Semiosphäremodell in der Peripherie verortet werden. Einige dieser peripheren Strukturen sollen im Folgenden kurz beschrieben werden, um daran anschließend die Interaktion der verschiedenen zentralen und peripheren Subsemiosphären darzustellen. Zu den peripheren Subsemiosphären des EU-kulturpolitischen Handlungsraumes zählt der Ausschuss der Regionen (AdR), der rechtlich kein EU-Organ ist, sondern lediglich als beratende Institution agiert. In ihm werden die Interessen der Regionen und Kommunen diskutiert und gegenüber den Organen der EU vertreten. Der AdR besteht aus 344 Delegierten der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, die von den Mitgliedstaaten nach dem jeweiligen nationalen Verfahren gewählt und entsandt werden (vgl. Art. 263, 264, 265 EGV). Innerhalb des AdR wurde eine “Fachkommission für Bildung und Kultur” eingerichtet, die sich mit sämtlichen kulturellen Vorhaben der EU befasst und Stellungnahmen abgibt. 10 Aufgrund seiner geringeren Kompetenzen in der Rechtsetzung kommt dem AdR deutlich weniger Bedeutung zu als den Organen der EU. 11 Allerdings sind der Rat, die Kommission und seit dem Vertrag von Amsterdam auch das Parlament dazu verpflichtet, den AdR in kulturellen Belangen anzuhören. Bleibt diese Anhörung aus und sieht der AdR das der EU- Kulturpolitik zugrunde liegende Subsidiaritätsprinzip verletzt, so kann er Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erheben. 12 EU-Kulturpolitik als symbolische Form 313 Eine weitere periphere Subsemiosphäre, die das Kulturverständnis der EU beeinflusst, ist der Europarat, der auch als “Ideenlabor Europas” (Merkle & Palmer 2007: 158) bezeichnet wird. Dem bereits 1950 gegründeten Europarat gehören insgesamt 47 Staaten an, die in Abhängigkeit der jeweiligen Bevölkerungszahl zwei bis 18 Mitglieder aus ihren nationalen Parlamenten entsenden. Der Europarat ist weder ein Organ der EU, noch ist er institutionell mit ihr verbunden. Zwischen beiden besteht lediglich ein Memorandum of Understanding (MoU), das als politische Absichtserklärung fungiert. Die Organe des Europarates sind das Ministerkomitee, das sich aus den Außenministern der Mitgliedstaaten bzw. ihren diplomatischen Vertretern zusammensetzt, die Parlamentarische Versammlung (PACE) und der Kongress der Gemeinden und Regionen. Während die Entscheidungen im Ministerkomitee getroffen werden, erarbeitet die Parlamentarische Versammlung die Themen in den jeweiligen Fachausschüssen und berät das Ministerkomitee. Unterstützung erfährt sie dabei durch das Generalsekretariat (vgl. Gimbal 2009: 225-231). Die Parlamentarische Versammlung des Europarates ist mit ihrem “Ausschuss für Kultur, Wissenschaft und Bildung” von besonderer Bedeutung für den Kulturbereich. Analog zu allen anderen Ausschüssen der Parlamentarischen Versammlung ist es diesem Ausschuss freigestellt, externe Wissenschaftler und Persönlichkeiten zu seinen Sitzungen hinzu zu bitten, um ihren fachlichen Rat einzuholen. 13 Der Europarat vertritt seit Aufnahme seiner Aktivitäten einen Kulturbegriff, der sich nicht nur auf die Hochkultur bezieht, sondern wesentlich weiter zu fassen ist. Im Vordergrund jeder kulturpolitischen Aktivität des Europarates stehen der Schutz und die Förderung der kulturellen Vielfalt und der kulturellen Identität unter der steten Aufrechterhaltung der Demokratie, der Wahrung der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit (vgl. die Satzung des Europarates 1949). Neben dem AdR und dem Europarat dient die UNESCO als unentbehrlicher Referenzrahmen für die EU-Kulturpolitik. Die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation (UNESCO) wurde 1944 als Sonderorganisation der Vereinten Nationen gegründet und umfasst heute 192 Mitglieder. Ausgehend von einem weiten Kulturbegriff bilden der Schutz des kulturellen Erbes, die Wahrung der kulturellen Vielfalt und die Förderung des interkulturellen Dialogs die Schwerpunkte ihrer Arbeit. Ihr Ziel ist es, über Kultur und Bildung zu einem nachhaltigen Frieden beizutragen. Im Hinblick auf den Kulturbegriff der UNESCO lassen sich viele Parallelen zum Europarat finden. Beide Organisationen gehen von einem erweiterten Kulturbegriff aus und betonen den Schutz des kulturellen Erbes sowie der kulturellen Identität. Die UNESCO geht noch einen Schritt weiter als der Europarat, indem sie die Wahrung der kulturellen Identität - unter Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) - zu einem Teil der Menschenrechte erklärt (vgl. Schwencke 2006: 137-142). Über den AdR, den Europarat und die UNESCO hinaus existieren zahlreiche weitere Subsemiosphären, die durch ihr Handeln zur Veränderung der EU-kulturpolitischen Bedeutungsstrukturen beitragen. Dazu gehören verschiedene Sozialpartner wie beispielsweise Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Nichtregierungsorganisationen, die in Brüssel Lobbyarbeit betreiben. Die drei wichtigsten Organisationen, die die Sozialpartner auf europäischer Ebene vertreten, sind der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE) und der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (ECPE). Darüber hinaus gehören die europäischen Kulturinstitute (EUNIC-Berlin und EUNIC-Brüssel sowie FICEP Paris), in denen sich zahlreiche nationale Kulturinstitute und Botschaften zusammengeschlossen haben, sowie Eliten und Medien zu den Subsemiosphären, die Einfluss auf das Kulturverständnis der EU ausüben können (vgl. Lena Jöhnk 314 Immerfall 2006: 95-97). Weiterhin werden Interessenverbände, Forschungseinrichtungen oder Künstler, die sich mit europäischen Fragestellungen auseinandersetzen und politisch aktiv sind, zu den peripheren Subsemiosphären gezählt. 2.1 Translationsprozesse im EU-kulturpolitischen Handlungsraum Die EU-kulturpolitische Willensbildung in Form von Diskussionen und Verhandlungen lässt sich mit Lotman als Translationsprozess bzw. Dialog zwischen den erläuterten Subsemiosphären beschreiben. Gekennzeichnet ist dieser Dialog einerseits durch eine große Anzahl verschiedener Codes, wie beispielsweise unterschiedliche Sprachen, Wertesysteme und Ansichten, die in der EU-kulturpolitischen Sphäre zusammentreffen. 14 Andererseits existieren Gemeinsamkeiten in Form von verschiedenen vertraglichen Regelungen, nach denen EUkulturpolitische Interaktion stattfindet, sowie einer gemeinsamen europäischen Rechtssprache bestehend aus Begriffen und Formulierungen, die in den zentralen Subsemiosphären immer wieder verwendet werden. Mit Lotman lassen sich diese Gemeinsamkeiten als semiotische Invarianz verstehen, die die Voraussetzung für einen Dialog bildet (vgl. Lotman 1990: 298). Die Translationsprozesse sind immer an Texte - entweder in geschriebener oder gesprochener Form - gebunden und können somit auch als textuelle Dynamiken beschrieben werden. Nach Lotman ist der kulturpolitische Text, verstanden als die materielle Manifestation des semiotischen Systems, eine mehrfach codierte Zeichenstruktur. Neben der einfachen Codierung der natürlichen Sprache enthält er eine sekundäre Codierung, etwa in Form von Werten, Normen und kollektiven Erfahrungen. Somit sind die untersuchten Rechtsdokumente gleichzeitig Träger einer Mitteilung zu einem bestimmten kulturpolitischen Thema und Träger des EU-Kulturverständnisses (vgl. Lotman 1993: 83-91). Jede Subsemiosphäre verabschiedet in Abhängigkeit von ihrer Position im kulturpolitischen Raum verschiedene Texte, wie beispielsweise Empfehlungen oder Berichte. In der EUkulturpolitischen Interaktion dienen diese Texte dazu, einen gemeinsamen Metatext zu erzeugen, in dem sich die verschiedenen Einflüsse aus den Subsemiosphären wiederfinden. Der Translationsprozess in der EU-Kulturpolitik erweist sich somit nicht als reiner Austausch der verschiedenen im Rat, dem Parlament, der Kommission sowie den peripheren Subsemiosphären existierenden Standpunkte, sondern als Mechanismus zur Generierung eines neuen Textes mit neuen Bedeutungen. Neben der Heterogenität und Asymmetrie beeinflusst die diachrone Tiefe der Semiosphäre die Entstehung eines neuen Rechtsdokuments. Die gleichzeitige Existenz neuerer und älterer Texte führt dazu, dass die Verabschiedung eines neuen Rechtsdokuments keine willkürliche Veränderung ist, sondern einer bestimmten Richtung folgt, die sich aus der strukturellen Beschaffenheit der EU-kulturpolitischen Sphäre, d. h. den bereits vorhandenen Texten und Bedeutungsstrukturen ergibt. Anhand der Referenzen zu Beginn jedes EU-kulturpolitischen Rechtsdokuments lässt sich ablesen, auf welche älteren Texte dieses Rechtsdokument Bezug nimmt und an welcher Stelle es sich in das EU-kulturpolitische Gesamtgefüge einordnet. Dabei werden Begriffe aus vorangegangen Dokumenten wiederverwendet sowie teilweise in neue Bedeutungszusammenhänge gestellt. Ein Beispiel für dieses Vorgehen ist der im Zuge des Vertrags von Maastricht erstmals verabschiedete Kulturartikel, der für alle EU-kulturpolitischen Rechtsdokumente nach 1992 die rechtliche Grundlage bildet. Auf die in ihm enthaltenden Formulierungen wird in zahlreichen Dokumenten der EU-kulturpolitischen Rechtsakte zurückgegriffen. 15 EU-Kulturpolitik als symbolische Form 315 Die juristisch wichtigsten Texte der EU-Kulturpolitik, die Dokumente der kulturpolitischen Rechtsakte, werden nach dem Mitentscheidungsverfahren bzw. Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV; ehemals Art. 251 EGV) verabschiedet. Im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren bedarf jede Entscheidung sowohl der Zustimmung durch den Rat als auch durch das Parlament. Die Gesetzesvorschläge werden hingegen ausschließlich von der Kommission eingebracht, die darüber hinaus Stellung zu den Änderungsvorschlägen des Rates und des Parlaments bezieht. Durch ein bis drei Lesungen besteht ein intensiver Kontakt zwischen den EU-Organen. Aus kultursemiotischer Sicht handelt es sich bei diesem Verfahren um einen Translationsprozess, der nach gesetzlich festgelegten Regeln abläuft, dessen Verlauf jedoch auch durch die Heterogenität und Asymmetrie der EU-kulturpolitischen Sphäre sowie ihre diachrone Tiefe beeinflusst wird. 16 Neben den zentralen Subsemiosphären Rat, Parlament und Kommission versuchen die peripheren Bereiche Einfluss auf den kulturpolitischen Willensbildungsprozess zu nehmen, um auf diese Weise die finale Rechtsakte entsprechend ihrer Interessen mitzugestalten. Ihre Standpunkte bringen sie u. a. über Stellungnahmen und Erklärungen, d. h. über Texte im Lotmanschen Sinne ein. Ein aktuelles Beispiel für die Beeinflussung der EU-kulturpolitischen Willensbildung durch periphere Subsemiosphären ist das “Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO” aus dem Jahr 2005, dem die EU nicht nur beigetreten ist 17 , sondern dessen Leitgedanke - das Prinzip der sogenannten “exception culturelle” - sich auch in dem Entwurf über eine Verfassung für Europa wiederfindet (vgl. Schwencke 2006: 323-324). Daneben haben verschiedene Texte des Europarates die Verabschiedung zahlreicher EUkulturpolitischer Dokumente maßgeblich geprägt. 18 Die Satzung des Europarates von 1949 stellte die Weichen für weitere europäische Beschlüsse wie beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Europäische Kulturkonvention (1954), in der die Staaten Europas aufgefordert werden, gemeinsam zu handeln, um die europäische Kultur zu wahren und ihre Entwicklung zu fördern. Kultur wird hier verstanden als Instrument zur Förderung des Verständnisses zwischen den Völkern und des europäischen Bewusstseins (vgl. Europäische Kulturkonvention des Europarates 1954). Im Hinblick auf die Darstellung der Translationsprozesse und die damit verbundene Entstehung eines neuen Rechtsdokuments wäre es von großem Interesse, den Einfluss, den die verschiedenen Texte aus den Subsemiosphären auf die EU-kulturpolitischen Rechtsdokumente im Einzelnen ausüben, aufzuzeigen. Die Darstellung der komplexen semiotischen Zusammenhänge kann an dieser Stelle jedoch lediglich exemplarisch anhand eines einzelnen Textes erfolgen. Dafür wurde die im Jahr 1972 durch den Europarat verfasste Abschlusserklärung der Konferenz von Arc et Senans “Zukunft und kulturelle Entwicklung” ausgewählt (vgl. Abschlusserklärung der Konferenz von Arc et Senans 1972). Dieses Dokument, an dem Wissenschaftler wie Edgar Morin, Alwin Toffler und Georg Picht mitwirkten, verfolgt das Vorhaben, die Aufgaben der Kulturpolitik in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften zu definieren. Es betont die “Wertvorstellungen kultureller und sozialer Kräfte” als Gegengewicht zu den die Umwelt gefährdenden sozioökonomischen Prozessen und fordert: “Es müssen sich [aber] kulturelle Maßstäbe stärker durchsetzen, damit quantitatives Wachstum in verbesserte Lebensqualität überführt werden kann” (Abschlusserklärung der Konferenz von Arc et Senans 1972). Darüber hinaus wird in der Abschlusserklärung von Arc et Senans darauf hingewiesen, dass Kultur weit mehr als die traditionellen Kultursparten umfasst. Zur Kultur zählen laut dieses Textes auch die Massenmedien, das Erziehungssystem und die übrige Kulturindustrie. Plädiert wird für den Aufbau von Strukturen, die das lebenslange Lena Jöhnk 316 Lernen ermöglichen und die kulturelle Partizipation im Sinne einer Soziokultur fördern. In diesem Kontext lautet einer der vorgeschlagenen Programmpunkte: “Es sind Bedingungen für eine dezentralisierte und pluralistische ‘kulturelle Demokratie’ zu schaffen, an der der Einzelne aktiv Anteil nehmen kann” (Abschlusserklärung der Konferenz von Arc et Senans 1972). Der Einfluss, den die Abschlusserklärung von Arc et Senans auf die EU-kulturpolitische Sphäre hatte, war zunächst sehr gering. Die Organe der EU, allen voran der Rat und die Kommission, zeigten in den 1970er und 1980er Jahren keine Bereitschaft zur Entwicklung einer konzeptionellen Kulturpolitik, wie sie in diesem Dokument des Europarates gefordert wird. Ihre kulturellen Aktivitäten beschränkten sich auf einzelne so genannte “kulturelle Aktionen”. 19 Dies änderte sich erst mit der Verabschiedung des Vertrags von Maastricht und der damit einhergehenden Verankerung von Kultur im EU-Primärrecht. Das Bestreben, einzelne kulturelle Aktionen in einer kohärenten Kulturpolitik zusammenzuführen, zeigt sich neben dem Kulturartikel insbesondere in den “Schlussfolgerungen der im Rat vereinigten Minister für Kulturfragen vom 12. November 1992 zu Leitlinien für ein Kulturkonzept der Gemeinschaft” (Amtsblatt C 336). Dabei handelt es sich um das erste Dokument der EUkulturpolitischen Rechtsakte, das sich nicht auf die Kodifizierung einzelner kultureller Aktionen beschränkt, sondern EU-Kulturpolitik konzeptionell durchdenkt. In beiden Texten - dem Kulturartikel und den “Schlussfolgerungen zu Leitlinien für ein Kulturkonzept der Gemeinschaft” - wird eine starke Beeinflussung durch die Abschlusserklärung von Arc et Senans deutlich: Wie bereits erläutert, beschränkt der Kulturartikel Kultur nicht auf den hochkulturellen Bereich, sondern versteht sie in einem weiten Sinne, ohne diesen jedoch näher zu definieren. Darauf aufbauend kodifiziert Absatz 4 die Berücksichtigung von Kultur in allen Tätigkeitsbereichen der Union. Sowohl der Gedanke eines weiten Kulturbegriffs als auch die Berücksichtigung von Kultur in allen politischen Bereichen findet sich bereits in der Abschlusserklärung von Arc et Senans. Dort heißt es: “Sie [die Experten der Konferenz; L. J.] sind der Überzeugung, dass bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben (Europas) kulturpolitische Strategien eine entscheidende Rolle spielen können und sogar müssen.” (Abschlusserklärung der Konferenz von Arc et Senans 1972) Neben der Ausweitung des traditionellen Kulturbegriffs 20 nimmt die Abschlusserklärung von Arc et Senans den Schutz der kulturellen Vielfalt im Sinne einer Anerkennung kultureller Unterschiede vorweg: “Zentrale Aufgabe jeder Kulturpolitik muss es sein, die Bedingungen für Ausdrucksvielfalt und ihre freizügige Nutzung zu garantieren und weiterzuentwickeln. […] kulturelle Unterschiede müssen anerkannt und insbesondere dort unterstützt werden, wo sie bisher die geringsten Entwicklungschancen hatten.” (Abschlusserklärung der Konferenz von Arc et Senans) Diese Forderung wird zwanzig Jahre später in abgewandelter Form Teil des zentralen Konzeptes der EU-Kulturpolitik. Im Kulturartikel drückt es sich in folgender Formulierung aus: “Die Union leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.” (Art. 167, Abs. 1 AEUV) Ähnliche Formulierungen finden sich in den “Schlussfolgerungen zu Leitlinien für ein Kulturkonzept der Gemeinschaft” sowie in zahlreichen weiteren Dokumenten der EUkulturpolitischen Rechtsakte. 21 Nach Lotman führt die Spannung, die innerhalb der verschieden strukturierten Subsemiosphären sowie zwischen Zentrum und Peripherie besteht, zu EU-Kulturpolitik als symbolische Form 317 einer erhöhten Dynamik, die Umcodierung, d. h. Erneuerung, nach sich zieht (vgl. Lotman 1990: 290-293). Anhand der Abschlusserklärung von Arc et Senans zeigt sich, dass diese Erneuerung mitunter erst Jahre später einsetzt, was die Rekonstruktion EU-kulturpolitischer Translationsprozesse und die Messung des Einflusses, den die Texte periphere Subsemiosphären auf den EU-kulturpolitischen Bedeutungsraum ausüben, zusätzlich erschweren dürfte. 3 Die Untersuchung zentraler kulturpolitischer Begriffe als symbolische Formen In der EU-Kulturpolitik ist die häufige Verwendung derselben Begriffe und Formulierungen, zu denen u. a. “kulturelle Identität”, “Einheit in der Vielfalt” und “kulturelles Erbe” zählen, besonders auffällig. EU-kulturpolitische Rechtsdokumente schreiben der EU-Kulturpolitik beispielsweise die Aufgabe zu, die “Einheit in der Vielfalt” herzustellen und dabei die “kulturelle Identität” zu wahren. Im Kulturartikel (Art. 167 AEUV), der Kultur im Primärrecht der EU verankert, werden die regionale und nationale Vielfalt sowie das kulturelle Erbe betont, zu dessen Erhalt die Europäische Union einen Beitrag leistet. Auch jüngere Dokumente, wie beispielsweise die im Jahr 2007 durch den Rat der Europäischen Union verabschiedete europäische Kulturagenda, greifen diese Begriffe wieder auf. Laut Cassirers Symboltheorie erschließt sich die Bedeutung einzelner Begriffe erst aus dem Zusammenhang, in dem diese stehen. Wird nach der Bedeutung eines Begriffs gefragt, so kann diese nur in Relation zu einem bestimmten Zeichensystem in einem bestimmten Moment festgestellt werden. 22 In diesem Sinne kommunizieren Begriffe keine außerhalb der jeweiligen symbolischen Form liegende Bedeutung, sondern verschiedene, in diesem Fall der EU-Kulturpolitik immanente Bedeutungen. Verändert sich die Logik der symbolischen Form “EU-Kulturpolitik”, so verändern sich auch die Bedeutungen ihrer zentralen Begriffe (vgl. Cassirer 1994a: 250-252; Cassirer 1994c: 393). Von dieser Überlegung ausgehend ermöglicht die Untersuchung zentraler EU-kulturpolitischer Begriffe - sofern sie systemimmanent geschieht - Rückschlüsse auf aktuelle Bedeutungsstrukturen und Bedeutungsverschiebungen. Es wird möglich, den Wandel des Kulturverständnisses der EU aufzuzeigen. Vorrausetzung für die Darstellung dieses Wandels ist die Untersuchung der gleichen zentralen Begriffe in verschieden datierten Texten. Für die Untersuchung EU-kulturpolitischer Begriffe und Formulierungen wurde die komplette EU-kulturpolitische Rechtsakte, d. h. 88 einzelne Dokumente aus den Jahren 1975 bis Ende 2009 ausgewertet. 23 Im Einzelnen handelt es sich dabei um Beschlüsse vom Rat der Europäischen Union bzw. vom Rat und dem Europäischen Parlament, Entscheidungen vom Rat und dem Parlament, programmatische Entschließungen und Schlussfolgerungen des Rates sowie Empfehlungen und Mitteilungen der Kommission. 24 Zusammen mit dem Kulturartikel (Art. 167 AEUV) und der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Präambel des Vertrags über die Europäische Union wurden 91 EU-kulturpolitische Dokumente in die Auswertung einbezogen. Die Dokumente der EU-kulturpolitischen Rechtsakte können anhand der von Lotman angeführten Texteigenschaften Explizität, Strukturiertheit und Begrenztheit spezifiziert werden (vgl. Lotman 1993: 83-86). Es handelt sich um weitgehend abgeschlossene Strukturen, in denen sich die Funktionsweise der EU-Kulturpolitik sowie die in dieser Handlungssphäre vorherrschenden Bedeutungen manifestieren. Die EU-kulturpolitischen Rechtsdokumente verfügen über einen spezifischen Aufbau und über eine spezifische Rhetorik, anhand derer sie sofort als solche erkennbar werden. Durch ihre rechtliche Legitimation Lena Jöhnk 318 erhalten sie überdies eine Wertigkeit sowie eine Glaubwürdigkeit, die unabhängig von ihrem Inhalt besteht. Die Auswertung der Rechtsdokumente erfolgte tabellarisch. Begonnen wurde mit dem Kulturartikel, auf den sich seit dem Vertrag von Maastricht alle weiteren Dokumente der EUkulturpolitischen Rechtsakte berufen. Daran anschließend wurden die Präambeln des Vertrags über die Europäische Union und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie die EU-kulturpolitische Rechtsakte hinsichtlich der in ihnen häufig verwendeten Begriffe ausgewertet. 25 Der erste zentrale Begriff, der sowohl im Kulturartikel als auch in der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Präambel des EUV sowie in der EUkulturpolitischen Rechtsakte Verwendung findet, ist “kulturelles Erbe”. Während der Kulturartikel allgemein “das kulturelle Erbe von europäischer Bedeutung” (Art 167 AEUV) zu einem besonders schützenswerten sowie förderungswürdigen Gut erklärt, werden in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und im EUV verschiedene Spezifizierungen vorgenommen. In der Präambel der Charta heißt es: “In dem Bewusstsein ihres geistigreligiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität” (Konsolidierte Fassung der Charta der Grundrechte der EU: Amtsblatt C 83/ 391). Die Präambel des Vertrags über die Europäische Union spricht hingegen von dem “kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas” (Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union (Amtsblatt C 83/ 13). In der kulturpolitischen Rechtsakte wird der Begriff des kulturellen Erbes sowohl auf der allgemeinen Ebene als auch im Kontext eines bestimmten Kulturbereichs, wie beispielsweise der audiovisuellen Medien oder der Architektur, verwendet. Neben dem “kulturellen Erbe” ist “kulturelle Vielfalt” ein zentraler Begriff, der sowohl vom Kulturartikel als auch von der EU-kulturpolitischen Rechtsakte aufgegriffen wird. Besonders auffällig ist die Verwendung der “kulturellen Vielfalt” in Zusammenhang mit der Betonung der kulturellen Gemeinsamkeiten, etwa in Form des kulturellen Erbes. Folglich wird nicht nur der Begriff “Vielfalt” untersucht, sondern auch die Formulierung “Einheit in der Vielfalt”. Der dritte zentrale Begriff der untersuchten Texte ist “Identität”. Dieser Begriff ist zwar nicht im Kulturartikel enthalten, wird jedoch immer wieder in der EU-kulturpolitischen Rechtsakte in Form der “kulturellen Identität”, “nationalen Identität” und “europäischen Identität” verwendet. Die Untersuchung wird versuchen, diese verschiedenen Identitäten miteinander in Verbindung zu bringen, um Rückschlüsse auf das EU-Kulturverständnis ziehen zu können. Während “kulturelles Erbe”, “Vielfalt” und “Identität” bereits in frühen Dokumenten der EU-kulturpolitischen Rechtsakte Verwendung finden, wird der vierte als zentral befundene Begriff des “interkulturellen Dialogs” erstmals 1996 verwendet (vgl. Europäische Parlament und Rat der Europäischen Union 29.03.1996: Amtsblatt. L 99). 26 In den darauf folgenden Jahren gewinnt er jedoch an Bedeutung für die EU-Kulturpolitik, sodass er heute zu den zentralen Begriffen der untersuchten Rechtsakte gehört. 27 Bei dem “kulturellen Erbe”, der “Einheit in der Vielfalt”, der “Identität” und dem “interkulturellen Dialog” handelt es sich um Begriffe bzw. Formulierungen, die über die EU- Kulturpolitik hinaus in der nationalen und internationalen Kulturpolitik verwendet werden. Sie finden sich u. a. in den nationalen Kulturpolitiken verschiedener Staaten sowie in den Dokumenten der UNESCO und des Europarates. 28 Entscheidend ist jedoch die Einsicht, dass es laut Cassirers relationalem Begriffsverständnis keine einheitliche Bedeutung dieser Begriffe geben kann, da diese immer in Abhängigkeit des jeweiligen Handlungsraumes entstehen. Aus diesem Grund können mit der hier durchgeführten Untersuchung lediglich EU-Kulturpolitik als symbolische Form 319 Aussagen über die EU-Kulturpolitik bzw. das Kulturverständnis der EU getroffen werden, ohne diese Erkenntnisse auf andere kulturpolitische Handlungsräume übertragen zu können. 3.1 Einheit in der Vielfalt “Vielfalt” ist - wie anhand der tabellarischen Auswertung der Dokumente herausgefunden werden konnte - ein zentraler Begriff der EU-Kulturpolitik, wobei sie stets mit dem Begriff der “Einheit” gekoppelt wird und somit als “Einheit in der Vielfalt” Verwendung findet. Zunächst handelt es sich bei der “Einheit in der Vielfalt” bzw. “in Vielfalt geeint” um die Leitformel der Europäischen Union, wie sie im Jahr 2000 offiziell eingeführt wurde. 29 Zugleich stellt diese Formulierung jedoch ein Kernelement des EU-Kulturverständnisses dar, das bereits zu Beginn der EU-Kulturpolitik bzw. der Kulturpolitik der Europäischen Gemeinschaft bestanden hat. So heißt es in der Entschließung des Rates von 1985 zu einem der frühesten kulturpolitischen Projekte der Europäischen Union, der alljährlichen Benennung einer “Kulturstadt Europas”: “Die für Kulturfragen zuständigen Minister sind der Auffassung, dass durch die Veranstaltung ‘Kulturstadt Europas’ einer Kultur Ausdruck verliehen werden sollte, die sich in ihrer Entstehungsgeschichte und zeitgenössischen Entwicklung sowohl durch Gemeinsamkeiten als auch durch einen aus der Vielfalt hervorgegangenen Reichtum auszeichnet.” (Rat der Europäischen Union 13.07.1985: Amtsblatt C 153) In diesem Dokument wird die Existenz einer Kultur vorausgesetzt, die durch eine große Vielfalt gekennzeichnet ist, jedoch auch Gemeinsamkeiten aufweist, die auf ihre Entstehungsgeschichte und aktuelle Entwicklung zurückzuführen sind. Mit der Aktion “Kulturstadt Europas” soll dieser “Einheit in der Vielfalt” Ausdruck verliehen werden. Nachdem die “Einheit in der Vielfalt” in der Rechtsakte - abgesehen von diesem Dokument - in den späten 1980er Jahren lediglich an einer weiteren Stelle Verwendung fand (vgl. Rat der Europäischen Union 13.11.1986: Amtsblatt Nr. C 320), wurde sie im Jahr 1992 als zentraler Gedanke in den Art. 128 EGV aufgenommen. Dort verpflichtet sich die EU sowohl zur Förderung und zum Schutz der Vielfalt der Kulturen auf nationaler und regionaler Ebene 30 als auch zur Hervorhebung der Gemeinsamkeiten der verschiedenen Kulturen in Form des kulturellen Erbes (vgl. Art. 128, Abs. 1 EGV). Unmittelbar nach der Verabschiedung des Vertrags von Maastricht griff der Rat die Formulierung “Einheit in der Vielfalt” in den “Leitlinien für ein Konzept der Gemeinschaft” in leicht abgewandelter Form auf. In diesem Dokument wird dem Art. 128, Abs. 1 EGV wie folgt zugestimmt: “Wie in dem Vertrag über die Europäische Union vorgesehen, sollte das Kulturkonzept der Gemeinschaft die nationale und regionale Vielfalt wahren und zugleich das gemeinsame kulturelle Erbe hervorheben. Das impliziert ein kohärentes Verhalten, das schwerpunktmäßig auf gemeinschaftsweite Maßnahmen ausgerichtet ist, so daß kulturelle Tätigkeiten mit europäischer Dimension in allen Mitgliedstaaten gefördert und Anstöße für eine Zusammenarbeit zwischen den Staaten gegeben werden.” (Rat der Europäischen Union 12.11.1992: Amtsblatt C 336) Anhand dieses Zitates zeigt sich, inwiefern im Zuge des Vertrags von Maastricht das Bemühen um ein umfassendes Kulturkonzept einsetzte, mit dem die verschiedenen Fördermaßnahmen und die Gesetzgebung gebündelt werden können. In beiden Texten wird der Versuch unternommen, die Vielfalt mit der Einheit dialektisch zu verbinden und auf diese Weise eine ausgewogene, zukunftsorientierte Kulturpolitik zu erzeugen (vgl. Schwencke 2006: 265). Lena Jöhnk 320 Dabei entsteht der Eindruck, dass es der EU-Kulturpolitik scheinbar mühelos gelingt, die sich zunächst konträr gegenüberstehenden Begriffe “Einheit” und “Vielfalt” miteinander zu verbinden; d. h. zugleich die Gemeinsamkeiten in Form des kulturellen Erbes hervorzuheben und die kulturellen Unterschiede zu wahren. Eine genauere Untersuchung der “Einheit in der Vielfalt” anhand weiterer kulturpolitischer Dokumente kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis. Stellt man zunächst den Begriff “Einheit” in das Zentrum der Betrachtung, so zeigt sich bereits an den bisher angeführten Zitaten, dass die Einheit laut den in der EU-Kulturpolitik vorherrschenden Vorstellungen durch das Auffinden und Betonen eines gemeinsamen, in der Vergangenheit liegenden kulturellen Fundaments hergestellt wird. Aus dieser Überzeugung heraus wird immer wieder auf das kulturelle Erbe, die gemeinsamen Wurzeln und die gemeinsame Geschichte der EU-Mitgliedstaaten rekurriert (vgl. Rat der Europäischen Union 21.06.1994: Amtsblatt C 229). Besonders deutlich wird dieses Vorgehen in dem “Beschluss über das Programm ‘Kultur 2000’”, das die gemeinsamen Wurzeln als Kernbestandteile des Zusammengehörigkeitsgefühls in der EU betont: “Um die volle Zustimmung und Beteiligung der Bürger am europäischen Aufbauwerk zu gewährleisten, bedarf es einer stärkeren Hervorhebung ihrer gemeinsamen kulturellen Werte und Wurzeln als Schlüsselelemente ihrer Identität und ihrer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die sich auf Freiheit, Demokratie, Toleranz und Solidarität gründet.” (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 14.02.2000: Amtsblatt L 63) Entsprechend zählt zu den Zielen des “Programms ‘Kultur 2000’” eine immer engere Union der Völker, die u. a. durch die Hervorhebung des “gemeinsamen kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung” (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 14.02.2000: Amtsblatt L 63) hergestellt werden soll. Darüber hinaus werden in diesem Dokument die gemeinsamen Werte als einende Elemente angeführt. Laut einer Entschließung des Rates von 1999 ergeben sie sich aus den gemeinsamen Erfahrungen der EU-Mitgliedstaaten. Dort heißt es: “Das Zusammenwachsen Europas, das auf den Prinzipien der Menschenrechte, der Rechtstaatlichkeit und der Demokratie aufbaut, ist das Ergebnis geschichtlicher Erfahrungen, die heute unser gemeinsames Erbe bilden.” (Rat der Europäischen Union 28.10.1999: Amtsblatt C 324) Somit sind Werte ein Resultat der Vergangenheit, d. h. Teil eines kulturellen Erbes, das in den kulturpolitischen Dokumenten zur Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls herangezogen wird. Die Konstruktion einer Einheit durch den Rückgriff auf die Vergangenheit - sei es durch ein gemeinsames Erbe, eine gemeinsame Geschichte oder den sich daraus ergebenden Werten - impliziert immer eine Abgrenzung von einem “Anderen”, mit dem man keine Vergangenheit bzw. keine gemeinsamen Wurzeln und Werte teilt. Die Trennung zwischen dem “Eigenen” und dem “Anderen” zeigt sich besonders deutlich in den “Schlussfolgerungen des Rates zu den kulturellen und künstlerischen Aspekten der Bildung” aus dem Jahr 1994. In diesem Dokument wird die Rückbesinnung auf die eigene Kultur betont: “Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Völkern setzt voraus, daß man in der Kultur des eigenen Landes und der eigenen Region hinreichend verwurzelt ist und sich den gemeinsamen Werten bewusst ist.” (Rat der Europäischen Union 21.06.1994: Amtsblatt C 229). Insbesondere die Formulierung “hinreichend verwurzelt” deutet darauf hin, dass unter der eigenen Kultur eher Traditionen als aktuelle Entwicklungen gefasst werden. Eine ähnliche EU-Kulturpolitik als symbolische Form 321 Argumentationsweise findet sich in dem “Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. März 1996 über ein Programm zur Förderung künstlerischer und kultureller Aktivitäten mit europäischer Dimension (Kaleidoskop)”. Dieses Dokument stellt bezüglich einer Einheit nach außen fest: “Europa, als Einheit betrachtet, entfaltet seine deutlichsten und durchschlagendsten Wirkungen nicht nur als geographische, politische, wirtschaftliche und soziale, sondern auch als kulturelle Realität. Das Bild Europas in der Welt wird weitgehend von der Stellung und der Stärke seiner kulturellen Werte bestimmt.” (Europäische Parlament und Rat der Europäischen Union 29.03.1996: Amtsblatt L 99 Kaleidoskop) Hinsichtlich des Begriffs “Einheit” kann also festgehalten werden, dass kulturelle Gemeinsamkeiten in Form des kulturellen Erbes, der gemeinsamen Geschichte und der kollektiven Werte zum einen als wesentliche Komponenten für das Voranschreiten der europäischen Integration betrachtet werden (vgl. Rat der Europäischen Union 21.01.2002: Amtsblatt C 32). Zum anderen fungieren sie als Möglichkeit, die Gemeinsamkeiten der europäischen Völker in den Vordergrund zu stellen, um auf diese Weise zu einer einheitlichen Außendarstellung der EU beizutragen. Sie dienen - wie in dem Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über das “Programm ‘Kultur 2007-2013’” festgehalten wurde - dazu, “dem Erscheinungsbild der Europäischen Union in der Welt mehr Kontur zu geben” (Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union 12.12.2006: Amtsblatt L 372 vom 27.12.2006). Neben der Einheit wird, wie anfangs erwähnt, stets die Vielfalt hervorgehoben. Geht es bei der Einheit um die Auffindung bzw. Schaffung von Gemeinsamkeiten, so werden im Zusammenhang mit der Vielfalt die kulturellen Unterschiede betont. Der Verweis auf diese Vielfalt ist nicht nur ein zentrales Element des Art. 167 AEUV, sondern findet sich auch in zahlreichen anderen Dokumenten der EU-kulturpolitischen Rechtsakte wieder. Eine genauere Untersuchung dieses Begriffs anhand des vorliegenden Quellenmaterials führt zu dem Ergebnis, dass Vielfalt in den kulturpolitischen Dokumenten in einem additiven und statischen Sinne verwendet wird. Die Vielfalt der Kulturen ist in der EU-Kulturpolitik häufig ein Synonym für die Vielfalt der National- und Regionalkulturen bzw. der Kulturen der europäischen Völker. 31 Die untersuchten kulturpolitischen Dokumente vermitteln die Vorstellung von Kulturen als homogene, fest umrissene Entitäten, die in ihrer Pluralität nebeneinander stehen. 32 Betont wird stets, dass die kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern Europas erhalten und gefördert werden sollen, indem man ihnen mit Respekt und Toleranz begegnet und sie schützt. Gefordert wird die “unerlässliche Achtung der kulturellen Vielfalt unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips” (Rat der Europäischen Union 21.01.2002: Amtsblatt C 32) als Grundlage für die Kultur Europas. In der “Entschließung des Rates vom 28. Oktober 1999 über die Einbeziehung der Geschichte in die kulturelle Tätigkeit der Gemeinschaft” werden die kulturellen Unterschiede, insbesondere im Hinblick auf die damals unmittelbar bevorstehende EU-Erweiterung, wie folgt betont: “Die Zusammenarbeit und das Zusammenwachsen Europas sollten auf der Kenntnis der kulturellen Unterschiede und deren Erhaltung und auf dem gegenseitigen Verständnis der Völker Europas beruhen. Dies gilt insbesondere angesichts der bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union.” (Rat der Europäischen Union 28.10.1999: Amtsblatt C 324) Berücksichtigt man die politische Situation, unter der diese Entschließung kodifiziert wurde, so wird schnell deutlich, dass hier die Interessen der Nationalstaaten im Vordergrund stehen, die um ihre Souveränität im Kulturbereich fürchten. Betont wird der status quo, d. h. der Lena Jöhnk 322 Erhalt der kulturellen Unterschiede. Nach dem Verständnis der EU scheint ein Zusammenwachsen Europas ohne eine Vermischung der Kulturen einherzugehen. Der Logik dieser Denkweise entspricht es, verschiedene Kulturen und Weltverständnisse, die sich teilweise überschneiden und gegenseitig bedingen oder sogar in ein und derselben Person zusammentreffen, auszuschließen. Anstatt eines dynamischen “Miteinanders” wird ein tolerantes “Nebeneinander” der Kulturen angestrebt. Dies bestätigt sich in den Schlussfolgerungen des Rates von 1994, die sich mit der Integration der Kinder von Wanderarbeitern befassen. In diesem Dokument gilt die Verwurzelung im “Eigenen” als Voraussetzung für die Aufgeschlossenheit gegenüber dem “Anderen”: “Das bedeutet, daß in den Schulen wie in den Hochschulen das Bewusstsein für Kultur und Geschichte der Völker Europas geschärft werden muß. […] Aufgeschlossenheit für die Kultur anderer Völker setzt voraus, daß man in der Kultur des eigenen Landes und der eigenen Region hinreichend verwurzelt ist und sich gemeinsamer Werte bewusst ist.” (Rat der Europäischen Union 21.06.1994: Amtsblatt C 229) In den letzten Jahrzehnten wurde verstärkt von einem “Europa der Regionen” gesprochen, was sich auch in der im Art. 167 AEUV gewählten Formulierung widerspiegelt. Obwohl im Kulturartikel neben der “nationalen Vielfalt” die Wahrung der “regionalen Vielfalt” betont wird, konnte sich ein Denken in Regionalkulturen bisher kaum durchsetzen. Die schwache Rolle des Ausschusses der Regionen, der über keine legislativen Kompetenzen verfügt, ist ein weiteres Indiz dafür, dass die nationale Ebene, wie sie durch den Rat repräsentiert wird, immer noch vorherrschend ist (vgl. u. a. Rat der Europäischen Union 20.01.997: Amtsblatt C 36). Überdies durchbricht ein Denkmuster, das von den Regionen anstatt von den Nationen ausgeht, die Vorstellung von den in sich geschlossenen, relativ homogenen kulturellen Einheiten nur scheinbar. Die Regionalkulturen werden analog zu den Nationalkulturen als Kollektive verstanden, die durch jeweils eigene Charakteristika gekennzeichnet sind und als abgrenzbare kulturelle Einheiten wahrgenommen werden können. In der Gemeinschaftscharta der Regionalisierung des Europäischen Parlaments wird die Region als “ein Gebiet, das aus geographische Sicht eine deutliche Einheit bildet, oder aber ein gleichartiger Komplex von Gebieten, die ein in sich geschlossenes Gefüge darstellen und deren Bevölkerung durch bestimmte gemeinsame Elemente gekennzeichnet ist” beschrieben (vgl. Europäisches Parlament 1988: Straßburg). 3.2 Europäische Identität Der Begriff der “europäischen Identität” wurde bereits sehr früh von der EU-Kulturpolitik aufgegriffen. Erstmalige Verwendung fand er 1973 auf der Gipfelkonferenz von Kopenhagen, auf der die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten eine Erklärung zur europäischen Identität abgaben. Im Rahmen einer intensiven Auseinandersetzung mit der europäischen Identitätsbildung wurde auch die Kultur als Identitätsträger diskutiert. Das auf dieser Konferenz verabschiedete “Dokument für die europäische Identität” berief sich hauptsächlich auf das gemeinsame kulturelle Erbe sowie die gemeinsamen Werte, deren Hervorhebung zur Bildung einer europäischen Identität führen sollte (vgl. Staats- und Regierungschefs 14.12.1973: Kopenhagener Gipfel). In der EU-kulturpolitischen Rechtsakte wird der Begriff “europäische Identität” unterschiedlich verwendet. Die Untersuchung der einzelnen Dokumente zeigt, dass es nach EU-Kulturpolitik als symbolische Form 323 Auffassung der EU-Kulturpolitik nicht die Identität an sich, sondern verschiedene Identitäten gibt. Die EU-Kulturpolitik unterscheidet zunächst zwischen den “kulturellen Identitäten der Nationen bzw. der Regionen” und der “europäischen Identität”. Dabei werden die nationalen und regionalen Identitäten nicht im Widerspruch zur europäischen Identität gesehen, sondern für gleichzeitig realisierbar gehalten. Die EU strebt danach, eine europäische Identität als ein kollektives europäisches Bewusstsein aufzubauen, ohne dabei die nationalen Identitäten zu zerstören. Insbesondere die Wahrung letzterer wird von der EU-Kulturpolitik immer wieder in unterschiedlicher Form betont. Dazu zählt der unablässige Verweis auf die Achtung und Förderung der nationalen Vielfalt sowie auf das Subsidiaritätsprinzip (vgl. u. a. Art. 167 AEUV; Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union 6.10.1997 Amtsblatt L 291 Ariane). “Europäische Identität”, so zeigt die Verwendung dieses Begriffs, wird auf zwei unterschiedliche Weisen verstanden: zum einen im Sinne eines kulturellen Fundaments, bestehend aus der gemeinsamen Geschichte, zum anderen als ein dynamisches Gefüge, das sich in der Interaktion der Kulturen herausbildet. Bei ersterer Vorstellung liegt der Schwerpunkt auf der Rückbesinnung auf die Vergangenheit als einendes Moment, welches es ausgehend von dem kulturellen Erbe und den Werten der EU zu vermitteln gilt (vgl. Rat der Europäischen Union und der im Rat vereinigten für Kulturfragen zuständigen Minister 13.11.1986: Amtsblatt C 320). So wird in der “Entschließung des Rates über die Einbeziehung der Geschichte in die kulturelle Tätigkeit der Gemeinschaft” für eine Betonung der gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen plädiert, um auf diese Weise das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken: “Das Wissen um gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Bürger Europas und trägt zur Herausbildung eines europäischen Bewußtseins bei.” (Rat der Europäischen Union 28.10.1999: Amtsblatt C 324) Im “Beschluss über das Programm ‘Kultur 2000’” (Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union 14.12.2000: Amtsblatt L 063) wird Identitätsbildung ebenfalls durch die Hervorhebung der gemeinsamen Vergangenheit versucht: “Es bedarf einer stärkeren Hervorhebung der gemeinsamen kulturellen Werte und Wurzeln als Schlüsselelemente der Identität der europäischen Bürger.” Darüber hinaus wird in demselben Dokument jedoch auch der “gemeinsame Kulturraum der Europäer”, der zu einer “lebendigen Realität” werden soll, betont. Die Formulierung “lebendige Realität” deutet eine Entwicklung in der EU-Kulturpolitik an, die zur zweiten Vorstellung von Identität bzw. Identitätsbildung geführt hat. In den letzten zehn Jahren ist neben den statischen und rückwärtsgewandten Identitätsbegriff die Auffassung von einer europäischen Identität als die prozessuale Herausbildung eines europäischen Bewusstseins getreten. Die Bildung einer europäischen Identität wird nicht mehr ausschließlich durch die Betonung der Vergangenheit herzustellen versucht, sondern auch durch die aktive Gestaltung eines Europas der Gegenwart. Deutlich wird dieses neue Denkmuster in der “Entschließung zur Festlegung eines Aktionsplans zur Förderung der Mobilität” aus dem Jahr 2000, in der sich der Rat für die Schaffung eines europaweiten Raumes des Wissens ausspricht, der durch das gegenseitige Kennenlernen sowie durch die Öffnung gegenüber anderen Kulturen und das Lernen in einer mehrsprachigen Umgebung entsteht (vgl. Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 14.12.2000: Amtsblatt C 371). Auch der “Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über das ‘Programm Kultur’” betont die kulturelle Interaktion zur Herstellung eines gemeinsamen Kulturraumes: “Um den gemeinsamen Kulturraum der Völker Europas zu einer Realität werden zu lassen, ist es notwendig, die grenzüberschreitende Mobilität der Kulturakteure, die transnationale Ver- Lena Jöhnk 324 breitung von künstlerischen und kulturellen Werken und Erzeugnissen sowie den interkulturellen Dialog und Austausch zu fördern.” (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 12.12.2006: Amtsblatt L 372) Besonders deutlich wird der Wandel des Identitätsbegriffs in der “Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs 2008”. In diesem Dokument werden zwar immer noch die “gemeinsamen kulturellen Werte und Wurzeln” als zentrale Elemente der Identitätsbildung betont, gleichzeitig wird jedoch die unmittelbare Einbindung der Bürger in die europäische Integration thematisiert, um die Europabürgerschaft auf diese Weise greifbarer zu machen (vgl. Europäische Parlament & Rat der Europäischen Union 18.12.2006: Amtsblatt L 412). Der Wandel des Identitätsbegriffs deutet auf eine Entwicklung des EU-Kulturverständnisses hin, das weniger von den Kulturen als in sich geschlossene Entitäten ausgeht, sondern die kulturelle Dynamik mitdenkt. Im Folgenden sollen die Begriffe “gemeinsames kulturelles Erbe” und “interkultureller Dialog”, die im Zuge der Erläuterungen zu “Vielfalt” und “Europäische Identität” bereits mehrfach erwähnt wurden, noch einmal gesondert vorgestellt werden, um an ihnen eine mögliche Entwicklung des EU-Kulturverständnisses aufzuzeigen. 3.3 Gemeinsames kulturelles Erbe Das “gemeinsame kulturelle Erbe” stellt, so zeigt die Untersuchung der ausgewählten EUkulturpolitischen Quellen, von Beginn an einen Schwerpunkt in der EU-Kulturpolitik dar. In der gültigen kulturpolitischen Rechtsakte wird das gemeinsame kulturelle Erbe immer wieder als einendes Element der EU hervorgehoben, das eines besonderen Schutzes bedarf. 33 Ausgehend von der zentralen Stellung, die es in der EU-kulturpolitischen Rechtsakte einnimmt, stellt sich die Frage, was in der EU-Kulturpolitik genau unter diesem Begriff verstanden wird und welche Funktionen ihm zugeschrieben werden. In den “Leitlinien für ein Kulturkonzept der Gemeinschaft” von 1992 wird eine Unterteilung in bewegliches und unbewegliches kulturelles Erbe vorgenommen (vgl. Rat der Europäischen Union 12.11.1992: Amtsblatt C 336). Daneben existiert eine Auflistung der verschiedenen Formen des “europäischen Kulturguts in Form von Kunstwerken und sonstigen Werken von kulturellem und historischem Wert, wozu auch Bücher und Archive zählen.” (Rat der Europäischen Union 13.11.1986 Amtsblatt C 320) Das architektonische Erbe wird aus dieser Aufzählung bewusst ausgeklammert und gesondert behandelt, wodurch ihm ein besonders hoher Stellenwert zukommt. Darüber hinaus liegt in der gültigen kulturpolitischen Rechtsakte keine genauere Definition des kulturellen Erbes vor. Eine Begriffsanalyse ermöglicht es jedoch, weitere Aussagen zu treffen. Zunächst scheint es, als gehörten insbesondere Werke der Hochkultur zum europäischen Erbe. Die Erwähnung der “sonstigen Werke von kulturellem und historischem Wert” lässt diese Vermutung jedoch offen und ermöglicht es ebenso, Kunsthandwerk und Traditionen sowie andere kulturelle Ausdrucksformen zum europäischen kulturellen Erbe zu zählen. Die Betonung der “europäischen Bedeutung” suggeriert, dass nicht jede kulturelle Ausdrucksform, die in Europa entstanden ist bzw. entsteht, automatisch zum gemeinsamen kulturellen Erbe gehört. Wäre dies der Fall, so müssten auch geschichtlich belastete Kunstwerke, wie beispielsweise DDR-Staatskunst oder Propagandakunst sowie in den Mitgliedstaaten entstandene islamische Kunst zum gemeinsamen europäischen Erbe gezählt werden. Ob solche kulturellen Werke in das Verständnis des europäischen Kulturerbes ein- oder ausgeschlossen EU-Kulturpolitik als symbolische Form 325 werden, wird in den EU-kulturpolitischen Rechtsdokumenten nicht beantwortet. Welches Erbe nach der Definition der EU von europäischer Bedeutung ist und welches Erbe dieser Bedeutung entbehrt, wird an keiner Stelle erläutert. 34 Auch die Frage, welche Kulturgüter generell bedeutsam genug sind, um zum europäischen Kulturerbe gezählt zu werden, bleibt in den kulturpolitischen Rechtsdokumenten unbeantwortet. Darüber hinaus wird die Frage, wodurch bestimmt werden kann, was zum europäischen und was zum nationalen Kulturerbe gehört, ausgespart. Die Unsicherheit im Umgang mit der Formulierung “gemeinsames europäisches Kulturerbe” zeigt sich an prominenter Stelle im Primärrecht der EU. In Art. 167 AEUV werden das “gemeinsame kulturelle Erbe” sowie das “kulturelle Erbe von europäischer Bedeutung” erwähnt; die Formulierung “gemeinsames europäisches Kulturerbe” (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 12.12.2006: Amtsblatt L 372), wie sie sich in dem “Beschluss über das Programm ‘Kultur 2007-2013’” Verwendung findet, wird hingegen ausgespart. Jan Holthoff weist darauf hin, dass es sich hierbei um die gezielte Umgehung dieses Begriffs zugunsten des Subsidiaritätsprinzips handele. Die Formulierung “gemeinsames europäisches Kulturerbe” wurde seines Erachtens umgangen, um den Eindruck von Zentralismus und Homogenisierung zu vermeiden (vgl. Holthoff 2008: 181-182). Das Kulturerbe im Sinne der EU-Kulturpolitik ist nach diesem Verständnis in erster Linie ein nationales Kulturerbe. Erst in zweiter Linie gewinnt es eine europäische Dimension. In Bezug auf das kulturelle Erbe bleibt die EU-Kulturpolitik somit stark im nationalstaatlichen Denken verhaftet. In der Formulierung “das kulturelle Erbe ist der Ausdruck der nationalen und regionalen Identität und der Bindungen zwischen den Völkern” (Europäischen Parlament & Rat der Europäischen Union 13.10.1997: Amtsblatt L 305) wird dies noch einmal betont. Gleichzeitig zeigt sich jedoch der Wille, die europäische Dimension zu stärken, d. h. einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund aufzufinden bzw. zu erfinden, in den die einzelnen kulturellen Entitäten integriert werden können. Dadurch erklärt sich der Versuch, etwas zugleich zu einem nationalen und europäischen Kulturerbe zu deklarieren, ohne zu definieren, worin letzteres besteht. Die Existenz eines “gemeinsamen Kulturerbes von europäischer Bedeutung” (Art. 167 AEUV) wird in den Dokumenten der EU-Kulturpolitik nicht hinterfragt, sondern als gegeben vorausgesetzt. Dies zeigt sich auch in der Präambel des Vertrags über die Europäische Union (EUV). Hier wird das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas angeführt: “Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.” (Präambel des Vertrags über die Europäische Union) Ausgehend von der Existenz eines gemeinsamen kulturellen Erbes wird lediglich der Umstand problematisiert, dass dieses gemeinsame Erbe der Bevölkerung der europäischen Gemeinschaft nicht bewusst genug ist. Aus Sicht der EU-Kulturpolitik ergibt sich daraus die Aufgabe, das gemeinsame kulturelle Erbe stärker zur Geltung zu bringen und zur Kenntnis der europäischen Geschichte beizutragen, um auf diese Weise das Zusammengehörigkeitsgefühl zu steigern. 35 In der “Entschließung des Rates über die Einbeziehung der Geschichte in die kulturelle Tätigkeit der Gemeinschaft” heißt es dazu: “Das Wissen um gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Bürger Europas und trägt zur Herausbildung eines europäischen Bewußtseins bei.” (Rat der Europäischen Union 28.10.1999) Lena Jöhnk 326 An dieser Stelle zeigt sich die enge Verschränkung der Formulierung “gemeinsames kulturelles Erbes von europäischer Bedeutung” (Art. 167 AEUV) mit dem Begriff der kulturellen Identität. Auch in anderen Dokumenten wird das gemeinsame kulturelle Erbe zur Konstruktion einer europäischen Identität eingesetzt. Beispiele dafür sind die Präambel des Vertrags über die Europäische Union (EUV) sowie die Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. In beiden Präambeln wird gleich zu Beginn das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe bzw. das geistig-religiöse und sittliche Erbe erwähnt und als das Fundament bezeichnet, auf das sich die Werte der Union stützen. Das gemeinsame europäische Erbe wird somit als gegeben vorausgesetzt und zur Schaffung von Gemeinsamkeiten verwendet, ohne jedoch zu explizieren, worin es besteht. Welche kulturellen Werke dazu zählen, bleibt ebenfalls weitgehend offen. 3.4 Der interkulturelle Dialog: Aufhebung des statischen Kulturverständnisses Der Begriff “interkultureller Dialog” findet sich erstmals im Jahr 1996 in einem Dokument des Rates. Dabei handelt es sich um den “Beschluss zu dem Programm zur Förderung künstlerischer und kultureller Aktivitäten mit europäischer Dimension (Kaleidoskop)” (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 29.03.1996: Amtsblatt L 99; Kaleidoskop). Betont wird das Ziel, den interkulturellen Dialog durch die transnationale Zusammenarbeit zu erleichtern. Wie sich anhand verschiedener Dokumente der Rechtsakte zeigen lässt, wird der interkulturelle Dialog in den Folgejahren zu einem zentralen Anliegen der EU-Kulturpolitik. 36 In 2006 entschieden der Rat und das Parlament, das Jahr 2008 zum Jahr des interkulturellen Dialogs zu ernennen und dadurch der zunehmenden kulturellen Komplexität der EU Rechnung zu tragen (vgl. Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 18.12.2006: Amtsblatt L 412). Der verstärkten Etablierung des Begriffs des interkulturellen Dialogs in der EU-Kulturpolitik geht laut diesem Dokument die Einsicht voraus, dass das Bild der Kulturen als klar voneinander abgrenzbare Entitäten, die lediglich miteinander im Austausch stehen, nicht der europäischen Realität entspreche und durch eine dynamischere Vorstellung ersetzt werden müsse. Anstatt von den Nationen bzw. Regionen als kulturelle Entitäten auszugehen, werden in diesem Dokument die einzelnen Bürger angesprochen. In der “Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Jahr des interkulturellen Dialogs” heißt es: “Eine Kombination verschiedener Faktoren - mehrere Erweiterungen der Europäischen Union, aufgrund des Binnenmarktes gestiegene Mobilität, alte und neue Migrationsbewegungen, der intensive Austausch in den Bereichen Handel, Bildung und Freizeit sowie die Globalisierung im Allgemeinen - führt dazu, dass die Zahl der Interaktionen zwischen den europäischen Bürgern und aller jener Menschen, die in der Europäischen Union leben, und zwischen unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, ethischen Gruppen und Religionen innerhalb und außerhalb Europas ständig zunimmt.” (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 18.12.2006: Amtsblatt L 412) Gegenüber früheren Dokumenten der Rechtsakte zeichnet sich in diesem Dokument von 2006 eine Weiterentwicklung hin zu einem dynamischen Kulturverständnis ab, die mit dem Begriff des “interkulturellen Dialogs” einhergeht. Letzterer wird als Chance begriffen, zu einer “pluralistischen und dynamischen Gesellschaft innerhalb Europas und in der Welt” (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 18.12.2006: Amtsblatt L 412) beizutragen. Im Gegensatz zu dem Begriff des kulturellen Erbes ist der Begriff des interkulturellen Dialogs EU-Kulturpolitik als symbolische Form 327 nicht rückwärtsgewandt, sondern bezieht sich auf die aktuelle kulturelle Gestaltung der Europäischen Union. In diesem Sinne wird der interkulturelle Dialog verstanden als ein “Prozess, in dem alle in der Europäischen Union lebenden Menschen ihre Fähigkeit verbessern können, in einem offeneren aber auch komplexeren kulturellen Umfeld zurechtzukommen […].”(Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 18.12.2006: Amtsblatt L 412) Die Entwicklung hin zu einem dynamischen Kulturverständnis lässt sich besonders deutlich in der “Entschließung des Rates zu einer europäischen Kulturagenda” aus dem Jahr 2007 erkennen. In diesem Dokument wird die Förderung des interkulturellen Dialogs durch verstärkte Bemühungen in den Bereichen Mobilität, Austausch und Bildung beschlossen (vgl. Rat der Europäischen Union 16.11.2007: Amtsblatt. C 287). Dennoch werden die Nationalstaaten sowie das Subsidiaritätsprinzip auch in den aktuellsten Dokumenten stark betont. Der “Beschluss über das Programm ‘Kultur 2007-2013’” sieht beispielsweise die Notwendigkeit, nicht nur den interkulturellen Dialog, sondern auch den internationalen Dialog im Rahmen von Sondermaßnahmen zu fördern (vgl. Europäische Parlament & Rat der Europäischen Union 12.12.2006: Amtsblatt L 372). Ähnlich wie dem kulturellen Erbe wird auch dem interkulturellen Dialog eine identitätsbildende Funktion zugeschrieben. Dabei liegt jedoch nicht das rückwärtsgewandte Identitätsverständnis zugrunde, sondern jene Auffassung, die die Identitätsbildung als dynamischen Prozess versteht. In der Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Rates zum Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs heißt es: “Der interkulturelle Dialog trägt zur Schaffung eines Gefühls für eine europäische Identität bei, indem er Unterschiede einbezieht und die verschiedenen Aspekte der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft deutlich macht.” (Europäische Parlament & Rat der Europäischen Union: 18.12.2006 Dezember 2006: Amtsblatt L 412) Darüber hinaus soll der interkulturelle Dialog zur Förderung eines “aktiven und weltoffenen europäischen Bürgersinn[s]” (Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union: 18.12.2006 Dezember 2006: Amtsblatt L 412) beitragen, wobei hervorgehoben wird, dass dieser Bürgersinn alle Menschen, die zeitweilig oder ständig in der EU leben, erfassen soll. In diesem Verständnis geht es nicht primär um die Wahrung der kulturellen Unterschiede, sondern um das wechselseitige Kennenlernen und die Förderung des Austauschs sowohl zwischen den europäischen Kulturen als auch zwischen den europäischen und den außereuropäischen Kulturen (vgl. Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union 14.02.2000: Amtsblatt L 63). Zu diesem Ziel wurden zahlreiche Einzelmaßnahmen beschlossen. Dazu zählen u. a. der Aufbau eines kulturellen Multimediamarktes (vgl. Rat der Europäischen Union 04.04.1995: Amtsblatt C 247) und die Förderung der Mobilität (vgl. Rat der Europäischen Union 14.12.2000: Amtsblatt C 371). 3.5 Ergebnis der Untersuchung der EU-kulturpolitischen Rechtsdokumente Abschließend soll die Untersuchung der verschiedenen Begriffe als symbolische Formen noch einmal zusammengefasst und im Hinblick auf das EU-Kulturverständnis interpretiert werden. Wie sich gezeigt hat, lässt sich unter der “Einheit in der Vielfalt” weniger ein dynamischer, sich wandelnder Kulturraum verstehen, als ein Kompromiss, der sich aus dem Ringen zwischen der supranationalen Ebene der EU und der Ebene der Mitgliedstaaten ergibt. Diese Lena Jöhnk 328 Diskrepanz schlägt sich in den analysierten Begriffen und Formulierungen der EU-kulturpolitischen Rechtsdokumente nieder. Der Schutz und die Förderung der Vielfalt durch die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips werden in der EU-Kulturpolitik zunächst als eine ausschließlich positive Entwicklung dargestellt. Anhand des verwendeten Quellenmaterials zeigt sich jedoch, dass der Begriff der Vielfalt, wie er von der EU verwendet wird, weniger von einer dynamischen “Kultur der Vielfalt” ausgeht als von der “Vielfalt der Kulturen” im Sinne fest umrissener, voneinander abgrenzbarer kultureller Entitäten. 37 Die kulturelle Vielfalt zu wahren bedeutet in erster Linie, den Schutz dieser kulturellen Entitäten 38 sowie die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, das die Handlungsfreiheit der Mitgliedstaaten im Kulturbereich garantiert. Die Betonung der Wahrung der Subsidiarität kann in erster Linie auf die Angst der Mitgliedstaaten vor einer kulturellen Homogenisierung und Beschneidung ihrer Rechte im Kulturbereich zurückgeführt werden. 39 Dieser Eindruck bestätigt sich durch die Untersuchung des Begriffs “gemeinsames kulturelles Erbe”, anhand dessen sich zeigt, wie stark die Interessen der Nationalstaaten die EU-Kulturpolitik bestimmen. Die Vermeidung der Formulierung “gemeinsames europäisches Kulturerbe” steht stellvertretend für ein Kulturverständnis, das dazu tendiert, das “Eigene” vom “Anderen” zu trennen sowie diese Trennung zu betonen. Das kulturelle Erbe ist in erster Linie ein nationales Kulturerbe, erst an zweiter Stelle gewinnt es europäische Bedeutung. Der Tendenz zur Abgrenzung bzw. Abhebung steht das Bemühen gegenüber, eine Einheit im Sinne einer Identifikation der Bürger mit der EU herzustellen. Das Verständnis von Kulturen als fest umrissene Einheiten bzw. Nationalkulturen, die dennoch ein gemeinsames Bild im Sinne einer gemeinsamen kulturellen Identität ergeben, führt zu der Dringlichkeit, Verbindungen zwischen diesen herzustellen oder eine gemeinsame Basis zu (er)finden. Mit der fortwährenden Betonung einer gemeinsamen Geschichte und gemeinsamer Werte, die sich aus dieser Geschichte entwickelt haben, sowie des gemeinsamen kulturellen Erbes wird der Versuch unternommen, den kulturellen Entitäten eine gemeinsame Hülle zu geben. Die Verwendung des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung sowie einer gemeinsamen Geschichte zur Herstellung einer Einheit erfolgt selektiv. Nicht jedes innerhalb der EU-Mitgliedgliedstaaten entstandene kulturelle Erzeugnis gilt als Teil des kulturellen Erbes. Vielmehr findet eine Auswahl statt, die mit der Konstruktion eines “kulturellen Erbes von europäische Bedeutung” einhergeht. Für eine Spezifierung der Inhalte, die dieses Erbe umfasst, müssten jedoch weitere Texte, wie beispielsweise Förderprogramme, ausgewertet werden. Die Dokumente des Primärrechts und der EU-kulturpolitischen Rechtsakte erlauben diesbezüglich keine weitere Präzision. Festgestellt werden kann lediglich, dass es sich bei dem “gemeinsamen kulturellen Erbe” bzw. dem “kulturellen Erbe von europäischer Bedeutung” um ausschließlich positiv konnotierte Formulierungen handelt. Erkennbar wird dies anhand der Forderungen nach dessen Schutz und Vermittlung, wie sie in den kulturpolitischen Rechtsdokumenten immer wieder gestellt werden (vgl. Rat der Europäischen Union 17.06.1994: Amtsblatt C 235). Weder die Existenz eines kulturellen Erbes noch die auf diesem Erbe basierende europäische Identität werden hinterfragt. Dieses Denkmuster entspricht der Vorstellung von Identität als gegebener Tatsache, die den Bürgern von höherer Ebene vermittelt werden kann. Die Errichtung von EU-Denkmälern oder auch das Schreiben einer europäischen bzw. einer EU-Geschichte zur Identitätsvermittlung wären Maßnahmen im Sinne eines solchen Denkens. Die Art und Weise, auf die die Begriffe “Einheit”, “Vielfalt”, “kulturelles Erbe” und teilweise “kulturelle Identität” in der EU-Kulturpolitik Verwendung finden, zeugt von einem statischen und rückwärtsgewandten Verständnis von Kultur. Hingegen werden die kulturelle EU-Kulturpolitik als symbolische Form 329 Interaktion und Dynamik kaum berücksichtigt. Es zeigt sich, dass Kultur nicht als verbindender, sondern als separierender Begriff verwendet wird. Die kulturelle Vielfalt ist ein Synonym für die nationale bzw. regionale Vielfalt, die es im Interesse der Nationalstaaten zu schützen gilt. Die Interaktion der Kulturen, die zu neuen kulturellen Formen führt, wird mit einem solchen Kulturverständnis negiert. Angesichts dieser Feststellung kann Kaufmann beigepflichtet werden, die in der Verwendung des Begriffs “Vielfalt” in der EU-Kulturpolitik einzig die Betonung der Gleichheit bzw. der Gleichberechtigung verschiedener, leicht voneinander abgrenzbarer und spezifizierbarer Kulturen erkennt: “Im Grunde bleibt dies [die Einheit in der Vielfalt, L. J.] ein statisches Konzept, das uns weniger auf aktuelle kulturwissenschaftliche oder philosophische Ansätze verweist, als vielmehr beispielsweise an den deutschen Romantiker J. G. Herder und seinen Vorschlag erinnert, den Begriff der “Kultur” im Sinne fixierter, von einander unterscheidbaren Einheiten, die sich auf innerer Homogenität begründen und in sich kongruent und autonom sind, zu pluralisieren.” (Kaufmann 2003: o. S.) Dem statischen EU-Kulturverständnis, wie es sich in den Begriffe “Einheit in der Vielfalt”, “kulturelles Erbe” und “europäische Identität” ausdrückt, entspricht das Bild des Mosaiks, dem sich die UNESCO ursprünglich bediente. In diesem Vergleich werden die Kulturen als Mosaiksteinchen verstanden, die zusammen ein farbenfrohes Bild ergeben. Jedes Steinchen besteht für sich, wird jedoch auf einem gemeinsamen historischen Hintergrund Teil eines Gesamtbildes (vgl. Fuchs 2008: 37-38). 40 Mit der häufigeren Verwendung des Begriffs des interkulturellen Dialogs in den letzten Jahren zeichnet sich jedoch eine Entwicklung hin zu einem dynamischen, prozessorientierten EU-Kulturverständnis ab. Dieses geht von einem gemeinsamen, interaktiven und offenen Kulturraum aus, der sich fortwährend verändert und sich durch dialogische Prozesse entwickelt. In diesem neuen Verständnis werden die Nationalkulturen durch die europäischen Bürger als Kulturträger abgelöst. Ausdruck des Wandels weg von dem Denken in Nationalstaaten in Richtung eines Europas der Bürger ist unter anderem die Definition der Unionsbürgerschaft, wie sie in dem Vertrag über der Arbeitweise der Union (AEUV) verankert wurde (vgl. Art. 9 EUV). Wie sich jedoch gezeigt hat, konnte sich das Verständnis von Kultur als gemeinsamer, heterogener und dynamischer Kulturraum in der EU-Kulturpolitik trotz der Anerkennung gesellschaftlicher Veränderungen noch nicht vollständig durchsetzen. Neben den “interkulturellen Dialog” tritt in der EU-Kulturpolitik der “internationale Dialog”, der die Offenheit und Prozesshaftigkeit von Kultur in Frage stellt. Die Möglichkeit, dass die Bürger der EU gleichzeitig Träger mehrerer Kulturen sein können, wird in den untersuchten Dokumenten der EU- Kulturpolitik nicht erwähnt, Heterogenität und Überlappungen innerhalb der nationalen bzw. regionalen kulturellen Einheiten finden keine Berücksichtigung. Ähnlich wird mit den Staaten verfahren, die nicht zur EU gehören. Sie werden ausschließlich als ein ‘außen’ angeführt, von dem sich die EU als Kulturraum abheben möchte. Die enge Verzahnung der EU-Staaten mit anderen Staaten Europas und der übrigen Welt kommt nicht zur Sprache. Zwischen der EU und dem Rest der Welt besteht nach dem Verständnis der EU, wie es sich in der kulturpolitischen Rechtsakte manifestiert, nicht nur eine politische, sondern auch eine kulturelle Grenze. Dabei wird nicht nur die gemeinsame Geschichte als Alleinstellungsmerkmal der EU verstanden, sondern auch die gemeinsamen Werte, die in der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union betont werden. In der vorgenommenen Untersuchung deuten sich einige gesellschaftliche Konsequenzen eines statischen und rückwärtsgewandten EU-Kulturverständnisses an. Dazu zählen die Lena Jöhnk 330 Etablierung einer Dualität zwischen dem “Eigenen” und dem “Anderen”, verstanden als zwei jeweils homogene Kulturen und einer damit einhergehenden Ausgrenzung von Immigranten und fehlender Wertschätzung kultureller Ausdrucksformen, die nicht dem Kriterium “gemeinsames Erbe von europäischer Bedeutung” standhalten. Kulturelle Entwicklungen werden negiert, die Zusammengehörigkeit wird in der Vergangenheit statt in der Zukunft gesucht. Chancen, die eine aus der Vielfalt hervorgehende kulturelle Entwicklung beinhaltet, werden möglicherweise nicht genutzt. 4 Fazit Die Verwendung kultursemiotischer Ansätze für die Untersuchung der EU-Kulturpolitik ist ein weniger gängiger, jedoch nicht minder lohnenswerter Forschungsansatz, der es ermöglicht, die Komplexität und Dynamik dieses Politikfeldes auf mehreren Ebenen darzustellen und sich auf diese Weise dem EU-Kulturverständnis anzunähern. Ausgehend von der Überlegung, dass das EU-Kulturverständnis als kollektive Bedeutungsstruktur nicht losgelöst von seiner Formierung untersucht und verstanden werden kann, wurde zunächst das Gesamtgefüge der EU-Kulturpolitik als kulturpolitische Handlungsform beschrieben. Dabei diente Lotmans Semiosphäremodell der Darstellung von Strukturen und Translationsprozessen in der EU-kulturpolitischen Sphäre. Dank der Möglichkeit, in diesem Modell sowohl die Akteure als auch die Texte und Codes zu berücksichtigen, konnte Bedeutungsentstehung als komplexer Translationsprozess zwischen den verschiedenen Akteuren und Texten dargestellt werden. Die Prozesse auf der synchronen Ebene und die diachrone Tiefe der Semiosphären bedingen sich gegenseitig, sodass das EU-Kulturverständnis einerseits durch die Interaktion der verschiedenen Subsemiosphären, andererseits durch bereits bestehende Bedeutungsstrukturen beeinflusst wird. Bei der Untersuchung der EU-Kulturpolitik als Handlungssphäre bestätigt sich eine Erkenntnis, die sich bereits in Cassirers Symboltheorie findet: die Entstehung von Bedeutung ist immer zeichengebunden; im Falle der EU-Kulturpolitik manifestiert sie sich in EUkulturpolitischen Rechtsdokumenten. Für die Untersuchung dieser Texte anhand einzelner Begriffe und Formulierungen konnte auf Cassirers Verständnis eines Begriffs als relationales Gebilde zurückgegriffen werden. In der Untersuchung der zentralen Begriffe anhand des EU-Primärrechts und der EUkulturpolitischen Rechtsakte zeigt sich eine Diskrepanz zwischen einem dynamischen, zukunftsorientierten und einem rückwärtsgewandten EU-Kulturverständnis. Die Tendenz zur Einigung durch die Konstruktion von Gemeinsamkeiten stößt auf die Tendenz zur Diversifizierung durch die fortwährende Betonung der Subsidiarität, deren Einhaltung im Kulturartikel der EU (Art. 167 AEUV) verankert ist. Das erklärte Ziel der EU ist es, die kulturelle Vielfalt zu wahren und für den Erhalt des kulturellen Erbes Europas Sorge zu tragen. Hier zeigt sich einerseits die Verpflichtung, nicht in die nationalen und regionalen Kulturpolitiken einzugreifen und jegliche Harmonisierung zu vermeiden, andererseits jedoch der Versuch, über Kultur eine Einheit in Form eines gemeinsamen Kulturraumes zu konstruieren. Anstatt sich für die Umsetzung dieses Vorhabens auf aktuelle kulturelle Entwicklungen im Kulturraum Europa zu berufen, bleibt der Blick in die Vergangenheit gerichtet, wie sich etwa an der Betonung des kulturellen Erbes und der gemeinsamen Geschichte Europas zeigt. Ein vielschichtiger und dynamischer EU-Kulturraum wird zugunsten der kulturellen Vielfalt - verstanden als nebeneinander existierende Entitäten - vernachlässigt. Aktuelle kulturelle EU-Kulturpolitik als symbolische Form 331 Entwicklungen innerhalb des europäischen Raums, in denen sich eine hohe kulturelle Dynamik zeigt, werden größtenteils ignoriert. An Stelle ihrer werden die gemeinsamen kulturellen Wurzeln betont. Die Gefahr einer solchen Orientierung hat der deutschtürkische Schriftsteller Zafer enocak 2005 in seinem Beitrag “Abschied vom Länderspiel” auf der Konferenz des Auswärtigen Amts “Menschen bewegen” deutlich formuliert: “Eine Kulturpolitik, die nur das Bestehende konserviert und verwaltet, droht ins Abseits zu geraten, wenn die neu entstehenden Kulturlandschaften mit ihren individuellen Brüchen unlesbar bleiben.” ( enocak 2005: 71) Die Diskrepanz zwischen Tradition und Innovation ist Cassirer zufolge ein charakteristisches Merkmal von Kultur, das sich auch innerhalb jeder symbolischen Form findet. Mit Lotmans Semiosphäremodell ist es gelungen, die Tendenz zur Erneuerung und Tradierung nicht nur in den Dokumenten, sondern auch in der Struktur der EU-Kulturpolitik zu verorten. Dafür wurde eine Einteilung in zentrale und periphere Subsemiosphären nach dem Kriterium der legislativen Kompetenz vorgenommen. Deutlich wurde der große Einfluss, den die zentralen Subsemiosphären Rat der Europäischen Union, Europäische Kommission und Europäisches Parlament auf das EU-Kulturverständnis ausüben. Der Einfluss durch periphere Subsemiosphären, die keine legislativen Kompetenzen haben, ist hingegen schwer messbar und konnte nur exemplarisch dargestellt werden. Ausgehend von Lotmans Semiosphäremodell kann die Feststellung einer geringen Entwicklung des EU-Kulturverständnisses als ein Appell an die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte peripherer Subsemiosphären verstanden werden, um auf diese Weise das bestehende Kulturverständnis als Metastruktur abzulösen und zur Innovation beizutragen. Für das EU-Kulturverständnis könnte diese Innovation darin bestehen, die kulturelle Entwicklung Europas verstärkt ins Zentrum der EU-Kulturpolitik zu rücken, und die dort vorherrschenden Denk- und Handlungsmuster mit dem heterogenen und dynamischen Europa, wie es im EU-Raum existiert, zu konfrontieren. Abschließend gilt es noch einmal zu betonen, dass, obwohl das Gesamtsystem EU- Kulturpolitik als auch einzelne Begriffe und Formulierungen aus diesem untersucht wurden, kein Anspruch auf eine vollständige Darstellung erhoben werden kann. Die Entstehung von Bedeutung im EU-kulturpolitischen Raum sowie die vorhandenen Bedeutungen selbst könnten bei einer Erweiterung der empirischen Daten noch detaillierter beschrieben werden. Denkbar wäre die Ergänzung des Quellenmaterials um die konkreten Kulturförderprogramme sowie die Beschreibung ihrer Umsetzung an den entsprechenden Orten. Neben der Komplexität führt die Dynamik des EU-Kulturverständnisses dazu, dass es nicht abschließend beschrieben werden kann. Mit Cassirer und Lotman ist deutlich geworden, dass sich die Formierung des EU-Kulturverständnisses nicht auf einen einmaligen Akt beschränkt, sondern nur als Prozess verstanden werden kann, in dem kontinuierlich neue Texte entstehen, die mit älteren interagieren. Selbst unter Berücksichtigung sämtlicher, innerhalb der EU-Kulturpolitik vorhandener Informationen wäre eine abschließende Untersuchung nicht möglich. Aufgabe der Kulturwissenschaft ist es demnach, das EU-Kulturverständnis stets aufs Neue zu untersuchen, um die bestehenden Bedeutungsstrukturen offen zu legen und darauf basierende konstruktive Kritik zu ermöglichen. Lena Jöhnk 332 Literatur Bisanz, Elize 2004: “Einführung: Kulturwissenschaft und Zeichentheorie”. In: Dies. (Hg.) 2004: Kulturwissenschaft und Zeichentheorien. Zur Synthese von Theoria, Praxis und Poiesis. Münster: LIT: 7-19. Brati , Ljubomir 2008: “Die Mitteilung der europäischen Hegemonieansprüche. Notizen zum Kulturverständnis der Europäischen Union”. In: Kulturrisse. Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik, Heft 1.: o. S. Cassirer, Ernst 1988: Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens. Frankfurt a. M.: Fischer. Cassirer, Ernst 10 1994a: Philosophie der symbolischen Formen. 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Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union Beschluss Nr. 719/ 96/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. März 1996 über ein Programm zur Förderung künstlerischer und kultureller Aktivitäten mit europäischer Dimension (Kaleidoskop). Amtsblatt Nr. L 99 vom 20.4.1996. Enthalten in EUR lex. Beschluss Nr. 2085/ 97/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 1997 über ein Förderprogramm im Bereich Buch und Lesen einschließlich der Übersetzung (Ariane). Amtsblatt Nr. L 291 vom 24.10.1997. Enthalten in EUR lex. Beschluss Nr. 2228/ 97/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1997 für ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Erhaltung des kulturellen Erbes - Programm “Raphael”. Amtsblatt Nr. L 305 vom 8.11.1997. Enthalten in EUR lex. Beschluss 1419/ 1999/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 über die Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung “Kulturhauptstadt Europas” für die Jahre 2005 bis 2019. Amtsblatt Nr. L 166 vom 01.07.1999. Enthalten in EUR lex. Lena Jöhnk 334 Beschluss Nr. 508/ 2000/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Februar 2000 über das Programm “Kultur 2000”. Amtsblatt Nr. L 63 vom 10.03.2000. Enthalten in EUR lex. Beschluss Nr. 1855/ 2006/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über das Programm Kultur (2007-2013). Amtsblatt Nr. L 372 vom 27.12.2006. Enthalten in EUR lex. Entscheidung Nr. 1983/ 2006/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zum Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs (2008). Amtsblatt Nr. L 412 vom 30.12.2006. Enthalten in EUR lex. Europarat Satzung des Europarates, London, 5. Mai 1949. URL: http: / / conventions.coe.int/ Treaty/ GER/ Treaties/ Html/ 001.htm. [01.11.2010] Europäische Kulturkonvention des Europarates, Paris, 19. 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Europäischer Rat Erklärung der Staats- und Regierungschefs über die europäische Identität (Kopenhagener Gipfel, 14. Dezember 1973). URL: http: / / www.ena.lu/ dokument_europaische_identitat_kopenhagen_14_dezember_1973- 030002278.html. [01.11.2010] Kommission der Europäischen Union Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung (KOM(2007) 242 endgültig). Enthalten in EUR lex. Rat der Europäischen Union Entschließung der im Rat vereinigten für Kulturfragen zuständigen Minister von 13. Juni 1985 über Veranstaltungen zur Vorführung europäischer audiovisueller Produktionen in dritten Ländern. Amtsblatt Nr. C 153 vom 22.06.1985. Enthalten in EUR lex. Entschließung der im Rat vereinigten, für Kulturfragen zuständigen Minister vom 17. Februar 1986 über die Einrichtung von grenzüberschreitenden Kulturreiserouten. Amtsblatt Nr. C 044 vom 26.02.1986. Enthalten in EUR lex. Entschließung der im Rat vereinigten, für Kulturfragen zuständigen Minister vom 13. November 1986 über die Erhaltung des europäischen architektonischen Erbes. Amtsblatt Nr. C 320 vom 13.12.1986. Enthalten in EUR lex. Entschließung der im Rat vereinigten, für Kulturfragen zuständigen Minister vom 13. November 1986 über die Förderung des Kulturschaffens durch Unternehmen. Amtsblatt Nr. C 320 vom 13.12.1986. Enthalten in EUR lex. Entschließung der im Rat vereinigten, für Kulturfragen zuständigen Minister vom 13. November 1986 über die Erhaltung von Kunstwerken und sonstigen Werken von kulturellem und historischem Wert. Amtsblatt Nr. C 320 vom 13.12.1986. Enthalten in EUR lex. Schlussfolgerungen der im Rat vereinigten Minister für Kulturfragen vom 12. November 1992 zu Leitlinien für ein Kulturkonzept der Gemeinschaft. Amtsblatt Nr. C 336 vom 19.12.1992. Enthalten in EUR lex. Schlussfolgerungen des Rates vom 21. Juni 1994 zu den kulturellen und künstlerischen Aspekten der Bildung. Amtsblatt. C 229 vom 18.08.1994. Enthalten in EUR lex. Schlussfolgerungen des Rates vom 17. Juni 1994 zur verstärkten Zusammenarbeit im Archivwesen. Amtsblatt Nr. C 235 vom 23.08.1994. Enthalten in EUR lex. Entschließung des Rates vom 04. April 1995 zum Bereich Kultur und Multimedia. Amtsblatt Nr. C 247 vom 23.09.1995. Enthalten in EUR lex. EU-Kulturpolitik als symbolische Form 335 Entschließung des Rates vom 20. Januar 1997 über die Einbeziehung der kulturellen Aspekte in die Tätigkeit der Gemeinschaft. Amtsblatt Nr. C 036 vom 05.02.1997. Enthalten in EUR lex. Entschließung des Rates vom 28. Oktober 1999 über die Einbeziehung der Geschichte in die kulturelle Tätigkeit der Gemeinschaft. Amtsblatt Nr. C 324 vom 12.11.1999. Enthalten in EUR lex. Entschließung des Rates vom 26. Juni 2000 zur Erhaltung und Erschließung des europäischen Filmerbes. Amtsblatt Nr. C 193 vom 11.07.2000. Enthalten in EUR lex. Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 14. Dezember 2000 zur Festlegung eines Aktionsplans zur Förderung der Mobilität. Amtsblatt Nr. C 371 vom 23.12.2000. Enthalten in EUR lex. Entschließung des Rates vom 21. Januar 2002 “Kultur und Wissensgesellschaft”. Amtsblatt Nr. C 032 vom 05.02.2002. Enthalten in EUR lex. Entschließung des Rates vom 25. Juni 2002 über einen neuen Arbeitsplan für die Europäische Zusammenarbeit im Kulturbereich. Amtsblatt Nr. C 162 vom 06.07.2002. Enthalten in EUR lex. Beschluss des Rates vom 18. Mai 2006 über den Abschluss des Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Amtsblatt Nr. L 201 vom 25.07.2006. Enthalten in EUR lex. Entschließung des Rates vom 16. November 2007 zu einer europäischen Kulturagenda. Amtsblatt Nr. C 287 vom 29.11.2007. Enthalten in EUR lex. Schlussfolgerungen des Rates vom 24. Mai 2007 zum Beitrag des Kultur- und Kreativbereichs zur Verwirklichung der Ziele der Lissabon-Strategie. Amtsblatt Nr. C 311 vom 21.12.2007. Enthalten in EUR lex. Ratspräsidentschaft Ratspräsidentschaft der Tschechischen Republik: New Paradigms, New Models - Culture in the EU External Relations. Ljubljana 13.-14. Mai 2008. Achtzehnmonatsprogramm der Ratspräsidentschaften Deutschland, Portugal, Slowenien vom 21. Dezember 2006 (17079/ 06) URL: http: / / www.eu2007.de/ includes/ Download_Dokumente/ Trio-Programm/ triodeutsch.pdf [01.11.2010]. UNESCO Die Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik, Weltkonferenz über Kulturpolitik in Mexiko City vom 26. Juli bis 6. August 1982. Informationsdienst. In: Röbke, Thomas (Hg) 1993: Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente. Essen: Klartext, S. 55-60. Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO (Paris 2005). In: Schwencke, Olaf 2 2006: Das Europa der Kulturen - Kulturpolitik in Europa. Dokumente, Analysen und Perspektiven von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd.14. Texte zur Kulturpolitik. Herausgegeben von der Kulturpolitischen Gesellschaft. Essen: Klartext, S. 325-340. Weitere Dokumente Slovenian Presidency Declaration based on the recommendations of the conference “New Paradigms, New Models - Culture in the EU External Relations” (Ljubljana, 13-14 May 2008). Internetauftritte von Institutionen Internetauftritt des Ausschusses der Regionen. URL: www.cor.europa.eu. [Stand 10.02.2010]. Internetauftritt der Europäischen Kommission. URL: www.ec.europa.eu [Stand 10.01.2010]. Internetseite der Europäische Kommission zur Lissabonstrategie. URL: www.ec.europa.eu/ growthandjobs/ index_ de.htm [Stand 20.02.2010]. Internetauftritt des Europarates. URL: http: / / www.coe.int [Stand 10.03.2010]. Internetseite der Europäischen Union zum Europamotto. URL: www.europa.eu/ abc/ symbols/ motto/ index_de.htm [Stand 02.02.2010]. Lena Jöhnk 336 Anmerkungen 1 Die Strategie von Lissabon ist ein Bündel an Wirtschaftsreformen, durch das Wohlstand und soziale Gerechtigkeit unter Berücksichtigung der ökologischen Nachhaltigkeit innerhalb der EU erzielt werden soll. Nachdem die Strategie zwischen 2000 und 2005 nur mäßigen Erfolg hatte, wurde sie 2005 überarbeitet. Siehe dazu den offiziellen Internetauftritt der Kommission zur Lissabonstrategie: www.ec.europa.eu/ growthandjobs/ index_de.htm [01.11.2010]. 2 Generell ist der Bereich Kulturpolitik in Lehre und Forschung bisher kaum verankert. Nur wenige Wissenschaftler befassen sich schwerpunktmäßig mit Kulturpolitik. Zu ihnen zählen beispielsweise Fuchs und Schwencke, die in dieser Arbeit mehrmals zitiert werden. Siehe insb. Fuchs 2007, Schwencke 2006. 3 Art. 167 AEUV, Abs. 4 legt fast, dass die Union die Kultur in der Ausgestaltung der verschiedenen Politikfelder berücksichtigt. Wie diese Berücksichtigung konkret aussieht, hängt maßgeblich von dem EU-Kulturverständnis ab. 4 Siehe dazu auch die Präambel des “Entwurfs über eine Verfassung für Europa” sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die im Zuge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon rechtskräftig geworden ist. 5 Siehe dazu Villinger (2005: 20) “Man kann zwar versuchen, anhand von Umfragen und Kontroll-Variablen das verinnerlichte Weltbild einzukreisen, doch das Problem, dass das zur Selbstverständlichkeit Herabgesunkene auch nicht gewusst wird und deshalb nicht abgefragt zu werden vermag, kann dadurch nicht wirklich beseitigt werden.” 6 Unter Cassirers Philosophie der symbolischen Formen wird nicht allein das dreibändige Hauptwerk “Philosophie der symbolischen Formen” verstanden, sondern auch theoretische Abhandlungen, in denen diese (weiter)entwickelt wird. Für die in dieser Arbeit angestrebte Darstellung von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als semiotische Theorie wird neben der dreibändigen “Philosophie der symbolischen Formen” und “Zur Logik der Kulturwissenschaften” die spätere Schrift “Mythos des Staates” (1944 konzipiert, 1946 postum veröffentlicht) herangezogen. 7 Der EU-kulturpolitische Handlungsraum ist abzugrenzen von dem geografisch-politischen Raum der EU, zu dem momentan 27 europäische Mitgliedstaaten inklusive einiger außereuropäischer Gebiete dieser Mitgliedstaaten zählen. 8 Diese drei Organe der EU werden im Folgenden verkürzt als Rat, Kommission und Parlament bezeichnet. 9 Der Europäische Gerichtshof spielt hinsichtlich des Kulturverständnisses eine geringe Rolle und kann somit in der hier vorgenommenen Untersuchung unberücksichtigt bleiben. 10 Für eine genauere Darstellung der Struktur des AdR siehe Mittag 2009: 84-92. 11 Der AdR wird auch als “Nebenorgan der EU” bezeichnet. Siehe dazu Roth 2009. Für weitere Informationen zur Struktur und den Aufgaben des AdR siehe den offiziellen Internetauftritt des Ausschusses der Regionen: www.cor.europa.eu. [01.11.2010]. 12 Erst der Vertrag von Lissabon räumt dem AdR das Klagerecht vor dem EuGH ein. Siehe Art. 8 AEUV. 13 Für die Zusammensetzung des “Ausschusses für Kultur, Wissenschaft und Bildung” siehe den offiziellen Internetauftritt des Europarats: www.coe.int [01.11.2010]. 14 Bei der Verabschiedung einer kulturpolitischen Rechtsakte lassen sich nicht nur zwischen den verschiedenen Subsemiosphären dynamische Prozesse aufzeigen, sondern auch innerhalb jeder Subsemiosphäre. So ist beispielsweise das Parlament eine heterogene Struktur, die sich u. a. durch eine sprachliche, kulturelle und ideologische Vielfalt auszeichnet und innerhalb derer Asymmetrien bestehen, die zu einer Beschleunigung der Translationsprozesse führen. 15 Zur EU-kulturpolitische Rechtsakte zählen Beschlüsse vom Rat der Europäischen Union bzw. vom Rat und dem Europäischen Parlament, Entscheidungen vom Rat und dem Parlament, programmatische Entschließungen und Schlussfolgerungen des Rates sowie Empfehlungen und Mitteilungen der Kommission. 16 Die meisten Rechtsakte wurden auf der Grundlage eines Vorschlags der Kommission und unter Einholung der Stellungnahme des Parlaments durch den Rat kodifiziert. Die Verabschiedung erfolgt nur dann nach dem Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, wenn es sich um Fördermaßnahmen handelt. Siehe Art. 167 AEUV. 17 Im Mai 2006 verabschiedete der Rat den “Beschluss über den Abschluss des Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen” (Amtsblatt L 201 vom 25.07.2006). 18 Zu den verschiedenen Aktivitäten des Europarates und ihren Auswirkungen auf die EU-Kulturpolitik siehe Merkle & Palmer 2007. 19 Siehe dazu auch die Auflistung der Dokumente der EU-kulturpolitischen Rechtsakte im Anhang. EU-Kulturpolitik als symbolische Form 337 20 Mit dem traditionellen Kulturbegriff ist an dieser Stelle ein enger, auf Hochkultur beschränkter Kulturbegriff gemeint, wie er sich laut Schwencke im deutschen Idealismus etablierte. Siehe dazu Schwencke 1998: 86. 21 Für eine ausführlichere Darstellung des Einflusses, den die Abschlusserklärung der Konferenz von Arc et Senans “Zukunft und kulturelle Entwicklung” auf spätere EU-kulturpolitische Dokumente aber auch auf die nationale Kulturpolitik hatte, siehe Schwencke 1998. 22 Ähnlich wie Cassirer negiert auch Lotman die Existenz einer bereits vorhandenen transzendentalen Bedeutung, sondern verortet die Bedeutungsentstehung in der Semiosphäre, dem Raum aller Zeichenprozesse. Außerhalb dieses semiotischen Raumes ist eine Bedeutungsproduktion ausgeschlossen. 23 Dabei wurden auch die Programmbeschlüsse einbezogen, die bereits ausgelaufen sind. Nicht berücksichtigt wurden hingegen die Beschlüsse zur Änderungen der Rechtsakte. Sie enthalten keine neuen EU-kulturpolitischen Formulierungen, die für die hier vorgenommene Analyse interessant sein könnten. Die komplette Auswertung befindet sich in den Tabellen im Anhang. 24 Diese verschiedenen Dokumente unterscheiden sich allen voran in ihrer rechtlichen Verbindlichkeit. Beschlüsse und Entscheidungen sind rechtlich verbindlich, Entschließungen, Schlussfolgerungen, Empfehlungen und Mitteilungen sind es hingegen nicht. 25 Siehe Jöhnk 2010: Tabellarische Auswertung. Zentrale Begriffe konnten nicht für alle Dokumente der EUkulturpolitischen Rechtsakte aufgefunden werden, da es sich vielfach um die Verabschiedung einzelner Aktionen handelt, die ohne konzeptionelle Überlegungen auskommen. Von 88 Dokumenten weisen 49 zentrale Begriffe auf. 26 Dieser Beschluss wurde später durch den “Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Februar 2000 über das Programm ‘Kultur 2000’” (Amtsblatt L 63) ersetzt und wird somit nicht mehr zur gültigen Rechtsakte gezählt. Danach fand der Begriff “interkultureller Dialog” Verwendung in der “Entschließung des Rates vom 25. Juni 2002 über einen neuen Arbeitsplan für die Europäische Zusammenarbeit im Kulturbereich” (Amtsblatt C 162). Außerhalb der EU-kulturpolitischen Rechtsakte wurde er bereits 1992 im Zuge eines Berichts des EU-Parlaments gebraucht. Siehe dazu die “Entschließung des Europäischen Parlaments zum neuen Kulturkonzept der Gemeinschaft” im Barzanti-Bericht 1992. 27 Vgl. Jöhnk 2010 (Tabelle). 28 Siehe dazu bspw. die “Erklärung der UNESCO von Mexiko-City über Kulturpolitik” (Mexiko 1982) und das “Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO” (Paris 2005) sowie die “Europäische Kulturdeklaration” (Berlin, 29. Mai 1984). 29 “In Vielfalt geeint” wurde 2000 von der EU zum Europamotto ernannt. Der Ausspruch geht auf einen Vorschlag aus einem Schülerwettbewerb zurück. Siehe dazu das offizielle Internetportal der Europäischen Union: www.europa.eu/ abc/ symbols/ motto/ index_de.htm [01.11.2010]. 30 Die genauen Formulierungen in Art. 151 EGV lauten “Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt” und “Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen”. 31 Der Begriff “Volk” bzw. “Völker Europas” findet in den EU-kulturpolitischen Dokumenten immer wieder Verwendung, ohne dass eine Definition vorliegt. Es entsteht der Eindruck, als würde es sich um ein Synonym für den Begriff Nation handeln. Siehe dazu auch Quenzel, die auf diesen Umstand aufmerksam macht. Quenzel 2005: 139. 32 Siehe dazu auch Quenzel, die die “Vielfalt der Kulturen” und die “Vielfalt der Nationalkulturen gleichsetzt. Quenzel 2005: 139. Auch Kaufmann 2003 stellt in ihrem Aufsatz ein EU-Kulturverständnis fest, das die einzelnen Kulturen als fixe und voneinander abgrenzbare Einheiten betrachtet. 33 Von den 88 Dokumenten der EU-kulturpolitischen Rechtsakte betonen 26 Dokumente das kulturelle Erbe von europäischem Wert. Siehe dazu Jöhnk 2010: Tabellarische Auswertung. Acht Beschlüsse befassen sich schwerpunktmäßig mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe. Siehe dazu insbesondere die “Schlussfolgerungen der im Rat vereinigten Minister für Kulturfragen vom 12. November 1992 zu Leitlinien für ein Kulturkonzept der Gemeinschaft” (Amtsblatt C 336 vom 19.12.1992); die “Schlussfolgerungen des Rates vom 17. Juni 1994 zur Erstellung eines gemeinschaftlichen Aktionsplans im Bereich des kulturellen Erbes” (Amtsblatt C 235 vom 23.08.1994); die “Entschließung des Rates vom 28. Oktober 1999 über die Einbeziehung der Geschichte in die kulturelle Tätigkeit der Gemeinschaft” (Amtsblatt C 324 vom 28.10.1999). 34 Eine Untersuchung der EU-Förderprogramme im Kulturbereich würde möglicherweise genaueren Aufschluss darüber geben, was aus Sicht der EU europäisch bedeutsam und somit förderungswürdig ist. So stellt bspw. Quenzel fest, dass im Rahmen des EU-kulturpolitischen Förderprogramms “Raphael”, das dem Schutz und der Vermittlung des europäischen Kulturerbes von 1996-1999 diente, hauptsächlich das Kulturerbe der klassischen Kulturländer in Westeuropa gefördert wurde. Siehe dazu Quenzel 2005: 166-167. Lena Jöhnk 338 35 Siehe dazu u. a. den “Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 über die Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung “Kulturhauptstadt Europas” für die Jahre 2005 bis 2019” (Amtsblatt L 166 vom 01.07.1999) und die “Entschließung des Rates vom 21. Januar 2002 ‘Kultur und Wissensgesellschaft” (Amtsblatt C 032 vom 05.02.2002). Eine Möglichkeit der Herausstellung des gemeinsamen kulturellen Erbes ist seine Bekanntmachung durch die Aktion “Kulturhauptstadt Europas” oder auch durch die audiovisuellen Medien. Siehe dazu die “Entschließung des Rates vom 26. Juni 2000 zur Erhaltung und Erschließung des europäischen Filmerbes.” (Amtsblatt C 193 vom 11.07.2000). 36 Vgl. hierzu Rat der Europäischen Union 25.06.2002: Amtsblatt C 162; Europäisches Parlament & Rat der Europäischen Union 14.02.2000: Amtsblatt L 063; Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union 12.12.2006: Amtsblatt L 372. 37 Siehe dazu auch Quenzel 2005: 159-160. Quenzel kommt in ihrer Untersuchung der Kulturpolitik des Rates der EU zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch sie stellt fest, dass der Rat Kulturen nationalen Territorien zuordnet. 38 In der Europäischen Union ist ein nationalstaatliches Denken nach wie vor stark ausgeprägt. Mitglied der Europäischen Union zu sein, bedeutet immer auch, Europa für die Durchsetzung nationaler Interessen zu nutzen. Siehe dazu Ma ków 2006: 35-39. 39 Ein besonders starkes Argument für die Schutzbedürftigkeit der kulturellen Vielfalt stützt sich auf die homogenisierende Wirkung des globalen Marktes. Eine völlige Öffnung im Sinne einer freien Marktwirtschaft hätte laut dem von der EU unterzeichneten “Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO” eine Monopolisierung durch multinationale Konzerne und damit eine Homogenisierung der Kultur zur Folge. Vgl. den “Beschluss des Rates vom 18. Mai 2006 über den Abschluss des Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen” (Amtsblatt L 201 vom 25.07.2006). Die Strategie der EU zum Schutz der Vielfalt ist somit die Abschwächung von Liberalisierungstendenzen durch die Einführung von Sonderregelungen für Kultur und kulturelle Erzeugnisse. Siehe dazu insbesondere Art. 151, Abs. 2 AEUV. 40 Dass das Kulturverständnis der UNESCO nicht bei dem Bild des Mosaiks stehen geblieben ist, zeigt sich daran, wie die UNESCO heute mit der “Einheit in der Vielfalt” umgeht. Sie betrachtet Kulturen nicht als abgrenzbare Entitäten, sondern als dynamische Gebilde, die sich gegenseitig bedingen und sich kontinuierlich verändern (siehe dazu bspw. das “Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO” Paris 2005). Metaphorisch zeigt sich dies in dem Bild des Flusses der Kulturen, dem sich die ehemalige stellvertretende Direktorin der UNESCO, Lourdes Arizpe, bediente. Im Vorwort zum Welterbebericht “Cultural diversity, conflict and pluralism” von 2000 lehnt sie die Beschreibung von Kulturen als feste und begrenzte Entitäten ab und betont stattdessen die Heterogenität, Prozesshaftigkeit und den ständigen Austausch, in dem Kulturen stehen. Das Fremde in Europa. Strukturen kultureller Dynamik in der europäischen Gegenwart Sabine Krammer; Leuphana Universität Lüneburg The tension produced by the opening and closing borders has made apparent that the European Union as the normative center is trying to assign meaning to space. By the means of border control the European society establishes itself as a space of inclusion and exclusion, thus following the logic of nation states. Within the processes of European integration the study of alienness has reached a dynamic status which has to considered by the method of analysis. Yuri Lotman’s cultural semiotic concept of the semiosphere as a model of space is suitable for analyzing the structures of the identity formation processes. Through the focus on places of transition and exchange in the concept of the semiosphere connected to Julia Kristeva’s theory of language, the paper presents a model for analyzing the structures of cultural dynamics related to the self and the other in the European present. The moments of migration, which challenge the nation state societies, illustrate the creative power that lies within them. The term “Europe” therefore describes an event that could not be associated with fixed boundaries and exclusive demarcation. Instead, borders can be found in the difference of culture within itself and through its alteration from the Other. 1 Fremdheit in Raum und Zeit Das Fremde bezeichnet etwas Unbekanntes, das in das Eigene eindringt. Dieses Fremde ist konstruiert und wird von außen zum Fremden bestimmt, wobei die Ausgrenzung zur Identitätsbildung und Abgrenzung gegenüber Anderen dient: Das Eigene ist ohne das Andere nicht denkbar und beide können nur in der gegenseitigen Bedingtheit erfahren werden. Fremdheit bezeichnet keine objektive Tatsache oder Charakteristik von Personen, sondern eine Beziehung zwischen verschiedenen Menschen. Die Bezeichnung fremd ist das Ergebnis dichter Zuschreibungen von Differenz auf Menschen. Wanderungsprozesse verändern die Aufnahmegesellschaft, auch wenn sich neue Elemente unsichtbar verbreiten und der fremde Ursprung oft von den Einheimischen nicht wahrgenommen wird, so dass der Mythos der Homogenität bestehen bleibt. 1 Wer wird als Fremde in unterschiedlichen Zeiten und Migrationsregimen definiert und wie werden diese behandelt? 2 Der Migrationsprozess ist ein wichtiger Bestandteil politischer, wirtschaftlicher und kultureller Wirklichkeit Europas, besonders der Europäischen Integrationspolitik, da er nicht nur das soziale Klima, die Kultur der Gesellschaft, sondern auch die Bewusstseinsstrukturen, Mentalität und Kulturnormen beeinflusst. Die innovativen Impulse spiegeln sich in den verschiedenen Bereichen der Mente- und Artefakte der Menschen wider. Durch die Konfrontation mit Fremdheit wird die alles strukturierende Macht der Zeichen und der K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Sabine Krammer 340 symbolischen Ordnung, die unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung strukturiert, deutlich. 1.1 Geschichtlicher Überblick über Charakteristika der europäischen Fremderfahrung “Die Historie ist zwar ein schlechter Prophet, aber umso besser kann sie die Gegenwart deuten” (Lotman 1997: 9). Europäische Migration zeigt spezifische Gemeinsamkeiten in der historischen Fremderfahrung: In Europa besteht seit langem eine hohe innere räumliche Mobilität. 3 “Die Begegnung von Fremden und Einheimischen war in der europäischen Geschichte aber nicht nur geprägt durch die Bewegung von Menschen über Grenzen. Sie war auch bestimmt durch die Bewegung von Grenzen über Menschen, durch die Minderheiten zu Mehrheiten, Mehrheiten zu Minderheiten und Einheimische zu Fremden im eigenen Land werden konnten. Und sie war schließlich geprägt durch die - auf kollektiven Fremdheitszuschreibungen basierende - Ausgrenzung von ‘fremden’ bzw. dazu erklärten Gruppen und Minderheiten innerhalb der ‘eigenen’ Grenzen selbst.” (Bade et al. 2007a: 19) In verschiedenen Zeiten und Räumen beeinflussten unterschiedliche Migrationsregime die Bewegungen in Europa. Im folgenden Überblick sollen die unterschiedlichen Reaktionen auf die Anwesenheit von Fremden gemäß den herrschenden Strukturen deutlich werden. Nach welchen Kategorien werden Unterschiede zwischen Menschen konstruiert und wie verändern sich diese im Lauf der Zeit? Durch die Skizzierung wichtiger Zäsuren des Wandels vom Umgang mit dem Fremden werden die Charakteristika unterschiedlicher Herrschaftsformen im Umgang mit Fremden dargestellt. 4 1.1.1 Komplexe Abstufung von Fremdheit und die Integrationsbereitschaft in der Antike Die unterschiedliche Fähigkeit und Bereitschaft der griechischen Stadtstaaten, der hellenischen Monarchien oder des römischen Imperiums zur Integration von Fremden verweisen auf komplexe Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft sowie rechtlichen, sozialen und kulturellen Begebenheiten. Parallel zu diesen dynamischen Voraussetzungen änderte sich auch der Bezugsrahmen für Exklusion und Inklusion von Fremden. Die unterschiedlichen Regierungsformen verfügten über verschiedene Instrumente zur Integration von Fremden, wie z. B. die Verleihung des Bürgerrechts. In Rom lebten viele Fremde miteinander, wie historische Quellen, literarische Zeugnisse und auch die verschiedenen Kultorte nichtrömischer Götter in der Stadt zeigen. 5 Viele Sklaven wurden freigelassen, um die Stabilität der Gesellschaft zu garantieren. Die Freigelassenen stellten die größte Gruppe von Fremden in Rom und waren entscheidend für dessen wirtschaftliche und militärische Entwicklung. Trotz den Schwierigkeiten, denen sie begegneten, ist dies ein wichtiges Indiz für die Integrationsbereitschaft. Ein anderes Kriterium zur Aufnahme von Fremden war virtus, die Tapferkeit. Aus diesem Grund wurden auch die Germanen, die später Rom zerstörten, anfangs zu Nachbarn und Verbündeten. 6 Die Völkerwanderungen gegen Ende des römischen Imperiums und zu Beginn des Mittelalters und deren Folgen evozierten neue Kriterien für die Aufnahme von Fremden und das Verhältnis unterschiedlicher Kulturen (vgl. Postel 2004). Bei den Griechen und Römern überschnitten sich die politischen und kulturellen Grenzen nicht, sondern es bestand eine scharfe Trennung zwischen den BürgerInnen und BewohnerInnen, trotz eines Das Fremde in Europa 341 kulturell-sprachlichen Zusammengehörigkeitsgefühls. Im Römischen Reich existierte eine komplexe Abstufung von Fremdheit (vgl. Demandt 1995), während in der Spätantike der Begriff des Barbaren den Terminus des peregrinus ganz ersetzte und die politischen Grenzen zu Grenzen der Menschheit wurden (vgl. Kristeva 1990a: 92 f.). Die Expansion des Christentums führte dazu, dass das Kriterium der religiösen Differenz stärkere Auswirkungen auf den Umgang mit Fremden hatte als in der Antike, das bedeutet, es relativierte die äußere Grenzziehung zu Barbaren, markierte aber eine interne Distanz zu Heiden und Häretikern (vgl. ebd.: 96 f.). 7 Die antiken Republiken, sei es die griechische Polis, das römische Kaiserreich oder die mittelalterliche Kommune, stellten ein klar umgrenztes Territorium dar. In Zeiten von Gründung und Expansion fand eine Öffnung gegenüber Fremden statt, während in den Zeiten ökonomischer Krisen und unter Zuwanderungsdruck eine scharfe Abschottung nach innen und außen in Form von Verboten, beispielsweise Mischehen oder Ausübung bestimmter Berufe, stattfand. 8 1.1.2 Die Entstehung der Utopie einer Gesellschaft ohne Fremde Zu Beginn der Renaissance propagierte der Exilierte Dante Alighieri das Ideal einer menschlichen Universalität, die er in der Monarchie als Mittler zwischen geistlicher und weltlicher Macht verwirklicht sah. 9 Im Gegensatz dazu tritt der Flüchtling Machiavelli für einen mächtigen Nationalstaat und das Gleichgewicht der Beziehungen ein. Kristeva bezeichnet Machiavelli als den “Vorläufer der Ideologie der modernen Nationalstaaten” (ebd.: 116-117). Nach einer Vorstellung von Kosmopoliten und anderen Europäern der Frühen Neuzeit, stellt Kristeva in Thomas Morus’ Utopia die Verbindung zwischen Dante und Machiavelli bzw. der von ihnen propagierten Ideen her: universalistische Phantasien und nationale Imperative. Die Utopie bleibt jedoch nicht realisierbar und die Gesellschaft dadurch freier. “Aber wie frei sein, ohne irgendeine Utopie, ohne irgendeine Fremdheit? Seien wir also von nirgendwo, aber ohne zu vergessen, daß wir irgendwo sind.” (Ebd.: 127) Es zeigt sich, dass Fremdheit in der Gesellschaft eine bestimmte Funktion einnimmt, die nicht zu verleugnen ist. Das universelle Ich des Michel de Montaigne stellt einen neuen Kosmopolitismus dar, in dem eine bis heute aktuelle Frage entsteht: ist das Akzeptieren von Anderen wirklich ein Anerkennen der Besonderheiten oder ein nivellierendes Absorbieren? (Vgl. ebd.: 133) 10 Während der Frühen Neuzeit bestand eine begrenzte Migration (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 40-42). 11 In den dynastischen Staaten waren alle - unabhängig ihrer Herkunft - Untertanen des Fürsten. Auch Menschen aus fremden Kulturen waren willkommen, wenn sie sich nur loyal gegenüber dem Fürsten erwiesen. Der Fürst als von Gott eingesetzter Herrscher hielt sein Volk zusammen. So gab es keine Notwendigkeit einer einheitlichen Kultur bzw. Sprache. Qualifizierte Zuwanderer wurden manchmal vom Kriegsdienst oder den Steuern befreit. In den wenigen kleinen Republiken der Frühen Neuzeit existierten liberale Migrationsregime, so waren die niederländische und venezianische Republik des 16. und 17. Jahrhunderts, beide unabhängig von der Religion, geprägt von Urbanisierung und geringen Barrieren für Zuwanderer (vgl. ebd.: 40). 12 In den fürstlichen Territorialstaaten bestanden Wanderungsbeschränkungen, weil die Einwohner als ökonomische Faktoren gesehen wurden und daher gegen die Abwanderung der Einwohner gearbeitet wurde, unter Voraussetzung gleicher Religionszugehörigkeit. Europäische Imperien, wie das Zarenreich oder die Habsburgermonarchie förderten die Siedlungsmigration in weniger bewohnten Teilen, so propagierte Katharina II ab 1762 die Besiedlung im Süden des Reiches (vgl. Bade & Oltmer 2004: 7). Im Osmanischen Reich gab Sabine Krammer 342 es eine ähnliche Siedlungspolitik, aber die interne Mobilität war verbreiteter: Die eurasischen Gebiete wie der Balkan, Ungarn, Südrussland, Kleinasien und der östliche und südliche Mittelmeerraum stellten einen einheitlichen Migrationsraum dar (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 41). Die zu Beginn der Renaissance aufkommende Frage, ob eine Gesellschaft ohne Fremde möglich sei, wurde in den Gedanken der Aufklärung und der Französischen Revolution und dem Verständnis von Nation und Fremden sehr deutlich. Kristeva beleuchtet unter Einbezug diverser philosophischer und moralischer Diskurse die Entwicklung der Ideologie der menschlichen Gleichheit (vgl. Kristeva 1990a: 139-183). Sie zeigt auf, dass gerade in der Rechtsprechung Montesquieus, die neben Bürgerrechten auch Menschenrechte zusichert, der Begriff der Fremdheit gefestigt wurde (vgl. ebd.: 144). In dieser Zeit wird der/ die in der Renaissance entstandene “gute Wilde” zur fremden Person als “Metapher der Distanz” (vgl. ebd.: 146). 1789 wurden die Menschen- und Bürgerrechte erklärt, in denen die rechtlichen Grundlagen der Gleichheit aller Menschen und die Pflichten gegenüber der Nation festgelegt wurden. Diese Verdopplung in Mensch und Bürger brachte sowohl Nachteile als auch Vorteile mit sich. 13 1.1.3 Die Entstehung nationaler und ethnischer Identitäten Nach dem Ende der konfessionell bedingten Migration der Frühen Neuzeit setzte mit dem Zeitalter der Revolutionen die Geschichte der politischen Flucht ein. In reaktionären Regierungen wurden Reformer und Revolutionäre ins Exil getrieben, während nach erfolgreichen Umstürzen die Anhänger des alten Regimes die Flucht ergriffen. Die politischen Überzeugungen wurden zum Kriterium für die Zugehörigkeit oder den Ausschluss aus einer Gruppe. Mit dem Anstieg der Verfolgungen politisch Andersdenkender gingen die Vertreibungen auf Grund religiöser Differenz zurück. Trotzdem war die Konfessions- und Religionszugehörigkeit weiterhin eine wichtige Kategorie bei der Zusammensetzung von Gruppen (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 42-50). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts löste die Vorstellung einer nationalen Identität das Zusammengehörigkeitsgefühl lokaler und regionaler Identität ab. Differenziert wurden Menschen nicht mehr nach ihrer kulturellen und räumlichen Herkunft, sondern vermehrt über die Einteilung in niedere und höhere Ethnien. 14 Die Nationalstaaten des späten 19. Jahrhunderts definierten Gleichheit nach der nationalen Staatsangehörigkeit und ausländischen ArbeiterInnen begegneten Passkontrollen. 15 Die propagierte Gleichheit aller Bürger seit der Französischen Revolution bildete ein urbanes Bürgertum und die Vorstellungen ethnokultureller Geschlossenheit der Romantik trugen zur Etablierung der Nationalstaaten bei (vgl. Bade & Oltmer 2004: 5). 16 Dasselbe geschah ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch im russischen und osmanischen Reich. Diese Entwicklung hatte gravierende Folgen für die Migrationsverhältnisse. Nationale Homogenisierung wurde aber durch innere Widersprüche hinterfragt: Basken wurden sowohl in Frankreich als auch in Spanien als Minderheit gesehen, ebenso wurden deutschstämmige Gruppen in Russland als Auslandsdeutsche bezeichnet und als Teil der deutschen Nation begriffen (vgl. ebd.: 42 f.). Die Entstehung der Nationalstaaten führte zu einer kulturellen Homogenisierung und einer wirtschaftlichen Unterdrückung, da innerhalb eines dynastischen Staates eine aus vielen Gruppen, meist die Mehrheit, zu einer hegemonialen Gruppe mit Privilegien zu staatlicher Institution und wirtschaftlicher Leistung wurde. Ein Beispiel ist die Vorherrschaft der magyarischen Kultur im historisch vielkulturellen Ungarn und die damit einhergehende Benachteiligung anderer Gruppen, wie z. B. der Das Fremde in Europa 343 Slowaken (vgl. ebd.: 43). Trotz des Bedeutungsgewinns der Nationalstaatsideologie waren die Jahre 1850-1914 von weitreichender Migrationsfreiheit geprägt. Vor allem die Sprachvereinheitlichung wurde als Instrument zur Begründung und Propagierung einer Nationalkultur genutzt. “Der Nationalismus wirkt auf der einen Seite weiter vereinheitlichend und integrierend, mobilisiert Kräfte für die Entwicklung der Gesellschaft, produziert aber auf der anderen Seite, in Verbindung mit einer Selbstaufwertung, auch einen starken Anpassungsdruck und offene Feindschaft gegenüber kulturell ‘Anderen’.” (Heckmann 1997: S. 64) Die Moderne ist geprägt von Arbeitswanderungen und Unternehmerreisen, sowie einer großen Welle von Auswanderern in die Neue Welt. Hinzu kommt im Hochimperialismus die Migration in die Kolonien, die sich ausprägenden Nationalstaaten und die internationale Migration vor dem ersten Weltkrieg. 1.1.4 Regulierung der Zuwanderung und Überwachung von Ausländern Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden neue Nationalstaaten und es kam zu Vertreibungen und Umsiedlungen innerhalb der neu errichteten Grenzen (vgl. Bade & Oltmer 2004: 18). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Europa die Region der Welt, die die meisten Flüchtlingsbewegungen generierte (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 43). Sie war nicht nur durch Krieg und Gewalt gekennzeichnet, sondern auch durch die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten, in denen die Zuwanderung durch Pass und Visumspflicht reguliert wurde. 17 Zudem wurden Ausländer überwacht und eine aktive Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte durch staatliche Institutionen vorangetrieben, wie die Verträge zwischen Frankreich und Deutschland von 1920 zeigen (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen: 44). Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg lösten eine unvergleichlich hohe Zahl an Fluchtbewegungen aus. 18 Auf institutioneller Ebene entwickelte sich nach den Kriegen die Migrationspolitik weiter: In Genf wurde 1951 die internationale Flüchtlingskonvention vereinbart - so entstand ein innerstaatlicher Schutzmechanismus für Flüchtlinge. 19 Viele Arbeitskräfte, vor allem aus dem südlichen Europa von Portugal bis der Türkei, kamen in die Länder West-, Mittel- und Nordeuropas, die zu Aufnahmegesellschaften wurden (vgl. Bade & Oltmer 2004: 71-96). 20 Sie hatten jedoch keine Bürgerrechte, waren nicht in die sozialen Sicherungssysteme eingebunden und hatten kein Partizipationsrecht im politischen System, so dass sie eher Beals EinwohnerInnen waren. Die GastarbeiterInnen 21 der 1950er Jahre waren eine Fortsetzung und Intensivierung der intraeuropäischen Arbeitsmigration vor dem Zweiten Weltkrieg. 22 Als neues Phänomen kam die Migration aus den ehemaligen Kolonien nach Portugal, Frankreich, Belgien, Großbritannien und den Niederlanden dazu. Trotz rassistischer Diskurse in den Aufnahmeländern wurde den Anreisenden die Staatszugehörigkeit zugebilligt. Die wirtschaftliche Ungleichheit, postkoloniale Konflikte sowie militärische und politische Krisen außerhalb Europas waren auch das Ergebnis des Ost-West Konfliktes. Durch diese Entwicklung kam es zu einer großen Migration nach Europa, aber die Flüchtlinge aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien blieben zumeist in der eigenen Region. 23 Es wird deutlich, dass Migration auch immer mit dem Erinnern verbunden ist. 24 Wer erinnert sich und wie wird Erinnerung politisch und öffentlich inszeniert? Welche Spannungen entstehen durch öffentliches oder privates, kollektives oder individuelles Erinnern? Können durch individuelle Erinnerung nationale Erzählungen umgeschrieben werden? Über die verschiedenen Migrationsbewegungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts wurde nur Sabine Krammer 344 ein kurzer Überblick gegeben, um die Entwicklung und Entstehung unterschiedlicher Kategorien von Fremdheit darzustellen. Im Folgenden werden die Kategorisierungen und Instrumente zur Integration der Europäischen Union vorgestellt. 1.2 Inklusion oder Exklusion: Grenzerhaltung und Grenzüberschreitung in Europa Europa wächst zusammen, indem die innereuropäischen Grenzen abgebaut werden. Dabei wird kritisiert, dass der Grenzabbau im Inneren zu einem Aufbau der Außengrenzen führt. 25 Die europäischen Staaten versuchen mittels verschiedener Abkommen (Beispiel: Schengen) die Außengrenzen gegen unerwünschte Zuwanderung zu sichern (Stichwort: Festung Europa). Trotz der Maßnahmen gibt es einen Anstieg von unerwünschten Gästen, die sich den staatlichen Kontrollmechanismen entziehen und unterschiedlich bezeichnet werden: Illegale, undocumented persons, sans-papiers. 26 Im Folgenden werden Entwicklungen, die zum Entstehen der Festung Europa beitragen bzw. diese in Frage stellen, näher untersucht. 1.2.1 Die Idee der Interdependenz von Integration und Abgrenzung in der Europäischen Union Nach der Unabhängigkeit der Kolonien wanderten viele Menschen in die ehemaligen Kolonialmächte aus. Es entstand eine Arbeitsmigration sowie Asyl- und Fluchtwanderungen in nationale Wohlfahrtsstaaten. Das Ende des Kalten Krieges gilt als bedeutende Zäsur für Migration und Migrationspolitik in Europa (vgl. Bade & Oltmer 2004: 97-132). Nicht nur Wanderungsbewegungen selbst wurden thematisiert, sondern “zum Teil noch mehr, auch deren in öffentlichen und politischen Migrationsdiskursen umlaufende Beschreibungen und die mit diesen sozialen Konstrukten in Verbindung gebrachten Visionen von einem Europa unter abrupt wachsenden ‘Wanderungsdruck’ nicht mehr nur aus dem Süden, sondern nun auch aus dem Osten.” (Bade 2000: 278) Vor dem Kalten Krieg war die Angst vor Massenwanderungen aus Osteuropa noch kein Thema, vielmehr bestand eine große Angst und Abwehrhaltung in Bezug auf außereuropäische Massenmigration. War die Ost-West-Migration vor dem Kalten Krieg Normalität, hatten die Bürger Angst vor der Beendigung des permanenten Ausnahmezustandes, der Europa nicht nur in Hinblick auf Ideologie, Politik und Wirtschaft, sondern auch auf Migration teilte (vgl. Bade 2000: 385). Bis Ende der 1980er Jahre galten alle westlichen europäischen Staaten als Einwanderungsstaaten, so wuchs zwischen 1950 und 1990 die ausländische Wohnbevölkerung in den EU- Staaten plus Liechtenstein und der Schweiz um mehr als das Vierfache (vgl. Bade 2000: 378). 27 Die späten 1970er und frühen 1980er Jahre sind geprägt von einer deutlichen Tendenz zwischen Liberalisierung und Restriktion in den einzelnen Staaten. Restriktive Kräfte verstärkten sich im Laufe der 1980er, in denen Einwanderung als parteipolitisches Thema dramatisiert und skandalisiert wurde (vgl. Bade 2000: 378-409). Auslöser waren oft politische Ratlosigkeit gegenüber den Folgen von Migrationsprozessen. Gemeinsam waren den politischen und publizistischen Debatten über Einwanderungsfragen die Festigung des Gedankens, dass Zuwanderungsbeschränkungen eine Voraussetzung für die Integration der Zugewanderten und deren Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft sind (vgl. Bade & Oltmer 2004: 127). Diese Migrationsdiskurse und Beobachtungen waren handlungsbestim- Das Fremde in Europa 345 mend für die Entwicklung der Migrationspolitik der Europäischen Union. Die Europäische Integration und Öffnung mit einem grenzfreien Binnenmarkt im Innern und Freizügigkeit am Arbeitsmarkt ging einher mit der Abgrenzung gegen unerwünschte Zuwanderung nach außen. Die Zugangskontrollen wurden zunehmend in europäischer Abstimmung verschärft. Wie die nationale Migrationspolitik ist auch die der Europäischen Union geprägt vom Gedanken an die Interpendenz von Integration und Abgrenzung, wie die folgende Übersicht über deren Entwicklung zeigt. 1.2.2 Etappen der Migrationspolitik der Europäischen Union Das Thema Migration ist politisch sehr brisant, da es häufig mit Alarmismus, Dramatisierung und Skandalisierung seitens der Politik und Medien verbunden wird. Die in Gesetzen festgelegte Schließung der Grenzen kollidiert oft mit dem wirtschaftlichen Interesse der Aufnahmeländer an Arbeitskräften, aber auch mit humanitären Gründen (vgl. Bade & Oltmer 2004: 133-140). Zu beobachten hierbei ist ein gegenüber Zuwanderergruppen nach außen rückender Wandel von innereuropäischen zu außereuropäischen kulturalistischen Fremdheitszuschreibungen und Exklusionsvorstellungen. 28 Der Schritt von der EG zur EU fand parallel mit Vorbereitungen zu einer begrenzten Osterweiterung statt, innerhalb Europas war dies nicht nur migrationspolitisch, sondern auch in kollektiv mentalen Abgrenzungen nach außen erfahrbar (vgl. Bade 2000: 378-454). In den Römischen Verträgen 1957 beschlossen die sechs Mitgliedsstaaten der EWG die Personenfreizügigkeit für Staatsangehörige zur Wohn- und Arbeitsnahme ab 1968 (vgl. Brunn 2004: 118-124, 166-178). Ziel der einheitlichen europäischen Akte von 1986 war die Förderung des Integrationsprozesses und des Wirtschaftswachstums durch Wegfall der Binnengrenze. Die Verwirklichung der vier Freiheiten beinhaltete den freien Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr. Auf diesem Weg fand eine Integration der EU- Staaten nach innen und deren Abgrenzung nach außen statt. Die Zuständigkeit für Asylpolitik wurde von den einzelnen Staaten auf die EU-Ebene übertragen (vgl. Brunn 2004: 238-244). Die Regelung des Zugangs gestaltete sich schwierig, da Grenzkontrollen klassische Zuständigkeiten staatlicher Souveränität sind und die Öffnung der Binnenmärkte für die einzelnen Mitgliedsstaaten einen Kontrollverlust bedeutete, der durch Kontrollverschärfung an den Außengrenzen kompensiert werden sollte. Dieser Gedanke ist der Hintergrund für die Entwicklung der Instrumente von Schengen, wie dem Schengener Abkommen I und II von 1985 und 1990 sowie dem Dubliner Abkommen von 1990 (vgl. Brunn 2004: 284-286). 29 Das Dubliner Abkommen von 1990 ist in asylrechtlichen Regelungen mit Schengen II identisch, so gilt das Visumrecht eines Antragstellers nur in einem EU-Land, was sich durch die unterschiedlichen Asylrechte der einzelnen Länder in der Anwendung als schwierig erweist. Ein weiteres Problem ist die mangelnde Bereitschaft einiger Länder, die Kontrolle von Drittstaaten auf die EU zu übertragen. Bis Ende der 1990er Jahre spielten der europäische Gerichtshof und das europäische Parlament in Bezug auf Migration eine zweitrangige bis unwesentliche Rolle. Im Vertrag von Maastricht 1992, bei dem die drei Säulen der EU festgelegt wurden, wurden relevante Regelungen für Migration vereinbart. 30 Erst durch die Ratifizierung des Vertrages von Amsterdam wurden konkrete Rahmenbedingungen für europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik festgelegt. Der Amsterdamer Vertrag 1997 überführte den bisher außerhalb der EU verhandelten Inhalt der Schengener Abkommen in EU-Recht und den gesamten Bereich der Visa-, Asyl- und Einwanderungs- Sabine Krammer 346 politik aus intergouvernementaler Kooperation in die Zuständigkeit der Union. In der politischen Öffentlichkeit entstand so das Bild eines europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dem gegenüber stand die gemeinsame Abgrenzung gegenüber unerwünschter Zuwanderung von außen. Die Angleichung der Asyl- und Einwanderungspolitik brachte problematische Regelungen von Grenzkontrolle, Kriminalitätsbekämpfung und Abwehr unwillkommener Einwanderung mit sich, die teilweise im Widerspruch standen zu Flüchtlings- und Menschenrechten, da eine Komplizenschaft zwischen Aufnahme- und Verfolgerstaat auf Kosten der Flüchtlinge entstand. Rechtsgrundlage für den Umgang mit Migration in Europa ist neben der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention die EU-Charta der Grundrechte, die 2007 im Vertrag von Lissabon ratifiziert wurde. 31 “Als Kehrseite der Abschottung Europas gegen unerwünschte Zuwanderungen und der für die Betroffenen immer unübersichtlicheren Zugangs-, Aufenthalts- und Partizipationsbegrenzungen haben sich im Grenzfeld zwischen Legalität, Irregularität, Illegalität und Kriminalität neue Zuwanderungs- und Aufenthaltsformen etabliert.” (Bade 2000: 401) Die Metapher der Festung Europa und die medialen Diskurse über die Instrumente der Migrationskontrolle lässt an eine einheitliche Politik der EU oder zumindest die Hegemonie einzelner Mitgliedsstaaten denken, die die Hauptlasten der Asylmigration nach Europa tragen. Jedoch müssen bei der Kontrolle der Wanderungsprozesse auch die politischen Akteure und ihre sehr unterschiedlichen Praktiken untersucht werden. Die Erweiterung der Außengrenzen der EU durch Osterweiterungsprozesse und die Kooperation mit den Anrainerstaaten kann als Ausweitung der Kontrollansprüche verstanden werden. Ulrich Beck spricht dabei von dem imperialen Charakter der EU (vgl. Beck 1997). 32 Die Abkommen zwischen dem Zentrum der EU und der Peripherie bringt diese Wiedervereinnahmung und Reterritorialisierung der Migration zum Ausdruck und lässt paradoxe Wirkweisen und Effekte erkennen. 33 In Europa ist der besondere Fall der gleichzeitigen Grenzerhaltung und Grenzüberschreitung eingetreten: Während es für Europäer einfacher wird, Grenzen zu überschreiten, wird die Außengrenze Europas gegen nicht genehmigte und unkontrollierbare Einwanderung gefestigt. 34 1.3 Erfahrung von Fremdheit als ein konstitutives Element der europäischen Erfahrung Die Kriterien, die zur Benennung und Festlegung von Fremden dienen, variieren in verschiedenen Zeiten und Räumen in Europa. Von großer Bedeutung ist die Frage nach der Autorschaft der Definitionen von Fremdheit. Oft sind es soziale Institutionen innerhalb einer Gesellschaft, die versuchen, die eigene Ordnung Aufrecht zu erhalten, indem das scheinbare Chaos als Fremdes ausgrenzt wird. Die Macht zur Benennung der Fremden hatte beispielsweise im Mittelalter die Kirche, während in den gegenwärtigen europäischen Staaten die demokratisch legitimierte Gesetzgebung die Ordnung regelt. Diese von oben aufoktroyierten Vorstellungen korrelieren mit den in einer Gesellschaft vorherrschenden Normen, Werten und Regeln. Betrachtet man Migrationsprozesse, ist nicht nur die räumliche Dimension, sondern vor allem das Überschreiten politischer und kultureller Grenzen ausschlaggebend. Dabei wird deutlich, dass die Grenzüberschreitungen von der Definition der Grenzen abhängig sind. Der/ die Fremde ist in modernen Gesellschaften die Person, die von außerhalb der Staatsgrenzen kommt und nicht die gleichen Rechte inne hat wie die Einheimischen, die selbst Fremde im eigenen Land sind. Das Fremde in Europa 347 Es wurde gezeigt, dass die Fremden durch Festlegung von Unterscheidungen definiert werden, dies ist nicht nur in verschiedenen Zeiten, sondern auch von Land zu Land unterschiedlich. 35 Aus diesem Grund kann die Frage nach dem Fremden nur in Abhängigkeit zum Eigenen betrachtet werden. Denn das Fremde ist konstitutiv für die Gesellschaft ebenso wie es konstitutiv für das einzelne Subjekt ist. Die Figur des Fremden ist in der Soziologie wie in der Psychoanalyse als fremdes Innen sehr wichtig und das Fremde und das Unbewusste weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf. 36 Das Nachdenken über die Kategorisierung von Fremden in gesellschaftlich-sozialen Strukturen, die stets auch mit dem politisch-rechtlichem System zusammenhängen, erfordert auch das Einbeziehen der sozialpsychologischen sowie individuellen Perspektive. 2 Fremderfahrung in Europa Das kulturwissenschaftliche Konzept der Semiosphäre bietet die Möglichkeit, die europäische öffentliche Sphäre und die kulturellen Prozesse der Gegenwart im Hinblick auf das Fremde zu analysieren. Zu den spezifischen Eigenschaften der Semiosphäre gehören die Heterogenität, Asymmetrie, Binarität und die Kategorie der Grenze; erst über deren Bestimmung können die dynamischen Prozesse innerhalb einer Kultur dargestellt werden. Im Folgenden wird Europa als Erfahrungs- und Handlungsraum, der durch die kulturellen Eigenschaften der Mitglieder bestimmt ist, als Semiosphäre erläutert. 37 2.1 Europäische Semiosphären Die Europäische Union ist ein wandelbarer Raum, dessen geographische Ausdehnung und kulturelle Grundlagen vielseitig und heterogen sind. Die Semiosphäre als Sphäre der kulturellen Bedeutungsgebung kann den dynamischen Umgang mit Fremden im heutigen Europa darstellen. 2.1.1 Heterogenität, Binarität und Asymmetrie in Europa Die Heterogenität (vgl. Lotman 2000: 125-127) besteht in den unterschiedlichen Sprachen und Kulturen, wobei die einzelnen Mitgliedsländer als Subsemiosphären in der Semiosphäre Europa verstanden werden können. 38 Die einzelnen europäischen Subsemiosphären befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Das Europamotto In Vielfalt geeint soll auf die Unterschiedlichkeit der Elemente und deren Funktionen verweisen. 39 Das einigende Band der Heterogenität Europas wird in der diskursiven Abgrenzung zu all dem, was es nicht ist, entworfen. In der europäischen Politik als Zusammenschluss der Mitgliedsstaaten zur EU sowie deren Funktionen und in der lebensweltlichen Erfahrung des europäischen Alltags bestehen große Differenzen. 40 Wo findet die Einigung der Vielfalt statt? Oft werden auf Ökonomie, Außenpolitik oder auf die gemeinsame Wiege in der Antike - das alte Europa - verwiesen und eine Gemeinsamkeit in Bezug auf Tradition und Geschichte proklamiert. Manfred Fuhrmann bezeichnet die Bibel “als eines der Fundamente der kulturellen Einheit Europas” (Fuhrmann 2004: 100). 41 Obwohl er das heterogene Europa z. B. in der Vermischung von griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Elementen hervorhebt, lässt Fuhrmann den Einfluss von Fremden außer Acht. Derrida hingegen betont, dass die Selbst- Sabine Krammer 348 reflexion als Besonderheit Europas gerade durch die Erfahrung mit Fremdheit entstand. Die Chance Europas liegt somit in der Erfahrung der radikalen Andersheit: “Was ich ‘Dekonstruktion’ nenne, ist, selbst wenn es gegen irgend etwas an Europa gerichtet ist, europäisch, es ist ein Produkt, ein Selbstbezug Europas als Erfahrung der radikalen Andersheit. Seit der Aufklärung ist Europa in permanenter Selbstkritik begriffen, und in diesem vervollkommnungsfähigen Erbe liegt eine Zukunftschance. Zumindest hoffe ich das, und genau dies nährt meinen Unwillen gegenüber Reden, die Europa definitiv verdammen, als wäre es einzig der Ort seiner Verbrechen.” (Derrida & Birnbaum 2004: 13) Trotz der möglichen Dekonstruktion der europäischen Tradition wird das Gedächtnis Europas “aufgrund der Aufklärung, aufgrund der Enge dieses kleinen Kontinents und der enormen Schuld, die seine Kultur nunmehr durchzieht (Totalitarismen, Nazismus, Genozide, Shoah, Kolonisation und Dekolonisation und so weiter)” (Derrida & Birnbaum 2004: 12) immer Teil auch eines anderen Europas sein. Mit Europa meint Derrida ein kommendes Europa, “das sich noch sucht”, und nicht die europäische Gemeinschaft” (ebd.). Hier lässt sich eine Asymmetrie (vgl. Lotman 2000: 127 f.) in der alltäglichen Erfahrung von Europa erkennen. Europa wird nicht nur als die Institution der EU wahrgenommen, deren Gesetze und Beschlüsse durch die Medien kommuniziert werden und einen Teil des Alltags regeln. Darüber hinaus drückt sich die Asymmetrie in der natürlichen Sprache einer Kultur und der Verschiedenheit der Sprachen aus. Ebenso sind die Informationsgenerierung und deren Rezeption asymmetrisch. Auch die Kennzeichen der Binarität (vgl. Lotman 2000: 124 f.) lassen sich in der EU erkennen. Die europäische Integration produziert Raum und Wirkmacht in den gewachsenen Räumlichkeiten der einzelnen Mitgliedsstaaten, was die wesentlichen Spannungslinien der Konstruktion des europäischen Raumes ausmacht. Die Spannungen finden in der Bewegung zwischen zwei Polen statt: zwischen Brüssel als Machtzentrum und der peripheren Alltagswelt der Menschen. Dabei spiegelt sich die räumliche Unbestimmtheit Europas in den Grenzen der Zugehörigkeit zum europäischen Raum wider. Wo ist Europa und wer ist europäisch? Die Grenze (vgl. Lotman 2000: 136 f.) ist der Faktor, der Europa miteinander verbindet, da externer Raum von internem getrennt wird. Zur Konstruktion von Grenzen braucht das Universum der Semiosphäre neben der Bereitschaft für Austausch eine einheitliche Sprache. Doch was sind diese gemeinsamen Sprachen in der europäischen Semiosphäre? Im Unterschied zu nationalen Identitäten besitzt das europäische Selbstverständnis keinen Gründungsmythos. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Motivation der Europäischen Gemeinschaft die Friedenssicherung auf dem Kontinent durch ökonomische Verflechtungen. Die Wirtschaftsvereinigung sollte zudem zur Steigerung des ökonomischen Nutzens aller Beteiligten beitragen (vgl. Brunn 2004: 45-51). Zwar identifiziert Europa sich mit politischen Zielen wie Demokratie, Friedenssicherung, wirtschaftlichem Wohlstand, innerer Sicherheit, und kulturellen Ausdrücken, z. B. Dichtung, Malerei, Musik und Architektur. Aber im Unterschied zu nationalen Identitäten nicht mit Symbolen wie Hymnen, Gebäuden, Landschaften oder historischen Erinnerungsorten. 42 Wolfgang Schmale stellt die Frage, ob Europa an seinem Mythendefizit scheitert, denn die Europäische Integration ist nicht allein ein politisch-ökonomischer, sondern vor allem auch ein mentaler Prozess (vgl. Schmale 1997). Außerdem ist die europäische Union kein Produkt des 19. Jahrhunderts, sondern eine Konsequenz der Katastrophen des 20. Jahrhunderts (vgl. Kaelble 2007: 169 f.). Abgesehen davon, dass Europa mehr ist als die Summe der einzelnen Mitgliedsstaaten, sind Symbole und Das Fremde in Europa 349 Rituale als Instrumente zur Erfindung einer Nation nicht geeignet, um die Zukunft Europas zu gestalten. Identitäten werden konstruiert und erzählt. Die Konstruktionen kollektiver Identität basieren besonders auf der Produktion von Geschichten. Dabei bestehen die Narrationen des Vergangenen aus mythischen Elementen, die oft besonders weit von der Gegenwart entfernt sind. Für Europa ist z. B. die Renaissance ein wirksamer Mythos. Die Identitätsbildungsprozesse sind auch gekennzeichnet von der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen, wie sich in den Selbst- und Fremdbildern erkennen lässt. Besonders die Erfahrungen mit Fremden verändern das europäische Selbstverständnis. Innerhalb der europäischen Union existieren Spannungen und Konkurrenz zwischen den nationalen Identitäten, die sich aber als dynamische Selbst- und Fremdbilder wandeln. 43 Durch die Europäisierung nationaler Identitätsdiskurse weichen die Grenzen innerhalb Europas auf, aber die Frage dabei ist, inwieweit dadurch eine verschärfte Abgrenzung an den Außengrenzen Europas vorgenommen wird. 2.1.2 Raum und Grenzen in Europa Die Europäische Integration bringt das vermeintlich stabile, typisch europäische Raumkonstrukt ins Wanken: den Nationalstaat. Der Staat bestimmt die Öffentlichkeit und zieht eine Grenze zwischen Innen und Außen. Die europäische Besonderheit bei der Verbindung von Staat und Nation ist die symbolische Repräsentation des Raumes. So kann man nationale Identität auch als Identität eines räumlichen Konzeptes verstehen. 44 Europa in seiner Unbestimmtheit stellt mit der potentiellen ständigen Erweiterung dieses räumliche Denken in Frage. 45 Um Raum zu definieren, sind Grenzen notwendig. Diese können zum einen konkret, sprachlich oder kulturell sein. Grenzen stellen komplexe Grenzbereiche da, räumlich z. B. Flüsse oder Gebirge, sozial Mitgliederräume wie Verwandtschafts-, Religions- oder Sprachgrenzen (vgl. Deger & Hettlage 2007: 14 f.). Oftmals rücken Grenzen erst bei deren Überschreitungen ins Bewusstsein. In Europa ist der besondere Fall der gleichzeitigen Grenzerhaltung und -überschreitung eingetreten. Ethnische Grenzen bilden innerhalb dieser Grenzkonstruktionen eine besondere Grenzform. Die Spannungen lassen sich besonders in den ehemaligen Staaten der Sowjetunion erkennen. 46 Grenzziehung ist ein narratives Projekt, d. h. Grenzen werden konstruiert und anschließend durch unterschiedliche Hegemonialmechanismen den Bürgern vermittelt. Die Kommunikation von Differenz erzeugt so Identität und deren Kommunikation wiederum Differenz. Als Beispiel wird im Folgenden die Erzählung von Europa als geographischer Raum betrachtet. Die geographischen Grenzen sind ebenso variabel wie die Geschichten, die sie begründen, da den territorialen Grenzen eine symbolische Bedeutung als zentrale Funktion narrativer Identitätskonstruktion zugeteilt wird. Symbolisch aufgeladene politische Grenzen sind nicht mehr die Alpen oder Pyrenäen, sondern der Ural. Nicht nur Gebirge, sondern auch Meere sind dynamische Bedeutungsgeflechte. War das Mittelmeer in der Antike das Zentrum Europas, zumindest aus heutiger Sicht, ist es nun zur umkämpften Südgrenze geworden. 47 Eine weitere geographisch-symbolische Grenze ist der Bosporus. Die sozialen Konstruktionen werden nur dann als natürliche Außengrenzen akzeptiert, wenn die dazugehörige Narration plausibel ist. Berge werden zu Europas Grenzen, wenn in den erzählten Geschichten hinter den Bergen das Nicht-europäische beginnt. Doch wer sind die Erzähler dieser Geschichten? Europa ist geprägt durch seine sozialstrukturelle Heterogenität. Dennoch wird die Metapher der Festung Europa aufgebaut und durch die Verteidigung einer sozialpolitisch gesicherten Wohlstandsgesellschaft legitimiert. Der Wohlfahrtsraum soll gegen Bedrohung von außen Sabine Krammer 350 geschützt werden, um allen Bewohnern die Annehmlichkeiten zu bewahren. Die Gemeinsamkeit einer wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsform wirkt identitätsherstellend. Die Länder, die die ökonomischen Kriterien der Mitgliedschaft erfüllen können, werden Teil dieses sozialen Europas. Darin liegt auch der Sinn der Beitrittsverhandlungen. Die EU verschiebt Identitätsgrenzen gemäß der Feststellung von erfüllten Beitrittskriterien (vgl. Eder 2007: 202). Die Entstehung der europäischen Gesellschaft ist räumlich und binär gedacht, indem sie auf der Unterscheidung zwischen Nord-Süd bzw. Ost-West aufbaut. In der Entwicklung des Selbstverständnisses der Europäer nimmt der Osten eine konstitutive Rolle ein. Archetypen der Grenzziehung sind z. B. der türkische oder russische Andere. 48 “Europäische Identitätsbildung findet in der Ost-West-Differenz die vermutlich wichtigste Grenzziehung. Der Osten wird als anders wahrgenommen. Zugleich reklamiert der Osten das Nicht-Anderssein. Die Grenze wird unübersichtlich.” (Eder 2007: 200) Die Grenzen und damit die Gestalt Europas und seiner politisch-geographischen Finalität sind nicht definiert, sondern finden sich in einem ständigen Umbruch. Das selbstbewusste Überschreiten der seit dem antiken Mythos von Europa und Asien geltenden Distinktion lässt Ulrich Beck zur Frage kommen, ob es sich bei dem Projekt EU um eine Demokratie oder ein Imperium handelt (vgl. Beck 1997). Die europäische Gesellschaft ist weder deckungsgleich mit Europa noch mit der EU. Europa beschreibt einen unbestimmten Begriff in Raum und Zeit mit multiplen Identitäten und variablen Grenzen. 49 “[Europa] umschreibt keine feste historische Größe, weder geographisch noch religiös, noch sprachlich-kulturell, noch politisch. Geographisch gesehen gab es das Problem der Grenzziehung im Osten; religiös gesehen das der Grenzziehung gegenüber orthodoxem Christentum und Islam; sprachlich-kulturell das der Grenzziehung gegenüber den nichtromanischen und nichtgermanischen Sprachen; politisch zum Beispiel das der Grenzziehung gegenüber Russland und dem Osmanischen Reich.” (Schluchter 2005: 239) Europa bestand lange aus Großreichen, wie dem Osmanischen Reich, dem Habsburger Reich oder französischen Kaiserreich. Nach dem 2. Weltkrieg und den Katastrophen von Tod und Zerstörung widerspricht eine Bildung der EU nach dem Grundsatz verordneter Einigung der Vielfalt Europas (vgl. Hettlage & Müller 2006: 11). Europa ist sowohl der kulturelle wie auch der politische Überbau der EU, das sich als eine neuartige politische Gemeinschaft positionieren kann. Derrida fasst dies zusammen: “Es geht nicht darum, sich die Verfassung eines Europas zu wünschen, das eine weitere militärische Supermacht wäre, die ihren Markt schützt und ein Gegengewicht zu den anderen Blöcken bildet, sondern um ein Europa, das den Samen einer neuen globalisierungskritischen beziehungsweise einer Politik einer anderen Globalisierung (politique altermondialiste) säen würde.” (Derrida & Birnbaum 2004: 12; Hervorh. im Original) 2.1.3 Europäische Integration - Homogenisierung oder Verstärkung von Partikularismen? Die Frage nach kultureller Identität ist eng verknüpft mit der Diskussion um den Europäischen Integrationsprozess. In welchem Kontext werden Kultur und Identität behandelt? “Die gegenwärtigen ökonomischen und politischen ‘Einigungen’ Europas drängen eine Reflexion über die kulturelle Identität Europas (oder die Diskussion darüber) eher in den Hintergrund: vielleicht ist es eben auch das Erbe Europas, Kultur immer nur als Reisegepäck in den Koffern von Handelsvertretern oder als Rucksackzubehör (früher der Militärs, heute der Das Fremde in Europa 351 Touristen) mitzunehmen in solche Diskussionen und Umbruchzeiten.” (Segers & Viehoff 1999: 12) Kollektive Identität steht im Zentrum tagespolitischer Auseinandersetzungen und die zum Thema der kulturellen Identität Europas erschienenen Publikationen zeigen eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema. 50 Kulturelle Identität kann als das Bild verstanden werden, das ein Individuum von dem Kollektiv hat, dem es sich zugehörig fühlt. Allerdings macht der dynamische Kulturbegriff von Lotman kulturelle Identität zu einem Wahrnehmungsphänomen, das nur vom Individuum ausgeht und keinen Anspruch auf Objektivierbarkeit hat. Es ist also ein Konstrukt mit sozialer Relevanz, welches aus der Innenperspektive konstruiert wurde und unterliegt symbolischer Formung. Die Beschreibung kultureller Identitäten ist nicht unabhängig, sondern einer Gruppe wird eine kulturelle Identität auf Grund von Attributen gegenüber einer Fremdgruppe zugeschrieben. Solche Zuschreibungen verweisen jedoch eher auf den Urheber als auf den tatsächlich Beschriebenen. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig über den eigenen Beobachtungsstandpunkt zu reflektieren. Welche Form von kultureller Identität prägt sich in Europa aus und gibt es eine Tendenz zur Homogenisierung oder werden kulturelle Partikularitäten verstärkt? 51 Da eine geschlossene europäische Identität analog zu nationalen Identitäten, wie oben erläutert, nicht herstellbar ist, kann der Europäische Integrationsprozess wie die Globalisierung als Gegenbewegung zum Nationalismus und Regionalismus gedacht werden. Denn nationale, regionale und lokale Identitäten werden in die europäische Identität integriert. Die Chance, die der europäische Einigungsprozess in dieser Hinsicht bietet, haben verschiedene Intellektuelle erkannt, die für Europa das Wort ergreifen, wie z. B. Jürgen Habermas, Jacques Derrida oder Etienne Balibar. 52 Die Konstitution von kultureller Identität ist ein dynamischer Prozess und die Kultur die notwendige Voraussetzung sozialen Handelns. Durch die Veränderung der Kulturrezeption wird der Konsum globalisierter Kulturprodukte immer mehr zum identitätsstiftenden Faktor, während der nationale Kanon an Bedeutung verliert. Mehrere Kulturen stehen miteinander in Kontakt und beeinflussen die kulturelle Identität der Träger, diese können aus den kulturellen Codes unterschiedlicher Herkunft Elemente für die Konstruktion kultureller Identität auswählen. 53 Sichtbar wird dies z. B. durch die gestiegene Mobilität, Migration und durch medial vermittelte kulturelle Differenzen. So werden die Bilder der homogenen Nationalkulturen, die faktisch zu keiner Zeit bestanden, hinterfragt. Eine Alternative, die aufgeführt wird, ist diejenige der multikulturellen Gesellschaft, in denen kultureller Reichtum zum gesellschaftlichen Gut wird. Die Idee scheitert hierbei nicht nur am Lebensalltag vieler Menschen (Diskriminierung), sondern bereits an der Begrifflichkeit von Multikulturalität, in dem die Differenz zwischen gegeneinander abgeschlossene kollektive Identitäten im Konstrukt des Miteinanders von Kulturen festgeschrieben ist. 54 Nach Hall formt sich kulturelle Identität durch die Etablierung eines diskursiven Feldes, dadurch, dass in einem Raum, der einen Überschuss an Momenten besitzt, Elemente wie Einstellungen, Praxen, soziale Routinen und Äußerungsformen mit denen sozialer Gruppen artikuliert werden. An den Knotenpunkten konstituiert sich kulturelle Identität und durch den Überschuss an Möglichkeiten sind an diesen Punkten auch andere Artikulationen möglich. 55 Kulturelle Identität wird so artikuliert und in dem Diskurs als Grundlage kultureller Identität ist immer das Potential des Anderen eingeschrieben. Ohne dieses Andere kann kulturelle Identität nicht konstituiert werden, da nur durch Abgrenzungen Artikulation stattfinden kann. Die kulturelle Dynamik pluralisiert Beobachterstandpunkte. Bei der Etablierung einer Identität ist die nationale Ebene durch die Institutionen des Bildungswesens und den nationalen Medien zwar wichtig, aber nicht primär, da das Individuum aus einer großen Aus- Sabine Krammer 352 wahl an Elementen seine dynamische Identität herstellt. 56 Das Individuum kann an verschiedenen Semiosphären partizipieren, die durch Subsemiosphären durchzogen sind und in diesen an unterschiedlichen Positionen (Zentrum - Peripherie) stehen. Kulturelle Identität ist an ein Raumkonzept gebunden, in dem das räumliche Zentrum den Status der Selbstbeschreibung erreicht hat und die Sprache bestimmen kann. Lotmans Instrumentarium beschreibt sowohl diese vom Zentrum ausgehende Normierungsstrategie wie auch das kreative Potential der Peripherien, wobei deutlich wird, dass die binären Pole voneinander abhängig sind. Auch bei der Aneignung des globalen Codes, der oft medial verbreitet wird, ist die Aneignung lokal und die dort entstehenden Spannungen sind unvorhersagbar. Kristeva erkennt in der signifikanten Praxis des Textes das politische Potential mythische Strukturen zu hinterfragen. In der Frage nach dem Verhältnis von Homogenisierung und Verstärkung der Partikularismen kann als Text ständig das Zentrum, das das Stadium der Selbstbeschreibung erreicht hat, hinterfragt werden. Dabei wird deutlich, dass homogene Identitäten nie vorhanden waren, sondern dass es sich um Signifikante handelt, denen Bedeutungen zugeschrieben wurden. Durch deren in Frage stellen, können neue Bedeutungen entstehen. Das bedeutet, dass die entgrenzte Identität und die Textpraktik des subversiven Verhaltens der Subjekte, z. B. die Eigendynamik beim Aneignungsprozess globaler Codes, die Illusion einer Identität aufdecken. Obwohl der kulturelle Eigensinn der Konsumenten unvorhersehbar ist, darf die Bedeutung der Bindung von Identitäten an ökonomische Hierarchien nicht unterschätzt werden. Das Bewusstsein für Differenz und die von Kristeva propagierte signifikante Praxis zeigen, dass nationale Identität nur eine mögliche Rahmung der kulturellen Identität ist, die immer weniger nach dem territorialen Prinzip gedacht wird. 57 Stets muss bedacht werden, dass - egal nach welchen Kriterien Grenzziehung und die Frage der Inklusion oder Exklusion des Anderen beantwortet werden - diese nie eine essentialistische Begründung haben. Wächst dieses Bewusstsein, werden Entscheidungen hinterfragt. Dadurch, dass die Semiosphäre Europa durch die vielen Subsemiosphären innerlich getrennt ist, bleibt die Differenz immer spürbar und kann somit auch artikuliert werden. Lotman beschreibt zwei kontraproduktive Bewegungen in der Kultur: Einerseits strebt Kultur nach Diversifikation, weswegen Sprachen multipliziert und externe Texte eingefügt werden. Andererseits versucht ein integrativer Mechanismus die Stabilität und Einheit der Kultur zu erhalten. Die Diskussion um Homogenisierung oder Verstärkung von Partikularismen in Europa entspricht diesem Prinzip. 2.2 Die gesellschaftliche Funktion von Fremdheit Kollektive Identitäten bilden sich selten durch gemeinsam geteilte positive Wertüberzeugungen wie Konsens und Ideal, sondern durch Grenzziehungen, in denen Selbst- und Fremdbilder konstruiert werden. Die Unterscheidung zwischen uns und den Anderen, zwischen Dazugehörigen und Ausgeschlossenen wirkt sich stärker auf Identitätsbildung und Selbstpositionierung von Gruppen aus als andere der verfügbaren und täglich praktizierten sozialen Distinktionen (vgl. Bach 2001). 58 Die Identität eines Kollektivs beruht auf der Behauptung eines gemeinsamen Merkmals. Doch welche Mechanismen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion sind damit verbunden? Das nationale Selbstverständnis beruht nicht auf objektiv feststellbaren Gemeinsamkeiten, sondern auf der Vorstellung von Gemeinsamkeiten (vgl. Anderson 1996). Durch Narration werden die Konstruktionen der Vorstellung generiert. So kann man Identität als das Ergebnis Das Fremde in Europa 353 der ständigen Reproduktion von Narrativen verstehen. Narrative werden öffentlich kommuniziert, wobei den Medien eine große Bedeutung zukommt. Visuelle Narrative sind besonders einprägsam, um Vorstellungen von Gemeinsamkeit, aber auch von Fremdheit zu prägen. In Folge territorialer, institutioneller und kultureller Grenzziehungen werden soziopolitische Räume sowie kollektive Identitäten restrukturiert. Die EU beeinflusst die Kategorien von Fremdheit und den Umgang mit Fremden durch die Öffnung, Verschiebung und Befestigung von Grenzen. Durch die Festlegung von Staatsgrenzen, z. B. die spanischen Enklaven in Marokko, werden die territorialen Grenzen verschoben. Der Gedanke an ein Europa ohne Grenzen als Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes verschob institutionelle Grenzen. Der einheitliche Währungsraum stellt nicht nur für die Ökonomie, sondern auch für die Alltagswelt der Bürger ein Zusammenwachsen dar. Um die ungehinderte Zirkulation von Waren zu garantieren, wurde in die Grenzen einzelner Mitgliedsstaaten eingegriffen. Mit diesen territorialen und institutionellen Raumveränderungen wurde vermehrt auch über Mitgliedschaftsräume diskutiert. Aber nicht nur die Beitrittsfrage, sondern auch die Thematik der Migration und der Unionsbürgerschaft stellen wichtige Punkte im Identitätsbildungsprozess dar. 59 Georg Simmel weist darauf hin, dass die Grenze “nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt” (Simmel 1992b: 697) ist. Die gegenseitige Bedingtheit und unvorhersehbare Dynamik dieser Bewegung lassen sich als Semiosphäre besonders gut vorstellen. Jeder neue Beitritt bedeutet eine Expansion des territorialen Herrschaftsgebietes der EU, ohne dabei die bestehenden politischen Grenzverläufe der Mitgliederstaaten zu verändern. Nach der Epochenwende 1989 60 war die festgelegte Ost-West-Grenze unklar: wo liegen die Grenzen Europas im Osten? Die Ordnungs- und Identitätsidee Mitteleuropas wurde durch die veränderten geopolitischen Grenzverläufe hinterfragt. Der Nationalstaat ist ein politischer Mitgliedsverband, der über die Staatsbürgerschaft und damit über Zugehörigkeitsrechte entscheidet, d. h. er definiert AusländerInnen und diskriminiert allein dadurch fremde Menschen. 61 Die Diskussionen um die europäische Staatsbürgerschaft haben eine Dimension erreicht, die an die Verwurzelung der europäischen Kultur und Geschichte, an das europäische kulturelle Erbe und das Abstammungsprinzip geknüpft ist. Entsteht dadurch ein neuer Eurozentrismus und bedeutet Europäischsein damit “denjenigen, die einen geringeren Anspruch auf diesen Titel haben, überlegen zu sein” (Delanty 1999: 174)? Im Staatsbürgerschaftsdiskurs der EU lässt sich ein auf Exklusion zielender nationalistischer Integrationsmodus erkennen, der auf einem essentialistischen Verständnis kollektiver Identität beruht und eine dauerhafte Grenze zwischen uns und anderen zu ziehen droht (vgl. Bach 2001). Zwischen uns und den Anderen wird eine Grenze gezogen, um das Eigene durch Abgrenzung vom nichtzugehörigen Fremden zu definieren. Diese Mechanismen sind nicht zu verurteilen, sondern es muss ein Problembewusstsein dafür geschaffen werden. Durch Exklusion wird das Fremde verfeindlicht, als externe Bedrohung werden fremde Menschen zu Feinden des eigenen Systems. Verwerfung, im Sinne von Kristevas Abjection (vgl. Kristeva 1982: 2), führt zu einer Verunheimlichung des Eigenen, das dann auf fremde Menschen übertragen wird. 62 Eignet man sich das Andere an, verfremdet sich das Eigene, wie am Beispiel der Spannung zwischen Homogenisierung und Verstärkung von Partikularismen deutlich wird. Die Verfremdung des Eigenen ist nach Lotman als eine neue Sprache in der Semiosphäre zu verstehen, durch die mit der fremden Semiosphäre kommuniziert werden kann. Sabine Krammer 354 Zur Zukunft Europas gibt es einige Stimmen, die die Überwindung des Unterscheidungskriteriums nationaler Herkunft fordern. In den USA besteht z. B. eine sekundäre nationale Vergemeinschaftung der nationalen Herkunftsidentitäten. In Texten über Parallelen zwischen USA und EU wird das nationale Paradigma als mögliche Organisationsform betrachtet (vgl. Bach 2001). Dabei liefert gerade die Semiosphäre Europa das nötige Potential, um alternative Organisationsformen zu erarbeiten. 63 Die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa zeigen die Notwendigkeit einer neuen Konzeption politischer Gemeinschaft. 2.3 Die Fremden im nationalen Projekt “Etrangère et cosmopolite […], je revendique cette atopie (l’étrangeté) et cette utopie (une concorde des hommes sans étrangers, donc sans nations) comme moyens de stimuler et d’actualiser la discussion sur le sens du ‘nationale’ aujourd’hui.” (Kristeva 1990b: 18) Kristeva beschäftigt sich mit der Erfahrung von Fremdheit in einer politischen Gemeinschaft. 64 Die Nation bzw. der Nationalstolz sind auf psychoanalytischer Ebene vergleichbar mit dem Spiegelstadium, dem Narzissmus, d. h. der Konstruktion eines Ideal-Ichs. 65 Kristevas analytische Beschäftigung mit Fremdheit zeigt, dass der/ die Fremde schon immer Teil des nationalen Projekts war, da die Identität einer Gruppe auf dem Vergleich mit Gleichen und der Verfolgung von Anderen aufbaut (vgl. Kristeva 1990b: 18). Dabei werden komplexe Kausalitäten, die soziale Gemeinschaften steuern, mit den Gesetzen des Unbewussten eines Subjektes verwechselt. Die unbewussten Logiken sind ein elementarer Teil der sozialen und damit der nationalen Dynamik. Um diese unbewussten Strukturen darzustellen, ist es notwendig, ausgehend von den Grenzen, die Illusion einer imaginären Einheit zu hinterfragen. “En effet, je suis convaincue, qu’à long terme, seul un travail en profondeur sur notre rapport singulier à l’autre et à l’étrangeté en nous pourra conduire les hommes à abandonner la chasse au bouc émissaire extérieur à leur groupe, laquelle les autorise à se replier sur leur ‘quant-à-soi’ ainsi purifié: le culte du ‘propre’ dont le ‘national’ est la forme collective, n’est-il pas le commun dénominateur que nous imaginons avoir ‘en propre’, justement, avec les autres ‘propres’ comme nous? ” (Kristeva 1990b: 19) Um die gesellschaftlichen Dynamiken bewusst zu machen, verweist Kristeva auf Freuds Begriff des Unheimlichen (vgl. Kristeva 1990a: 199-210). Denn Freuds linguistische Analyse des Wortes unheimlich zeigt die Instabilität der Opposition von innen und außen: unheimlich ist nur, was zuvor heimlich war (vgl. Freud 1994: 243). 66 Der Begriff unheimlich verweist auf die Unsicherheit der konzeptuellen Grenzen, die gleichzeitig Quelle und Symptom des Unheimlichen ist. Diese paradoxe Logik ist auch für die Spannungen im Umgang mit Fremdheit zu finden, denn im Eigenen liegt immer auch das Fremde (vgl. Kristeva 1990a: 199). Voraussetzung für die Akzeptanz von Differenz ist das Bewusstsein für das Fremde in mir. Das Fremde in uns und in unserer eigenen Kultur führt zu Ent-Fremdung. Mit Freuds Konzept des Unheimlichen wird das Unbekannte nicht als kulturelle Alterität oder Distanz, sondern als das Unbegreifliche im Eigenen verstanden (vgl. Kristeva 1990a: 198). Kristevas Argumentation von Fremde sind wir uns selbst folgt dieser doppelten Bewegung von Fremdheit im Inneren und der Exteriorität des Anderen. Der Internalisierung des Anderen steht die radikale Exteriorität und Nicht-Integration von Alterität gegenüber. “Dem Kosmopolitismus der Stoiker, der universalistischen Integration durch die Religion folgt bei Freud der Mut, uns selbst als desintegriert zu benennen, auf daß wir die Fremden nicht mehr Das Fremde in Europa 355 integrieren und noch weniger verfolgen, sondern sie in dieses Unheimliche, diese Fremdheit aufnehmen, die ebenso ihre wie unsere ist.” (Kristeva 1990a: 209) Die fremde Position nimmt dabei die Logik von Freuds Unheimlichem ein. 67 Kristeva beendet Fremde sind wir uns selbst mit dem Kapitel Praktisch…, in dem sie konkrete Denkanstöße gibt und aktuelle Entwicklungen in Frankreich und Europa mit einbezieht. Da ein umschließendes transzendentes Ganzes fehlt, stellt Kristeva fest: “Eine paradoxe Gemeinschaft ist im Entstehen, eine Gemeinschaft von Fremden, die einander in dem Maße akzeptieren, wie sie sich selbst als Fremde erkennen. Die multinationale Gesellschaft wäre somit das Resultat eines extremen Individualismus, der sich aber seiner Schwierigkeiten und Grenzen bewußt ist - der nur Irreduzible kennt, die bereit sind, sich wechselseitig in ihrer Schwäche zu helfen, einer Schwäche, deren anderer Name unsere radikale Fremdheit ist.” (Kristeva 1990a: 213) 68 Die Opposition von unheimlich und heimlich zeigt, dass alle nationalen Identifikationen ebenso wie Bürgerschaft, auch die Unionsbürgerschaft der EU, die Beziehung von Einheimischen und Fremden in das Gegensatzpaar Bürger und Nicht-Bürger im Nationalstaat einordnen. Fremde übertreten die Grenze der nationalen Gemeinschaft und nehmen so die Positionen von Außenseitern ein. Aber gerade in der Abgrenzung zu Außenseitern besteht die Basis der Nation. Die Gesetze einer Nation zeigen deren Abhängigkeit von Außenseitern. Benedict Anderson definiert Nation als “eine vorgestellte politische Gemeinschaft - vorgestellt als begrenzt und souverän” (Anderson 1996: 15). 69 Deren Charakter liegt in der Abgrenzung gegenüber Anderen. Während Anderson die Linearität nationaler Narrative betont, benutzen Kristeva und Bhabha die Ästhetik des Unheimlichen, um die Ambivalenz des Ausgegrenzten und seine Bedrohung für die Homogenität der nationalen Identität und die Heterogenität nationaler Zugehörigkeit herauszuarbeiten. 70 Sowohl Kristeva als auch Bhabha denken von der marginalen und ambivalenten Seite der Fremden aus (vgl. Ziarek 2003: 141). 71 Kristeva stellt die Frage, ob im Rahmen des Nationalen nicht immer exklusivistischer Rassismus entsteht oder welche anderen Möglichkeiten zur Organisation einer Gemeinschaft bestehen, ohne sich in einem utopischen Gefühl absoluter Brüderlichkeit aufzulösen. Des Weiteren vergleicht sie die Nation mit einem Subjekt aus der Psychoanalyse, verwendet auch die politische Soziologie, aber sie distanziert sich davon, ein Modell oder das optimale Nationenmodell vorzustellen. Stattdessen zeichnet sie die Reflexion des politischen Gedanken der Aufklärung nach und zieht daraus wichtige Gedanken für die aktuelle nationale Frage. 72 In Die neuen Leiden der Seele entwirft Kristeva die Idee eines neuen gesellschaftlichen Gefüges, das der Nation überlegen ist (vgl. Kristeva 1994a: 226). Die Nation ist gekennzeichnet durch ökonomische Homogenität, geschichtliche Tradition und sprachliche Einheit. Diese Grundlagen werden auf Grund der symbolischen Nenner aber auch der lebensweltlichen Erfahrung sowie der gegenseitigen Abhängigkeit in den Globalisierungsprozessen zunehmend in Frage gestellt. Europa als bestimmtes sozio-kulturelles Ensemble war lange eher an einem ökonomischen Profil als an symbolischen Nennern interessiert. 73 “Les identités et les ‘communs dénominateurs’ sont ici reconnus, mais on évite leur crispation morbide en les plaçant, sans les gommer, dans une communauté polyphonique qui s’appelle aujourd’hui la France. Demain, peut- tre, si l’esprit général l’emporte sur le Volksgeist, cette communauté polyphonique pourra s’appeler l’Europe.” (Kristeva 1990b: 35 f.) Sabine Krammer 356 2.4 Europa als signifikante Praxis des Textes Das Konzept der Nation lässt die Illusion einer einheitlichen Gemeinschaft entstehen, die durch Zentralität und Abgeschlossenheit gekennzeichnet ist. Betrachtet man die Nation mit dem Konzept der Semiosphäre wird die Relevanz der Selbstbeschreibung und damit der Begrenzung des Geltungsbereichs der Sprache deutlich, aber auch die Unvorhersehbarkeit und erhöhte semiotische Aktivität an den Grenzen. Auch Bhabha tritt für einen Blick vom Rand der Nation ein und betont so die Wichtigkeit und das innovative Potential der Grenze. An den Grenzen kommt eine Nation zuerst mit Vertretern einer anderen in Kontakt und diese wandernden Menschen sind dann “selbst die Zeichen einer sich verschiebenden Grenze […], welche die Grenzziehungen der modernen Nation verfremdet.” (Bhabha 2000: 245) Durch die Kontakte mit anderen Semiosphären wird der Bruch der nationalen Referenz in der Spannung zwischen der Signifikation des Volkes als gegebene historische Präsenz und dem Volk, das in Performanz narrativer Geschichte konstruiert wird, deutlich. In der Spannung zwischen diesen beiden Polen, die Lotman als Binarität bezeichnet, d. h. in dem Dazwischen der aus sich selbst erzeugenden Nation und der anderen Nation, steht das Volk, das keine homogene Gruppe darstellt, sondern in sich selbst gespalten ist. Im Wesen der Nation “als ethnographische Kategorie, die ihrem eigenen Anspruch entspricht, die Norm der sozialen Gegenwart zu sein” (Bhabha 2000: 223) werden andere Normen gar nicht anerkannt und Fremde werden ausgeschlossen. Das Subjekt konstituiert sich durch das Andere, Dialog bzw. Übertragung charakterisieren es, wobei das Objekt der Identifikation ambivalent ist. Der Identifikationsprozess ist daher nie abgeschlossen und bezieht sich stets auf ein den Platz wechselndes Objekt, das nur eine Spur hinterlässt. Das ist der Vorgang den Kristeva als Intertextualität bzw. Transposition beschreibt (vgl. Kristeva 1978: 69). 74 Trotz des steten Prozesses der Substitution besteht ein unübersetzbarer Kern, der nicht durch kulturelle Texte und Praktiken übertragen werden kann. Auf Grund der Unübersetzbarkeit wird der Automatismus der Übersetzung gestört. Wie oben dargestellt lässt sich Europa nicht als nationalstaatliches Modell denken. Unabhängig der Debatte um die Auflösung oder Stärkung der Nationalstaaten in der EU 75 , lässt sich in der Semiosphäre Europa ein Bewusstwerden für die Vielzahl der Subsemiosphären feststellen. Gerade durch den Austausch mit Anderen verändert sich das Selbst- und Fremdbild Europas. Europa lässt sich als signifikante Praxis des Textes definieren, in dem das Subjekt andere signifikante Praxen hinterfragt. Der Begriff Europa wurde mit dem Semiosphärenmodell erläutert, dabei wurde in Hinblick auf die Heterogenität, Binarität und Asymmetrie deutlich, dass Europa ein synchroner und diachroner Organismus zwischen Katastrophen und Friedenssicherung ist, dessen Handlungen in einem wirtschaftlichen, politischen und kulturpolitischen Raum stattfinden. Die synchrone Dimension betont Derrida in seinem Essay Das andere Kap. Durch die Reduzierung der Komplexität auf gegenwärtige Ereignisse kann er Europa als ein Subjekt im Prozess begreifen. “Das Ereignis ereignet sich vielmehr, als das, was heute in Europa im Kommen bleibt, was heute in Europa noch auf der Suche nach sich selbst ist und sich verspricht oder als Versprechen ankündigt. Das Heute, die Gegenwart dieses Europas ist die eines Europas ohne festgesetzte, vorgegebene Grenzen, ja ohne festgelegten Namen: Europa fungiert an dieser Stelle nur als paleonymische Bezeichnung” (Derrida 1992: 26) 76 Das Fremde in Europa 357 3 Die Auseinandersetzung mit Fremdheit als endloser Dialog Die Verbindung von Lotmans und Kristevas Theorien sowie die Analyse Europas als Semiosphäre verdeutlichten, dass die Menschen, die dieses Europa gestalten und in diesem Raum leben, von zentraler Bedeutung sind. Denn jede Semiosphäre ist auf den Austausch mit anderen Semiosphären angewiesen und die Menschen sind dabei die Träger kultureller Bedeutung. Durch den Kontakt und Austausch mit anderen Menschen können Grenzen verlegt werden. Der Dialog mit GrenzgängerInnen und die Übersetzung externer Texte in interne Texte kreieren neue Bedeutungen. Gleichzeitig nehmen verschiedene Geschichten und Erzählungen semiotischen Raum ein. Die Semiosphäre Europa ist folglich ein Erfahrungs- und Handlungsraum, der durch die kulturellen Eigenschaften der Mitglieder bestimmt wird. Sie ist gekennzeichnet durch Heterogenität, die z. B. in den verschiedenen Nationen und Sprachen Ausdruck findet. Die Asymmetrie der Subsemiosphären, die sich ständig entwikkeln, Plätze tauschen und aufeinander prallen, ist für die Dynamik der Semiosphäre verantwortlich. Durch die unterschiedlichen Sprachen findet in der Semiosphäre ein Dialog statt, bei dem neue Bedeutung entsteht. Der kulturelle Grenzraum ist also für das kreative und innovative Potential der Semiosphäre zuständig. Dabei sind die Grenzräume nicht deckungsgleich mit nationalen Grenzen, sondern trennen und verbinden die Semiosphäre Europa. Die Selbstbezeichnung, die Europa aktuell formuliert, etabliert sich auf einer zeitlichen Achse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und auf einer räumlichen Achse von Innen und Außen. 77 Dabei neigt das Zentrum dazu, eine Einheitlichkeit zu behaupten. Das Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen dem Anspruch auf Homogenisierung und der Verstärkung von Partikularismen sowie zwischen Exklusion und Inklusion bildet einen wesentlichen Aspekt für die Analyse des europäischen Raums, dem weitere Forschungsprojekte gewidmet werden sollten. Nicht nur die Frage nach den Mitgliedsländern bzw. den potentiell zukünftigen EU-Ländern, sondern auch die Frage nach dem/ der Einzelnen muss dabei bedacht werden, da es in den verschiedenen Mitgliedsländern unterschiedliche Möglichkeiten zur Teilhabe am politischen System und Kriterien zur Benennung von Fremden gibt. Der Prozess der Europäischen Integration ist geprägt vom Verlust der Kontrolle über den Raum, wobei der Begriff Raum auch seine Definitionsmacht einschließt. In der Spannung zwischen Öffnung und Schließung von Grenzen wird der Versuch der EU deutlich, als normatives Zentrum Raum mit Bedeutung zu belegen. Durch die Instrumente zur Grenzkontrolle etabliert sich die europäische Gesellschaft als Raum von Zugehörigkeit und Ausschluss und folgt damit der Logik der Nationalstaaten, auch wenn es sich bei Europa, wie dargestellt wurde, nicht um ein Nationenmodell handelt. Die Kreativität, die durch den Kontakt mit Fremden entsteht, wird zu einem Teil der Semiosphäre. Dabei kann keine Begegnung mit radikalen Fremden stattfinden, sondern nur mit einzelnen Personen, die Grenzen überschreiten. Die einzelnen Menschen sind dafür verantwortlich, dass Migrationen Gesellschaften verändern. Personen, die als ungebetene Gäste beispielsweise um Asyl bitten oder auf illegalem Weg in die EU reisen, stellen Europa immer wieder in Frage. Die Grenzen selbst sind dann die Austragungs- und Verhandlungsorte, von denen ausgehend neue Dynamiken das System erobern. Die Momente der Migration, die die nationalstaatlich formierten Gesellschaften anstoßen, verdeutlichen die kreative Kraft, die in ihnen liegt. Der Begriff Europa bezeichnet folglich ein Ereignis, das nicht mit bestimmten festen Grenzen und ausschließenden Grenzziehungen verbunden ist. Die Grenzen finden sich stattdessen in der Differenz der Kultur mit sich selbst und als Differenz zum Anderen der Kultur. 78 Das Selbst konstituiert sich durch den Kontakt mit Anderen und setzt Sabine Krammer 358 sich im Fremden mit dem Eigenen auseinandersetzt. Kristeva variiert diesen Satz unter Zunahme der Strukturen des Unbewussten Freuds zu Fremde sind wir uns selbst. Jede Begegnung mit Fremden ist ähnlich strukturiert und verweist immer auf das Eigene. So kann eine Anerkennung der Abjection stattfinden, wie auch der Figur dieser Verdrängung: der und dem Fremden. Die Aufhebung von Fremdheit ist dabei nicht realisierbar und würde auch die kulturellen Dynamiken verhindern, denn gerade in der Begegnung mit Fremden liegt das kreative Potential. Die Fremdheit wird nicht aufgehoben. Stattdessen findet eine ständige Verschiebung der thetischen Schranke (vgl. Kristeva 1978: 55-61), Wiederherstellung alter und der Entstehung neuer Texte in der Semiosphäre statt. In seinem Semiosphäremodell beschäftigt sich der Kultursemiotiker Lotman mit dem für die Themen Migration und Fremdheit zentralen Begriff des Raums. Das Modell ist geeignet, die für die Identitätsbestimmung einzelner Kulturen wichtige Unterscheidungen zwischen Eigenem und Fremden vorzunehmen: Das Zentrum beschreibt normativ angrenzende Semiosphären und wehrt Bedrohung von außen ab. In einer Blütezeit besteht eine höhere Kontinuität nach innen, wobei das Zentrum unflexibel wird, während die Peripherie für den semiotischen Dynamismus verantwortlich ist. Die unterschiedlichen Instrumente zur Integration von Fremden in ein System und die diversen Migrationsregime könnten sich ebenfalls als Semiosphären analysieren lassen. Die Analyse des Fremden ist mit einer räumlichen Vorstellung verbunden, da es gerade die Fremden sind, die als unvorhersehbare Grenzbereiche zwischen den Semiosphären wandeln und an den Schnittpunkten neue Gesellschaftsformationen herausbilden. Lotmans Perspektive auf diese Figuren verdeutlicht, wie Gesellschaften von einer symbolischen Ordnung in die nächste gelangen können. Kulturelle Strukturen in der europäischen Gegenwart sind ein dynamisches Untersuchungsobjekt, da die Strukturen sich in einem fortwährenden Prozess befinden. Das Semiosphärenmodell ermöglicht es, soziale Einheiten einer Gesellschaft mit den Spannungsbeziehungen und den darin existierenden Sprachen zu begreifen. Der Umgang mit Fremden und die sozialen Konstruktionen des Fremden folgen oft dieser unbewussten Logik. Dabei stellt sich die Frage nach dem Handeln des Individuums. Das Subjekt bildet sich aus dem Kontakt mit dem Anderen und befindet sich in einem ständigen Prozess und im Austausch mit dem Anderen, durch den es die Konstruktionen von Fremden und den Umgang mit ihnen verändert. In diesem Prozess situiert sich das Subjekt nach Kristevas Sprachtheorie stetig neu. Mit Lacan sind Subjekt und die Anderen über die Konstruktion des Selbst miteinander verbunden (vgl. Lacan 1991a), ebenso wie die sozialen Konstruktionen und die Logik, die das individuelle Handeln bestimmt, über den Prozess der Bedeutungskonstitution verschränkt sind. Das kulturwissenschaftliche Raummodell der Semiosphäre eignet sich als Analysemodell für Strukturen kultureller Dynamik in der europäischen Gegenwart in Bezug auf das Fremde, da Fremdheit mit Grenzziehung und Abgrenzung zu Anderem verbunden ist. Durch die Konstruktion von Differenzen werden Andere zu Fremden und eigene Räume von fremden getrennt. Zur Beschreibung dieser Prozesse verwendet Lotman räumliche Begriffe, wie Spiegel, Rahmen, Grenze oder Asymmetrie. Die Semiosphäre ändert sich im Dialog mit anderen Semiosphären dadurch, dass fremde Texte angeeignet werden, die wiederum die Sprachen innerhalb der Subsemiosphären verändern. Dadurch entstehen neue Semiosphären, wie besonders an den Entwicklungen der nationalen und kulturellen Identitäten im europäischen Raum feststellbar ist. Durch die Aneignung fremder Texte und den Austausch mit anderen Semiosphären erreicht das Eigene eine verfremdete Perspektive, die eine unvorhersehbare und innovative Aktion ermöglicht und die Semiosphäre stärkt. Das Subjekt kann so Das Fremde in Europa 359 Zentrum und Peripherie zugleich sein und erreicht ein doppeltes Sehen und Verständnis für andere Semiosphären. Lotmans Bild des Spiegels ist vergleichbar mit Bachtins Idee des doppelten Diskurses, in dem die Worte des Anderen zu Worten des Autors werden (vgl. Bachtin 1979: 185), was Kristeva mit Transposition beschreibt. Die Spiegelung zeigt aber nicht nur das Bild, sondern fügt dem Bild noch etwas hinzu, so wie das Wort des Anderen im eigenen Diskurs neue Bedeutung erhält. Dieses unähnlich Ähnliche ist asymmetrisch und somit ein Charakteristikum der Semiosphäre. Nach Bachtin, Lotman und Kristeva kann man für das Eigene und das Fremde feststellen, dass das Fremde nur in einer verfremdeten Perspektive begreifbar ist. Treffen entfremdete Semiosphären aufeinander, führt dies zu einer kulturellen Explosion. In Bachtins Einfluss erkennt Lotman in der dialogischen Beziehung die Chance für ein kreatives Denken über Andersheit und Differenz. Die Bedeutungskonstitution ist ein Prozess, d. h. eine Spannung zwischen Semiotischen (Vorsprachlichem) und Symbolischen (Sprachliches, Gesellschaftliches), bei der der Trieb als vermittelnde Instanz auftritt. Dadurch werden Sinn und Strukturen geschaffen, die dem Subjekt Orientierung bieten. Beim Erstarren der Strukturen und dem Entstehen von Käfigen werden diese wieder zerstört und neue Regeln gebildet. Auch in der Semiosphäre wechseln Zentrum und Peripherie ihre Plätze, da das Zentrum sich durch seine strikten Normen in seiner Dynamik und Entwicklung selbst behindert. Jede Struktur, gesellschaftlich oder individuell, kann von der Kraft, die sie am Leben erhält, auch zerstört werden. Denn das Zerstörerische ist keine äußere Macht, sondern der dynamischen Struktur inhärent. Daher bringt jede Gesellschaftsform ihre eigenen Barbaren hervor. Das Errichten einer Grenze, sei es eine Grenze innerhalb einer Semiosphäre oder auch die thetische Schranke, ist sowohl die Bewegung zu etwas hin, als auch die Bewegung von etwas weg. Die Grenzen sind der Ort des Austausches und der Verhandlung über neue Grenzen. Durch den Austausch und den Dialog ist die Grenze ein Ort hoher semiotischer Aktivität. Dort können neue Identitäten, neue Semiosphären entstehen und verschiedene Formen der Sinngebung voneinander abgegrenzt werden. Um eine gemeinsame Sprache zwischen den unterschiedlichen Formen von Subjektivität zu finden, kommt es darauf an, einen produktiven Polylog herzustellen. Das Dialogprinzip von Bachtin ist bei Kristeva und Lotman entscheidend für den Umgang mit Fremdheit: Der konstante Austausch und die Konfrontation mit dem Anderen machen deutlich, wie wichtig die jeweilige symbolische Ordnung für das eigene Bewusstsein und die eigene Wahrnehmung ist und diese definiert. Fremdheit, Andersheit und Eigenes bedingen sich gegenseitig. Das Fremde kann nie vollständig assimiliert werden, es bleibt immer ein Überschuss an Andersheit und der Prozess der Auseinandersetzung bleibt als endloser Dialog unabgeschlossen. Literatur Anderson, Benedict 1996: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a. M.: Campus. Bach, Maurizio 2001: “Integration durch Fremdenfeindlichkeit? Über die Grenzen Europas und die kollektive Identität der Europäer”. In: Gellner, Winand & Strohmeier, Gerd (Hg.) 2001: Identität und Fremdheit. Eine amerikanische Leitkultur für Europa? Baden-Baden: Nomos, S. 141-149. 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Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 29). Beispiele für die Mobilität außerhalb Europas sind die Migration in Kolonien oder die Auswanderung nach Amerika (vgl. Bade & Oltmer 2004: 8 f.). 4 Dieser geschichtliche Überblick über verschiedene Migrationsregime soll die unterschiedlichen Stimmungen in den diversen Zeiten und Räumen sowie die konkreten Erfahrungen von Fremden aufzeigen. Dabei ist sich die Verfasserin bewusst, dass sie mit der Einteilung der Migrationsregime in unterschiedliche Epochen der komplexen Fremdheitserfahrung nicht gerecht werden kann und es sich bei den Epochen um ein Konstrukt handelt, um den Forschungsgegenstand einzugrenzen. 5 Rom wurde als Asyl für die gesamte Welt bezeichnet, aber in der Bewertung dieses Umstandes bestanden Unterschiede (vgl. Schlange-Schöningen 1995). 6 Alexander Demandt beschreibt die einzelnen Phasen der versuchten Integration der Germanen und sucht nach Gründen für das Scheitern. Erst nach der Invasion Roms durch die Barbaren und nach dem Scheitern diplomatischer Lösungen erhielt der Begriff Barbar sein negatives Attribut. In der Endphase des Römischen Reiches entstand auch der Begriff des Vandalismus (vgl. Demandt 1995). 7 Die religiös-kulturelle Einheit des westlichen Christentums entsteht im Zeichen von Kirchenspaltung, Kreuzzug und Reconquista auch in Abgrenzung gegenüber Andersgläubigen. Nicht nur diese wurden vertrieben, sondern auch Bettler, Vagabunden, Landstreicher und andere Bevölkerungsgruppen am Rande der Gesellschaft. “Es lässt sich fortan ‘säubern’ und die Metaphorik der Unreinheit und des Schmutzes wiederum wird die sich säkularisierende Rhetorik politischer Ordnung beständig anreichern und begleiten, wenn es darum ging, gegen Menschen vorzugehen, welche als Fremde oder nicht ortsansässige Arme die Ordnungsfunktionen der öffentlichen Herrschaftsträger ungewollt in Frage stellten” (Raphael 2004: 18). Michael Borgolte sieht in der Kompromisslosigkeit der monotheistischen Religionen die Voraussetzung für die Akzeptanz von Differenz und argumentiert, dass Europa im Mittelalter seine Vielfalt entdeckte (vgl. Borgolte 2005). 8 Zur Konstruktion des Fremden im Mittelalter vgl. Kühnel 1993. 9 Dante verfasste Die göttliche Komödie im Exil, nachdem der Krieg zwischen Guelfen und Ghibellinen ihn gezwungen hatte, Florenz zu verlassen. Kristeva schlägt als einen möglichen Interpretationsschlüssel seines Werkes das Exil vor (vgl. Kristeva 1990a: 116 f.). 10 “Ein neuer Kosmopolitismus ist dabei zu entstehen, gegründet nicht mehr auf der Einheit der Gott gehörenden Kreaturen, wie sie Dante vor Augen hatte, sondern auf der Universalität des fragilen, ungezwungenen und dennoch tugendhaften und sicheren Ichs.” (Kristeva 1990a: 134) Diese Frage wird in den kritischen Perspektiven zu Multikulturalismus diskutiert (vgl. Radtke 1997). 11 Für einen Überblick über die Erfahrungen mit Fremden in der Neuzeit vgl. Classen 1993. 12 Allerdings muss in diesem Zusammenhang auf die Zwangsmigration in Form der Sklaverei in Venedig hingewiesen werden. 13 Was ist beispielsweise mit den Menschen, die nicht BürgerInnen eines Staates sind? Hat man Menschenrechte, wenn man keine Bürgerrechte besitzt? Mit Überlegungen von Hannah Arendt und der möglichen Umwandlung der Menschenrechte verweist Kristeva auf die Utopie einer Gesellschaft ohne Nationen (vgl. Kristeva 1990a: 169). Während der Revolution wurden Fremde als Menschen aus anderen Ländern integriert, um deren Herkunftsländer zu bekämpfen. Parallel zu den steigenden politischen Unruhen und der ökonomischen Krise wurden die Fremden dafür verantwortlich gemacht. Schließlich verschärfte sich nach der Revolution die religiöse und nationale Diskriminierung. 14 Unerwünschte Menschen wurden aus rassischen Gründen ausgeschlossen. “Die historisch-zeitliche, gesellschafts-strukturelle und situative Bedeutung von Ethnizität” (Heckmann 1991: 58) ist variabel. Friedrich Heckmann untersucht den Grund für die Problematik ethnischer Pluralität in der Nationalgesellschaft. 15 Zur Legitimationskarte für ausländische Arbeitskräfte in Deutschland vgl. Bade & Oltmer 2004: 13-15. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts waren staatliche Grenzen von keiner großen Bedeutung. Die seit der Französischen Revolution verwendeten Ausweise und Pässe dienten vor allem dazu, die Identität von Migranten bei politischer Unruhe zu überprüfen, aber nicht als Instrument zur Ausweisung von Ausländern. 16 Die Verbindung von Staats- und Nationalkonzept ist in sich widersprüchlich, da Staaten jedem Bürger die gleichen Rechte zubilligen, aber Nationen Gruppen kulturelle Sonderrechte zusprechen. 17 Andere Instrumente zur Regulierung von Zuwanderung sind zum Beispiel die Reglementierung der Arbeitserlaubnis und die beschränkte Aufnahme von Flüchtlingen (vgl. Hoerder & Lucassen & Lucassen: 51). “Wohlfahrtstaatliche Interventionen dienten der Sicherung und Förderung der Loyalität der Staatsbürger durch sozialen Ausgleich, verfolgten also auch eine Integrationsfunktion. Sie erforderten aber zugleich Entscheidungen über die Eingrenzung des Kreises der Empfangsberechtigten, die sich in der Regel an deren Staatsangehörigkeit orientierte. Zuwanderung konnte in diesem Kontext als Gefahr für die Leistungsfähigkeit des nationalen Sabine Krammer 364 Wohlfahrtsstaates bei der Integration seiner eigenen Staatsbürger erscheinen.” (Hoerder & Lucassen & Lucassen 2007: 43) 18 Zu den Zwangswanderungen im Nationalsozialismus vgl. Oltmer 2005. 19 Ursprünglich zum Schutz der europäischen Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges konzipiert, wurde die Konvention erweitert und legt fest, wer ein Flüchtling ist und welche Rechte und Pflichten ihm/ ihr dadurch garantiert werden (vgl. UNHCR 2008). 20 Das sozialistische Osteuropa war von diesen Migrationsströmen abgekoppelt, nur Jugoslawien als ein multiethnischer sozialer Staat ließ Arbeitsmigration zu. In den 1970er Jahren wurden auch die osteuropäischen Staaten zu Aufnahmegesellschaften von Menschen aus Lateinamerika, dem östlichen Mittelmeerraum, Asien und Afrika. 21 Die Verwendung des Begriffs GastarbeiterIn ist bezeichnend für den Status der ArbeitsmigrantInnen: Das Wort Gast impliziert, dass eine Person nicht auf Dauer bleibt (vgl. Bade & Oltmer 2004: 71 f.). 22 Die Wirtschaftskrise 1973 bedeutete einen Anwerbestopp in West-, Mittel-, und Nordeuropa (vgl. ebd.). 23 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Afrika, Teile Asiens und Lateinamerika durch Dekolonisation und die Schaffung von Nationalstaaten der ehemaligen Kolonialgebiete zu den führenden Fluchtbewegungen generierenden Kulturräumen (vgl. Bade 2000: 306-313). 24 Zum Verhältnis von Migration und Erinnerung vgl. Harzig 2006. 25 Ulf Hedetoft weist darauf hin, dass das Schließen der Außengrenzen im Gegensatz zu den europäischen Zielen und Werten, z. B. humanitäre Hilfe, steht. Die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen von ImmigrantInnen oder das Fingerabdrucksystem Eurodac sind Beispiele für Grenzen, die von innen durchlässig, aber von außen hart sind (vgl. Hedetoft 2003). 26 Durch ein fehlendes Migrationskonzept trägt Europa zur Illegalisierung von Zuwanderung bei (vgl. Bade & Oltmer 2004: 139). 27 Trotz der Verwendung von Zahlen muss auf Grund der Ungenauigkeit von Zählungen bedacht werden, dass Ausländerzahlen und deren Anteile an der Wohnbevölkerung im internationalen Vergleich wenig aussagen über tatsächliche Einwanderungsprozesse. 28 In den 1960ern wurden die ArbeitsmigrantInnen aus Südeuropa als Fremde beschrieben, in den 1970ern waren damit immer weniger Südeuropäer gemeint, sondern eher Menschen aus der Türkei. In den 1990ern lässt sich eine steigende Aversion gegen Zuwanderern aus der Dritten Welt erkennen (vgl. Bade 2000: 439- 454). 29 Die Maßnahmen zur Erhaltung eines gleichbleibend hohen Sicherheitsniveaus für die Vertragsstaaten sahen Einreisekontrollen an EG/ EU Außengrenzen, Angleichen der Regelungen zur Visaerteilung sowie verschärfte Einreisebedingungen und Maßnahmen gegen illegale Einreisende vor (vgl. Brunn 2004: 284-286). 30 Die drei Säulen sind: 1. Die supranationalen Entscheidungsmechanismen der Europäischen Gemeinschaften (EG, Euratom); 2. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik / GASP; 3. Auf intergouvernementaler Ebene: Justiz und Inneres (vgl. Brunn 2004: 275-279). 31 Näheres zu den Vertragsverhandlungen und Beschlüssen des Vertrages von Amsterdam vgl. Brunn 2004: 198-302. Die EU-Agentur FRONTEX, die für den Schutz der Land-, See- und Luftgrenzen der EU verantwortlich ist, weist rechtsstaatliche und demokratische Defizite auf (vgl. Fischer-Lescano & Tohidipur 2007). 32 Beck versteht Europa als imaginären Raum, ohne den es keine Antwort auf Globalisierung gibt, aber der erst noch politisch entworfen werden muss (vgl. Beck 1997). 33 Die Außengrenzen der EU werden vorverlegt und gleichzeitig verschärft, während Anrainerstaaten zu Pufferzonen für Angehörige von Drittstaaten ausgebaut werden (vgl. Bade 2000: 378-408). 34 Während das Reisen für Touristen, ob pauschal oder individuell, immer einfacher wird, wird die Mobilität der Nicht-Europäer extrem eingeschränkt. Mit Sensorentechnik und Nachtsichtgeräten werden Flüchtlinge schnellstmöglich durch die EU-Agentur Frontex ausfindig gemacht. Um dem Entdeckt-werden zu entgehen, weichen die Flüchtlinge auf immer kleinere und riskantere Boote aus. 35 Während im Mittelalter die Kategorie der Religion, im Industrialismus/ Kolonialismus die der Rasse und im 19. Jahrhundert die von Volk und Nation die Differenz konstruierten, kann man in den modernen Sozialstaaten von der Kategorie der Kultur sprechen (vgl. Radtke 1997: 80). Da das konkrete Verhältnis zu Fremden abhängig ist vom eigenen Selbstverständnis unterscheidet sich Fremdsein in Deutschland und Frankreich (vgl. Bielefeld 1997). 36 Vgl. Simmel 1992a und Kristeva 1990a. 37 Mit dem Konzept der Semiosphäre werden die Mechanismen des Austausches von Information und der Bewegungen innerhalb und zwischen Kulturen erklärt (vgl. Lotman 1993a, Lotman 1993b, Lotman 1998, Lotman 2000, Lotman 2005). Das Fremde in Europa 365 38 Dabei dürfen globale Verflechtungen, die Einbindung und der Austausch mit anderen Semiosphären nicht außer Acht gelassen werden. 39 Zur Selbstdarstellung der EU vgl. das Portal der Europäischen Union http: / / europa.eu/ [20.09.2010]. 40 Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem kulturellen Europa und der europäischen Union: Da die EU nur eine Struktur Europas ist, ist ihre Krise nicht die Krise Europas. Das mangelnde Vertrauen in die EU kann nicht mit Bürokratie erklärt werden, denn kulturelle Fakten entscheiden auch über den politischen und wirtschaftlichen Erfolg. Die Bürger sind die Akteure des kulturellen und auch des politischen Europas, das keine Institution ist und das nicht von Brüssel aufoktroyiert werden kann. 41 In Bildung. Europas kulturelle Einheit beschreibt der Autor die europäische Bildungstradition unter humanistischen und christlichen Aspekten. Den Verlust der Bedeutung des Bildungskanons schreibt er der Erlebnisgesellschaft zu. Nur bei Kenntnis über die Vergangenheit, könne Europa auch eine Zukunft haben. Die dargestellten Etappen und der Rückbezug vor allem auf Humanismus und Christentum sind zwar wichtige Faktoren in der europäischen Entwicklung, allerdings greift der Autor damit zu kurz. Der Bezug zwischen europäischer und christlicher Identität entstand im frühen Mittelalter. Borgolte verweist auf Europas Entdeckung der Vielfalt (und der damit verbundenen Einheit) im Mittelalter (vgl. Borgolte 2005: 140). Die propagierte kulturell-religiöse Einheit Europas ist allerdings in der Geschichte nicht auffindbar (vgl. Kaelble 2007: 176). 42 Die EU versucht diese Symbole zu konstruieren und zu verbreiten: Gemeinsamkeiten im kulturellen Erbe werden gesucht, wie die Bilder auf den Euro Geldscheinen zeigen. Um dieses Begehren nach Identität voran zu treiben, bedient sich die EU den Instrumenten nationaler Identitätsbildung, wie Fahne, Hymne, Feiertagen und unterstützt die Vorstellungen einer gemeinsamen Geschichte und Kultur (vgl. das Portal der Europäischen Union http: / / europa.eu/ ). 43 Stefan Seidendorf untersucht dies in französischen und deutschen Printmedien. Während zu Beginn der europäischen Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland der jeweils andere als Gegenteil des Selbst beschrieben wurde, ist im Jahr 2000 “das ‘Andere’ schließlich nicht mehr Deutschland, das jetzt erprobter Partner gemeinsamer Politikgestaltung in der EU ist” (Seidendorf 2007: 365). Auch wenn Seidendorf die deutsch-französische Beziehung untersucht, liegt die Vermutung nahe, dass auf Grund der europäischen Gemeinschaft Barrieren zwischen verschiedenen Nationen, die Mitglieder der EU sind, abgebaut werden können. 44 Zur dynamischen Verbindung zwischen Grenz- und Identitätskonstruktion durch Produktion von Bedeutung vgl. Clark & Petersson 2003. 45 Bei dem Verlust über die Kontrolle von Raum lassen sich zwischen dem Prozess der Europäisierung und der Globalisierung Parallelen erkennen. 46 Die ethnischen Spannungen sind nicht traditionell in der Vielfalt gegeben, sondern liegen in der Gründungsgeschichte der SU, bei der die Hierarchie der Nationalitäten eine wichtige Rolle einnahm. Da weder das Zarenreich noch die SU Nationalstaaten waren, sondern imperial geeinte Nationalitätenstaaten, wurde das Volk in über 100 ethnische Gruppen eingeteilt. Nach dem Zerfall der SU blieb diese innere Grenzziehung erhalten. Die Folgen dieser Abgrenzungen zeigen sich in den aktuellen Ereignissen (vgl. Deger & Hettlage 2007: 15). 47 Zum Meer als Kontaktraum vgl. Klein & Mackenthun 2003. 48 Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Türkei oft als kranker Mann am Bosporus bezeichnet, der barbarische Ottomane wurde erst auf Grund des Glaubens und dann der Politik abgegrenzt. Die kollektive Repräsentation lässt sich heute in der Debatte um eine türkische Mitgliedschaft wiedererkennen (vgl. Steinbach 2006). 49 Dies wird auch an den unterschiedlichen Europabegriffen deutlich, wie Herfried Münkler anhand der ideengeschichtlichen Entwicklung der Europadefinitionen und der aktuellen Bedeutung darstellt (vgl. Münkler 2003). 50 Eine Auswahl an Publikationen zum Thema europäische Identität: Fuhrmann 2004 (Bildung. Europas kulturelle Identität), Groys 2007 (Identität aus Anderen. Das Eigene Europas oder die Kunst, sich das Fremde einzuverleiben) oder die Sammelbände von Segers & Viehoff 1999 (Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion) und Joas & Wiegandt 2005 (Die kulturellen Werte Europas). 51 Zum Verhältnis von Lokalem und Globalem im Prozess der Globalisierung vgl. Hall 1994a. 52 Eine Auswahl von Texten, die sich mit Europa beschäftigen sind z. B. Derrida/ Habermas 2003, Derrida 1992, Derrida & Birnbaum 2004, Balibar 2005. Zur Idee Europas als Konstruktion von Intellektuellen vgl. Giesen 1999. 53 Rainer Lepsius begreift die europäischen Identitäten als ein Konglomerat von Identifikation mit unterschiedlichen Wertbeziehungen. Deren Vermittlung und damit europäische Kulturpolitik bezeichnet er als Übersetzungspolitik (vgl. Lepsius 1999: 220). Sabine Krammer 366 54 Neben der Multikulturalismusdebatte wird auch über die Identitätskonstruktion der Zivilisation diskutiert (vgl. Radtke 2007). Für einen Überblick über die verschiedenen Positionen zu Multikulturalismus und Hybridität vgl. Terkessidis 2002: 31-33. 55 Vgl. Hall 1994b und Hall 1996. Lotman drückt diesen Gedanken durch den Begriff der Grenze als Ort erhöhter semiotischer Aktivität aus (vgl. Lotman 2000: 141). 56 Die Verfügbarkeit über Medien bestimmt den Grad der Verbreitung, Speicherung und Veränderbarkeit identitätsstiftender Erzählungen, auch deren Positionierung in der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation. 57 Dennoch verläuft die Medienöffentlichkeit entlang nationaler Grenzen, da die Programme nationalsprachlich codiert sind, obwohl die transportierten Elemente (Lebensstil, Musik, usw.) einem globalen Mediencode folgen. 58 Maurizio Bach weist darauf hin, dass Prozesse sozialer Integration eher durch Differenz und Grenzziehung als durch Einheit und Konkordanz entstehen. 59 Ausgehend von der legalen und sozialen Dimension von Bürgerschaft stellt Christian Fernández das republikanische und kommunitaristische Modell von Staatsbürgerschaft dar (Fernández 2003: 168) und diskutiert die Unionsbürgerschaft (vgl. ebd.). Die Unionsbürgerschaft wurde im Vertrag von Maastricht eingeführt (vgl. Brunn 2004: 278). 60 1989 wird als epochales Ereignis zu einem europäischen Mythos: “Der Mythos von 1989 könnte Europa weit ins dritte Jahrtausend hinein tragen und bestimmen: als Mythos des Erfolgs friedlichen Verständigungshandelns könnte dies das symbolische Zentrum einer europäischen kulturellen Identität sein.” (Segers & Viehoff 1999: 49) 61 Zur Abgrenzung von Anderen in Nationalstaaten und zur Beziehung zwischen Nationalismus und Rassismus vgl. Hedetoft 2003. 62 Abjection dient der Identitätsbildung und beschreibt die Ränder des Selbst, aber bedroht auch die geschlossene Identität. Da das Ich sich nur durch den Verwerfungsprozess konstituieren kann, ist die Abjection die Bedingung des Ichs (vgl. Kristeva 1982). Die Kultur entwickelt Ordnungssysteme, die Abjects ausgrenzen oder einen Raum außerhalb sozialer Strukturen zuteilen. Deshalb die Oppositionen von rein - unrein, innen - außen oder Ich - das Andere (vgl. Kristeva 1982: 2 f.). 63 Für einen Überblick über die verschiedenen Positionen in der Debatte um Nationalismus und Transnationalismus im Zuge der Europäischen Integration und über die Chance eines “Euronationalism” vgl. Hedetoft 1999. 64 Nicht nur in “Fremde sind wir uns selbst”, sondern auch in “Lettre ouverte à Harlem Désir” oder “Die neuen Leiden der Seele”. Oft finden sich auch Verweise auf ihre eigene Erfahrungen als Fremde in Frankreich. 65 Das Spiegelstadium stellt eine Beziehung zwischen der Innenwelt und der Umwelt her, wobei die imaginäre Einheit des Ichs keine reale Einheit darstellt und das Kind sich er- und verkennt, d. h. eine Entfremdung und Spaltung des Subjekts stattfindet (je-moi). Der/ die Andere ist dabei außerhalb des eigenen Körpers. Das Subjekt wird nicht als humanistische Einheit, die aus sich selbst heraus entsteht, sondern durch die Begegnung mit einer anderen Person begriffen. Die Sprache, die das Ich spricht, ist nicht die eigene, sondern die des Fremden. Und gerade diese Ent-Fremdung ist dann unheimlich, denn nur durch den Prozess der Verdrängung wird etwas entfremdet und so ist das Unheimliche eigentlich etwas Vertrautes (vgl. Lacan 1991b: 190). 66 Das Unheimliche ist eine Form des Heimlichen, ein Teil des Subjekts, das nach außen projiziert wird, “denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.” (Freud 1994: 264) Die Verdrängung selbst konstruiert dann das Fremde. 67 Laut Kristeva spricht Freud nicht von den Fremden, aber Ewa Ziarek verweist auf einige Stellen in Freuds Werk, in denen er auch abfällig über fremde Menschen spricht (vgl. Kristeva 1990a: 209 und Ziarek 2003: 143). Es muss darauf hingewiesen werden, dass Kristeva nicht Freuds Umgang mit Fremden beschreibt, sondern, dass sie in seinem Konzept des Unheimlichen dieselben Strukturen erkennt, wie sie im Umgang mit Fremdheit auftauchen. 68 Durch den persönlichen Schreibstil Kristevas könnte die These banal wirken und es stellt sich die Frage, ob soziale Beziehungen und besonders die Krise des Nationalen durch einen psychoanalytischen Zugang gelöst werden können. In Fremde sind wir uns selbst und Lettre ouverte lässt Kristeva die eigenen Erfahrungen mit Fremdheit in Bezug auf die Krise der nationalen Identität in Europa einfliessen. Zwar gesteht ihr Ziarek diese Erfahrung zu, kritisiert aber trotzdem die politische Ferne (vgl. Ziarek 2003: 144). Ziarek stellt Kristevas These schließlich als Interesse an Ästhetik der Politik dar und gesteht ihr politische Schlagkraft zu: “If Kristeva’s analysis of aesthetics reveals an ambivalent role of affectivity in the formation of social relations, the turn to ethics calls for the transformation of this affect - of the political love haunted by the hatred of the other - into respect for alterity.” (Ziarek 2003: 149) Das Fremde in Europa 367 69 Ein Verbund von Gleichen, deren Mitglieder sich untereinander nicht kennen, wird vorgestellt. Die Mitglieder sind begrenzt durch genau definierte Grenzen, auch wenn die Grenzen variabel sind. 70 Vgl. Ziarek 2003: 144; Kristeva 1990a sowie Bhabha 2000. In DissemiNation verweist Bhabha nicht nur auf Kristeva (vgl. Bhabha 2000: 210), sondern auch auf Bachtin und Freuds Begriff des Unheimlichen (vgl. Bhabha 2000: 214 f.). 71 Beide haben als Immigranten ähnliche und doch sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Bhabha kritisiert das von Kristeva beschriebene “Vergnügen des Exils” (Bhabha 2000: 210) ohne dass sie sich der Schattenseite bewusst wäre. Dabei vergisst Bhabha, dass Kristeva auf die Schwierigkeiten und psychischen Probleme von Flüchtlingen hinweist. “Il est urgent de trouver des pensées et des actes qui refusent les oppositions schématiques (à vous, le racisme et le nationalisme, à nous, l’humanisme et le cosmopolitisme), et cherchent les causes de la crise politique et morale.” (Kristeva 1990b: 10) Kristeva führt ökonomische, psychologische und politische Gründe der Krise auf (vgl. ebd.). 72 Exemplarisch stellt sie dies am Begriff Volksgeist dar, der zwar nicht absolutistisch oder rassistisch gemeint war (bei Montesquieu oder Herder), aber durch die Verherrlichung des eigenen Volkes zur Begründung der Unterdrückung anderer Völker wurde (vgl. Kristeva 1990b: 23-25). Die Gesetze regeln zwar Aktionen der Bürger, nicht aber die Sitten und Manieren. Aus diesem Grund ist der esprit nationale nicht nur schwierig zu aktualisieren, sondern auch zu administrieren. 73 Symbolische Nenner können nie eine Universalität beanspruchen, da sie Einflüssen unterliegen und durch andere Gedächtnisse in Frage gestellt werden. 74 Transposition beschreibt den Übergang des Semiotischen ins Symbolische, in deren Widerspruch sich das Subjekt konstituiert (vgl. Kristeva 1978: 68-71, 94-97). 75 Zur Diskussion über einen möglichen Bedeutungsverlust des Nationalstaats im Prozess der Europäisierung vgl. Segers & Viehoff 1999 und Deger & Hettlage 2007. Über die Zukunft des Nationalstaates stellt Ralf Dahrendorf fest: “Auf absehbare Zeit wird der Nationalstaat der Rahmen individueller Rechte und die Aktionseinheit der internationalen Beziehungen bleiben. Das gilt auch in und für Europa. Der Nationalstaat wird hier und da angenagt und angekratzt, bleibt aber in seinem Kern durch neuere Entwicklungen unberührt. Er ist auch der Raum, in dem Menschen Zugehörigkeitsgefühle empfinden können. Einstweilen haben wir noch nichts Besseres erfunden als den heterogenen Nationalstaat.” (Dahrendorf 1994: 760) 76 Die diachrone Dimension bezeichnet Derrida als traditionellen Diskurs des Westens (vgl. Derrida 1992: 25). 77 Lotman organisiert die Subsemiosphären in einem Koordinatensystem (vgl. Lotman 2000: 133). 78 “Es gibt keinen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selber ohne Kultur - ohne eine Kultur des Selbst als Kultur des anderen, ohne eine Kultur des doppelten Genitivs und des Von-sich-selber-sich-Unterscheidens, des Unterscheidens, das mit einem Selbst einhergeht. Die Grammatik des doppelten Genitivs zeigt auch an, daß eine Kultur niemals nur einen einzigen Ursprung hat.” (Derrida 1992: 12f.) Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Paul Ricœurs Schriften gewinnen zurzeit an Aktualität, weil selbst die Postmoderne mittlerweile auf ihre eigene Geschichte zurückschaut. Für die Literaturwissenschaft zählt vor allem sein Temps et récit. Dort behandelt Ricœur die „Refiguration“ der Zeit bei Marcel Proust und Thomas Mann. - Doch welchen Stellenwert besitzen Ricœurs Zeittheoreme nachweislich gegenüber der historischen Breite und Tiefe der Literatur? Welche Rolle spielen sie gegenüber postmoderner Autoreflexivität, welche gegenüber einer offenen Werkstruktur? Wozu dienen sie angesichts des Anspruchs einer Erzählung auf historische Zeugenschaft und ethische Verantwortung? Diese und andere Fragen behandeln die Beiträge des vorliegenden Bandes anhand von Literatur, Photographie und Film aus Frankreich, Spanien und Lateinamerika. Das Ricœur-Experiment bietet damit erstmalig einen Band, in dem seit dem Tod des Autors im Jahr 2005 aktuelle romanistische Studien zu seiner Zeittheorie versammelt sind. Jörg Türschmann Wolfram Aichinger (éd.) Das Ricœur- Experiment Mimesis der Zeit in Literatur und Film edition lendemains, Band 6 2009, 199 Seiten €[D] 54,00/ SFr 91,00 ISBN 978-3-8233-6420-7 Film als Semiosphäre. Der Bulgarische Film in Zeiten von Transformationen Silviya Kitanova; Leuphana Universität Lüneburg This article discusses the medium cinema as a semiotic structure. In this context an analogous approach is related to Lotman’s theories of semiotics. Subject of research is the east-European cinema during the communism era of the last century. The study shows that the subversive iconography of the cinematographic language makes it possible to avoid the communist censorship and to criticize the regime’s hypocritical ideals. A special focus is put on the Bulgarian cinema during the communistic regime. Therefore two Bulgarian movies, Margarit and Margarita (1988) and Yesterday (1988), are to be exposed and analyzed. While applying J. M. Lotman’s theories of semiotics, it is significant to figure out, which elements and characteristics of it have an impact or could be effective for the film analysis. 1 Einleitung Ausgangspunkt dieser Abhandlung ist die Betrachtung des Mediums Film aus semiotischer Sicht. In der Untersuchung werden die charakteristischsten Elemente und Mittel seiner Sprache erforscht. Seine Eigenschaften werden explizit erörtert. Der theoretische Schwerpunkt liegt somit auf den Theorien des russischen Semiotikers Jurij M. Lotman. Untersuchungsobjekt ist hier der Osteuropäische Film während des Kommunismus, der mittels einer subversiven Bildsprache die Zensur des totalitären Apparates umgeht und somit Kritik an dem Regime ausübt. Im Speziellen liegt der Fokus auf dem Bulgarischen Film. Hierfür werden die Filme M ARGARIT AND M ARGARITA (1988) und Y ESTERDAY (1988) herangezogen und anhand Jurij M. Lotmans Theorien analysiert. Filmanalytisch wird untersucht, durch welche Elemente die Subversivität der Bildsprache zum Ausdruck kommt. Sind Rückschlüsse auf eine subversive Kritik an dem kommunistischen Regime festzustellen? Welche charakteristischen Elemente der Filmsprache werden durch die Filme akzentuiert? Welche Themen werden in den Filmen dargestellt? Zusätzlich wird die Rolle der filmischen subversiven Bildsprache im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext Osteuropas untersucht. Die ausgearbeiteten Aspekte sollen aufzeigen, inwiefern dieser Kontext den Osteuropäischen Film beeinflusst. 2 Die Sphäre des Films Der für alle osteuropäische Länder eingeleitete Reformkurs von Parteichef Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 richtet unter anderem sein K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Silviya Kitanova 370 filmisches Hauptaugenmerk auf die langsame, jedoch eingeschränkte Öffnung gegenüber dem Westen. Diese Periode, genannt auch Tauwetter-Periode 1 , bezeichnet die Zeit der vorsichtigen Auflockerung und größeren Freiheit innerhalb der kulturellen Praxis in den sozialistischen Ländern nach Stalins Tod. In der Phase der Entstalinisierung wird die Zensur ebenfalls aufgelockert, das dazu führt, dass eine offene Diskussion über die aktuelle gesellschaftliche Situation und mögliche Problemlösungen im Bereich der Kultur entsteht (vgl. Milev 1992: 56). Obwohl die Filmindustrie während der Tauwetterzeit von ungeheuerem Aufblühen geprägt ist, werden politische Themen in Filmen jedoch umgangen. Ziel dieser Entpolitisierung ist die Ausblendung der unerwünschten Vergangenheit (vgl. Karl 2007: 82). So drehen die sozialistischen Länder in dieser Zeit eigene Produktionen nach westlichen Prototypen. Rumänien und Jugoslawien, deren Filmlandschaft zusätzlich durch ihre Multinationalität geprägt wird, drehen beispielsweise Western und Krimis mit westlichem Einfluss (vgl. Milev 1992: 58). Die langsame Öffnung gegenüber dem Westen führt schlussendlich zu einem entkrampften Umgang mit der Geschichte und der Gegenwart. 2 In den 1960er Jahren wird der Import westeuropäischer Filme trotz strenger Kontrollen intensiver. Die französische Nouvelle Vague, der Italienische Neorealismus oder der Neue Deutsche Film werden dem osteuropäischen Publikum bekannt gemacht (vgl. ebd.: 57). Trotz der ständigen Präsenz des Sozialistischen Realismus wird die Filmkultur in Osteuropa durch die neuen Filmrichtungen stark beeinflusst. Währenddessen entwickelt sich eine alternative Gegenströmung zur Konsumunterhaltung, welche auf die Sichtbarwerdung des Eigenen besonders stark eingeht (vgl. Bulgakowa 1998: 206). Die Herausforderung, das kommunistische System mit Hilfe des Mediums Film zu brechen und es zu nutzen, ist besonders groß (vgl. Frankfurter 1995: 13). Es beginnt ein Spiel mit der Macht und der Kampf um den eigenen Ausdruck. In Polen thematisieren Filmschaffende, wie Jerzy Stefan Stawinski, Andrzej Munk, Jerzy Passendorfer oder Andrzej Wajda, die Revision der Geschichte ihres Landes und die Sinnlosigkeit des gewaltsamen Widerstands in ihren Werken. Mit einem subversiven Unterton in ihren Werken verfolgen sie die Kritik an der nationalistischen Öffentlichkeit sowie an der kommunistisch orientierten Kulturbürokratie. Es entsteht somit der Begriff der Polnischen Filmschule (vgl. Milev 1992: 58). Allgemein werden die Thematiken, mit denen sich die Polnische Filmschule beschäftigt, als antiheroisch bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zielt auf die Erforschung und Dekonstruktion polnischer Komplexe und Traumata und deren Genesung (vgl. ebd.). Zusätzlich wird die Teilnahme an internatonalen Filmfestivals und an Koproduktionen verstärkt vorgenommen. 3 Lars Karl zufolge offenbart diese Periode der Kulturgeschichte Europas “ein Feld internationaler Beziehungen, die bislang aus dieser Perspektive weniger betrachtet wurde.” (Karl 2007: 255) Seiner Meinung nach sollte man den Kalten Krieg “als eine Konfrontation und Konkurrenz der Kulturen, der Repräsentationen und Bilder betrachten, die jeder Block dem anderen entgegenstellte.” (Ebd.) Somit werden Strukturen sichtbar, die auch außerhalb der gesellschaftlichen und politischen Beziehungen funktionieren. Lars Karl führt fort: “[…] die Akteure und Netzwerke dieses nicht zuletzt kulturellen Wettbewerbes gehörten vielmehr auch anderen Ebenen und Kreisen an, und ihr Handeln schrieb sich in komplexer Weise auch in verschiedenen transnationale und blockübergreifende Konstellationen ein.” (Ebd.) So spielen beispielsweise internationale Filmfestivals während der Zeit des Kalten Krieges eine wichtige Rolle, weil sie es ermöglichen, “beide Aspekte des kulturellen Kalten Krieges Film als Semiosphäre 371 in ihrer Verschränkung zu betrachten.” (Ebd.) Durch Filmfestivals wird die Möglichkeit geboten, die Dimensionen des Kalten Krieges historisch zu untersuchen sowie Zusammenhänge und Entwicklungen solch internationaler Netzwerke zu erfassen. Für eine blockübergreifende Geschichte des europäischen Films sind die während des Kalten Krieges auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs veranstalteten internationalen Filmfestivals von besonderer Bedeutung. Als Spannungsfelder außenpolitischer, kulturpolitischer und filmkünstlerischer Instrumentarien dienen sie nicht zuletzt auch als markante, über die Jahre konstante Spiegelungen dessen, was man Herausbildung einer systemübergreifenden, (gesamt-) europäischen Film- und Kinosprache der Moderne nennen kann (vgl. ebd.: 15). In den 50ern und 60ern Jahren entstehen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Filmrichtungen, die vor allem eine traditionelle Erzählung der Filmhandlung ablehnen. 4 Sie kennen keine politischen oder ästhetischen Einschränkungen bei der Auswahl ihrer Themen, sie stellen persönliche Szenarien dar und genießen mehr Improvisationsfreiheit (vgl. Karl 2007: 265). Durch die unkonventionellen filmischen Dimensionen erlangen die neuen Filmbewegungen einen hohen internationalen Bekanntheitsgrad und lenken ihre Filme “in eine europäische, internationale Bewegung, welche die Spaltung Ost/ West überschritt.” (Karl 2007: 265) Internationale Filmfestivals im Westen werden sowohl “zu den wichtigsten Orte für die Verbreitung des neuen osteuropäischen Kinos” (ebd.), als auch zum Ort des Austausches. “Somit reiste ein kleiner Kreis von ‘Vermittlern’ zwischen Ost und West und half, die Zirkulation von Filmen, Bildern und Ideen zu ermöglichen und zu fördern.” (Ebd.: 267) Osteuropäische Filmschaffende bekommen hier Anerkennung und ein breites Publikum für ihre Filme. Roman Polanski ist dadurch in doppelter Weise ein Sinnbild für die transnationale Verflechtung des Kinos zwischen Ost und West: Er steht einerseits für die Erneuerung und den Austausch, die sich im Laufe der 1960er-Jahre intensiver entwickelt hatten. Als Exilant ist er andererseits aber auch ein Symbol für die Grenzen, an die das osteuropäische Kino weiterhin stieß (vgl. ebd.: 268). Die Tschechen Milos Forman und Jan Nemec 5 sorgen ebenfalls Ende der 60er Jahre für internationales Aufsehen, jedoch ist die erste Reformwelle in den sozialistischen Ländern zu diesem Zeitpunkt ernsthaft bedroht (vgl. Milev 1992: 58). Die Tauwetter-Periode endet mit der Absetzung Nikita Chruschtschows. Der neue Parteichef der KPdSU, Leonid Iljitsch Breschnew, ist bekannt für seine traditionalistischen und konservativen Ansichten. Er ist verantwortlich für die Zerschlagung der Reformbewegung des Prager Frühling 1968 und die anschließende kulturelle und gesellschaftliche Stagnation in den Ostblock-Ländern (vgl. ebd.). “So konnte sich die Filmkunst in Osteuropa nun in einem Vakuum zwischen orthodoxtraditionalistischem Kulturverständnis und ausgeprägtem Reformwillen über Jahre hinweg entwikkeln. Je nach den Besonderheiten der jeweiligen nationalen Situation, nach den Moden in der Politik, war das eine oder andere Element prägender, aber auch bei den größten Höhen und Tiefen immer wieder ihr Zusammenspiel.” (Milev 1992: 58) Anfang der 70er Jahre verzeichnet man in den sozialistischen Ländern aufgrund der internationalen Entspannungspolitik und der KSZE-Schlussakte von Helsinki erneut eine Tauwetter- Periode. 6 “Dieses internationale Klima, dem auch ein Prozeß der relativen politischen Liberalisierung in den Ländern Osteuropas selbst […] entsprach, hatte eine günstige Auswirkung auf die Entwicklung der Filmkunst. Kritische, offene Filme, die auch stilistisch interessant waren, ja Experiment-Charakter trugen […] konnten gedreht werden. […] In Bulgarien erregte mit der “Migrations-Thematik” (Das Land erlebte mit der Durchführung der sozialistischen Industria- Silviya Kitanova 372 lisierung eine verstärkte Auswanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte) ein interessanter Zyklus von Filmen, gedreht meistens auf der Grundlage der Drehbücher des Schriftstellers Georgi Mischew, die internationale Aufmerksamkeit.” (Ebd.: 59) Zusätzlich findet eine große Koproduktions-Hochkonjunktur statt - sowohl innerhalb der sozialistischen Länder, als auch mit westlichen Partnern. Trotz der günstigen Auswirkung auf die Entwicklung der Filmkunst und dem größeren künstlerischen Freiraum, werden dennoch unzählige offene und kritische Filme verboten und erst nach 1989 für das breite Publikum wieder zugänglich gemacht. “[…] Die populären Filme, die meist aus Frankreich, Italien und den USA eingeführt wurden, weckten auch beim Publikum Bedürfnisse, die es kontinuierlich zu befriedigen galt. Um den Drang der Zuschauer nach westlicher Unterhaltung zu verwischen, hatte man in früheren Jahren, jetzt noch verstärkter, fast überall in den osteuropäischen Film-Institutionen begonnen, bei den offiziellen Statistiken über die Besucherzahl falsche Angaben aufzuführen, mehr Zuschauer den Filmen der sozialistischen Gegenwart zuzuschreiben - ein Selbstbetrug, der allen klar war. Man wollte nicht zugeben, dass “die wichtigste aller Künste” für das breite Publikum doch “made in West” attraktiver war. Die Indianer- und Krimifilme der DEFA 7 , die “pikanten” jugoslawischen Komödien, die rumänischen Western, die tschechischen Familien-(Fernseh-)Serien waren und sind darauf bedacht, dem Unterhaltungsbedürfnis der Bevölkerung eigene, sozialistische Muster entgegenzustellen und sind jeweils ein früher, synchroner oder verspäteter Ausdruck dieser Filmpolitik.” (Ebd.: 59) In den 70er Jahren stabilisiert sich die Wirtschaft der sozialistischen Länder, was zum stetigen Anwachsen des materiellen Wohlstands beiträgt. Somit verändern sich die Arbeits- und Lebensbedingungen, infolgedessen Probleme sichtbar werden, die “man lange Zeit nur dem Kapitalismus zuschreiben wollte.” (Ebd.: 60) Die Folgen der verleugneten Vergangenheit, Entfremdungserscheinungen, menschliche Isolation und Aggressivität gelten als Indikator für die bevorstehenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der sozialistischen Gesellschaft (vgl. ebd.). Anfang der 80er Jahre finden bedeutende Veränderungen in der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Sphäre statt, die zu Unruhe und Verwirrung in der sozialistischen Gesellschaft führen. 8 Im Mai 1986, in Anlehnung an den 27. Parteitag der KPdSU, findet der 5. Kongress der Filmschaffenden der UdSSR statt. Das Treffen gilt als Beginn der Perestroika-Welle 9 im Sowjetischen Film, spielt aber dennoch auch eine entscheidende Rolle für die gesamte osteuropäische Filmkultur (vgl. Milev 1992: 62). Es werden grundlegende Reformen vorgenommen. Ziel der Perestroika ist unter anderem die Dezentralisierung und Demokratisierung des sozialistischen Filmverbandes. Hier werden eine Dezentralisierung der Produktion und eine Öffnung der Filmwirtschaft auf marktwirtschaftlicher Ebene vorgenommen z. B. durch Kooperationen mit westlichen Partnern (vgl. ebd.). Ferner werden diese Reformen von der Erweiterung der filmischen Tätigkeit, sowie von der Verstärkung der Produktion und Distribution auf internationaler Ebene begleitet. Eines der wichtigsten Ziele der Perestroika-Welle ist die Freigabe früher verbotener Filmen (vgl. ebd.). Aufgrund des geringen Umfangs der einzelnen länderspezifischen Filmproduktionen, vollziehen sich die Demokratisierungsprozesse in den restlichen osteuropäischen Ländern schneller als in der UdSSR (vgl. ebd.: 63). In Hinsicht auf die filmischen Demokratisierungsreformen liegen Polen und Ungarn ganz vorne. In Rumänien existieren bereits vier unabhängige Filmstudios. 10 Die filmischen Demokratisierungsprozesse in dem jugoslawischen Staat machen sich insbesondere in Slowenien und Kroatien bemerkbar. Film als Semiosphäre 373 “Allein als isoliertes Phänomen bleibt Albanien, das sich immer noch in stalinistischen Schranken bewegt und sich dem Perestroika-Prozeß in allen Bereichen, auch der Filmkultur, resolut widersetzt.” (Milev 1992: 64) Durch die vorgenommene Demokratisierung der Filmkultur in der sozialistischen Gesellschaft wird die Auswahl der Filmthemen entscheidend beeinflusst (vgl. ebd.: 65). Neue stilistische Filmrichtungen werden entwickelt. Filme werden aus persönlicher Sicht erzählt (vgl. Frankfurter 1995: 155). Früher tabuisierte Themen, wie Prostitution, Drogensucht, Homosexualität, städtische Subkultur oder Korruption, werden in das Filmsujet mit eingebaut (vgl. Milev 1992: 66). Die verdrängte Vergangenheit wird erstmalig reflektiert und durch die Filmhandlung aufgearbeitet. Bärbel Westermann weist in ihrem Buch “Nationale Identität im Spielfilm der fünfziger Jahre” (1990) darauf hin, dass die Vergangenheitsthematisierung einer Gesellschaft von großer Bedeutung sei. Man brauche den Bezug auf die eigene Tradition, denn die Verdrängung von Geschichte liquidiere die Chance dialogischer Existenz und damit die Chance, die Geschichte als einen Austausch von Eigenem und Fremdem wahrzunehmen. Durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Verarbeitung ihrer Fehler, erreicht das Medium Film in jener Zeit eine neue Stufe (vgl. Westermann 1990: 21). Die mit politischer Gewalt aufgesetzten Ideale und Vorbilder des kommunistischen Regimes werden verbannt. Im Mittelpunkt steht nun das desillusionierte Individuum in seiner neuen Situation (vgl. Milev 1992: 66). Zusätzlich sind die neuen Themen dem Innenleben des Menschen, seinen Ansichten und Eigenschaften gewidmet. 3 Der Bulgarische Film Um die Situation des Bulgarischen Films in der Zeit des Kommunismus adäquat verstehen und analysieren zu können, wird zunächst einen Blick zurück auf seine Geschichte geworfen. Die Kinematographie erreicht Bulgarien Ende des 19. Jahrhunderts erstmalig in der Hafenstadt Russe, wenige Monate später auch in der Hauptstadt Sofia. Im Vassil Gendovs Modernen Theater in Sofia werden Anfang des 20. Jahrhunderts regelmäßig Filme aus Frankreich und Deutschland vorgeführt (vgl. Frankfurter 1995: 90). Mit Beginn des Ersten Weltkrieges produziert er selbst Filme, um sein Modernes Theater finanziell retten zu können. Er führt selbst Regie und ist manchmal als Hauptdarsteller zu sehen. In der Zwischenkriegszeit werden sowohl bulgarische, als auch ausländische Filmproduktionen vorgeführt (vgl. ebd.). Mitte der 20er Jahre weisen die deutschen Filme 45% des Filmmarktes auf. Filme aus den USA besitzen einen Marktanteil von 29%, gefolgt von den französischen mit 18% (vgl. ebd.). Gegen das Monopol der oben aufgeführten Filmländer überlebt die bulgarische Filmindustrie, indem sie den Schwerpunkt auf die Verfilmungen von beliebten Volkssagen und literarischen Klassikern setzt. Dennoch werden viele dieser Filme im Zweiten Weltkrieg bei Luftangriffen auf Sofia zerstört und erreichen somit nie das breite Publikum. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgen noch acht privat produzierte Filme, bis schließlich am 5. April 1948, mit dem Aufkommen des Kommunismus, die bulgarische Filmindustrie verstaatlicht wird (vgl. ebd.). Bis zu Stalins Tod 1953 findet auf dem bulgarischen Filmmarkt nichts Bemerkenswertes statt. Die Filmindustrie soll lediglich ihren sozialistischen Zweck erfüllen, den Zuschauer zu erziehen. “Wieviel Unsinn wurde damals gedreht, wieviel Überflüssiges wurde da produziert! Dies läßt sich nur erklären, wenn man sich die Situation ansieht, aus der heraus die Filme entstanden. Der Silviya Kitanova 374 Staat stellte damals Produktionsgelder zur Verfügung […] und folglich lief ‘alles nach Plan’ […]: Je mehr, desto besser.” (Ignatovski 1999: 210) Mit Beginn der Tauwetterperiode nach dem XX. Parteikongress der KPdSU 1956 entwickelt sich die bulgarische Kinematografie zu einer wichtigen nationalen Bewegung innerhalb Osteuropas (vgl. Frankfurter 1995: 90). In ihrem Aufsatz “A Point of View on the Cinema Art from between the Worlds of Postcommunism and Democracy. Bulgarian Cinema” (1999) schildert Iskra Dimitrova die damalige Position des Bulgarischen Films im sozialistischen Kontext: “They gave much money for making films. They supported the education of young people in the art of cinema […] and they published film magazines […]. All these acts aiming ideological purposes resulted in the creation of a community of film makers and film critics who were educated and the most important - who were granted the right to attend international film festivals and to communicate beyond the ‘wall’ between the socialist countries and the rest of the world. And this community silently began to use this knowledge in its work.” 11 Somit beschäftigen sich namhafte Filmschaffende, wie Rangel Vulchanov, Valeri Petrov, Binka Zhelyazkova oder Hristo Ganev, erstmalig in ihren Werken mit einer psychologischen Differenzierung der Charaktere im Gegensatz zum sozialistischen Helden-Prototyp. Man spricht vom Poetischen Realismus 12 - trotz strenger Zensur. Einige Filme des so genannten poetischen Kinos (vgl. Frankfurter 1995: 90) entstehen sogar als Koproduktion mit anderen osteuropäischen Ländern. Hans-Joachim Schlegel bietet einen ausführlichen Einblick in die sichtbar werdenden Reformationsprozesse der Filmlandschaft in Bulgarien: “Die Emanzipationsprozesse begannen […] mit kleinen Schritten, die das Terrain zunächst strategisch und taktisch erkundeten. Zumeist mit einem aus heutiger Sicht eher ‘harmlos’ erscheinenden ästhetischen Eigensinn, der gegen die normierte Öde ‘sozialistisch-realistischer’ Ikonographie rebellierte […]. Damit war aber bereits eine Entwicklung eingeleitet, die dann schon bald auch vor den inhaltlichen Widersprüchen offiziell verkündeter Ideale und tatsächlicher Realität nicht mehr halt machte.” (Schlegel 1999: 14-15) Dennoch werden wichtige Filme mit zeitgenössischer sozialer Thematik meistens sofort nach Fertigstellung verboten und erst nach 1989 wieder freigegeben. Zahlreiche Drehbücher werden überarbeitet, bereits fertig gestellte Filme werden neu geschnitten. Dies führt dazu, dass viele Filmschaffende emigrieren oder das geistige Exil wählen. In seinem Aufsatz “Das andere Kino in Bulgarien” (1999), schreibt Vladimir Ignatovski über die Dissonanz des kommunistischen Regimes in Bulgarien: “[…] eines der wichtigsten Merkmale des totalitären Staates: die Schizophrenie der totalitären Gesellschaft, in der stets zwei absolut unterschiedliche Bewußtseinsformen nebeneinander vorhanden sind - ein offiziellen bzw. offiziöses Bewußtsein, und ein inoffizielles Alltagsbewusstsein, ein ideologisch geprägtes und ein ideologiefernes, normales Bewußtsein. Man lebte zugleich mit dem einen wie mit dem anderen Bewusstsein.”(Ignatovski 1999: 211) Die Schizophrenie des kommunistischen Regimes spiegelt sich in den in dieser Zeit entstandenen Filmen wider. Einerseits existiert das offizielle von der kommunistischen Doktrin vorgegebene Kino mit ideologisch beeinflussten Produktionen. Andererseits entsteht eine Gegenströmung aus ambitionierten Filmemachern, die sich lediglich der offiziösen Linie bedienen, “und dies zuweilen durchaus nicht untalentiert” (ebd.). Ein Wendepunkt in der bulgarischen Filmgeschichte erreicht Metodi Andonovs Film K OZIYAT ROG (Das Ziegenhorn, 1972). 13 Der Film basiert auf der Erzählung von Nikolai Film als Semiosphäre 375 Chaitov und wird gänzlich in schwarz-weiß gedreht. Die Handlung stellt ein archaisches Drama aus dem 18. Jahrhundert zur Zeit der Osmanenherrschaft dar. “Die Geschichte einer Rache bot eine eigenartige Vision der Zeiten osmanischer Herrschaft, denn der Regisseur Metodi Andonov ließ Moslems und Christen, die zwei feindlichen Kräfte im Film, Bulgaren sein, was das übliche Schema “Bulgaren gegen Türken” in den sonstigen historischen Filmen sprengte. Ein christianisierter Hirte wird von den Dienern eines moslemischen Herrschers gequält und gedemütigt, vor seinen Augen vergewaltigen und töten sie seine Frau, schließlich zünden sie seine Hütte an. Die kleine Tochter verstummt nach diesem Schock für immer. In einer Höhle, die wie die Katakomben der ersten Christen aussieht, bereitet der Mann seine Rache vor, und zwei Öffnungen im Gestein beobachten ihn dabei wie die Augen Gottes. Das Mädchen Maria wird vom Vater zu einem Jungen erzogen, der nur eines können muß: töten. Die ‘Geschlechtsumwandlung’ und die ein Jahrzehnt später ausgeführten Morde werden wie heidnische Riten - zu eigenwilligen Klängen und in Masken - zelebriert. Maria verliebt sich jedoch in einen moslemischen Hirten und widersetzt sich der ihr zugedachten Rolle, worauf der Vater die zaghafte Romanze mit einer Blutorgie beendet.” (Bulgakowa 1998: 206) Obwohl die Filmhandlung eine Periode aus dem 18. Jahrhundert darstellt, ist die Thematik des Films für die damalige gesellschaftliche und politische Situation Bulgariens aktueller denn je. “Dieser rituelle Film mit atemberaubenden Berglandschaften im blauen Licht kommt fast ohne Worte aus. Sein erklärter Kunstgestus traf eine traumatische Beziehung, die durch einen Gegensatz geprägt war: den Wunsch, Feinden und Andersgläubigen verzeihen, ja sie lieben zu können, und die Unmöglichkeit, sich in diese Versöhnung zu begeben. Die begeisterte Aufnahme der ambivalenten Geschichte zwischen christianisierten und moslemisierten Bulgaren wirkte besonders kraß im Kontext der “Bulgarisierung” von Moslems und der Schließung von Moscheen in den letzten Jahren der sozialistischen Ära Bulgariens. Der Versuch, sich in einer erklärten Parabel der lange in Filmen gefestigten historischen Feindschaft zu widersetzen, hatte offensichtlich wenig Auswirkung auf die reale Politik. Die alten Feindbilder blieben, wie auch die Anekdoten, in denen die Rolle der Dummen stets den Türken zufiel.” (ebd.) Dieser Wendepunkt bewegt junge Regietalente dazu, sozialkritische Themen in ihre Filme mit einzubeziehen. Die alternative Gegenströmung zur Konsumunterhaltung entwickelt sich zu einer bulgarischen Neuen Welle (vgl. Frankfurter 1995: 90). Zwar werden ihre Filme nach dem gleichen vorgegebenen sozialistischen Muster produziert, dennoch unterscheiden sie sich durch viel Poesie, Phantasie und ästhetische Ausdrucksstärke. Die Gegenströmung beschäftigt sich damit, eine neue Filmsprache herauszuarbeiten, mit deren Hilfe die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Probleme Bulgariens thematisiert und behandelt werden können, ohne den künstlerischen Kontext des Mediums zu verlassen: “[…] this unusual struggle against the communist ideology led to the creation of a special film language which turned in time […] in an extraordinary form of film culture based on a very inventive art analysis of the social reality.” 14 Die Notwendigkeit einer neuen Filmsprache resultiert also aus der spezifischen Situation des Bulgarischen Films, sowie dem Bedürfnis, das Medium als soziales Kommunikationsinstrument einzusetzen, und das Individuelle in den Mittelpunkt der Handlung zu positionieren (vgl. Bulgakowa 1998: 206). Mithilfe dieser subversiven Filmsprache beginnt die bulgarische Neue Welle: Silviya Kitanova 376 “[…] to function as an extraordinary substitute to all officially forbidden expressions of the social life such as free press, political and even economic discussions, philosophical explanations of human beings and life.” 15 Filmschaffende setzen sich mit den repressiven Forderungen des Sozialistischen Realismus in ihren Filmen auseinander. Zusätzlich werden durch den Einfluss westeuropäischer Filmrichtungen sichtbar werdende soziale Prozesse und Problematiken reflektiert und filmisch verarbeitet (vgl. Frankfurter 1995: 90). Die Mittel der sozialistischen Filmästhetik werden abgelehnt. Neue Filmthemen und Ausdrucksformen werden erschaffen. Realitätsnahe, charakteristische Bilder aus der kulturellen Tradition Bulgariens werden wiederhergestellt und zum Ausdruck gebracht. Vladimir Ignatovski sieht die wichtigste Funktion des “‘anderen Kinos’ [in Bulgarien; S. K.] im Bruch mit sozialen und ideologischen Tabus in [den] Filmen mit sogenannten ‘heiklen Themen’.” (Ignatovski 1999: 214) Die avantgardistische Gegenströmung muss, aufgrund des ideologischen Drucks und der streng normierten Regeln des Regimes, mit abstrakten und kodierten Bildern arbeiten: “Die behielt man mit einer derart absurden Strenge im Auge, daß sich die oberste Zensurinstanz, und manchmal auch das gesamte Politbüro mit seinem Generalsekretär an der Spitze, im Kinosaal versammelte.” (Ebd.: 212) Ihre subversive Bildsprache ermöglicht es ihnen dennoch, über die verdrängte Geschichte oder das Sichtbarwerden des Eigenen zu sprechen, ohne die Zensur zu hintergehen (vgl. Bulgakowa 1998: 206). Es entstehen Filme, die subtil und dennoch kritisch die gesellschaftlich absurden Folgen des kommunistischen Regimes beobachten. Es sind Filme mit einer subversiven Bildsprache, deren Enträtseln dem Publikum überlassen wird. Die Charaktere in diesen Filmen sind realitätsnah, fast dokumentarisch und vielschichtig im Vergleich zu den schematisierten Helden des Sozialismus. Die Neue Welle in Bulgarien wird jedoch Anfang der 80er Jahre in ihrer Entfaltung stark eingeschränkt (vgl. Frankfurter 1995: 90). Da der Staat damit beschäftigt ist, enorme Summen in große historische Filme zu investieren, die anlässlich des 1300sten Geburtstages der Gründung des Landes im Jahr 681 produziert werden, stehen der Gegenströmung keine ausreichende Mittel zur Verfügung (vgl. Bulgakowa 1998: 204). Nicht zuletzt ermöglichen aufwändige, historische Produktionen ein leichtes Konsumieren und verzeichnen immer wieder ein starkes Interesse beim breiten Publikum. 16 In der gleichen Dekade erfolgt eine neue Zäsur in der Entwicklung der bulgarischen Kinematografie. Die angehenden politischen Reformen in Osteuropa inspirieren einige Filmschaffende, die stalinistische Vergangenheit aufzuarbeiten (vgl. Frankfurter 1995: 90). Darüber hinaus gelten Filmtitel als Zeuge verschiedener Perioden und Entwicklungsrichtungen in der Geschichte (vgl. Mihailovska 1985: 140). Geht man dieser Tendenz nach, verzeichnet man zwischen 1979 und 1980 einen Liebes- Boom im Bulgarischen Film. V SITSCHKO E L YUBOV (Alles ist Liebe, 1979), I GRA NA L YOBOV (Liebesspiel, 1980), P OTCHTI L YUBOVNA I STORIA (Fast eine Liebesgeschichte, 1980) usw. entstehen in jener Zeit. Hinter dem Streben nach Liebe dringt jedoch eine andere grundsätzliche Thematik in den Filmen ein. Hinter den Liebesgeschichten werden Möglichkeiten der sozialen Adaption und die vollwertige Entfaltung der jungen Charaktere im Film thematisiert und diskutiert (vgl. ebd.: 141). Man durchdringt ihre Werte und Vorstellungen, beobachtet und analysiert, wie die moderne Gesellschaft die jungen Charaktere zu Persönlichkeiten formt. Mittels dieser Thematik werden die oben genannten Filme zu Paradebeispielen, welche die Probleme der modernen bulgarischen Gesellschaft widerspiegeln (vgl. ebd.). Die Entwicklung der bulgarischen Neuen Welle im Kontext der gesellschaftlichen Hintergründe während des kommunistischen Regimes indiziert somit die sichtbar werdenden Prozesse im Bewusst- Film als Semiosphäre 377 sein der Bevölkerung. Mithilfe der anfangs erwähnten Filmbeispiele werden diese Entwicklungen durch eine ausführliche Darstellung und Analyse erfasst. 3.1 Zur Filmsprache des Bulgarischen Films vor 1989 Ausgehend von dem Prozess der Entstehung der Neuen Welle als filmische Gegenströmung zur Konsumunterhaltung, wird im Folgenden die subversive Bildsprache im Bulgarischen Film vor 1989 als Untersuchungsthema dargestellt. In einer Filmanalyse soll überprüft werden, durch welche Elemente die subversive Bildsprache in den zwei ausgewählten Filmen zum Ausdruck kommt und welche Rolle diese im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext Bulgariens spielt. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die politische und soziale Vergangenheit Osteuropas, und im Speziellen Bulgarien. Die neu entstandene subversive Filmsprache steht in Verbindung mit den damaligen politischen Ereignissen. Demzufolge soll untersucht werden, welche Rolle die sichtbar werdenden Prozesse der damaligen Zeit für die Entwicklung der subversiven Filmsprache, seiner Elemente und Ästhetik spielen. 3.2 Der Plot 3.2.1 M ARGARIT AND M ARGARITA (1988) Die Geschichte spielt in den 1980er Jahren. Margarita ist ein Teenager. Heimlich raucht sie Zigaretten und blättert mit großem Interesse westliche Modezeitschriften auf der Mädchentoilette in ihrer Schule. Bis ein Lehrer sie erwischt und versucht die Situation auszunutzen, indem er sie sexuell nötigt. Margarita ohrfeigt ihn und muss die Schule wechseln. In der neuen Schule lernt sie bereits am ersten Tag Margarit kennen. Margarit ist eigensinnig, frech und hat keine Angst seine Ansichten stand zu halten. Es kommt zur Eskalation. Ein Mitschüler erlaubt sich einen Streich auf Kosten Margaritas und zerreist ihren Rock. Margarit mischt sich ein und die Situation endet schließlich im Zimmer des Schuldirektors. Die Klassenlehrerin versucht zwischen ihnen zu vermitteln, doch Margarit muss sich bei dem Schuldirektor entschuldigen. Seine Dickköpfigkeit steht ihm allerdings nur im Wege. Der Schuldirektor ist aufgebracht und empört. Die Strafe ist unvermeidlich - die Haare der beiden Schüler werden im Schulhof kahl rasiert. Margarit weigert sich, er sei kein Schaaf. Daraufhin verlässt er demonstrativ die Schule zusammen mit Margarita, die zwischenzeitlich von Zuhause weggelaufen ist. Beide entscheiden sich nie wieder zurückzukommen. Nach diesem Vorfall stoßen die beiden Verliebten auf kein Verständnis seitens der Eltern und sehen sich gezwungen ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Sie finden eine neue Bleibe und fangen in einem Restaurant als Küchenhilfen an. Doch bald kann Margarita einen Kurs für Volkstänze besuchen. Der dubiose Choreograf Julian hat offenbar Pläne mit ihr und schon bald wird sie in seinen Tanzensemble aufgenommen. In dem naiven Glauben, in einer Welt der Erwachsene zu Recht zu kommen, werden die beiden Teenager in ihren Alltag mit Situationen konfrontiert, welche ihre Liebe auf die Probe stellen. Margarit will seine Liebe behüten, weiß dennoch nicht, wie er mit Margaritas neuer Beschäftigung umgehen soll. Er ist eifersüchtig und aufgebracht. Bei jeder Streiterei oder Auseinandersetzung wird er handgreiflich. Margarita wird schwanger, doch sie treibt ab. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie eine gute Tänzerin ist und möchte dies beweisen. Julian, der Choreograf, nutzt Margaritas Silviya Kitanova 378 kindliche Naivität und Gutgläubigkeit und überredet sie, ihm einen Gefallen zu tun. Sie soll einen Briefumschlag mit unbekanntem Inhalt in einer Bar übergeben. Dafür würde sie einen anderen Umschlag bekommen. Doch dazu kommt es nicht. Die Polizei nimmt sie fest. Ahnungslos stellt Margarita fest, dass der Briefumschlag Geld erhielt, amerikanische Dollar. Um Margarita aus der Situation zu helfen, nimmt Margarit die Schuld auf sich. Er wird verhaftet und auf Bewährung freigelassen. Es folgt der Militärdienst, während Margarita auf eine eigene Wohnung hofft. Bei einer Tanzaufführung zieht Margarita die Aufmerksamkeit Nerizanovs auf sich. Der Parteifunktionär ist für die Vergabe von Wohnungen in der Hauptstadt zuständig. Da Margarita eine Wohnung benötigt, nutzt dieser die Gelegenheit aus. “Um was zu bekommen, musst du auch was geben”, lautet Nerizanovs Maxime. Margarita bekommt eine neue Bleibe und er bekommt, was er will - sie. Er nutzt das junge Mädchen schamlos aus, gestattet ihr unangemeldete Besuche in der neuen Wohnung und nötigt sie sexuell. Die junge Liebe bekommt Brüche. Das Leben als Erwachsene entpuppt sich als hart und voller Tücken. In einer Auseinandersetzung zwischen Margarit und Nerizanov in Margaritas Wohnung kommt es zu einer heftigen Eskalation. Die Situation endet tragisch, Margarit schlägt Nerizanovs Kopf gegen die Heizung. Es folgt die Festnahme. Aufgrund seiner kriminellen Vorgeschichte wird Margarit als rückfälliger Täter abgestempelt und zum Tode verurteilt. Im Gericht gelingt es ihm die Waffe eines Polizisten zu entwenden. Daraufhin nimmt sich Margarit das Leben. 3.2.2 Y ESTERDAY (1988) Y ESTERDAY spielt in Bulgarien in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. In einem englischen Schulinternat wird die neue bulgarische Elite ausgebildet. Die Schüler sind überwiegend Kinder musterhafter Parteifunktionäre mit wichtigen Posten in der sozialistischen Hierarchie. Ivan, die Hauptfigur im Film, ist der Sohn des Chefredakteurs einer bulgarischen Zeitung. Ivan ist dickköpfig, stolz und eigenständig. Der Posten seines Vaters erlaubt ihm seine Jungenstreiche durchzuführen, ohne Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Roco, der einzige Schüler aus unterprivilegierten Familienverhältnissen, ist derjenige, der sowohl Ivans Altes Ego als auch seine Vergeltung herausfordert. Er interessiert sich für niemanden - was zählt ist, sein persönlicher Erfolg. Seine Ansichten, beeinflusst durch den bitteren Zynismus, der sich in seinen Worten widerspiegelt, stehen im Kontrast zu den sozialistischen Idealen. Im englischen Unterricht wird Shakespeares Macbeth behandelt. Die Schüler haben einen Gast im Unterricht. Ein Theaterintendant ist auf der Suche nach einem Schauspieler für sein neues Stück. Die Schülerin Vera fühlt sich nicht wohl und möchte den Unterricht verlassen. Niemand weiß, dass sie schwanger ist. Sie trägt ein Kissen unter ihrer Schuluniform. Somit denkt jeder, dass sie dick ist. Ihr Geheimnis kann sie niemandem verraten. Es wäre ein Skandal. Das Baby soll in den Sommerferien auf die Welt kommen, dann wäre sie bei ihrer Großmutter und niemand würde etwas davon erfahren. Der tägliche Sportunterricht am frühen Morgen wird mit einer Rede des Schuldirektors über Disziplin und Hygiene abgeschlossen. Die ganze Schule samt Lehrern ist auf dem Hof versammelt. Die Rede des Schuldirektors wird plötzlich von den Schreien der Putzfrau unterbrochen. Ein Krankenwagen muss gerufen werden, denn Vera liegt in den Wehen. Während Vera ihr Kind bekommt, wird die neue Schülerin Dana vorgestellt. Sie kommt direkt aus England, ihr Vater soll als Botschafter dort gearbeitet haben. Nach einiger Beobachtung ist sich der Theaterintendant sicher, dass Ivan der perfekte Schauspieler für sein neues Stück ist. Die Schülerin Marina liebt insgeheim Ivan. Doch dieser erwidert ihre Gefühle Film als Semiosphäre 379 nicht. Ivan ist von Dana fasziniert. Um ihre Konkurrenz auszuschlagen, versucht Marina Dana mit Roco zusammenzubringen und lässt Ivan in dem Glauben, Dana sei bereits vergeben. Geknickt, lässt sich Ivan von Marina im Klassenzimmer verführen. Es ist früher Abend und kalt. Um sie zu wärmen, verbrennt er den Lehrerstuhl und einen Schreibtisch. Einige Tage später wird Ivan ins Zimmer des Schuldirektors gebeten. Ein Inspektor aus dem Bildungsministerium ist auf Visite. Er ist erschüttert über die neuesten Vorfälle in der Schule. Ein schwangeres Mädchen und dann noch das Verschwinden von einem Lehrerstuhl und einem Schreibtisch. Das ist unbegreiflich. Scheinbar weiß er noch viel mehr. Zum Beispiel, dass Ivan für das Verschwinden des Stuhls und des Tisches verantwortlich ist. Außerdem möchte der Inspektor den Namen derjenigen wissen, die zu diesem Zeitpunkt bei ihm war. Diese Informationen machen den Schuldirektor stutzig. Wie kann der Inspektor all das wissen, woher hat er diese Informationen? Eine Fete findet im Internat statt. Die Musik von The Beatles ist zu hören, selbstgemalte Plakate von den Bandmitgliedern hängen an der Wand. Marina möchte wissen, warum Ivan ihr aus dem Weg geht. Er erzählt ihr von dem Treffen mit dem Inspektor. Niemand darf sie zusammen sehen. Außerdem möchte Ivan sie auch nicht mehr sehen. Yesterday von The Beatles läuft gerade, als der Mathelehrer Barumov den Raum betritt. Er ist aufgebracht. Wütend, zerreist er die selbstgemalten Plakate von der Band und fordert die Schüler zum Walzer auf. Sie sollen zeigen, dass sie tugendhafte Jugendliche sind. Entsetzt verlassen die Schüler den Raum. Es ist abends, die Schüler warten in der Mensa auf ihr Abendessen. Dana und Ivan stehen hintereinander in der Schlange als der Strom ausfällt. Im Dunkeln küssen sie sich. Ivans Vater verliert seinen Job. Die Folgen für Ivan sind Erniedrigungen und Beschimpfungen. Die ursprünglich propagierte Idee von einer klassenlosen Gesellschaft offenbart sich als Scheinidee und verliert ihre Glaubwürdigkeit. Es ist morgens. Während des Sportunterrichts wird festgestellt, dass Geld aus der Tasche eines Schülers fehlt. Aufgefordert von dem Sportlehrer alle Schüler zu durchsuchen, findet er in der Jackentasche von Ivan das Bild von Dana mit einer Widmung auf der Rückseite. Ivan findet heraus, dass Marina dahinter steckt. Sie will sich an ihn rächen. Jetzt soll jeder denken, dass Dana diejenige war, die mit ihm im Klassenzimmer den Lehrerstuhl und den Schreibtisch verbrannt hat. Doch dieser Vorfall bringt Dana und Ivan nur näher zusammen. Es ist abends. Im Schlafsaal sind alle Schüler im Kreis versammelt. Sie schließen einen Treueid untereinander, der stärker zu sein scheint, als ihr Glaube an die kommunistische Doktrin. Am nächsten Morgen trainieren Ivan und Roco in der Nähe eines Flusses außerhalb des Internats. Überzeugt, dass sein radikaler Individualismus das einzig richtige Mittel eines denkbaren Anschlusses an das sozialistische System ist, ertrinkt Roco vor den Augen seines Freundes, indem er verzweifelt versucht zu beweisen, dass er gegen die Strömung schwimmen kann. Ein kleiner Junge wird Zeuge des Ganzen. Die Szene kulminiert als Ivan erneut ins Zimmer des Schuldirektors gebeten wird. Ihm droht ein Verweis aus dem Internat. Daraufhin entschließt sich Ivan ebenfalls gegen die Strömung im Wasser zu schwimmen. Er erreicht den Eingang des Tunnels, der zu den Stromschnellen führt, an der Stelle, an der Roco ertrunken ist. Doch hier wird er von dem Schutzgitter aufgehalten, das nach dem tödlichen Vorfall montiert wurde. Der kleine Junge beobachtet erneut die Szene. Ivans Schrei vor dem Schutzgitter symbolisiert den machtlosen Kampf gegen das System - “Lass mich gehen. Ich bin am Leben! ” Silviya Kitanova 380 3.3 Zur Bedeutung des kinematographischen Bildes Ausgehend von Jurij M. Lotmans semiotischer Kernthese, dass jede Abbildung auf der Leinwand ein Zeichen ist und dieser immer eine Bedeutung zugrunde liegt, gewinnen bereits die ersten Szenen der ausgewählten Filme an Gewicht und führen das Publikum in die Problematik der Handlung ein (vgl. Lotman 1977: 51). Die Zeit während des Kommunismus in Bulgarien ist gekennzeichnet durch die Last der Vergangenheit (im Film Y ESTERDAY versinnbildlicht diese das Gestern). 17 Die Freiheit und Unbeugsamkeit des Individuums werden jedem einzelnen in jeglicher Hinsicht gezielt entzogen. Die bewusst eingesetzte politische Neuordnung und damit einhergehende Vernichtung des Individuums beginnen im Bildungssystem. Als Einstieg in die Analyse der Bedeutungsstruktur der Filme bietet sich somit die Betrachtung der räumlichen Organisation der vorkommenden Schauplätze an. Die räumlichen Gegebenheiten ergeben schon erste Erkenntnisse über die Bedeutungsstruktur der filmischen Handlungen. Hierfür wird die Schule als abgeschlossenes, soziales Gefüge dargestellt. Die Institution Schule ist somit kein nebensächliches und alltägliches Detail mehr auf der Leinwand. Sowohl in Y ESTERDAY , als auch in M ARGARIT AND M ARGARITA wird diese wiederholt in Nah-, Groß- und Detailaufnahme gezeigt und gewinnt somit allein durch ihre häufige Abbildung an Bedeutung. Die Schule symbolisiert das kollektive Ganze der kommunistischen Gesellschaft, das aber bereits Risse bekommt. In Y ESTERDAY wird beispielsweise bewusst mittels Schauplätzen, die sich außerhalb des Internats befinden, ein Gefühl der Freiheit vermittelt. Die Aufnahmen in der Schule und auf dem Schulgelände schaffen eine andere Atmosphäre und Stimmung als die Aufnahmen außerhalb. Die Szenen, in denen die Schüler Langstrecke laufen und außerhalb des Internats trainieren, symbolisieren das Davonlaufen vom totalitären System. Die ideologische Unterwerfung sowie die manipulative Ungerechtfertigkeit der Institution Schule werden zusätzlich in Diskrepanz zu den menschlichen Rechten und Werten dargestellt. Das provokative Verhalten der Schüler steht somit im Kontrast zu den allgemein verbreiteten sozialistischen Normen und Werten in der bulgarischen Gesellschaft. Hier fällt sofort die Opposition zwischen den Räumlichkeiten der Institution Schule als klaustrophobischem Innenraum und des anziehenden Außenraums ins Auge. Ein weiteres, in Y ESTERDAY und M ARGARIT AND M ARGARITA dargestelltes Beispiel der Bedeutsamkeit eines gewöhnlichen Gegenstandes sind die Uniformen, die die Schüler tragen. Somit entsteht eine zusätzliche, tiefgehende Bedeutung dieses Zeichens. Die Identifikation mit den Uniformen soll die Schüler gleichstellen, denn in der sozialistischen Gesellschaft sind alle gleich. Durch die Uniformen werden sie universell, austauschbar und unsichtbar. Sie werden nicht als einzelne Individuen betrachtet, sondern als Teil des Ganzen, des Systems. Sie sind dem kommunistischen Apparat unterworfen und werden ständig daran erinnert, indem sie erpresst, gedemütigt und ausgespielt werden. Individualismus und Autonomie sind praktisch ausgeschlossen. Mit dem Hauptfokus auf die bewusste Darstellung des Individuums sowie die Auswirkungen des Regimes auf dieses, wird die dominierende kommunistische Wirklichkeit sichtbar. Der Schein, die Lüge und die Wahrheit werden kommentiert und gegenübergestellt, ihre Beziehung wird feinfühlig analysiert. Durch den Einsatz subversiver Bildsprache wird die Dissonanz des kommunistischen Systems thematisiert und offen dargelegt. So prallen beispielsweise in Y ESTERDAY auf ideologischer Ebene unterschiedliche Werte und Idealen aufeinander. Die Figuren der Schüler verkörpern den desolaten Aufstand der jungen Generation (das Heute) gegenüber der Vergangenheit der Eltern (das Gestern). Die Scheinheilig- und Bedeutungslosigkeit der kommunistischen Ideologie sind längst durch- Film als Semiosphäre 381 schaut. Somit werden Politik und Geschichte in leere Konzepte als Zielscheibe der Verspottung umgewandelt, so Roumiana Deltcheva. 18 Ferner wird die Klassenschichteinteilung innerhalb der sozialistischen Gesellschaft dargestellt. Die vermeintliche Gleichberechtigung jedes einzelnen in dieser Gesellschaft entpuppt sich als Schein. Dies wird beispielsweise anhand Ivans Figur aus Y ESTERDAY deutlich hervorgehoben. Solange der Junge die privilegierte Position seines Vaters nutzen kann, geschieht ihm nichts. Das ändert sich als sein Vater den Job verliert. Margaritas Figur in M ARGARIT AND M ARGARITA steht ebenfalls als Exempel hierfür. Eine Karriere, ein Aufstieg in die kommunistische Gesellschaft, basiert lediglich auf Beziehungen. Margarita muss einen hohen Preis bezahlen für das, was sie erreichen will. Ein zusätzlich sujethafter Moment stellt die Treueidszene in Y ESTERDAY dar. Sie kann als Schlüsselszene betrachtet werden, da in ihr die Grundthematik des Films entfaltet wird. Diese präsentiert eine Gruppe junger Menschen, die von der kommunistischen Ideologie nicht überzeugt werden, vielmehr lehnen sie diese mittels ihrer Haltung ab. Ihr Eid scheint stärker zu sein, als die von ihnen durchschauten leeren Versprechen des kommunistischen Apparats. Die somit bewusst eingeführte Emotionalisierung des Films wird in der darauf folgenden Szene noch gesteigert, als Roco ums Leben kommt. Ein bedeutungstragendes Element stellt auch die Einstellung Margarits und Margaritas dar. Die beiden Teenager verkörpern die junge Generation. Ihren Protest gegen die Welt der Erwachsenen symbolisieret den Prozess des Loslösens von dem kommunistischen Apparat. Die stärkste Szene im Film, in der Margarit den Parteifunktionär erschlägt, symbolisiert das Verneinen der totalitären Ideologie. Das Eis zwischen dem Gestern und dem Heute bricht somit langsam, die Menschen erwachen aus dem langen Schlaf des Konformismus. Dieser Moment wird anhand der Darstellung der einzelnen Figuren hervorgehoben. 3.4 Die Figuren Die Filme zielen auf keine ideologische Botschaft, vielmehr überwiegt hier das Menschliche. Die Regisseure zeigen die Auswirkungen der historischen Ereignisse auf der Ebene des Individuums aus ihrer eigenen Sicht. Nicht die Verräter, sondern die gesellschaftlichen Zustände, die den Verrat verursachen, werden denunziert. Um der Vorhersehbarkeit entgegenzutreten, bedienen sich beiden Filmemacher der einfachen, lebensnahen und realen Darstellung ihrer Figuren. Ivan Andonov gelingt es mit dramaturgischer Kraft, den Zeitgeist der bulgarischen Gesellschaft in Zeiten totalitärer Herrschaft zu treffen. Und somit einen historischen Moment des Geschehens darzustellen, indem er die kommunistische Vergangenheit Bulgariens in seinem Film Y ESTERDAY thematisiert. Dies geschieht unter anderem mittels der Darstellung der Mentalität des Zeitgenossen, seiner Gedanken und Gefühle sowie seiner gesellschaftlichen Rolle in der gegenwärtigen Kultur. So gelingt es ihm auch, die Hauptfiguren im Film mit Hilfe der Nebencharaktere zusätzlich zu entfalten. Die Figur des Schülers Kostov ist von Anfang an als eines von vielen Bindegliedern des Filmes präsent und nimmt entscheidenden Einfluss auf die filmische Handlung. Durch humorvolle und dennoch mutige Aussagen trägt diese Figur dazu bei, den Charakter von Ivan zu ergänzen (vgl. Kovachev 2006: 206). Gegenübergestellt ist ihr die Figur Rocos. In gewisser Hinsicht symbolisiert er die Leere der kommunistischen Jugend. Sein Misstrauen gegenüber dem System wird auf sein Verhalten übertragen. Silviya Kitanova 382 Die Figur des Mathelehrers Barumov verkörpert dagegen den klassischen kommunistischen Helden. Er ist zu sehr motiviert, überzeugt von den Idealen der sozialistischen Doktrin und ist dabei sehr engstirnig und begrenzt in seinen Ansichten. 19 Bezeichnenderweise vernichtet er demonstrativ die selbstgemalten Poster von The Beatles in der Szene, in der die Party im Internat stattfindet. Dies lässt die Szene bedeutungstragend werden. Seine bedrohliche Figur verkörpert das ultimative Produkt des totalitären Systems. Schnell wird klar, dass die lang ersehnte Zukunft erst eintreten kann, wenn sich das Gestern komplett vom Heute löst. Zentrale Bedeutung hierfür hat die Figur des kleinen Jungen. Er symbolisiert die hoffnungsvolle Zukunft, der Zeuge des Zerstörens vom Gestern wird. Durch die Szene, in der Roco im Wasser ertrinkt, wird das Gewicht seiner Figur hervorgehoben. Mit dieser emotional aufgeladenen Schlussszene endet der Film und lässt das Ende offen. Es bleibt dem Publikum selbst überlassen, ob die Schlussszene als hoffnungsloses Scheitern eines Individualisten, oder als ein Durchbrechen bisher festgelegter Rollenmuster gesehen werden kann. Der Handlungsablauf in M ARGARIT AND M ARGARITA stellt die Mechanismen der Machtverhältnisse in der totalitären Gesellschaft Bulgariens dar und liefert somit ein realitätsnahes Bild des Geschehens. Der Film spiegelt die negativen Nuancen der bulgarischen sozialistischen Gesellschaft Ende der 1980er Jahre wider. Die moralischen Normen des kommunistischen Apparates haben hier keine Geltung, Gewaltverhältnisse in jeglicher Form werden gesetzt. Die kommunistische Ideologie wird in M ARGARIT AND M ARGARITA als eine Projektionsfläche präsentiert, auf der unerfüllte Wünsche, Ängste und Hoffnungen an die Zukunft übertragen werden. Der Zuschauer wird dazu bewegt, Themen, wie Verrat, Macht, Tod, Treue, selbst zu analysieren. Hans-Joachim Schlegel zufolge sind die “in vielen Filmen dieser Zeit immer wieder auftauchenden Bilder von Tod, Trauer und Einsamkeit […] subtile Subversionen, deren konkreter Stellenwert und Funktion bei historisch wie kulturell differenzierender Betrachtung nicht zu übersehen ist.” (Schlegel 1999: 24) In M ARGARIT AND M ARGARITA findet der positive Held im stereotypisierten Hollywood- Sinne kaum eine Verwendung - der zynische und korrumpierte Parteifunktionär, der gewalttätige Jugendliche Margarit, Margarita, die ihre Eltern und die Schule verlässt, der kriminelle Choreograf, die betrogene Lehrerin mit guten Absichten, sowie die Eltern, die bereit sind, alles für ihre Kinder zu tun, und dennoch parodiert dargestellt werden. Somit thematisiert der Film die evidenten Mängel und schwachen Stellen des kommunistischen Systems. Das Beschaffen von Konsumgütern (viele aus dem Westen) verläuft beispielsweise ohne Rücksicht auf Gerechtigkeit. Die Bedürfnisse der Arbeiterklasse, des einfachen Volkes werden taktvoll gestillt. In der Schule wird lediglich über die sozialen Funktionen der Liebe im Sozialismus unterrichtet. Die Intention seitens der Klassenlehrerin, über Themen wie Revolution oder Autonomie zu unterrichten, misslingt. Sogar der Versuch, die Liebe der beiden Teenager amtlich geltend zu machen, scheitert. Dieser Moment symbolisiert den missglückten individuellen Protest gegen das totalitäre System. Durch den Einsatz von Antihelden ruft der Regisseur Volev Verunsicherung und Distanzierung beim Publikum hervor. Die Erwartungshaltung des Zuschauers wird nicht erfüllt, sondern mittels Überraschungsmomenten und Asynchronität durchbrochen und gewinnt somit an Bedeutung. Film als Semiosphäre 383 3.5 Film : Zeichen Die Filmbeispiele sind Exempel der ungeschminkten Wirklichkeit und des Leidens des Volkes während des Kommunismus. Die sichtbare Dissonanz der totalitären Gesellschaft wird durch die filmische Darstellung einer Reihe westlicher kulturellen Zeichen verstärkt zum Ausdruck gebracht. Ihre visuelle sowie auditive Präsenz schafft es, den dominierenden kommunistischen Diskurs zu untergraben und in Frage zu stellen. Die stetige subtile Präsenz des Westens ist bereits in den ersten Szenen der Filme zu sehen. Schon der Titel des Films Y ESTERDAY indiziert darauf, dass Musik auf ideologischer Ebene funktionalisiert wird. Die Teilnahme einer echten Lehrerin aus England bestätigt die Absichten des Regisseurs Andonov, die greifbare Präsenz der westlichen kulturellen Tradition in all ihren Facetten hervorzuheben. Neben Rock- und Popmusik (The Beatles) werden in Y ESTERDAY sowohl literarische Anspielungen (Shakespeares Macbeth, Hamlet, Salingers Der Fänger im Roggen sowie Bertold Brecht) als auch geographische Räumlichkeiten (England, Dänemark, Frankreich, Schweden usw.) in die Handlung eingeführt. Offensichtlich wird die ideologische Bedeutung der subtilen Präsenz des Westens in der Szene, in der die Party im Internat stattfindet (siehe obige Beschreibung). Westliche materielle Signifikante in M ARGARIT AND M ARGARITA sind Kent Zigaretten, LPs und Poster von The Beatles, Madonna, Kenny Rogers oder Liza Minnelli, Alkoholika wie Ballantines und Johny Walker Whisky usw. Neben der musikalischen Untermalung, von der der Zuschauer im Verlauf des Films bestimmte Ausschnitte vorgeführt bekommt, existieren noch weitere, implizit in die Filmstruktur eingebrachte, intertextuelle Verweise und hergestellte Bezüge zu weiteren Artefakten. Diese werden zudem bildlich pointiert, wenn beispielsweise die Kameraführung unauffällig den Blick des Publikums auf die Wände in der neuen Bleibe des jungen Paares (M ARGARIT AND M ARGARITA ) lenkt, auf denen Fotos oder Poster westlicher Artefakte zu sehen sind. Somit setzt Nikolai Volev mit “aufmerksamen Kamerablicken eine Flut frei flottierender Assoziationen in Bewegung, [überlässt] die Deutung also der emotionalen Subjektivität des Zuschauers.” (Schlegel 1999: 25) 3.6 Filmmittel Die ausgewählten Filme präsentieren die bulgarische Geschichte sowohl intertextuell, als auch allegorisch in einer Verflechtung politischer, gesellschaftlicher sowie individueller Vorstellungen und Werte. Sie greifen die kommunistische Ideologie sowie ihren Einfluss auf das Schicksal des einzelnen Menschen auf. Die politische Geschichte Bulgariens wird in den Filmen mit Hilfe ästhetischer Mittel dargestellt. Die Elemente der Filmsprache tragen zusätzlich zu einer bedeutungsvollen Struktur der Filme bei. Nikolai Volev und Ivan Andonov versuchen die gesellschaftliche Wirklichkeit sowohl narrativ als auch durch abbildende Zeichen zu konstruieren und diese an das Publikum zu vermitteln. Ein wichtiges Element der Filmsprache beider Filme sind die (verwackelten) Bilder von Handkameras. Diese scheinen in vielen Szenen von den klassischen Beschränkungen der Technik befreit zu sein und orientieren sich somit an sich selbst. Folglich wird durch ihren Einsatz das Gefühl von Freiheit vermittelt, das auch in engem Zusammenhang mit dem herrschenden Modus der beiden Filme steht und die dramaturgische Strukturierung der Handlungen unterstreicht. Die verwackelte Kameratechnik wirkt teilweise unkontrolliert, unpräzise und vermittelt das Gefühl einer inneren Unruhe und Verwirrung. Durch ihren Einsatz in der Dramaturgie der Silviya Kitanova 384 Filme vermitteln die Regisseure ein düsteres Bild der Hilflosigkeit und Machtlosigkeit der Protagonisten. Somit beleuchten sie das zerrissene Leid des Volkes in der Zeit des Kommunismus. Insofern bekommt diese Kameratechnik einen Eigenwert und dynamisiert zusätzlich die Filmhandlung. Folglich arbeiten die Regisseure auch auf der Ebene der Kameraführung nicht nur mit konventionellen Bildkompositionen, sondern setzen die Technik der verwackelten Kamera als stilistisches Mittel in die Handlung ein, so dass diese ein eigenständiges Element innerhalb der Bildsprache darstellt. Darüber hinaus wird der dokumentarische Stil, an dem sich Andonov und Volev orientieren, betont. Durch die stilistische Konstellation realer und fiktionaler Darstellungen erreichen die Filme ein hohes Maß an Authentizität (vgl. Lotmann 1977: 55). Darüber hinaus besteht bei den ausgewählten Filmen ein spezifischer Wechsel zwischen verschiedenen Einstellungsgrößen. Die Regisseure beschränken sich vorwiegend auf Halbtotale, Halbnah- und Naheinstellungen. Somit wird die räumliche Beziehung zwischen dem Publikum und den Figuren in den Filmen hervorgehoben. Darüber hinaus überwiegen in Y ESTERDAY und M ARGARIT AND M ARGARITA die Einstellungen, bei denen sich die Kamera auf der gleichen (Augen-)Höhe der Figuren befindet und damit die Figuren und ihre Verhalten fokussiert. So können die Regisseure die Naheinstellung als Stilmittel nutzen, um den Betrachter emotional am Geschehen teilnehmen zu lassen. Dies wird besonders bei der Inszenierung intimer oder emotionaler Momente deutlich, wie beispielsweise den Liebesszenen in M ARGARIT AND M ARGARITA oder die Treueidszene in Y ESTERDAY . In beiden Filmen wird fast vollständig auf die Technik der Überblendung verzichtet. Stattdessen setzen die Regisseure harte Schnitte bei der Montage der Bilder ein. In den Szenen dominieren starke Kontrastierungen, die die Verwirrung und Zerrissenheit der Figuren betonen. Der Realitätseindruck in den Filmen wird zusätzlich durch die Normalgeschwindigkeit der Bewegungen akzentuiert. Auf die Elemente der Zeitlupe oder des Zeitraffers wird gänzlich verzichtet. Der Eindruck des Dokumentarischen wird zusätzlich auf der auditiven Ebene zum Ausdruck gebracht. Die Verwendung von Originalton lässt unerwartete, abrupte Übergänge entstehen. Dadurch werden einzelne Szenen auf der auditiven Ebene aufgeteilt und hervorgehoben. Besonders deutlich wird dies beispielsweise in der Szene von Y ESTERDAY , in der plötzlich alle Figurenhandlungen von den Schreien der Putzfrau unterbrochen werden, als Vera in den Wehen liegt. Der Ton wird von Ivan Andonov und Nikolai Volev unterschiedlich genutzt. Die aktuellen Ereignisse im Land werden beispielsweise in M ARGARIT AND M ARGA - RITA auf der Tonebene durch Nachrichten, politische Reden oder Reporterstimmen aus dem Rundfunk enthüllt. Darüber hinaus bestehen die Szenen in den Filmen überwiegend aus Hintergrundgeräuschen und -dialogen (Wassergeräusch durch die Stromschnellen in Y ESTER - DAY oder die Hintergrunddialoge in der Bar, in der Margarita festgenommen wird). Durch ihren Einsatz unterstreichen die Hintergrundgeräusche und -dialoge den dokumentarischen Stil der Filme und erlauben somit die Entstehung neuer Bedeutungen. Außerdem bekommt das Publikum den Eindruck, sich unmittelbar in der gezeigten Situation zu befinden. Der musikalische Einsatz hingegen betont den künstlerischen Kontext der Filme. Die musikalische Untermalung in M ARGARIT AND M ARGARITA und Y ESTERDAY stilisiert zusätzlich die einzelnen Szenen und lässt diese gezielt auf sich wirken. Die Musik betont bestimmte Motive und Ereignisse, sie ruft Gefühle (Glück, Trauer, Melancholie, Angst, Wut) in dem Publikum hervor. In einigen Szenen werden die hervorgerufenen Gefühle zusätzlich verstärkt, indem die Regisseure auf den Einsatz der Dialoge verzichten. Beispiel hierfür ist die Treueidszene in Y ESTERDAY . Die Schlussszene in M ARGARIT AND M ARGARITA verzichtet ebenfalls Film als Semiosphäre 385 auf gesprochene Sprache. Somit bilden diese Szenen bedeutungstragende Elemente, da sie zur Durchbrechung der Filmstruktur führen. Die überwiegenden Farben in den Filmen sind grau und blau, sie wirken kalt und zurückhaltend. Diese unterstreichen zusätzlich den dominierenden Modus der Filme. Durch die kalten Farben wird der Zuschauer einerseits auf Distanz vom Geschehen gehalten, andererseits wird er dazu gebracht, sich als Teil der Filmhandlung zu begreifen. Die Lichttechnik in den ausgewählten Filmen trägt zusätzlich dazu bei, den dokumentarischen Stil der Filme zu verstärken. Die Regisseure beschränken sich überwiegend auf natürliche Lichtquellen. Der Einsatz natürlicher Lichtquellen simuliert einen realitätsnahen Charakter der Filme. Die dadurch entstehenden Sinneseindrücke des Publikums werden zusätzlich eingeschränkt und evozieren das Gefühl von Disharmonie und Unstimmigkeit. Mittels dieser Technik entstehen kontrastreiche Übergänge. Die Kontrastierung der Räumlichkeiten wird ebenfalls dadurch definiert. Die vorgenommene Analyse zeigt, dass Jurij M. Lotmans Theorien auf zahlreiche Beispiele in Ivan Andonovs und Nikolai Volevs Filmen angewandt werden können. Der Film als semiotisches System wird in Zeichen untergliedert und mit Bedeutungen gefüllt. Der reduktive Einsatz der Filmmittel richtet den Fokus des Zuschauers bewusst auf die Figuren und ihre Handlungen. Dadurch wird der dokumentarische Charakter der ausgewählten Filme zusätzlich verstärkt und die realistische Filmsprache akzentuiert. Durch den ständigen Wechsel sujethafter und sujetloser Strukturen in den Filmen, gelingt es den Regisseuren eine Automatisierung der Filmhandlung zu umgehen. 4 Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die vorgestellten Filme bestätigen, dass in Zeiten politischer Unterdrückung der interkulturelle Dialog nicht vollkommen ausradiert wird. Als Produkt bulgarischer, sozialistischer Kunst demonstrieren die Filme, auf welche Weise westliche kulturelle Artefakte mittels subversiver Mechanismen angeeignet und eingesetzt wurden. M ARGARIT AND M ARGARITA und Y ESTERDAY bilden einen bedeutenden Auftakt zur Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in den späten 1980er Jahren. Sie präsentieren das kritische Bewusstsein der jungen Generation, das im Kontrast zu den überholten Idealen der älteren Generation steht. Zusätzlich thematisieren beide Filme das gestörte Verhältnis zwischen Ideologie und Individuum. Sie treffen den Nerv einer Zeit voller rebellischer Sehnsucht und sozialer Unruhe. Ihr Avantgardismus hebt sich von jeglichen konventionellen sozialistischen Normen ab. Trotz der unterschiedlichen Erzählweisen und des Einsatzes verschiedener ästhetischer Mittel, verbindet die beiden Filme das gemeinsame Interesse an der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und politischen Situation des Landes sowie an den Ursachen und Folgen des Kommunismus. Darüber hinaus gelingt es den beiden Regisseuren mittels der Figuren ein Stück ihres individuellen Empfindens und Protests zu vermitteln. Ivan Andonovs Film Y ESTERDAY orientiert sich an der Vergangenheit, indem er die Geschichte seiner Figuren in der Wirklichkeit der 1960er Jahre in Bulgarien inszeniert. Zusätzlich erweitert Andonov die filmische Handlung durch die kraftvolle Visualität der Bilder und liefert eine Einsicht in die totalitäre Vergangenheit des zwanzigsten Jahrhunderts. Hierbei untersucht er sowohl die subtilen Mechanismen der Manipulation seitens des tota- Silviya Kitanova 386 litären Systems, als auch den Kontext von unterschiedlichen sozialen Schichten. Ferner erkundet der Film die Verwüstung des politischen Missbrauchs, indem die persönliche Welt von einer Gruppe Gymnasiasten in dem damaligen politischen und gesellschaftlichen Kontext des Landes enthüllt wird. Der Film symbolisiert den Bruch zwischen dem Gestern (die Lehrer, die schmerzliche Vergangenheit) und dem langsamen Zerfallen des Eisernen Vorhangs (die Schüler, die hoffnungsvolle Zukunft). Die Dissonanz des kommunistischen Apparates wird hier besonders hervorgehoben. Es entsteht ein Wettrennen zwischen dem System und der Opposition. So erweist sich der Film als ein sensibles und schmerzhaftes Dokument, in dem bewusst eine Gegenüberstellung von Gestern, Heute und der möglichen Zukunft dargelegt wird. M ARGARIT AND M ARGARITA hingegen ist eine bittere Geschichte, die sich mit der Rolle des Individuums in einer repressiven Staatsform auseinandersetzt. Der Film wird nach seiner Herstellung sofort von der Zensur verbannt, erst 1989 feiert er Premiere. Die wichtige gesellschaftliche Funktion dieses Films wird durch das Zensurverbot bestätigt. Die Geschichte handelt von Sehnsüchten, von Ängsten und vom Scheitern. Sie stellt den individuellen Protest des modernen Romeo und seiner Julia dar, die in einer Gesellschaft des erwachsenen Sozialismus um ihre Liebe kämpfen und am Ende tragisch scheitern. Die Kompromisslosigkeit ihrer Liebe ist die einzige Waffe gegen den Zynismus und die Skrupellosigkeit des kommunistischen Apparates. Zusätzlich stellt der Regisseur Nikolai Volev die Korruption und den moralischen Zerfall der sozialistischen Gesellschaft in den letzten Jahren des Kommunismus in Bulgarien in den Vordergrund. Die Handlung des Films zeigt auf, zu welchen absurden Konsequenzen die Faszination und Ausübung von Macht und deren Missbrauch führen kann. Mittels Zeichen, die auf lokale Probleme hinweisen, bietet Volev ein authentisches Bild des in sich zusammenbrechenden Regimes sowie eine bewegende Beobachtung des Verfalls menschlicher Werte und Ideale. Darüber hinaus vermittelt der Regisseur die politische und gesellschaftliche Situation des Landes durch realitätsnahe Bilder und zeigt feinfühlig, wie Mitläufer, Anführer und Opfer in einem solchen totalitären System geschaffen werden. Die Filme thematisieren die komplizierte Beziehung zwischen Gewalt und ihrer Bekämpfung. Zusätzlich gelten sie als Indikatoren für eine Zeit, in der das Zusammenleben von Künstler und Ideologie in einen Kampf übergeht, der das Ende des kommunistischen Diskurses symbolisiert. Der (gleiche) Hauptdarsteller in den ausgewählten Filmen verweist auf die Bildung neuer Rollenmodelle in der bulgarischen Gesellschaft. Dieser steht als Metapher für die junge Generation. Sein Lebensweg personalisiert das Verlangen nach Unabhängigkeit, Individualismus und Würde und symbolisiert somit den leise angehenden Aufstand gegen das totalitäre System. Die ausgewählten Filme sind demnach emblematisch für die damalige gesellschaftliche Situation Bulgariens. Sie behandeln akute Themen und verhelfen somit dazu, neue Vorbilder in der postkommunistischen Gesellschaft entstehen zu lassen. Heutzutage werden diese Filme nicht nur als kritische Werke angesehen, die in den Zeiten des kommunistischen Regimes entstanden sind. Sie werden aufgrund ihrer Symbolhaftigkeit als künstlerisches Produkt betrachtet und genießen eine große Bedeutsamkeit für die Gegenwart. Abschließend lässt sich festhalten, dass das, was heute als postmodern bezeichnet wird, mit neuen Zeichensystemen und neuen Symbolen der Verständigung verbunden ist. Die Neugestaltung Europas bietet somit einen größeren Raum für eine neue Wahrnehmung, die es zu artikulieren gilt. Für das Verstehen der Situation der Menschen in den neuen Lebensumständen, in einer Zeit großer Veränderungen, spielt die Filmkunst eine sehr prägende Rolle. Als Symbol des kulturellen Austausches beinhaltet die Sprache des Films Grundstrukturen des Sprachlichen, die in allen Kulturen funktionieren. Film als Semiosphäre 387 Literatur Bulgakowa, Oksana 1998: “Film als Verdrängungsarbeit. Der osteuropäische Film”. In: Rother, Rainer (Hg.) 1998: Mythen der Nationen: Völker im Film. Berlin: Koehler & Amelang Verlag, S. 201-213. Deltcheva, Roumiana 2010: “Western Mediations in Reevaluating the Communist Past. A Comparative Analysis of Gothár’s Time Stands Still and Andonov’s Yesterday”. Vol. 1, Issue 4, Article 7, December 1999, Purdue University. URL: http: / / docs.lib.purdue.edu/ clcweb/ vol1/ iss4/ 7. [27.10.2010] Dimitrova, Iskra 1999: “A Point of View on the Cinema Art from between the Worlds of Postcommunism and Democracy. Bulgarian Cinema”. July 1999. URL: http: / / www.extremno.com/ ~bgfilm/ . [27.10.2010] Frankfurter, Bernhard (Hg.) 1995: Offene Bilder: Film, Staat und Gesellschaft im Europa nach der Wende. Wien: Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft. Hames, Peter 2001: “Enfant Terrible of the Czech New Wave. Jan Nemec’s 1960s films. May 2001”. URL: http: / / www.ce-review.org/ 01/ 17/ kinoeye17_hames.html. [27.10.2010] Ignatovski, Vladimir 1999: “Das andere Kino in Bulgarien, oder: Die schmerzhafte Rückkehr zur Normalität”. In: Schlegel, Hans-Joachim (Hg.) 1999: Die subversive Kamera. Zur anderen Realität in mittel- und osteuropäischen Dokumentarfilmen. Konstanz: UVK, S. 209-218. Karl, Lars (Hg.) 2007: Leinwand zwischen Tauwetter und Frost. Der osteuropäische Spiel- und Dokumentarfilm im Kalten Krieg. Berlin: Metropol Verlag. Kovatschev, Pentscho 2006: 25 bulgarski filma zad kadur. Sofia: Zaharii Stoyanov Verlag. Lotman, Jurij M. 1977: Probleme der Kinoästhetik: Einführung in die Semiotik des Films. Frankfurt a. M.: Syndikat Verlag. Mihailovska, Elena 1985: Nationalnata kulturno-hudojestvena tradizia i bulgarskoto kino. Sofia: Nauka i izkustvo Verlag. Milev, Rossen 1992: “Der osteuropäische (Spiel-)Film zwischen Tradition, Perestroika und Kommerz”. In: Reiss, Erwin & Zielinski, Siegfried (Hg.) 1992: Grenzüberschreitungen. Eine Reise durch die globale Filmlandschaft. Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess. O. V. 2008: “Koziyat Rog.” In: IMDb. The Internet Movie Database 2008. URL: http: / / www.imdb.com/ title/ tt0068814/ awards. [27.10.2010] O. V. 2010: “Geschichte Polens.” In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie 2008. URL: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Geschichte_Polens. [27.10.2010] OSCE 2010: ”KSZE-Schlussakte von Helsinki.” In: OSCE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). 1995-2010. URL: http: / / www.osce.org/ documents/ mcs/ 1975/ 08/ 4044_de.pdf. [27.10.2010] Schlegel, Hans-Joachim (Hg.) 1999: Die subversive Kamera. Zur anderen Realität in mittel- und osteuropäischen Dokumentarfilmen. Konstanz: UVK. Westermann, Bärbel 1990: Nationale Identität im Spielfilm der fünfziger Jahre. Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main. Anmerkungen 1 Der Name ist auf den Roman Tauwetter (1954) von Ilja Ehrenburg zurückzuführen. 2 Die Polnische Filmschule entwickelt beispielsweise eine spürbare Freizügigkeit im Umgang mit Themen der Gegenwart und der Geschichte. 3 Eric Jung dreht beispielsweise in Bulgarien den Film D AS R ECHT ZU LIEBEN (1972) mit Omar Sharif und Florinda Bolkan in den Hauptrollen. 4 Aufgrund der vorsichtigen Öffnung dem Westen gegenüber, sowie der Bekanntmachung mit Filmrichtungen aus der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, entstehen in Osteuropa Filmbewegungen, die sehr bald große Anerkennung finden. Neben der Nouvelle Vague (Frankreich), Angry Young Men (Groß Britannien), Free Cinema (USA), oder dem Italienischen Neorealismus, entwickeln sich die Nova Vlna in Tschechien und Polen, sowie Uj hullám in Ungarn. 5 Der Filmhistoriker Peter Hames bezeichnet ihn als “enfant terrible of the Czech New Wave”. URL: http: / / www.ce-review.org/ 01/ 17/ kinoeye17_hames.html [19.08.2010]. 6 Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wird am 1. Juli 1973 in Helsinki eröffnet und am 1. August 1975 ebenfalls dort abgeschlossen. Die USA, Kanada und die Sowjetunion, sowie alle 33 Silviya Kitanova 388 europäischen Staaten, ausgenommen Albanien, nehmen teil. In der Schlussakte sind Absichtserklärungen zur Einhaltung der von allen Teilnehmerstaaten anerkannten Prinzipien zwischenstaatlichen Miteinanders, sowie Regelungen über die Einleitung vertrauensbildender Maßnahmen enthalten. Außerdem werden die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gezogenen Grenzen von allen Unterzeichnerstaaten als rechtsgültig anerkannt und etwaige Gebietsansprüche aufgegeben. Das Dokument enthält weiterhin die Anerkennung der Menschenrechte inklusive der Meinungs- und Religionsfreiheit. Die Konferenz wird 1995 umbenannt in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und damit auch formal endgültig institutionalisiert. URL: http: / / www.osce.org/ documents/ mcs/ 1975/ 08/ 4044_de.pdf [19.08.2010]. 7 Deutsche Film AG. 8 1980 verschlechtert sich beispielsweise die gesamtwirtschaftliche Lage Polens. Ohne öffentliche Bekanntmachung seitens der Regierung werden die Preise erhöht. In vielen Betrieben brechen umgehend Streiks aus. Demzufolge tritt die Belegschaft der Danziger “Lenin-Werft” in den Ausstand und stellt erstmals politische Forderungen. Die Gewerkschaftskräfte geben sich den Namen “Solidarnosc” (Solidarität) und zählen bis November 1980 etwa 10 Millionen Mitglieder. Aufgrund der sich weiter verschlechterten wirtschaftlichen Lage kommt es im Frühjahr 1981 wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Staatsorganen und Gewerkschaftsaktivisten. In der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 übernehmen Militär und Sicherheitsorgane die Macht in Polen. Es wird ein Kriegszustand verkündet, der bis 1983 in Kraft bleibt. URL: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Geschichte_Polens [19.08.2010]. 9 Der Begriff steht für Umbau, Umgestaltung, Neuorientierung, Reform. 10 In Rumänien werden bereits in den 70er Jahren kinematographische Reformen eingeführt. 11 URL: http: / / www.extremno.com/ ~bgfilm/ [19.08.2010]. 12 Der poetische Realismus entsteht in Frankreich in den 30er Jahren. Diese Stilrichtung ist geprägt durch die wirtschaftliche Krise Anfang der 1930er Jahre und die dadurch entstandene Notwendigkeit nach mehr Realitätseindruck und soziale Kritik im Film. Der Poetische Realismus beeinflusst später den Italienischen Neorealismus. Wichtiger Vertreter dieser Filmrichtung ist Jean Renoir bspw. mit den beiden Filmen D IE H ÜNDIN (1931) oder D IE GROSSE I LLUSION (1937). 13 Der Film K OZIYAT ROG (Das Ziegenhorn, 1972) von Metodi Andonov schreibt Geschichte als größter Kassenerfolg in der bulgarischen Kinematografie. 1972 wird er auf dem internationalen Filmfestival in Karlovy Vary mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. URL: http: / / www.imdb.com/ title/ tt0068814/ awards [19.08.2010]. 14 URL: http: / / www.extremno.com/ ~bgfilm/ [19.08.2010]. 15 Ebd. 16 Die Konsumunterhaltung wird bewusst in Gestalt von Märchen, Kostüm- und Eposfilme dem Publikum leicht zugänglich gemacht. 17 Die Last der Vergangenheit ist gekennzeichnet durch die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen fatalen Folgen für Bulgarien sowie für den gesamten Ostblock. 18 URL: http: / / docs.lib.purdue.edu/ clcweb/ vol1/ iss4/ 7 [19.08.2010]. 19 Die Figur des Mathelehrers Barumov wird von dem bekannten bulgarischen Filmemacher Nikola Rudarov gespielt. “Und die Moral von der Geschicht’…” Mythische Geschichten und politische Symbolik im europäischen Film Jan Oehlmann; Leuphana Universität Lüneburg The following chapter deals with the interaction between European cinema and its relation to myths. The point of view that is presented argumentatively in the following pages is, that to make EUrope as a political construct relevant for the European citizens it needs to be visualized and emotionalized. The discussion about European identity requires a common terminological basis of central concepts like culture, values and identity. Accordingly, the article begins with a seminal introduction of relevant concepts. Especially theatrical motion pictures are supposed to be the main forum in which (political) culture and identity is constituted, inherited or altered (cf. Dörner 2000). The article argues that political symbols are inherent in every movie even if it seems non-political at first view. Using the example of The Edge of Heaven (Auf der anderen Seite, 2007),directed by Fatih Akin, it tries to depict the cinematic connection between myths, political symbols and European identity. 1 Einleitung Die Menschen in EUropa 1 begreifen ihre kulturelle und politische Identität primär als national dimensioniert. So fühlen sich Deutsche vor allem einer deutschen Kultur wie Polen dominant einem polnischen, Spanier einem spanischen und Franzosen einem französischen Kulturkreis zugehörig. Die Ergebnisse des Eurobarometers belegen regelmäßig, dass das Zugehörigkeitsgefühl zu einer supranationalen, EUropäischen Gemeinschaft, das die unterschiedlichen nationalen Identitäten ergänzt, noch wenig ausgeprägt ist und tendenziell sogar schwächer wird. 2 Während sich auf der einen Seite die Regelungskompetenz der EU auch auf den einzelnen nationalen Ebenen ausweitet, bleibt auf der anderen Seite eine “Demokratie ohne Demos” (Münch 2001: 177) zurück. Die kulturpolitischen Bemühungen EUropas liegen vor allem in der Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte, deren negative Ereignisse besonders in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts den Kontinent und das gesamte Weltgeschehen nachhaltig prägten. Diese Bemühungen sind ohne Zweifel zu unterstützen. Die gemeinsame Aufarbeitung der europäischen Vergangenheit ist konstitutiv für ein ehrliches und konstruktives Miteinander der europäischen Länder; sie in Frage zu stellen, käme einer Absage an die Zukunft Europas gleich. Kulturelle und politische Identität ist auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont angewiesen. Dieser entsteht aber nicht ausschließlich aus gemeinsamen, unmittelbar erfahrenen Erlebnissen (und ihrer politischen Aufarbeitung), sondern wird zum großen Teil mittelbar K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Jan Oehlmann 390 unterschiedlichen kulturellen Ressourcen entnommen, die keinen historisch überprüfbaren Realitätsbezug aufweisen, also fiktional sind (vgl. Dörner 2000: 162 f.). Die EU ist ein primär massenmedial konstruierter öffentlicher Raum, doch es mangelt dem Modell an symbolischer Repräsentation, die über die des politisch-faktischen hinausgeht. Die Imagination der Union bleibt deshalb kryptisch und unverständlich. Die geringe Wahlbeteiligung bei den Europawahlen - wie zuletzt im Juni 2009 - verweist auf diese grundlegende Problematik einer fehlenden Identifikation und dem damit verbundenen Verlust von politischer Partizipation der BürgerInnen. Die europäische Integration ist nicht allein ein politischer und ökonomischer Prozess, denn die Entwicklung einer europäischen Identität findet außerhalb von Verträgen, Gesetzen, Verordnungen und offiziellen Erklärungen auf Grundlage von “imagined communities” (Anderson 2006) statt. Diese vorgestellten Gemeinschaften sind, wie im Folgenden noch dargestellt werden soll, keine Ergebnisse isolierter Prozesse, sondern hängen mit dem kollektiv vermittelten Gemeinschaftsbild zusammen, das nicht lokal begrenzt ist, sondern über translokale, grenzüberschreitende Diskurse konstituiert wird. Eine zentrale Rolle dabei spielen Geschichten, die im Laufe der Zeit erzählt, interpretiert, umgedeutet und weitergegeben werden und die Fragen nach Herkunft und Legitimation einer Gemeinschaft stellen. Ihre Qualitäten liegen weniger in ihrem historisch überprüfbaren Wahrheitsgehalt (siehe oben), als vielmehr in den ordnenden, sinnstiftenden, integrativen, legitimierenden und nicht zuletzt auch mobilisierenden Funktionen. An die Stelle der Menschmedien als klassische Erzählmedien vergangener Tage, die am offenen Feuer als Versammlungsort dörflicher Gemeinschaften von den heldenhaften Geschichten der Vorfahren erzählten, sind heute die technischen Medien und insbesondere der Kino- und Fernsehfilm getreten. Die strahlende Leinwand im Kinosaal fungiert heute als Lagerfeuer, um das sich die Menschen gemeinsam 3 versammeln, um in leicht zugänglichen und allgemein verständlichen (populärkulturellen) Geschichten des “Hier und Jetzt” Orientierungshilfe für die komplexe Realität zu erfahren. Dies gilt für kleine regionale Gruppen in gleichem Maße wie für die supranationale Gemeinschaft EUropa. Der vorliegende Beitrag soll verdeutlichen, welche Rolle populärkulturelle, fiktionale Texte bei der Konstituierung von politischer Identität spielen können, wenn sie auf Geschichten zurückgreifen, die Ausdruck sind von der Suche nach Wahrheit, Sinn und Bedeutung. Es soll gezeigt werden, dass eben diese Funktionen von Geschichten vor allem durch mythische Erzählungen erfüllt werden können. 4 2 Das Verhältnis zwischen Werten, Identität und populär-kulturellen Texten Das Thema der kulturellen Identität erfordert einführend eine Auseinandersetzung mit dem grundlegenden Verständnis von Kultur, da eine unterschiedliche Auffassung zwangsläufig auch zu einem differierenden Identitätsbegriff führt. Es ist offen zu legen, welcher Kulturbegriff in der politischen Debatte verwendet wird und wie sich dieser auf die Identitätsbildung auswirkt. Die These, dass EUropa auf einer einenden Wertetradition aufbaut, wie es die metaphorische Formulierung der “kulturellen Wurzel Europas” suggeriert, scheint vor dem Hintergrund der zahlreichen Konflikte in der Geschichte der europäischen Staaten sehr fraglich. Eine europäische Kulturgemeinschaft, die ihre Gemeinsamkeit in einem geteilten präsozialen Ursprung findet, ist eher eine Wunschvorstellung. Bei Betrachtung der Geschichte Europas werden vielmehr die Bruchstellen und Differenzen deutlich, die auch heute noch sichtbar sind und den politischen Diskurs bestimmen. “Und die Moral von der Geschicht’ …” 391 “It [Europe; J. O.] stands as a cultural zone - some might even say desire - as complex in its spatial and administrative logics as in the dynamic flows of its histories, its inhabitants and their symbols. […] [A] closer look reveals underlying ambiguities and exceptionalism.” (Uricchio 2008: 13) Die Erkenntnis, dass die gemeinsame Geschichte insbesondere von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägt war, muss nicht zu der pessimistischen Einschätzung führen, dass die aus diesen Divergenzen resultierenden unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen einer gemeinsam zu gestaltenden Zukunft gegenüberstehen. Auch Joas & Wiegandt verweisen in diesem Kontext auf den konstitutiven Bezug von Werten zu Erfahrungen und Deutungen, der es möglich macht, die Partikularität jeder Erfahrungsgeschichte mit dem Universalismus von Werten zu verknüpfen (vgl. Joas & Wiegandt 2006: 38). Vielmehr sollten die Spaltungen und Grenzziehungen, die die Geschichte Europas prägten, anerkannt werden, denn erst aus den Deutungen dieser Erfahrungen lassen sich Werte bestimmen, die grenzüberschreitend geteilt werden. Wagner bestimmt dazu vier zentrale Konflikte in der europäischen Geschichte, aus deren Erfahrungen entsprechende Werte generiert werden konnten: Die Werte Pluralität und Vielfalt resultierten aus den Erfahrungen der Reformation und Glaubenskriege. Die absolute Wahrheit wurde nach diesen in Frage und die vielfältigen Bestrebungen des individuellen Handelns in den Mittelpunkt des Lebens gestellt. Das Bekenntnis zur Freiheit und gemeinsamer Selbstbestimmung erfolgte aus den Erfahrungen, die im Entwicklungsprozess zwischen Öffentlichkeit und Privatheit gemacht werden konnten und damit eine Verbindung schufen zwischen der persönlichen Freiheit des Einzelnen und der politischen Freiheit zur kollektiven Selbstbestimmung. Die Erlebnisse aus den Auseinandersetzungen von Kapitalismus und Klassen im Kampf gegen soziale Ungleichheit und wachsender Verarmung generierten drittens die Werte Gleichheit, Wohlstand und Solidarität. Die Erwartungen in einen offenen Horizont der Zukunft haben sich nach Wagner ebenso aus den Erfahrungen von Revolution und Nation entwickelt, wie der Glaube an eine selbstbestimmte und friedliche Ordnung (vgl. Wagner 2006: 501 ff.). Der jüngste und größte Bruch in der Beziehung der europäischen Staaten wird vom Nationalsozialismus und dem daraus resultierenden Zweiten Weltkrieg markiert. Die schmerzhaften Erfahrungen aus dieser Zeit bestimmen auch heute noch die Beziehungen der betroffenen Länder. 5 Die politisch-kulturelle “Lehre” nach 1945 war, dass zur Sicherung der in der europäischen Geschichte erlangten politischen und kulturellen Werte, eine grenzüberschreitende, solidarische, friedensorientierte Zusammenarbeit europäischer Staaten notwendig ist. Auf der Suche nach gemeinsamen Werten ist also sehr schnell festzustellen, dass diese aus den konfliktreichen Erfahrungen heraus entstanden und nicht einer europäischen Kultur sui generis inhärent sind. Möchte man bei der floralen Allegorie bleiben, die für die Suche nach europäischer Identität immer wieder gerne verwendet wird, so sind es weniger Wurzeln, die als Beschreibung dienlich scheinen (die kulturellen Wurzeln Europas, aus denen sich ein gemeinsames Schicksal ableiten lässt), als vielmehr die Allegorie der Krone, die aus Verzweigungen, Verwachsungen und Verästelungen (auch mit anderen Kronen) entsteht, einzelne Astbrüche überwinden und Stürmen standhalten muss, aber dennoch weiter wachsen kann. Die Diskussion um die europäische Identität sollte nicht ausschließlich auf einer retrospektiven Suche nach kulturellen Wurzeln basieren, sondern von einem perspektivischen politischen Zukunftsprojekt EUropas geleitet sein. Das historische Argument muss also ergänzt werden von einem modernen, liberalen, multikulturellen Argument, das auf die zukünftige (offene) Entwicklung ausgerichtet ist (vgl. Meyer & Eisenberg 2009: 8). Europäische Kultur darf kein exklusives und damit exkludierendes Erbe der Vergangenheit sein, sondern muss ein zeitge- Jan Oehlmann 392 mäßes Konzept für die europäische Zukunft bereithalten. In Hinblick auf die Vergangenheit Europas scheint eine essentialistische kulturelle Tradition konstruiert, wohingegen das Bewusstsein einer gemeinsamen Gestaltung auf Grundlage politisch-ethischer Übereinstimmung die logische Konsequenz aus der Anerkennung von Vielfalt und Differenzen ist. Derrida & Habermas konstatieren diesbezüglich, dass “der politisch-ethische Wille [Europas; J. O.], der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt, […] nicht willkürlich [ist] im Gegensatz zu politischen Traditionen, die im Sinne ihrer Naturwüchsigkeit Autorität ‘heischen’.” (Derrida & Habermas 2003: 11; Hervorh. nicht im Original) Kultur ist ein Komplex, das sich aus unterschiedlichen Sinnsystemen konstituiert und nicht eine bewertbare, erstrebenswerte Lebensweise im Sinne eines normativen Kulturbegriffes (vgl. Reckwitz 2000: 84). Für dieses bedeutungs- und wissensorientierte Verständnis von Kultur ist das Symbolische von zentraler Bedeutung (vgl. folgendes Kapitel). Das Konzept einer EUropäischen Identität muss sich von dem eines nationalen Zugehörigkeitsgefühls lösen. Aktuell 27 Mitgliedsstaaten mit ihren mannigfaltigen, grenzüberschreitenden Kulturgemeinschaften stellen ein prononciert heterogenes Fundament kultureller Ressourcen dar, das als Grundlage eines zusammenfassenden homogenisierenden Konzeptes europäischer Identität denkbar ungeeignet erscheint. Europa als kulturell-historisches Gebilde besteht (im Gegensatz zum politischen Modell) aus mehr als den zu einem bestimmten Zeitpunkt zugehörigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (vgl. Schmale 1997: 12). Es stellt sich demnach die Frage nach dem grundlegenden Verständnis von Identität, das einem konstruierten, von kultureller Heterogenität geprägten politischen Gebilde wie der EU angemessen ist. Neben der Relevanz, die die Identität für das politische Gemeinwesen hat, ist vor allem das Konzept zu ihrem Ursprung, ihren Bedingungen sowie ihren Inhalten Bestandteil grundlegender Diskussion 6 (vgl. Meyer & Eisenstedt 2009: 7). Einigkeit scheint lediglich in dem Bewusstsein über die Notwendigkeit von Identität zu bestehen. Die tradierte Bedeutung des Begriffes (lat. idem: dasselbe/ derselbe) die auf eine nach Innen gerichtete Homogenität von Gemeinschaften abzielt, hat einen dezidiert normativen Charakter und scheint unbrauchbar, möchte man sich nicht erneut in einem ideologischen und kulturellen Konformismus verwickeln, dessen national-staatliche Auswüchse Europa im 19. und 20. Jahrhundert brandmarkten. Die soziale und kulturelle Struktur Europas ist von großer Vielfalt geprägt, so dass für die europäische Identität die Anerkennung der unterschiedlichen religiösen, ethnischen und kulturellen Teilidentitäten der Menschen elementar ist. Der bezeichnende Aphorismus “Einheit in der Vielfalt”, der zur zentralen Devise der Union geworden ist, scheint dieser Prämisse augenscheinlich Rechnung zu tragen. 7 Je nach Perspektive kann dieser Leitsatz jedoch unterschiedlich gedeutet werden und repräsentiert damit sehr pointiert die Problematik der Identitätsfrage: “[…] that ‘unity in diversity’ - like ‘democratic centralism’ - is a deliberately ambiguous and ideologically loaded formula that can be interpreted either as a celebration of pluralism and local autonomy or as its antithesis: power to the centre.” (Shore 2000: 54) Um der Dynamik EUropas gerecht zu werden, muss die europäische Identität nicht zuletzt aufgrund der ungeeigneten historisch-kulturellen Argumente als politisches Konzept verstanden werden und nicht als Konsequenz eines kulturellen Erbes. Die europäische Identität meint eine gemeinsame politische Mentalität und bezieht sich in diesem Sinne auf die gemeinsamen Deutungsmuster, die aus den geteilten Erfahrungen - wie oben beschrieben - “Und die Moral von der Geschicht’ …” 393 resultieren. Identität erschließt sich nicht aus einem essentialistischen Ansatz heraus, sondern im Rahmen lokaler Einbettung von translokalen symbolischen Ressourcen (vgl. Hepp 2003). In einer Zeit fortschreitender Individualisierung und Enttraditionalisierung, in der die Frage nach sozialer Einbettung in zunehmend abstrakten und bruchstückhaften Lebensräumen gestellt wird (vgl. Röll 1998: 34 f.), erfolgt die Identitätsbildung nicht zuletzt durch massenmediale Kommunikation. Dies gilt für die Identität mit einem grenzüberschreitenden politischen Konzept wie es die EU darstellt im besonderen Maße. Das grenzüberschreitende Zugehörigkeitsgefühl gründet auf kollektiven Symbolsystemen und die mit ihnen konstituierten Vorstellungen, Imaginationen. 8 Identitäten sind dabei nicht nur rational sondern zentral emotional bestimmt und somit auch steuerbar. Als nicht unbedeutendes Steuerungsinstrument können fiktionale (Film-) Geschichten gesehen werden, da in ihnen sowohl die dramatische Inszenierung als auch die symbolische Verdichtung zentral ist - denn kollektive Identität ist ein soziales Konstrukt, das mit Hilfe von symbolischer Codierung zu Stande kommt (vgl. Dörner 2000: 19). Identität als gemeinsames Deutungsmuster von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird konstruiert, tradiert und in ästhetischen Konstruktionen repräsentiert (vgl. Knabel et. al. 2005: 10). Diese ästhetischen Konstruktionen der Identitätsangebote werden heute vor allem medial und vielfach grenzüberschreitend vermittelt. Unterhaltung stellt dabei das dominante Format der durch Massenmedien vermittelten Kommunikation dar (vgl. Dörner 2000). In unterhaltenden, inszenierten Geschichten wird die Realität strukturiert und mit ihnen Sinn und Deutungsangebote zur Verfügung gestellt. Die Populärkultur ist somit untrennbarer Teil der Lebensführung, da sie als wichtiges Forum der Identitätsbildung dient. 9 Die populärkulturellen Formate sind durch leichte Zugänglichkeit und Orientierungsfreundlichkeit geprägt, das macht sie so bedeutsam für die Vermittlung komplexer (politischer) Zusammenhänge. Die Wahrnehmung augenscheinlich unpolitischer, inszenierter Bilder- (Geschichten), die offenbar “immer verständlich und zumeist auch fraglos gültig [sind]”, beeinflussen bedeutend den “Kernbereich sozialer Welterfahrung” (Meyer 2001: 107). Bereits 1936 weist Walter Benjamin in seinem viel zitierten Text “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” darauf hin, dass die “Rezeption in der Zerstreuung” weitaus wirksamer die kollektiven Vorstellungen erreicht, als es “gesammelte” Informationen also bspw. strategische Imagekampagnen vermögen (vgl. Benjamin 2003 [1936]: 40-41). Zur Bildung einer europäischen Identität muss vor allem die emotionale Dimension angesprochen werden, um den Integrationsprozess zu unterstützen, denn die Schwierigkeit liegt in der Visualisierung der EU als politisches Abstraktum 10 (vgl. Wagener & Eger & Fritz 2006: 15 f.). Die Wahrnehmung des politischen Alltags ist aufgrund seiner Komplexität und Translokalität nicht mehr unmittelbar möglich, sondern muss zu größten Teilen über Medien vermittelt erfolgen. “Die wichtigste Funktion der Massenmedien liegt darin, politische Kultur sichtbar zu machen. Vorstellungswelten, Werte, Normalitäten und Identitäten nehmen im Mediendiskurs weithin wahrnehmbar sinnliche Gestalt an. Diese Visibilisierung des Kulturellen ist die Grundvoraussetzung für die Präsenz des politisch Imaginären im Wahrnehmungsraum der Bürger.” (Dörner 2000: 157; Hervorh. nicht im Orig.) Der zentralen Relevanz von (Sinn-) Bildern und Symbolen als Deutungshilfe ist man sich auf offizieller Seite der EU durchaus bewusst - die zahlreichen Europa-Symbole auf Zahlungsmitteln und offiziellen Dokumenten, die Europa-Hymne, der Europatag am 09. Mai etc. sind nur einige Beispiele für die vielfache symbolische Repräsentation des politischen Konzepts. 11 Dennoch liegt die EU außerhalb der alltäglichen Lebenswelt der Menschen und wird deshalb Jan Oehlmann 394 auch lediglich als abstraktes politisches Konstrukt wahrgenommen. 12 Bezüglich des oben skizzierten Phänomens der translokalen Verbreitung kultureller Ressourcen bei gleichzeitiger lokaler Aneignung (die auf die Alltagsrelevanz verweist) ist zu erwähnen, dass vor allem fiktionale, populärkulturelle Formate grenzüberschreitend in Erscheinung treten. 13 Dies bedeutet, dass besonders in fiktionalen Bildgeschichten der europäischen Filmproduktionen Darstellungen, die den eigenen Erfahrungs- und Lebensbereich der BürgerInnen betreffen, dazu dienen können, außerhalb explizit politischer Thematik die EU sichtbar und erlebbar zu machen. Diesen Bildern in fiktionalen Formaten ist nicht primär eine politische Informationsabsicht inhärent, doch repräsentiert Europa als filmischer Raum und Ort der Handlung auch immer eine bestimmte Vorstellung/ Imagination des außerfilmischen, wahrhaftigen Lebensraums sowie seiner zentralen Werte und Ideale. Die gemeinsamen Vorstellungsbilder über die Welt des Politischen, die die Identität der europäischen BürgerInnen bestimmen, werden heute zentral von den Alltag durchdringenden, populären Medieninhalten geprägt. Die populärkulturellen Texte spielen mit ihrem bedeutsamen Integrations- und Inklusionsvermögen eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Identitätsangeboten (vgl. Saxer, 2007: 68). In den inszenierten Bildergeschichten wird vorgeschlagen, was wünschens- und erstrebenswert sein sollte, denn die Suche nach identitätsstiftenden Werten ist für die Narration fiktiver Geschichten konstitutiv. Sie sichern ein emotionales Involvement, das die inhärenten Sinn- und Deutungsstrukturen, die grundlegenden Werte und Normen über die sachliche Argumentation hinaus legitimieren. Besonders die Sehnsucht des Menschen nach einem krisenlosen, harmonischen Zustand, der in populärkulturellen Texten das erstrebenswerte Ende beschließt, wird durch eine bestimmte Erzählstruktur in entsprechender Weise bedient. Die Herstellung der moralischen Ordnung ist zentraler dramaturgischer Bestandteil des Endes in mythischen Narrationen. “Die Hauptfunktion der Mythologie ist, uns in Harmonie und Einklang mit dem Universum zu bringen und zu erhalten” (Campbell 1993: 7) sowie in sinnhaft strukturierter Weise von einer Welt zu erzählen, deren Werte und Normen auch außerhalb der Geschichte attraktiv sind. 3 Der Mythos als identitätsstiftende “Geschichte” In der alltagssprachlichen Verwendung werden Mythen überwiegend in einen Kontext antiquierter Göttererzählungen und sagenhafter Herosgeschichten gestellt. Diese umgangssprachliche Bedeutungszuweisung ist nicht falsch, verengt aber aufgrund der inhaltlichen Bestimmung die Vorstellung ihrer vielfältigen Erscheinungsformen. Mythen sind nicht ausschließlich anachronistische Erzählungen, die in einer Gemeinschaft “vererbt” werden, sondern überzeitliche Geschichten, die die Grundbedingungen des menschlichen Lebens thematisieren (vgl. Hickethier 2001: 114). “Der Mythos wird nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht. Es gibt formale Grenzen, aber keine inhaltlichen.” (Barthes 2004 [1957]: 499) Dies bedeutet, dass Mythen zwar wiederkehrende Erzählmuster, Motive, Handlungsmodelle und Themen aufweisen, aber inhaltlich entsprechenden Wandlungen unterliegen. Sie weisen eine strukturelle Kontingenz auf, ohne in ihrem Sujet festgelegt zu sein. Deshalb hat das Mythische auch heute nicht von seiner individuellen und kollektiven Attraktivität verloren. Besonders populärkulturelle Texte greifen erfolgreich auf Mythen zurück, zitieren, adaptieren, modifizieren oder kommentieren sie (vgl. Dörner 2000: 227 ff.). Ihre alltägliche Relevanz lässt sich insbesondere auf ihre sinnstiftende Funktion zurückführen. “Und die Moral von der Geschicht’ …” 395 “Myths are therefore works of art that purvey a significant level of insight about the world and our concrete involvement in it.” (Singer 2008: 2) Die Weltwahrnehmung des Menschen findet - wie bereits oben dargestellt - nicht unmittelbar statt. Mit Hilfe von Riten, Bildern, Symbolen und Sprache werden Abbilder konstruiert, die Repräsentanzen eines weniger komplexen Erfahrungsraums darstellen. Cassirer definiert in diesem Zusammenhang den Menschen als “animal symbolicum” (Cassirer 1990: 51). Zwar sei die rationale Erfassung der Welt ein dem menschlichen Handeln immanentes Merkmal, so Cassirer, sie weise jedoch bei überhöhter Komplexität 14 der zu erfassenden Sachverhalte entsprechende Grenzen auf, so dass das symbolische Denken und Verhalten als conditio sin qua non für den gesamten Fortschritt der Kultur betrachtet werden muss. Demnach entsteht erst auf Grundlage des Symbolsystems das rationale Denksystem des Menschen. Das tragende Fundament aller Symbolik ist für Cassirer der Mythos: “Im Mythos stoßen wir auf die ersten Versuche, die Dinge und Ereignisse in eine chronologische Ordnung zu bringen, eine Kosmologie und eine Genealogie der Götter und Menschen zu entwerfen.” (Ebd.: 264) Er dient als Instrument, um die Wirklichkeit angemessen zu denken, zu deuten und ihr Sinn zu verleihen. Mythen sind Narrationen, die vom Suchen und Finden von Sinn und Bedeutung erzählen und somit nicht nur eine grundlegende Orientierungsfunktion erfüllen, sondern darüber hinaus auch eine einheitsstiftende Wirkung entfalten (vgl. Röll 1998: 90). Bezug nehmend auf die obigen Ausführungen zu europäischen Werten und kultureller Identität, wird deutlich, dass Mythen auch hier Orientierung bieten und somit sinnstiftend wirken können. Bizeul stellt insgesamt fünf zentrale Funktionen von Mythen dar. Er unterscheidet dabei die bereits skizzierte sinnstiftende Funktion sowie die ordnende, die integrative, die legitimierende respektive delegitimierende als auch die mobilisierende Funktion und bezieht sich dabei auf die grundlegenden Arbeiten zum Mythos von Barthes, Blumenberg und anderen. 15 Die ordnende Funktion entfaltet der Mythos aufgrund der wiedererkennbaren Ähnlichkeit seines narrativen Musters, das die Wirklichkeit strukturiert und die zentralen Werte und Normen ordnet. Ebenso in der narrativen Eigenheit des Mythos, in der die lineare Erzählweise konstituierend ist, liegt seine integrative Funktion begründet. Diese Linearität (z. B. die Linearität in der Reise des Helden; vgl. Krützen 2004) schafft Kontingenz und ermöglicht dadurch einen leichten Zugang sowie allgemeine Verständlichkeit, in dem die in ihrem Gerüst gleich bleibende narrative Struktur Komplexität reduzierend wirkt. Der Mythos ist somit im Modus des Verständlichen in der breiten Öffentlichkeit verankert und kann Sinn- und Deutungsangebote in der pluralistischen Gesellschaft einem größtmöglichen Rezipientenkreis zur Verfügung stellen. In ihm selbst werden diese Sinn- und Deutungsangebote überprüft, indem sie mit der Erzählung verknüpft sind und dadurch ihre Relevanz entfalten. Sie werden im Rahmen der Handlung evaluiert und liefern infolgedessen mögliche Handlungsmodelle, die die mobilisierende Funktion der Mythen bestimmen. Sie funktionieren dabei als Motivatoren, indem die angebotenen Handlungsmodelle als Vorbild angeeignet werden können 16 (vgl. Bizeul 2005: 33 f.). Eine Kritik an mythologischen Geschichten, die auf den angeblich normativen bis persuasiven Charakter des Mythos abzielt, ist aus verschiedenen Gründen unberechtigt. Bei diesem Vorwurf werden vor allem Mythen als Untersuchungsgegenstand herangezogen, die einer verpflichtenden, ideologischen Umformulierung unterzogen wurden. Mythen - wie sie in diesem Beitrag verstanden werden - vertreten im Gegensatz zur Ideologie keine Doktrin und Verbindlichkeit. “Alles was das Dogma erfordert, erläßt der Mythos. Er erfordert keine Jan Oehlmann 396 Entscheidungen, keine Bekehrungen, kennt keine Apostaten, keine Reue.” (Blumenberg 1996: 32) Besonders der kulturellen Heterogenität Europas kommt der Mythos entgegen, indem er durch seine “sowohl/ als auch” - Struktur im Gegensatz zu einer ideologischen “entweder/ oder” -Struktur (Bizeul) Deutungsfreiheit schafft und polykulturelle Zugänglichkeit beweist: “Der diachrone Wandel und die synchrone Vielfalt kultureller Rahmenbedingungen schließen deshalb den Wandel und die Vielfalt von Mythen und Symbolen ebenso ein wie die Modifikation von Identitätsentwürfen.” (Knabel et. al. 2005: 10) Dennoch hat es die Europäische Union bis heute nicht geschafft, die Nationalmythologien der einzelnen europäischen Länder, die in erster Linie das nationale Bewusstsein stärken, zu ergänzen durch überzeugende europäische Mythologien, die identitätsstiftend als große Erzählungen einer supranationalen Gemeinschaft dienen können. Die in diesem Beitrag formulierte Perspektive zur Problematik eines gemeinsamen Wertehorizonts, die die vergangenen Konflikte des Kontinentes anerkennt und mit einbezieht, könnte ein möglicher Ansatz für europäische Mythen darstellen. Die Werte, die sich aus den Erfahrungen der Grenzziehungen, Spaltungen und Kriege der europäischen Vergangenheit ergeben, verweisen auch auf die besondere Leistung Europas im Sinne einer politischen Errungenschaft, die dazu beitrug, den Schatten der vergangenen Konflikte zu überwinden. Wer hätte 1945 gedacht, dass heute, lediglich 65 Jahre nach einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte, 27 Staaten in einer offiziellen Gemeinschaft ihre Zukunft vereint gestalten wollen? Diese enorme Leistung - und mag sie zu Beginn vielmehr ökonomisch und außenpolitisch als kulturell intendiert gewesen sein - gilt es anzuerkennen und als “große Erzählung” wertzuschätzen. Europäische Mythen müssen also einerseits auf die Vielfalt und Individualität der Länder verweisen, andererseits jedoch ihre Kollektivität in den gemeinsamen Zielen und (politischen) Werten verankern. Die Vorstellung von einem einzigen Monomythos ist dabei in Anlehnung an die vorherigen Ausführungen zu korrigieren. Vielmehr sind es heute die kleinen mythischen Erzählungen, die die großen nationalen Mythen ersetzt haben und regional konnotiert sind (translokale Verbreitung/ lokale Aneignung und alltägliche Relevanz). Dies wird insbesondere durch die massenmediale Distribution begünstigt, da es zum medialen Wirkungspotential gehört, den Mythos und seine unterschiedlichen Differenzierungen (Mytheme) stets neu zu deuten, zu interpretieren und zu adaptieren (vgl. Karpenstein-Eßbach 2004: 249). “Lokale Mythen haben eine besondere Kraft, kulturelle und politische Selbstverständnisse zu formieren. Sie dienen der Vergewisserung eigener Mächtigkeit und erzählen von den Kämpfen, die durchzustehen waren, um ein begehrtes Gut zu erringen. Ihre Affinität zum Bereich des Politischen liegt darin, daß sie Identitätskonstruktionen ermöglichen […].” (Ebd.: 248) Die Zukunft EUropas wird davon bestimmt werden, wie sehr sich die Bürger dem grenzüberschreitenden Konzept verbunden fühlen. Ob Ihnen davon erzählt wird, wie wertvoll diese Gemeinschaft in Hinblick auf die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit und die vor Ihnen liegende gemeinsam zu gestaltende Zukunft ist, kann dabei richtungweisend sein. 4 Mythos und politische Kultur in Fatih Akins A UF DER ANDEREN S EITE Im Folgenden soll anhand eines aktuellen Filmbeispiels gezeigt werden, wie die beschriebene Thematik in Form einer audiovisuellen Geschichte erzählt werden kann, und auf welche Art “Und die Moral von der Geschicht’ …” 397 und Weise das Politische dabei präsent ist. Der in Europa sehr erfolgreiche 17 Film des Regisseurs Fatih Akin A UF DER ANDEREN S EITE (2007) eignet sich in besonderer Weise, um an dieser Stelle exemplarisch zu zeigen, dass populärkulturelle Texte sowohl strukturell an Mythen orientiert sind sowie auf mythologische Inhalte zurückgreifen, und dass diese Rückgriffe auch als Instrumente dienen können, um aktuelle politische Themen zu diskutieren. Die deutsch-türkische Koproduktion ist der zweite Teil der “Liebe, Tod und Teufel” - Trilogie des Regisseurs und verweist bereits im Titel auf das Sujet des Films, der in einer komplexen Dramaturgie nicht nur vom Tod erzählt, sondern auch vom “Leben” nach diesem, das in den Beziehungen der hinterbliebenen Freunde und der Familie weitergeführt wird. 18 A UF DER ANDEREN S EITE erzählt in drei Akten 19 von sechs türkischen und deutschen Menschen, deren Lebenswege sich über die politischen, geografischen und kulturellen Grenzen hinweg auf schicksalhafte Weise kreuzen. An diesen Schnittstellen der Lebenswege werden Fragen nach den zentralen moralischen und ethischen Werten, grenzüberschreitender Identität und politischer Kultur gestellt. Zum Inhalt 20 : Der in Bremen lebende Witwer Ali überredet die türkische Prostituierte Yeter, deren regelmäßiger Freier er ist, bei ihm einzuziehen. Sein Sohn Nejat, Germanistikprofessor an der Hamburger Universität, ist über diese neue Situation im Hause seines Vaters erst sehr irritiert, findet sich aber mit der Situation zurecht, als er erfährt, dass Yeter vor allem der Prostitution nachgeht, um ihrer Tochter Ayten das Studium zu finanzieren. Doch die eher zweckorientierte Beziehung zwischen Ali und Yeter ist von unterschiedlichen Lebensweisen geprägt, die immer wieder zum Streit führen. Als die Situation eskaliert, wirft Ali Yeter zu Boden, infolgedessen sie tödlich mit dem Kopf aufschlägt. Um Ayten vom Tod ihrer Mutter zu berichten, macht sich Nejat auf den Weg in die Türkei, unwissend, das Ayten sich bereits seit einiger Zeit ebenso in Hamburg aufhält. Sie flüchtete zuvor vor der türkischen Polizei, die sie aufgrund politischer Aktivitäten verfolgt. Doch da sie ihre Mutter nicht finden kann, wendet sich Ayten an die gleichaltrige Studentin Lotte. Es entwickelt sich eine homoerotische Beziehung zwischen ihnen, die von starker emotionaler Nähe geprägt ist. Als Ayten und Lottes Mutter Susanne in der Küche ein Streitgespräch über die politische Zukunft der Türkei führen, in dem Susanne der jungen Frau die Notwendigkeit ihrer politischen Aktivitäten abspricht (siehe folgender Dialog), verlässt Ayten wütend das Haus. Daraufhin wird sie von der deutschen Polizei bei einer Passkontrolle aufgegriffen und in die Türkei zurückgeschickt, wo sie inhaftiert wird. Um ihrer Freundin beizustehen, macht sich Lotte nun ebenfalls auf den Weg in die Türkei und mietet bei Nejat ein Zimmer an, der sich mittlerweile dazu entschlossen hat, einen alten Bücherladen für deutsche Literatur weiterzuführen. Bei dem Versuch, eine Pistole verschwinden zu lassen, die Ayten vorher für einen Freund versteckte, wird Lotte erschossen. Als Susanne vom Tod ihrer Tochter erfährt, verlässt auch sie Deutschland in Richtung Bosporus und zieht in Lottes ehemaliges Zimmer bei Nejat ein. Während sie den Tod ihrer Tochter verarbeitet, entschließt sie sich, Ayten zu helfen (siehe Abb. 3). Das wiederkehrende Motiv des Flusses (siehe folgende Abb. 1) verweist auf die “Styx” in der griechischen Mythologie, die sinnbildlich als Grenze und Übergang zwischen Lebens- und Totenwelt steht. Dieses Übergangsmotiv ist jedoch nicht nur auf die Sterbenssymbolik beschränkt, sondern kann darüber hinaus als eine breitere Symbolik des Übergangs gedeutet werden. So ist “die andere Seite” im Film zweifach konnotiert. Sie steht einerseits für die Existenzfrage nach dem Tod Yeters und Lottes, aber zugleich auch für den Übergangszustand der Türkei vor einem möglichen Beitritt zur EU. Jan Oehlmann 398 Abb. 1: Nejat (Baki Navrak) blickt auf die “andere Seite”. Der Verweis auf die Styx als Übergang in die neue Welt ist mythologischer Hintergrund für die Fragen des menschlichen und politischen “Übergangs”. Die Grenzmarkierung bzw. -überschreitung wird im Film also neben der metaphysischen Bedeutung auch geografisch bzw. politisch thematisiert. Der Bosporus als Grenze zwischen Europa und Asien deutet auf die aktuelle politische Frage, ob die Türkei EU-Mitglied und damit auch “institutionell” als Teil EUropas anerkannt werden soll. A UF DER ANDEREN S EITE beschreibt die unterschiedlichen politischen Kulturen zwischen Deutschland und der Türkei sowie den politischen Druck, unter dem das Land im Kontext der EU-Beitrittsverhandlungen steht. Im Film sind unter anderem Bilder von Demonstrationen am Tag der Arbeit zu sehen, die sowohl in Deutschland (im Film exemplarisch Bremen) als auch in der Türkei (Istanbul) stattfinden, sich aber in ihrer politischen Symbolik entsprechend unterscheiden. 21 Während bei der Demonstration in der deutschen Hansestadt vor allem ein vergnügliches und geordnetes Marschieren zu Spielmannszugmusik mit Volksfeststimmung gezeigt wird, ist die Situation in Istanbul von Spannung und Gewalt geprägt, die durch eine lebensbedrohliche Verfolgungsjagd zwischen Polizei und Demonstranten durch die engen, labyrinthartigen Gassen dargestellt wird. Trommelstock auf der einen Seite und Schlagstock auf der anderen machen im Film deutlich, wie groß die Unterschiede zwischen Deutschland als Mitgliedsland der Europäischen Union und der Türkei als Beitrittskandidat in Bezug auf die politischen Kulturen sind. “Und die Moral von der Geschicht’ …” 399 Abb. 2: Trommelstock (links; Deutschland) oder Schlagstock (rechts; Türkei). Die unterschiedliche Symbolik politischer Kultur. Auch das folgende Gespräch zwischen der türkischen Politaktivistin Ayten Öztürk (Nurgül Yesilçay) und der deutschen Mutter ihrer Freundin, Susanne Staub (Hanna Schygulla), verdeutlicht die politischen Dimensionen des Films als Dialog zwischen dem “alten” und “neuen” Europa: Susanne: “My daughter told me you were persecuted for political activities? ” Ayten: “Yes, I am a member of a political resistance group in Turkey.” Susanne: “And what exactly are you fighting for? ” Ayten: “We are fighting for hundred percent human rights and hundred percent freedom of speech and hundred percent social education. In Turkey just people with money can have education.” Susanne: “Maybe things get better once you get into the European Union.” Ayten: “I don’t trust the European Union.” Susanne: “Why not? ” Ayten: “Who is leading the European Union? It is England, France and Germany and Italy and Spain - these countries are all colony countries. It’s globalization and we are fighting against it.” Susanne: “Maybe you are a person, who just like to fight? ” Ayten: “You think I am crazy? If a country kills the people, the folk, just because they think different or look different or because they protest to have work and energy and schools, you have to fight back.” Susanne: “Maybe, everything will get better once you get into the European Union.” Ayten: “Fuck the European Union! ” Dieser politische Dialog wirft die Frage auf, ob der EU-Beitritt der Türkei auch die Lebenssituation der Menschen in diesem Land verändern kann, oder ob diese Veränderung - wie Ayten in ihrer politischen Aktivität demonstriert - von den Menschen selbst herbeigeführt werden muss. Ayten zweifelt an der EU als Ideal einer politischen Gemeinschaft. Der Film liefert keine Antwort auf makropolitischer Ebene, sondern stellt die (mikropolitische) zwischenmenschliche Solidarität in den Mittelpunkt. Ayten wird im weiteren Verlauf des Films von der deutschen Polizei aufgegriffen, in die Türkei abgeschoben und dort inhaftiert. Susanne fasst daraufhin den Entschluss, Ayten ihre Hilfe anzubieten, so wie es ihre verstorbene Tochter gewollt hätte. Jan Oehlmann 400 Abb. 3: Susanne (Hanna Schygulla) bietet der politischen Aktivistin Ayten (Nurgül Yesilçay) ihre Hilfe an. Die Bilder, die das Gespräch der beiden zeigen, verdeutlichen nicht nur die Einbzw. Abgrenzung der inhaftierten Ayten sondern verweisen auch auf die politische Abgrenzung der Türkei. Das alte Europa (Susanne) auf der einen Seite und der türkische Beitrittskandidat (Ayten) “auf der anderen Seite” sind voneinander getrennt. Doch die Grenze zwischen ihnen kann - und das ist die politische Aussage des Films - unabhängig von den Entscheidungen auf der Bühne der offiziellen Politik auf der zwischenmenschlichen Ebene der gemeinsamen (politischen) Werte überschritten werden. Die gemeinsame politische Kultur der Menschen, die auf Solidarität, persönlicher Freiheit und politischer Freiheit der kollektiven Selbstbestimmtheit, Pluralität und Vielfalt sowie auf den Erwartungen an einen offenen Horizont gründet (siehe obige Darstellung zu den gemeinsamen europäischen politisch-kulturellen Werten), stellt die Grundlage dar, auf der sich die Länder auf makropolitischer Ebene annähern können. Der Mythos des Grenzgangs zwischen zwei Welten wird im Film also in mehrfacher Weise verarbeitet. Er beschreibt nicht nur die Phase zwischen Leben und Tod zweier Frauen und stellt in diesem Zusammenhang die grundlegenden kulturübergreifenden bzw. verbindenden Werte der zwischenmenschlichen Beziehungen dar. Sondern darüber hinaus ist “die andere Seite” auch Sinnbild für das Erreichen politischer Ziele in Form einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden, demokratischen, politischen Kultur. Die mythologische Kontextualisierung in dieser Geschichte hat sowohl eine dramaturgische Funktion, in dem sie die Handlung in entsprechende Akte strukturiert, als auch eine symbolische Funktion, da sie auf eine Thematik verweist, die die Grundfragen des menschlichen Lebens aufgreift. Deshalb geht die Analyse populärkultureller Texte in Hinblick auf ihre mythologischen Dimensionen über die strukturellen Besonderheiten hinaus und erfordert die Untersuchung aus zeichentheoretischer/ symbolischer Perspektive: “Der Mythos gehört in eine Wissenschaft, die über die Linguistik hinausgeht; er gehört in die Semiologie.” (Barthes 1957: 501) Der vorliegende Beitrag konnte zeigen, dass das Verhältnis von gemeinschaftlich geteilten kulturellen und politischen Werten, kollektiver Identität und populärkulturellen Medien von größerer Interdependenz geprägt ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ziel war es, darzulegen, dass die kulturellen Texte (hier in Form des fiktionalen Films) identitätsstiftende Funktion erfüllen können und somit zentral in dieser Konstellation zu verorten sind. Trotz der allgegenwärtigen Präsenz des Mythos bleibt die Analyse seiner Leistung in der modernen Erinnerungskultur auf wenige wissenschaftliche Arbeiten beschränkt. Mythen und ihre kollektiven Symbole dienen jedoch nicht nur als retrospektives Deutungsmuster einer Gemeinschaft für die Vergangenheit, sondern sind ebenso Instrumente, die dazu dienen, die “Und die Moral von der Geschicht’ …” 401 komplexe Realität von Gegenwart und Zukunft begreif- und deutbar zu machen. Die (Bild-) Geschichten sind immer auch komplexe Quellen für die Rekonstruktion von Denkbildern. In ihnen prägen sich die “Umrisse der politischen Sinn- und Machtstrukturen ein […], die […] wiederum politisch-ikonografisch entschlüsselt werden können.” (Müller 2003: 213) Die Analyse von populären Texten in Hinblick auf ihren mythischen und symbolischen Gehalt setzt einen dezidiert interdisziplinären Ansatz voraus. Es bedarf einer Beantwortung der Frage, ob und inwieweit die europäischen Werte im öffentlichen Zeichenraum der populären Medienkultur repräsentiert werden. Die hierzu notwendige Analyse muss dabei sowohl die verwendete Symbolik analysieren, als auch herausarbeiten, welche Sinn- und Deutungsstrukturen sowie zentralen Wertvorstellungen als Determinanten einer europäischen Identität in den Bildgeschichten der Populärkultur visibilisiert werden. Interessant ist dabei die Frage, ob in den audiovisuellen Werken eine grundlegende Erzählstruktur herausgearbeitet werden kann, aus der sich so etwas wie eine europäische Geschichte - ein mythologisches Fundament - ableiten lässt. Um das Identitätsdefizit EUropas zu überwinden, bedarf es nicht nur der offiziellen Proklamation gemeinsamer politischer Werte und Normen, sondern einer emotional gefestigten Semantik der grenzüberschreitenden Gemeinschaft. EUropa benötigt Geschichten, die von dieser Gemeinschaft erzählen. Die populären Medien spielen dabei eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Identitätsangebote den Menschen bereitzustellen und die makropolitischen Dimensionen im alltäglichen begreifbar und erfahrbar zu machen. Wenn eine geteilte (politische) Identität der Weg EUropas in die Zukunft ist, dann sind Mythen und Symbole seine Orientierungsmarken. Literatur Anderson, Benedict 2006: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London: Verso. Barthes, Roland 1957: “Der Mythos heute”. In: Pias, Claus & Vogl, Joseph & Engell, Lorenz et. al. (Hg.) 2004: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA, S. 499-507. 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Köln: Halem Verlag. “Und die Moral von der Geschicht’ …” 403 Anmerkungen 1 Im Folgenden wird unter EUropa die Gemeinschaft der Europäischen Union verstanden. Der Verfasser zieht diese Schreibweise der üblichen (EU) vor, da sie seines Erachtens nach auf die Prozesshaftigkeit der Union verweist und auch die Staaten mit einbezieht, die heute oder zu einem früheren Zeitpunkt der Betrachtung noch nicht offiziell Mitglieder der EU sind/ waren, aber in absehbarer Zeit die Zukunft der Gemeinschaft mit gestalten könnten. Die Schreibweise EUropa deutet die Schwierigkeit an, die in der Konstruktion einer politischen Gemeinschaft liegt, die sich auf keine abgeschlossene geographische Zuordnung beziehen kann (Finalitätsdebatte). Bezieht sich der Verfasser im weiteren Verlauf explizit auf die EU als politische Institution, so wird weiterhin die Abbreviatur “EU” benutzt (zur Bestimmungsproblematik der EU siehe auch den Beitrag von Perge in diesem Band). 2 Siehe hiezu: Veröffentlichungen der Europäischen Kommission zum Eurobarometer unter URL: http: / / ec. europa.eu/ public_opinion/ index_en.htm. [10.09.2010] 3 Im Vergleich zu vielen anderen Medien ist im Kino die gemeinsame Rezeption konstituierend. Zusammen mit vielen anderen Kinozuschauern befindet man sich im abgedunkelten Kinosaal, schaut gespannt auf die angestrahlte Leinwand und versinkt im Kollektiv für circa zwei Stunden in der fiktionalen Filmwelt. 4 Es soll im vorliegenden Beitrag keine grundlegende Darstellung unterschiedlicher Mythentheorien bspw. nach Lévi-Strauss, Lacan oder Barthes erfolgen (siehe hierzu u. a. Caspo 2005 oder Matuschek & Jamme 2009). Vielmehr geht es darum, die Rolle von Mythen respektive mythologischen Dimensionen von populärkulturellen, fiktionalen Geschichten im EU ropäischen Integrationsprozess zu beleuchten. 5 Als Beispiel kann hier die Diskussion um die EU-Stimmverteilung im Jahr 2007 genannt werden, bei der der damalige polnische Premier Jaros aw Kaczynski die “Anrechnung” von Millionen Kriegstoten forderte. 6 Die Diskussion und die Argumente der jeweiligen Positionen können an dieser Stelle nicht ausführlich beschrieben oder bewertet werden. Für weitere Ausführungen siehe unter anderem Walkenhorst 1999 sowie Meyer & Eisenstedt 2009. 7 Zur Auseinandersetzung mit der Leitformel aus semiotischer Perspektive siehe auch den Beitrag von Jöhnk in diesem Band. 8 Deshalb lässt sich auch die Methode der Umfrageforschungen zur Ermittlung des Identitätsgefühls der Menschen kritisieren. Der Vergleich von Einstellungen ist für einen komplexen Begriff wie Identität allgemein sehr fraglich, da tiefer liegende Vorstellungsmuster über die Welt des Politischen oftmals nicht verbalisierbar sind und damit in den Umfragen nicht geäußert werden können. In Anlehnung an die Weiterentwicklung des Konzeptes von Politischer Kultur nach Rohe, soll an dieser Stelle auf die Relevanz des Symbolischen bei der Identitätsbildung hingewiesen werden. Eine Analyse der europäischen Bürgeridentität muss demnach auch die Betrachtung von Ressourcen von Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen einbeziehen, die sich nicht primär in den Einstellungen der Menschen wiederfinden müssen, sondern die tiefer liegenden Vorstellungswelten - die imaginierten Gemeinschaften - betreffen. 9 Populärkulturelle Texte werden in diesem Zusammenhang verstanden als Texte, die sich auf sozial relevante Bereiche des Alltags beziehen und sich durch leichte Verständlichkeit sowie allgemeine Zugänglichkeit auszeichnen. Ebenso ist ihnen eine große Reichweite gemein, die sich bspw. in Form von hohen Einschaltquoten (Fernsehfilm) oder Besucherzahlen (Kinofilme) quantifizieren lässt. 10 Wie J. Delors treffend formuliert: “Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben.” (Delors zit. nach Walkenhorst 1999: 9) 11 Siehe hierzu auch den Beitrag von Perge als auch von Krammer in diesem Band. 12 Die oben bereits erwähnte geringe Wahlbeteiligung bei den Europawahlen ist nicht zuletzt Ausdruck davon, dass die EU noch nicht im Alltag der Menschen als relevante politische Institution angekommen ist. 13 Zum Aspekt der europäischen Medienöffentlichkeit siehe auch den Beitrag von Matzke in diesem Band. 14 An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass EUropa als politisches und sehr komplexes Konstrukt auf einen weniger komplexen Erfahrungsraum angewiesen ist. Der Kinosaal, indem emotionale Geschichten erzählt werden, stellt diesen Erfahrungsraum in besonderer Weise dar. 15 Die Funktionen von Mythen können an dieser Stelle aufgrund des begrenzten Umfangs des Beitrages lediglich kurz skizziert werden (siehe weiterführend hierzu Bizeul 2005: 31 ff.). Jan Oehlmann 404 16 In diesem Zusammenhang ist auf den Konjunktiv in der Formulierung größten Wert zu legen, da aufgrund der individuellen Rezeptionsprozesse niemals Lesarten und mögliche Wirkungen vollständig vorausgesagt werden können. Medienrezeption als komplexer Prozess widerspricht einem simplifizierenden Stimulus-Response- Modell, so dass ohne empirische Überprüfung lediglich eine dominante Lesart vermutet werden kann, die durch eine Analyse der entsprechenden Ressourcen gestützt werden muss. 17 Unter anderem ausgezeichnet für das beste Drehbuch bei den Filmfestspielen in Cannes sowie Auszeichnung mit dem Europäischen Filmpreis(! ) sowie Gewinner des vom Europaparlaments(! ) verliehenen Filmpreises “Lux”. 18 Das Mythem des Todes gehört zu den stets wiederkehrenden Themen, die die Menschen beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit diesen in Form von Erzählungen stellt Deutungsmuster sowie Werte und Normen zur Verfügung, die den Rezipienten als Orientierungsmarken der Selbst- und Weltwahrnehmung dienen. 19 Die Akte werden auch filmisch durch entsprechende Inserts gekennzeichnet (Akt 1 “Yeters Tod”; Akt 2 “Lottes Tod”; Akt 3 “Auf der anderen Seite”). 20 Die Darstellung des Inhalts entspricht hier der Story und nicht dem Plot als Geschichte, wie sie im Film erzählt wird. 21 Abgesehen vom realhistorischen Hintergrund, dass der 01. Mai nach dem Militärputsch von 1980 bis 2009 als Feiertag in der Türkei abgeschafft wurde (A UF DER ANDEREN S EITE wurde 2007 produziert; die Handlung findet im selben Zeitraum statt), ist es interessant, dass Akin lediglich Bilder einer geordneten Demonstration in Deutschland zeigt, obwohl die jährlichen Demonstrationen auch hier von gewalttätigen Auseinandersetzungen bspw. in Berlin/ Kreuzberg oder dem Hamburger Schanzenviertel überschattet werden. Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart. Eine philosophisch-semiotische Analyse am Beispiel von John Locke und Charles Peirce Katharina Perge; Leuphana Universität Lüneburg In the following article, the importance of experience for present day Europe and European integration is systematically explored from a philosophical point of view. Experience is to be understood as the emotional experimental process which is characterized through dynamic interactions and creativity. Furthermore, it argues that the cognitive knowledge of which cannot be mediated through political or comparable parameters but just through the experimental process itself. Europe, according to this proposition, has to be experienced if the European integration process is to be supported and legitimated - and cannot be imposed on the European citizen in a marketing top-down-manner. Europe, on the other hand, is to be understood as an undefined space of experience, while the European Union presents Europe’s dominant political structure. Despite the theoretical distinction, both Europe and the European Union are closely connected and influence each other’s development. Hence, European experience refers to experiencing Europe as well as experiencing the European Union. As experience cannot be understood without the principle of mediation, medial experience plays a central role in the course of this article. In this context, it is shown that Europe and the European Union can only be experienced through common media. The philosophical writings of John Locke (1632-1704) and Charles Peirce (1839-1914) form the theoretical background, as both authors attach central significance to the concept of experience in their respective works. 1 Einleitung Im vorliegenden Beitrag wird aus philosophischer Sicht dargelegt, welche wichtige Rolle Erfahrung für das heutige Europa und die europäische Integration spielt. 1 Erfahrung meint dabei den gefühlsbetonten Erlebnisprozess, der durch Dynamik und Kreativität gekennzeichnet ist und dessen kognitive Erkenntnisse nur durch ebendiesen Erlebnisprozess erworben werden können - sich also auch nicht durch politische oder sonstige Vorgaben vermitteln lassen. Europa, so die These, muss erfahren werden, um Unterstützung und Legitimation der europäischen Integration zu gewährleisten - und kann dem europäischen Bürger nicht einfach in marketingstrategischer Top-Down-Manier aufgedrängt werden. Europa wiederum wird als unbestimmter Erfahrungsraum verstanden, während die Europäische Union die dominierende politische Struktur Europas darstellt. Trotz der theoretischen Differenzierung sind beide eng miteinander verflochten und beeinflussen sich in ihrer Entwicklung gegenseitig. 2 Daher bezieht sich der Begriff der europäischen Erfahrung sowohl auf die Erfahrung Europas als K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Katharina Perge 406 auch auf die Erfahrung der EU. Da Erfahrung, wie zu sehen ist, nicht ohne das Prinzip der Medialität gedacht werden kann, wird im weiteren Verlauf vor allem mediale Erfahrung thematisiert und auf ihr Potential europäischer Erfahrbarkeit hin untersucht. Dabei zeigt sich, dass Europa und die EU nur in und durch gemeinsame Medien erfahrbar sind. Theoretische Grundlage hierzu bilden die philosophischen Ausführungen John Lockes (1632-1704) und Charles Peirces (1839-1914), da beide dem Begriff der Erfahrung einen zentralen Stellenwert in ihren philosophischen Systemen einräumen. 2 Erfahrung und Europa: Die Verbindung von John Lockes empiristischer und politischer Philosophie Da Locke zum einen von der außerordentlichen Wichtigkeit der Erfahrung überzeugt war und zum anderen einen prägenden Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte - und mit dieser auch auf das politische System der Europäischen Union - ausübte, soll im Folgenden die Bedeutung von Erfahrung für das heutige Europa mit Bezug auf die Philosophie Lockes nachgewiesen werden. 2.1 Erfahrung als Grundlage der komplexen Idee Europa Locke hat mit seiner Erkenntnisphilosophie den modernen Empirismus begründet, der durch die Ablehnung angeborener Ideen, die Betonung individueller Erfahrung und den gleichzeitigen Glauben an die menschliche Vernunft zur Basis der europäischen Aufklärungsphilosophie wurde (vgl. Euchner 2004: 178). Locke definiert Erfahrung in seinem erkenntnisphilosophischen Hauptwerk Essay Concerning Human Understanding (1690) als Sensation, d. h. sinnliche Wahrnehmung, und Reflexion, d. h. innere Wahrnehmung (vgl. Locke 2006a: II.1.3 f.). 3 Alle dem Geist immanenten Ideen sind laut Locke entweder einfache Ideen, die direkt aus der Erfahrung, d. h. aus Sensation und/ oder Reflexion, stammen und sich nicht weiter zerlegen lassen, oder so genannte komplexe Ideen (Modi, Substanzen, Relationen), die der Verstand aus den einfachen Ideen zusammensetzt (vgl. ebd.: II.2.1 f., II.7.10 f.). Somit kommt auch dem Verstand eine wichtige Rolle im Erkenntnisprozess zu. Durch die Reduzibilität aller Ideen auf einfache Ideen zeigt Locke jedoch, dass alle Ideen - ob unmittelbar (einfache Ideen) oder mittelbar (komplexe Ideen, über einfache Ideen) - ursprünglich aus der Erfahrung stammen und weist der Erfahrung damit erkenntnisphilosophische Priorität zu. In diesem Sinne fungiert Erfahrung für Locke als eine Art Schnittstelle, die zwischen der Realität und dem Geist vermittelt. Die Tatsache, dass die einfachen Ideen der Reflexion der zuerst durch die Sensation erfahrenen Ideen bedürfen (vgl. ebd.: II.1.24; II.2.2), zeigt allerdings, dass die Ideen der Reflexion nicht so genuin “einfach” sind, wie Locke behauptet. Daher kann der erkenntnisphilosophische Erfahrungsbegriff Lockes primär als sinnliche Wahrnehmung (Sensation) verstanden werden. 4 Lockes erkenntnisphilosophischer Erfahrungsbegriff ist dabei vor allem als individuelle Erfahrung anzusehen: Die Erfahrungswelt eines jeden unterscheidet sich nach Locke von denen der anderen insofern, als dass jeder genau genommen nur seine eigenen, durch Erfahrung gewonnenen Ideen im Geist hat und nicht hundertprozentig sicher sein kann, dass der andere die Welt genauso wahrnimmt wie er selbst. Folglich sind auch Wörter einzig Zeichen für die Ideen des Sprechers, der wiederum nur annehmen kann, dass sein Kommunikations- Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 407 partner die gleichen oder ähnlichen Ideen besitzt (vgl. Locke 2006b: III.2.2-4). Je komplexere Ideen ein Name vertritt, desto wahrscheinlicher ist es, dass man nicht die gleichen Ideen besitzt (vgl. ebd.: III.9.6 ff). Dies zeigt sich an der Idee Europa, die aufgrund ihrer hohen Komplexität schwer zu definieren ist und deren Zusammensetzung daher von Person zu Person variiert. Diese Komplexität manifestiert sich vor allem durch die dem Europabegriff immanenten Antagonismen: “Wenn man mir sagt, daß Europa das Land des Rechts ist, so denke ich an Willkür; daß es das Land der Menschenwürde ist, so denke ich an Rassismus; daß es das Land der Vernunft ist, so denke ich an romantische Schwärmerei.” (Jean-Baptiste Duroselle, zit. nach Schulze 2000: 13) Dieser Mangel an Einheitlichkeit, diese Uneinigkeit, begründet die Schwierigkeit, Europa zu begreifen, sich also die “Identität in der Nicht-Identität” (Morin 1988: 29) vorzustellen. Derrida nennt dies die “Differenz mit sich selbst” (Derrida 1992: 13; Hervorh. im Original), die jeder Kultur und jeder kulturellen Identität immanent ist. 5 Zudem hat Europa weder eine natürliche Trennlinie zwischen Asien und seinem Subkontinent, also eine klare geographische Grenze, noch lässt sich Europa als feste historische Größe fassen, haben sich doch politische und kulturelle Grenzen im Laufe der Zeit immer wieder verschoben (vgl. Schluchter 2006: 239 f.; Derrida 1992: 26). 6 Die komplexe Idee Europa gehört damit zu der Lockeschen Ideenklasse der so genannten (gemischten) Modi, die für Locke keine Gegenstände, sondern abstrakte 7 Dinge repräsentieren und die somit eine eindeutige Definition zusätzlich erschweren. Trotzdem basiert nach Locke jede komplexe Idee - und damit auch die Idee Europa - letztendlich auf der Erfahrung, weil wir diese im Geist aus Ideen zusammensetzen, die wir zuvor aus der Erfahrung gewonnen haben. Je mehr Erfahrungen wir machen, die wir mit der Idee Europa verbinden, desto bestimmter wird die Idee, die wir von Europa haben. Die Idee Europa “lebt” also von unseren Erfahrungen. 2.2 Das Erfahrungsdefizit der Europäischen Union Neben der Beschäftigung mit erkenntnisphilosophischen Fragestellungen entwickelte Locke parallel dazu umfassende und innovative Ansichten über Aufbau und Funktion des Staatswesens, die eine radikale Alternative zu der feudal-absolutistischen Herrschaft der damaligen Zeit darstellten. Die in der Literatur oftmals vertretene Position, es gebe keine inhaltliche Verbindung zwischen Lockes Empirismus und seiner politischen Philosophie 8 , erscheint jedoch relativ unwahrscheinlich, da Locke sowohl den Essay als auch das Hauptwerk seiner politischen Philosophie, Two Treatises of Government (1690), über einen längeren Zeitraum gleichzeitig verfasst und sogar im selben Jahr veröffentlicht hat. 9 Zumal ist auch der Essay, insbesondere Lockes leidenschaftliche Ablehnung angeborener Ideen, von politischen und aufklärerischen Gedankengängen beeinflusst (vgl. Specht 1997: 54 f). Da Locke aber durch seine radikale Kritik am Absolutismus, die er in den Treatises übte, politischen Repressalien ausgesetzt, wenn nicht gar zum Tode verurteilt worden wäre, veröffentlichte er die Treatises anonym und unterband jegliche offene Hinweise auf seine Identität. 10 Wie sehr auch Lockes politische Philosophie von seinem empiristischen Denken beeinflusst ist, lässt sich nachweisen, wenn man den Lockeschen Erfahrungsbegriff des Essays erweitert. Ein solches Vorgehen begründet sich darin, dass Locke auch seinen Untersuchungsgegenstand gewissermaßen erweitert: Während er im Essay den einzelnen Menschen und Katharina Perge 408 dessen geistige Welt analysiert, untersucht er in den Treatises die politische Gesellschaft und deren kollektive Welt. Dementsprechend kann Erfahrung in den Treatises als eine Art “kollektive Sensation” verstanden werden, die zwischen den Menschen und ihren individuellen geistigen Welten vermittelt. Erfahrung in diesem Sinne meint also jeglichen zwischenmenschlichen Austausch, der sich über Sinne, Empfindungen, Sprache vollzieht und als Basis jedes gesellschaftlichen Zusammenlebens fungiert. Nach Locke schließen sich die Menschen freiwillig und in gemeinsamer Übereinkunft zur politischen oder bürgerlichen Gesellschaft zusammen, um den Kriegszustand zu vermeiden und die universalen Grundrechte eines jeden zu schützen (vgl. Locke 1977: II.9.124 ff.). 11 Um Machtmissbrauch zu verhindern, führt Locke zudem das Prinzip der Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Föderative) ein (vgl. ebd.: II.12.143-148). 12 Dabei lässt sich sowohl die Bildung des Staates und seiner Institutionen als auch die Legitimität des politischen Systems insgesamt auf die gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesse der bürgerlichen Gesellschaft zurückführen: “Und diese [politische; K. P.] Gewalt hat ihren Ursprung allein in Vertrag und Übereinkunft und in der gegenseitigen Zustimmung derjenigen, die die Gemeinschaft bilden” (ebd.: II.15.171; Hervorh. im Original). Die Gemeinschaft ist zudem Souverän des Staates: “Und so behält die Gemeinschaft beständig eine höchste Gewalt für sich” (ebd.: II.13.149; Hervorh. im Original). Da die Gemeinschaft, die Locke wiederholt als lebendigen, dynamischen “Körper” beschreibt (vgl. ebd.: II.8.96, II.12.145, II.19.211), nur im kollektiven Erfahrungsprozess als Gemeinschaft agieren kann, impliziert Locke, dass sich der Staat primär durch kollektive Erfahrung konstituiert. Zudem betont Locke auch hier die Wichtigkeit sinnlicher Wahrnehmung: “Was Schmeichler auch immer reden mögen, um den Verstand des Volkes zum besten zu halten, es wird die Menschen nicht von ihrem Gefühl abbringen.” (Ebd.: II.7.94) Das empiristische Denken Lockes zeigt sich des Weiteren explizit in der so genannten Prärogative, nach der die Exekutive über die Macht verfügt, ohne Vorschrift des Gesetzes - und notfalls auch gegen den Wortlaut des Gesetzes - nach eigener freier Einschätzung und Erfahrung zu entscheiden, was für das Volk am besten ist (vgl. ebd.: II.14.166). Auch in Zusammenhang der Föderative, die für die Außenbeziehungen des Staates zuständig ist, betont Locke die Wichtigkeit des prärogativen und somit empiristischen Handelns: Gerade im Umgang mit “Fremden” ist es besonders wichtig, sich nicht entsprechend starrer, vorher gefasster Gesetze zu verhalten, sondern nach Klugheit und Gefühl zu handeln (vgl. ebd.: II.12.145-148). Während Lockes Erkenntnisphilosophie im Essay also völlig auf der individuellen (sensualistischen) Erfahrung basiert, ist in den Treatises ein erweiterter, kollektiver Erfahrungsbegriff impliziert, der zur Grundlage seiner politischen Theorie wird. Während die Erfahrung im Essay zwischen Geist und Realität vermittelt, vermittelt die Erfahrung in den Treatises gewissermaßen zwischen den Bürgern und der Regierung sowie zwischen den Bürgern selbst. Angesichts der in seiner Erkenntnisphilosophie betonten Individualität unserer Ideen und Erfahrung zeigen sich jedoch erhebliche Spannungen zu dem impliziten Erfahrungsbegriff der Treatises. Wie sich im Laufe dieses Beitrags zeigen wird, bedarf es zusätzlich der zeichentheoretischen Ausführungen Peirces, um sowohl individuelle als auch kollektive Erfahrung erkenntnisphilosophisch beschreiben zu können. Die Spannung zwischen Lockes individuellem und kollektivem Erfahrungsbegriff verdeutlicht jedoch, dass der Lockesche Volksbegriff nichts mit dem emphatisch überhöhten Volksbegriff, den wir heute mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringen, gemein hat. Locke dachte keineswegs an eine reine, homogene Masse, wenn er von “Volk” oder “Gemeinschaft” sprach, sondern hatte vielmehr die kollektive Erfahrung von Individuen im Sinn, die unterschiedliche, auch Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 409 gegensätzliche Interessen vertreten und trotzdem zu gemeinsamen Entscheidungen finden. Daher soll der Begriff des Volkes im vorliegenden Beitrag auch in diesem Lockeschen Sinne gebraucht werden. Das Prinzip der Volkssouveränität ist eines der innovativen Grundprinzipien der politischen Philosophie Lockes, die die Entwicklung der Französischen Revolution begünstigten und sich in den neuen nationalstaatlichen Konstitutionen in Europa niederschlugen. Insbesondere Lockes Postulate der bürgerlichen Freiheitsbewegung sind in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution eingegangen (vgl. Euchner 1977: 58). Auch dem epochemachenden Gedanken der staatlichen Gewaltenteilung wird heute in jeder demokratischen Verfassung Rechnung getragen (vgl. Siep 2007: 252; Euchner 1977: 58 f.). Lockes politische Philosophie hat so die Grundlage der liberalen repräsentativen Demokratie - und damit auch des modernen Konzepts der Europäischen Union - gelegt. 13 Die EU lässt sich einerseits auf die politischen Grundprinzipien Lockes zurückführen und ist andererseits ein bislang einzigartiges institutionelles Modell in der Welt. So entstand die EU - wie auch der Lockesche Staat - aus freiwilliger Entscheidung und mit dem vorrangigen Ziel, den Kriegszustand zu vermeiden. 14 Im Unterschied zu der Staatsbildung bei Locke wurde die europäische Integration jedoch von nationalstaatlichen Akteuren - d. h. politischen Eliten - initiiert und bestimmt (vgl. Pfetsch 2001: 68; Schmidt & Schünemann 2009: 242). Der europäische staatliche Zusammenschluss in der heutigen Form der EU ist zudem (vorläufiges) Resultat eines kontinuierlichen Prozesses, der aus vielen verschiedenen Zwischenstufen besteht und bis heute nicht abgeschlossen ist. Dennoch sind die grundlegenden Prinzipien der europäischen Integration und der politischen Philosophie Lockes die gleichen. So übertragen die einzelnen EU-Mitgliedstaaten freiwillig einen Teil ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten an die Gemeinschaft, bleiben aber trotzdem souveräne Staaten (vgl. Meyer 2004: 228). Auch bekennt man sich in der Präambel des EU-Vertrages explizit zu Freiheit und Menschenrechten (vgl. Pfetsch 2001: 63) - grundlegende Rechte, deren Proklamation auf Lockes Treatises zurückgeht. Des Weiteren stützt sich die EU auf das Prinzip der Gewaltenteilung, das von Locke begründet wurde, um Machtkonzentration und -missbrauch vorzubeugen. Dementsprechend besteht die EU aus einem vielschichtigen Institutionensystem, das die politische Gewalt auf viele verschiedene - staatliche, nichtstaatliche und regionale - Akteure verteilt. Dabei ist es insbesondere die Verbindung von zwischenstaatlicher Zusammenarbeit und gemeinschaftlichen Politikbereichen, die die EU zum politischen System sui generis macht (vgl. Schmidt & Schünemann 2009: 57 f.; Pfetsch 2001: 119 f.). Eng verknüpft mit dem Prinzip der Gewaltenteilung ist zudem das demokratische Prinzip, auf das sich die EU stützt und das sich ebenfalls bei Locke findet. Bei Locke zeigt sich dieses in der Rolle des mächtigen Volkes, das den eigentlichen Souverän und somit die Quelle der staatlichen Legimitation darstellt. Die EU, als freier Zusammenschluss demokratischer Nationalstaaten, legitimiert sich primär indirekt über die demokratisch gewählten Repräsentanten der einzelnen Mitgliedstaaten. Einzige direkte demokratische Legitimierung erhält die EU durch das von den europäischen Bürgern alle fünf Jahre direkt gewählte Europäische Parlament (vgl. Schmidt & Schünemann 2009: 63 ff.). 15 Dieses verfügt jedoch - trotz wesentlicher Verbesserungen durch den Vertrag von Lissabon (2009) - nach wie vor über eingeschränkte Kompetenzen; so liegt das legislative Initiativrecht weiterhin einzig bei der Europäischen Kommission. Daher wird in der Literatur vielfach ein Demokratiedefizit der EU konstatiert (vgl. z. B. Pfetsch 2001: 255-261; Schmidt & Schünemann 2009: 240 ff.), was zwar nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon deutlich schwächer ausgeprägt ist. Mit Bezug auf Locke, nach dem in einer Demokratie die vom Volk legitimierte Legislative (hier: Katharina Perge 410 Europäisches Parlament) über der Exekutive (hier: Europäische Kommission) steht (vgl. Locke 1977: II.10.132), kann diesem Urteil jedoch weiterhin zugestimmt werden. Natürlich erschwert die besondere und komplexe Beschaffenheit des EU-Systems eine Anwendung nationaler Demokratiekonzeptionen. Dennoch gilt der Lockesche Grundgedanke für jegliche rechtmäßige politische Ausformung, die sich “demokratisch” nennen will: Souverän ist und bleibt das Volk (vgl. ebd.: II.13.149; Schmidt & Schünemann 2009: 243 f.). Die schwache Volkssouveränität zeigt sich jedoch nicht nur in den eingeschränkten institutionellen Voraussetzungen, sondern vielmehr in der mangelnden Partizipation des Bürgers am politischen Leben, d. h. dem verbreiteten Desinteresse an der “weit entfernten” EU und der damit verbundenen niedrigen Wahlbeteiligung bei Europawahlen: War die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen schon bei der ersten Abstimmung 1979 im Vergleich zu nationalen Wahlen relativ niedrig, ist sie bis heute kontinuierlich gesunken. 2009 lag die Wahlbeteiligung gar bei 43%. 16 Zwischen den politischen Ämtern der EU und der erfahrbaren Lebensrealität der Bürger besteht kein zwingender Zusammenhang (vgl. Meyer 2004: 172). So wird aus einer speziellen Eurobarometer-Untersuchung 17 über das Europäische Parlament deutlich, dass den Bürgern das Europäische Parlament - die direkte Volksvertretung auf europäischer Ebene - und dessen funktionelle Eigenschaften mehrheitlich nicht sehr bekannt sind (vgl. Europäische Kommission 2008b: 47-51 sowie 64-66). Zudem hat die EU im Gegensatz zum Lockeschen Staat nicht ein Volk, sondern 27 verschiedene (vgl. Schmidt & Schünemann 2009: 63). Eine wirklich demokratisch legitimierte politische Ordnung im Sinne Lockes wäre erst erreicht, wenn die Bürger der EU ein Kollektiv bilden, sich als ein Volk verstehen und dementsprechend handeln. Dies betont auch Meyer: “Wichtiger als alles andere ist […] die Chance der täglichen Erfahrung politischer Gemeinsamkeit.” (Meyer 2004: 185) Anschließend an das oben diagnostizierte Demokratiedefizit kann somit vielmehr von einem Erfahrungsdefizit der EU gesprochen werden, das sich sowohl auf vertikaler (zwischen EU und Bürgern) als auch auf horizontaler Ebene (zwischen den Bürgern) konstituiert. Nach Locke bedarf es zur Aufrechterhaltung des politischen Systems jedoch der Erfahrung auf beiden Ebenen. Die EU selbst hat offenbar die Bedeutung von Erfahrung - ohne sie als solche zu bezeichnen - seit einiger Zeit erkannt und einige im Lockeschen Sinne empiristische Elemente in ihr institutionelles System implementiert. So hat die EU eine Art prärogatives Verfahren entwikkelt, das seit dem Vertrag von Lissabon (2000) in vielen verschiedenen Bereichen angewandt wird: die Offene Methode der Koordinierung (OMK). 18 Im Rahmen dieser nehmen die EU- Mitgliedstaaten, die dazu bereit sind, an einem flexiblen Koordinierungsprozess teil, in dem ihre Umsetzung politischer Zielsetzungen nach Maßgabe gemeinsamer Leitlinien von Ministerrat und Kommission bewertet wird. Dies ist jedoch nicht mit verbindlichen Verpflichtungen und harten rechtlichen Sanktionen verbunden, sondern gilt als Instrument der weichen Steuerung, d. h. “ihr Medium ist weniger das Recht denn die Debatte” (Schmidt & Schünemann 2009: 267). Wie die Lockesche Prärogative wird auch die OMK fallweise angewandt und setzt auf den kollektiven Lern- und Erfahrungsprozess: laut Kommission “bietet [sie] den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Anstrengungen zu vergleichen und aus den Erfahrungen der anderen zu lernen” (Weißbuch 2001 der Europäischen Kommission, zit. nach: Schmidt & Schünemann 2009: 267). Natürlich muss sich insbesondere die europäische Exekutive (Europäische Kommission und z. T. Ministerrat) an Richtlinien und Gesetzesvorgaben halten. Trotzdem bietet die OMK die Möglichkeit, das Element der Erfahrung auch in das vielschichtige System der EU zu implementieren. Wie bei Locke verbindet die EU hier die Notwendigkeit, sich an Gesetze zu halten, mit der Möglichkeit, frei von diesen zu agieren. Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 411 Laut Meyer trägt die OMK so Entscheidendes zum europäischen Integrationsprozess bei (vgl. Meyer 2004: 204). Des Weiteren hat die EU verschiedene Förderprogramme ins Leben gerufen, die die länderübergreifende Erfahrung in verschiedenen Bereichen unterstützen sollen. Zu diesen Förderprogrammen gehören beispielsweise die Programme “Lebenslanges Lernen”, durch das Schüler-, Studenten- und Wissenschaftleraustausche ermöglicht werden und in das auch das bekannte Erasmus-Programm integriert ist (vgl. Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur 2009c), sowie “Jugend in Aktion”, das vor allem außerschulische Jugendbegegnungen fördert und den Sinn für eine aktive “europäische Staatsbürgerschaft” schärfen will (vgl. Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur 2009b). Letzteres ist auch und vor allem Ziel des Programms “Europa für Bürgerinnen und Bürger”: “Ziel dieses Programms ist es, Europa an seine Bürgerinnen und Bürger anzunähern […]. Mit Hilfe dieses Programms haben die Bürgerinnen und Bürger Gelegenheit, transnationale Erfahrungen zu machen, zu kooperieren, einen Beitrag zur Entwicklung der Zugehörigkeit zu gemeinsamen europäischen Werten zu leisten und den europäischen Einigungsprozess voranzutreiben.” (Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur 2009a) Die Förderung einer europäischen Staatsbürgerschaft und transnationaler Erfahrungen - bezeichnet als “interkultureller Dialog” - ist ebenso grundlegendes Ziel des EU-Kulturprogramms (vgl. Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur 2009e: 7). Man kann also sagen, dass die EU der Erfahrung zwischen den Menschen in Europa inzwischen eine tendenziell große Bedeutung beimisst, indem sie diese (implizit) zu den Zielen verschiedener Förderprogramme zählt. Die Anzahl der europäischen Bürger, die in die unterstützten Projekte involviert sind, ist jedoch aufgrund der - auch mit Blick auf die von Locke betonte Wichtigkeit der Erfahrung - niedrigen Fördersummen verhältnismäßig gering. So liegt der Anteil derjenigen Studenten, die mit dem bekannten Erasmus-Programm Europa erfahren, mit einer einzigen Ausnahme (Liechtenstein) in keinem europäischen Land über 2%, bei der Hälfte aller in das Erasmus-Programm eingebundenen Länder gar unter 1%. 19 Das größte Hindernis, um im Ausland zu studieren, stellt dabei nach Ansicht der Studenten der Mangel an finanziellen Mitteln dar (vgl. Europäische Kommission 2009a: 28 ff). Auch das Budget des aktuellen EU-Kulturprogramms kann als zu niedrig eingeschätzt werden: So konstatiert der Deutsche Kulturrat, dass sich das EU-Parlament zwar seit Jahren zu einem anzustrebenden Anteil von einem Prozent am Gesamtetat der EU bekenne, die Zielvorgabe des Programms von diesem Anteil jedoch weit entfernt sei (vgl. Deutscher Kulturrat 2004, S. 2 f.). Das Programm “Europa für Bürgerinnen und Bürger”, das explizit auf die Erfahrung und Entwicklung europäischer Staatsbürgerschaft ausgerichtet ist, verfügt dagegen über noch weniger Finanzmittel als das Kulturprogramm (vgl. Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur 2009d: 17; Deutscher Kulturrat 2004: 2). Die EU schafft es also - trotz Bemühen - derzeit kaum, die Mehrheit der Bürger zu erreichen oder den Erfahrungsaustausch unter den Bürgern deutlich zu fördern. 3 Erfahrung und Medialität: Zeichentheoretische Ansätze am Beispiel von Charles Peirce Nachdem dargelegt wurde, dass sowohl unsere Idee von Europa als auch die europäische Integration auf Erfahrung beruht, soll in einem nächsten Schritt der Begriff der Erfahrung Katharina Perge 412 konkretisiert und die enge Verknüpfung von Erfahrung und Medialität erörtert werden. Hierzu werden die zeichentheoretischen Ausführungen Charles Peirces (1839-1914) herangezogen und mit der Lockeschen Erkenntnisphilosophie in Verbindung gesetzt. So kann zum einen die im Kontext Europa wichtige Verschränkung von individueller (subjektiver) und kollektiver (objektiver) Erfahrung erläutert werden - ein Aspekt, der bei Locke nicht zufriedenstellend geklärt werden kann. Zum anderen kann mit Peirce der Begriff der medialen Erfahrung expliziert werden, dem insbesondere im Zusammenhang der europäischen Erfahrung eine wichtige Bedeutung zukommt. 3.1 Objektivität und Common Sense Wie schon Locke begründet auch Peirce seine gesamte Philosophie im Begriff der Erfahrung. Dementsprechend fasst Peirce Philosophie generell als Erfahrungswissenschaft auf: “Philosophie ist jene Wissenschaft, die sich darauf beschränkt, alles ihr mögliche über die gewöhnliche alltägliche Erfahrung herauszufinden, ohne besondere Beobachtungen zu machen” (Peirce 2000b: 193; Hervorh. im Original). Jeglicher Erfahrungsprozess ist bei Peirce durch die universalen Kategorien der Erstheit (rein qualitativ), Zweitheit (unterscheidend) und Drittheit (abstrahierend) strukturiert. Dabei nimmt die Drittheit insofern eine besondere Stellung ein, als dass sie zwischen Erstheit und Zweitheit vermittelt und durch die verständnisorientierte Reflektion der ihr gegebenen Elemente kognitive Prozesse überhaupt erst ermöglicht (vgl. Peirce 1991: 23 ff., 69; Peirce 2000a: 192, 346, 382, 431; Peirce 1983: 58). Da Lockes erkenntnisphilosophischer Erfahrungsbegriff der Peirceschen Erstheit entspricht, stellt die sinnliche Wahrnehmung sowohl bei Peirce als auch bei Locke den ersten Bezugspunkt des Erkenntnisprozesses dar. Peirce baut also auf Locke auf, erweitert dessen Erfahrungsbegriff jedoch. 20 Für Peirce besteht unsere ganze Welt notwendigerweise aus Zeichen: Die rein qualitativ empfangenen Datenmengen müssen im Erfahrungsprozess vom Geist sinnstiftend interpretiert werden, um die alltägliche Orientierung zu gewährleisten. Da kognitive Prozesse erst durch Drittheit ermöglicht werden, konstituiert sich das Zeichen insgesamt auf der Ebene der Drittheit. Das Zeichen selbst wiederum stellt eine triadische Relation aus Zeichenmittel, Objekt und Interpretant dar, welche insofern als inhaltliche Verkörperungen der drei Fundamentalkategorien verstanden werden können, als dass der Interpretant (Drittheit der Drittheit) zwischen Zeichenmittel (Erstheit der Drittheit) und Objekt (Zweitheit der Drittheit) vermittelt (vgl. Peirce 1983: 64; Peirce 2000b: 162). Indem Locke Ideen als Zeichen von Dingen und Wörter als Zeichen von Ideen versteht und sich im Essay der detaillierten Ideen- und Wörteranalyse widmet, kann Locke zwar als Vater der modernen Semiotik gelten (vgl. Eco 1977: 75). Doch Locke entwickelte selbst keine Zeichendoktrin; erst bei Peirce erfährt der Begriff des Zeichens seine volle Ausgestaltung in einer umfassenden Klassifikation. Dabei beruft sich Peirce auf die μ (Simeiotikí), d. h. die Lehre von den Zeichen, bei Locke (vgl. Nöth 2000: 3). Peirce erweitert also nicht nur das Lockesche Konzept der Erfahrung, sondern setzt vor allem den bei Locke aufgeworfenen Begriff des Zeichens ins Zentrum seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen. Indem nach Locke jeder nur völlig eigene Ideen von den Dingen hat, auch die Wörter nur mit eigenen Ideen füllt und anhand der individuellen Erfahrung zur Erkenntnis gelangt, betont Locke vor allem die Subjektivität der Erfahrung. Dies ist der Grund dafür, dass der erkenntnisphilosophische Erfahrungsbegriff Lockes sich nur bedingt mit dem in seiner politischen Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 413 Philosophie implizierten Begriff der kollektiven Erfahrung verträgt. Peirce dagegen ging es immer darum, die Philosophie durch eine objektiv gültige Theorie der Erfahrung und des Geistes zu begründen (vgl. Pape 2000: 15). Dementsprechend ist die Objektivität unserer Erfahrung und all unseres Wissens einer der grundlegendsten Aspekte der Peirceschen Zeichentheorie. Nach Peirce sind unsere Gedanken nur scheinbar völlig individuell, da diese in ihrer Abstraktheit immer schon ausgehend von sowie ausgerichtet auf einen objektiv gültigen Verstehens- und Verständigungshorizont sind (vgl. Oehler 1993: 43). Damit Zeichen interpretiert werden können, bedarf es eines Repertoires bekannter Bedeutungsmuster, auf die sich der Interpretant in der Semiose beziehen kann. Den jeder Semiose vorhergehenden allgemeinen Bedeutungshorizont, der nicht ignoriert werden kann, bezeichnet Peirce als Common Sense, d. h. als “das Wissen, das alle Menschen sozusagen bereits besitzen; und tatsächlich ist es so, daß der Anfänger im Studium der Philosophie bereits ein Wissen besitzt, dessen Gewicht weit größer ist als alles, was die Wissenschaft ihn jemals lehren kann.” (Peirce 1983: 163) Zur Verwendung eines Zeichens bedarf es demnach vielfältiger Voraussetzungen; ein Symbol kann z. B. nur erfasst und richtig interpretiert werden, wenn man die dazugehörige Regel und die Stellung des Symbols im Zeichensystem kennt. Der Common Sense bezeichnet also das allgemeine Wissen, das jeder Mensch durch Erfahrung bereits erlernt hat und das damit sowohl Bezugspunkt als auch Produkt jeder neuen Erfahrung bzw. Semiose ist. Der Common Sense ist insofern vor allem gemeinsamer Erfahrungskontext, als dass dieser ein System von gemeinsamen Überzeugungen und Konventionen konstituiert, auf das der Handlungsablauf des alltäglichen Geschehens einer Gemeinschaft angewiesen ist. Insbesondere in der zwischenmenschlichen Kommunikation ist dieser gemeinsame Bezugsrahmen, d. h. das gemeinsame Bewusstsein als ein Wissen um das Wissen des anderen, Voraussetzung für das gegenseitige Verstehen: “Aber wenn eine Person einer anderen irgendwelche Informationen vermitteln will, so muß dies auf der Basis gemeinsamer Erfahrung geschehen. Sie müssen diese Erfahrung nicht nur besitzen, sondern jeder muß wissen, daß der andere weiß, daß er weiß, daß der andere sie hat […]. Kurzum, sie müssen sich vollständig darüber verständigt haben, daß sie über Objekte aus einer Menge sprechen, mit der beide einigermaßen vertraut sind.” (Charles Peirce, zit. nach Pape 1983: 29; Hervorh. im Original) Diese Gedanken finden sich in ähnlicher Weise bei Locke; so schreibt er im dritten Buch seines Essays: “Die Menschen setzen voraus, daß ihre Wörter auch Kennzeichen der Ideen im Geiste anderer sind, mit denen sie sich unterhalten. Denn andernfalls würden sie vergeblich reden und könnten nicht verstanden werden” (Locke 2006a: III.2.4; Hervorh. im Original). Demnach benutzen die Menschen die Wörter “im Sinne des herrschenden Sprachgebrauchs” (ebd.). Der entscheidende Unterschied zwischen Peirce und Locke besteht nun darin, dass Ersterer die Universalität, Letzterer aber die Individualität des Geistes betont. Für Locke bezeichnen Wörter nur die Ideen, die im Geist des Sprechenden vorhanden sind; diese Wörter werden gleichzeitig mit der Annahme verwendet, dass sich ähnliche Ideen im Geiste anderer befinden. Peirce dagegen betrachtet Wörter generell, unabhängig vom Kontext, in dem sie verwendet werden, als Bestimmungen der reinen Idee des “universalen Geistes” (Peirce 2000a: 100), d. h. als Ideen des Common Sense. Dies zeigt sich daran, dass Wörter nicht einfach zerstört werden können: “Sie können das Wort ‘Stern’ schreiben, doch sie werden dadurch nicht der Schöpfer des Wortes, und Sie zerstören es auch nicht, wenn sie es auslöschen. Das Wort lebt im Geist derjenigen, die es verwenden” (ebd.: 200). Für Peirce besteht Katharina Perge 414 daher “zwischen allen intelligenten Wesen eine gewisse Identität im Sinne einer dynamischen Kontinuität” (ebd.: 234). Warum aber betont Peirce die Objektivität und Gemeinsamkeit unserer Erfahrung, obwohl seine Überlegungen auf dem individuellen Erfahrungsbegriff Lockes basieren? Der Grund hierfür liegt in dem unterschiedlichen Zeichenverständnis von Peirce und Locke: Während Peirce das Zeichen als triadische Relation versteht, in der das dritte, vermittelnde Moment - der Interpretant - auf objektiv gültige Bedeutungsmuster des Common Sense zurückgreift, ist das Zeichenmodell Lockes ein dyadisches, indem Ideen Zeichen von Dingen und Wörter Zeichen von Ideen sind. 21 Locke definiert kein zeichenimmanentes Moment, das sich auf objektive Bedeutungsmuster bezieht. Daher kann nicht mit Locke, aber mit Peirce kollektive bzw. objektive Erfahrung erkenntnisphilosophisch beschrieben werden. Diese konstituiert sich mit dem Zeichenprozess auf der Ebene der Drittheit. Erfahrung ist bei Peirce allerdings nicht ausschließlich objektiv. Schließlich stellen auch nach Peirce subjektive Empfindungsqualitäten den Ausgangspunkt jeder Erfahrung dar. Zudem greift der Interpretant im Prozess der Semiose nicht nur auf allgemein gültige Bedeutungsmuster des Common Sense, sondern ebenso auf persönliche Erfahrungen der Vergangenheit zurück, die zusammen “das kognitive Ergebnis unseres bisherigen Lebens” (Peirce 2000a: 380) bilden. Erfahrung und Denken zeigt sich damit als semiotisch strukturierter Prozess, der stets in einen Kontext eingebettet ist und so individuell und allgemein zugleich ist. Der Mensch ist nach Peirce folglich zugleich Subjekt und Objekt der Erfahrung und damit semiotisch-interagierender Teil einer Gemeinschaft von Interpretierenden (vgl. Peirce 2000c: 230; Pape 2000: 12 f.; Pruisken 2007: 107). Die Schnittstelle der Subjektivität und Objektivität unserer Erfahrung bildet die Drittheit, da sich hier das sowohl subjektive als auch objektive Zeichen konstituiert. 3.2 Die Vermittelheit der Erfahrung Da ein Medium seiner etymologischen Bedeutung entsprechend ein Drittes bezeichnet, das in einem Bedeutungszusammenhang zwischen einem Ersten und einem Zweiten vermittelt, kann das sich auf der Drittheit konstituierende Zeichen als Medium verstanden werden. Dementsprechend stellt Peirce 1906 fest: “All my notions are too narrow. Instead of ‘Sign’, ought I not to say Medium? ” (Peirce, zit. nach Nöth 1997: 3; Hervorh. im Original) Zudem schreibt er im gleichen Jahr in einem Briefentwurf an Lady Welby: “I use the word ‘Sign’ in the widest sense for any medium for the communication or extension of a Form (or feature)” (Peirce 1977: 196. Hervorh. im Original). 22 In Anlehnung an das pansemiotische Verständnis Peirces kann somit nicht nur von einer Allgegenwärtigkeit der Zeichen, sondern vielmehr von einer Allgegenwärtigkeit der Medien bzw. Mediasphären 23 gesprochen werden. Da ein medialer Prozess darin besteht, dass ein Drittes zwischen einem Ersten und einem Zweiten vermittelt, kann darüber hinaus auch der gesamte Prozess der Erfahrung als medialer Prozess bezeichnet werden. Der mediale Erfahrungsprozess nimmt seinen Ausgang in unreflektierten, rein ästhetischen Empfindungsqualitäten (Erstheit), die sich zu konkreten, von anderen unterscheidbaren Momenten ausformen (Zweitheit) und schließlich als verstehbare, d. h. zeichenhafte, Sinngehalte bestimmt werden (Drittheit). Erst im mittelbaren Zeichen - der durch den Verstand zur Einheit gebrachten Darstellung der vormals ungeordneten Sinneseindrücke - kann das menschliche Bewusstsein denken, erfahren und die Dinge der Außenwelt erkennen. Das Zeichen als Medium und als Verkörperung der Drittheit vermittelt dabei zwischen der Erstheit und Zweitheit unserer Erfahrung. Da Erstheit diejenige Kategorie Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 415 darstellt, in der zum ersten Mal Sinnesempfindungen in unsere Erfahrung eingeführt werden, und Zweitheit diejenige Kategorie ist, in der zum ersten Mal Verstandestätigkeiten - wenn auch noch sehr rudimentär - erforderlich sind, lässt sich das Zeichen als mediale Schnittstelle zwischen Sinnlichkeit und Verstand bzw. - da die Erstheit unmittelbare Qualitätsmomente umfasst - zwischen Realität und Bewusstsein begreifen. 24 Demnach ist jede Erfahrung mediale, d. h. vermittelte, Erfahrung. Die Realität ist also nur durch die Vermittlung des Zeichens erfahrbar. Durch die sich auf der Drittheit konstituierende Objektivität unserer Erfahrung vermittelt das Zeichen zudem zwischen verschiedenen Drittheiten bzw. Bewusstseinen der Drittheit. Dies entspricht dem vagen Begriff der kollektiven Erfahrung aus Lockes politischer Philosophie, nach dem Erfahrung zwischen den Menschen vermittelt. Indem auf der Ebene des Zeichens der Interpretant zwischen Objekt und Zeichenträger vermittelt und sich durch Rückgriff auf den Common Sense konstituiert, ist Erfahrung also immer auch ein vermittelnder Prozess im Grenzbereich von Subjektivität und Objektivität, von vergangenen und zukünftigen Bedeutungsmustern. Medialität ist damit sinnkonstitutive Bedingung von Erfahrung überhaupt (vgl. Pruisken 2007: 153, 170). Pruisken bezeichnet daher den von Peirce initiierten semiotic turn vielmehr als medial turn (vgl. ebd.: 76). 3.3 Die Realität der Medienwirklichkeit Peirce definiert das Reale als “that whose characters are independent of what anybody may think them to be” (Peirce 1931-35: 5.405), d. h. als die vom Denken unabhängigen Entitäten, während Wirklichkeit das ist, was sich aus den stets vorläufigen medialen Darstellungsmitteln - den Zeichen - über die Realität erschließen lässt: “Was ist Wirklichkeit? Vielleicht gibt es so etwas überhaupt nicht. Ich habe wiederholt darauf bestanden, dass sie nur eine Retroduktion ist, eine Arbeitshypothese, die wir erproben, unsere einzige verzweifelte verlorene Hoffnung, irgendetwas zu wissen.” (Peirce 2002: 217) Wirklichkeit lässt sich also als semiotisches Konstrukt begreifen, das eine antizipierte, von diesem unabhängige Realität repräsentiert, die dem menschlichen Bewusstsein nur durch ebendiese semiotische Vermittlung zugänglich ist. Dieses Konstrukt zeigt uns die Dinge zwar höchst wahrscheinlich so, wie sie tatsächlich sind, ist aber trotzdem so lange “Arbeitshypothese”, bis es in the long run der Realität entspricht, d. h. Erkanntes und Erkennbares sicher identisch sind (vgl. Peirce 1931-35: 5.311; Peirce 2000b: 321; Peirce 2000a: 174). 25 Wesentlicher Bestandteil des Peirceschen Begriffs der Realität ist damit die überindividuelle Gemeinschaft als Träger des unendlichen Forschungsprozesses (vgl. Peirce 1931-35: 5.311). Nur in der Gemeinschaft können wir sicher sein, dass wir “das Wahre”, d. h. das Reale, wahrnehmen: “Meantime, we know that humans are not whole as long as they are single, that they are essentially possible members of society. Especially, our experience is nothing if it stands alone. If we see what others cannot, we call it hallucination. It is not ‘my’ experience, but ‘our’ experience that has to be thought of, and this ‘we’ has indefinite possibilities” (Ebd.: 5.402) 26 Die Realität des Realen besteht damit für den Menschen bis zur finalen Übereinstimmung einzig in der gemeinschaftlichen Erfahrung und der Repräsentation des Realen im Medium des Zeichens. Mediale Wirklichkeit bedeutet also Zugänglichkeit oder Aneignung von Realität (vgl. Oehler 1993: 76 f., 94; Seel 1998: 253). Katharina Perge 416 Medien waren und sind immer schon konstitutiver Bestandteil von Gesellschaft und Wirklichkeit. Indem Medien Bedeutung vermitteln und erzeugen, werden vielmehr die Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung überhaupt durch die jeweiligen kulturellen Leitmedien bestimmt (vgl. Pruisken 2007: 20 f). Jede Veränderung kultureller Medien hat in der bisherigen Menschheitsgeschichte allerdings radikal ablehnende Reaktionen ausgelöst, die von dem Vorwurf der Entfremdung und des Realitätsverlusts genährt wurden. So wollte schon Platon in seinem Dialog Phaidros die Gefährlichkeit der Schrift aufzeigen, weil diese den Seelen Vergessenheit einflöße und die Fähigkeit der Erinnerung vernachlässige (vgl. Eco 1989: 37 f.; Hartmann 2003a: 298 f.). Kant wiederum wetterte gegen die vermeintlich aufklärende Verwendung von Bildern, da so dem Menschen die Mühe genommen werde, “seine Seelenkräfte über die Schranken auszudehnen” (Immanuel Kant, zit. nach Hartmann 2003a: 299). Besonders die Vertreter der Kritischen Theorie, allen voran Adorno und Horkheimer, kritisierten in den 1940er Jahren die rein passive Rezeption und das damit verbundene manipulative, demagogische Potential der “Kulturindustrie” und der so genannten Massenmedien (vgl. Adorno/ Horkheimer 1997: 128 ff.; Hartmann 2003a: 307 f.). 27 Enzensberger bezeichnete das Fernsehen gar als “Nullmedium”, da dieses keinerlei Informationen und Bedeutungen vermittele: “Man schaltet das Gerät ein, um abzuschalten.” (Enzensberger 1997: 155) Ein Extrembeispiel der Abwertung medialer Erfahrung stellt aber zweifelsohne die These Baudrillards dar, nach der wir uns im dritten Stadium des durch die elektronischen Medien hervorgebrachten Simulakrum befinden und den Zugang zur Realität vollkommen verloren haben. Eine solche “Hyperrealität” sei demnach bloße Simulation (vgl. Baudrillard 1978: 7 ff., 24 ff.; Pruisken 2007: 31). Gerade mit Blick auf Peirce kann solchen “apokalyptischen” 28 Kulturszenarien jedoch nicht zugestimmt werden. Zwar soll nicht bestritten werden, dass Massenmedien erheblich zur Verbreitung bestimmter Ideologien beitragen können. So kann beispielsweise eine wahrheitswidrige Montage von Bildern oder ein bestimmter Schreibstil durchaus zu Zwecken der Manipulation und bewussten Täuschung verwendet werden, d. h. generell die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Interpretation auf Seiten der Rezipienten durch eine zweckgerichtete Semiotisierung erhöht werden. Insofern sind die Ausführungen eines Adornos oder Baudrillards als Warnungen bezüglich der Möglichkeiten intentionaler Semiotisierungen aufzufassen. Dennoch erfordert der mediale Text zum einen die aktive Interpretationsleistung des Rezipienten, die darin besteht, dass dieser in einem nicht endenden Prozess und unter Rückgriff auf Common Sense und persönliche Erfahrungen Interpretanten produziert, die zwischen den einzelnen Zeichenträgern und Objekten des Textes vermitteln und wiederum neue Zeichen- und damit Interpretationsprozesse initiieren. Auch Locke betont die Aktivität des Interpretationsprozesses, die darin besteht, dass der Verstand die komplexen Ideen aktiv zusammensetzt (vgl. Locke 2006a: II.7.1). 29 Zum anderen ist die in den Medien repräsentierte Welt durch die Allgegenwärtigkeit der Zeichen bzw. Medien immer schon eine vor den Medien semiotisierte bzw. mediatisierte Welt, so dass die Semiotisierungen der medialen Texte nur eine von vielen Stufen der unendlichen Vermittlungsprozesse (Semiosen) darstellen. 30 Die “Hyperrealität” ersetzt daher nicht eine vermeintlich unmittelbare Realität durch künstliche Zeichen, weil diese Realität dem menschlichen Bewusstsein auch schon vor der “hyperrealen” Mediatisierung nur durch Zeichen vermittelt wurde. Dementsprechend schaffen moderne Medien Realität nicht ab, sondern vermitteln uns diese auf neuem Wege. Sie verändern zwar unsere Wirklichkeitswahrnehmung, schaffen damit aber neue, nicht “weniger reale” Erfahrungsorte. Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 417 4 Europäische Erfahrung durch mediale Erfahrung Wie anhand der empiristischen und politischen Philosophie John Lockes dargelegt, beruht sowohl die Idee Europa als auch das politische System der Europäischen Union auf europäischer Erfahrung. Gerade im Zusammenhang des europäischen Integrationsprozesses bedarf es dabei vor allem einer Erfahrung, die sich sowohl zwischen den Bürgern und der EU als auch zwischen den Bürgern selbst konstituiert. Der Begriff der kollektiven Erfahrung lässt sich jedoch weder anhand Lockes empiristischer noch anhand seiner politischen Philosophie konkretisieren. Wie zuvor gezeigt, bedarf es für ein solches Vorhaben vielmehr der zeichentheoretischen Ausführungen Peirces. Das in Lockes politischer Philosophie implizierte Verständnis kollektiver Erfahrung entspricht dem Begriff der objektiven Erfahrung bei Peirce. Objektivität konstituiert sich bei Peirce auf der Ebene der Drittheit, da der Interpretant im Zeichenprozess auf die universalen Ideen des Common Sense zurückgreift, um Bedeutung zu generieren. Die formalen Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit beschreiben nach Peirce aber nicht nur den Prozess der Erfahrung, sondern vielmehr die allgemeinste Struktur der Realität. 31 Die einzelnen Antagonismen und Differenzen innerhalb Europas lassen sich demnach als Manifestationen der Zweitheit begreifen - auch im Erfahrungsprozess, da wir diese Differenzen als dyadische Relationen wahrnehmen. Da sich objektive Erfahrung bei Peirce auf der Ebene der Drittheit konstituiert und damit zum einen zwischen Erstheit (die wahrgenommene Entität) und Zweitheit (das wahrgenommene Andere), zum anderen zwischen den einzelnen, sich auf den Common Sense beziehenden Bewusstseinen (Drittheiten) vermittelt, findet sich die Vermittlungsfunktion kollektiver europäischer Erfahrung auch bei Peirce wieder. 32 Kollektive Erfahrung ist nach Peirce vor allem insofern kollektiv, als dass der Interpretant auf gemeinsame Ideen des Common Sense zurückgreift. Dementsprechend wird kollektive Erfahrung zu europäischer Erfahrung, wenn sich der Interpretant auf europäisch konnotierte Bedeutungsmuster eines gewissermaßen europäischen Common Sense bezieht. Da der Common Sense generell sowohl Bezugspunkt als auch Produkt jeder Erfahrung ist, sich also im kontinuierlichen Erfahrungsprozess aller konstituiert und verändert, entstehen die Bedeutungsmuster eines solchen europäischen Common Sense wiederum nur durch europäische Erfahrung. Europäische Erfahrung und europäischer Common Sense beeinflussen und bedingen sich folglich gegenseitig. Erfahrung wird bei Peirce generell vermittelt durch sich auf der Drittheit konstituierende Zeichen bzw. Medien. Zur Konstituierung europäischer Erfahrung, die einen europäischen Common Sense entstehen lässt und von diesem beeinflusst wird, bedarf es daher vor allem europäischer Medien. Die Kategorie der Drittheit stellt die Ebene dar, auf der europäische Erfahrung medial und kollektiv wird: Erst in der Drittheit europäischer Erfahrung interpretieren wir das in der Zweitheit wahrgenommene Andere unter Bezugnahme auf den sich bildenden europäischen Common Sense; wir abstrahieren, ziehen Verbindungen und generieren neue europäische Bedeutungsmuster. Dabei kann ein Medium (europäische) Bedeutungen und Erfahrungen nur vermitteln, wenn es als gemeinsames Drittes zwischen einem Ersten und einem Zweiten fungiert. Dies zeigt sich bei Peirce durch die Betonung der Objektivität unserer Erfahrung und das Wort “Common” in seinem Begriff des Common Sense. Durch solch ein gemeinsames Medium wird ein medialer Erfahrungsraum, d. h. eine gemeinsame Mediasphäre - ein Raum der Drittheit - geschaffen. Europäische Medien müssen also vor allem gemeinsame, d. h. paneuropäische, Medien darstellen, wenn sie ihre Funktion als Vermittler von Erfahrung zwischen den Bürgern in Europa (sowie zwischen den Bürgern und Katharina Perge 418 der EU) erfüllen wollen. Das zuvor festgestellte Erfahrungsdefizit zeigt, dass es Europa und der EU bisher an solchen gemeinsamen Medien mangelt. Daher soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie ein gemeinsames europäisches Medium konkret aussehen kann. Europäische bzw. EU-Symbole wie die EU-Flagge, der Euro oder das EU-Nummernschild stellen als genuine Drittheiten und durch die Vermittlung europäischer Bedeutungsmuster Medien im Peirceschen Sinne dar. Dennoch sind diese Symbole einzeln nur begrenzt fähig, in größerem Ausmaß zur Vermittlung europäischer Erfahrung beizutragen, da der Umfang der vermittelten Bedeutungen, die sich auf einen europäischen Common Sense beziehen, bei einem einzigen Symbol verhältnismäßig gering ist. In diesem Sinne ergab eine 2006 von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Studie, dass sich 78% der europäischen Bürger, die der Eurozone angehören, seit der Einführung des Euros nicht “europäischer” fühlen, d. h. Europa durch den Euro nicht bewusst mehr erfahren haben (vgl. Europäische Kommission 2006b: 42 f.). Das erfahrungsbezogene Zeichensystem der Sprache ist nach wie vor das leistungsfähigste und umfassendste Medium der Menschheit (vgl. Boeckmann 1994: 210). So versteht Peirce Wörter als Symbole und damit als Drittheiten bzw. Medien. Auch Locke hat die vermittelnde Funktion der Wörter betont. Es gibt in Europa aber nicht eine Sprache, die von allen Menschen Europas gesprochen wird; allein die EU verfügt offiziell über 23 verschiedene Amtssprachen (vgl. Schmidt & Schünemann 2009: 28). Während die EU aufgrund politischer Anerkennung offiziell mehrsprachig ist und gigantische Übersetzungsdienste beschäftigt, haben die Europäer dagegen Englisch als Lingua Franca in ihrer Alltags- und Erfahrungsrealität entdeckt und akzeptiert; unabhängig von sprachpolitischen Beschlüssen setzt sich damit auf der konkreten Erfahrungsebene das gemeinsame Medium durch, auf das sich im Handeln alle am leichtesten einigen können (vgl. Meyer 2004: 176-180). Dennoch sprechen bei weitem nicht alle Menschen in Europa ein Englisch, mit dem sie sich problemlos verständigen können. 33 Die Sprachenvielfalt dagegen sichert die kulturelle Dynamik Europas. Laut Posner gehören polyglotte Individuen, polyglotte Territorien und polyglotte Kommunikationsweisen zu den kulturell fruchtbarsten Erscheinungen (vgl. Posner 1998: 49). Die EU hat daher einen eigenen Kommissar für Mehrsprachigkeit und verfolgt in ihrer Sprachpolitik das Ziel, dass alle Bürger Europas neben ihrer Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen (vgl. Europäische Kommission 2009b). Dieses Vorhaben kann mit Peirce (und Locke) befürwortet werden: je mehr Sprachen die Menschen in Europa sprechen, desto mehr verfügen sie über potentielle gemeinsame Medien, die zur Förderung kollektiver Erfahrung und zur Konstituierung eines europäischen Common Sense beitragen - ohne die kulturelle Dynamik Europas zu gefährden. Indem die so genannten Massenmedien zwischen möglichst vielen Menschen vermitteln, entsprechen diese ihrer Intention nach einem im Peirceschen Sinne kollektiven Medium. Der Begriff des Massenmediums ist insofern negativ konnotiert, als dass durch den umstrittenen Begriff “Masse” vor allem die Monodirektionalität und passive Rezeption der Medieninhalte betont (und kritisiert) wird. Mit Peirce konnte jedoch gezeigt werden, dass auch die Rezeption eines durch Massenmedien vermittelten Textes der aktiven Interpretationsleistung des Subjekts bedarf. Der Begriff soll daher im vorliegenden Beitrag neutral verwendet werden. Mit dem Fernsehen, der Zeitung oder dem Radio sind die Erfahrungsmöglichkeiten der Menschen enorm gestiegen, so dass diese in Wahrnehmung und Kommunikation nicht mehr an die Situation ihres leiblichen Aufenthalts gebunden sind, d. h. die “Situation der Erfahrung” nicht mehr zwingend der “erfahrenen Situation” entsprechen muss. 34 Europäische Erfahrung ist für viele Menschen in Europa vielmehr nur durch massenmediale Erfahrung Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 419 möglich, da nicht allen die Möglichkeit interpersonaler Erfahrung gegeben ist. Ein Massenmedium wie das Fernsehen stellt dabei ein komplexes Zeichensystem dar, das verschiedenste Medien und mediale Prozesse in sich vereint, wie z. B. Bild, Sprache, Ton, Mimik, Gestik etc. (vgl. Boeckmann 1994: 58). Das Fernsehbild erscheint uns so als vielschichtiger “Text”, den der Geist in der Drittheit unter Rückgriff auf Common Sense und persönliche Erfahrungen zu “lesen” vermag. Da unsere Erfahrung immer schon mediale Erfahrung ist und die in den Medien repräsentierte Welt immer schon eine vor den Medien semiotisierte Welt ist, kann massenmediale Erfahrung zudem nicht als minderwertige oder sekundäre Erfahrung verurteilt werden. Die massenmediale Erfahrung ist durch die Vielfalt an Medien, die ein Massenmedium integriert, vielmehr im Besonderen fähig, Bezug zu einer Fülle an europäischen Bedeutungsmustern, d. h. zu einem sich konstituierenden europäischen Common Sense, herzustellen. In diesem Sinne hat eine empirische Untersuchung Tenschers und Schmidts, die diese in der deutsch-französischen Grenzregion der Südpfalz durchgeführt haben, gezeigt, dass (zumindest dort) weniger die direkte transnationale, zwischenmenschliche Erfahrung als vielmehr die Erfahrung Europas in und durch Massenmedien ausschlaggebend für eine Unterstützung der europäischen Integration ist (vgl. Tenscher & Schmidt 2004: 234). Derzeit existiert ein gemeinsames europäisches Massenmedium, das einem solchen Anspruch gerecht werden könnte, aber (noch) nicht. Der Mitte der 1950er Jahre von der European Broadcasting Union (EBU) gegründete Fernsehprogrammverbund Eurovision ermöglicht zwar einen konstanten Programm- und Nachrichtenaustausch zwischen den beteiligten nationalen Rundfunkanstalten in Europa (vgl. Beierwaltes 2002: 227 f.). In den 1980er Jahren sind mit Eurikon und Europa-TV jedoch zwei Versuche gescheitert, einen europaweiten Fernsehsender mit mehrsprachigem Vollprogramm einzurichten. 35 Gegenwärtige mehrsprachige Spartenkanäle wie Eurosport, Euronews oder Arte sprechen nur eine bestimmte Zielgruppe an, ebenso einsprachige Spartensender wie CNN International, BBC World, Sky News, CNBC oder National Geographic, die sich zudem nicht an ein genuin europäisches, sondern an ein weltweit internationales Publikum wenden. Sprachraumprogramme wie 3Sat oder TV5 wiederum senden regional sehr begrenzt und einzig in einer Programmsprache (vgl. Domeyer 2008: 21 f.). Ebenso publizieren die einzigen transnationalen Printmedien nur in einer Sprache (Englisch), wie z. B. European Voice, Financial Times, The Economist und E! Sharp, und richten sich außerdem an eine Elite aus Politik, Wirtschaft und Medien (vgl. ebd.: 23). Im Hörfunksektor haben sich 2007 dagegen 16 internationale, nationale, regionale und lokale Radiosender zu dem europäischen Radioprojekt Euranet zusammengeschlossen, im Rahmen dessen die beteiligten Sender täglich europäisch ausgerichtete Gemeinschaftssendungen (in ihrer jeweiligen Sprache) ausstrahlen (vgl. Kohnen 2008). Erklärtes Ziel von Euranet ist es dabei, “durch eine lebensnahe europäische Berichterstattung eine gemeinsame öffentliche Sphäre zu schaffen” (ebd.: 156 f.) und so “die Kommunikationskluft zwischen den EU-Institutionen und den Bürgern” (ebd.) zu überbrücken. Während das Fernsehen nach wie vor das kulturelle Leitmedium der Europäer darstellt (vgl. Europäische Kommission 2009: 133 f.), wird das Internet zunehmend insbesondere von der jüngeren Generation genutzt (vgl. Hauff 2008: 152). 36 Dabei ist das Internet kein genuines “Massenmedium” wie Fernsehen, Zeitung oder Radio, da zwar auch eine möglichst unbegrenzte Zielgruppe an den verbreiteten Informationen teilhaben kann, die mediale Kommunikation des Internets aber vor allem durch außerordentliche Interaktivität gekennzeichnet ist (vgl. Pruisken 2007: 207). Durch die Integration verschiedenster medialer Praktiken wird das Internet nach Pruisken gar zum “Universalmedium”: “Texte, Bilder, Filme, synchrone Katharina Perge 420 Kommunikation via Chat oder Videokonferenzen; nichts widersteht der Einbindung in dieses Universalmedium.” (Ebd.: 45; Hervor. im Original) Die offene semantische Struktur des Internets kann dabei als Manifestation der unendlichen Peirceschen Semiose verstanden werden: Der non-lineare Hypertext ist immer nur in der Produktion gegenwärtig und kann nie zu Ende gelesen werden (vgl. ebd.: 46-49). Durch die so eröffnete Multiperspektivität der Textzugänge kann prinzipiell jeder zum aktiven Teilnehmer einer unbegrenzten Zeichenproduktion werden und zur Konstitution eines kollektiven Wissens, das dem Peirceschen Konzept des Common Sense ähnelt, beitragen. 37 Unsere Welt, in der wir fühlen, handeln und denken, zeigt sich damit im Medium des Internets - ganz im Sinne Peirces - explizit als grenzenlose semiotische Konstruktion. Durch die Interaktivität, die unabhängig von Raum- und Zeitbedingungen ist, und die Möglichkeit der Vernetzung bietet das Internet besonderes Potential für die Schaffung europäischer Erfahrungsräume. Andererseits handelt es sich um ein globales Medium, das durch die “Auflösung der Linearität und der festen Werkeinheit des Textes zugunsten einer labyrinthischen Pluralität der Zugänge und Perspektiven” (ebd.: 49) zum viel beschworenen Zustand des “lost in cyberspace” führen kann. Damit das Internet einen Beitrag zum europäischen Erfahrungsaustausch leisten kann, müssen daher vielmehr gemeinsame europäische Mediasphären in der (globalen) Wirklichkeit des Internets gefunden werden. Derzeit existiert eine Vielzahl europäisch ausgerichteter journalistischer Publikationen im Internet, wie z. B. EurActiv 38 , EUobserver 39 , Newropeans Magazine 40 , Eurotopics 41 , Eurozine 42 oder EU-digest 43 , die ihre Inhalte entweder in mehreren Sprachen oder einzig in Englisch veröffentlichen. Im Gegensatz zu diesen thematisch vor allem auf EU-Politik oder Hochkultur 44 fokussierten Formaten, beleuchtet die Europa-Zeitung Café Babel 45 , die 2001 von Erasmus- Studenten in Straßburg gegründet wurde, verschiedenste Themen aus europäischer Sicht und in sechs Sprachen, ohne sich dabei auf reine Nachrichten zu beschränken. Das Konzept ist dabei auch und vor allem auf die Partizipation möglichst vieler Europäer ausgerichtet; prinzipiell jeder, der über einen Internetanschluss verfügt, kann sich ein eigenes Profil anlegen und durch Kommentare, Artikel, Blogs oder Übersetzungen beteiligen. Ein ähnliches Konzept verfolgt das Projekt Die Euros 46 , das sich aus einem 2005 initiierten Blog heraus gebildet hat und seit 2007 über eine mehrsprachige Internetpräsenz verfügt (vgl. Deter 2006: 39-56). Bisher haben jedoch weder diese Online-Publikationen noch die oben genannten transnationalen Beispiele aus Rundfunk und Printbereich eine größere Nutzungsrate (vgl. Deter 2006: 48, 56; Domeyer 2008: 23 f.; Beierwaltes 2002: 228). Die Zeichen- und Medienanalyse bei Peirce hat jedoch gezeigt, dass ein Medium analog zum Zeichen nur als triadische Relation existiert, die einen Interpretanten - und damit auch einen potentiellen Interpreten - mit einschließt. Ein europäisches Medium kann seine Vermittlungsfunktion bzgl. europäischer Erfahrung also nur erfüllen, wenn es tatsächlich als solches gemeinschaftlich genutzt wird und Medienträger und Objekt in der Interpretation der Interpreten miteinander verbunden werden. 47 Die Differenzierung des gegenwärtigen transnationalen Medianangebots zeigt jedoch, dass kleinere, abgegrenzte europäische Erfahrungsräume bereits vereinzelt existieren. So wird Café Babel beispielsweise vor allem von der jungen gebildeten Generation zwischen 25 und 35 genutzt, die Farano, Gründer von Café Babel, als spezifische “Euro-Generation” bezeichnet, d. h. “junge Leute, die Europa täglich leben. Erasmus, Internet und dem Euro sei Dank” (Farano 2008: 149). Ähnlich spricht Hauff von der “Erasmus-Generation”, die Binnenmarkt, Reisefreiheit, Einheitswährung, Mehrsprachigkeit und Austausch in Europa als Selbstverständlichkeit kennengelernt hat (vgl. Hauff 2008: 150). Auch in der Wirtschaft Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 421 kommuniziert und denkt man transnational; Financial Times und The Economist etwa sind laut Krzeminski “längst zu europäischen Medien der Manager und Wirtschaftsexperten geworden” (Krzeminski 2008: 18). Eine von Domeyer durchgeführte Untersuchung über Erwartungen, die verschiedene Rezipientengruppen 48 europäischen Medien entgegen bringen, hat gezeigt, dass ein großer Teil der Rezipienten “ein großes Bedürfnis nach erlebbareren, authentischeren, lebensnäheren Europabezügen” (Domeyer 2008: 160; Hervorh. im Original), d. h. europäischer Erfahrung nicht nur durch, sondern auch in den Medien, hat. Besonders den - auch von den Rezipienten gewünschten - paneuropäischen Medianangeboten komme dabei eine große Symbolkraft zu (vgl. ebd.: 162). In diesem Sinne fordert auch Meyer die Schaffung eines europaweiten Massenmediums, “das medial und spannend über die wichtigsten europäischen Geschehnisse berichtet, in sich selber eine europäische Spannweite erzeugt und in einer direkteren Weise, als nationale Medienprogramme es können, Standpunkte, Argumente, Interessen, Sichtweise und Erfahrungen der europäischen Länder, Parteien und Bürger miteinander in Bezug setzt.” (Meyer 2004: 175) Dabei betont Meyer hier die Funktion eines potentiellen europäischen Mediums, Bedeutungen und Erfahrungen der Europäer miteinander in Bezug zu setzen, also gemeinsame Sphären der Drittheit durch europäisch konnotierte Bedeutungsmuster zu konstituieren. Nach Meyer gehe es nicht darum, die Bürger über die politische Organisation und die Funktionen der EU- Institutionen besser zu informieren, sondern darum, dass die Bürger selbst ein Interesse am politischen Europa und ihre Partizipation an diesem entwickeln (vgl. ebd.: 170). Die Grundlage für die Entwicklung eines solchen Interesses kann mit Locke und Peirce nur in einem europaweit wahrgenommenen, kollektiven Erfahrungsraum - d. h. einer durch gemeinsame Medien konstituierten Mediasphäre - bestehen, die den Bürger auf emotionale Weise einbezieht und die Kluft zwischen EU und Bürgern sowie zwischen den Bürgern selbst mit Erfahrungen füllt. Mit Bezug auf den Lockeschen Empirismus, auf die Funktion kollektiver Erfahrung in Lockes politischer Philosophie und die Betonung gemeinsamer medialer Erfahrung bei Peirce kann der Ruf nach einem gemeinsamen europäischen (Massen-)Medium also nachdrücklich befürwortet werden. Literatur Adorno, Theodor W. & Horkheimer, Max 1997: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. Baudrillard, Jean 1978: Agonie des Realen. Berlin: Merve. Beierwaltes, Andreas 2 2002: Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa. 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Anmerkungen 1 Dabei beruht der vorliegende Beitrag auf der Annahme, dass der Prozess der europäischen Integration aus verschiedenen Gründen generell zu befürworten ist. 2 Spricht die EU von gemeinsamer Identität, Kultur und Werten, so sind diese europäisch, auch wenn nicht alle Länder Europas der EU angehören. Zudem ist die EU “der Schrittmacher der Entwicklung des Kontinents” (Schmidt/ Schünemann 2009: 218), dessen Einfluss sich selbst europäische Staaten, die nicht EU-Mitglied sind, nicht entziehen können (vgl. ebd.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch vor allem, dass EU und Europa auch in den Köpfen der Menschen eng miteinander verbunden sind. Dies zeigt sich z. B. daran, dass die “Krise” der EU meistens gleichzeitig als “Krise Europas” bezeichnet wird (vgl. z. B. Schmidt 1999: 6). Die EU selbst unterstützt diese kognitive Verknüpfung: So heißt das zentrale Webportal der EU, das von der Europäischen Kommission betrieben wird, “EUROPA” (http: / / europa.eu). 3 “II.1.3” steht für: zweites Buch, Kapitel 1, § 3. Im Folgenden wird Locke aus seinem Versuch über den menschlichen Verstand (2006a+b) nach diesem gängigen Muster zitiert. 4 Ein solches Verständnis findet sich auch in der Literatur, so z. B. bei Schnädelbach 2002: 120 f. Zum Begriff der Erfahrung in der philosophischen Tradition insgesamt vgl. ebd.: 109-114. 5 Nach Morin unterliegt diese europäische Gegensätzlichkeit jedoch einer bestimmten Ordnung: den Prinzipien der Dialogik und der Rekursion. Demnach konstituiert sich Europa kontinuierlich durch verschiedenste Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 425 Antagonismen und Konflikte, die wiederum neue Antagonismen und Konflikte - und damit fruchtbare Entwicklungsprozesse - produzieren (vgl. Morin 1988: 29 f.). 6 Die Zugehörigkeit zu Europa wird beispielsweise im Osten, insbesondere in Russland, zwischen slawophilen und westlichen Richtungen seit Jahrhunderten heftig diskutiert (vgl. Brague 1993: 15). 7 “Abstrakt” ist hier im Sinne unseres heutigen Sprachgebrauches zu verstehen. Locke versteht unter “abstrakt” etwas anderes. Für ihn ist auch die Idee “Tisch” eine abstrakte Idee, da diese nicht ein bestimmtes Ding, sondern eine Kategorie darstellt, unter der Gemeinsamkeiten subsumiert werden. Zum Lockeschen Konzept der Modi vgl. Locke 2006a: II.12.4., II.13.1., II.22.1, II.22.9. 8 Dieser Meinung ist z. B. Euchner (vgl. Euchner 2004: 69 f.). Siep nennt weitere Autoren, die Verbindungen zwischen Lockes Staatstheorie und den übrigen Teilen seiner Philosophie stark bezweifeln, so z. B. Strauss und Laslett. Autoren wie Ashraft oder Waldron sehen dagegen Bezüge zu Lockes natürlicher Theologie - jedoch nicht zu seinem Empirismus (vgl. Siep 2007: 318 ff.). Für Brandt zeigt sich eine Verbindung zwischen Lockes Empirismus und seiner politischen Philosophie vor allem auf formaler Ebene: Gesamtstruktur und Beweisverfahren von Essay und Treatises seien auffallend ähnlich konzipiert (vgl. Brandt 1988: 681 f.). 9 Sowohl der Essay als auch die Treatises tragen das Erscheinungsjahr 1690 im Titel, obwohl beide schon im Winter 1689 veröffentlicht wurden (vgl. Siep 2007: 207). 10 Erst in seinem Testament enthüllte Locke seine diesbezügliche Autorschaft (vgl. Specht 1997: 56; Euchner 2004: 69 ff.; Siep 2007: 209, 392). 11 “II.9.124” steht für: zweite Abhandlung, Kapitel 9, § 124. Um - wie schon beim Essay - die Vergleichbarkeit verschiedener Ausgaben zu gewährleisten, wird im Folgenden diese gängige Zitierweise verwendet. 12 Im Gegensatz zur späteren Gewaltenteilungslehre Montesquieus benennt Locke jedoch keine eigene rechtsprechende Gewalt wie die Judikative (vgl. Siep 2007: 203, 252). Locke 1977: II.11.136 lässt vermuten, dass Locke die Rechtsprechung vielmehr zur Legislative zählt. 13 Lockes politische Philosophie nahm zudem Einfluss auf Revolution, Verfassungsdiskussion und politisches Denken in Amerika (vgl. Euchner 2004: 177). 14 Auf die Kriegserfahrungen stützt sich auch die berühmte Rede Churchills über die “Vereinigten Staaten von Europa”, die er am 19. September 1946 in Zürich hielt (vgl. Pfetsch 2001: 22; Gehler 2005: 134). Neben der Friedenssicherung gab es weitere Motive für eine europäische Integration, wie z. B. Schaffung einer Gegenmacht zum sowjetischen Expansionismus und wirtschaftliche Prosperität. Pfetsch macht jedoch darauf aufmerksam, dass erste institutionelle Schritte von der Außen- und Sicherheitspolitik initiiert wurden. Erst danach traten ökonomische Gesichtspunkte hinzu und in den Vordergrund (vgl. Pfetsch 2001: 19 f., 27). 15 Obwohl anfangs vorgesehen, gibt es jedoch bis heute kein einheitliches Wahlsystem. Die Europaabgeordneten werden in den einzelnen Mitgliedstaaten nach jeweils eigenem Verfahren gewählt; die nationalen Vorschriften variieren dabei stark (vgl. Schmidt & Schünemann 2009: 64 f.; Pfetsch 2001: 153). 16 Dabei zeigen sich große nationale Unterschiede: Während in Belgien und Luxemburg - wo Wahlpflicht herrscht - jeweils 90% aller Bürger gewählt haben, lag die Wahlbeteiligung in Polen bei 24,5% und in der Slowakei bei 19% (vgl. Europäisches Parlament 2009; Schmidt & Schünemann 2009: 66). 17 Das Eurobarometer ist eine seit 1973 regelmäßig durchgeführte Meinungsumfrage in den Mitgliedstaaten der EU, die von der Europäischen Kommission in Auftrag gegeben wird (vgl. Europäische Kommission 2009c). 18 Diese wird in der Literatur mitunter auch als “Methode der offenen Koordinierung” oder “Offene Methode der Koordination” bezeichnet (vgl. Schmidt & Schünemann 2009: 266; Meyer 2004: 203). 19 In Deutschland gingen im akademischen Jahr 2007/ 2008 1,15% aller Studenten mit dem Erasmus-Programm ins Ausland (vgl. Europäische Kommission 2009d). In das Erasmus-Programm sind auch europäische Staaten, die nicht der EU angehören, integriert (vgl. Europäische Kommission 2009a). Dies verdeutlicht ein ums andere Mal, dass im Zusammenhang europäischer Erfahrung nicht klar zwischen EU und Europa differenziert werden kann, d. h. sowohl die Erfahrung Europas als auch die Erfahrung der EU berücksichtigt werden muss. 20 Im Gegensatz zu Lockes nominalistischer Auffassung vertritt Peirce allerdings einen so genannten Universalienrealismus, nach dem Gesetzmäßigkeiten und Universalien (Drittheit) real sind und nicht einfach reine subjektive Konstruktionen unseres Verstandes darstellen. Vgl. Locke 2006b: III.3.11; Peirce 2000a: 172 f.; Peirce 1931-35: 1.19; Peirce 1958: 8.258. “8.258” steht für: Band 8, § 258. Aus den Collected Papers (Peirce 1931-35, 1958) wird gewöhnlich nach diesem Muster zitiert - daher auch im Folgenden dieses Beitrags. 21 Wörter sind damit bei Locke gewissermaßen “Metazeichen”, d. h. Zeichen von Zeichen. Zum dyadischen Zeichenverständnis Lockes vgl. Nöth 2000: 19 f. 22 Die Nähe von Zeichen und Medium zeigt sich z. B. auch darin, dass in einigen Ländern wie Italien, Frankreich, Spanien und Brasilien die Begriffe “Semiotik” und “Medienwissenschaften” meist synonym verwendet werden. Katharina Perge 426 In Deutschland und den englischsprachigen Ländern dagegen wird die Semiotik eher als Randerscheinung der Medienwissenschaften begriffen (vgl. Nöth 1997: 6 f.). 23 Der Begriff der “Mediasphäre” findet sich in der von Régis Debray begründeten französischen Mediologie, wo Mediasphäre die die Gesellschaft jeweils bestimmende zentrale Kulturtechnik bezeichnet und gemäß dessen in “Mnemosphère”, “Graphosphère”, “Vidéosphère” etc. unterteilt ist (vgl. Hartmann 2003b: 99 f.). In Anlehnung an das mediale Zeichenverständnis Peirces soll der Begriff der Mediasphäre im vorliegenden Beitrag jedoch sehr viel umfassender verstanden werden und meint in diesem Sinne jeglichen Raum, in dem sich mediale Prozesse, d. h. Prozesse der Drittheit, konstituieren. 24 Vgl. hierzu auch Walther 1997: 173. 25 Dagegen ist Locke der Ansicht, das Zeichen könne die Realität niemals adäquat repräsentieren (vgl. hierzu Locke 2006a: II.23.11-13; insbesondere seine Ausführungen über reale und nominale Wesenheit in III.6.2 ff.). 26 Ähnlich konstatiert Peirce: “[K]ein menschlicher Geist kann auch nur einen Schritt machen ohne die Hilfe anderer” (Peirce 1983: 45). 27 Die negative Medienkritik Adornos und Horkheimers ist jedoch verständlich vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung des Nationalsozialismus und dessen unidirektionaler Medienpraxis. Adorno hat in den 60er Jahren eingeräumt, dass seine Urteile weniger pessimistisch und radikal ausgefallen wären, hätte er nicht den Rundfunk der 1940er Jahre, sondern das Fernsehen im Nachkriegsdeutschland untersucht (vgl. Eco 1989: 11). 28 Eco bezeichnet die Vertreter dieser radikal kulturpessimistischen Auffassungen als “Apokalyptiker”, diejenigen einer im Gegensatz dazu gänzlich medienaffirmativen Sichtweise als “Integrierte” (vgl. Eco 1989: 11 f.). 29 Im Gegensatz zur Kritischen Theorie in der Tradition Adornos und Horkheimers betonen - unter Bezugnahme auf zeichentheoretische Ausführungen - auch die britischen Cultural Studies die Aktivität der (massenmedialen) Rezeption (vgl. Renger 2003: 163 f., 170 f.). 30 Vgl. hierzu auch Nöth 2000: 469 f.; Nöth 1997: 3 ff. 31 Der Erfahrungsprozess besteht nach Peirce aus Erstheit, Zweitheit und Drittheit gerade aufgrund der kategorialen Struktur der Realität (vgl. Bisanz 2009: 17). 32 Diese hier vorgenommene Interpretation der Vermittlung von Erfahrung zwischen den europäischen Antagonismen wird gestützt durch Krausser, der das Zusammenwirken der Universalkategorien beschreibt als den “allgemeine[n] Sachverhalt, daß sich zwischen allen polaren Gegensätzen, deren Pole nach Peirce als Erstes bzw. Zweites aufzufassen sind […], eine Dimension des möglichen kontinuierlichen Übergangs und der Vermittlung ausspannt” (Krausser 1960: 21). 33 Dem 2006 veröffentlichten Eurobarometer Spezial zur Mehrsprachigkeit zufolge geben lediglich 51% der Europäer (inklusive Muttersprachler) an, eine Unterhaltung auf Englisch führen zu können. Insgesamt sind 56% der Europäer fähig, sich in einer anderen Sprache als ihrer Muttersprache unterhalten zu können (vgl. Europäische Kommission 2006a: 3 f.). 34 Nach Seel haben sich menschliche Kulturen schon jeher nicht mit dem leiblich erfahrbaren Raum zufrieden gegeben, sondern Wege gesucht, diesen zu übersteigen, wie z. B. durch Romane, Bilder in der Kirche oder ekstatische Rituale (vgl. Seel 1998: 259 f.). Auch Boeckmann betont, dass Menschen ihr Bild der Wirklichkeit schon immer durch Medien erweitert haben. In diesem Sinne versteht McLuhan Medien als Erweiterung der menschlichen Organe (vgl. Boeckmann 1994: 117). 35 Gründe hierfür lagen in der Finanzierung, den unausgereiften Programmkonzepten sowie dem Aufwand der Sprachübersetzungen (vgl. Domeyer 2008: 20 f.). 36 Insgesamt nutzen laut einer Studie von 2008 51% aller knapp 500 Mio. EU-Bürger das Internet, Tendenz steigend. Die Nutzung des Internets ist in der EU jedoch von Land zu Land noch sehr unterschiedlich. Während beispielsweise 81% aller Niederländer regelmäßig im Internet surfen, sind es in Rumänien gerade mal 22%. In Deutschland nutzen 64% der Einwohner regelmäßig das Internet (vgl. Europäische Kommission 2008a). 37 Ein solches kollektives Wissen, an dessen Produktion prinzipiell jeder beteiligt ist, zeigt sich beispielsweise explizit im Projekt der Online-Enzyklopädie Wikipedia (http: / / www.wikipedia.org). 38 http: / / www.euractiv.com 39 http: / / www.euobserver.com 40 http: / / www.newropeans-magazine.org 41 http: / / www.eurotopics.net 42 http: / / www.eurozine.com 43 http: / / www.eu-digest.com 44 Der Begriff der Hochkultur wird hier in Abgrenzung zur Populärkultur, jedoch ohne Wertung gebraucht. 45 http: / / www.cafebabel.com Perspektiven medialer Erfahrung in der europäischen Gegenwart 427 46 http: / / www.dieeuros.eu 47 Zur Wichtigkeit der tatsächlichen Nutzung europäischer Medien vgl. auch Tenscher & Schmidt 2004: 213. 48 Dabei handelte es sich um Rezipienten, die sich vor allem in Alter und Bildungsgrad deutlich voneinander unterschieden. Gleichzeitig gibt Domeyer zu, diesem Anspruch nicht völlig zufriedenstellend gerecht geworden zu sein. Auch konnten nur deutsche Rezipienten in die Untersuchung einbezogen werden (vgl. Domeyer 2008: 60 f., 69-71, 158 f.). Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG NOVEMBER 2010 JETZT BESTELLEN! Lothar Albertin (Hrsg.) Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union Partner auf dem Prüfstand edition lendemains, Band 23 2010, IV, 225 Seiten, €[D] 58,00/ SFr 81,90 ISBN 978-3-8233-6598-3 Mit den jüngsten Krisen der weltweiten Finanz- und Realwirtschaft haben sich die Erfahrungs- und Handlungsräume der Europäischen Union gewaltig verändert. Sie ist im Begriff, ihre Rolle unter den Weltregionen neu auszumessen, und dabei in ihrem Zusammenhalt und ihrer Funktionsfähigkeit neuartigen Belastungen ausgesetzt. Das gilt auch für ihre traditionellen Führungsmächte Deutschland und Frankreich. Aus den historischen Erfahrungen haben Politiker der beiden »Nachbarn am Rhein« nach dem Grauen des Zweiten Weltkrieges die Folgerung gezogen, einen neuen Konflikt durch Aussöhnung und enge Zusammenarbeit im Rahmen der europäischen Einigung unmöglich zu machen. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, sämtlich verfasst von renommierten, dem Thema seit vielen Jahren verpflichteten Experten, untersuchen diese Sonderbeziehung in der EU. Mediale Inszenierung europäischer Identität. Zur Unzulänglichkeit des Internets als Kommunikationsmedium der Europäischen Union Christian Matzke; Leuphana Universität Lüneburg The following chapter presents a critical analysis of the online forum “Debate Europe” launched by the European Union to encourage union wide communication, and contribute to the development of a common European identity. Having the main focus on the communication media internet, the study focuses its main arguments on the essential role of different media to contribute to a collective European public sphere, understood as an experience sphere of productive interactions. 1 Einleitung In der folgenden Darstellung wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern eine europäische Identität vorhanden bzw. herausgebildet werden kann. Hierzu werden grundlegende Voraussetzungen an die Entstehung kollektiver Identität den tatsächlichen Gegebenheiten in der Europäischen Union gegenübergestellt. Für die Entstehung einer kollektiven Identität ist der Faktor Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung. Deshalb wird einführend ein Überblick über den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit im allgemeinen und dem Medium Internet im speziellen gegeben und erörtert, welche Auswirkungen dies für eine Herausbildung einer kollektiven Identität mit sich bringt. Exemplarisch wird im nächsten Schritt an dem Online- Diskussionsforum “Debate Europe” gezeigt, inwiefern durch die Ausrichtung der Kommunikationsstrategie der Europäischen Union eine europäische Identität gefördert oder entstehen kann. Abschließend werden die Ergebnisse vergleichend diskutiert und ein Ausblick auf zukünftige Tendenzen gegeben. 2 Öffentlichkeit, Medien und kollektive Identität 2.1 Konzepte europäischer Öffentlichkeit In der aktuellen Forschung werden drei Modelle 1 europäischer Öffentlichkeit unterschieden: die Entstehung einer einheitlichen europäischen bzw. einer paneuropäischen Öffentlichkeit, die Herausbildung nationenübergreifender themenspezifischer Öffentlichkeiten sowie die Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten (vgl. Saxer 2006: 78). Das erste Modell geht von einer länderübergreifenden, paneuropäischen Öffentlichkeit auf Basis eines einheitlichen K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Christian Matzke 430 Mediensystems aus. Paneuropäische Öffentlichkeit soll hier durch europäische Medien, die sich an ein transnationales Publikum in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union wenden, hergestellt werden. Dafür wäre ein gemeinsames Mediensystem bzw. gemeinsame Medien für alle europäischen Staaten notwendig. Bei dem Modell einer transnationalen Öffentlichkeit wird von der Vorstellung einer segmentierten transnationalen Themenöffentlichkeit ausgegangen. Hier geht man von einer Entstehung transnationaler Kommunikation auf der Basis einzelner Themen aus, die jedoch nicht auf ein Massenpublikum trifft, sondern auf gesellschaftliche Eliten, Interessengruppen oder einzelne soziale Bewegungen beschränkt bleibt. Im dritten Modell steht die Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten im Vordergrund. Erreicht werden soll diese durch die Thematisierung europäischer Themen in den jeweiligen nationalen Medien und die Bewertung dieser Themen unter einer europäischen, nicht nationalstaatlichen Perspektive. Als Verfechter eines paneuropäischen Mediensystems gelten Peter G. Kielmansegg und M. Rainer Lepsius. Beiden Autoren ist gemein, dass sie explizit oder implizit davon ausgehen, dass eine europäische Öffentlichkeit ein übernationales Mediensystem zur Voraussetzung haben muss. Eine Europäisierung der nationalen Medien kann diesem Anspruch nicht gerecht werden. Eine Infrastruktur aus politischen Institutionen und Medienorganisationen bilden hier Voraussetzungen demokratischer europäischer Öffentlichkeit. Die Voraussetzung einer europäischen Öffentlichkeit im Sinne einer paneuropäischen Öffentlichkeit ist also ein europäisches Publikum, das von einem einheitlichen europäischen Mediensystem mit Informationen versorgt wird. Eder und Kantner hingegen plädieren eher für eine Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten, die auf der Konzeption beruht, das in einem anonymen europäischen Massenmedium zur gleichen Zeit die gleichen europäischen Themen unter gleichen Relevanzgesichtspunkten diskutiert werden (vgl. Eder & Kantner 2000: 312). Eine Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten favorisiert Saxer. Die nationalen Mediensysteme sind seiner Meinung nach am stabilsten und leistungsfähigsten und deshalb am ehesten geeignet, europäischen Akteuren und Themen massenhaft Verbreitung zu schaffen (vgl. Saxer 2006: 78). Die Frage nach der Existenz einer europäischen Öffentlichkeit wird von den Wissenschaftlern und Experten zum Teil sehr unterschiedlich beantwortet. Nach Gerd Kopper ist eine europäische Öffentlichkeit bisher faktisch nicht existent (vgl. Kopper 1997: 9). In empirischen Untersuchungen konnte man allenfalls transnationale Öffentlichkeiten in Europa, kaum aber eine allumfassende gesamteuropäische Öffentlichkeit ausmachen. In zahlreichen Untersuchungen wird den Institutionen der EU ein “Öffentlichkeitsdefizit” attestiert (vgl. Requate & Schulze Wessel 2002: 13). Es gibt aber auch Gegenstimmen. Eder und Kantner kritisieren die Öffentlichkeitsdefizithypothese, indem sie feststellen: “Die pauschale Unterstellung eines Öffentlichkeitsdefizits ist empirisch nicht gedeckt und theoretisch unfruchtbar.” (Eder & Kantner 2000: 307). Die beiden Autoren verweisen zur Absicherung ihrer Gegenthese u. a. auf mehrere öffentliche Debatten auf europäischer Ebene in den letzten Jahren. Neben Eder und Kantner interpretiert Meyer die europaweite Diskussion über die Korruption der Kommission, die zum Rücktritt der Santer-Kommission geführt hat, als ein Anzeichen einer entstehenden europäischen Öffentlichkeit (vgl. Meyer 2002: 173 ff). Ähnlich argumentiert auch Trenz in seinem Vergleich der medialen Berichterstattung über die Korruptionskrise der Kommission in spanischen und deutschen Medien (vgl. Trenz 2000: 351). In der finalen Beurteilung der Ansätze europäischer Öffentlichkeit kommen Michael Latzer und Florian Saurwein zu dem Schluss, dass es sich dabei häufig nur um tendenziell abgeschlossene, oft auf Eliten oder Interessengruppen beschränkte Öffentlichkeitsarenen Mediale Inszenierung europäischer Identität 431 handelt (Eliteöffentlichkeiten), wohingegen sich ein breiter europäischer Kommunikationsraum (Massenöffentlichkeit) noch nicht abzuzeichnen scheint. Zahlreiche Forschungsergebnisse verdeutlichen, dass europapolitische Themen insgesamt nach wie vor nur einen eher geringen Teil der Medienagenda ausmachen und das nationale Selbstreferenzialität stark ausgeprägt ist (vgl. Langenbucher & Latzer 2006: 10 ff). 2.2 Kennzeichen europäischer Medienstruktur Den Massenmedien kommt eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Informationen über die Europäische Union zu. Die EU ist auf die Vermittlungsleistung der Medien angewiesen, denn sie braucht die Medien zu ihrer Legitimation. Die Problematik für Europa erwächst daraus, dass der EU kein eigenes Mediensystem gegenübersteht, wie das in den Nationalstaaten der Fall ist. Es ist weitgehend unbestritten, dass es bisher keine europäischen Medien gibt, die in der Lage wären, eine eigenständige, den nationalen Öffentlichkeiten übergeordnete europäische Öffentlichkeit zu konstituieren. Zwar gab es immer wieder Versuche, europäische Medien zu etablieren, die meisten wurden jedoch eingestellt oder konnten sich vorwiegend nur als Elitemedien durchsetzen. 2 Insofern erscheint es naheliegend, dass die EU sich ein eigenes europäisches Mediensystem aufbauen muss, das der EU die Öffentlichkeit verschafft, die sie braucht, um ihre Entscheidungen zu legitimieren. Als Gründe für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit werden unterschiedliche Aspekte genannt. Es wird vor allem auf das Gefälle der Interaktionsdichte zwischen nationaler und transnationaler Kommunikation und auf die unterschiedlichen Interaktionsbedingungen (Sprache, Identität, Mediensysteme) im nationalen und europäischen Kontext verwiesen, die als Ursachen europäischer Öffentlichkeitsdefizite identifiziert werden (vgl. Langenbucher & Latzer 2006: 10 ff). Eine Erklärung für das Öffentlichkeitsdefizit der EU ist nach Ansicht von Gerhards darin zu sehen, dass diese nicht gezwungen sind, für sich und ihre Themen und in Konkurrenz zu anderen Akteuren vor den Bürgern öffentlich zu werben; und sie sind nicht dazu gezwungen, weil sie nicht über Wahlen oder Referenden an die Präferenzen der Bürger Europas gekoppelt sind. Des Weiteren findet der Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozess der EU unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Bürger werden somit nicht oder nicht ausreichend von den Entscheidungen und Diskussionen, die sie unmittelbar betreffen, informiert (vgl. Gerhards 2002: 154). Das zweite Problem europaweiter politischer Kommunikation ist struktureller Natur und wird im Mangel an europaweiten Massenmedien gesehen. Nach Gerhards entstünde europäische Öffentlichkeit dann, wenn es ein einheitliches europaweites Medienangebot gäbe (vgl. Gerhards 2000). Da es aber keine europäischen Medien gibt, die Europa ein Forum und den Europäern eine Basis bieten und so die wechselseitige Vermittlungsleistung zwischen Union und Bevölkerung erbringen, kann sich auch keine europäische Öffentlichkeit entwickeln. Solange es keine europaweiten Massenmedien gibt, bleiben die Bürger in nationalen Diskursen gefangen. Spezielle europäische Medienangebote wie ein einheitlicher Fernsehsender fehlen. Ein weiterer Faktor ist in der Struktur der Medienlandschaft zu sehen. So sind auf EU-Ebene die Mitgliedstaaten als Gliedstaaten der EU bzw. deren nachgeordnete föderale Gliederungseinheiten nach wie vor die Träger ihrer Medienhoheit, während die Europäische Union nur eine unterstützende Politik bereithält. Das größte strukturelle Hemmnis für eine europäische Öffentlichkeit wird im Fehlen einer gemeinsamen Sprache gesehen, ohne diese gemeinsame Medien erst gar nicht genutzt werden Christian Matzke 432 können, in denen dem Publikum die gleichen Themen und die gleichen Deutungen nahegebracht werden können. Aufgrund des Sprachenproblems wird sich auf dem Territorium der EU keine europäische Öffentlichkeit bilden und somit auch keine tiefere soziale Integration stattfinden können (vgl. Kantner 2004: 87 ff). Hier können drei Argumente unterschieden werden, die diese These stützen. Das erste Argument lautet, dass selbst wenn in verschiedenen Sprachen über die gleichen Themen kommuniziert würde, Verständigung unmöglich sei, weil Sprache auch immer eine Weltsicht, eine spezifische Konstruktion der Wirklichkeit darstelle. Über sprachlich-kulturelle Grenzen hinweg könne es keine wirkliche Verständigung geben, da eigentlich stets über verschiedene Dinge gesprochen werde. Der kulturelle Kontext von Sprecher, Rezipient und Publikum sei so unterschiedlich, die Interpretation von Nachrichten würde so inkompatibel ausfallen, dass ein Diskurs nicht stattfinden könne. Verschiedene Öffentlichkeiten sprechen grundsätzlich über verschiedene Dinge. Zweitens wird festgestellt, dass die Vielzahl der Sprachen eine Unterhaltung oder eine Diskussion unter den Bürgern verhindere. Damit sei eine der grundlegendsten Voraussetzungen für Demokratie in der EU nicht gegeben, die Möglichkeit, miteinander zu reden oder die Gelegenheit zur Meinungsäußerung zu haben. Sprache und Kommunikation sind in diesem Verständnis ein und dieselbe Sache. Drittens wird eine “lingua franca” vermisst, eine von allen Bürgern verstandene und gesprochene Sprache. Das könne entweder eine einzige Sprache wie Englisch sein, oder die Voraussetzung, dass alle Bürger alle EU-Sprachen verstünden, so dass ein Sprecher sicher sein könne, von allen Bürgern verstanden zu werden. Da die zweite Möglichkeit ausgeschlossen werden kann und auch in der Zukunft nicht alle EU-Bürger über ausreichende Englisch-Kenntnisse verfügen werden, ist ein europaweiter Diskurs nicht möglich (vgl. van den Steeg 2003: 181). Allerdings gibt es auch gegenteilige Auffassungen. So weist Meyer darauf hin, dass Positionen, nach denen die Herausbildung einer länderübergreifenden Öffentlichkeit aufgrund der sprachlichen Heterogenität und der ausschließlich national orientierten Massenmedien in Europa auf absehbare Zeit unmöglich sei, nicht zugestimmt werden könne. Zum einen sei die Gleichsetzung von Sprache und Kommunikation problematisch. Denn Sprache stelle keine undurchlässige Mauer für Informationen und Meinungen dar, sondern ein Verständigungsinstrument im Dienst ihrer Nutzer. “Entscheidend ist nicht primär, dass jeder mit jedem sprechen können muss, sondern dass die Möglichkeit politischer Meinungsbildung auch über Sprachgrenzen hinweg gegeben ist.”(Meyer 2002: 59) Auch die vermeintliche Notwendigkeit gemeinsamer Medien erweist sich als überflüssig. Denn Kommunikation und Verstehen sind nicht an gemeinsame Medien gebunden. Wenn es keine objektive Perspektive gibt und der Gegenstand der Kommunikation gerade durch die Vielzahl von Perspektiven, die unterschiedliche Beteiligte auf diesen Gegenstand werfen, konstituiert wird, könnten auch gemeinsame Medien nicht die eine “richtige” Perspektive sicherstellen. Gemeinsame mediale Quellen der Kommunikation sind demnach nicht notwendig (vgl. Kantner 2004: 123). 2.3 Europäische Öffentlichkeit und europäische Identität Der Öffentlichkeit kommt bei der Ausbildung kollektiver Identität eine herausragende Funktion zu. Öffentlichkeit, verstanden als Verständigungsprozess der Gesellschaft über sich selbst, dient der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion, der Verhandlung von Regeln und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie der Überprüfung kultureller Ziele und der Schaffung kultureller Identitäten (vgl. Klaus 2006: 98 ff). Kollektive Identitäten sind Mediale Inszenierung europäischer Identität 433 vor allem deshalb grundlegend an Öffentlichkeiten im weitesten Sinne gebunden, um überhaupt auf kollektiver Ebene wirksam werden zu können. Dazu müssen sie in einem öffentlichen Raum artikuliert und medial vermittelt werden. Dies gilt vornehmlich bei steigender Ausdifferenzierung der Gesellschaft, denn erst über die verschiedenen Kanäle der Öffentlichkeiten werden kollektive Identitäten manifest und schließlich handlungsleitend relevant. Die Gesellschaft wird sich erst über Öffentlichkeit ihrer selbst als politisches Subjekt bewusst. Das bedeutet jedoch nicht, dass kollektive Identitäten nicht auch jenseits der Öffentlichkeit existieren und lebensweltlich bedeutsam wären. Aber zumindest im Hinblick auf politische Willensbildung bedürfen sie in offenen Gesellschaften der öffentlichen Artikulation (vgl. Kaelble & Kirsch & Schmidt-Gernig 2002: 13 ff). Auch für den europäischen Raum ergibt sich deshalb die Problematik, ob europäische Identität als Folge von Öffentlichkeit anzusehen ist oder ob europäische Identität nicht umgekehrt die Voraussetzung für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit darstellt. In der Diskussion können zwei Autorengruppen unterschieden werden, die “Partikularisten des Nationalen” und die “prozeduralistischen Europaföderalisten”. Grimm und Kielmansegg als Vertreter der Partikularisten heben hervor, dass sich eine europaweite Kommunikation in Ermangelung einer von allen Europäern beherrschten Sprache nicht entfalten kann und die Multilingualität in Europa folglich die Ursache des Öffentlichkeitsdefizits ist. Kielmansegg definiert kollektive Identitäten als “Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften.”(Kielmansegg 1995: 235). Eine Kommunikationsgemeinschaft bilden die Europäer aufgrund der Sprachenvielfalt in Europa jedoch nicht. Die fehlende einheitliche Sprache hemmt oder unterbindet nicht nur die Kommunikation zwischen den Europäern, sondern gleichfalls die Bildung eines europäischen Volkes. Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache verhindert das Entstehen bzw. die Teilhabe an einer gemeinsamen Medienöffentlichkeit, so dass deren identitätsstiftende Wirkung entfällt. Erst der Sprachräume überwindende und nicht auf die Nationalstaaten begrenzte politische Diskurs kann europäische Politik zur Sache der Allgemeinheit machen, Identifikationen bieten und die Voraussetzung für die Zuerkennung von Legitimität schaffen (vgl. Holtz-Bacha 2006: 316). Der wichtigste Grund, warum eine kollektive europäische Identität nicht besteht, sehen die Partikularisten darin, dass die EU keine Kommunikationsgemeinschaft bildet und demzufolge auch keine Erinnerungsgemeinschaft sein kann. Die Europaföderalisten (u. a. Eder, Kantner, Habermas und Meyer) sehen die Sprachenvielfalt hingegen nicht als Hinderungsgrund für die Herausbildung einer europäischen Identität an. Eine gemeinsame Sprache ist für die Entwicklung einer gemeinsamen Öffentlichkeit und Identität der Europäer nicht erforderlich. Die Europaföderalisten favorisieren eine Europäisierung der Medien, um so dem Sprachproblem die Brisanz zu nehmen: “Wenn nationale Medien europäische Themen so darstellen, dass die relevanten Positionen vertreten sind und verständlich sind, findet Kommunikation über sprachliche Grenzen hinweg statt.” (Eder & Kantner 2000: 312). Abschließend kann festgehalten werden: Die sprachliche und kulturelle Heterogenität Europas wirken einem paneuropäischen Mediensystem ebenso entgegen, wie die historisch gewachsene nationale Fixierung des Journalismus entlang lokal, regional und national gebundener Publikumsinteressen. Der Versuch, europäische Öffentlichkeit über ein Medienangebot herzustellen, das top-down beschlossen wird, ohne die gegebenen Rundfunkstrukturen zu berücksichtigen, scheint zumindest vorläufig gescheitert zu sein (vgl. Langenbucher & Latzer 2006: 25). Es konnte bei empirischen Untersuchungen kein klarer Trend zu einem europäischen Gemeinschaftsbewusstsein festgestellt werden. Europäische Identitätsgefühle Christian Matzke 434 sind in den untersuchten Medien kaum erkennbar. Neidhardt geht davon aus, dass kollektive Identitätsgefühle von den Medien auch kaum herstellbar sind, wenn sie nicht von einem Handeln getragen werden, das gegenüber einer gemeinsamen Umwelt eine Wir-Erfahrung erzeugt. Eine EU-Medienpolitik wird daher solange nicht erfolgreich identitätsstiftend sein können, wie die politischen Rahmenbedingungen zur Identitätskonstruktion nicht gegeben sind und in der Hoheit der Mitgliedstaaten verbleiben (vgl. Walkenhorst 1999: 181). Europäische Öffentlichkeit ist heute in erster Linie als ein Netzwerk sich überlappender nationaler Öffentlichkeiten anzutreffen. Sie kristallisiert sich an bestimmten Ereignissen und Konflikten und ist stark vom Handeln einzelner Akteure abhängig (vgl. Gerhards 2000). Zur Überwindung des Öffentlichkeitsdefizits hat die EU bisher zahlreiche Maßnahmen ergriffen. In diesem Zusammenhang setzte die Kommission ab Mitte der 1990er Jahre verstärkt auf die Nutzung elektronischer Medien. So bot das Internet für die Herstellung bzw. die Erreichung einer europäischen Öffentlichkeit völlig neue Möglichkeiten. Auch die EU erkannte frühzeitig dieses Potential und startete 1995 mit EUROPA (http: / / www.europa.eu), einem interaktiven Informationsdienst (Server) auf graphischer Basis des World Wide Web. Der EUROPA-Server bietet allgemeine Informationen über Kommission und EU sowie über aktuelle EU-politische Ereignisse. Zudem bietet EUROPA Zugang zu bestimmten Datenbanken wie RAPID (Pressemitteilungen der Kommission) und leitet zu anderen EU-Servern weiter. Welche Möglichkeiten das Internet konkret zur Herstellung von Öffentlichkeit eröffnet und inwiefern es zur Entstehung kollektiver Identität beitragen kann, soll deshalb im Folgenden genauer untersucht werden. 3 Öffentlichkeit, Internet und kollektive Identitätsbildung Welchen Einfluss das Netz auf die politische Öffentlichkeit haben wird, darüber gehen die Meinungen in der Forschung weit auseinander. Ein Argument für einen starken und positiven Einfluss des Internets auf die Öffentlichkeitsstrukturen und auf politische Prozesse besteht in der Annahme, dass durch die Netzkommunikation eine quantitativ höhere und zugleich auch qualitativ bessere Teilnahme einzelner Individuen an (politischen) Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen möglich sei. Das Argument geht im Kern davon aus, dass die bisherige Nicht-Teilnahme bestimmter Bevölkerungskreise an politischen Prozessen vor allem ein technisches Problem in der Dimension Zeit, Raum, Wissen und Zugang war, das durch die neue Technik gelöst werde. Ein weiteres positives Argument geht davon aus, dass durch das Internet eine grundsätzlich freiere öffentliche Meinungsäußerung möglich ist, da die bisher zentralistisch verwalteten Medien für die Bevölkerung schlecht “zugänglich” waren. Diesen beiden Positionen wird jedoch entgegengehalten, dass die Barrieren vorwiegend sozialer und nicht technischer Natur sind (vgl. Donges & Jarren 1999). Die neuen Formen politischer Öffentlichkeit, die sich durch die neuen Kommunikationstechnologien ergeben, werden vorzugsweise “Netzöffentlichkeiten” genannt (vgl. Bieber 2001). Es stellt sich nun die Frage, auf welcher Ebene politischer Öffentlichkeit die Netzkommunikation verortet werden kann. Um die Netzöffentlichkeiten zu erfassen und zu beschreiben, kann man versuchen, sie in bereits etablierte und elaborierte Öffentlichkeitsmodelle einzuordnen. Dazu bietet sich das Öffentlichkeitsmodell von Gerhard und Neidhardt (Gerhards & Neidhardt 1991) an. In dem Modell werden drei Ebenen unterschieden, die Encounter-Öffentlichkeit, die Versammlungs-Öffentlichkeit und die massenmediale Öffentlichkeit. In der wissenschaftlichen Literatur besteht Konsens darüber, dass im Internet Mediale Inszenierung europäischer Identität 435 Kommunikation auf allen drei Öffentlichkeitsebenen stattfindet (vgl. Mayer-Uellner 2003: 47). So stellt die E-Mail-Kommunikation eine Encounter-Öffentlichkeit dar. Auf der Ebene medialer Versammlungs-Öffentlichkeit kann Online-Kommunikation angesiedelt werden, die im Rahmen von Online-Diskussionsforen stattfindet. Menschen sprechen online über ein bestimmtes Thema miteinander. Das Thema bestimmt die Zusammensetzung des Publikums hier in ähnlicher Weise wie bei Offline-Versammlungs-Öffentlichkeiten. Legt man das Kriterium des Medientyps und der Teilnehmerstruktur zugrunde, generiert sich massenmediale Online-Öffentlichkeit nur im WWW (z. B. Online-Zeitungen). Massenmediale Kommunikation wird nach Maletzke als jene Form definiert, bei der Aussagen öffentlich, durch technische Verbreitungsmittel indirekt und einseitig an ein disperses Publikum vermittelt werden (vgl. Maletzke 1963: 32). Das WWW entspricht dieser Definition im Vergleich zu den anderen Online-Anwendungen am stärksten, da hier primär Einwegkommunikation von einem Sender (dem Verfasser einer Webseite) zum Empfänger (dem Leser bzw. Besucher einer Webseite) abläuft. Gleichzeitig handelt es sich bei den Empfängern um eine nicht bestimmbare oder abgrenzbare Gruppe im Sinne eines dispersen Publikums. Es kann festgehalten werden: Im Internet findet Kommunikation zwar auf allen drei Ebenen der Öffentlichkeit statt, fraglich ist dabei jedoch, welche Relevanz diese Kommunikationen für die gesellschaftliche Selbstbeobachtung als Funktion politischer Öffentlichkeit haben wird. So bleiben Themen und Meinungen auf der Encounter-Ebene in der Regel folgenlos, wenn sie die Selektionsbarriere zur Themenöffentlichkeit und später zur Medienöffentlichkeit nicht überwinden können (vgl. Donges & Jarren 1999: 92). Auch internetbasierte Diskussionsforen stellen nur vergleichsweise kleine Öffentlichkeiten dar. “Eine artikulierte Meinung, die weder eine öffentliche Aufmerksamkeit erfährt noch von einem politischen Entscheidungsträger direkt wahrgenommen wird, findet nicht ihren Weg in den Politikprozess. Somit wird sie auch keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben.” (Mayer-Uellner 2003: 55) In der Debatte um die elektronische Öffentlichkeit unterscheidet Patrick Donges zwei Hauptpositionen, die enthusiastische und die skeptische Position. Beide Positionen unterscheiden sich dadurch, welche Relevanz sie der computervermittelten Kommunikation für die Öffentlichkeit zuweisen. Die enthusiastische Position prognostiziert einen starken und positiven Einfluss der computervermittelten Kommunikation auf die Strukturen von Öffentlichkeit und auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. So würden die Bürger durch computervermittelte Kommunikation mehr kommunizieren können als bisher. Durch computervermittelte Kommunikation würden mehr Menschen als bisher an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen und die Bürger würden in die Lage versetzt, ihre Anliegen qualitativ besser in den politischen Prozess einzubringen. Die skeptische Position verweist schließlich darauf, dass die bestehenden Barrieren zwischen Individuum und politischer Öffentlichkeit vorwiegend nicht technischer, sondern sozialer Natur sind, die durch die computervermittelte Kommunikation nicht aufgehoben werden. Als solche Barrieren werden die Begrenztheit des zur Mediennutzung zur Verfügung stehenden Zeitbudgets, die fehlende Bereitschaft der Nutzer, gezielt nach politischen Informationen zu suchen, genannt (vgl. Donges 2000). Die mit der Netzkommunikation häufig assoziierte Mobilisierungsfunktion der Bürger ist eher skeptisch zu betrachten. Die vielfach verbreitete These, dass durch das Internet mehr Bürger am politischen Geschehen teilnehmen, beruht stillschweigend auf der falschen Annahme, dass die vorangegangene Nicht-Teilnahme vorrangig ein technisches Problem war. Weiterhin sollte nicht vergessen werden, dass die neuen Möglichkeiten Christian Matzke 436 des Internets vor allem denen zur Verfügung stehen, die schon vorher privilegiert waren, gilt es doch als erwiesen, dass Internetnutzer jünger, höher gebildet und einkommensstark sind. Weiterhin ist das Internet ein Medium der reichen Länder. Auf diese Weise kann sich eine bestehende Ungleichheit verdoppeln (vgl. Mayer-Uellner 2003: 54). Abschließend kann jedoch festgehalten werden, dass das Internet technisch gesehen durchaus Eigenschaften besitzt, die für die Herstellung von Öffentlichkeit grundlegend sind. Nach Loitz sind das eine fehlende Raumbegrenzung, keine Zeitbegrenzung, geringe Eintrittsbarrieren, keine Teilnahmebeschränkung und die Möglichkeit der zweiseitigen Kommunikation (Interaktivität). Weiter ist der finanzielle Kostenaufwand für die Kommunikation über das Internet vergleichsweise gering. Hinderungsgründe für eine praktische Umsetzung dieser Eigenschaften sind eher sozialer und kommerzieller Natur. Als elementar erweist sich auch die Bereitschaft der Bürger, sich am politischen Willensbildungsprozess über das Internet zu beteiligen (vgl. Loitz 2001: 40 ff). Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Kenntnissen für eine Kommunikationsstrategie der Europäischen Union? 4 Europäische Union und europäische Identität 4.1 Grundzüge der Kommunikationsstrategie der Europäischen Kommission Die wichtigsten Organe der EU stellen das Europäische Parlament (als Vertretung der Bürger Europas), der Rat der Europäischen Union (als Vertretung der nationalen Regierungen) und die Europäische Kommission (als Vertreter der gemeinsamen Interessen der EU) dar. Für die Kommunikation mit den Bürgern der EU ist die Generaldirektion Kommunikation (GD Kommunikation) zuständig. Sie ist direkt dem Präsidenten der Europäischen Kommission und der Vizepräsidentin Margot Wallström unterstellt und organisatorisch der Europäischen Kommission zugeordnet. Die Europäische Kommission ist insofern als Hauptträger der Informationspolitik in der EU anzusehen und vertraglich zu Kommunikation, Transparenz und Offenheit verpflichtet. 3 Die GD Kommunikation, unter Leitung von Margot Wallström, ist konkret für interinstitutionelle Beziehungen und die Kommunikationsstrategie verantwortlich. Dabei kommt der GD Kommunikation ein doppelter Informationsauftrag zu. Einerseits informiert sie die Medien und Bürger über die Aktivitäten der Kommission und vermittelt ihnen Inhalte und Ziele der politischen Maßnahmen. Andererseits ist sie für die Unterrichtung der Kommission über Nachrichten und Meinungen in den Mitgliedstaaten zuständig. Dazu gehören die Koordination der Aktivitäten der Vertretungen der Kommission in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten und die Bereitstellung von Informationen für EU- Bürger. Verschiedene Medien- und Kommunikationskanäle werden dabei verwandt. Der wichtigste Einfluss wird allerdings den Massenmedien zugesprochen, werden sie doch für die EU als wichtiger “Bewusstseinsbildner” und Integrationsfaktor mit identitätsstiftender Funktion betrachtet (vgl. Hoesch 2003: 96). Seit Mitte 2005 verfolgt die EU einen neuen Ansatz. Ausschlaggebend für die Änderung der Kommunikationspolitik der EU war der negative Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 zur Ratifizierung des “Vertrags über eine Verfassung für Europa”. Die EU verordnete sich eine “Zeit der Reflexion” als Anstoß für eine breit angelegte Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union. Angesichts der Kluft, die sich zwischen einem Großteil der Öffentlichkeit und den Institutionen der EU aufgetan hat, war diese nun Mediale Inszenierung europäischer Identität 437 bestrebt, einen neuen Ansatz für ihre Kommunikationspolitik zu entwickeln. In diese Phase fallen auch drei Veröffentlichungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die ausschlaggebend für eine neue Kommunikationspolitik sein sollten. Der im Juli 2005 veröffentlichte Aktionsplan setzte sich kritisch mit der bisherigen Kommunikationspolitik auseinander und leitete eine neue Epoche der Kommunikationspolitik ein. “Kommunikation” wurde zum strategischen Ziel erklärt und als eigenständige Politik anerkannt. Darauf aufbauend hat die Kommission im Oktober 2005 einen Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion vorgelegt, in dem eine umfassende Diskussion zwischen den demokratischen Organen der Europäischen Union und ihren Bürgern angeregt wird. Um zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit beizutragen, soll aufbauend auf einem Dialog mit den Bürgern die europäische Debatte verbessert und die europäische Politik legitimiert werden. In Plan D sind die konkreten Maßnahmen aufgelistet, die zur Verbesserung der Kommunikation mit dem Bürger führen sollen. Die Rolle der Bürger soll gestärkt werden, indem sie ganz konkret in eine weitreichende Diskussion eingebunden werden. Das Zuhören und der Kontakt mit den Bürgern steht im Vordergrund dieses Ansatzes. Am 1. Februar 2006 wurde durch die Vize-Präsidentin der Kommission das Weißbuch über die neue EU-Kommunikationspolitik präsentiert. Es soll dem zunehmenden Vertrauensverlust der europäischen Öffentlichkeit entgegenwirken. Das Weißbuch ergänzt zum einen den Aktionsplan, zum anderen den Plan D, fasst die genannten Vorschläge und Maßnahmen zusammen und stellt detailliert die künftige Kommunikationsstrategie der Europäischen Kommission vor. Mit dem Weißbuch soll insgesamt ein Konsultationsprozess über die Grundsätze der Kommunikationspolitik in der Europäischen Union und die Bereiche der Zusammenarbeit mit anderen Organen und Institutionen der Europäischen Union in Gang gesetzt werden. Um die Kluft zwischen der Europäischen Union und den EU-Bürgern abzubauen, setzt die GD Kommunikation auf mehr Dialog statt auf einseitige Kommunikation. Der Bürger soll nun verstärkt in den Mittelpunkt gerückt werden. Die EU will bei ihren Maßnahmen zur Überwindung der “Kommunikationskluft” verstärkt auf das Internet zurückgreifen. So wird auch im Weißbuch das Internet als vorrangiges Kommunikationsmittel der EU bzw. der GD Kommunikation genannt. Damit knüpft die EU an eine bereits seit Mitte der 1990er Jahre geführte Praxis an. Zukünftig sollen noch mehr als bisher die Vorteile der Internetkommunikation genutzt werden. So kann das Internet neue Kanäle für die Kommunikation über europäische Themen eröffnen und neue Foren für Debatten mit der Zivilgesellschaft ermöglichen. Als Grundlage für die Öffentlichkeitsarbeit der Generaldirektion Kommunikation gilt Kapitel 1 des “Annual Activity Report” der Europäischen Kommission, in dem die Leitlinien und Konzepte für die konkrete Kommunikationspolitik der Europäischen Kommission und ihrer Vertretungen aufgeführt sind. In dem Report wird auf das Weißbuch mit den darin enthaltenden Maßnahmen als aktuelle Kommunikationsstrategie verwiesen. Der Schwerpunkt der Kommunikation der Europäischen Kommission ist demnach auf das Internet als Kommunikationsmedium gerichtet. Christian Matzke 438 4.2 Das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” als Ort möglicher Inszenierung 4.2.1 Kennzeichen des Forums “Debate Europe” Eine Maßnahme der EU zur Förderung einer breiten Einbindung der Bevölkerung in die Diskussion über europapolitische Themen stellt das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” dar. Im Rahmen von Plan D richtete die GD Kommunikation am 27. März 2006 das Diskussionsforum “Debate Europe” ein. Ziel des Forums ist es, den Dialog zwischen den EU- Bürgern zu fördern und zur Entstehung einer europäischen Identität beizutragen. Die Initiative soll eine Diskussion und eine eingehende Auseinandersetzung der EU-Bürger mit der Zukunft der Europäischen Union ermöglichen. Dazu stehen drei Themenbereiche zur Verfügung. Erstens: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas. Zweitens: Die Wahrnehmung Europas und seiner Aufgaben. Drittens: Die Grenzen Europas und Europas Rolle in der Welt. Im Forum ist die Diskussion in allen 22 EU-Amtssprachen sowie auf Katalanisch möglich. Alle Bürger (auch nicht EU-Bürger) können daran teilnehmen. Um die Diskussion zu fördern, hat die GD Kommunikation einige Dokumente zur Diskussion bereitgestellt. “Debate Europe” ist über die URL http: / / europa.eu/ debateeurope/ erreichbar. Für die Teilnahme am Forum ist eine Registrierung erforderlich. Neben dem Namen, der E-Mail-Adresse, Heimatstadt und Land müssen Beruf, Alter und Geschlecht angegeben werden. Die in der Registrierung angegebenen Daten erscheinen als Angaben des Autors, wenn die Person einen Beitrag gepostet hat und sind für jeden Leser bzw. Besucher des Forums sichtbar. Das Lesen der Diskussionsbeiträge ist ohne Registrierung möglich. Technisch gesehen stellt “Debate Europe” nach Mayer-Uellner (Mayer-Uellner 2003) ein Web-Diskussionsforum dar und ist nach Döring (Döring 1999) einer virtuellen Gemeinschaft im Rahmen einer Versammlungsöffentlichkeit zuzuordnen. Bevor in einer abschließenden Diskussion dargestellt werden kann, ob “Debate Europe” zur Entstehung einer kollektiven europäischen Identität beitragen kann, muss untersucht werden, in welcher Art und Weise das Forum genutzt wird. Deshalb soll im Folgenden eine Auswertung in Bezug auf Häufigkeit und Intensität der Nutzung des Diskussionsforums erfolgen. Die zur Auswertung verwendeten Daten wurden von der GD Kommunikation zur Verfügung gestellt. Im Mittelpunkt der Analyse stehen eine graphische Darstellung der Anzahl der Besucher sowie eine Übersicht zur sprachlichen Herkunft der Diskussionsbeiträge. 4.2.2 Auswertung der Zugriffs- und Beteiligungshäufigkeit Der Auswertungszeitraum ist von März 2006 bis Juni 2007 begrenzt, da nur für diesen Zeitraum die Daten zur Verfügung standen. In diesem Zeitraum waren insgesamt 1.276.690 Besucher auf der Seite. Wie der Abbildung 1 entnommen werden kann, ist in den ersten vier Monaten nach Einführung ein starker Zugriff auf “Debate Europe” zu verzeichnen. Ab August 2006 ging die Zahl der Seitenaufrufe rapide zurück und lag durchschnittlich nur noch bei rund 29.000 pro Monat. Die anfänglich hohen Zugriffszahlen sind mit der für die Einführung dieses Forums betriebenen Öffentlichkeitsarbeit der GD Kommunikation zu erklären. So wurde sowohl in Plan D und im Weißbuch auf die Einführung des Online-Diskussionsforums hingewiesen und am 27. März 2006 eine Pressemitteilung zur Einführung veröffentlicht. Mediale Inszenierung europäischer Identität 439 Abb. 1: “Debate Europe” Seitenaufrufe (eigene Darstellung) Abb. 2: Anzahl der Beiträge nach Sprache (eigene Darstellung) Die folgende Grafik gibt einen Überblick über die Anzahl der in der jeweiligen Sprache angegebenen Diskussionsbeiträge. Die Anzahl der Forumsbeiträge beläuft sich auf insgesamt 31.416 Beiträge in 23 (möglichen) Sprachen. Als Ergebnis lässt sich feststellen, dass zwei Drittel (66,3%) aller Beiträge im Forum in englischer Sprache verfasst sind, gefolgt von Diskussionsbeiträgen in französischer Sprache (17,5%) und nur noch 6,4% in deutscher Sprache. Die wenigsten Diskussionsbeiträge (siehe Abbildung unten) sind in estnischer (15 Beiträge), maltesischer (13) und bulgarischer Sprache (8) zu verzeichnen. Insgesamt kann festgestellt Christian Matzke 440 werden, dass die Diskussion zu rund 90% in den drei Hauptsprachen Englisch, Französisch und Deutsch stattfindet, wobei der englischen Sprache eine dominierende Stellung zukommt. Lediglich 10% der Diskussion finden in einer der übrigen 20 Sprachen statt. Sprache Anzahl der Beiträge Sprache Anzahl der Beiträge English 20.841 Suomi 61 Français 5.511 Slovenèina 54 Deutsch 2.007 Slovenšèina 43 Espanol 665 Magyar 40 Catalàn 444 Romana 40 Italiano 507 Dansk 26 Nederlands 271 Latviešu Valoda 21 Svenska 254 Lietuvi Kalba 19 Português 224 Eesti Keel 15 167 Malti 13 Polski 118 Bulgarian 8 eština 67 Gesamt: 31.416 Laut Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom Juli 2006 wird das Forum von Menschen aus ganz Europa und aus anderen Teilen der Welt genutzt. 90% der Teilnehmer sind männlich und gehören der Altersgruppe von 18 bis 44 Jahren an. 4 4.3 Unzulänglichkeiten europäischer Identitätsbildung durch “Debate Europe” Das kulturelle Gedächtnis mit seinem festen Bestand an Inhalten und Sinnstiftungen sowie gemeinsamer Erinnerung gilt als Grundlage für kollektive Identitätsbildung. Über die Erinnerung an ihre Geschichte und Vergegenwärtigung dieser vergewissert sich eine Gruppe ihrer kollektiven Identität. Kollektive Identität ist nach Assmann nur durch die Identifizierung mit einer Gruppe und aufgrund einheitlicher Bezugspunkte möglich (vgl. Assmann 2002). Für die Entstehung kollektiver Identität nennt Assmann drei Faktoren. Erstens die Bewusstwerdung gemeinsamer Kultur, zweitens die Sprache (Interaktion gemeinsamer Erinnerung und gemeinsamen Wissens) und drittens Riten. Ein weiteres Merkmal zur Herausbildung kollektiver Identität ist der Faktor der Abgrenzung. Durch Abgrenzung einer Gruppe gegenüber einer anderen ist eine Vergewisserung der eigenen kollektiven Identität möglich. Die Diskussion im Forum “Debate Europe” ist thematisch auf die zukünftige Ausrichtung bzw. Gestalt Europas angelegt, aufgrund derer eine gemeinsame europäische Identität gefördert werden soll. Doch eine auf zukünftige Vorstellungen bzw. Visionen aufbauende kollektive Identität kann nicht hergestellt werden, ohne dabei auf gemeinsame Erfahrungen, konkret im Sinne von Assmann auf eine gemeinsame Erinnerung als Basis, zurückzugreifen. Um dies zu gewährleisten wäre es unumgänglich, neben einer Diskussion zur Zukunft Europas auch eine Diskussion zu den gemeinsamen Wurzeln, d. h. einer gemeinsam erlebten Mediale Inszenierung europäischer Identität 441 Erinnerung als Basis für die zukünftige Gestaltung der Europäischen Union zu realisieren. Die EU-Bürger müssen ein Bewusstsein für ihre gemeinsame Kultur entwickeln, aufgrund dessen sie eine kollektive Identität ausbilden können. Allein durch eine Diskussion über die Zukunft der EU kann keine kollektive Identität inszeniert/ hervorgerufen werden. Die Diskussion in “Debate Europe” sollte, um auch nur ansatzweise zur Herausbildung einer europäischen Identität beizutragen, eine gemeinsame “Erinnerungskultur” thematisieren sowie gemeinsame europäische Geschichte und Erinnerungsorte beinhalten. Einen weiteren Aspekt stellt die Ritualisierung gemeinsamer Erinnerung zur Festigung kollektiver Identität dar. Riten geben den Gruppenmitgliedern Anteil am identitätsrelevanten Wissen. Jedoch ist eine Beteiligung an einem Online-Diskussionsforum nicht als ritualisierende Handlung in Bezug auf eine gemeinsame Erinnerung anzusehen. Auch der Faktor der Abgrenzung kann durch eine Diskussion über eine gemeinsame zukünftige Gestaltung der EU nicht greifen. Das Forum soll eine gemeinsame Diskussion hervorrufen, jedoch keine Abgrenzung gegenüber Anderen. Entscheidenden Einfluss auf die Interaktion gemeinsamer Erinnerung und gemeinsamen Wissens zur Entstehung kollektiver Identität kommt dem Faktor Sprache zugute. Aufgrund der Sprachenvielfalt in der EU kann keine gemeinsame Sprache beim Online-Diskussionsforum als Basis genutzt werden. Deshalb findet die Diskussion in “Debate Europe” in den 22 EU-Amtssprachen sowie in Katalanisch statt. Wie die Auswertung von “Debate Europe” ergab, findet die Diskussion in erster Linie in englischer, französischer und deutscher Sprache statt. So werden von vornherein Personen ohne diese Sprachkenntnisse von einer gemeinsamen Diskussion ausgeschlossen. Durch die Teilnahme in der jeweiligen Landessprache kann jedoch kein gemeinsamer interkultureller Austausch stattfinden, da in dem Fall überwiegend nur mit der eigenen Bevölkerung diskutiert wird. Eine verbindende Kommunikation kann deshalb nicht stattfinden. So kann durch die auf “Debate Europe” in unterschiedlichen Sprachen stattfindende Diskussion keine gemeinsame europäische Identität entstehen. Es kann festgehalten werden, dass die von Assmann genannten Kriterien, die zur Herausbildung kollektiver Identität unentbehrlich sind, durch das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” nicht erfüllt werden. Auch die mediale Form des Online-Diskussionsforums allgemein stellt kein adäquates Medium zur Konstruktion einer kollektiven Identität dar. Bei einem Online-Diskussionsforum ist der Begriff Öffentlichkeit nur im Rahmen einer Versammlungsöffentlichkeit anzusehen. Von einer massenmedialen Öffentlichkeit kann nur im World Wide Web gesprochen werden. Dies belegen auch die Nutzerzahlen der Auswertung. Legt man die 495 Millionen EU-Bürger als Basis, kann bei einer Besucherzahl von insgesamt rund 1,3 Mio. nicht von einer massenmedialen Öffentlichkeit ausgegangen werden. Demzufolge kann durch die geringe Anzahl der Teilnehmer am Forum auch keine kollektive Identität für Europa, sondern wenn überhaupt nur für die Nutzer bzw. Besucher des Forums entstehen. In diesem Zusammenhang weist Elisabeth Klaus darauf hin, dass die EU die Wirkung der Medien überschätzt. So stelle die medienpolitische Strategie der EU-Kommission, eine europäische Identität mittels der Förderung europäischer Sender und Programme zu schaffen eine Anwendung medienbezogener Öffentlichkeitstheorien dar, in denen Massenmedien als zentrale Agenten der Formierung von Öffentlichkeit angesehen werden. Medien werden darin nicht als Vermittler, sondern vor allem als eigenständige und autonome Konstrukteure von Identitätsräumen gesehen. Die Konstruktion der Medien ist aber nur dann erfolgreich, wenn sie sich auf bestehende Diskurse stützen (vgl. Klaus 2006: 102 f). Gerade dies ist bei “Debate Europe” jedoch nicht der Fall. Auch Saxer sieht die Möglichkeit der Konstruktion kollektiver Identität durch Medien kritisch. So wecken die Befunde der Medienwirkungsforschung Zweifel an den Möglichkeiten, “durch Medienkampagnen kulturelle Christian Matzke 442 Identität in größerem Stil in einem gewünschten Sinn zu beeinflussen.” (Saxer 1999: 116) Die Möglichkeiten von Medienkommunikation, gezielt kulturelle Identität zu beeinflussen, sind nach Saxer als gering einzuschätzen. Bei den Informationsquellen, die die EU-Bevölkerung zur Information über die Europäische Union nutzt, steht immer noch das Fernsehen mit 63% an erster Stelle, gefolgt von den Tageszeitungen mit 41%. Das Internet als Informationsmedium steht erst an dritter Stelle. So nutzen lediglich 28% der EU-Bevölkerung das Internet, um sich über die Politik und die Institutionen der EU zu informieren. 5 Hinzu kommt, dass das Internet als Informationsquelle in den EU-Ländern unterschiedlich stark genutzt wird. Während rund die Hälfte der Niederländer (53%), Dänen (47%), Esten (47%), Finnen (45%) und Schweden (43%) das Internet als Informationsquelle über die EU nutzen, suchen nur 12% der Griechen und 14% der Italiener im Netz nach EU-Informationen. Auch die fehlenden Zugangsmöglichkeiten in manchen EU- Ländern sind als Hinderungsgrund für die Entstehung anzusehen. Damit durch das Internet und speziell “Debate Europe” eine europäische Identität und eine europäische Kommunikationsgemeinschaft entstehen kann, müssen verschiedene Gruppen miteinander kommunizieren. Die Verbreitung von Online-Anschlüssen variiert zwischen den einzelnen europäischen Ländern jedoch erheblich, sodass von einem tatsächlich massenhaft genutzten Medium (noch) nicht gesprochen werden kann. Im Jahr 2007 wurde der höchste Anteil der Haushalte mit Internetzugang in den Niederlanden (83%) ermittelt, gefolgt von Schweden (79%) und Dänemark (78%). Die niedrigsten Anteile verzeichnen Bulgarien (19%), Rumänien (22%) und Griechenland (25%). 6 So besteht bedingt durch die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zum Internet in den einzelnen EU-Ländern in dem Online-Forum “Debate Europe” eine Vorauswahl an Teilnehmern. Die Aussagen über die Art der Tätigkeiten, die im Internet durchgeführt werden, sind für diese Untersuchung von besonderer Relevanz. Die Angaben über die Art der Internetnutzung differieren stark. Während 57% der Personen in den 27 EU-Ländern angegeben haben, eine Suchmaschine genutzt zu haben und immerhin noch 50% eine E-Mail versendet haben, nutzen lediglich nur knapp ein Viertel (24%) das Internet, um sich an Chat-Rooms, Newsgroups oder Online-Diskussionen zu beteiligen (vgl.: ebd.). Auch zum Nutzertyp lassen sich Aussagen treffen. So nutzen 79% der männlichen und 77% der weiblichen EU-Bevölkerung im Alter zwischen 16 und 24 Jahren mindestens einmal in der Woche das Internet. Mit steigendem Alter nimmt die Internetnutzung ab. In der Altersspanne von 25 bis 54 Jahren nutzen noch 61% bzw. 55% einmal wöchentlich das Internet, während in der Altersgruppe zwischen 55 und 74 Jahren die Nutzung auf 31% bei den Männern und 19% bei Frauen absinkt (vgl.: ebd.). Zusätzlich weisen Kraus und Bucher darauf hin, dass das Medium Internet vornehmlich von höher gebildeten Bevölkerungsschichten benutzt wird (vgl. Kraus 2004: 185 sowie Bucher 2002: 503). Globale Kommunikationsmöglichkeiten besitzen also gerade diejenigen, die auch bislang über die bessere Kommunikationsausstattung verfügt haben. Dabei ist die Teilnahme in erster Linie durch persönliche Motive bedingt. Der entscheidende Aspekt für die Unzulänglichkeit des Internets zur Konstruktion kollektiver (europäischer) Identität ist in der Anonymität dieses Mediums zu sehen, denn durch die Anonymität im Internet ist keine kollektive Identitätsbildung möglich. Dies trifft auch für “Debate Europe” zu. Zwar ist für die Teilnahme am Forum eine Registrierung notwendig, diese lässt sich allerdings durch falsche bzw. manipulierte Angaben übergehen. Eine europäische Identität durch anonymisierte Kommunikation zu inszenieren, ist nicht realisierbar. Wie gezeigt werden konnte, ist es durch das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” nicht möglich, eine europäische Identität zu konstruieren. Als Hauptgründe können die Mediale Inszenierung europäischer Identität 443 falsche thematische Ausrichtung in Bezug auf das Fehlen eines gemeinsamen Erinnerungsdiskurses, die fehlende massenmediale Öffentlichkeit, bedingt durch die Wahl des Online- Forums als solches und die geringen Zugriffszahlen sowie die durch die fehlende gemeinsame Sprache nicht stattfindende interkulturelle Kommunikation genannt werden. Als weiterer schwerwiegender Aspekt ist die Anonymität des Internets zu werten. Deshalb kann von einer Inszenierung europäischer Identität durch das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” aus den o. g. Gründen nicht ausgegangen werden. 5 Fazit Die Entstehung kollektiver Identität ist an verschiedene Elemente und Voraussetzungen gebunden. Nach Assmann sind dafür eine gemeinsame Erinnerung, gemeinsame historische Erfahrungen und eine gemeinsame Kultur zwingend notwendig. In der Erinnerung an ihre Geschichte und in der Vergegenwärtigung der fundierenden Erinnerungsfiguren vergewissert sich eine Gruppe ihrer Identität. Durch kollektivierende Maßnahmen wie z. B. (Gruppen-)Kommunikation, Riten und Symbole muss diese Erinnerung den Gruppenmitgliedern bewusst und erfahrbar gemacht werden. Für die Inszenierung europäischer Identität ergeben sich daraus mehrere Probleme. Ein wesentliches Problem ist in der Tatsache zu sehen, dass es bisher nicht möglich ist, eine grundsätzliche Aussage zu treffen, was eine europäische Identität auszeichnet. Wie hier gezeigt, ist es bisher weder der EU, noch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gelungen, eine konkrete Definition einer europäischen Identität zu geben. Es können eine Vielzahl verschiedener Ansätze und unterschiedlicher Auffassungen unterschieden werden, wie eine europäische Identität zu realisieren ist. So wird versucht, durch den Bezug auf Vergangenheit, Herkunft, über Symbole oder aufgrund gemeinsamer Werte und Kultur eine kulturelle europäische Identität Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Versuche waren jedoch nicht erfolgreich. Als Ursachen fehlender europäischer Identität werden u. a. die fehlende räumliche Bestimmtheit der EU und eine fehlende gemeinsame historische Erfahrung genannt. Für die Ausbildung europäischer Identität kommt erschwerend hinzu, dass sie zusätzlich zu den bestehenden nationalen Identitäten ausgebildet werden muss. Des Weiteren besteht auch Unklarheit darüber, ob europäische Identität als Ursache oder Folge einer europäischen Öffentlichkeit anzusehen ist. Eine europäische Öffentlichkeit ist bisher nur in Ansätzen auszumachen. Öffentlichkeit wird heute in erster Linie über Massenmedien hergestellt. Auch die derzeitige Kommunikationsstrategie der Europäischen Kommission setzt auf dieses Potential. Dabei räumt sie der Internetkommunikation einen hohen Stellenwert ein. In diesem Zusammenhang ist auch der Versuch der Europäischen Kommission zu werten, eine europäische Identität durch das Online-Diskussionsforum “Debate Europe” zu “inszenieren”. Wie oben gezeigt, kann aufgrund der medienspezifischen Eigenschaften eines Online-Diskussionsforums allein keine massenmediale Öffentlichkeit erreicht werden. Um eine kollektive europäische Identität zu fördern ist diese jedoch erforderlich. In “Debate Europe” wird allerdings nur eine Teil-Öffentlichkeit im Sinne einer Versammlungsöffentlichkeit angesprochen. Des Weiteren kann durch die inhaltlich-thematische Ausrichtung des Forums auf die zukünftige Gestalt der EU kein gemeinsamer Erinnerungsdiskurs hervorgerufen werden. Stattdessen wäre für die Ausbildung einer kollektiven europäischen Identität eine Diskussion über gemeinsame historische Grundlagen und Erinnerungsorte notwendig. In diesem Zusammenhang ist auch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache und die unterschied- Christian Matzke 444 lichen Zugangsvoraussetzungen des Internets als Problem für eine gemeinsame europäische Identität nicht zu unterschätzen. Als entscheidender Faktor, der der Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität durch “Debate Europe” entgegensteht, ist die Anonymität des Forums bzw. des Internets allgemein zu werten. Durch Anonymität kann keine kollektive Identität inszeniert werden. Als Ergebnis kann festgestellt werden, dass eine Inszenierung europäischer Identität durch das Internet nicht möglich ist. Doch welche Möglichkeiten können stattdessen zur Herausbildung einer europäischer Identität führen? Die wichtigste Informationsquelle in der EU stellen die Massenmedien, konkret das Fernsehen dar. Als problematisch erweist sich für die EU der Aspekt, dass es keine europaweiten Massenmedien gibt. Die Medienlandschaft in der EU ist in erster Linie durch nationale Strukturen geprägt. Für Themen, die von den nationalen Medien nicht in ausreichendem Umfang abgedeckt werden besteht nur eine geringe Hoffnung, dass alternative Informationskanäle diese Lücke schließen können. Das Internet steht als Informationsquelle über die EU erst an dritter Stelle. Hingegen informieren sich knapp zwei Drittel aller EU-Bürger zu EU- Themen über das Fernsehen, welches somit die ultimative Informationsquelle darstellt. Darin liegt meiner Meinung nach ein großes Potential, das es zu nutzen gilt. Wie die Umfragen der GD Kommunikation ergaben, besteht auch in der EU-Bevölkerung ein großes Interesse an einem europäischen Fernsehsender. 7 Drei Viertel der Europäer meinen, dass sie “Europathemen” in ihrer Landessprache sehen würden. Die Unterschiede innerhalb der Europäischen Union sind hier nicht wesentlich, wobei ein reines Nachrichtenfernsehen jedoch in keinem Land bevorzugt wird. Hingegen vertritt die Bevölkerung in der Mehrheit der Länder die Variante eines Fernsehkanals, der zusätzlich zu Nachrichten und Dokumentationen Kultursendungen anbietet. Die EU sollte deshalb ihr Hauptaugenmerk verstärkt auf den Ausbau eines paneuropäischen Fernsehsenders legen. Nur mit dem Medium Fernsehen ist es möglich, eine gesamteuropäische Öffentlichkeit zu erreichen, die für die Ausbildung einer kollektiven europäischen Identität notwendig ist. Eine weitere Möglichkeit liegt meiner Ansicht nach darin, die von den Medien bereitgestellten Informationen über die EU insgesamt zu erhöhen. Denn beinahe zwei Drittel der europäischen Bürger sind der Ansicht, dass die durch die nationalen Medien über EU-Angelegenheiten bereitgestellten Informationen nicht umfangreich genug sind. Von den Europäern wird der klare Wunsch geäußert, besser mit Informationen über die Union versorgt zu werden. Lediglich ein Viertel der europäischen Bürger sind der Meinung, dass Informationen im benötigten Ausmaß bereitgestellt werden. 8 Literatur Assmann, J. 4 2002: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und Politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck. Bieber, C. 2001: “Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit”. In: Medien & Kommunikationswissenschaft. Baden-Baden. Bd. 49 (2001), 4, S. 554-556. Bucher, H.-J. 2002: “Internet und globale Kommunikation. Ansätze eines Strukturwandels der Öffentlichkeit? ”. In: Hepp, A. (Hg.) 2002: Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation. Konstanz: UVK, S. 500-530. Donges, P. 2000: “Technische Möglichkeiten und soziale Schranken elektronischer Öffentlichkeit”. In: Jarren, O. & Imhof, K. & Blum, R. (Hg.) 2000: Zerfall der Öffentlichkeit? Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. [Mediensymposium Luzern 6], S. 255-265. Donges, P. & Jarren, O. 1999: “Politische Öffentlichkeit durch Netzkommunikation? ” In: Kamps, K. (Hg.) 1999: Elektronische Demokratie? Perspektive politischer Partizipation. Opladen [u. a.]: Westdeutscher Verlag, S. 85-108. Mediale Inszenierung europäischer Identität 445 Eder, K. & Kantner, C. 2000: “Transnationale Resonanzstrukturen in Europa. Eine Kritik der Rede vom Öffentlichkeitsdefizit”. In: Bach, M. (Hg.) 2000: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 306-331. Gerhards, J. 2002: “Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien”. In: Kaelble, H. & Kirsch, M. & Schmidt-Gernig, A. (Hg.) 2002: Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt/ M.: Campus, S. 135-158. Gerhards, J. 2000: “Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit”. In: Bach, M. (Hg.) 2000: Transnationale Integrationsprozesse in Europa. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen, S. 277-305. Gerhards, J. & Neidhardt, F. 1991: “Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze”. In: Müller-Doohm, S. & Neumann-Braun, K. (Hg) 1991: Öffentlichkeit. Kultur. Massenkommunikation. Oldenburg: BIS-Verlag, S. 31-89. Hoesch, K. 2003: Kontinuität und Wandel in der Kommunikationsstrategie der EU-Kommission. Osnabrück: Der Andere Verlag. Holtz-Bacha, C. 2006: Medienpolitik für Europa. Wiesbaden: VS Verlag. Kaelble, H. & Kirsch, M. & Schmidt-Gernig, A. 2002: Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Campus. Kantner, C. 2004: Kein modernes Babel. 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Wiesbaden: VS-Verlag, S. 62-92. Saxer, U. 1999: “Kulturelle Identitätsmuster und Medienkommunikation”. In: Viehoff, R. & Segers, R. T. (Hg.) 1999: Kultur Identität Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 98-119. Trenz, H.-J. 2003: “Auf der Suche nach einer europäischen Öffentlichkeit”. In: Klein, A. et al. (Hg.) 2003: Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa. Opladen. Leske + Budrich, S. 161-168. Trenz, H.-J. 2000: “Korruption und politischer Skandal in der EU. Auf dem Weg zu einer politischen Öffentlichkeit”. In: Bach, M. (Hg.) 2000: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 332-359. Van den Steeg, M. 2003: “Bedingungen für die Entstehung von Öffentlichkeit in der EU”. In: Klein, A. et al. (Hg.) 2003: Bürgerschaft, Öffentlichkeit und Demokratie in Europa. Opladen: Leske + Budrich, S. 169-190. Walkenhorst, H. 1999: Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität. Zur politikwissenschaftlichen Bedeutung eines sozialpsychologischen Konzepts. Baden-Baden: Nomos. Christian Matzke 446 Internetquellen Europäische Kommission: “Eurobarometer. Public Opinion”. URL: http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ archives/ eb/ eb67/ eb67_de.pdf [6.11.2010]. Europäische Kommission: “Eurobarometer. Public Opinion”. URL http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ flash/ fl_189a_ de.pdf [6.11.2010]. EUROPA: “Debate Europe! The Future of Europe Internet forum has reached one million hits”. URL: http: / / europa. eu/ rapid/ pressReleasesAction.do? reference=IP/ 06/ 989&format=HTML&aged=1&language= EN&guiLanguage=de [6.11.2010]. Eurostat: “Internet-Nutzung in 2007 Haushalte und Einzelpersonen”. URL: http: / / epp.eurostat.ec.europa.eu/ cache/ ITY_OFFPUB/ KS-QA-07-023/ DE/ KS-QA-07-023-DE.PDF [6.11.2010]. Anmerkungen 1 Trenz hingegen unterscheidet drei Erscheinungsformen europäischer Öffentlichkeit. Er differenziert zwischen einer elitären, einer funktionalen und einer medialen Öffentlichkeit (vgl. hierzu: Trenz 2003). 2 Eines der ehrgeizigsten Projekte war Europa TV, das von der EBU (European Broadcasting Union) unter der Beteiligung der Niederlande (NOS), der Bundesrepublik (ARD), Italiens (RAI), Irlands (RTE) und Portugals (RTP) ins Leben gerufen wurde. Nach nur einem Jahr wurde das in den Sprachen der beteiligten Länder synchron ausgestrahlte Programm allerdings wieder eingestellt. Der europäische Nachrichtenkanal Euronews stellt einen weiteren ambitionierten Versuch dar, jedoch bisher ebenfalls nur mit sehr begrenztem Erfolg. 3 Das Grundrecht auf Transparenz und Information wurde in der “Charta der Grundrechte der Europäischen Union” verankert. So garantiert Artikel 42 das “Recht auf Zugang zu Dokumenten”. 4 Siehe hierzu Europa: “Debate Europe! The Future of Europe Internet forum has reached one million hits”. URL: http: / / europa.eu/ rapid/ pressReleasesAction.do? reference= IP/ 06/ 989&format=HTML&aged=1&language= EN&guiLanguage=de [04.11.2010]. 5 Siehe hierzu Europäische Kommission: “Eurobarometer 67. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union”. URL: http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ archives/ eb/ eb67/ eb67_de.pdf [04.11.2010]. 6 Siehe hierzu Eurostat: “Internet-Nutzung in 2007 Haushalte und Einzelpersonen”. URL: http: / / epp.eurostat.ec. europa.eu/ cache/ ITY_OFFPUB/ KS-QA-07-023/ DE/ KS-QA-07-023-DE.PDF [6.11.2010]. 7 Vgl. Europäische Kommission/ Generaldirektion Kommunikation 2006: “Flash-Eurobarometer Nr. 189a. EU- Kommunikationspolitik und die Bürger. Befragung der Bevölkerung”. URL: http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ flash/ fl_189a_de.pdf [6.11.2008]. 8 Vgl. Europäische Kommission/ Generaldirektion Kommunikation 2006: “Flash-Eurobarometer Nr. 189a. EU- Kommunikationspolitik und die Bürger. Befragung der Bevölkerung”. URL: http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ flash/ fl_189a_de.pdf [6.11.2008]. Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode - Ein Ausdruck der europäischen Identität? Isabelle Prchlik; Leuphana Universität Lüneburg In this article the western fashion will be understood from a cultural semiotic point of view - as a symbolic form in terms of Ernst Cassirer. The various scientific perspectives on fashion are defined as competitive models, but their conclusions can be used as aspects and important dimensions of signification of the symbolic form ‘fashion’. With the semiotic analysis the dimensions of signification in fashion - textile, clothes and fashion - can be described as sign relations. Together with other characteristics of the structure of fashion (like e. g. its dynamics) these relations can be described as determining layers of fashion as a symbolic form. By means of several examples ranging from avant-garde fashion to subcultural fashion and designer fashion as well as street wear, the principle of collage, as a characteristic of structure of the current European identity, is explained as the specific symbolic code of fashion. The study argues how fashion as a material objectification of the present, forms and creates a characteristic of structure of the current era. 1 Einleitung In diesem Beitrag wird die westliche Kleidermode aus kultursemiotischer Perspektive als symbolische Form nach Ernst Cassirers verstanden. Die verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven auf Mode werden nicht als konkurrierende Modelle begriffen, sondern ihre Erkenntnisse werden als Teilaspekte und entscheidende Bedeutungsdimensionen von Mode als symbolische Form verstanden. Durch die semiotische Analyse lassen sich die Ebenen Textil, Kleidung und Mode als Zeichenrelationen erklären, die zusammen mit weiteren Strukturmerkmalen des Symbolsystems Mode - wie beispielsweise ihre Dynamiken - als entscheidende Ebenen der Formation von Mode als symbolische Form verstanden werden. Anhand vieler Beispiele, von Avantgardeüber Subkultur- und Designer-Mode bis hin zur Street-Wear, wird das Collage-Prinzip als aktuelles Strukturmerkmal der europäischen Identität in der symbolischen Form Mode nachgewiesen. So wird gezeigt, wie Mode als materielle Objektivation der Gegenwart ein Strukturmerkmal des aktuellen Identitätsbegriffs und damit der gegenwärtigen Epoche formiert und aktiv an ihrer Gestaltung beteiligt ist. K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 33 (2010) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Isabelle Prchlik 448 2 Mode als symbolische Form “Unter symbolische Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.” (Cassirer 1959: 17) Mode ist in den verschiedensten Sphären des Lebens allgegenwärtig. Besonders die Kleidermode 1 stellt in Europa und der westlichen Welt ein ständig präsentes kulturelles und gesellschaftliches Totalphänomen dar. So wird sie in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen anhand bestimmter Eigenschaften erforscht. Durch Untersuchungen aus der Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Ethnologie, Wirtschaftstheorie, Kulturgeschichte und Kulturphilosophie, Kommunikationstheorie, ästhetischen Theorie, Semiotik 2 und auch in der Folge des interdisziplinären Forschungsansatzes der Modetheorie 3 , wird Mode zu einem wissenschaftlichen Grenzthema. In diesem Beitrag wird die westliche Kleidermode aus kultursemiotischer Perspektive als symbolische Form nach Ernst Cassirer bestimmt. So werden die oben genannten wissenschaftlichen Perspektiven nicht als konkurrierende Modelle begriffen, sondern Ihre Erkenntnisse als Teilaspekte und entscheidende Bedeutungsdimensionen von Mode als symbolische Form verstanden. Durch die semiotische Analyse lassen sich die Ebenen Textil, Kleidung und Mode als Zeichenrelationen erklären. Diese werden zusammen mit weiteren Teilaspekten des Gesamtphänomens Mode - wie beispielsweise ihren Dynamiken - als entscheidende Ebenen der Formation von Mode als symbolische Form erkennbar. Mode wird meist als augenblicklicher Zeitgeschmack oder als Normengefüge, das von bestimmten Personen oder Personengruppen für eine kurze Zeitdauer als solches akzeptiert und beibehalten wird, verstanden (vgl. hierzu Keppler 1995: 393; Sommer & Wind 1988: 101; Bleckwenn 1981). So definiert auch der Duden “Mode 1. a) Brauch, Sitte zu einem bestimmten Zeitpunkt; b) Tages-, Zeitgeschmack. 2. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt bevorzugte Art, sich zu kleiden od. zu frisieren. 3. (meist Plural) dem herrschenden Zeitgeschmack entsprechende od. ihn bestimmende Kleidung” (Duden Das Fremdwörterbuch 2001: 642) und “als zeitgemäß geltende Art, sich zu kleiden; etwas, was dem gerade herrschenden Geschmack entspricht.” (Duden Rechtschreibung 1996: 499) Dieses Verständnis von Mode entspricht dem Begriff “modern”, der sich vom lateinischen “modo” (eben jetzt, gegenwärtig) ableitet, was im Alltagsverständnis oft mit “modisch” gleichgesetzt wird. Es stimmt mit dem französischen “la mode” und dem italienischen “la moda” im Sinne von Sitte, Tages- und Zeitgeschmack, Trend und Gewohnheit oder “der gewöhnlichen und gebräuchlichen manier” (Grimm & Grimm 1885: 2436) überein. Die Beschränkung auf dieses Verständnis von Mode würde dazu führen, Mode auf ein Beispiel für dauerhaften Wandel zu reduzieren (vgl. Loschek 2007: 11, 159 f.; Sommer & Wind 1988: 101). Der lateinische Wortstamm “modus” (Art und Weise, Form) von dem sich das französische “le mode” und das italienische “il modo” ableiten, verweist dagegen auf den Begriff Form und das Verständnis von Mode als Gestaltungsprinzip sowie auf das Formieren als kreative Tätigkeit. 4 Diese kreative Tätigkeit als menschliche Gestaltungskraft ist bei Cassirer zusammen mit der Zeichenfunktion die wichtigste Funktion von Symbolen, wenn es um Formierung von Kultur durch Neuartikulation von Bedeutung geht. Hier zeigt sich die etymologische Nähe des Begriffs “modus” zu Cassirers Begriff “symbolische Formen”, die als Modi der Wirklichkeitskonstruktion sowie Ausformungen geistiger Energien und semioti- Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 449 scher Objektivierung (Zeichen), nicht als starre Gebilde, sondern als Funktionen verstanden werden. Die Kultursemiotik nach Umberto Eco und Jurij M. Lotman geht aufbauend auf die Zeichentheorie nach Charles S. Peirce von dem dynamischen Charakter der Zeichensysteme aus. Vor diesem theoretischen Hintergrund werden die Moden als das Gegenwärtige, als eine Form der Dynamik verstanden und sind somit ein Teilaspekt der symbolischen Form Mode. 5 Der Gegenwartsbezug darf deshalb nicht nur auf ein “gerade modisch” im Sinne von “momentan im Trend sein” reduziert werden, denn Mode ist im Sinne der Kultursemiotik ein komplexes Symbolsystem, das als materielle Objektivation der Gegenwart lesbar ist und somit als Seismograf kultureller Prozesse und Identitäten verstanden werden kann. Besonders die Kultursemiotik, die Cassirers Begriff “symbolische Form” konkretisiert, indem sie ihn auf der Ebene der Zeichensysteme ausarbeitet, und mit Hilfe der präzisen Erklärung von Zeichenprozessen, Dynamiken und innovativen Momenten für dynamische Systeme (wie die Mode) anwendbar macht, stellt dazu eine geeignete Methode dar. 2.1 Zeichen- und Medialitätscharakter von Mode “Clothes are, after all, what links the biological and physical body to the social world, between the self and the ‘not self’ or Other. The clothes we wear are never purely functional in that they also communicate on a symbolic and aesthetic level (however ambiguous) about the self.” (Grove-White 2001: 195) Kleidermode hat wie kein anderes Artefakt mit Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern zu tun (vgl. Mentges 2005: 150). Kulturelle Identitätsbildung findet im Sinne Cassirers durch Symbole statt und Identität ist dabei kein statischer Ist-Zustand, sondern ein auf Bedeutung(en) beruhender Prozess, der sich durch Interaktion und Kommunikation aufbaut und verändert. Demgemäß ist auch die Bedeutung von Gegenständen nie naturgegeben, sondern wird vom Menschen im Interaktionsprozess geformt. Da es sich dabei um einen interaktiven Prozess handelt, ist Bedeutung stets veränderbar. Somit kann auch das mehrdimensionale Phänomen Mode als Kommunikation auf symbolischer beziehungsweise ästhetischer Ebene innerhalb einer Gesellschaft untersucht werden. Da Gesellschaft symbolisch strukturiert und somit abhängig von gesellschaftlicher Interpretation ist, ist es für eine erfolgreiche Kommunikation und Interaktion unabdingbar den Bedeutungsgehalt von Symbolen zu kennen und anzuwenden. So kann auch Mode erst durch Bewusstwerdung, Interpretation und Kommunikation semiotisch als ein Zeichensystem festgelegt werden und ihren sozialen Zweck erfüllen. Dazu braucht sie im Sinne der Kultursemiotik nach Eco stabilisierende Codierungen durch kulturelle Konventionen. Denn erst durch Zuordnung von Sinn kann ein Code zu einem Mittel der Kommunikation werden. Gleichzeitig ist der Code aufgrund seiner Bedingtheit durch gesellschaftliche Konvention Veränderungen ausgesetzt. Dadurch erhält er seinen dynamischen Charakter, der im Sinne des Peirceschen Verständnisses, dass Zeichen wachsen (vgl. Pierce 2004: 46), Wandel und damit Neuheiten und Innovationen ermöglicht. Der Code wird somit durch die Dialektik von Invarianz, die konservierend wirkt, und Innovation, die erneuernd und aktualisierend wirkt, bestimmt (vgl. Eco 1994: 20, 130 f.). Die europäische Kostümgeschichte belegt seit ihren Anfängen die Funktion der Kleidung als Zeichen und Kommunikationsmedium gesellschaftlicher Struktur und damit auch von Identität. Im Altertum gab es unterschiedliche Bekleidungsformen für Männer und Frauen Isabelle Prchlik 450 und der gesellschaftliche Rang wurde durch Schmuck und Kulttracht zum Ausdruck gebracht. In der römischen Antike spiegelte die strenge Bekleidungsordnung die gesellschaftliche Hierarchie wider (vgl. Binger 1996: 20; Black & Garland & Kennett 1983: 20). Besonders im Mittelalter war Kleidung als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sowie als Ausdruck gesellschaftlicher Stellung (Standeszeichen) von extrem hoher Relevanz (vgl. Sommer & Wind 1988: 31). Das verdeutlichen die Kleiderordnungen als rechtliche Verordnungen, die ab Mitte des 13. Jh.s den Zusammenhang von Gewändern und sozialen Strukturen in Mitteleuropa pedantisch regelten. Sie war das entscheidende Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und verwies so auf Stand, Religion, Alter, Geschlecht und politische Macht. “Ein enges Korsett aus Kleidungskonventionen umschloss die Gesellschaft.” (Keupp 2005: 68) Diese Konventionen verhinderten die Durchmischungen von gesellschaftlichen Gruppierungen, wie beispielsweise Religionsgemeinschaften. Beispiele dafür sind der spitze Judenhut und die anstößigen Gewänder von Prostituierten. Auf hoher politischer Ebene zeigte sich in der Kleidung Ehrenstellung und Ranganspruch der sozialen Führungselite und sie galt als “symbolisches” Synonym für Herrschaftswürde. Diese Autorität des Äußerlichen und die suggestive Wirkung der Kleidung durchzogen auch alle Ebenen des Alltagslebens. Versuchten Individuen, sich durch Kleidung einem höheren Stand anzugleichen, wurde dieses Vorgehen gesellschaftlich verachtet, da es als Störung der Regeln und Provokation an der bestehenden Weltordnung empfunden wurde. Der Bruch von Kleidernormen war ein Verstoß gegen Konvention und gesellschaftliche Ordnung, der mit Geldbußen bestraft wurde (vgl. Loschek 2007: 27; Keupp 2005: 68; Sommer & Wind 1988: 31 f.). “Die Autorität der Äußerlichkeiten erstreckte sich auf nahezu alle Lebensbereiche. Herbe Kritik und beißender Spott trafen jene, die sich in Kleidung und Montur einem höheren Stand anzugleichen suchten. Wohin sollte das führen? Doch nur zu einer verkehrten Welt, zur Auflösung jeglicher Ordnung und Moral auf Erden! ” (Keupp 2005: 68) Besonders aus Sicht der Kirche war das Überschreiten von Kleidergrenzen ein Zeichen für Selbstüberschätzung und somit ein verwerfliches inneres Laster (vgl. ebd.: 68 f.). Die Kleiderordnungen belegen somit auch, da sie als Eindämmungsversuche von Individualisierungstendenzen - und damit Innovationen 6 - in der Mode dienten, dass die Tendenz zum Modewandel spätestens seit dem Mittelalter bestand. Dabei war der Mechanismus des Angleichens niederer Schichten an höhere Stände, woraufhin letztere sich wieder abgrenzten, die erste aus sozialen Gründen entstandene Form des Modemechanismus, wie wir ihn heute in Europa kennen (vgl. Loschek 2007: 27, 29, 109; Sommer & Wind 1988: 32). Die Geschichte der Reformkleid-Bewegung, die Ende des 19. Jh.s begann, verdeutlicht exemplarisch die bisher angerissenen Eigenschaften der Mode: die Zeichenhaftigkeit von Kleidung, die Bedeutung von Kleidung in Bezug auf gesellschaftliche Normen und Regeln sowie den Mechanismus der Störung der bestehenden Ordnung, der bei erfolgreicher Umsetzung zu Wandel führt. Die Reformkleid-Bewegung, bei der die Frau gegen das Korsett und um die Hose kämpfte, gilt als Paradebeispiel für den Kampf der Frau um Emanzipation. Die Hose war ein zentrales Symbol männlicher Macht und ein die Herrschaftsordnung beispielhaft repräsentierendes Kleidungsstück (vgl. Keupp 2005: 68; Sykora 1994: 30). Im Laufe der Reformkleid-Bewegung wurde die Hose zu einem Kleidungsstück für beide Geschlechter und hat somit ihre vorherige Bedeutung geändert. Das Beispiel zeigt wie im Sinne der Semiotik in einem interaktiven Prozess neue Bedeutung entsteht und über ein Symbol kommuniziert wird. Darüber hinaus wird auch deutlich, wie Modegeschichte als Spiegel von Gesellschafts- Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 451 geschichte und Zeitgeist funktioniert. Denn bei der Mode geht es nicht nur um die Form der Kleidung allein, sondern auch um inhaltliche 7 Faktoren, die über die Kleidung ausgedrückt werden und, wie bei diesem Beispiel die Emanzipation der Frau, von zeitgeschichtlicher Relevanz sein können. “Fashion is rarely ‘set’, however; more often it develops, with strong reactions between one generation and the next.” (Black & Garland & Kennett 1983: 9) Mode ist daher auch immer Produkt von gesellschaftlicher Entwicklung und braucht den Zeitgeist um sich durchzusetzen. Die europäische Geschichte belegt somit die identitätsbildende Zeichenfunktion der Kleidung mit ihrem Bezug zu gesellschaftlichen Strukturen und Normen und zwei weiteren wichtigen Komponenten der Mode: Zum einen die Abweichung von der Norm mit daraus resultierendem Wandel, der die Neuartikulation von Bedeutung ermöglicht; zum anderen die Kategorie des gesellschaftlichen Zeitgeistes, als notwendiger Kontext aus und in dem jede Form der Veränderung erst möglich ist. Denn um das Neue innovative Realität werden zu lassen, bedarf es der gesellschaftlichen Zustimmung der Individuen. Im Folgenden werden diese Merkmale von Mode kultursemiotisch analysiert. 2.2 Die Strukturmerkmale von Mode und Ihre Funktionen in der Kultur “Denn der reflexive Prozeß des Begreifens ist seiner Richtung nach dem produktiven Prozeß entgegengesetzt; beide können nicht zugleich mit einander vollzogen werden. Die Kultur schafft in einem ununterbrochenen Strom ständig neue sprachliche, künstlerische, religiöse Symbole. Die Wissenschaft und die Philosophie aber muß diese Symbolsprache in ihre Elemente zerlegen, um sie sich verständlich zu machen. Sie muss das synthetisch erzeugte analytisch behandeln. So herrscht hier ein beständiger Fluß und Rückfluß. Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck, ‘Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können’; die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln, - um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervor gegangen sind, wieder sichtbar zu machen.” (Cassirer 1942: 95) Als Ausformungen der geistigen Fähigkeiten des Menschen, dem Denken, 8 sind die symbolischen Formen nach Cassirer materielle Objektivationen kultureller Intelligenz und funktionale Strukturierungen von Bedeutung. Symbolische Formen weisen dabei verschiedene Strukturmerkmale auf, die anhand ihrer Funktionen beschrieben werden können. So können die Elemente der Mode mit Hilfe der Semiotik in Analogie zur Systematik der Sprache als Zeichen und ihre Gesetze als Grammatiken sowie die Logik der Mode in ihrer Anwendung als Medium beschrieben werden. Als eine Spezifität der Mode als symbolische Form zeigt sich in ihrer Zeichenhaftigkeit eine Relationalität in Analogie zu den materiellen Schichten der symbolischen Form Mode mit ihren Formierungen durch den Menschen. Worin bestehen die entscheidenden Ebenen der Formation von Mode als symbolische Form? Die materielle Ebene der Mode ist der Stoff der Kleidung, das Textil. Dieses weist, je nach Materie, die ihm zu Grunde liegt, wie beispielsweise zu Stoff geformte Baumwolle, bereits eine Struktur und Form und damit auch eine Codierung auf. Beispielsweise wird festes Leder als robust, gewebte Seide hingegen als zart codiert. Das Textil stellt damit die Struktur der nächsten Bedeutungsebene, der Kleidung, dar. Die Kleidung weist als formierte Materie Züge, Strukturen und Codierungen auf, die als Zeichen lesbar sind. Indem der Träger das spezifische Vokabular und die Grammatik von Kleidung zur Kommunikation nutzt, verwendet er den Kleidungscode beispielsweise innerhalb von Konventionen wie bestimmten Isabelle Prchlik 452 Anlässen oder Tageszeiten. Diese Kleidersprache wird vom Träger als Zeichen und Medium zum Ausdruck und zur Kommunikation von Identität eingesetzt. So weist das Zeichen Kleidung aufgrund seiner Abbildfunktion im Sinne der Peirceschen Zeichenklassifikation primär ikonischen Charakter auf und hat modellbildende Funktion auf der Ebene der primären Codierung 9 im Sinne einer natürlichen Sprache. Dabei weist die Sprache der Kleidung - insofern es sich nicht um uniformierte Kleidung wie beispielsweise Trachten und damit starke Codierung handelt - aufgrund der zahlreichen konnotativen Überlagerungen einen schwachen Code auf. Ein Zeichen ist dabei nie ein Zeichen durch sich selbst, sondern wird immer erst in Bezug zu einem Subjekt, das es als solches wahrnimmt (Perzeption) und interpretiert, zu einem Zeichen. Das Denken ist dabei die fundamentalste Art des Symbolismus, denn erst wenn wahrgenommene Elemente (Gefühlsebene), mit Erfahrung in Verbindung gebracht werden, findet der Übergang zur Bedeutung statt (symbolische Referenz). So existiert auch das Artefakt Kleidung erst dann als Zeichen, wenn der aktiv denkende Interpret es als solches wahrnimmt und auf Grundlage seiner Erfahrung, die er durch seine Fähigkeit zu lernen und Wissen zu speichern erlangt hat, Bedeutung zuschreibt. Weiterhin bestimmen die Beziehung zu anderen Formen und der Kontext, der Interpretationsrichtungen vorgibt, die Bedeutungszuschreibung. Kleidungsstück, Träger, Interpret und Kontext stehen demnach in dem nicht zu trennenden Zusammenhang der Semiose nach Peirce. 10 So steht das denkende symbolbildende Subjekt mit seiner individuellen Realität und seinen individuellen Handlungen im Mittelpunkt der zeichentheoretischen Position und bildet die Schlüsselinstanz von Kommunikation, Semiosphäre 11 und kultureller Entwicklung. Zusammen mit der Gesellschaft formiert das Individuum so seine Umwelt in Zeichen. Die Kleidung wird in einer nächsten Relation zu der Materie der Mode. In dieser Dimension strukturiert die Mode als Sprache die Kleidung, welche, wie zuvor beschrieben, selber eine Sprache ist. Das Medium Kleidung wird zur materiellen Form des Mediums Mode. 12 So wird die Mode zu einem doppelt codierten Zeichen und kann im Sinne Lotmans als sekundär modellierendes künstlerisches System auf symbolischer Ebene verstanden werden (vgl. Lotman 2004: 317). In dieser Bedeutungsebene ist sie ein Medium der Bildung und Modifikation von sozialer Gegenwart. Modellbildend ist das Zeichensystem Mode deshalb, weil es nicht einfach nur der Repräsentation oder Kommunikation dient, sondern - wie uns das Beispiel der Reformkleidbewegung zeigte - zur Erzeugung neuer Bedeutung fähig ist. Durch die Überschreitung der rein kommunikativen Funktion kommt die Poetizität des Zeichens, die Lotman modellierende Eigenschaft nennt, als ästhetisches Motiv im Sinne Ecos 13 zum Vorschein. Seine Funktion liegt in der Verwandlung bzw. Formierung der Realität wie es die symbolischen Formen nach Cassirer leisten. Die Analyse der Mode als Bedeutungsformation auf mehreren Ebenen führt so, neben der ikonischen Dimension in der Analyse ihrer Verschiebungen und ihrer Entwicklungsmechanismen, zu der prozesshaften poetischen Dimension als Strukturmerkmale der symbolischen Form Mode. Im Semiosphäre-Modell nach Lotman wird die Poetizität als Erzeugung von neuen Bedeutungen durch Grenzmechanismen beschreibbar. Die gewebeartige Struktur, die unterschiedlichen Funktionen und den ständigen Austausch mit der Umwelt, prägt die Semiosphäre als einen von Differenzen und Dynamiken sowie Zentren und Peripherien geprägter semiotischer Raum. Durch Übersetzung der Erfahrungen in Codes und Symbole wird das Gewebe wieder stabilisiert. Ausdifferenzierte Systeme werden so zu langsamen Kernsystemen und fremde Codierungen und Symbole aus der Peripherie können durch Eindringen neue Strukturen und Innovationen erschaffen. Sie dienen so als Katalysatoren im kulturellen Mechanismus. Lotmans holistischer Ansatz erfasst so Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 453 sowohl die synchrone als auch die diachrone Dimension der Kultur und ermöglicht durch das Verständnis von Kultur als dynamischer, von Prozessen geprägter Raum, die Analyse komplex gewachsener Symbolsysteme, wie der Mode. 14 Mit den differenzierten Modellen der Semiotik von Eco und Lotman kann die Neuartikulation von Bedeutung als kreative (schaffende, bildende, gestaltende, formierende) Kraft des aktiv handelnden Subjekts nach Cassirer verstanden werden. Über die Betrachtung der innovativen Momente in der Bedeutungsdimension der sekundären Modellierung kann der Blick durch die Masse der kurzfristigen Kleidung von Industrie, wirtschaftlicher Globalisierung und Werbung hindurch auf die innovativen Formen gerichtet werden. Diese sind als Initiatoren des Modewandels im kulturellen Gedächtnis gespeichert und entstehen als Neuheiten aus der peripheren Kultur wie der Avantgarde, der Haute Couture oder den Subkulturen. So wird in der Mode als System mit künstlerischem Charakter Wandel nicht als Störung, sondern über die Generierung von Bedeutung als innovatives Moment und Motor für Fortschritt und Identitätsbildung verstanden. Solche Bewegungen tragen die Kultur und haben richtungsbestimmende Wirkung. Als symbolische Form befindet sich auch die Mode in ständiger Bewegung und praktischer Gestaltung und ihre überlagerten materiellen Schichten und Bedeutungsdimensionen werden sowohl von sukzessiven als auch von unvorhersagbaren Entwicklungsmechanismen (Explosionen) 15 geformt. Das innovative Moment stellt die entscheidende zukunftsorientierte und innovationstreibende Kategorie für Mode dar und macht die Abweichung von der Regel zur bestimmenden Regel der Mode. Symbolische Formen stehen immer im Spannungsverhältnis zwischen Verfestigung und Evolution, Tradition und Innovation, reproduzierenden und kreativen Kräften. Damit basieren auch Neuheiten auf der Grundlage von Wissen, dem kollektiven Gedächtnis und den stabilisierenden Mechanismen, wie der Festschreibung von Erfahrung in Codes. Als Prozess des Aushandelns von neuen Regeln auf der Seite der Invarianz in der Dialektik der Modecodes oder als experimentelle Überprüfung der Grenzen des Erlaubten durch Normabweichung hat die poetische Eigenschaft der Mode immer provozierende und schockierende Wirkung. Aus der Abweichung von der Regel resultiert ein Unverständnis der Botschaft mit irritierender Wirkung und Zweideutigkeit. Dies lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters, der den Willen hat, das Unverständnis durch Übersetzung in Kommunikationserfahrung umzuwandeln, so dass daraus ein Informationszuwachs entsteht (Bereicherung des Codes), auf die Botschaft selbst (Autoreflexivität) (vgl. Eco 1994: 145-147). Im Falle der Mode ist das die Kleidungsdimension als materielle Form der Mode-Botschaft. Bei der Mode, die wie jedes bildende Denken Formierungen und Symbole braucht, zeigt sich, wie geistige Energie des Menschen an ein konkret sinnliches Zeichen geknüpft wird. “Es gibt auf dem Standpunkt der phänomenologischen Betrachtung so wenig einen ‘Stoff an sich’, wie eine ‘Form an sich’, es gibt immer wieder nur Gesamterlebnisse, die sich unter dem Gesichtspunkt von Stoff und Form vergleichen und ihm gemäß bestimmen und gliedern lassen.” (Cassirer 1964: 231) Die Untrennbarkeit von Sinn und Sinnlichem, Gegenstand und Symbol, Stoff und Form ist besonders in der Kleidermode in ihrer konkreten physischen Materialität alltäglich und permanent präsent, was zeigt, dass die mentale Dimension der Mode (Idee und Konvention) auf die Kleidung (Artefakt) als notwendiges Organ der materiellen Formierung angewiesen ist. Da Zeichen Wahrheit über bestehende Dinge vermitteln können und komplexe Zeichen wie symbolische Formen als Vermittler aktueller Werte und Normen gelesen werden können, Isabelle Prchlik 454 lässt die Mode als Zeichen auch Rückschlüsse auf die Kultur zu. Weiterhin weisen Veränderungen der Mode auf Veränderungen der Gesellschaft hin, denn die Mode spricht nie nur für sich selbst, sondern steht im Symbolnetz der Kultur immer in Bezug zu Zeit, Raum, Individuum und Gesellschaft mit deren Wissen, Werten und Normhorizonten. In ihrer Eigenschaft als Artefakt ist die modische Kleidung ein konkreter Träger der kulturellen Aktivität und steht mit den verschiedenen symbolischen Formen beziehungsweise Zeichensystemen und Texten in der Semiosphäre in Relationen zueinander. Da jede Epoche ihre eigenen Symbole und ein bestimmtes Bewusstsein entwickelt, aus dem die Symbole der Kultur entstehen, sind Symbole als Träger der kulturellen Aktivität somit auch immer an die Form der Zeit gebunden. Die Inhalte des soziokulturellen Zustandes einer Zeit verdichten sich in ihren symbolischen Formen, wie der Mode. Da sich eine Gesellschaft somit durch gemeinsame Signifikationsmodi auszeichnet, können sowohl die Zeichen der materiellen als auch der geistigen Kultur als Seismograf der Gegenwart verstanden werden. Im Umkehrschluss sind durch Dekodierung dieser Formierungen, wie Mode, Rückschlüsse auf das Bewusstsein der jeweiligen Zeit in ihrer mentalen und sozialen Dimension möglich. Als gesellschaftliches Konstrukt, das in Form der Kleidung wahrgenommen wird, wird die innovative Dimension als Teilaspekt der symbolischen Form Mode immer kommunikativ in Interaktion verhandelt, ist Resultat sozialer Kommunikation und damit semiotisches Produkt einer Gemeinschaft. So wird nicht alles, was das Kriterium der Neuheit aufweist, zu Mode, sondern Mode braucht die Gegenwart, den Zeitgeist und die Gemeinschaft, denn Mode existiert nur dann, wenn sie durch das Bewusstsein der Subjekte ins kulturelle Gedächtnis aufgenommen wird. Erst dann durchdringt die Innovation im Modemechanismus die Gesellschaft, als Verlagerung von Peripherie ins Zentrum im Sinne des Semiosphäre-Modells nach Lotman, und gestaltet so die Wirklichkeit. Hier zeigt sich die Vermittlung kollektiver Erfahrung (Commonsense) auf der Ebene des Symbolischen. Symbolische Formen als Objektivation des Gegenwärtigen tragen dabei immer Elemente der Vergangenheit und Hinweise auf die Zukunft in sich. Der Hinweis auf die Zukunft als Motor des Fortschritts ist dabei eine entscheidende Aufgabe der innovativen Ebene des Symbolischen auch in der Mode. So formuliert Walter Benjamin: “Das brennende Interesse der Mode liegt für den Philosophen in ihrer außerordentlichen Antizipation. Jede Saison bringt in ihren neusten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüßte im voraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.” (Benjamin 1982: 112) Eine Eigenschaft der symbolisch strukturierten Welt und damit der symbolischen Formen ist laut Cassirer der Zwang, dass die Menschen sich den Medien des gesellschaftlichen Lebens und ihren Regeln unterwerfen müssen (vgl. Cassirer 1990: 338). Dies trifft auch auf Kleidung und Mode zu. Aber gleichzeitig kann das Subjekt aktiv an deren Hervorbringung und Veränderung Teil haben. So wird die Mode zu der menschlichen Verhaltensform, mit der dem Zwang der Kommunikation durch Kleidung aktiv begegnet werden kann. Die Mode kann als konkrete Identitätsfolie bewusst eingesetzt werden, so dass die menschliche Gestaltungskraft in der symbolischen Form Mode ihre konkrete Ausformung findet. So kann Bedeutung neu formiert und Identität produziert werden. Die symbolische Form Mode stellt eine der konkretesten Projektionsflächen von Identität und damit eine Identitätsfolie dar. Identitätsbildung, ob im individuellen oder kollektiven, findet wie immer durch Interaktion und Kommunikation statt und ist ein ständiger Prozess als Austausch von Information an den Grenzen innerhalb der Semiosphäre. Durch die Fähigkeit Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 455 der Selbstbeschreibung erlangt das denkende Individuum ein Bewusstsein von “Eigenem” und “Fremden” - Kategorien die in Codes im kollektiven Gedächtnis gespeichert werden - und besitzt damit auch die Fähigkeit zur Individuation und Schaffung eigener semiotischer Räume (vgl. Lotmann 1990: 127, 131 f.). So läuft auch Mode-Verhalten als ständige Verhandlung zwischen dem Fremden und dem Eigenen immer kommunikativ ab. Unter soziologischen Gesichtspunkten zeichnet sich Mode als symbolische Form durch eine Doppelfunktion aus: Einerseits unterstützt sie die Eingliederung in eine Gemeinschaft (Egalisierung) und andererseits fungiert sie als individuelle Identitätsbehauptung (Individualisierung). Mode erfüllt damit sowohl das soziale Abheben als auch das soziale Anlehnen (vgl. Simmel 1905: 10 f., 22). Differenzierung durch Formierung eines neuen Stils eines Individuums oder einer Gruppe ist durch Normbruch möglich, so dass auch innerhalb der primären Codierung Kleidung bereits modellierende Eigenschaften zu erkennen sind. Das Individuum vollzieht dabei Inszenierung im Ganzen und Inszenierung des Selbst als Teil des Ganzen. (Kleidungs-)Identität ist somit nie statisch, sondern stellt einen Prozess dar, der einer ständigen Beeinflussung durch Kommunikation und Interaktion unterliegt. Der Ort von Kleidung als Botschaft ist dabei immer die Öffentlichkeit, ob eine erwartete, beabsichtigte oder erhoffte. Somit ist Mode für das soziale Individuum, das seine Identität in der Kommunikation mit anderen ausbildet, ein ständig präsentes Medium der Bildung und Modifikation von individueller und sozialer Identität. Die Mode als symbolische Form in Kultur und Gesellschaft ist ein offenes System, das zum einen von einer stabilisierenden Grammatik (über Kleidungscodes und über den Code modisch-unmodisch), die soziales Verhalten fördert, und zum anderen von Konflikten, die zu neuer Bedeutung führen, bestimmt ist. Da sich die gewebeartigen kulturellen Strukturen in einer ständigen Dynamik befinden, ändern sich auch die Strukturmerkmale der symbolischen Form Mode. Von einem “Ende der Mode” ist dann nur insofern zu sprechen, wenn sich Veränderungen oder “Enden” bestimmter Strukturmerkmale zeigen. Denn wie Peirce bereits feststellte, wachsen Symbole und neue Ideen führen zu neuen Symbolen und Bewegung in der Kultur. Mittels des Verständnisses der Mode als symbolische Form und der Analyse ihrer Funktionen, Interdependenzen und Transformationen, ist sie als zeichenhafte Objektivation von kulturellen Gegenwarts-Zuständen und Identitäten innerhalb des codierten kulturellen Gewebes identifizierbar. 3 Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode - Ein Ausdruck der europäischen Identität? Wie sieht die gegenwärtige Mode aus? Nach Loschek hat sich die “[…] Mode […] von einer Chronologie verabschiedet und ist parallel zur heutigen gesellschaftlichen Struktur von Diversifikation geprägt.” (Loschek 2007: 13) Die Mode der Gegenwart, lebt “nicht länger von dem Schein, uns mit einem endgültigen Selbst und Selbstverständnis zu versorgen” (Keppler 1995: 403), sondern lässt den Benutzer die Gestaltungsaufgabe zukommen, je ein “vorübergehendes Bild” (ebd.) von sich selbst zu formieren. Dieses Formierungsprinzip entspricht dem postmodernen europäischen Identitätsverständnis. Der Begriff Postmoderne wird nicht als Epochenbegriff, sondern als Sammelbegriff für die aus der Infragestellung der Moderne und ihrer Postulate - nicht Ablösung dieser als Epoche - resultierenden verschiedenen Strukturmerkmale von Kultur und Gesellschaft verstanden (vgl. Behrens 2004: 89). 16 Ein gemeinsamer Nenner postmoderner Strategien ist Isabelle Prchlik 456 dabei die kritische Auseinandersetzung mit und das kritische Verhältnis zur Moderne. Damit ist die Auseinandersetzung auf Grundlage von Entwicklungen wie Säkularisierung, Industrialisierung und Beschleunigung gemeint. Gekennzeichnet ist die Moderne außerdem von Globalisierung, Technisierung und Medialisierung, relativem Wohlstand, Bildungsexpansion, zunehmender Mobilität und Urbanisierung sowie Herausbildung eines komplexen Wirtschaftssystems. Als Universalmerkmal postmoderner Theorie und Handlungspraxis kann dabei die Radikalisierung der Moderne in der Provokation des Bruchs mit dieser durch Pluralisierung der modernen Kultur und Gesellschaft herausgestellt werden. So wird Chronologie zugunsten von Vielfalt und Eklektizismus aufgegeben und singuläre Schlüsselkonzepte der Moderne wie Wahrheit, Vernunft und Ästhetik werden pluralisiert. 17 Das totalisierende dialektische Widerspruchskonzept und Denken in Oppositionen als Kennzeichen der Moderne wird abgelöst von der Strategie, Differenzen hervorzuheben. Dies geschieht durch die Abkehr von totalisierenden Wesensideen der Moderne hin zur Schichtung von Oberflächen. Dieser Zugang ermöglicht es, die Texte der Moderne und ihre Strukturen zu hinterfragen (vgl. Behrens 2004: 24, 38). 18 Indem die Muster und Motive der Moderne wie ihre Geschichtsvorstellung, ihr Zeitbegriff, die auf Vernunft und Sprache beruhende Schriftkultur, das Postulat des Fortschritts oder die Freiheit des Individuums überdacht und neu formuliert werde 19 , findet der Bruch mit der Moderne statt. Die Strategie oder Methodik ist das in Frage stellen der Logik der Texte der Moderne durch Eindringen in deren Struktur und Zerlegung in ihre Einzelteile, die wieder neu zusammengesetzt werden (vgl. Behrens 2004: 10 ff.). Hier zeigt sich das Prinzip der Dekonstruktion, das in der Avantgarde-Mode, durch die kritische Analyse von Ursprüngen, Grundlagen und Grenzen der Mode Brüche aufgezeigt. Im Sinne der Poetik entstehen durch das Zeigen von Formen, die der gewohnten Wahrnehmung völlig entgegen gesetzt sind, irrationale, den Betrachter irritierende Momente. Strukturen werden auf den verschiedenen Ebenen von Mode als symbolische Form dekonstruiert und neu konstruiert. Beispiele sind Werke, die die Dimensionen wie den Entstehungs- und Arbeitsprozess (bspw. Margiela, der Kleider aus alten getragenen Kleidern zusammensetzt, wie einen Pullover aus Socken), den Stoffverschleiß (bspw. die Spitzen-Kollektion 1981 von Rei Kawakubo und Yohji Yamamoto, die durchlöcherte “Kleidlösungen” zeigt), das Gebundensein an den Körper, die Definition von Mode als stetiger Wandel im Entstehen und Vergehen der Mode und auch die Präsentation von Mode auf dem Laufsteg thematisieren. Barbara Vinken und Loschek bezeichnen diese Mode, die von der japanischen Avantgarde um Rei Kawakubo und der späten Antwerpener Schule um Martin Margiela lanciert wurde, in Anlehnung an Jacques Derrida als dekonstruktive Mode (vgl. Loschek 2007: 125 f.; Vinken 1994a: 11 ff., 119 ff.; Vinken 1994b: 10). Diese Merkmale zeigen sich ebenso in postmodernen Identitätskonzepten. Auch der Mensch im Sinne des modernen Subjekts, verstanden als stabile Einheit des Lebens mit einer homogenen Identität durch Selbstbewusstsein und Persönlichkeit, wird als Erfindung der Moderne dekonstruiert. Ein einheitliches konsistentes Subjekt in Opposition zu anderen eindeutigen Einheiten ist deshalb nicht mehr möglich, da die metastabilen Lebensbedingungen von Globalisierung etc. den Menschen zwingen, sich ständig neu zu erfinden. Insofern wird von einem Verschwinden des Menschen, dem “Tod des Subjekts” (Behrens 2004: 82) oder dem “dezentrierten Subjekt” (ebd.) gesprochen, da es sich in eine Biografie der Brüche, Neuanfänge und Flexibilitäten auflöst und Identität im Sinne konstruktivistischer Theorien als ständiges Herstellen und Umbilden, Finden und Werden eines mentalen Gebildes, das das Subjekt formt, verstanden wird. 20 Ähnlich greift hier auch das Argument vom “Ende der Mode”, im Sinne vom Ende einer linearen und homogenen Struktur der Mode. Kohärenz-, Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 457 Kontinuitätsbrüche und Heterogenität der prozessualen Kultur- und Gesellschaftsmodelle finden sich in den Identitätsmodellen wieder, die das Individuum als Konstrukteur seiner Identität, der kollektive Sinnmuster, Leitlinien und Symbole überprüft, und als Bauteile für eine mehrdeutige Identitätskonstruktion verwendet, versteht (vgl. Kimminich 2003: xiii-xv). 21 Diese Aufgabe, beständig wechselnde Elemente auf individueller Ebene in Einklang zu bringen und Identität somit als produzierbar und nicht mehr vererbbar zu verstehen, wird als Individualisierungstendenz interpretiert. 22 “Individuation heißt deshalb nicht Ich-Zentrierung und Ende eines sozialen Gemeinschaftslebens, sondern es bedeutet den Ausstieg des Subjekts aus Wir-Schablonen, seine Entfaltung zu einem seine Einzig- und Andersartigkeit erkennenden, dabei aber auch verantwortungsfähigen und kommunitären Individuum.” (Kimminich 2003: xxiii) Diese Individualisierung als singulärer Weg der Selbsterfahrung beruht dabei aber noch immer auf dem Ausgangspunkt jeder Identitätsbildung: der Erfahrung von Eigen- und Fremdwahrnehmung als Bewusstwerdungsprozess. Gleichzeitig ist die singuläre Identitätsbildung auch immer noch an Raum und Zeit gebunden und braucht die Auseinandersetzung mit dem individuellem und dem kollektivem Bewusstsein. 23 Neue Formen der Gemeinsamkeit und Lebensführungen, ob als Chancen oder Krisen interpretiert, sind Folge der oben beschriebenen Entwicklungen der Moderne und zeigen sich im biografischen Horizont des Subjekts als Entstandardisierung von Lebensläufen, Lösung aus kulturellen und sozialen Mustern und auch als soziale Zwänge oder Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten in Hinblick auf Beruf, Wahlverhalten, Religion sowie Partner- und Familienkonstellation (vgl. Beck-Gernsheim 1998: 126). 24 Das Individuum gehört somit einer Vielzahl von Gruppen an und ist bestimmt vom fraktalen Erleben wechselnder Lebenssituationen, von Additionen, die Handlungsspielräume erweitern, sowie von einer Form der Gemeinschaft, die Differenzen und Heterogenität in sich duldet (vgl. Kimminich 2003: xxi; Keupp 1996: 380; Keppler 1995: 403). So “sampelt” es sich sein Weltbild zusammen (vgl. Rohr & Schulz 2009: 22). Die von der Soziologie als Zunahme von Handlungsspielräumen und Wahloptionen interpretierte Veränderung der Wirklichkeitsschichten geht einher mit der Veränderung der Wahrnehmungsstruktur: Die Subjekte nehmen die zeichenhaft strukturierte Umwelt - entsprechend der Aufgliederung dieser - als differenzierter wahr (vgl. Rhein 2006: 30 sowie Schulze 2005: 249). Es zeigt sich, dass gegenwärtige Identitätsbildungsstrategien genau wie die theoretische Auseinandersetzung mit der Moderne gekennzeichnet sind vom Verfahren der Collage. Begriffe wie Pluralisierung, pluri-kulturell und pluri-lokal oder Patchwork-Identität verweisen eher auf Stile, Codierungen oder kulturelle Einheiten nach Eco im Sinne von Strukturen der Identitätsbildung, die, wie bei der Collage, sichtbar gemacht werden, um sie dann selektiv zusammenzufügen. Darüber hinaus, so kritisiert Kimminich, blendet die Verwendung von Begriffen und Schlagworten der Postmoderne wie Multikulturalismus und Hybridität oftmals die geschichtliche Dimension aus (vgl. Kimminich 2003: xxv). Führt man solche Begriffe auf kulturelle Codierungen und Bedeutungsebenen von Zeichensystemen im Sinne der Semiotik zurück, bleiben sowohl die diachrone als auch die synchrone Dimension impliziert. Aktuelle kultursemiotische (Identitätsbildungs-)Modelle betonen so das Verständnis von Kultur nicht mehr als Ort, der für das Fremde geöffnet ist, sondern als Ort, der das Andere bereits impliziert (vgl. ebd.: xi). Hier zeigt sich das Potential des Semiosphäre-Modells nach Lotman als ein Raum von Differenzen, in dem der Ort der Grenze ein Ort der Sinnbildung durch Zusammenkunft von Eigenem und Fremdem, Innen und Außen, Zentrum und Peripherie ist. Isabelle Prchlik 458 Dabei stehen alle Zeichensysteme in Beziehungen und ständigen Dynamiken zueinander und können bewusst anhand der Grenze Spannungen zueinander aufbauen. Die Strategie, die Kultur als heterogenen Raum in Schichten und Differenzen und nicht in Oppositionen zu denken, diese Strukturen zu hinterfragen, indem sie in ihre zeichenhaften Elemente oder Codierungen zerlegt werden (so werden Grenzspannungen im Sinne Lotmans sichtbar), um sie dann im Sinne der Dekonstruktion wieder neu zusammenzusetzen, bestimmt auch das Verfahren der Collage als ein Prinzip, das seinen Ursprung im Bereich der bildenden Kunst hat. Die Welt im Sinne der Semiotik als Text zu verstehen und in Codierungen einzuteilen, wird hier als Grundlage für das Collage-Prinzip verstanden, bei dem einzelne nicht zusammengehörende Einheiten mit dem Ziel des Normbruchs, was neue Informationen schafft, zusammengesetzt werden. Aus semiotischer Perspektive handelt es sich somit um ein genuin poetisches Prinzip. Das Collage-Prinzip zeigt auch, dass etwas Neues nicht ohne Bezugnahme auf Texte und bestehende stabilisierende Codierungen geschaffen werden kann. Das kulturelle Gedächtnis hat dabei die wichtige Funktion, Bedeutungen zu speichern, aus denen die Subjekte dann wieder Elemente wie Zeichen und Texte nutzen, um die Entwicklung und Dynamik weiter voranzutreiben. Diese mögliche Strategie die Strukturen der Kultur - auf Grundlage der differenzierten Wahrnehmung dieser in ihrer Zeichenhaftigkeit - zu bearbeiten, kann anhand der Mode aufgezeigt werden, so dass das Collage-Prinzip als ein Strukturmerkmal der gegenwärtigen europäischen Mode erkennbar wird. Bereits von den Wortbedeutungen her lassen sich Parallelen zu Begriffen wie Patchwork oder Hybridität erkennen. Der aus dem Französischen stammende Begriff Collage wird als “[…] (künstlerische) Komposition, die aus ganz Verschiedenartigem, aus vorgegebenen Dingen verschiedenen Ursprungs, Stils zusammengefügt ist (z. B. Klebebild).” (Duden Das Fremdwörterbuch 2001: 182 f.) Bzw. “Kunst aus Papier od. anderem Material geklebtes Bild, auch für literar. od. musikal. Komposition aus verschiedenen sprachl. bzw. musikal. Materialien; collagieren (aus verschiedenen Materialien zusammensetzten).” (Duden Rechtschreibung 1996: 193) verstanden. Der Begriff Assemblage bezieht sich auf einen dreidimensionalen Gegenstand, der aus verschiedenen Objekten kombiniert ist (vgl. Duden 2001: 95). Die Montage als ein aus der Technik und Industrie stammender Begriff der Industrialisierung mit ihren arbeitsteiligen Produktionsmethoden bezieht sich darauf, dass die arbeitsteilig produzierten Teile zusammengesetzt - montiert - werden. “Die Montage setzt die Fragmentierung der Wirklichkeit voraus und beschreibt die Phase der Werkkonstitution.” (Bürger 1974: 98) In diesem zeitgeschichtlichen Umbruch, bezogen auf wirtschaftliche Produktion, zeigt sich bereits das Strukturierungsprinzip, das auch im Zusammenhang mit Urbanisierung, Medialisierung etc. zu einer “Realmontage” (Möbius 2000: 118) der gesamten Gesellschaft führte, die aktuelle Identitätstheorien beispielsweise mit dem Begriff Patchwork-Identität beschreiben (vgl. ebd.: 117 ff.). Der Begriff Montage setzte sich in der Moderne bezogen auf Literatur, Lyrik oder Erzählkunst (beispielsweise James Joyces Ulysses), Musik, Film (beispielsweise Sergei Eisenstein), Fotografie und auch Theater (beispielsweise Brechts episches Theater) oder Werke der bildenden Kunst als ein aus ursprünglich nicht zusammengehörenden Einzelteilen zu einer neuen Einheit zusammengesetztes Werk durch. 25 Besonders bekannt wurde die Montage als Technik für die moderne Filmästhetik, bei der aus einzelnen Handlungs- und Bildeinheiten ein Film entsteht, während das Sampling als Bezeichnung für Zusammenstellung und Mischung auf tonaler Ebene, wie beispielsweise verschiedene Musikstücke am Mischpult, verwendet wird (vgl. Duden 2001: 649, 888). Der biologische Begriff Hybrid, der Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 459 sich von dem lateinischen Begriff hybrid herleitet, unter dem etwas Gemischtes, von verschiedener Herkunft Zusammengesetztes verstanden wird, bezieht sich auf Arten- und Rassenkreuzungen (vgl. ebd.: 404). Dieser Begriff hielt auch Einzug in die kulturtheoretische Diskussion (vgl. Kimminich 2003: xxvi). Patchwork bezeichnet wieder eine Technik, bei der Stoffe durch das Zusammensetzten von Textilflicken, hergestellt werden. Im Bereich der audiovisuellen Medien zielt der Begriff Postproduktion auf die Logik von Auswahl und Kombination bereits existierender Elemente für die Generierung eines neuen Stils ab. “Since the early nineties, an ever increasing number of artworks have been created on the basis of preexisting works; more and more artists interpret, reproduce, re-exhibit, or use works made by others or available products, this art of postproduction seems to respond to the proliferating chaos of global culture in the information age, which is characterized by an increase in the supply of works and the art world’s annexation of forms ignored or disdained until now.” (Bourriaud 2002: 13) Die Leitfigur stellen dabei der DJ und der Programmierer dar, deren Aufgabe es ist, zu selektieren und das selektierte in neue Kontexte setzen (vgl. Bourriaud 2002: 13; Gaugele 2005: 227, 234). Die technischen Entwicklungen im Bereich der digitalen Medien erweitern somit stets die Möglichkeiten der Collage und Montage als Ursprungsverfahren. Als Kunstform der Stunde beschreibt Kortmann in der “Die Zeit” im April 2009 das sogenannte Mash- Up, dessen Prinzip es ist, Inhalte, die nicht für eine Mischung bestimmt sind, zu vermischen. Auf dem Collage-Prinzip beruhend werden sämtliche Formen von digitalen Dateien, ob in Text-, Ton- oder Bildform, bewusst konfrontativ und gegensätzlich kombiniert. Anarchisch werden mittlerweile nicht mehr nur digital verfügbare Artefakte und Mentefakte, wie Videos des Internets, klassische Romane oder Dialekte, experimentell zur Kollision gebracht. “Ein Mash-Up ist ein ästhetischer Teilchenbeschleuniger.” (Kortmann 2009: 41) Dabei ist das Ergebnis extrem schwer voraussagbar, da es erst im Moment der Wahrnehmung nach dem Zusammenprall, als etwas Unerwartetes erscheint. Fehlversuche und Verpuffung sind dabei im großen Raum des Internets inklusive (vgl. ebd.: 41 f.). Lotmans Begriff der Explosion verdeutlicht dieses Prinzip aus kultursemiotischer Perspektive. Die Explosion ist neben der sukzessiven kontinuierlichen Vorwärtsbewegung ein kultureller Bewegungsprozess in der Semiosphäre, der der Bedeutungserzeugung dient und dadurch die Möglichkeit neuer Identitätskonstruktion bietet. Im Gegensatz zu den sukzessiven Vorwärtsbewegungen sind Explosionen von Unvorhersagbarkeit, dem Zufall und dadurch von potenzierten Energien und erhöhter Information geprägt. Durch die retrospektive Beschreibung dieser Unvorhersagbarkeit aber wird sie in die kulturelle Entwicklung integriert und so als Teil des kulturellen Gedächtnisses zu einem sukzessiven Prozess (vgl. Lotmann 2000: 18, 22 ff., 101). Besonders das Mash-Up machte deutlich, wie die Subjekte die Welt in Einheiten wahrnehmen, denn die Welt wird bewusst in “Dateien” mit ihren jeweiligen Codierungen, ob als Video, Bild, gedruckter Text oder regionale Stereotype, zerlegt. Als Vorläufer auf digitaler Ebene und sich dabei auf Bilder beschränkend, entstand in den 1990er Jahren das computerbasierte Compositing, dass die Abfolge von Bildelementen ähnlich der Montage ändert, jedoch immer mit dem Ziel, ein stimmiges Gesamtbild zu schaffen. So entstand die Ästhetik der Überblendung, die Grenzen verwischt, um Kontinuität und Glätte zu erzielen (vgl. Gaugele 2005: 227). Hier zeigt sich, wie Grenzen bewusst aufgelöst werden, während in den 1980er Jahren das Kreieren visueller Dissonanzen durch Betonung historischer Referenzen und Medienzitate die Ästhetik bestimmte. Diese visuelle Ästhetik bestimmte auch die Subkulturen dieser Zeit, deren Lebensstil in wissenschaftlichen Untersuchungen mit dem Begriff Bricolage be- Isabelle Prchlik 460 schrieben wird (vgl. Hebdige 1998: 396). Der durch den Anthropologen Claude Lévi-Strauss in den 1960er Jahren als Bastelei - das französische “coller”, von dem sich der Begriff Collage ableitet, heißt übersetzt “kleben” und beschreibt damit auch eine Basteltätigkeit - im Bereich von Kulturen, die keine Schriftkultur besitzen, geprägte Begriff, beschreibt die Tätigkeit von Volksgruppen, ihre Welt durch Zerlegung in konkrete Grundelemente auf magischer Ebene zu strukturieren. (Beispielsweise in Mythen, Aberglaube oder Hexerei) (vgl. Lévi-Strauss 1968: 29 ff.). Die Bricolage subkultureller Gruppierungen auf vestimentärer Ebene 26 begann in Europa in den 1960er Jahren und bezieht sich auf die Art und Weise des von der Wirtschaft vorgegebenen Warengebrauchs. So werden beispielsweise von den Punks Massenartikel wie Nadeln, Wäscheklammern, Rasierklingen oder Elektronikteile, aus ihrem scheinbar “natürlichen” Zusammenhang genommen und entgegen ihres konventionellen Gebrauchs in den Bereich der Kleidung transferiert. Durch das Lösen der Zeichen aus ihrem ursprünglichen Kontext als radikale Dekontextualisierung mit der zusätzlichen Wandlung der Funktion (die Sicherheitsnadel wird zum Körperschmuck) findet eine radikale Bedeutungsverschiebung statt (vgl. Hebdige 1998: 359, 398). 27 Im Sinne der Lotmanschen Logik der Semiosphäre werden Zeichensysteme aus nicht-vestimentären Bereichen in Bezug zum vestimentären Zeichensystem gesetzt und erzeugen so eine Kollision zwischen zwei fremden Bereichen. So findet durch den bewusst hergestellten Grenzmechanismus Informationsaustausch zwischen den Systemen statt. Dieser Vorgang des Zusammentreffens fremder Bereiche entspricht dem Collage-Prinzip. Die Technik der Bricolage zielt bewusst auf die Befreiung der Zeichen von ihrem ursprünglichen Sinn hin zu einer Leerung des Zeichens von der Bedeutung ab. 28 Als weitere Beispiele können hier exemplarisch der Teddy-Boy-Stil und der Mod-Stil genannt werden. Mitglieder der Teddy-Boy-Subkultur trugen die britische Flagge als Jackett und edwardianische Anzüge in Kombination mit proletarischen Pomadefrisuren. Auf diese Weise löschten die Mods die Konnotationen von Zeichen der Geschäftswelt wie Anzug oder Krawatte genau wie von mit Biedermann-Konnotation aufgeladenen Symbolen durch Umfunktionierung der Artefakte. In der konsequenten Anwendung von Chaos, Brüchigkeit und Mangel an Festigkeit liegt dann wieder die vermeintliche Einheit des subkulturellen Punk-Stils (vgl. Hebdige 1998: 396 f.). Die gezielte Gegenüberstellung oder Vereinigung von unvereinbaren Realitäten entspricht auch der surrealistischen Praktik der Collage. Die motivierte Kommunikation der Subkulturmitglieder durch die Strategie der Bricolage macht deutlich, wie Individuen durch die bewusste Zurschaustellung der Zeichenhaftigkeit von Objekten gezielt mit Codierungen spielen, um einen Effekt zu erzielen. Es handelt sich dabei um das bewusste Brechen einer Norm auf Code-Ebene mit schockierender und provozierender weil verfremdender Wirkung, die die Aufmerksamkeit des Betrachters, nach der Autoreflexivität als poetischen Eigenschaft des Zeichens nach Eco, auf das Zeichen an sich lenkt. Im Falle der Kleidung oder der Massenartikel wie die Sicherheitsnadeln, die zur Kleidung gemacht werden, ist dies die materielle Form. So wird, der Interpretation Hebdiges von der Leerung des Zeichens folgend, die Britische Flagge für die Mods zum reinen Material für das Jackett. Durch die bewusste Umstellung von kulturellen Einheiten wird ihre Codierung im Sinne der ästhetischen Funktion des Zeichens verändert. Denn anders als beim Prinzip der Kopie soll aus dem explosiven Zusammenbringen unvereinbarer Realitäten bei der Collage etwas Neues entstehen. Dass dabei immer auf Grundlage und mit Bezugnahme auf das kulturelle Gedächtnis und bereits in der Semiosphäre bestehender Texte und Codierungen gearbeitet wird, ist, wie die oben erläuterten kultursemiotischen Modelle zeigten, Grundbedingung für jede kulturelle Tätigkeit. Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 461 Im Collage-Prinzip werden diese Codierungen bewusst eingesetzt, indem in ständiger experimenteller Überprüfung der Grenzen mit diesen gespielt und sie dadurch aufgezeigt werden. So wird in der Semiosphäre durch Kollision neue Information geschaffen. Lotmans semiotisches Modell zeigt, wie Texte aus der Peripherie, die aus Sicht des Zentrums als unkorrekt empfunden werden, ins Zentrum eindringen, und Innovationen genau dann entstehen, wenn die Regeln des Textes durch die Regeln des eindringenden Textes rekonstruiert werden und so eine neue Struktur entsteht (vgl. Lotman 1990: 137). Besonders interessant sind nach Lotman die Fälle, bei denen das Eindringen eines Textes in einen anderen Text klare semantische Funktionen erhält, da die verschiedenen Strukturen und Codierungen der Texte bestehen bleiben und so sichtbarer Faktor der Konstruktion sind. Das ist beispielsweise der Fall bei rhetorischen Konstruktionen oder bei der einfachsten Variante dieses Prinzips, der Einbindung eines Abschnitts, der den gleichen Code besitzt, diesen aber doppelt, wie beispielsweise beim Film im Film (dokumentarischer Film wird in Spielfilm eingebaut). Die Grenzen der jeweiligen Texte werden auf diese Weise betont und ein Spiel mit diesen Grenzen und den jeweiligen Codierungen ergibt sich (vgl. Lotman 2000: 66 f.). Solche Formen der Collage liefert Margiela, wenn er einen Pullover aus Handschuhen herstellt im Sinne von Kleidung in Kleidung (vgl. Jones & Mair 2005: 313). Als Vorläufer der Collage-Künstler des Dadaismus und Surrealismus zu Beginn des 20. Jh.s 29 und der Pop-Art der 1950er Jahre gelten Duchamps Ready-mades, die seit 1913 ausgestellt wurden und einen sichtbaren Bruch hin zu einem konstruierten Zusammenhang zeigten. Duchamp überführte fertige Industrieprodukte, meist Alltagsgegenstände der Massenproduktion, in die Kunstrealität und verzichtete dabei auf weitere Gestaltung am Objekt. Als Avantgardist praktizierte er eine Ästhetik des sinnlichen Wahrnehmens, durch Verunsicherung und Veränderung von Sehgewohnheiten und Perspektiven (vgl. Behrens 2004: 49; Möbius 2000: 118; Daniels 1992: 166). 30 Seine Poetik zielt somit bewusst auf die Perzeption und die symbolische Referenz, in dem das Subjekt die symbolisierende Tätigkeit vollzieht und Bedeutungskonstitution satt findet, ab. Bei Duchamp wird er selbst als Subjekt zum Menschen, der Kunst zu Kunst macht, weil er sie ins Museum bringt, genau wie der Betrachter das Objekt zu Kunst - das Zeichen zum Zeichen - werden lässt. So fordern die Readymades als Codierungen mit poetischer Eigenschaft die Wahrnehmung und die symbolisierende Tätigkeit des Subjekts heraus. Dies kann erst geschehen, wenn das Objekt gemäß des Collage-Prinzips mit einem ihm fremden Element - in diesem Fall die Kunstausstellung - aufeinander trifft. So ist das Wesentliche am Ready-made, dass es ausgestellt wird, denn ohne Präsentation im Kunstkontext - der musealen Ausstellung -, die das Ready-made erst zu diesem macht, würde das Objekt der Gegenstand bleiben, der es ist (vgl. Daniels 1992: 167). Auch die bewusst auf Entmaterialisierung angelegten Kollektionen des Avantgarde-Designers Margiela stellen im Sinne der Avantgarde-Künstler des 20. Jh.s eine Ästhetik des sinnlichen Wahrnehmens dar. Ein Beispiel ist seiner ersten Kollektion 1995/ 96, die er vergrub, um sie verwesen zu lassen, oder seine Kollektion von 1997, bei der er in einer Freiluftausstellung in Rotterdam Kleider zeigte, die von Bakterien zersetzt wurden. So thematisierte er neben der Vergänglichkeit der Mode in einem weiteren Schritt auch die Mode als symbolische Form und ihre Funktionen in der Kultur bis hin zur Selbstauflösung des gesamten Modesystems. Diese Beispiele zeigen, wie nah Margiela an der konzeptionellen Kunst liegt: Entmaterialisierung wird thematisiert und am Ende sind von dem Kunstprojekt selbst keine original-materiellen Objekte mehr vorhanden, sondern nur noch verbale oder fotografische Dokumentationen übrig. In diesem Sinn macht Margiela Mode über die Mode: Meta-Mode (vgl. Dercon 2008: 52; Loschek 2007: 78; Behrens 2004: 71 f.). Im Sinne der Bedeutungsdimensionen von Mode Isabelle Prchlik 462 als symbolische Formen befindet sich diese Form der Mode auf der Ebene des Symbolischen nach Peirce, des Künstlerischen nach Lotman und hat als Zeichen poetische Eigenschaft. Die bewusste Nutzung der Spannung von Eigenem und Fremden bzw. der Elemente der Semiosphäre untereinander in der Kunst, um fremde Codierungen als Katalysator im Sinne der Lotmanschen Bedeutungsgenerierung einzusetzen, zeigt sich auch im Montage-Prinzip nach Adorno. “Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einlässt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert.” (Adorno 1970: 232) Die Montage als Gestaltungsprinzip des Kubismus zu Beginn des 20. Jh.s 31 war auf den Schock angelegt und hat nach Adorno die “Negation der Synthesis” (ebd.) zum Paradigma. So brach es als innovatives avantgardistisches Prinzip in der Kunst mit dem bis dahin vorherrschenden Prinzip des planvollen harmonischen Ganzen und der organischen Einheit. Was Adorno hier bezogen auf die Kunst beschreibt, findet sich in den oben skizzierten aktuellen Identitätstheorien als Strukturmerkmal wieder. So beschreibt auch Adorno das Montage- Prinzip als Strukturmerkmal der Moderne. “Das rückt die Montage in einen weit umfassenderen Zusammenhang. Alle Moderne nach dem Impressionismus, […] schwören dem Schein eines in der subjektiven Erfahrungseinheit, dem ‘Erlebnisstrom’, gründenden Kontinuums ab.” (ebd.: 233) Ziel des Gestaltungsprinzips der Montage war es, die reinen Fakten nicht über die Form oder den Begriff zu vermitteln, sondern diese direkt auszustellen. So wird gezeigt, dass die Zeichen nicht auf die Wirklichkeit verweisen, sondern Wirklichkeit sind (vgl. Adorno 1970: 232 ff. und Bürger 1974: 98 f., 105, 108). Dies entspricht aus semiotischer Perspektive der Autoreflexivität als Eigenschaft der ästhetischen Botschaft nach Eco, die besagt dass die Aufmerksamkeit auf die Botschaft an sich gelenkt wird (vgl. Eco 1994: 145-147). In der Mode, in der die Mitteilung der Botschaft auch die Form der Botschaft ist, kann das Prinzip der Collage/ Montage auf den verschiedenen Bedeutungsebenen von Mode als symbolische Form nachgewiesen werden. Auf der materiellen Ebene zeigt es sich dann in der Stofflichkeit und ihren Formierungen. 32 Die Design-Mode von Coco Chanel ist bekannt für den “total look”, der zu Anfang des 19. Jh.s als Revolution im Damenbekleidungsbereich, bezogen auf Materialien für Frauenkleidung sowie die Silhouette und die Proportionen des Körpers der Frau gesehen wurde, stellt ein Beispiel für das Collage-Prinzip auf diesen Ebenen dar. Die Struktur (auf materialer Ebene und in den Schnittformen) des Chanel-Kostüms weist Kombinationen von bereits semiotisiertem Material aus den Bereichen Arbeitskleidung, Matrosenkleidung und männliche Kleidung auf. Das Chanel-Kostüm galt auch deshalb als modern, praktisch, klassisch, funktional und weiblich. Dieses Beispiel zeigt wie Bedeutungen auf physische Eigenschaften der Kleidung und Formierungen wie Schnitte zurückzuführen sind. Materialien und ihre Formungen beinhalten demnach Codierungen, die dem Collage- Prinzip folgend aus oppositionellen Realitäten - bei diesem Beispiel: nicht arbeitende ausstaffierte kurvige Frau im Gegensatz zur der arbeitenden Männerschaft - neu zusammengestellt werden. Die mit Arbeit und Männlichkeit codierten Formen und Materialien fanden sich im Chanel-Kostüm für die Frau wieder, die zu der Zeit den Arbeitsmarkt eroberte. Darüber hinaus dekontextualisierte Chanel auch Codierungen aus dem Bereich Lebensstil und auf regionaler Ebene (im Sinne von Ortsgebundenheit), indem sie die Codierung des Chanel- Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 463 Jäckchens dem Bauernjanker aus der Alpenregion entlieh (vgl. Loschek 2007: 127; Giannone 2005: 67 f.). Das Collage-Prinzip lässt sich am mentalen Codierungs-Komplex “Ethno” sehr anschaulich als Grenzen aufzeigendes Prinzip erklären. Seit den 1960er Jahren zeigt sich auf dem europäischen Modemarkt diese Demokratisierung und Liberalisierung der Mode, weg von der vertikalen hin zu einer horizontalen Struktur. Die Demokratisierung der Mode führte seit den 1960er Jahren zu Diversifizierung, Liberalisierung und auch Internationalisierung. Damit ging auch eine starke Internationalisierung einher und nationale Differenzen wurden sichtbar und bewusst in der Mode betont (vgl. Black & Garland & Kennett 1983: 163, 167, 192) 33 . “Ethnic-Crossing”, zunächst als innovative Kleidungsform von den Hippies der 1960er Jahre als Ausdruck des politischen Ziels der Egalisierung und der “one world” getragen, wurde bald von Designern wie Kenzo aufgenommen (vgl. Loschek 2007: 131). Kenzo wählt fertige Kleidungsstücke. Beispielsweise kombiniert er Norwegerpullover mit türkischen Pluderhosen. Während Chanel also männlich konnotierte Materialien und den Schnitt des Bauernjankers zitiert, um sie in den Kontext des “total look” zu integrieren, arbeitet Kenzo auf der Ebene der Kleidung, um sie neu zusammen zu setzen. Vivienne Westwood greift immer wieder auf englische und schottische gemusterte Stoffe zurück, die sie als Elemente im Sinne von lokalen Signifikanten in ihre Kleidungsstücke integriert. Das Collage-Prinzip greift bei diesem Beispiel also innerhalb der Mode als symbolische Form sowohl auf der Bedeutungsebene der codierten Kleidungsstücke als auch in bestimmten Teil- Elementen dieser auf der Ebene der Schnitte, Materialien oder Muster. Der übergreifende Codierungs-Komplex bleibt dabei “Ethno”. John Gallianos “Mapping the World” Herbst/ Winter 2004/ 05 Kollektion zeigt exemplarisch wie sich der Designer weltweit möglicher Formierungen aus dem Themenbereich “Ethno” bedient. Er fügte Kleidungsstücke und einzelne Elemente wie Schnitte, Stoffe und Muster aus verschiedenen Epochen und Ländern wie dem Jemen, Peru oder Vietnam und auch von osteuropäischen Trachten zusammen. Zusätzlich werden andere Codierungs-Komplexe integriert: Zeit (beispielsweise wählt Galliano als barock codierte Formen wie bestimmte Rüschen für seine Kollektionen) oder Geschlecht (in erster Linie werden männlich konnotierte Elemente adaptierend in die Frauenmode - das Hemd wird zur Bluse - eingearbeitet, während sich beispielsweise der Männerrock in den späten 1990er Jahren nicht durchsetzte). Bei Westwood werden im Codierungs-Komplex “soziale Gruppen” Punkelemente mit aristokratisch konnotierten Elementen “gekreuzt” (vgl. ebd.: 131, 140 f., 147). Letztere Beispiele zeigen, wie sich Mode kultureller Mentefakte wie Nation, Geschlecht oder Zeit-Epochen bedient, diese in ihre Einheiten zerlegt, um sie dann wieder zusammenzusetzen. 34 Die sozialwissenschaftliche Forschung liefert Ergebnisse, beispielhaft wird hier Gerhard Schulze 2005 gewählt, die zeigen, dass Individualisierungstendenzen keineswegs zu einer atomisierten Gesellschaft führen, sondern sich auch weiterhin gesellschaftliche Gruppierungen ausmachen lassen, deren Definitionsrahmen allerdings weg von Kategorien wie Klasse oder Schicht hin zu Lebensstil führt. Die ausdifferenzierten Gestaltungsmöglichkeiten, die zur Ausbildung von Identität führen, brauchen Präsentations- und damit Formierungsebenen, die sich besonders in Präsentationsformen wie der Mode finden (vgl. Schulze 2005: 75 ff.). Neue Formen der Gemeinsamkeit und Lebensführung werden in erster Linie von Jugendlichen oder jugendlichen Subkulturen entworfen (vgl. Kimminich 2003: xxi). So ist das Prinzip der Postmoderne mit dem Individualismus bereits selbst zu einem Lebensstil, einer Geisteshaltung oder eben einer Vorgehensweise für Jugendliche geworden. Jugendliche verwenden das Sampling (der Begriff wird von Gaugele verwendet) von Kleidungsstücken als Gegenstrategie Isabelle Prchlik 464 zu Markenkult und Massenproduktion, die sie mit Uniformität und damit als verwerflich und oberflächlich gleich setzen. Im Sinne des Differenzierungsmechanismus nach Georg Simmel grenzen sie sich so als Individualisten und authentische Subjekte in ihrer Einzigartigkeit von den “Markenkult-Uniformisten” ab (vgl. Gaugele 2005: 223-225; Behrens 2004: 87 f.) 35 . Da sie als “Sampler” gezielt den Lebensstil des Individualismus praktizieren, formieren sie auf diese Weise wieder eine Einheit, so dass Individualismus wieder in Uniformität umschlagen kann. Im Sinne Lotmans schaffen sich die Jugendlichen so ihren eigenen semiotischen Raum und somit Identität. “D. h., auch das Kombinieren verweist auf geschlechter- und gruppenspezifische Formen und Codes.” (Loschek 2007: 191) Bei diesem Fall wird die Praxis des Kombinierens selbst zum Code. Auch das Deutsche Mode-Institut 36 beobachtet das Collage- Prinzip als eine Codierungsform, die die gesamte Mode-Welt bis hin zu Konfektion und Street-Style durchzieht: “Wenn wir auf die Mode schauen, haben wir statt eindeutiger Bilder ‘Collagen’ vor uns, in denen sich ganz unterschiedliche Einzelteile zu immer neuen und ganz unterschiedlichen ‘Looks’ zusammenfügen. Dabei gehören stilistische Brüche und Widersprüche inzwischen zur Normalität; sie sind die typische Reflektion der Mode auf unser modernes Leben.” (Deutsches Mode-Institut 2009: o. S.) So dokumentierte das Deutsche Mode-Institut das Collage-Prinzip in der getragenen Straßen- Mode 2009 in Berlin anhand von 5.000 Straßenfotos modebewusster Menschen zwischen 20 und 35 Jahren (vgl. Dörre 2009: o. S.). Der Designer und Modeschöpfer Michael Michalsky stimmt dem zu, indem er den “Genre-Mix”, der sich im Street-Style formiert, als den heute “modernen” Stil befindet. 37 Auch die Sortimente und Looks der Bekleidungsindustrie werden gemäß dieser Struktur einzelteiliger, Stilbrüche wichtiger und Kollektionen collagenartig zusammengestellt. 38 Westwood formuliert in Fortführungen der Erkenntnis, dass das Zeitalter der provozierenden Anti-Moden vergangen ist programmatisch: “Mittlerweile aber gibt es fast alles. Nichts ist noch extrem oder anders. […] In einer Zeit der Gleichförmigkeit ist es das Subversivste, was man tun kann: den Menschen eine Wahl zu bieten. Und das tue ich.” (Westwood 2003: VIII) Im ständigen Dualismus des Symbolischen zwischen Streben nach Individualität und Eingliederung in eine Einheit konnte die symbolische Form Mode als Bedeutungsträger anhand des Strukturmerkmals der Collage sowohl in ihren stabilisierenden als auch in ihren Innovationen generierenden Eigenschaften beschrieben werden: So stellt das Collage-Prinzip für das Bricolage betreibende Subkulturmitglied und den Sampling praktizierenden Jugendlichen ein festes Prinzip der Identitätsformierung dar und wirkt so stabilisierend. Genau so benutzen diese Individuen das Prinzip aber auch, um modellierend neue Bedeutung in der Semiosphäre zu erzeugen. Mode-Designer verwenden das Collage-Prinzip, um in Themenbereichen (hier wurde exemplarisch das Themengebiet “Ethno” gewählt) neue Bedeutung zu produzieren, die aufgrund ihrer innovativen Eigenschaft im Rahmen des Zeichensystems der Mode sekundär modellbildend wirkt. Das Collage-Prinzip als Prinzip der Gegenwart, 39 hier exemplarisch anhand aktueller Identitätstheorien und künstlerischer Verfahren eingeführt, konnte als ein die verschiedenen strukturellen Bereiche der symbolischen Form Mode durchziehendes Prinzip nachgewiesen werden: Mit Hilfe des Semiosphäre-Modells Lotmans konnte gezeigt werden, wie das Collage-Prinzip als die Grenzmechanismen der Semiosphäre strukturierendes Prinzip als Kommunikationsmechanismus zwischen fremden Zeichensystemen eingesetzt wird. Beispielhaft wurde gezeigt, wie sich die Punks der Massenprodukte bedienen, die nicht zum Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 465 Zeichensystem der Kleidung gehören, diese aber als solche zu nutzen. Auf der medialen Ebene setzen Individuen singulär und als Teil einer Gruppe das Collage-Prinzip bewusst als Kleidungstechnik ein, um in Abgrenzung zum “Anderen” ihre Identität beispielsweise bewusst als Sampler zu kommunizieren. Zum anderen können innerhalb des Modecodes bereits vestimentär semiotisierte Codierungen, die im vermeintlichen Gegensatz zueinander stehen, zusammen treffen. Diese Codierungen werden über die Ebenen des Mediums Mode, die materielle Kleidung, ihre verschiedenen möglichen Formierungen wie Schnitt, Muster, das gesamte Kleidungsstück, die Kollektionen der Industrie oder das selbst zusammengestellten Outfit des Individuums kommuniziert. Beispielhaft wurden Chanels “total-look”, die Sampling betreibenden Jugendlichen, die Designer Kenzo und Westwood sowie die Modehandeln betreibenden Individuen genannt. Innerhalb dieses Codes können auf der Ebene der inhaltlichen Konnotationen innerhalb eines Themengebietes, wie Ethno, Differenzen, wie Nationen, kombiniert und diese darüber hinaus in Kombination mit weiteren Themengebieten wie Zeit “collagiert” werden. Im Sinne des Collage-Prinzips können so entsprechend der materiellen Schichtung der Kultur immer weitere Ebenen “collagiert” werden. Aufgrund des Verständnisses von Kultur als Text und der Dekonstruktion - als der Collage zugrunde liegenden Technik - können die Ebenen als Codierungen erkennbar gemacht werden. Dass diese Codierungen wieder selbst verschiedenartige konnotative Codes aufweisen, die in Opposition zueinander stehen können, ergibt sich aus der Logik des Codes nach Eco und der Struktur der Semiosphäre nach Lotman. Diesen semiotischen Modellen, ist folglich selbst das Collage- Prinzip inhärent. Literatur Adorno, Theodor W. 1970: Ästhetische Theorie. [= Gesammelte Schriften 7] Frankfurt am Main: Suhrkamp. Barnard, Malcom 2002: Fashion as communication. New York: Routledge. Barthes, Roland 1985: Die Sprache der Mode. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich & Giddens, Anthony & Lash, Scott 1996: Reflexive Modernisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck-Gernsheim, Elisabeth 1998: “Individualisierungstheorie: Veränderungen des Lebenslaufs in der Moderne”. 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Loschek 2007: 162; Chauvel 2005: 285 als auch Bovenschen 1986: 2, 7. 3 In Deutschland vertreten durch Ingrid Loschek (siehe hierzu Loschek 2007). 4 Roland Barthes verwendet in seiner semiologischen Analyse “Die Sprache der Mode” “la Mode” mit großem Anfangsbuchstaben für “die Mode” (engl. “fashion”) im Sinne von Art und Weise, Form und “la mode” mit kleinem Anfangsbuchstaben für “eine Mode” (engl. “fad”) im Sinne von Modeerscheinung (vgl. Barthes 1985: 13). Isabelle Prchlik 468 5 Auf diese Weise läuft man nicht Gefahr den Begriff Mode zu einem Synonym für Veränderung werden zu lassen oder auf ein Beispiel für dauerhaften Wandel und sich aneinanderreihende Modeerscheinungen zu reduzieren. 6 Innovation bedeutet nach Loschek, die an die Innovationstheorie Alois Shumpeters anknüpft, immer Fortschritt (vgl. Loschek 2007: 41, 105). Im Sinne der Kultursemiotik handelt es sich somit bei Innovationen um die Bereicherung des Codes nach Eco beziehungsweise dem Informationszuwachs in der Semiosphäre nach Lotman. 7 Zur gegenseitigen Bedingtheit und Untrennbarkeit von Form und Inhalt sowie dem Sinnlichen und Geistigen bezogen auf symbolische Formen siehe Cassirer 1942: 48 f. 8 Denken ist als eine Tätigkeit - nicht das “Sein” oder das “Wesen der Seele” - immer an Formen gebunden und nur im Symbolischen möglich. Damit sind auch Dinge und kulturelle Zeichensysteme immer nur durch das Denken zu erfassen, so dass die Struktur des Denkens den Zeichen inhärent ist (vgl. Cassirer 1959: 175). 9 Siehe hierzu Peirce 2004: 45 10 Siehe zur Semiose Peirce 1983: 64 als auch Whitehead 1928: 9. 11 Nach Lotman 1998. 12 Die Form des Mediums bestimmt immer auch die Kommunikationsform: Kleidung ist durch ihre konkrete Materialität und Bindung an den menschlichen Körper direkt und unmittelbar vor der verbalen Sprache. 13 Zur ästhetischen Funktion siehe Eco 1994: 141, 143. 14 Siehe hierzu Lotman 2000: 12, 147 und Lotman 1998: 238-240 sowie Lotman 1990: 123. 15 Siehe zum Begriff der Explosion nach Lotman folgendes Kapitel. 16 Der Begriff überschneidet sich in weiten Teilen auch mit den Bezeichnungen: Re-Moderne und reflexive Moderne (siehe dazu beispielsweise Beck & Giddens & Lash 1996). Der postmoderne Theoretiker Jean-Francois Lyotard distanziert sich auf Grund des inflationären Gebrauchs des Begriffs von diesem und spricht von der redigierten Moderne (vgl. Behrens 2004: 12f., 18). 17 Siehe hierzu Rhein 2006: 29 und Behrens 2004: 12-28, 75 sowie Beck-Gernsheim 1998: 126 f. als auch Featherstone 1991: 2. 18 Zynische Positionen sehen in der Strukturierung der Welt in Oberflächen keine strukturalistische Tätigkeit, sondern einen Bezugsverlust der Zeichen zur Wirklichkeit. Jean Baudrillard spricht daher von der Auflösung der materiellen Welt hin zu einer virtuellen Wirklichkeit der medialen Simulation in ein Simulacrum. Die Wirklichkeit verschwindet, da alles durch Zeichen ersetzt wurde und es nur noch Kopien der Kopien der Repräsentationen geben kann, die eine simulierte Hyperrealität - beispielsweise die durch das Fernsehen hergestellte simulierte Realität - erschaffen haben, die zwangsläufig selbst in sich zusammenfallen muss (vgl. Behrens 2004: 10, 34 f., 37). 19 Dabei geht es nicht um das Verwerfen diese Postulate, sondern darum, sie in einer Form der Selbstkritik kritisch zu hinterfragen (vgl. Behrens 2004: 9 f.). 20 Siehe hierzu Schulze 2005 und Behrens 2004: 82 f. und Kimminich 2003: xiii sowie Keupp et al. 2001: 163. 21 Die Modelle der Kultursemiotik, wie das Verständnis von Kultur als Zeichensystem oder Text nach Peirce, die Codetheorie Ecos oder Lotmans Begriff des kulturellen Gedächtnisses und der Semiosphäre, lassen es zu, Kultur als Speicher sowie Überlagerung von materiellen Schichten und/ oder heterogenem Raum zu verstehen, in der/ dem Reibungs- und Übersetzungsprozesse, die aus Differenzen resultieren, als Identitätsbildungsprozesse möglich sind. 22 Siehe dazu Schulze 2005 und Kimminich 2003. Auch andere Autoren der Soziologie interpretieren diese Entwicklung ähnlich. Beispielhaft werden hier Simmel, der den Begriff bereits 1890 prägte, sowie Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, die diesen in den 1980er Jahren wieder ins Zentrum soziologischer Untersuchungen brachten, genannt (vgl. Keupp et al. 2001: 163). 23 Siehe hierzu Kimminich 2003: xxi, xxiii; Lotman 1990: 127, 131 f. 24 Keupp et al. 2001 sehen die Individualisierung zusammen mit der Globalisierung als die zwei grundlegenden Transformationsprozesse, die die Gesellschaft der Postmoderne oder reflexiven Moderne determinieren (vgl. Keupp et al. 2001: 163). In der Soziologie werden die Folgen der Individualisierung von der optimistischen Auslegung - vertreten u. a. von Simmel, Ingelhart und Alborow - als Chancen der Ausbildung einer Patchwork- Identität in dynamischen und hochmobilen sozialen Räumen verstanden; während Theoretiker wie Durkheim, Parsons, Merton und Sennett die Gefahren der sozial desintegrativen Konsequenzen betonen, die zu Auflösung sozialen Zusammenhalts und Orientierungsdefiziten genau wie Bewältigungskrisen des Subjekts führen (vgl. Bonß & Kesselring 2001: 178-181 sowie Keupp 1996: 380 ff.). 25 Siehe Möbius 2000 für eine detaillierte Arbeit am Begriffspaar Collage/ Montage, der das Prinzip in den verschiedensten Bereichen und Gattungen mit den jeweiligen Typen und Verfahrensvariationen - wie beispiels- Das Collage-Prinzip als Strukturmerkmal der gegenwärtigen Mode 469 weise die Montage grafischer oder fotografischer Bestandteile in einem Roman - in seinen zahlreichen und komplexen Unterschieden beleuchtet und sie auch in einen zeitgeschichtlichen Kontext setzt. 26 Kleidung ist bei der Inszenierung von Identität ein Kommunikator unter mehreren. Das Prinzip der Bricolage findet sich als Formierungs-Prinzip beispielsweise auch im Bereich von Körperpraktiken wie Make-Up, Frisur und Tanz (vgl. Hebdige 1998: 400 ff.). 27 Andere Beispiele finden sich aus weiteren Zeichensystemen: Mode und Technik (beispielsweise wird ein Mikrofon in den Kragen integriert), Mode und Kunst (beispielsweise werden Fotoabzüge von Gemälden auf Kleidung gedruckt), Architektur und Mode (Pierre Cardin führte Formen aus der Architektur in die Kleidung ein). Loschek bezeichnet diese Techniken als “crossing” (vgl. Loschek 2007: 127-154; vgl. Black & Garland & Kennett 1983: 170). 28 Vgl. Hebdige 1998: 407. Der Begriff Bricolage wird häufig zusammen mit dem Begriff Pastiche genannt, unter dem die Nachahmung des Stils oder der Idee eines Autors zumeist aus dem musikalischen oder literarischen Bereich verstanden wird (vgl. Barnard 2002: 176; vgl. Duden Fremdwörterbuch 2001: 737). Im Gegensatz zu dem Prinzip der Collage soll bei der Pastiche-Technik keine neue Bedeutung durch Re-kombination entstehen (vgl. Barnard 2002: 175 f.). Das Pastiche-Prinzip, im Sinne von zitieren, kopieren, wiederholen oder wiederbeleben der Geschichte, zeigt sich im stilistischen Bereich der Mode in den sogenannten reinen nostalgischen Retro-Looks. Oftmals wird auch die postmoderne Strategie verkürzend als Revival-Strategie und Zitate-Pop in Anlehnung an die Pop-Art ausgelegt (vgl. Loschek 2007: 123, 154; vgl. Behrens 2004: 61; vgl. Barnard 2002: 177). Hier wird die Kopie, die in der Modetheorie als notwendige Grundlage für den Modemechanismus - die Massenkonfektion kopiert die innovativen Designerstücke - beschrieben wird, im Sinne der Semiotik differenzierter als Codierung verstanden, die sich auf konnotativer Ebene bei Änderung des Kontextes - die Massenkonfektion bearbeitet die Designs der Haute Couture - und den Gebrauch des Subjekts durchaus verändern kann und dann keine reine Kopie mehr darstellt. Weiterhin ist die Kopie oder das Zitat, verstanden als kulturelle Einheiten oder Codierung, das Material für die Collage-Technik. 29 Max Ernst gilt als Vater der Collage-Technik im deutschen Kubismus, Surrealismus und Dadaismus. Er revolutionierte künstlerische Produktionstechniken, entwickelte Verfahren nach diesem Prinzip und schuf mehrfach codierte Werke in den verschiedensten Bereichen wie Malerei und auch Schriftstellerei (Collage- Romane). Darüber hinaus verwob - “collagierte” - er sein dichterisches, bildkünstlerisches und theoretisches Werk mit Hilfe des Mediums der Sprache (vgl. Wix 2009: 19 ff., 49). 30 Auf diese Ebene der Perzeption zu fokussieren war das Ziel der damaligen Avantgarde-Bewegung (vgl. Behrens 2004: 49). Durch die breite Anwendung dieses Prinzips auf viele Lebensbereiche in der “Ästhetisierung des Alltags” wurde u. a. die sogenannte Pop-Kultur erschlossen und die Einteilung zwischen elitärer Hochkultur und trivialer Massenkultur löste sich auf. Die damit verbundene Pluralisierung führte dann im theoretischen Diskurs dieser Zeit auch zur Beachtung und Gleichsetzung aller Segmente der Kultur (vgl. ebd.: 89). 31 Der Diskurs der Avantgardisten des Kubismus, Surrealismus und Dadaismus gilt als Auslöser der oben beschriebenen postmodernen Debatte (vgl. Loschek 2007: 223). Dies zeigt auch die Identifikation des Collage- Prinzips als Grundlagen-Prinzip in beiden Bereichen. 32 Die Avantgarde-Künstlerin Sonia Delaunay wandte das Collage-Prinzip anhand der Nebeneinanderstellung von geometrischen Formen (in Schnitt und Muster), Farben und verschiedenen Textilerzeugnissen bereits in den 1920ern gezielt auf Kleidung an. Sie nannte ihre Kleidungsstücke “simultanée” von franz. simultané - gleichzeitig, simultan (vgl. Morano 1986). 33 Siehe dazu auch Loschek & Klose 2007: 252 und Keppler 1995: 396 sowie Vinken 1994a: 59 als auch Black & Garland & Kennett 1983: 163, 167. 34 Dies geschieht auch innerhalb der Mode im Sinne von “Re-Design” (Loschek 2007: 135) bei dem Schnitte, Muster oder Kleidungsstücke, die einen hohen Wiedererkennungswert haben (beispielsweise der Trenchcoat oder das Chanel Tweed-Kostüm) mit etwas anderem kombiniert oder zu einem anderen Kleidungsstück umgewandelt werden (vgl. ebd. 2007: 136 f.). 35 Gaugele bezieht sich auf Daten aus einer Projektstudie zu Mode-, Körper-, und Konsumpraktiken Jugendlicher im Alter zwischen 13 und 21. 36 Das Deutsche Mode-Institut hat in verschiedenen Städten Europas Experten, die Messen besuchen, Streetfashion beobachten und sich in Gremien beraten. Die Mode in Metropolen wie Berlin und Mailand, aber auch in kleineren Städten wie Bielefeld wird beobachtet, denn es geht den Trendforschen darum zu sehen, was die Leute wirklich anziehen. Informationen liefern neben den Passanten auch Kanäle wie Fachzeitschriften oder das Internet (vgl. Müller-Thomkins 2009 o. S.). Isabelle Prchlik 470 37 Vgl. Michalsky 2009: o. S. Hier wird deutlich, dass nicht mehr die Produzenten der Mode im traditionellen Verständnis, wie die Haute Couture, sondern die eine Auswahl treffenden Konsumenten zu den Produzenten der Mode werden. Neben der Demokratisierung der Mode seit den 1960er Jahren, sind heute Websites auf denen User ihre eigenen Looks einstellen können und Fashion-Blogs hochdemokratisierende meinungsbildende Medien der Entscheidung (vgl. Bangert 2010: 55 sowie Hackenberg 2010: 47). So lösen sich die Grenzen zwischen Konsum und Produktion auf und auch die Frage nach der Autorenschaft kann mit der Logik der Auswahl beantwortet werden (vgl. Gaugele 2005: 228 f.). Siehe dazu auch den Bereich der Avantgarde-Kunst der exemplarisch anhand von Duchamps Kunst skizziert wurde. Auf den Begriff des Autors und die damit verbundene Diskussion um “den Tod des Autors” sowie Themen wie Urheber- und Zitatrecht soll hier nicht mehr eingegangen werden. Exemplarisch wird Kortman zitiert: “Man kann heute nichts mehr erschaffen, so argumentieren Remixkünstler mit postmoderner Konsequenz, ohne geschaffenes zu zitieren: um in der digitalen Mediengesellschaft kreativ zu sein, muss man alles Bestehende miteinander kombinieren dürfen.” (Kortman 2009: 41) 38 Siehe dazu Hackenberg 2010: 47; Emig & Spieler 2010: 11; Allstädt 2010: 67 als auch Wickerath 2010: 70. 39 “Sampling ist der universelle Metacode einer postindustriellen Kultur und Ökonomie.” (Feuerstein 2004: 251) Das Collage-Prinzip formiert somit im Sinne Cassirers eine Einheit in der Richtung. Adressen der Autoren / Addresses of authors Elize Bisanz Leuphana Universität Lüneburg Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung Scharnhorststr. 1/ C16.119 D - 21335 Lueneburg Jan Oehlmann Leuphana Universität Lüneburg Institut für Kulturtheorie, Kulturforschung und Künste Scharnhorststr. 1/ Geb. 1.122 D - 21335 Lueneburg Melanie Mergler Möllner Landstraße 48b D - 21509 Glinde Lena Jöhnk Hügelstraße 21 D - 21337 Lüneburg Sabine Krammer Idastrasse 20 CH - 8003 Zürich Silviya Kitanova Heusteigstraße 96B D - 70180 Stuttgart Annika Cornils Zurlindenstrasse 190 CH - 8003 Zürich Svenja Hehlgans Wiesenbachstraße 2b D - 49080 Osnabrück Christian Matzke Bleckenburgstraße 13a D - 39104 Magdeburg Isabelle Prchlik Hallerstr. 1c D - 20146 Hamburg Katharina Perge Eckstraße 7 D - 50374 Erftstadt Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten Beiträge für die Zeitschrift K ODIKAS / C ODE (ca. 10-30 S. à 2.500 Zeichen [25.000-75.000], Times od. Times New Roman 12., 1.5-zeilig, Rand 2-3 cm l/ r) sind dem Herausgeber in elektronischer Form (Word- oder rtf-Datei) und als Ausdruck auf Papier einzureichen. Abbildungen sind getrennt vom Text in reproduzierbarer Form (mind. 300 dpi, schwarz-weiß) beizufügen. Nach dem Titel des Beitrags folgt der Name des Autors (der Autoren) mit Angabe das Dienstortes. Dem Text (in deutscher, englischer, französischer oder spanischer Sprache, ggfs. gegengelesen von native speakers) ist eine kurze Zusammenfassung (abstract) in englischer Sprache voranzustellen (1-zeilig petit 10.). Die Gliederung des Textes folgt dem Dezimalsystem (1, 2, 2.1, 2.1.1). Auf separatem Blatt sind ihm die Anschrift des/ der Verf. und eine kurze bio-bibliographische Notiz (3-5 Zeilen) beizufügen. Zitierweise In der Semiotik gibt es eine Vielzahl konkurrierender Zitierweisen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Für K ODIKAS wird hier eine in vielen Disziplinen (und anderen semiotischen Zeitschriften) international verbreitete Zitierweise empfohlen, die sich durch Übersichtlichkeit, Benutzerfreundlichkeit, Vollständigkeit der Angaben und Sparsamkeit der Zeichenökonomie auszeichnet. Wörtliche Zitate werden durch normale Anführungszeichen kenntlich gemacht (“…”). Wenn ein Zitat die Länge von drei Zeilen überschreitet, wird es links 0.5 eingerückt und 1-zeilig petit (11.) geschrieben: Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein. Man macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb ein schlechter Text? Ich weiß, dass ich nie die Chance habe im S PIEGEL zu erscheinen. Aber bin ich darum weniger wichtig? Ich bin blind! Aber ich bin gerne Text. Und sollten Sie mich jetzt tatsächlich zu Ende lesen, dann habe ich geschafft, was den meisten “normalen” Texten nicht gelingt. Ich bin ein Blindtext und bin blind geboren … (Autor Jahr: Seite). Zitatbeleg durch Angabe der Quelle gleich im Text mit einer auf das Literaturverzeichnis verweisenden bibliographischen Kurzangabe (Autor Jahr: Seite): “[…] wird für die Herstellung des Zaubertranks die Beigabe von Dracheneiern empfohlen” (Gaukeley 2006: 387). Wenn das Zitat im Original über eine Seite hinausgeht, wird entsprechend ein “f.” (= folgende) an die Seitenzahl angefügt (387 f.). Alle Auslassungen und Hinzufügungen in Zitaten müssen gekennzeichnet werden: Auslassungen durch drei Punkte in eckigen Klammern […], Hinzufügungen durch Initialien des/ der Verf. (EHL). Hervorhebungen werden durch den eingeklammerten Zusatz “(Hervorh. im Original)” oder “(Hervorh. nicht im Original)” bzw. “(Hervorh. v. mir, Initial)” gekennzeichnet. Wenn das Original einen Fehler enthält, wird dieser übernommen und durch ein “[sic]” (lat. so) markiert. Zitate innerhalb von Zitaten Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 473 werden in einfache Anführungszeichen gesetzt (“… ‘…’ …”). Auch nicht-wörtliche Zitate (sinngemäße Wiedergaben, Paraphrasen) müssen durch Verweise gekennzeichnet werden: Auch Dracheneier werden für die Herstellung eines solchen Zaubertranks empfohlen (cf. Gaukeley 2001: 387). Gundel Gaukeley (2001: 387) empfiehlt den Gebrauch von Dracheneiern für die Herstellung des Zaubertranks. Objektsprachlich gebrauchte Wörter oder grammatische Formen werden kursiviert: “Die Interjektion eiapopeia gilt als veraltet.” Die Bedeutung eines sprachlichen Elementes steht in einfachen Anführungszeichen: “Fähe bedeutet ‘Füchsin’.” Standardsprachlich inkorrekte Formen oder Sätze werden durch Asterisk gekennzeichnet: “*Rettet dem Dativ! ” oder “*der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.” Fußnoten, Anmerkungen Auf Anmerkungen und Fußnoten wird im Text durch eine hochgestellte Zahl verwiesen: […] verweisen wir auf Gesundheitsgefahren, die mit regelmäßigen Geldbädern einhergehen. 2 Vor einem Satzzeichen steht sie möglichst nur dann, wenn sie sich direkt auf das Wort unmittelbar davor bezieht (z.B. die Definition eines Begriffs angibt). Fußnoten (am Fuße der Seite) sind gegenüber Anmerkungen am Ende des Textes vorzuziehen. Fußnoten (Anmerkungen) werden einzeilig petit (10.) geschrieben, mit 1.5-zeiligem Abstand zwischen den einzelnen Fußnoten (Anmerkungen). Bibliographie Die Bibliographie verzeichnet alle im Text genannten Verweise. Bei Büchern und Editionen: Nachname / Komma / Vorname / ggfs. Herausgeber (ed.) / ggfs. Auflage als Hochzahl / Jahreszahl / Doppelpunkt / Buchtitel kursiv / ggfs. Punkt bzw. Satzzeichen / ggfs. Untertitel / Komma / Ort / Doppelpunkt / Verlagsname: Gaukeley, Gundel 2001: Das kleine Einmaleins der Hexerei. Eine Einführung, Blocksberg: Hexenselbstverlag Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Bei Aufsätzen in Zeitschriften oder Sammelbänden (dort ggfs. mit Kurzverweis auf einen eigenen Eintrag des Sammelbandes), wird der Titel in Anführungszeichen gesetzt, dann folgen die Angaben mit Seitenzahlen: Gaukeley, Gundel 1999: “Verbesserte Rezepturen für Bombastik-Buff-Bomben”, in: Vierteljahresschrift des Hexenverbandes 7.1-2 (1999): 27-41 Duck, Donald 2000: “Wie leihe ich mir einen Taler? Praktische Tips für den Alltag”, in: Duck (ed.) 4 2000: 251-265 Duck, Dagobert (ed.) 4 2000: Wie verdiene ich meine erste Phantastillion? Ein Ratgeber, Entenhausen: Disney Gibt es mehrere Autorinnen oder Herausgeber, so werden sie in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie auch auf dem Buchrücken oder im Titel des Aufsatzes erscheinen, verbunden durch “und” oder “&” (bei mehr als drei Namen genügt ein “et al.” [für et alii ] oder “u.a.” nach Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten 474 dem ersten Namen). Dasselbe gilt für mehrere Erscheinungsorte, getrennt durch Schrägstriche (bei mehr als drei Orten genügt ein “etc.”): Quack, Primus von & Gustav Gans 2000: Untersuchungen zum Verhältnis von Glück und Wahrscheinlichkeit, Entenhausen/ Quakenbrück: Enten-Verlag Duck, Dorette und Daniel Düsentrieb (eds.) 1999: Ente, Natur und Technik. Philosophische Traktate, Quakenbrück etc.: Ganter Wenn ein Buch innerhalb einer Buchreihe erschienen ist, kann der Reihentitel und die Bandnummer hinzugesetzt werden: Duck, Tick et al. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13), Quakenbrück etc.: Ganter Duck, Tick u.a. 2001: Ordens- und Abzeichenkunde für Fieselschweiflinge, Quakenbrück usw.: Ganter (= Schriftenreihe des Entenhausener Pfadfinderverbandes 13) Auch sog. ‘graue’ Literatur - Dissertationen im Uni- oder Reprodruck (“Zürich: Diss. phil.”), vervielfältigte Handreichungen (“London: Mimeo”), Manuskripte (“Radevormwald: unveröff. Ms.”), Briefe (“pers. Mitteilung”) etc. - muß nachgewiesen werden. Innerhalb des Literaturverzeichnisses werden die Autor(inn)en in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen derselben Person, so werden sie in chronologischer Reihenfolge aufgelistet (innerhalb eines Jahres mit Zusatz eines kleinen lateinischen Buchstabens zur Jahreszahl - entsprechende Angaben beim Zitieren im Text): Duck, Daisy 2001 a: “Enten als Vorgesetzte von Erpeln. Einige Beobachtungen aus der Praxis”, in: Entenhausener Zeitschrift für Psychologie 7.1 (2001): 47-67 Duck, Daisy 2001 b: “Zum Rollenverständnis des modernen Erpels”, in: Ente und Gesellschaft 19.1-2 (2001): 27-43 Internetquellen Zitate aus Quellen im Internet müssen stets mit vollständiger URL inklusive Transferprotokoll (http: / / oder ftp: / / etc.) nachgewiesen werden (am besten aus der Adresszeile des Browsers herauszukopieren). Da Angaben im Internet verändert werden können, muß das Datum des Zugriffs in eckigen Klammern hinzugesetzt werden. Handelt es sich um einen innerhalb eines eindeutig betitelten Rahmens (Blogs, Onlinezeitschriften etc.) erschienenen Text, so wird genauso wie bei gedruckten unselbständigen Arbeiten zitiert: Gans, Franz 2000: “Schon wieder keinen Bock”, in: Franz Gans’ Untaten. Blog für Arbeitsscheue, im Internet unter http: / / www.franzgansuntaten.blogspot.com/ archives/ 00/ art07.htm [15.01.2009] Trägt die Website, aus der ein zitierter Text stammt, keinen eindeutigen Titel, so wird der Text ähnlich wie eine selbstständige Arbeit zitiert: Klever, Klaas (o.J.): Wer wir sind und was wir wollen, im Internet unter http: / / www.entenhausenermilliadaersclub.eh/ organisation/ index.htm [15.01.2009] Ist der Verfasser nicht zu identifizieren, so sollte stattdessen die jeweilige Organisation angegeben werden, die für die angegebene Seite verantwortlich zeichnet: Entenhausener Onlineportal (ed.) 1998: Einbruch bei Dagobert Duck. Panzerknacker unter Verdacht, im Internet unter http: / / www.eopnet.eh/ aktuell/ lokales/ 980315/ art21.htm [15.01.2009] Instructions to Authors Articles (approx. 10-30 pp. à 2'500 signs [25.000-75.000] line spacing 1.5, Times New Roman, 12 pts) must be submitted to the editor both on paper and in electronic form (wordor rtf-file). Figures (graphics, tables, photos) must be attached separately (300 dpi minimum, black and white). The title is followed by name(s) of author(s), affiliation and location. The language of the text, preceded by a short summary (abstract) in English, must be German, English, French, or Spanish. The outline follows the decimal system (1, 2, 2.1, 2.1.1). On a separate sheet, the postal address(es) of the author(s), including e-mail address, and a short bio-bibliographical note (3-5 lines) is to be attached. Quotations Quotations are referred to in the text with author (year: page) and indicated by normal quotations marks “…” (author year: page), unless a quotation is more than three lines long, in which case its left margin is -0.5, in single spacing and petit (11 pts): I am a blind text, born blind. It took some until I realised what it meant to be a blind text. One doesn't make sense; one is taken out of context; one isn't even read most of the times. Am I, therefore, a bad text? I know, I will never have a chance to appear in Nature or Science, not even in Time magazine. Am I, therefore, less important? Okay, I am blind. But I enjoy being a text. Should I have made you read me to the end, I would have managed what most of the 'normal' texts will never achieve! I am a blind text, born blind … (author year: page). The short bibliographical reference in the text refers to the bibliography at the end. All deletions and additions must be indicated: deletions by three points in square brackets […], additions by initials of the author. If there is a mistake in the original text, it has to be quoted as is, marked by [sic]. Quotations within quotations are indicated by single quotation marks: “…‘…’ …”. Paraphrases must be indicated as well: (cf. author year: page) or author (year: page). Foreign words (nota bene) or terms (the concept of Aufklärung) are foregrounded by italics, so are lexical items or grammatical forms (the interjection gosh is regarded as outdated); the lexical meaning is given in single quotation marks (Aufklärung means ‘Enlightenment’); incorrect grammatical forms or sentences are marked by an asterisk (*he go to hell). Footnotes (annotations) Footnotes are indicated by upper case numbers (as argued by Kant. 2 ). Footnotes at the bottom of a page are preferred to annotations at the end of the article. They are written in single spacing, with a 1.5 space between them. Please avoid footnotes for mere bibliographical references. Bibliography The bibliography lists all references quoted or referred to in alphabetical order. They should follow the form in the following examples: Short, Mick 2 1999: Exploring the Language of Poems, Plays and Prose, London: Longman Erling, Elizabeth J. 2002: “‘I learn English since ten years’: The Global English Debate and the German University Classroom”, in: English Today 18.2 (2002): 9-13 Modiano, Marko 1998: “The Emergence of Mid-Atlantic English in the European Union”, in: Lindquist et al. (eds.) 1998: 241-248 Lindquist, Hans, Steffan Klintborg, Magnus Levin & Maria Estling (eds.) 1998: The Major Varieties of English (= Papers from M AVEN 1997), Vaxjo: Acta Wexionensia No. 1 Weiner, George 2001: “Uniquely Similar or Similarly Unique? Education and Development of Teachers in Europe”, Plenary paper given at the annual conference, Standing Committee for the Education and Training of Teachers, GEC Management College, Dunchurch, UK, 5-7 October 2001. http: / / www.educ.umu.se/ ~gaby/ SCETT2paper.htm [accessed 15.01.09]. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de In diesem Buch geht es nicht nur um die Gestalt des Künstlers in der europäischen Romanliteratur, sondern auch um das Schicksal der Kunst zwischen Romantik und Postmoderne. Werden die hier kommentierten Romane der Romantik, der Spätmoderne und der Postmoderne als Barometer der gesellschaftlichen Entwicklung zwischen 1800 und 1990 gelesen, so zeigt sich, daß einerseits der Künstler als Seher und Verkünder einer besseren Welt abdankt, andererseits die Kunst als Statthalterin sozialer Utopien unglaubwürdig wird. Die komplementären Prozesse der Säkularisierung, der sozialen Differenzierung, der ideologischen Zersplitterung und der Vermarktung bewirken den Rückzug der Kunst in eine Enklave, die Soziologen als „System“, „Subsystem“ oder „Feld“ bezeichnen. Auf diese Entwicklung reagieren postmoderne Künstlerromane, indem sie den Anspruch romantischer und spätmoderner Kunst, das kritisch-utopische Gewissen der Gesellschaft zu sein, parodieren. Sie haben sich mit der Tatsache abgefunden, daß Kunst ein „Sprachspiel“ unter vielen ist und nicht länger oberste kritische Instanz oder weltliche Erbin religiöser Prophetie. Peter V. Zima Der europäische Künstlerroman Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie 2008, XVI, 517 Seiten, €[D] 39,00/ Sfr 66,00 ISBN 978-3-7720-8263-4 041108 Auslieferung Ma rz 2008.i31 31 06.03.2008 15: 25: 52 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Der Band bietet einen Überblick über die Geschichte der Medien von der Erfindung der Schrift bis zum Internet. In knapper und verständlicher Form gibt er umfassende Antworten auf Fragen nach den Gründen für die Entstehung und Etablierung von jeweils neuen Medien, ihren sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Konsequenzen und ihrer Bedeutung in der heutigen Situation. Nach einem Parcours durch die Mediengeschichte in ihren wesentlichen Etappen werden abschließend übergreifende Aspekte wie das Verhältnis von Medien und Wirklichkeit oder die Wirkung von Medien beleuchtet. Andreas Böhn Andreas Seidler Mediengeschichte Eine Einführung bachelor-wissen 2008, 232 Seiten, €[D] 14,90 / SFr 27,90 ISBN 978-3-8233-6415-3